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German Pages 370 Year 2020
Julia Stiebritz-Banischewski Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Epik
Literatur | Theorie | Geschichte
Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten
Band 19
Julia Stiebritz-Banischewski
Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Epik Studien zur Interdiskursivität der Musik- und Kleiderdarstellung in Gottfrieds von Straßburg Tristan, Hartmanns von Aue Ereck, der Kudrun und im Nibelungenlied
ISBN 978-3-11-067287-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067325-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067329-6 ISSN 2363-7978 Library of Congress Control Number: 2020940949 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggabbildung: Nibelungenlied: Kriemhild bittet Etzel, ihre Brüder einzuladen, Hundeshagenscher Kodex, Staatsbibliothek zu Berlin (mgf 855, fol. 90r), Wikimedia Commons. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2018/2019 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet. Der Tag der Disputation war der 26.06. 2019. Mein allerherzlichster Dank gilt meiner Doktormutter Prof. Dr. Monika Schausten. Ihrem inspirierenden Unterricht verdanke ich nicht nur den Beginn meines fachlichen Interesses für die germanistische Mediävistik, sondern auch eine Stelle an der Universität zu Köln. Ohne ihre exzellente Betreuung, unermüdliche Unterstützung und ihr stets offenes Ohr für Fragen und Probleme wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Von Herzen danke ich außerdem auch meinem Zweitbetreuer Prof. Dr. Udo Friedrich für seine wertvollen Anregungen und nicht zuletzt für die vielen aufmunternden Worte. Für vielfältige Unterstützung und die Eröffnung neuer Perspektiven während der Zeit meines Studiums und meiner Promotion danke ich Prof. Dr. Heike Sahm, Prof. Dr. Jörg Döring, Prof. Dr. Markus Stock, Prof. Dr. Susanne Wittekind und Prof. Dr. Peter Orth. Meinem Kollegen und Freund Fabian Scheidel bin ich nicht nur für gewinnbringende mediävistische Diskussionen sowie die Korrektur der Arbeit zu Dank verpflichtet, sondern auch für viele schöne Bürostunden. Ebenfalls nicht vergessen möchte ich meine anderen lieben Kolleginnen und Kollegen, von denen ich hier besonders Susanne Bürkle, Daniel Eder, Elias Friedrichs, Andreas Hammer, Sarah Jancigaj, Christiane Krusenbaum-Verheugen, Lydia Merten, Adrian Meyer, Maria Moser, Michael Schwarzbach-Dobson, Antje Strauch und Franziska Wenzel für ihre Unterstützung danken möchte. Sehr herzlicher Dank gebührt außerdem Daniel Bürling und Prof. Dr. Peter Orth für die Übersetzung zahlreicher lateinischer Textstellen, wie auch Vanessa Dierkes, Felix Güßfeld und Johanna Wittmack für ihre tatkräftige Hilfe. Schließlich danke ich auch den Herausgebern der Reihe ‚Literatur – Theorie – Geschichte‘ für die freundliche Aufnahme meiner Arbeit, ebenso wie Elisabeth Kempf, Marta Dossi und Laura Burlon, die die Veröffentlichung betreut haben. Widmen möchte ich dieses Buch meinem Ehemann, Boris Banischewski, meiner Familie und meiner besten Freundin Sina Trapp, deren Verständnis, Ermutigung und bedingungslose Unterstützung mich während aller Höhen und Tiefen des Entstehungsprozesses begleitet haben. Köln, im April 2020 Julia Stiebritz-Banischewski
Inhalt . . . . . .
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Einleitung 1 Die Entstehung klerikaler Kritik am Adelshof: Ein Überblick (9.–13. Jh.) 7 Begriffsbestimmung: Hofkritik als (hoch‐)mittelalterlicher 14 Diskurs Konkurrierende Wissensordnungen: Der höfische Diskurs des 12./13. Jhs. 23 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung 34 50 Anlage der Arbeit, methodisches Vorgehen und Textauswahl Methodisches Instrumentarium: Zur Interdiskurstheorie nach Link/Link-Heer 52 Von Wundersängern und Sirenen: Höfische Musik in Gottfrieds von Straß66 burg Tristan und in der Kudrun Hofmusik im interdiskursiven Spannungsfeld zwischen Höfisierung und Kritik 68 Musik als Gegenstand des höfischen Diskurses: Zur Musikdarstellung in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur und der Historiogra71 phie des 12./13. Jhs. Musik als Gegenstand des hofkritischen Diskurses: Die christliche Musikkritik in Johannes’ von Salisbury Policraticus 79 Tristans leiche von Britûn: Vom Aufstieg eines musizierenden 88 Verführers dâ begunden herze und ôren / tumben unde tôren: Tristans Harfenkonzert am Markehof 91 Ein Harfenspiel um Leben und Tod: Tristans Ankunft am irischen Hof 114 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun 129 eine wîse, diu was von Amilê: Höfische Tonkunst 132 als Sirenengesang Treuer Vasall oder Minnesänger? Zur ambivalenten Konzeption der Horantfigur 150 163 Zwischenfazit
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Inhalt
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Von geschmückten Damen und effeminierten Rittern. Höfische Kleidung 166 in Hartmanns von Aue Ereck und im Nibelungenlied 167 Höfischer Kleiderluxus und christliche Gewandkritik Kleidung als Gegenstand des höfischen Diskurses: Zur Kleiderdarstellung in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur und der Hi171 storiographie des 12./13. Jhs. Kleidung als Gegenstand des hofkritischen Diskurses: Die christliche Kleiderkritik in Ordericus Vitalis’ Historia Ecclesiastica, Petrus’ von Blois „Brief 94“ und in Vinzenz’ von Beauvais De eruditione filiorum 185 nobilium Enites wât und Yders harnasche: Kleiderkritik in Hartmanns von Aue 206 Ereck Kleidung und Schönheit: Erecks Ablehnung der Neueinkleidung Enites 209 am Imainhof Verkleidete Schönheit: Enites Investitur am Artushof und das verligen 227 241 Function over form: Erecks erste Rüstung Kleidung und êre: Erecks zweite Rüstung 245 254 Kleidung und hövescheit: Der zweite Aventiureweg des reis ir schiltgesteine verhouwen in daz blut: Zum Untergang des Kleider- und Rüstungsprunks im Nibelungenlied 264 265 Der Anfang des Nibelungenlieds: Kleidung als hövescheit er fuor sô wol gekleidet sam eines edeln ritters brût: Kleidung und 277 Männlichkeit 305 Kriemhilds Schuld: Kleidung und Weiblichkeit Zwischenfazit 322
Fazit: Höfische Literatur als Hofkritik?
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338 Literaturverzeichnis Abkürzungsverzeichnis 338 Primärliteratur 338 341 Nachschlagewerke Sekundärliteratur 341 360 Netzquellen
Personen- und Werkregister
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1 Einleitung Ich bin am Hof und spreche vom Hof und weiß doch weiß Gott nicht, was der Hof ist. Walter Map (um 1140–ca. 1210)
Die ritterlich-höfische Kultur des Hochmittelalters und der Hof als ihr sozialer Entstehungs- und Entfaltungsraum sind aus zeitgenössischer Sicht umstrittene Phänomene.¹ Von Beginn ihrer Entstehung an zieht diese exklusive historische Oberschichtenkultur daher nicht nur Bewunderung, sondern auch scharfe Kritik auf sich. Der vehementeste Kritiker ist in diesem Zusammenhang der Klerus.² Vor allem das höfische Zelebrieren von materiellem Luxus und Formen der weltlichen Unterhaltung,³ die in scharfem Gegensatz zu Armut, Schlichtheit, Demut und Innerlichkeit als zentralen Tugenden des Christentums stehen,⁴ stößt hier auf empörten Protest. So
Das vorliegende Kapitel basiert in Teilen auf meiner Staatsexamensarbeit, welche im Wintersemester 2012/2013 von der Fakultät I der Universität Siegen angenommen wurde (Titel: Die Darstellung der höfischen Musik in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. Zu den diskurshistorischen Voraussetzungen eines fiktionalen Entwurfs unter besonderer Berücksichtigung der lateinischen Hofkritik). Die Ergebnisse wurden in der Zwischenzeit überarbeitet, aktualisiert und stark ausgeweitet. – Das Eingangszitat (in curiam sum, et de curia loquor, et nescio, Deus scit, quid sit curia) stammt von dem berühmten hochmittelalterlichen Hofkritiker Walter Map (ders.: De nugis curialium. Courtiers’ trifles. Hrsg. von Montague Rhodes James, Christopher Nugent Lawrence Brooke, Roger Aubrey Baskerville Mynors. Oxford 1983, S. 2) zitiert nach der deutschen Übersetzung Joachim Bumkes: Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme. In: PBB 114 (1992), S. 414– 492, hier S. 437, inkl. Anm. 82. – Zum Begriff der ‚ritterlich-höfischen Kultur‘ siehe weiterhin grundlegend Werner Paravicini: Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters. 2. Aufl. München 1999 (Enzyklopädie deutscher Geschichte. 32), oder Josef Fleckenstein: Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof. Bemerkungen zu den Voraussetzungen, zur Entstehung und zur Trägerschaft der höfisch-ritterlichen Kultur. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von dems. Göttingen 1990 (VMPIG. 100), S. 302– 325, hier v. a. S. 315. Zu den diskurshistorischen Grundlagen des sich in der ma. Literatur häufig ausdrückenden Selbstverständnisses des Klerus als Instanz der kritischen Zurechtweisung von weltlicher Macht vgl. Klaus Schreiner: ‚correctio principis‘. Gedankliche Begründung und geschichtliche Praxis spätmittelalterlicher Herrscherkritik. In: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhaltliche Probleme. Hrsg. von František Graus. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen. 35), S. 201– 256, hier S. 206 – 208. Darauf, dass dieses Selbstverständnis allerdings nicht unbedingt auf historischer „Faktizität“ gründen muss, verweist jedoch schon Timo Reuvekamp-Felber: Volkssprache zwischen Stift und Hof. Hofgeistliche in Literatur und Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln/Weimar/Wien 2003 (Kölner germanistische Studien NF. 4), hier S. 96 f.: „Die klerikale Unterweisung des lenkungsbedürftigen Laien ist geradezu ein Topos in lateinischen Texten“. Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 2. München 1986 (dtv. 4442), S. 583, und ders., Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 423. Vgl. dazu bspw. Thomas Zotz: Urbanitas. Zur Bedeutung und Funktion einer antiken Wertvorstellung innerhalb der höfischen Kultur des hohen Mittelalters. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (VMPIG. 100), S. 392– 451, hier S. 393, oder Klaus Schreiner: ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforhttps://doi.org/10.1515/9783110673258-001
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formiert sich im westlichen Europa des 12. Jahrhunderts – und zwar zunächst im nordfranzösischen Raum sowie etwas später dann v. a. im Umkreis des englischen Königshofs Heinrichs II. – die hochmittelalterliche Variante eines kulturkritischen „Reflexionsmodus“,⁵ dessen Wurzeln sich entgegen einer verbreiteten Forschungsmeinung bis ins 8. Jahrhundert zurückverfolgen lassen: die mittelalterliche Hofkritik.⁶ Dieser in der Forschung mitunter auch im Sinne einer literarischen Gattung verwendete Begriff bezieht sich auf eine ausgesprochen „amorphe Masse“⁷ von philosophischen Staatslehren, Fürstenspiegeln, Chroniken, moralisch-satirischen Schriften und Briefen, die sich in verschiedenen Hinsichten und in unterschiedlichem Ausmaß kritisch mit dem zeitgenössischen Adelshof beschäftigen.⁸ Allgemein kennzeichnend für diese Texte ist eine „Verschränkung von antikem und christlichem Wissen mit zeitgebundenen, von politischem Interesse geleiteten Aussagen, die gemeinsam die Rede vom Hof, den Höflingen, aber auch von der höfischen Kultur generieren.“⁹ Solche Rekurse auf die lateinische Bildungstradition sind „Ausdruck des […] typischen Zeitstils“:¹⁰ Durch den Rückgriff auf anerkannte Autoritäten sollen die Argumente der Autoren unterstrichen und in ihrer Allgemeingültigkeit abgesichert wer-
derung an die christliche Theologie und Frömmigkeit. In: Höfische Literatur und Hofgesellschaft. Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (3. bis 5. November 1983). Hrsg. von Gert Kaiser, Jan-Dirk Müller. Düsseldorf 1986 (Studia humaniora. 6), S. 67– 139, hier S. 94. Georg Bollenbeck: Kulturkritik: ein unterschätzter Reflexionsmodus der Moderne. In: LiLi 137 (2005), S. 41– 53, hier v. a. S. 47. So bezeichnet etwa Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 583, Johannes von Salisbury als „Begründer“ der (hoch‐)mittelalterlichen Hofkritik; ähnlich auch Claus Uhlig: Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik. Hamburg 1973 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker NF. 56), S. 47 f. u. 54, oder Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 46. Rüdiger Schnell: Curialitas und dissimulatio im Mittelalter. Zur Interdependenz von Hofkritik und Hofideal. In: LiLi 161 (2011), S. 77– 138, hier S. 82. Auf „Probleme quellenkritischer Art“, die sich bei der Aufarbeitung der ma. Hof- bzw. Herrscherkritik ergeben, verweist zuvor auch schon Schreiner, Correctio principis, S. 205. Vgl. Monika Schausten: ‚dâ hovet ir iuch selben mite‘: Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik am Beispiel des ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: LiLi 161 (2011), S. 139 – 163, hier S. 139. Eine gute Übersichtsdarstellung zu hofkritischen Texten in lateinischer Sprache von der Antike bis zum Spätmittelalter (mit Fokus auf das 12./13. Jh.) bietet Thomas Szabó: Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (VMPIG. 100), S. 350 – 391; eine kürzere Zusammenschau findet sich weiterhin bei Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 46 f. Zur Fortführung der Hofkritik über das hohe Mittelalter hinaus bis ins 18. Jh. siehe außerdem Helmuth Kiesel: Bei Hof, bei Höll. Untersuchungen zur literarischen Hofkritik von Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tübingen 1979 (Studien zur deutschen Literatur. 60), S. 3 f. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 142. Ähnlich zuvor auch schon Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 49. Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 42.
1 Einleitung
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den.¹¹ Insofern sind die antihöfischen Texte des Hochmittelalters zwar nicht „durch eine gattungsgebundene formale Einheit aufeinander bezogen“, aber durchaus auf thematisch-argumentativer Ebene „durch ein gemeinsames Anliegen, nämlich den Hof als politisches und gesellschaftliches Zentrum ihrer Zeit […] kritisch zu perspektivieren.“¹² Dabei hatte sich im höfischen Kontext zunächst ein neues ethisches Konzept herausgebildet, welches lateinisch mit curialitas (seit dem Ende des 11. Jhs.), provenzalisch mit cortezia (vermutlich bereits in den 1130er Jahren), französisch mit courtoisie (nach 1150) und deutsch (seit ca. 1170) mit hövescheit – Höfischheit – umschrieben wird.¹³ All diese Termini dienen der Bezeichnung einer mehr oder weniger fest umrissenen „Gruppe von Haltungs- und Verhaltensvorschriften innerlicher und äußerlicher Art“, bei denen es sich u. a. um zuht (disciplina), vreude (hilaritas), mâze (temperantia), milte (generositas, largitas), schœne site (elegantia morum), stæte, hôhen muot, êre und triuwe handelt.¹⁴ So wird zum ersten Mal seit der Antike wieder „ein Erziehungsprogramm entworfen, dessen Bildungsziel ein weltlicher Gesellschaftswert [ist]: […] der höfisch gebildete Mensch.“¹⁵ Es ist das Verdienst C. Stephen Jaegers, die
Vgl. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 142; so zuvor auch schon Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 49 f. Uhlig schlägt in diesem Zusammenhang vor, dass die rhetorische Verfahrensweise der Hofkritiker – also das Bemühen, ihre Zeitkritik in ein antikes und biblisches Gewand zu kleiden – darüber hinaus auch als eine Art „‚Verhüllungstechnik‘“ interpretiert werden könne (Zitat ebd., S. 49). Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 139. Hervorhebung J. S.-B. Ähnlich äußert sich auch Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 82, nach welchem mit dem Begriff ‚Hofkritik‘ „keine literarische Gattung“, sondern eine „inhaltliche Aussage“ gemeint sei, die diese Texte überhaupt erst miteinander verbinde. Vgl. Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 7. Zu den frühesten überlieferten Belegen von curialis/curialitas siehe überblicksartig Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 422– 424, oder C. Stephen Jaeger: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Sabine Hellwig-Wagnitz. Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen. 167), S. 16 f.; zu courtois/courtoisie vgl. erneut Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 425, zu hövesch/hövescheit wiederum ders.: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. Bd. 1. München 1986 (dtv. 4442), S. 78 – 82, sowie ders., Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 426 f.: „Da ältere Belege fehlen, geht man davon aus, daß hövesch und hövescheit Neubildungen des 12. Jahrhunderts sind; man nimmt an, daß es sich um Lehnbildungen nach afrz. cortois, cortesie handelt. Es ist jedoch zu beachten, daß die ältesten deutschen Belege aus Texten stammen, die nicht nach französischen Vorlagen gearbeitet sind: hövesch erscheint zuerst in der ‚Kaiserchronik‘, in der Lyrik Kürenbergs und im ‚Straßburger Alexander‘; hövescheit ist zuerst im ‚Priesterleben‘ Heinrichs von Melk, im ‚Heimlichen Boten‘, im ‚Pilatus‘, in Albers ‚Tnugdalus‘ und im ‚König Rother‘ bezeugt. Unklar ist ferner, wie sich das Nebeneinander der Formen hövesch und hubisch/hübesch erklärt, die im 12./13. Jahrhundert bedeutungsgleich verwendet wurden.“ Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 7. Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 453: „Der Hof erscheint aus dieser Perspektive als eine zentrale Bildungsinstanz.“ Die Innovativität dieses Erziehungsprogramms liegt, wie Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 8, hervorhebt, nicht zuletzt darin, dass erstmals „eine Leitvorstellung auf die gesamte Hofgesellschaft Anwendung [findet]: auf den Fürsten
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germanistisch-mediävistische Aufmerksamkeit mit Nachdruck auf den Umstand gerichtet zu haben, dass die Entstehung dieses Programms allerdings nicht ursprünglich im Laienadel anzusiedeln ist.¹⁶ Vielmehr war es wohl die „gebildete[] Schicht jener Kleriker, die an den weltlichen und geistlichen Höfen Dienst taten“,¹⁷ welche der höfischen Gesellschaft ein für die neuen Vorstellungen von hövescheit grundlegendes „Instrumentarium von lateinischen Begriffen und Denktraditionen“ überhaupt erst vermittelte.¹⁸ Zwar sind erste Schritte und entsprechende schriftliche Zeugnisse eines solchen kulturell wirksamen Austauschs zwischen Laien und Klerus am Adelshof, wie Rüdiger Schnell gezeigt hat, schon einige Jahrhunderte vor der Herausbildung des (von Jaeger allein zur Erklärung herangezogenen) ottonischen Reichskirchensystems zu beobachten.¹⁹ Denn einige höfische Verhaltensideale wie „Umgänglichkeit (affabilitas), Sanftmut (mansuetudo), Heiterkeit (hilaritas), Liebenswürdigkeit (amabilitas), Großzügigkeit (largitas, benignitas) [und] Bescheidenheit (humilitas)“²⁰ sind in der Tat
ebenso wie auf den Adel und die Ritterschaft, die Damen und die Hofgeistlichen.“ Hervorhebung im Original. Vgl. dazu grundlegend Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur (zuerst erschienen als ders.: The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939 – 1210. Philadelphia 1985). Eine These zur Abhängigkeit des hochmittelalterlichen curialitas-Programms von der römischantiken Tugendlehre (v. a. Ciceros De officiis) formulierte früh schon Gustav Ehrismann: Die Grundlagen des ritterlichen Tugendsystems. In: ZfdA 56 (1919), S. 137– 216, der damit seinerzeit allerdings noch auf viel Ablehnung stieß. Während die grundlegenden Thesen Jaegers in der Geschichtswissenschaft, wie Rüdiger Schnell: Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik. In: FS 39 (2005), S. 1– 100, hier S. 6 – 15, ausführt, kaum rezipiert wurden, stießen sie in der germanistischen Mediävistik auf große Akzeptanz; vgl. dazu exemplarisch etwa Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 468 f., Walter Haug: Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem klerikalen Konzept der curialitas und dem höfischen Weltentwurf des vulgärsprachlichen Romans? In: Courtly literature and clerical culture. Höfische Literatur und Klerikerkultur. Hrsg. von Christoph Huber, Henrike Lähnemann. Tübingen 2002, S. 57– 75, sowie (partiell kritisch) Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, hier zusammenfassend v. a. S. 4, Anm. 10. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 15. Zum engen Kontakt von miles und clericus am Hof als Grundlage für die Entstehung der ritterlich-höfischen Kultur im hohen Mittelalter vgl. weiterhin auch Fleckenstein, Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof, hier v. a. S. 311. Bumke,Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 469 f. So weiterhin auch Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 111. Vgl. Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, hier v. a. S. 15 – 24. Für eine kritische Reflexion der entsprechenden Thesen Jaegers, die sich v. a. auf auffallende inhaltliche Veränderungen in den Bischofsviten des 10.–12. Jhs. hinsichtlich der präsentierten Bischofstypen stützen, siehe weiterhin auch Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 94 f. Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 4. Zum Austausch zwischen weltlichem und geistlichem Adel am frühmittelalterlichen Hof, der nach Schnell schon zu dieser Zeit in der Herausbildung eines gemeinsamen Verhaltensideals resultierte, vgl. zusammenfassend mit zahlreichen Quellenverweisen ebd., S. 19 – 24, hier v. a. S. 19: „In vorottonischen Quellen finden sich nicht nur ähnliche Personencharakterisierungen wie im 11./12. Jahrhundert, in der vorottonischen Zeit stoßen wir auch auf ähnliche soziopolitische Konstellationen, wie sie nach Jaegers Auffassung erst für das 10./11. Jahrhundert anzusetzen sind: das Zusammenwirken von bischöflichem Klerus und Königshof. Es muß auffallen, daß zahlreiche Bischöfe, denen in Viten des 7. und 8. Jahr-
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schon in vorottonischen Quellen seit dem 7. Jahrhundert (Bischofs-, Abt- und Heiligenviten, Chroniken) nachweisbar. Dort werden sie zumeist im Kontext von stereotypisierend-lobenden descriptiones als Eigenschaften sowohl des klerikalen als auch des laikalen Adels benannt.²¹ Doch findet eine „Bündelung“ dieser und zahlreicher weiterer höfischer Tugenden unter der Formel curialitas/hövescheit dann eben erst im 11./12. Jahrhundert statt, wobei von nun an außerdem begrifflich wie argumentativ verstärkt auf die römische Moralphilosophie zurückgegriffen wird.²² Diese liefert mit Cicero nicht zuletzt „[e]ine theoretische Rechtfertigung dafür, daß Adel, Ruhm und Reichtum als ‚Güter‘ betrachtet und den Tugenden zugeordnet“ werden können.²³ Denn gemäß der Überlieferung spielen neben den skizzierten ethischen Kategorien für die Selbstpräsentation der höfischen Gesellschaft auch diverse materielle „Statussymbole“²⁴ eine bedeutende Rolle. Angefangen bei prächtigen Kleidermoden über luxuriös verzierte Waffen bis hin zu einer verfeinerten Tischkultur richtet sich das Interesse ab dem 12. Jahrhundert verstärkt auf all das, was es erlauben könnte, das Leben im Diesseits so repräsentativ und angenehm wie möglich zu gestalten.²⁵ Diesem hunderts Liebenswürdigkeit und Umgänglichkeit zugeschrieben wurden, enge Kontakte zum Königshof pflegten.“ Vgl. ebd., S. 17 f. Zu den vermutlich ständisch bedingten Hintergründen dieser Entwicklung vgl. ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 14 f. sowie weiterhin auch ebd., S. 98: „Auch wenn die Systematisierung und Kodifizierung höflich-liebenswürdigen Verhaltens erst im 12. Jahrhundert einsetzt (mit den okzitanischen Ensenhamens und dem lateinischen ‚Urbanus magnus‘), darf das entsprechende Ideal und möglicherweise sogar die entsprechende Praxis schon für das 7./8. Jahrhundert vorausgesetzt werden. Zumindest können wir es in den schriftlichen Quellen dieser Zeit fassen. Demnach scheidet die ottonische Kirchenpolitik als ursächlicher Faktor für die curialitas aus. Was aber das Früh- vom Spätmittelalter unterscheidet, ist der jeweilige Verbreitungsgrad des höflich-höfischen Verhaltens. Vom 6. bis 10. Jahrhundert war es großenteils auf Königshof und einige Bischofsitze konzentriert, vom 11./ 12. Jahrhundert ist es mehr und mehr auch für Herzogshöfe, Kanonikerstifte und städtisches Patriziat bezeugt. Im Hochmittelalter haben wir es nicht mit der Entstehung höfisch-höflichen Verhaltens zu tun, sondern mit dessen sozialer und diskursiver Verbreitung.“ Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 420. Anders als Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, geht Bumke hier allerdings noch von einer Vermittlung der entsprechenden antiken Wissensbestände an die adlige Gesellschaft des Hochmittelalters durch die höfischen Tugendlehren des 13. Jhs. aus (v. a. das Moralium dogma philosophorum und entsprechende Rezeptionszeugnisse wie Thomasins von Zirklære Welscher Gast). Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 8. Der Begriff ‚Kultur‘ gehört zu den in der Forschung bis heute am heftigsten umstrittenen Termini. Angesichts der „verwirrend anmutende[n] Vielfalt begrifflicher Präzisierungen“ von Max Weber über Ernst Cassirer bis hin zu Michel Foucault und Pierre Bourdieu zeichnet sich nach Silvia Serena Tschopp: Der Kulturbegriff der Kulturgeschichte. In: Grundfragen der Kulturgeschichte. Hrsg.von ders., Wolfang E. J. Weber. Darmstadt 2007, S. 27– 52, hier S. 49 f., in der jüngeren Forschung allerdings zunehmend das Bemühen um einen „konsensuellen Kulturbegriff[]“ ab: „Favorisiert wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine Auffassung von Kultur, die materielle, symbolisch-hermeneutische und handlungsorientierte Aspekte integriert. […] Kultur umfasst demnach zum einen jene Werthaltungen und Wissensordnungen, welche das Denken und Handeln von Menschen steuern und von diesen zugleich immer neu konstituiert werden; sie umfasst darüber hinaus jene kollektiven Sinnkonstruk-
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Zweck dienen auch bestimmte als standesgemäß bewertete Freizeitaktivitäten wie die höfische Jagd, das Schachspiel oder Gesang und Saitenspiel.²⁶ In diesem Kontext ist schließlich auch das adlige Mäzenatentum zu verorten: So beginnt um 1170 in Deutschland, hauptsächlich in Form von Minnelyrik und Epik, die höfische Literatur, in welcher die zeitgenössische Hofkultur, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur ihre poetische Überhöhung,²⁷ sondern, im Rückbezug auf die lateinische Hofkritik, auch verschiedene Formen der kulturkritischen Selbstreflexion erfährt. Bis die geistliche Kritik am Hof u. a. auf diesem Wege Eingang in die Volkssprache und ihre Literaturen findet, verstreicht jedoch zunächst einiges an Zeit.²⁸ Aus Sicht der Forschung ist diese späte Adaptation vor allem auf die zeitgenössisch noch immer hohe Wertschätzung des Lateinischen zurückzuführen, das für eine Auseinandersetzung mit philosophischen Themen lange als verbindlich gilt. Darüber hinaus wird in diesem Zusammenhang aber sicherlich auch die politische Brisanz der lateinischen Wissensbestände eine Rolle gespielt haben.²⁹ Speziell im Hinblick auf den Bereich der deutschsprachigen Literatur stellt Joachim Bumke fest, dass die Argumente der antionen, jene Formen der Wirklichkeitsdeutung, durch die Menschen die Welt ‚entziffern‘ und sie sich zu eigen machen. […] Kultur umfasst weiter die ganze Vielfalt kulturell kodierter Praktiken von Menschen, seien dies nun religiöse Rituale, Modi politischer Interaktion, gewerbliche Techniken oder künstlerische Schaffensformen und zugleich die geistigen und materiellen Erzeugnisse, die sich derartiger Praktiken verdanken. Bedeutsam ist nun, dass die hier genannten Aspekte von Kultur nicht als unverbundenes Nebeneinander, sondern vielmehr als System komplexer Wechselwirkungen verstanden werden, auf die kulturhistorische Forschung den Fokus zu richten hat.“ Ähnlich wie Tschopp definiert den Begriff ‚Kultur‘ in der germanistisch-mediävistischen Literaturwissenschaft auch Gert Hübner: Ältere deutsche Literatur. Eine Einführung. 2. Aufl. Tübingen 2015 (UTB. 2766), S. 238 f. Einem solchen, weiten Kulturbegriff schließt sich auch die vorliegende Arbeit an. Dabei wird allerdings nicht von einer (für das Mittelalter noch nicht vorauszusetzenden) Gesamtgesellschaft ausgegangen, sondern der Blick beschränkt sich vielmehr auf den sozialen Ausschnitt der höfischen Gesellschaft des 12./13. Jhs.; vgl. dazu bereits Silvan Wagner: Erzählen im Raum. Die Erzeugung virtueller Räume im Erzählakt höfischer Epik. Berlin [u. a.] 2015 (Trends in medieval philology. 28), hier v. a. S. 66 u. 342 f. Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt zudem grundsätzlich auf der kulturellen Ebene der Diskurse, die Eingang in die mhd. höfische Dichtung gefunden haben. Die materiellen und handlungsbezogenen Aspekte der ritterlich-höfischen Kultur – welche für die moderne Forschung ohnehin fast nur noch in der Literatur greifbar sind – sind hingegen nicht Gegenstand der nachfolgenden Analysen. Auf weitere wichtige Aspekte der ritterlich-höfischen Kultur kann hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden; vgl. dazu überblicksartig (primär aus realhistorischer Sicht) etwa Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters. Vgl. Joachim Bumke: Art. Höfische Kultur und Gesellschaft. In: 2VL 5 (1985), Sp. 1565 – 1568, hier Sp. 1566. Vgl. dazu und zum Folgenden Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 140. Zur politischen Brisanz hofkritischer Äußerungen (mit Fokus auf die frühe Neuzeit) vgl. auch schon Kiesel, Bei Hof, bei Höll, S. 8. Das von Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 585, darüber hinaus angeführte Argument, nach dem die verzögerte Rezeption der geistlichen Hofkritik in der höfischen Literatur sich v. a. durch ihre Gebundenheit an ein Publikum von gebildeten Klerikern erklären lasse, greift m. E. hingegen weniger. Schließlich handelte es sich nicht nur bei den Autoren hofkritischer Texte, sondern auch bei den Autoren höfischer Epik (unabhängig von ihrem jeweiligen konkreten Stand) größtenteils um lateinisch gebildete Personen.
1.1 Die Entstehung klerikaler Kritik am Adelshof: Ein Überblick (9.–13. Jh.)
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tihöfischen Autoren anfänglich vor allem im religiös-didaktischen Schrifttum rezipiert werden, welches um die Mitte des 12. Jahrhunderts aufkommt.³⁰ Wenige Jahrzehnte später finden sie dann schließlich auch Eingang in die mittelhochdeutsche Hofliteratur.³¹ Inwiefern sich insbesondere deren Imagination von ästhetisch-materiellen Formen der neuen höfischen Kultur aus Bezugnahmen auf die lateinische Hofkritik speist, ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
1.1 Die Entstehung klerikaler Kritik am Adelshof: Ein Überblick (9.–13. Jh.) Während die von der Mitte des 12. Jahrhunderts an förmlich explosionsartig zunehmende Anzahl überlieferter antihöfischer Texte mit Johannes von Salisbury als ihrem vermeintlichem „Begründer“³² in der Vergangenheit immer wieder einmal Gegenstand
Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 585; so weiterhin auch C. Stephen Jaeger: The court criticism of MHG didactic poets. Social structures and literary conventions. In: MDU 74 (1982), S. 398 – 409, hier S. 401 f. Wie die Überblicksdarstellung Szabós, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 362– 369, zeigt, setzt die Überlieferung antihöfischer Texte im deutschen Reich mit einigen Liedern Walters von der Vogelweide (um 1170 – 1230), dem Reinhard Fuchs (1192) und, wie meine folgenden Analysen zeigen werden, weiterhin auch mit Hartmanns Ereck (um 1190), dem Nibelungenlied (um 1200) sowie Gottfrieds Tristan (um 1210) in der Volkssprache also wesentlich früher als im Lateinischen ein. Beim ältesten überlieferten hofkritischen Text in lateinischer Sprache, der im deutschen Sprachraum entstand, handelt es sich nämlich um Bernhard von der Geists Palpanista (um 1250). Angesichts dieses Befunds hält Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 362 f., etwas resigniert fest: „Wenn der literarische Einfluß Frankreichs auf das Reich auch gut bekannt ist und in zahlreichen Übersetzungen aus dem Französischen direkt beobachtet werden kann, so sind doch die Wege, über die die westliche Hofkritik auf das Reich einwirkte, weniger deutlich. Man muß sich daher vorläufig mit der Feststellung begnügen, daß ältere, schon früher nachweisbare hofkritische Ansätze unter dem Einfluß der neuen Zeitströmung aus dem Westen an Bedeutung gewannen und verstärkt formuliert wurden.“ Dabei sei allerdings grundsätzlich anzunehmen, dass „die Ausbreitung der Hofkritik den gleichen Bahnen folgte, auf denen sich auch die höfische Literatur und mit ihr zusammen die ritterlichen Ideale in Europa verbreiteten“; ebd., S. 389. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 590 – 594, und ders., Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 444. Siehe dazu ausführlicher auch C. Stephen Jaeger: The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan. Notes toward a Sociology of Fear in Court Society. In: JEGP 83 (1984), S. 46 – 66, Rüdiger Schnell: Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland. Zur funktionalen Differenz von Latein und Volkssprache. In: Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter. Hrsg. von Peter Moraw. Stuttgart 2002 (Vorträge und Forschungen. 48), S. 323 – 358, ders.: Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, hier v. a. S. 83 f., und Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, hier v. a. S. 140. So etwa Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 54, und Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 583, wobei Bumke in einer späteren Studie (ders., Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 444) dann auch den zunehmenden Ausbau des geistlichen Dienstes am englischen Königshof als entscheidenden Faktor für die Entstehung ma. Hofkritik benennt.
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interdisziplinärer mediävistischer Forschung gewesen ist,³³ ist die Frage nach möglichen Vorläufern im frühen Mittelalter bislang nur selten gestellt worden. Lediglich Rolf Köhn hat der Geschichte der mittelalterlichen Hofkritik 1979 eine aufschlussreiche Studie gewidmet, die bislang jedoch kaum rezipiert wurde.³⁴ Als soziokulturellen Ursprungskontext der Hofkritik identifiziert Köhn hier die Entstehung der fränkischen Hofkapelle unter Karl dem Großen (768 – 814)³⁵ – eine bis dato unvergleichliche Verschmelzung von geistlicher und weltlicher Sphäre.³⁶ Konservativen Mitgliedern des
Vgl. dazu etwa das Kapitel „Hofkritik“ bei Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 583 – 594, oder das Kapitel „Johannes von Salisbury und seine Zeit“ bei Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 27– 54. Vgl. Rolf Köhn: Militia curialis. Die Kritik am geistlichen Hofdienst bei Peter von Blois und in der lateinischen Literatur des 9.–12. Jahrhunderts. In: Soziale Ordnungen im Selbstverständnis des Mittelalters. Hrsg. von Gudrun Vuillemin-Diem, Albert Zimmermann. Berlin/New York 1979 (Miscellanea mediaevalia. 12), Bd. 1, S. 227– 257. So erwähnt etwa Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 443, Anm. 105, die Studie Köhns zwar im Kontext seiner Anmerkungen, greift deren Erkenntnisse zur Entstehung der Hofkritik im Frühmittelalter aber inhaltlich ansonsten nicht auf. Auch Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 88 f., behandelt die frühmittelalterliche Hofkritik nur sehr beiläufig („Von dem Moment an, als das Amt eines Hofkapellans entstanden war, hatte dieser Zustand Kritik hervorgerufen. Er bot Stoff für scharfe Konflikte mit der Kirche“). Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 10, Anm. 39, wiederum nimmt zwar durchaus auf Köhn Bezug, erwähnt die Kritik am geistlichen Hofdienst im Vorfeld der Kirchenreform jedoch nur in einem Nebensatz. Explizit auf die antiken Vorläufer der ma. Hofkritik (Lucan, Tacitus, Juvenal etc.) verweist hingegen schon Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 350 f. Zu den antiken bzw. frühmittelalterlichen Vorläufern der Hofkritik des 12. und 13. Jhs. vgl. außerdem auch Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 11 f., Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 90 – 92, sowie beiläufig auch John D. Cotts: Peter of Blois and the Problem of the ‚Court‘ in the Late Twelfth Century. In: Anglo-Norman Studies 27 (2005), S. 68 – 84, hier S. 70. Zu dieser Datierung vgl. zusammenfassend erneut Köhn, Militia curialis, S. 236: „In der beschriebenen Organisation und Funktion gehört die Hofkapelle zu den Schöpfungen der karolingischen Könige. Es gab zwar schon bei den Westgoten und Merowingern einen Hof mit Geistlichen im Gefolge des Königs, doch wird die Hofkapelle erst im späten 8. Jahrhundert faßbar.“ Im 9. Jahrhundert habe sich dann „der Ausbau der karolingischen Hofkapelle“ vollzogen, bevor diese dann „im 10. Jahrhundert in die ottonische Reichskirche integriert“ worden sei. Vgl. dazu ausführlich auch die immer noch grundlegende Studie Josef Fleckensteins: Die Hofkapelle der deutschen Könige. 2 Bände. Stuttgart 1959 – 1966 (MGH Schriften. 16). Weitere Angaben zur älteren Forschung finden sich bei Köhn, Militia curialis, S. 235, Anm. 23. So bestand die „Hauptaufgabe“ der karolingischen Hofgeistlichkeit nach Hans Martin Schaller: Kanzlei und Hofkapelle Kaisers Friedrichs II. In: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento – Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient 2 (1978), S. 75 – 116, hier S. 78 f. (zitiert nach Köhn, Militia curialis, S. 234), zwar darin, „den Gottesdienst am Hofe zu zelebrieren. Daneben erledigten sie aber die verschiedenartigsten Aufgaben im Dienst des Herrschers: Sie arbeiteten als Diktatoren und Schreiber in der Kanzlei, die zweifellos jahrhundertelang mit der Hofkapelle weitgehend identisch war; sie waren mit Verwaltungsaufgaben betraut oder gingen als Diplomaten an fremde Höfe. Unter den Hofkaplänen finden wir oft bedeutende Persönlichkeiten, die als Dichter, Künstler oder Gelehrte das geistige Leben eines Hofes bereicherten.“ Zu den Auftretensformen der capella in den folgenden Jahrhunderten nicht nur im deutschen, sondern auch im anglo-normanni-
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Klerus sind der geistliche Hofdienst und das damit verbundene Leben in der Welt von Beginn an ein Dorn im Auge. Sie sehen in der „Beteiligung von Geistlichen an der Verwaltung, Diplomatie oder Rechtsprechung eines Königs“ einen „schwerwiegende[n] Verstoß gegen die Forderung der Kirche nach strikter Trennung zwischen kirchlichem Amt und weltlicher Machtausübung“:³⁷ Denn dem Weltklerus seien „Liturgie und Seelsorge als eigentliche Aufgaben zugewiesen, nicht jedoch der Dienst in der Verwaltung des Reiches.“³⁸ Höchst problematisch wird darüber hinaus auch der Umstand wahrgenommen, dass man in einem solchen Amt ständig der Gefahr ausgesetzt sei, „an der Blutgerichtsbarkeit des Hofes beteiligt zu sein, obwohl das Kirchenrecht allen Klerikern die Mitwirkung an einem weltlichen Hochgericht verbietet.“³⁹ Diese frühe antihöfische Geisteshaltung, deren Kritik sich allerdings sowohl inhaltlich als auch lokal noch v. a. „auf die Auseinandersetzungen um die Hofkapelle Ludwigs des Frommen“ konzentriert,⁴⁰ hat bereits mit der Wende zum 9. Jahrhundert verstreuten Eingang in Urkunden, Viten, historiographische und theologische Schriften gefunden. Dazu zählen etwa die Vita Ermenlandi seu Herblandi abbatis Antrensis des Donatus (Ende des 8./Anfang des 9. Jhs.), Paschasius Radbertus’ Totenklage auf den heiligen Wala von Corbie (Epitaphium Arsenii; ca. 838 – 852) oder auch Heitos und Walahfrid Strabos Darstellungen der Visionen Wettis von Reichenau (Visio Wettini; ca. 824 bzw. 882).⁴¹ Um 1050 setzt nach Köhn dann die zweite Phase mittelalterlicher Hofkritik ein, welche nun allerdings „nicht mehr zeitlich oder regional beschränkt“⁴² ist und zudem auch hinsichtlich der von ihr kritisierten Aspekte höfischen Lebens eine signifikante Ausweitung erfährt:
schen, sizilisch-normannischen bzw. französischen Königreich vgl. weiterhin überblicksartig Köhn, Militia curialis, S. 235 f. Zum vasallenähnlichen Status der hochmittelalterlichen Hofgeistlichkeit siehe außerdem auch Jaeger, The court criticism of MHG didactic poets, S. 399. Kritisch zu der hier von Schaller, Kanzlei und Hofkapelle Kaiser Friedrichs II., S. 78 f., referierten und in der älteren Forschung weit verbreiteten These, dass die höfischen Dichter sich häufig aus dem Kreise der Hofgeistlichkeit rekrutiert hätten, siehe schließlich Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 170 f. Köhn, Militia curialis, S. 231. Ebd. Ebd., S. 253, sowie (speziell mit Bezug auf das 9. Jh.) auch ebd., S. 244 f. Vgl. dazu weiterhin auch Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 116. Solche Warnungen sind, wie Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 445, hervorhebt, im Übrigen auch noch für die Hofkritik des hohen Mittelalters charakteristisch. Köhn, Militia curialis, S. 247; etwas anders Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 352. Köhn, Militia curialis, S. 242– 244. Zu Paschasius Radbertus als frühmittelalterlichem Hofkritiker vgl. weiterhin auch Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 351. Szabó erwähnt hier als einen weiteren hofkritischen Text der ersten Phase die Vita Hludowici imperatoris des Thegan (um 840). Eine Sammlung und ausführliche Auswertung der genannten sowie von weiteren antihöfischen Texte bzw. Textpassagen des Frühmittelalters bietet Fleckenstein, Hofkapelle, Bd. 1; auf diese Ausführungen Fleckensteins verweist auch schon Köhn, Militia curialis, S. 241. Köhn, Militia curialis, S. 248.
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Sie ist eng mit der Kirchenreform verknüpft und in diesem Punkt besteht eine gewisse Ähnlichkeit mit der frühmittelalterlichen Kritik am geistlichen Hofdienst, die ja mit einem Programm zur Reform von Kirche und Königtum verbunden war. Allerdings sind die Ziele der Reformbewegung des 11. Jahrhunderts umfassender angelegt: Um der Verweltlichung der zeitgenössischen Amtskirche ein Ende zu bereiten, forderten die Kirchenreformer eine strikte Trennung zwischen weltlichem und kirchlichem Bereich. Daher wurden nicht nur Simonie und Nikolaitismus, sondern auch die Beteiligung von Bischöfen an der Königsherrschaft bekämpft. Im deutschen Reich richtete sich die kirchliche Reformbewegung vor allem gegen das ottonisch-salische Reichskirchensystem, das dem König weitgehenden Einfluß bei der Besetzung von Bistümern zugestand und die Bischöfe zu den wichtigsten Helfern bei der Verwaltung des Reiches machte. In enger Beziehung zum Reichskirchensystem stand die königliche Hofkapelle, weil die Hofgeistlichen als die Vertrauten des Königs durch den Dienst am Hof zu geeigneten Kandidaten für den Reichsepiskopat wurden.⁴³
Insofern überrascht es nicht, dass sich auch die Hofkritik des 11. Jahrhunderts verschärft mit dem geistlichen Hofdienst beschäftigt.⁴⁴ Als exemplarische Textzeugen für diese Phase führt Köhn u. a. Petrus Damianis (gest. 1072) Traktat Contra clericos aulicos, die anonyme Vita Anselmi episcopi Lucensis (um 1086), Adams von Bremen Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum (um 1075), die Briefsammlung Meinhards von Bamberg (gest. 1088) sowie das Libellus contra invasores et symoniacos et reliquos scismaticos (1080 – 1098) des Kardinalpresbyters Deusdedit an.⁴⁵ Für die vorliegende Arbeit sind davon insbesondere die beiden letztgenannten Textbeispiele von entscheidender Bedeutung, da sich hier erstmals eine inhaltliche Ausweitung der Hofkritik auch auf ästhetisch-repräsentative Formen der höfischen Kultur feststellen lässt. Allerdings beschränken sich die entsprechenden Klagen hier noch auf die allzu weltliche Lebensform von Mitgliedern des (königstreuen) geistlichen Hochadels, die als potenzielle Simonisten – neben der zeitgenössischen Hofgeistlichkeit – ohnehin im Fokus kirchenreformerischer Polemik stehen.⁴⁶ So kritisiert beispielsweise Mein Ebd. Vgl. ebd. So weiterhin auch Jaeger, The Barons’ intrigue in Gottfried’s Tristan, S. 55. Mit dieser nochmals verschärften kritischen Perspektivierung des geistlichen Hofdienstes geht, wie Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 352, hervorhebt, nicht zuletzt eine bezeichnende sprachhistorische Entwicklung einher, in deren Zuge der Hof auf Lateinisch immer weniger „als aula, palatium oder curtis regalis“ bezeichnet wird, und sich stattdessen der „bis dahin gewöhnlich nur einen ländlichen Großhof oder den Gerichtshof“ anzeigende „Terminus curia“ einbürgert: „Unter dem Einfluß des Constitutem Silvestri nahm der neue Terminus eine negative Färbung an. Denn während die älteren etymologischen Erklärungen das Wort curia – bis hin zu Isidor von Sevilla – gewöhnlich von curare bzw. cura ableiteten, brachte das Constitutum Silvestri eine neue Etymologie ins Spiel. Nach dieser leitete sich die Bezeichnung des weltlichen Gerichtshofes als curia etymologisch von cruor, ‚Blut‘, ‚Blutvergießen‘, ab – eine Deutung, die in die kirchenrechtlichen Quellen Eingang fand und sich mit ihnen verbreitete.“ Vgl. dazu jeweils mit entsprechenden Literaturangaben Köhn, Militia curialis, S. 248 – 250. Zu dieser inhaltlich-argumentativen Ausweitung der Hofkritik v. a. seit dem 11. Jh. vgl. Köhn, Militia curialis, S. 251 f.: „Nun steht auch der (erz‐)bischöfliche Hof im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, nicht nur der Hof des Königs. Diese Entwicklung setzt sich zwar im Verlauf des Investiturstreits nicht weiter fort, weil die Polemik der päpstlichen Reformpartei vorwiegend gegen königstreue (Erz‐)Bi-
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hard von Bamberg in einem als Teil der Hannoverschen Sammlung überlieferten Brief (H 62) von ca. 1061 die große Vorliebe Bischof Gunthers von Bamberg (1057– 1065), der v. a. als „Anreger“⁴⁷ des Ezzolieds bekannt ist, auch für weltliche Literatur (fabulis curialibus).⁴⁸ Als angemessene Ersatzlektüre fügt der Leiter der lokalen Domschule seinem Schreiben eine Sammlung der Predigten des Augustinus bei, wozu er, verbunden mit einem weiteren scharfen Seitenhieb auf Gunthers ausgiebige Schlafgewohnheiten, hier folgendes verlauten lässt:⁴⁹ Non ausim a vobis sperare, ne optare quidem, ut ratam partem diei lectioni illius, immo saluti vestreattribuatis; reliquias saltem et quasi micas temporis, que pulvillis fabulisque curialibus superant, verbo Domini episcopus inedulgere non gravetur. ⁵⁰ ‚Ich wage nicht zu hoffen, daß Ihr einen festen Teil des Tages für diese Lektüre [Augustinus; J. S.-B.] und für Euer Seelenheil bestimmen werdet, aber wenigstens jene Brocken von Zeit, die die Pfühle und höfischen Mären Euch übrig lassen, solltet Ihr als Bischof doch für das Wort Gottes verwenden.‘⁵¹
Die Beschäftigung mit weltlichen Erzählstoffen erscheint bei Meinhard also als ein Zustand der Gottesferne, den es durch die Lektüre angemessener (d. h. religiöser) Literatur zu überwinden gilt. In einem späteren Brief (H 73), in welchem der antihöfische Geistliche sich bei einem unbekannten Bürger Bambergs noch einmal „vorwurfsvoll nach dem Verhalten seines Herrn“ erkundigt, werden mit „Etzel und Amalung (Dietrich von Bern)“ dann sogar einige der favorisierten Sagengestalten des Bischofs benannt.⁵² Im Weiteren wird Gunthers Vorliebe für weltliche Literatur dann von Meinhard außerdem als ein Zustand der Verweichlichung bewertet, der sich mittlerweile sogar auch schon auf seine nur noch aus ‚Angsthasen‘ bestehenden Truppen ausgeweitet haben soll.⁵³ Es ist dies ein sehr früher schriftlicher Beleg für
schöfe und die Hofgeistlichkeit gerichtet ist, doch macht die Kirchenkritik des 12. Jahrhunderts selbst vor der römischen Kurie nicht Halt. Angriffe auf den Hof des Papstes werden nämlich zu einem ständigen Thema der lateinischen Literatur des Hochmittelalters, an dem sich Satiriker, Moralisten und Reformanhänger gleichermaßen beteiligen.“ Carl Erdmann: Fabulae curiales. Neues zum Spielmannsgesang und zum Ezzo-Liede. In: ZfdA 73 (1936), S. 87– 98, hier S. 87. Vgl. Köhn, Militia curialis, S. 251 f. Zu den in mehreren von Meinhards Briefen verhandelten Vorlieben Bischof Gunthers für Heldensagen sowie einen kleinwüchsigen Unterhaltungskünstler namens Askerich (M 28), vgl. erneut auch Erdmann, Fabulae curiales, S. 87. Vgl. Erdmann, Fabulae curiales, S. 87. Auf diese Kritik Meinhards an Bischof Gunther verweisen außerdem auch Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 108, und Fleckenstein, Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof, S. 316 f. Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV. Hrsg. von Carl Erdmann, Norbert Fickermann.Weimar 1950 (MGH Briefe. 5), S. 109 f. Diese Übersetzung stammt von Erdmann, Fabulae curiales, S. 87. Ebd. Ebd.
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einen der zentralsten hofkritischen Topoi,⁵⁴ nach dem die Partizipation des männlichen Adels an Formen moderner höfischer Kultur nicht nur als Sünde zu bewerten sei, sondern darüber hinaus auch zu einem Verlust an physischer Stärke und Mut, zur effeminatio, führe und damit nicht zuletzt eine latente Bedrohung für das Reich darstelle: Quid vero agit domnus noster? quid suus ille exercitus galeatorum leporum? quea bella, quas acies tractant? quos triumphos celebrant? Dii boni, quanta ibi colluvio non virorum, sed muscarum! Quam magnifici et vani strepitus! Nulla ibi gravitas, nulla disciplina. Et o miseram et miserandam episcopi vitam, o mores! Numquam ille Augustinum, numquam ille Gregorium recolit, semper ille Attalam, semper Amalungum et cetera id genus portare tractat. Versat ille non libros, sed lanceas, miratur ille non litterarum apices, sed mucronum acies. ⁵⁵ ‚Was tut unser Herr [Bischof Gunther; J. S.-B.]? […][U]nd was seine Truppe von behelmten Hasen? [W]elche Kriege und Schlachten schlagen sie, welche Triumphe feiern sie? Gerechte Götter, was für ein Unratgewimmel, nicht von Männern, sondern von Fliegen! Welch prächtiges und leeres Lärmen! Kein Ernst, keine Zucht – ein elendes Leben für einen Bischof, o Mores! Nie denkt er an Augustin und Gregor, stets an Etzel, Amalung und dergleichen.‘⁵⁶
Ähnlich wie die zitierten Ausführungen Meinhards geht auch die frühmittelalterliche Hofkritik des Kardinalspresbyters Deusdedit deutlich über den zeitgenössisch verbreiteten kirchenreformerischen Vorwurf hinaus, dass ein „Geistlicher, der seine Pflichten als Seelsorger [aufgibt], um in der Hoffnung auf die Bischofswürde an den
Ich verwende den Begriff ‚Topos‘ im Rahmen der vorliegenden Arbeit – mit gewissen Einschränkungen – in der prominenten Bedeutung, welche ihm einst Ernst Robert Curtius verliehen hat.Vgl. dazu ders.: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Bern 1948, S. 79 f.: „Wesentlich ist: jede Rede (auch die Lobrede) hat einen Satz oder eine Sache annehmbar zu machen. Sie muß Argumente dafür anführen, die sich an den Verstand oder das Gemüt des Hörers wenden. Nun gibt es eine ganze Reihe solcher Argumente, die für die verschiedensten Fälle anwendbar sind. Es sind gedankliche Themen, zu beliebiger Entwicklung und Abwandlung geeignet. […] Die topoi sind […] ursprünglich Hilfsmittel für die Ausarbeitung von Reden. […] Sie werden Klischees, die literarisch allgemein verwendbar sind, sie breiten sich über alle Gebiete des literarisch erfaßten und geformten Lebens aus. Wir sehen in der Spätantike aus dem veränderten Lebensgefühl neue topoi entstehen.“ Hervorhebungen J. S.-B. Wenn im Folgenden also von ‚Topoi‘ die Rede ist, sind damit – in einem recht instrumentellen Sinne – stereotype Argumentationsweisen gemeint, die ihren schriftlichen Niederschlag u. a. in den literarischen Texten des Hochmittelalters finden, und diese auf ganz verschiedenen narrativen Ebenen prägen können. In Abgrenzung zu Curtius’ mitunter überzeitlich-tiefenpsycholgischer Begriffsverwendung (vgl. dazu ebd., S. 114 f.) soll hier allerdings noch einmal mit Nachdruck auf die historisch-kulturelle Variabilität solcher rekurrent wiederkehrender Aussagestrukturen verwiesen werden. Im Hinblick auf die ihnen jeweils zugrundeliegenden Vorannahmen und die sie konstituierenden Terminologien verdanken sich solche Topoi zudem je spezifischen Wissensformationen/Diskursen einer Kultur. Aus ähnlichen Gründen kritisiert an prominenter Stelle bereits Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976, hier S. 148 f., den Toposbegriff bei Curtius. Überblicksartig zur semantischen Spannweite des Toposbegriffs vgl. weiterhin bspw. auch Peter Hess: Art. Topos. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 3 (2007), S. 649 – 652. Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV, S. 121. Diese Übersetzung stammt erneut von Erdmann, Fabulae curiales, S. 91.
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Hof des Königs zu gehen […], ein simonistischer Häretiker [sei]“.⁵⁷ Darüber hinaus prangert der berühmte südfranzösische Kanonist im 15. Kapitel seines Libellus (1080 – 1098) nämlich auch die neuen jagdbezogenen und modischen Leidenschaften des zeitgenössischen Klerus an, die dazu führten, dass manch ein Geistlicher gar „mehr Zeit am Hof […] als an […] Kirchen oder Domkapiteln“ verbrächte:⁵⁸ Sacerdotes quippe a populo non videntur distare, cum certatim se popularibus actionibus student implicare. […] quidam eorum non canonum, sed canum et accipitrum studia et reliquos mundi luxus exercent. Quidam autem, quasi Deus laudet in sacerdote quod reprehendit in divite, amiciuntur peregrinorum [murium] pellibus, et relictis suis cathedralibus ecclesiis assistunt imperatoribus; cum canones spiritu Dei conditi prohibeant pontificibus palacia regis adire […]. Cumque idem sacri canones sub interminatione prohibeant quemque pontificem a sua cathedrali ecclesia tribus dominicis diebus abesse, alios quidem eorum vix ter aut quater in anno, alios vix anno integro contingit easdem revisere. ⁵⁹ ‚Freilich scheinen die Priester sich nicht von den Laien zu unterscheiden, wenn sie sich um die Wette darum bemühen, an deren Aktivitäten beteiligt zu sein. […] Einige von ihnen befassen sich nicht mit den kirchlichen Bestimmungen, sondern mit Hunden und Falken und gehen sonstigen weltlichen Ausschweifungen nach. Andere aber umhüllen sich mit den Fellen von Hermelinen, als ob Gott an einem Priester dasjenige loben würde, was er bei einem wohlhabenden Menschen tadelt, und dienen, nachdem sie die zu ihrem Bischofssitz gehörige Kirche verlassen haben, den Kaisern, obwohl die durch den Geist Gottes gestifteten kirchlichen Bestimmungen den Bischöfen verbieten, Königspfalzen aufzusuchen. […] Auch wenn dieselben heiligen kirchlichen Bestimmungen unter Strafandrohung jedem Bischof verbieten, an mehr als drei Sonntagen seiner Bischofskirche fernzubleiben, kommt es freilich vor, dass einige von ihnen kaum drei oder vier Mal im Jahr, einige sogar kaum einmal im ganzen Jahr, diese aufsuchen.‘⁶⁰
Zusammengefasst enthalten also schon einige der antihöfischen Polemiken des 11. Jahrhunderts Anhaltspunkte dafür, dass die mittelalterliche Hofkritik sich nicht nur kirchenrechtlich, sondern auch moralphilosophisch begründen lässt: Wenn Meinhard und Deudsdedit hier nämlich Ehrgeiz, Schönrederei, Habsucht und Prasserei negativ als mit dem Leben am Hof einhergehende Laster hervorheben, argumentieren sie „auf dem Hintergrund einer Tugendlehre, deren Wurzeln ebenso christlich-religiös wie antik-humanistisch sind.“⁶¹ Ab dem 12. Jahrhundert werden diese unterschiedlichen Ansätze nach Köhn dann schließlich immer mehr gebündelt, vertieft „und zu einer festen Form der Gesellschaftskritik ausgearbeitet“.⁶² Zu den ersten Vertretern dieser dritten Phase mittelalterlicher Hofkritik zählen der normannische Mönch Ordericus Vitalis (1075 – 1142), Köhn, Militia curialis, S. 250. Ebd. Deusdedit: Libellus contra invasores et symoniacos et reliquos scismaticos. Hrsg. von Ernst Sackur. In: Libelli de lite imperatorum et pontificum saeculis XI. et XII. conscripti. Hrsg. von Ernst Dümmler, Lothar von Heinemann, Friedrich Thaner. Hannover 1892, S. 292– 365, hier S. 314. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Köhn, Militia curialis, S. 251. Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 354.
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dessen Historia Ecclesiastica meinen späteren Analysen zur Kleiderdarstellung in der höfischen Epik (Kap. 3) zugrundegelegt ist, sowie der ebenfalls französischstämmige Wilhelm von Malmesbury (ca. 1080–ca. 1142), welcher in seiner Gesta regum Anglorum v. a. den Hof Wilhelms II. von England kritisch perspektiviert.⁶³ Noch weitaus prägender für die Literaturgeschichte der folgenden Jahrhunderte hat sich allerdings Johannes’ von Salisbury Policraticus (um 1159) erwiesen, der „den Schwerpunkt seiner Kritik“ nun endgültig „auf die äußeren Lebensformen und […] Vergnügungen des Hofes [verlegt]“ und damit „die Verurteilung von Schmeichelei, Geiz und aufwendiger Lebensführung [verbindet].“⁶⁴ In der Folge sollte sich im Umfeld des englischen Könighofs Heinrichs II. sodann auch das „produktivste Zentrum“ hochmittelalterlicher Hofkritik entwickeln.⁶⁵ Dieser dritten Phase lassen sich sämtliche der in den nachfolgenden Kapiteln (Kap. 2 u. 3) noch ausführlich zu besprechenden antihöfischen Schriften zuordnen.
1.2 Begriffsbestimmung: Hofkritik als (hoch‐)mittelalterlicher Diskurs Vor dem skizzierten Hintergrund lässt sich die sowohl sprach- als auch gattungsübergreifend überlieferte Hofkritik des 12. und 13. Jahrhunderts methodisch in erster Linie als ein hochmittelalterlicher Diskurs sowie als eine zentrale Form von vormoderner Kulturkritik erfassen.⁶⁶ Den Begriff ‚Kulturkritik‘ verwende ich dabei im weiten
Vgl. ebd., S. 354 f. Vgl. ebd., S. 388 f. Laut Szabó (ebd., S. 390) wird die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehende dritte Phase der moralphilosophischen Hofkritik im späten Mittelalter dann (teilweise) durch eine pragmatisch ausgerichtete vierte abgelöst: So rät nämlich etwa Alain von Chartier in De vita curiali (um 1427) weltlichen Anwärtern auf den Hofdienst von ihrem Vorhaben v. a. aus dem Grund ab, dass der Hof keine „erstrebenswerte Lebenssphäre“ und eine Karriere hier ohnehin nie von langer Dauer sei. Ähnlich argumentieren in der Folge dann etwa auch Aeneas Silvius Piccolomini und Antonio de Guevara, wobei letzterer in seinem Menosprecio „das Leben auf dem Lande als die für ihn ideale“ – da schlichtweg schönste und die eigene Zufriedenheit am wenigsten belastende – „Form der Existenz“ darstellt. Eine ähnlich versachlichenden Weg schlägt weiterhin auch die spätmittelalterliche Herrscherkritik ein, bei der nach Schreiner, Correctio principis, S. 216, zunehmend „[e]ine funktionsfähige Herrschaftsordnung, die eigene Sachzwänge entwickelte, […] wichtiger [erschien] als die persönliche Moral eines Herrschers, der man bislang zugetraut hatte, gute Sitten, Glück und Wohlfahrt eines Volkes zu garantieren. Spätmittelalterliche Fürstenspiegler begannen ihre Lehrschriften nicht mehr mit der Darstellung persönlicher Herrschertugenden, sondern mit einer Lehre vom Wesen der res publica.“ Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 89.Vgl. dazu weiterhin auch ebd., S. 89 f.: „Johannes von Salisbury, Peter von Blois, Giraldus Cambrensis, Nigel Wirecker (Nigellus von Longchamp), Herbert von Bosham und Walter Map sind nur einige der berühmteren Autoren, die Heinrichs Hof entweder direkt oder indirekt attackierten.“ Wie bereits Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 82, konstatiert, ist das „Textkorpus ‚Hofkritik‘“ – aufgrund des verstreuten Auftretens „hofkritische[r] Aussagen […] in ganz un-
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Sinne Georg Bollenbecks, welcher damit „alle Kommentare, Einsprüche und Anklagen gegen ‚verkehrte‘ Wertsysteme, ‚schlechte‘ Zustände und ‚falsches‘ Verhalten“ bezeichnet.⁶⁷ Diese lassen sich in der Zusammenschau als spezifische Ausprägungen eines von der Vormoderne bis in die Moderne nachweisbaren „Reflexionsmodus“ begreifen.⁶⁸ Zur näheren Beschreibung der basalen Argumentationsstrategien und Zielsetzungen mittelalterlicher Hofkritik lässt sich im vorliegenden Kontext darüber hinaus auch auf die Terminologie Ralf Konersmanns zurückgreifen.⁶⁹ Denn Konersmann grenzt in seiner grundlegenden Studie zur Kulturkritik von Seneca bis Theodor W. Adorno eine typisch vormoderne Form der Kulturkritik, für die der „richtige Weg“ in der „Wiederherstellung“ eines vergangenen Idealzustands bestehe,⁷⁰ von einer
terschiedlichen Texten mit ganz unterschiedlichen Funktionen, Adressaten, Kontexten und Traditionen“ – mit genuin „literaturwissenschaftlichen Kategorien allein“ ohnehin „kaum zu systematisieren“. Bollenbeck, Kulturkritik, S. 48: „Demnach reicht die Kulturkritik von Hesiod, Petronius oder Lukian über die mittelalterliche Moral- und Sittenkritik bis zur heutigen Medienkritik.“ Von dieser weiten Verwendung des Kulturkritikbegriffs grenzt Bollenbeck im Folgenden (ebd., S. 48 f.) zwei weitere ab. So sei unter „Kulturkritik im engeren Sinne“ zunächst „ein Phänomen der europäischen Aufklärung“ mit ihrer „neuartigen Öffentlichkeit“ zu verstehen, welches „Selbstreflexivität und Historisierung“ voraussetze. Anders als die „weite[] Kulturkritik“ verfüge diese spezifisch moderne Form nämlich über „ein Geschichtsbewusstsein, das die Summe einzelner Geschichten in den Kollektivsingular Geschichte integriert, das den immanenten Sinn der Universalgeschichte als Fortschritt der Vernunft bestimmt und das darüber nachzudenken beginnt, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selbst ‚machen‘, allerdings ohne über sie verfügen zu können.“ Darüber hinaus operiere, so Bollenbeck (ebd., S. 48) weiter, bspw. bei Spengler oder Rathenau schließlich eine „Kulturkritik in einem spezifisch deutschen Sinne […] mit einem engen, normativen Kulturbegriff, der als kontrastiver Bezugspunkt das Krisenbewusstsein“ lenke und das, was der „‚wahre[n] Kultur‘“ (d. h. den Wissenschaften und Künsten), entgegenstehe, als „‚Zivilisation‘“ abwerte. Nichtsdestotrotz sei die Kulturkritik als ein osmotisches Denkmuster, mit dem „keine festen Theorien, Schulen oder auch nur Residualdisziplinen verbunden“ seien, allgemein „bezeichnungsunsicher“, weshalb auch eine Abgrenzung gegenüber „verwandten Begriffen wie Zivilisationskritik, Gesellschaftskritik oder Zeitkritik“ grundsätzlich schwerfalle; ebd., S. 44. Ebd., S. 48. Ralf Konersmann: Kulturkritik. Frankfurt a. M. 2008. Ebd., S. 54. Als grundlegendes Beispiel für die vormodern-restitutive Kulturkritik nennt Konersmann (ebd., S. 58 f.) Senecas 90. Moralbrief, in welchem dieser den Verfall der Gegenwart (Gier, Permissivität, Nachgiebigkeit, Verstellung und Beunruhigung als Folgen des Lebens in der Stadt) der Reinheit des Ursprungs (Genügsamkeit, Standhaftigkeit, Aufrichtigkeit und Weltvertrauen als Teil des Lebens in der Natur) gegenüberstellt. Dabei bleibt „die Grundfigur […] immer dieselbe. Seneca gewinnt die Unbeirrbarkeit seines Urteils aus dem gesicherten Wissen davon, was zu jeder Zeit und unter allen Umständen das Rechte sei“. Exemplarisch zur ebenfalls restitutiven Kulturkritik Blaise Pascals (Rückbesinnung auf den christlichen Glauben vor dem Hintergrund der Aufklärung), John Ruskins (Rückbesinnung auf die Kunst im Angesicht der Wissenschaft) und William James’ (Rückbesinnung auf den common sense im Angesicht einer lebensfremd gewordenen Philosophie) vgl. weiterhin ebd., S. 60 – 65. Weniger generalisierend als Konersmann geht Bollenbeck, Kulturkritik, S. 49, vor, nach dem ein charakteristisches Merkmal auch noch der modernen Kulturkritik die „wertende Differenz zwischen einer hypothetischen oder konstruierten Vergangenheit oder einem Ideal als normativem Punkt (der ‚ganze Mensch‘, das Genie, der Übermensch, der Naturzustand oder der mittlere Zustand, die
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modernen Kulturkritik ab, die von der „Unumkehrbarkeit des Zivilisationsprozesses“ ausgehe.⁷¹ Die moderne Kulturkritik agiere dabei „ohne positive Entwürfe“ und erinnere die Kultur stattdessen höchstens vereinzelt „an ihre eigenen Selbsterneuerungspotentiale“.⁷² Vor diesem Hintergrund lässt sich zumindest die mittelalterliche Hofkritik in lateinischer Sprache hinsichtlich ihrer grundlegenden argumentativen Stoßrichtung, die auf ein „räumliches Sich-Entfernen vom Hof“ sowie auf die „wieder herzustellende Ausrichtung der Adressaten auf christliche Tugenden“ abzielt, als spezifisch vormodern beschreiben.⁷³ Inwieweit sich darüber hinaus auch die poetische Kulturkritik der mittelhochdeutschen höfischen Literatur dieser Kategorie zuordnen lässt, wird im Folgenden noch zu prüfen sein. Der im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendete Diskursbegriff wiederum geht ursprünglich auf die Arbeiten Michel Foucaults zurück.⁷⁴ Dieser versteht darunter auf dem Stand seiner Archäologie des Wissens (L’archéologie du savoir, 1969) „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“.⁷⁵ In Foucaults Sichtweise auf das Verhältnis zwischen Sprecher, Welt und Sprache sind es abstrakte Wissensformationen, die es einem Menschen überhaupt erst ermöglichen, sich zu Griechen, das Mittelalter etc.) und den schlechten Verhältnissen und Verhaltensweisen in der Gegenwart“ sei. Konersmann, Kulturkritik, S. 134: „Weder ist noch hat die [moderne; J. S.-B.] Kulturkritik ein Programm, sie agiert ohne positive Entwürfe. Als intermediäre, interdiskursive, intertextuelle Diskursschicht befällt sie Medien und Texte, von denen sie sich in alle Welt tragen läßt: im Schatten der Kunst und der Literatur, der politischen Manifeste, der Predigten, der Filme und der populären Musik, der philosophischen Essays und Abhandlungen. Sie verleiht ihre Stimme und findet überall ihr Forum, sie existiert supplementär. Sie spricht in niemandes und auch in keinem höheren Interesse, sie ist eine Intervention ohne konkreten Auftrag, ohne historisches Ziel und ohne verantwortliches Subjekt. Daher ihre Masken und Maskeraden, daher ihr schillerndes und gelegentlich auch schreiendes Auftreten.“ Ebd., S. 61 f. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 142, Anm. 17. Zu den „mindestens vier Bedeutungen“, in denen das Wort Diskurs (von lat. discursus: ‚das Auseinanderlaufen, Hin- und Herlaufen‘) aktuell in den Geisteswissenschaften verwendet wird, vgl. prägnant Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 240 f. Ähnliche grundlegende Erläuterungen zu den verschiedenen Diskursbegriffen der Forschung bieten weiterhin auch Ute Gerhard, Jürgen Link, Rolf Parr: Art. Diskurstheorien und Diskurs. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 95 – 98, hier S. 95 f.; etwas anders differenziert dagegen Joachim Harst: Diskursanalyse. In: Literatur- und Kulturtheorien in der germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 7– 32, hier S. 7. Zu den theoretischen Vorläufern und konkurrierenden Konzeptionen zum Foucaultschen Diskursbegriff (Émile Benveniste, Algirdas Greimas etc.) siehe weiterhin prägnant Jürgen Link, Ursula Link-Heer: Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi 77 (1990), S. 88 – 99, hier S. 88 f. Dieses und alle nachfolgenden Zitate entstammen der Textausgabe Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, hier S. 156. – Foucault hat kontinuierlich an seinem Diskursbegriff gearbeitet, weshalb sich dessen Definition mit dem Fortschreiten seiner Forschung auch immer wieder gewandelt hat. In den Literaturwissenschaften ist dabei rezeptionsgeschichtlich aber eine starke Präferenz für den sprachfokussierten Diskursbegriff auf dem Stand der Archäologie feststellbar. Vgl. dazu prägnant speziell zur Archäologie bzw. phasenübergreifend Michael Ruoff: Foucault-Lexikon. Entwicklung, Kernbegriffe, Zusammenhänge. Stuttgart 2013, S. 34 f. u. 21– 40.
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einem bestimmten Thema auf eine bestimmte Art zu äußern.⁷⁶ Dementsprechend seien es also die Diskurse (verstanden als Zusammenhänge von Aussagen mit einem je kontextspezifischen „Wahrheitswert“), die das „Wissen innerhalb eines räumlich und zeitlich begrenzten Kulturraums“ und damit nicht zuletzt auch die „Erkenntnis“ über „kulturelle Phänomene“ begründen, insofern diese immer „sprachlich-diskursiv vermittelt“ werden müsse.⁷⁷ Folglich beruhen nach Foucault auch die Systematiken schriftlich verfasster Texte auf abstrakten Wissensordnungen, die vom Autor im Schreibprozess nicht erst selbst hergestellt werden, sondern jenem bereits vorausgehen.⁷⁸ Diese paradoxe „Inversionsfigur – das sprechende Subjekt ist weniger Ursprung als Effekt der Aussage – verbindet das Denken Foucaults mit den Arbeiten weiterer französischer Intellektueller, die gemeinhin unter dem Titel Post- oder Neo-Strukturalismus gruppiert werden“.⁷⁹ Als eine Folge der vielfachen interdisziplinären Vereinnahmungen des wissensphilosophischen Diskursbegriffs nach Foucault gestaltet sich dessen Verwendung in der Forschung mittlerweile nicht nur inflationär, sondern zum Teil auch überaus widerspruchsvoll.⁸⁰ Für den Einsatz im literaturwissenschaftlichen Zusammenhang eignet sich dabei, wie schon Ricarda Bauschke ausführt, insbesondere die pragmatisch auf die Diskursivität von poetischen Texten zugespitzte Variante nach Michael
Foucaults Ansatz reiht sich diesbezüglich, so zusammenfassend Richard Aczel: Art. Subjekt und Subjektivität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 514 f., hier S. 514, in die mit der „nachidealistischen Philosophie des 19. Jh.s“ (Schopenhauer, Nietzsche, Marx etc.) und der Psychoanalyse Freuds einsetzende „kritische Hinterfragung des Begriffs des rational-autonomen Subjekts ein“, die „das Subjekt nicht mehr als selbstständig handelndes, sondern als Wirkung von Handlungen, als Konstrukt oder Effekt von Ideologie und Sprache konzeptualisiert“. Diese extreme Position des Frühwerks hat Foucault im weiteren Verlauf seiner Forschungen dann allerdings einer kritischen Revision unterzogen; vgl. dazu prägnant Tschopp, Der Kulturbegriff der Kulturgeschichte, S. 46 f. Arne Klawitter, Michael Ostheimer: Diskursanalyse. In: dies.: Literaturtheorien – Ansätze und Anwendungen. Göttingen 2008, S. 162– 186, hier S. 163. Zum Aspekt der diskursiven Erzeugung von ‚wahren‘ Aussagen über einen Redegegenstand ähnlich weiterhin auch Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 96. Vgl. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 241. Harst, Diskursanalyse, S. 7; so auch Jürgen Fohrmann: Art. Diskurstheorie(n). In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (2010), S. 372– 374, hier S. 373. Zur expliziten Abgrenzung Foucaults sowohl von der Hermeneutik als auch vom Strukturalismus v. a. über den Diskursbegriff der Archäologie vgl. weiterhin prägnant Michael Waltenberger: Das große Herz der Erzählung. Studien zu Narration und Interdiskursivität im ‚Prosa-Lancelot‘. Frankfurt a. M. [u. a.] 1999 (Mikrokosmos. 51), S. 24 f. Ähnlich weiterhin auch Tschopp, Der Kulturbegriff der Kulturgeschichte, S. 46 f. Vgl. Ricarda Bauschke: Strategien des Erzählens bei Herbort von Fritzlar.Verfahren interdiskursiver Sinnkonsitution und ihr Scheitern im ‚Liet von Troye‘. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 347– 365, hier S. 347. Diese Uneindeutigkeit des literaturwissenschaftlichen Begriffsgebrauchs sei allerdings, so Bauschke (ebd.) weiter, nicht zuletzt auf die „Mehrdeutigkeit schon des Foucaultschen Diskursbegriffs“ selbst zurückzuführen. Ähnlich auch Manfred Frank: Zum Diskursbegriff bei Foucault. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann, Harro Müller. Frankfurt a. M. 1988, S. 25 – 44, hier S. 25.
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Titzmann.⁸¹ So definiert Titzmann den Diskurs im engen Anschluss an Foucaults Archäologie als „ein System des Denkens und Argumentierens“, das sich von einer Menge von Texten abstrahieren lässt und dabei, erstens, durch einen der jeweiligen „Textklasse gemeinsamen Redegegenstand“ sowie, zweitens, durch wiederkehrende argumentative und begriffliche „Regularitäten der Rede über diesen Gegenstand“ gekennzeichnet ist:⁸² Die Rederegeln sind […] die diskursspezifischen epistemologischen Basisprämissen, die festlegen, welche Aussagen in einem Text dieses Diskurses zulässig sind. Ich unterscheide zur Illustration zwei Teilklassen solcher Prämissen […]: a) die Formationsregeln: sie umfassen formale Regeln, z. B. die logischen und methodologischen Voraussetzungen der Aussagen, die zulässigen Argumentationsstrukturen, die Bedingungen des Wahrheitsbeweises für Aussagen, usw. Sie können zweitens auch inhaltliche Annahmen umfassen: Aussagen über den Gegenstand also, von deren Wahrheit jeder Text des Diskurses auszugehen hat. Sie können drittens eine bestimmte Terminologie, also eine vorgegebene Kategorisierung der Realität, umfassen, womit zugleich der Übergang zur zweiten Teilklasse solcher Prämissen erreicht ist: b) die Formulierungsregeln: sie legen fest, auf welche Weise Propositionen in Sätze des Diskurses überführt werden können. In diesem Komplex der Sprachformen, die im Diskurs erlaubt und für ihn typisch sind, können z. B. auch Bildsysteme der Kultur eine wesentliche Rolle spielen.⁸³
Darüber hinaus lasse sich ein Diskurs, so Titzmann weiter, jedoch auch hinsichtlich seiner Beziehungen zu anderen zeitgenössischen Wissensordnungen näher beschreiben, die wiederum unterschiedlich komplex ausfallen können.⁸⁴ So bestünde einerseits die Möglichkeit, dass ein Diskurs einen anderen Diskurs dominiere bzw. ihn
Vgl. Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 347. Der größte Vorteil des von Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99 (1989), S. 47– 61, entwickelten Diskursbegriffs für eine literaturwissenschaftliche Analyse liegt in dessen inhaltlich enger Anknüpfung an die Archäologie, jedoch in Verbindung mit einer klaren, konzisen und anwendungsbezogenen Ausformulierung der relevanten Definitionskriterien, die sich von Foucaults diskursiv-hinterfragendem Stil abgrenzt. (Diese Art des Stils hängt allerdings wiederum mit dem abweichenden Fokus der Archäologie auf die allgemeinen Entstehungsbedingungen und inneren Systematiken von Wissensordnungen zusammen.) Zu diesem Kernproblem der Archäologie vgl. erneut auch Ruoff, Foucault-Lexikon, S. 34 f. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 51 f. Hervorhebungen im Original. Dabei könne sich, so Titzmann (ebd., S. 54 f.) ein Diskurs gattungsübergreifend in ganz „verschiedenen Texttypen manifestieren. […] In einem Text oder Texttyp wiederum können verschiedene Diskurse koexistieren. Insbesondere die Literatur kann im Prinzip verschiedenste Diskurse in sich aufnehmen“. So im Anschluss daran auch Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 347 f. Ähnlich definieren den Diskursbegriff weiterhin auch Klawitter/Ostheimer, Diskursanalyse, S. 163. Vgl. dazu grundlegend außerdem auch die Kapitel II.3 („Die Formation der Gegenstände“, S. 61– 74) und II,4– 6 („Die Formation der Äußerungsmodalitäten“, „Die Formation der Begriffe“ und „Die Formation der Strategien“, S. 75 – 103) in Foucaults Archäologie. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 52. Hervorhebungen im Original. Vgl. ebd., S. 53. Hervorhebung des Verfassers. Auf die „synchrone[n] und diachrone[n] Oppositionsbeziehungen“ von Diskursen „zu anderen Aussagesystemen“ verweisen allgemein auch Klawitter/ Ostheimer, Diskursanalyse, S. 163.
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begrenze.⁸⁵ Abgesehen davon könnten verschiedene Diskurse aber auch miteinander korreliert sein, etwa wenn sie zwar „in ihren Basisprämissen verschieden“ seien, „aber im Gegenstand Gemeinsamkeiten“ hätten:⁸⁶ [D]ie Gegenstände verschiedener Diskurse können benachbart sein, sie können sich überschneiden, sie können identisch sein; im letzteren Falle handelt es sich um unmittelbar konkurrierende Diskurse. […] Diskurse mit einer Verwandtschaft auf der Ebene des Gegenstandes bilden Diskursgruppen. ⁸⁷
Umgekehrt komme es aber natürlich auch vor, so Titzmann, dass Diskurse „verschiedene Gegenstände haben, aber die Basisprämissen teilen, so daß dem Denken über verschiedene Gegenstände dieselben Strukturen zugrunde liegen; in diesem Falle gehören mehrere Diskurse demselben Diskurstyp an“.⁸⁸ Ausgehend von dieser Definition Titzmanns lässt sich der textuell fassbare hofkritische Diskurs des 12. und 13. Jahrhunderts zunächst in groben Zügen wie folgt skizzieren: Seinen „Kerngegenstand“⁸⁹ bildet die aus christlicher Sicht grundlegende
Vgl. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 53. Ebd. Vgl. hierzu grundlegend auch die Ausführungen Foucaults in der Archäologie, S. 65. Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 53. Hervorhebungen im Original. Ebd. Hervorhebungen im Original. Den Begriff ‚Diskurstyp‘ verwendet schon Foucault in einer ähnlichen Weise; vgl. dazu die Archäologie, S. 225. – Als viertes (optionales) Merkmal von Diskursen führt Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 54, weiterhin an, dass „[j]eder Diskurs und jeder Texttyp“ auch „durch Institutionen abgesichert sein“ könne: „Ist ein Diskurs mit einer Institution korreliert, so kann diese auch die Einhaltung seiner Regeln überwachen. Nachdem sich im frühen 19. Jahrhundert etwa die Diskurse der Psychologie, der Soziologie, usw., von der Philosophie gelöst haben, entstehen allmählich an den Universitäten auch die entsprechenden Wissenschaften als institutionelle Einheiten. […] Besonders gut hat solche Überwachung und Sanktionierung von Verletzungen der Diskursregeln ja immer im Falle der Theologie und der sie tragenden Institutionen funktioniert.“ Ähnlich wie Titzmann definiert auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 242– 246, hier S. 246, den Foucaultschen Diskursbegriff zunächst im Hinblick auf einen spezifischen „Kerngegenstand“ sowie „bestimmte begriffliche und argumentative Regeln“ für dessen „Behandlung“, setzt dabei aber außerdem eine (gesonderte) „institutionelle Grundlage“ (ebd., S. 243) als drittes fakultatives Definitionsmerkmal an. – Da es im Fall der ma. Hofkritik, im Gegensatz etwa zu dem von Hübner (ebd., S. 248 f.) beschriebenen kirchenrechtlichen Diskurs, der vom 11. Jh. an über eigene „Institutionen einer Fachdisziplin“ verfügt, trotz starker thematischer Spezialisierung (wohl schon aus Gründen der politischen Brisanz) nie zu einer gesonderten Institutionalisierung gekommen ist, wird der vorliegenden Arbeit die Begriffsdefinition nach Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 51– 54, zugrundegelegt. So kann nach Titzmann die Herausbildung von neuen Diskursen einer (optionalen) gesonderten Institutionalisierung durchaus vorausgehen; vgl. dazu ebd., S. 54. Im Übrigen wäre anzumerken, dass ein (optionaler oder fakultativer) Einbezug der Institution als Definitionsmerkmal des Diskurses streng genommen über den Stand der Foucaultschen Archäologie hinausweist, wo dieser nämlich noch als eine autonome Größe fungiert. Der Einfluss der Institution kommt bei Foucault dann erst wieder einige Jahre später in Die Ordnung des Diskurses wieder ins Spiel; vgl. dazu überblicksartig erneut Ruoff, Foucault-Lexikon, S. 34– 39. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 246. Allgemein zu Hübners Verfahren der Rekonstruktion und Beschreibung historischer Wissensordnungen, an dem sich auch die vorliegende Arbeit grundlegend orientiert, vgl. ebd., S. 240 – 265.
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Schlechtigkeit und Sündhaftigkeit des Lebens am Hof.⁹⁰ Als ein in erster Linie geistlicher „Diskurstyp“⁹¹ teilt die Hofkritik dabei einen großen Teil ihrer Basisprämissen und topischen Argumentationsmuster mit dem theologischen Diskurs, dessen Kerngegenstand allerdings die „in den biblischen Texten geoffenbarte Wahrheit und […] die Auslegung der biblischen Texte durch die Kirchenväter“ ist.⁹² Wie der theologische geht nämlich auch der hofkritische Diskurs von der Vorannahme aus, dass das grundlegende Ziel diesseitigen Lebens in der Erlangung des Seelenheils bestehe,⁹³ und leitet daraus zahlreiche seiner topischen Aussagestrukturen ab. Daran gebunden ist eine entsprechende religiöse Terminologie mit Gott (Deus, Christus), Teufel (diabolus), Tugend (virtus) und vor allem der Sünde (peccatum) als zentralen Begrifflichkeiten, die hier aber in Verschränkung mit einem ausgesprochen breiten und differenzierten hofbezogenen Vokabular zum Einsatz kommen. Auf diese Weise werden beispielsweise die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehende höfische Musik und Kleidung wiederholt als seelengefährdende Verstöße gegen die göttliche Ordnung und Hinweise auf eine ausgeprägte „Gottesferne“⁹⁴ des zeitgenössischen Adels perspektiviert. „Verlangen nach Heiterkeit und Freude (delectatio) w[ird] als sündhafte Lust (voluptas) wahrgenommen, repraesentatio als bloße luxuria verteufelt.“⁹⁵ Als besonders negativ werden darüber hinaus etwa auch „der Lärm, das Gedränge und das
Zum Hof als Gegenstandsbereich der Bibel (v. a. des Alten Testaments) vgl. zusammenfassend Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 128. Exemplarisch zu den Bezugnahmen hochmittelalterlicher Theologen auf diverse, mit dem zeitgenössischen Hof assoziierbare biblische Gestalten vgl. weiterführend auch Paul Gerhard Schmidt: Curia und curialitas. Wort und Bedeutung im Spiegel der lateinischen Quellen. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg.von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (VMPIG. 100), S. 15 – 26, hier S. 23 (Ahitofel und Chusi als Verkörperungen des guten bzw. bösen königlichen Beraters im Zusammenhang mit der Rebellion Absaloms gegen David [2 Samuel 14– 18], Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 73 (Joseph als „Hofkritiker“ gegenüber dem Pharao [Genesis 41] in Jeans de Limoges Somnium morale Pharaonis), Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 119 (Josephs und Moses’ Leben am Pharaonenhof, der Prophet Nehemia als Herrscher von Persien) u. 133 (die von Moses gerettete Tochter des Pharaos; die mit Pilatus verheiratete ‚Königin‘ Esther), und Schreiner, Correctio principis, S. 219 (der erste Tyrann und Städtebauer Nimrod als Stammvater christlicher Könige im Spätmittelalter).Vgl. dazu weiterhin auch S. 88, der vorliegenden Arbeit (der babylonische Kronprinz Belšazar als Prototyp des prunkenden Heiden [Daniel 5,1– 30] im Policraticus Johannes’ von Salisbury). Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 53. Titzmann spricht diesbezüglich auch von (theologischen, philosophischen etc.) „Teildiskursen“. Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 348, verwendet in einem ähnlichen Zusammenhang den Begriff des „Kleindiskurses“. Zum Kerngegenstand als Kriterium der Abgrenzung verschiedener Wissensordnungen vgl. weiterhin auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 263. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 249. Zur Auslegung der biblischen „Wahrheitsoffenbarung“ als Kerngegenstand des theologischen Diskurses siehe auch ausführlicher ebd., S. 297 f. Vgl. ebd., S. 243. Ebd., S. 250 (mit Bezug auf das Thema Geschlechtsverkehr). Zu dieser allgemeinen Tendenz ma. Hofkritik vgl. zuvor auch schon Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 46 f. Schreiner, Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 99.
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Durcheinander am Hof […] vermerkt […], die Verschwendung beim Bauen neuer Häuser und die Prasserei bei höfischen Festgelagen“ sowie „die Launenhaftigkeit des Hofherrn“.⁹⁶ Auf den Grundlagen der christlichen Morallehre konfrontiert die geistliche Hofkritik als laudatio temporis acti so „den gegenwärtigen Niedergang mit der vergangenen guten Ordnung“ und fungiert dabei zugleich als spezifisch kulturkritische Variante der topischen Erinnerung an die Vergänglichkeit alles Irdischen.⁹⁷ Flankiert wird eine solche Argumentation weiterhin durch den Rückgriff auf ausgewählte Basisprämissen der christlichen Auslegung der Drei-Stände-Lehre, nach deren Einteilung in oratores, bellatores und laboratores die wesentliche gesellschaftliche Aufgabe des Adels im Kampf besteht.⁹⁸ Im Zusammenhang mit dem topischen Vorwurf der Hofkritiker, dass eine Partizipation an bestimmten Formen höfischer Kultur den Ritter schlaff und kampfesunfähig mache, entwickeln sich dabei auch die „effeminatio und […] degeneratio“ zu Zentralbegriffen der geistlichen Hofkritik.⁹⁹ Als positiver Gegenentwurf wird in diesem Kontext der bereits im späten 11. Jahrhundert entwickelte religiöse Ritterbegriff der Kirchenreform herangezogen, nach dem der männliche Adel nicht nach Prunk und weltlicher Ehre zu streben, sondern sein Schwert ausschließlich im Dienst des christlichen Glaubens bzw. der Kirche zu führen habe.¹⁰⁰ Um der argumentativen Zielsetzung der Verdammung höfischen Lebens noch weitere Nachdrücklichkeit zu verleihen, werden neben den skizzierten christlichen Wissensbeständen allerdings auch diverse Bereiche der antiken Bildungstradition in den antihöfischen Diskurs integriert.¹⁰¹ So greifen die geistlichen Hofkritiker etwa
Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 585. Bollenbeck, Kulturkritik, S. 51. Vgl. dazu etwa Fleckenstein, Miles und clericus am Königs- und Fürstenhof, S. 302. Zusammenfassend zu der bereits seit dem 10. Jh. in der christlichen Theologie verbreiteten „Vorstellung, dass die Menschen nach ihrer Tätigkeit eingeteilt werden können in solche, die die Felder bestellen, solche, die kämpfen, und solche, die beten“ vgl. überblicksartig bspw. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 39 – 43 (Zitat ebd., S. 39), zu der den biblischen Referenzstellen innewohnenden Problematik hier insb. S. 40: „Den meisten Gliederungen lag der biblische Gedanke zugrunde, der vor allem in den Briefen des Apostels Paulus formuliert worden ist, daß die Ordnung der Welt in Gott ruht und daß ‚ein jeglicher in seiner Ordnung‘ steht. Dieser Grundgedanke der christlichen Ständelehre eignet sich jedoch kaum als Modell für eine Beschreibung tatsächlich bestehender Unterschiede in der Gesellschaft. Der ‚Stand‘ im paulinischen Sinn bezeichnete nur das Stehen in einer großen gottgewollten Ordnung. ‚Stände‘ in diesem Sinn waren Männer und Frauen, Arme und Reiche, Geistliche und Laien, Sünder und Gerechte usw.“ Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 47. Zum revolutionären Charakter der Ausweitung des militia-Begriffs vom geistlichen (Apostel, Missionare, Märtyrer, Asketen, Mönche) auf den weltlichen Bereich des Kriegertums vgl. ausführlich Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 399 – 415; zu der in Abgrenzung vom vermeintlich gewalttätig-zügellosen und primär auf materielle Güter ausgerichteten weltlichen Ritterschaftskonzept entworfenen militia Christi sowie ihrer Rezeption in der lateinischen und volkssprachlichen Literatur vgl. weiterhin auch Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 460 – 463. Vgl. dazu auch schon Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 141 f.
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neben ausgewählten mythologischen exempla vielfach auch auf altrömische Topoi wie den berühmten Satz des Lucan, exeat aula qui vult esse pius („Verlasse den Hof, wenn Du tugendhaft bleiben willst“),¹⁰² oder das ursprünglich der 5. Satire Juvenals entstammende verdorbene Festmahl zurück.¹⁰³ In stereotyper Weise wird zudem „der Höfling, der sich nur mit Nichtigkeiten ab[gibt], dem Philosophen gegenübergestellt, oder das Leben am Hof […] zum Leben im Kloster oder auf der Schule in Kontrast gebracht.“¹⁰⁴ Ohnehin wird antihöfisches Gedankengut, wie Claus Uhlig grundlegend herausgearbeitet hat, vom hohen Mittelalter an in zunehmendem Maße „unter ganz bestimmten loci communes“ abgelagert.¹⁰⁵ Hierzu zählen in zeitgenössischen Fürstenspiegeln v. a. die Gemeinplätze adulatio (‚Schmeichelei‘), ambitio (‚Ehrgeiz‘) und calumnia (‚Intrige‘, ‚Verleumdung‘).¹⁰⁶ Darüber hinaus wird der Hof oftmals aber auch bildlich in stereotyper Weise mit einem stürmischen Meer gleichgesetzt: Er „stelle […] einen Lebensbereich dar, in dem der Fromme und Gebildete nur ‚Schiffbruch‘ (naufragium) erleiden könne.“¹⁰⁷ Dementsprechend wird „im Bild des Hafens […] die rettende Funktion des Klosters zur Anschauung gebracht, das sich angesichts existenzbedrohender Gefährdungen als Ort des Heils bewährte.“¹⁰⁸
Diese Übersetzung stammt von Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 101. Zu der den antiken Ursprungskontext gänzlich ignorierenden Verwendungsweise dieses Topos im Mittelalter vgl. auch ebd., S. 101 f. Vgl. Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 388. Juvenals Topos vom verdorbenen Festmahl hat bspw. Eingang in Petrus’ von Blois berühmten „Brief 14“ an die Hofgeistlichkeit Heinrichs II. gefunden; vgl. dazu ebd., S. 360 f. Der Topos exeat aula qui vult esse pius wiederum ist grundlegend etwa für die Konzeption des Palpanista Bernhards von der Geist (um 1250); siehe dazu mit entsprechenden Stellenangaben erneut ebd., S. 364– 368. Dieser Topos wird darüber hinaus auch schon im 12. Jh. bei Johannes von Altavilla sowie in dem anonymen Gedicht De palpone et assentatore aktualisiert; vgl. dazu wiederum Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 90 – 93, sowie, im Anschluss daran, auch Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 343, Anm. 87. Vor allem im französischen Raum entwickelt sich, wie Schnell (ebd., S. 343) hervorhebt, daraus vom 12. Jh. an dann außerdem „das Landleben als glückselige Alternative gegenüber einem unerträglich geworden Hofleben“, wie es zum Teil schon die antike Literatur (Vergil, Horaz, Juvenal) verhandelt. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 585. Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 161; vgl. dazu ausführlicher auch Uhligs Kapitel „Antihöfische loci communes in Fürstenspiegeln“, ebd., S. 72– 83. Vgl. ebd., S. 83. In der Folge bildet sich im 15. Jh. dann schließlich sogar ein eigener hofkritischer Gemeinplatz (aulica vita/de aula) heraus; vgl. dazu ebd., S. 165 – 174, sowie, dem zustimmend, auch Kiesel, Bei Hof, bei Höll, S. 6. Zur Topik ma. Hofkritik vgl. außerdem auch schon auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 585. Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 92. Ebd.
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1.3 Konkurrierende Wissensordnungen: Der höfische Diskurs des 12./13. Jhs. Betrachtet man, wie Titzmann es vorschlägt, in einem zweiten Schritt nun das epistemische Umfeld des hofkritischen Diskurses, erscheint vor allem dessen Verhältnis zu einer weiteren zeitgenössischen Wissensordnung, die den Hof fokussiert, bedeutsam: der höfische Diskurs.¹⁰⁹ Dieser Diskurs, dessen Name sich aus seiner terminologisch-argumentativen Organisation rund um einen Zentralbegriff des ‚Höfischen‘ ergibt, wird, wie Gert Hübner grundlegend ausführt, primär in Texten der Volkssprache aktualisiert und fällt dabei weitestgehend mit der höfischen Dichtung zusammen.¹¹⁰ Darüber hinaus hat er allerdings auch Eingang in die zeitgenössische Chronistik, in Bischofsviten und sogar in einige theologische Traktate gefunden.¹¹¹ Seine Träger sind die Mitglieder der ständisch heterogenen und in ihrer Zusammensetzung noch ausgesprochen inkonsistenten Hofgesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts.¹¹² Den „Kerngegenstand“ des höfischen Diskurses liefert, wie bereits ange Grundlegend zum höfischen Diskurs vgl. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 256 – 262, sowie weiterhin auch Bauschke, Strategien des Erzählens, hier v. a. S. 364 f., zur interdiskursiven Engführung höfischer und historiographischer Argumentationsweisen speziell in Herborts von Fritzlar Liet von Troye. Etwas anders dagegen Wagner, Erzählen im Raum, S. 66 f., der von insgesamt drei verschiedenen (im Folgenden dann allerdings nicht näher im Hinblick auf die ihnen eigenen Wissensbestände beschriebenen) höfischen Spezialdiskursen ausgeht, „die den Hof erst als Hof erkennbar machen: Recht, Feier und Fehde“ (Zitat ebd., S. 67). Vgl. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 247. Kritisch zu der davon abweichenden und mitunter vagen Verwendung des Begriffs ‚höfisch‘ in der älteren Forschung v. a. im Sinne eines literarischen Stilbegriffs vgl. weiterführend auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 81 f. Zu den höfisierenden Tendenzen zeitgenössischer Chronistik vgl. ausführlich Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 265 – 283. Daran anknüpfend kann Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 15 – 24, allerdings nachweisen, dass sich der Beginn der Etablierung eines höfischen Verhaltensideals beim laikalen und geistlichen Adel noch weitaus früher als von Jaeger (nämlich im 7. Jh.) ansetzen lässt. Allerdings finde, so weiter Schnell (ebd., S. 14) eine systematisierende „Bündelung“ der entsprechenden Haltungs- und Verhaltensvorschriften unter dem Begriff curialitas/hövescheit dann eben erst im 11./12. Jh. statt. Zur (mitunter gebrochenen) Aktualisierung des höfischen Diskurses in hochmittelalterlichen Bischofsviten bis zum 13. Jh. siehe weiterhin das Kapitel „Vom höfischen zum literarischen Ideal: Metamorphosen des Hofmanns“ bei Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 146 – 157. Jaeger arbeitet hier anhand von zahlreichen Belegstellen die Parallelen in der Darstellung von Gottfrieds Tristanfigur zu derjenigen Bischof Ottos von Bamberg (um 1060 – 1139) in der Prüfeninger Vita heraus; vgl. dazu v. a. ebd., S. 148 f. Zur positiven, religiös erweiternden Verwendung des curialitas-Begriff bei Thomas von Aquin (mit Bezug auf Jesus Christus) siehe weiterführend auch Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 130 f. Ich verstehe die höfische Gesellschaft hier also im Anschluss an Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 2, nicht als „rechtlich oder institutionell klar abgrenzbares Phänomen […], sondern als eine Art von freier Assoziation, die in einem dynamischen Prozeß sich selbst immer wieder neu bildet und dabei an den (imaginären) Rändern stetige integrative Wirkung entfaltet und doch zugleich um Exklusion bemüht ist.“ Ähnlich auch Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 446 – 448.
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deutet, die Frage danach, „was höfisch und unhöfisch ist“.¹¹³ Die entsprechenden Vorannahmen und begrifflichen bzw. argumentativen Rederegularitäten gehen dabei von den „Lebenszielen“ der höfischen Ethik aus.¹¹⁴ In diesem Zusammenhang werden die „Idealbilder des höfischen Ritters und der höfischen Dame entworfen, Liebe und Ehe harmonisch verbunden und ein Geflecht von moralischen Werten gesponnen, die das menschliche Miteinander regeln sollen.“¹¹⁵ Ganz im Gegensatz zu den Verhandlungen der lateinischen Hofkritik erscheint der Hof aus der Perspektive des höfischen Diskurses insofern als das Zentrum eines vornehmen und zivilisierten Lebensstils.¹¹⁶ Sein Zentralbegriff lässt sich in diesem Zusammenhang auf sämtliche Elemente der neuen Hofkultur beziehen,¹¹⁷ weshalb die wohl in Auseinandersetzung mit dem Lateinischen (curialis) sowie dem Französischen (cortois/cortes) entstandenen mittelhochdeutschen Formen hövesch/hövescheit schon früh eine beträchtliche semantische Spannweite aufweisen.¹¹⁸ Nach Peter Ganz reicht diese in der Tat schon um 1170
Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 263. Ebd., S. 258. Zu den stereotypen Argumentationsweisen des höfischen Diskurses vgl. auch die exemplarischen Analysen Hübners (ebd., S. 257– 262) zur Verhandlung des Redegegenstands ‚Geschlechtsverkehr‘ im Kontext der diskursspezifischen Kategorien ‚Minne‘ und ‚Glückseligkeit‘ bei Walther von der Vogelweide und Konrad von Würzburg. Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 364. Zum höfischen Ritterbegriff vgl. weiterhin auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 425 – 430, und Otfrid Ehrismann: Ehre und Mut, Aventiure und Minne. Höfische Wortgeschichten aus dem Mittelalter. Unter Mitarbeit von Albrecht Classen [u. a.]. München 1995, S. 169 – 181; zum Ideal der höfischen Dame weiterhin ausführlich Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 451– 502, oder Ehrismann, Ehre und Mut, S. 228 – 238. Zu den Ermöglichungszusammenhängen eines solchen Redens über weltliche Themen vgl. schon Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 256 – 262, der hier zeigt, wie sich aufgrund der mächtigen institutionellen Grundlage des Adelshofs bspw. die Verhandlungen des Redegegenstandes ‚Geschlechtsverkehr‘ im höfischen Diskurs mitunter sogar in expliziter Abgrenzung von den theologischen Wissensbeständen gestalten können. Ähnliches trifft, wie meine nachfolgenden Analysen ergeben haben, auch auf die Gegenstandsbereiche Kleidung und Musik zu. Im Bereich der Ethik finden sich demgegenüber mitunter auch deutliche begrifflich-argumentative Überschneidungen zwischen dem höfischen und dem theologischen Diskurs (diemüete, stæte, milte etc.); vgl. dazu auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 417– 419. Allgemein zur großen Wirkmacht des zeitgenössischen „religiöse[n] Sinnmonopol[s]“ siehe weiterführend außerdem Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 38, sowie ferner auch Jürgen Link, Ursula Link-Heer: Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse. In: LiLi 77 (1990), S. 88 – 99, hier S. 93. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 81 f. Eine wesentlich engere Definition von hövescheit (‚das tun, was den anderen gefällt‘) präsentiert auf Basis der zeitgenössischen Quellen hingegen Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 24– 31, hier v. a. S. 25: „Diese Definition von cortezia oder curialitas zielt nicht auf absolute ethische Werte, sondern auf eine reziproke Relation.“ Hervorhebung im Original. Vgl. dazu zusammenfassend erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 81 f. – Zum sehr viel ambivalenteren semantischen Spektrum der bereits seit dem 11. Jh. belegten mittellateinischen Form curialis vgl. weiterhin Schmidt, Curia und curialitas, hier v. a. S. 19 – 21: Diese sei nämlich „bis zum Jahr 1200 vorwiegend negativ gefärbt“ (ebd., S. 19) und bezeichne v. a. „Verworfenheit, Geldgier, Ehrgeiz und Lüge“ (ebd., S. 20), werde daneben aber immer auch schon höfisierend „in der Bedeutung von affabilis, elegans, largus und hilaris“ (ebd., S. 21) verwendet. So auch Paravicini, Die ritterlich-höfische
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von der ritterlichen Beherrschung des Kriegerhandwerks, des Jagdwesens und des Werbens um adlige Damen über eine affektkontrollierte Selbstbeherrschung und eloquent-ironische Sprechweise bis hin zu physischer Schönheit und einer prachtvollmodischen Bekleidung.¹¹⁹ Dabei ist der kleinste gemeinsame semantische Nenner jedoch stets die „Korrektheit“ eines Benehmens und Auftretens, das dem Leben am hochmittelalterlichen Hof angemessen sein soll.¹²⁰ Wie C. Stephen Jaeger mit Nachdruck in das Bewusstsein der germanistischmediävistischen Forschung gerückt hat, lassen sich nicht nur einige der zentralen Begrifflichkeiten, sondern auch zahlreiche Vorannahmen und Argumentationsweisen, die den Verhandlungen zeitaktueller Redegegenstände im höfischen Diskurs zugrunde liegen, auf antike Wissensbestände zurückführen.¹²¹ In diesem Kontext spielt insbesondere das von Cicero in De officiis (44 v. Chr.) entworfene Ideal des römischen Staatsmanns eine bedeutsame Rolle, dessen in erster Linie noch ethische Kerngedanken im Hochmittelalter allerdings eine bedeutende Ausweitung auch auf
Kultur des Mittelalters, S. 7. – Im Fall der französischen bzw. provenzalischen Formen cortois/cortes wiederum lässt sich nach Ulrich Mölk: Curia und curialitas – Wort und Bedeutung im Spiegel der romanischen Dichtung: Zu fr. cortois(ie) / pr. cortes(ia) im 12. Jahrhundert. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg.von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (VMPIG. 100), S. 27– 39, hier S. 37, in der Zeit vor der umfassenden höfisierenden Verwendungsweise in Waces Roman de Brut (um 1155), welche sämtliche den Artushof betreffende Aspekte, also „chevalerie und amor, Luxus und Freigebigkeit, Frieden und Spiele, feine Tischsitten und feine Reden“ einschließt, zunächst ein gattungsspezifischer Begriffsgebrauch feststellen. So bezeichne cortois/cortes etwa in den frühen Chansons de geste primär eine (ironische) „Rede mit dem rechten Inhalt (Kriegslist, Kampfesmut, Ehre)“ bzw. ein „maßvolles und kluges Auftreten“ (ebd., S. 28 f.), während es in der Trobadorlyrik bis 1150 vor allem „den Liebenden oder eine seiner Eigenschaften“ näher beschreibe (ebd., S. 31). – Zu dem im Einzelnen nicht mehr zu klärenden etymologischen Verhältnis von lateinisch curialis/curialitas, französisch cortois(ie) bzw. provenzalisch cortes(ia) und mhd. hövesch(eit) siehe schließlich Peter Ganz: ‚hövesch‘/‚hövescheit‘ im Mittelhochdeutschen. In: Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1990 (VMPIG. 100), S. 39 – 54, hier v. a. S. 52– 54. Vgl. Ganz, ‚hövesch‘/‚hövescheit‘ im Mittelhochdeutschen, S. 45 f. Zur umfassenden semantischen Bandbreite von hövesch/hövescheit, die neben der ideologischen auch eine soziologische Bedeutungsdimension aufweist, vgl. erneut auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 81 f. Zur v. a. seit der Wende zum 13. Jh. steigenden Auftretenshäufigkeit von hövesch/hövescheit in der mhd. höfischen Epik und Lyrik vgl. überblicksartig weiterhin Ehrismann, Ehre und Mut, S. 108 – 113. Ganz ‚hövesch‘/‚hövescheit‘ im Mittelhochdeutschen, S. 41. Ähnlich auch Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 452, nach dem das Substantiv hövescheit zusammenfassend „höfisches Benehmen und höfische Gesinnung“ bezeichnet, sowie Ehrismann, Ehre und Mut, S. 9. So sind nach Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 180 – 241, sowohl zahlreiche der im höfischen Diskurs konstruierten ethischen (elegantia morum) als auch der entsprechenden primär ästhetischen Normen (curialitas) im (z. T. modifizierenden) Anschluss an die antik-römische Tradition gestaltet. Dem zustimmend weiterhin auch Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 468 f., sowie (mit gewissen Einschränkungen, was den zeitlichen und sozialhistorischen Ursprungskontext angeht) Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, hier v. a. S. 15 – 24.
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ästhetisch-materielle Kulturelemente erfahren.¹²² Für eine fokussierte Analyse werde ich im Folgenden davon jedoch nur auf diejenigen Wissensbestände bzw. diskursiven Homologien eingehen, die im höfischen Diskurs speziell bei den Verhandlungen von Musik und Kleidung zum Tragen kommen.¹²³ Ausgeblendet bleiben aus demselben Grund weiterhin auch diverse vom höfischen Diskurs aus der zeitgenössischen Theologie übernommene Konzepte (v. a. diemüte, erbarmekeit, schame, kiusche) und Argumentationsweisen, denn sie spielen im vorliegenden Kontext kaum eine Rolle.¹²⁴ Es sei zudem darauf hingewiesen, dass ich im Folgenden, anders als Jaeger – und im Anschluss an Timo Reuvekamp-Felber –, nicht zwangsläufig davon ausgehe, dass
Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 16: „Die Sichtung der lateinischen Quellen [der Bischofsviten; J. S.-B.] erschließt einen historischen Zusammenhang, der in direkter Linie vom elften und späten zehnten Jahrhundert bis zurück in die Antike reicht. Der alte römische Adel besaß ein umfangreiches und fein nuanciertes Vokabular der Höflichkeit und Weltgewandtheit. Dieses Vokabular gilt es als Vorform der meisten uns im Mittelalter begegnenden lateinischen Ausdrücke für höfische Gesellschaftsideale zu erkennen. Eine solche Perspektive führt dazu, die Schriften Ciceros, Senecas, Quintilians und anderer, die das Erziehungsideal des römischen Staatsmanns formuliert haben, in die Diskussion um die mittelalterliche Hofgesellschaft miteinzubeziehen. Aus dieser Sicht zeigt sich, wie eng die ideologischen und philosophischen Beziehungen zwischen einem römischen Senator bzw. Redner und dem mittelalterlichen curialis sind, und es wird die Abhängigkeit nachweisbar, die – wenn nicht in allen Einzelheiten, so doch dem Wesen nach – zwischen den mittelalterlichen Quellen zur courtoisie und den antiken Quellen zu decorum, urbanitas und humanitas besteht.“ Die Ausführungen Jaegers, Die Entstehung höfischer Kultur, schließen neben den im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit relevanten ethischen Kategorien der disciplina (S. 183 – 188), elegantia morum (S. 188 – 199), urbanitas (S. 200 – 204) und kalokagathia (S. 204– 211) im Bereich der vornehmen Umgangsformen neben der hilaritas (S. 232– 238) zusätzlich auch die facetia als „ironische, scharfzüngige und witzige Redeweise“ (S. 223 – 228; Zitat ebd., S. 223) ein. Zur interdiskursiven Verwendung eines christlichen Vokabulars im höfischen Kontext vgl. zusammenfassend erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 417– 419. Zur dominierend-integrativen Macht des theologischen Diskurses siehe weiterhin Wagner, Erzählen im Raum, S. 67 f. Nach Wagner (ebd.) lassen sich im Hochmittelalter zwar deutliche „Ansätze der Ausdifferenzierung von Spezialdiskursen“ (und zwar auch „jenseits des Hofes, in den sieben freien Künsten etwa und den artes mechanicae“) nachweisen, die jedoch nur „mit der Einschränkung als Diskurse zu begreifen [seien], dass sie grundlegend durch den umfassenden Interdiskurs des Hochmittelalters, Religion, miteinander verknüpft sind“. Hervorhebung im Original. Auf den Umstand einer diskursinternen Widersprüchlichkeit zentraler höfisierender Begrifflichkeiten verweist außerdem schon Rüdiger Schnell: Kirche, Hof und Liebe. Zum Freiraum mittelalterlicher Dichtung. In: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zu amour courtois. Hrsg. von Ernstpeter Ruhe, Rudolf Behrens. München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters. 14), S. 75 – 111, hier S. 106: „Die ‚höfische‘ Kultur ist nicht einseitig säkulare Kultur, sondern in ihr verbinden sich verschiedene, uns widersprüchlich erscheinende Strömungen: Verfeinerung der Sitten, Sinn für die Schönheit von Frauen, Verweichlichung im Lebensstil, Modetrends (Haartracht, Schuhe, Kleider), Hingabe an Vergnügungen aller Art auf der einen Seite, religiöse Bildung, Empfänglichkeit für neue (asketische) religiöse Bewegungen, Distanzierung von der Welt, Hingabe an ein religiöses Ziel auf der anderen Seite. Mögen auch die beiden Aspekte bei der adligen Jugend anders verteilt gewesen sein als bei den älteren Menschen, insgesamt kann man annehmen, daß innerhalb der höfischen Kultur beide Seiten latent stets vorhanden waren, nur eben abwechselnd und unterschiedlich stark in Erscheinung traten.“
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bestimmte Mitglieder des Hofklerus vom 11. Jh. an grundsätzlich und realiter als ‚Erzieher‘ des (jungen) Adels zur curialitas in Erscheinung getreten sind; für eine solche Behauptung ist die Quellenlage nicht ausreichend bzw. spricht teilweise sogar dagegen.¹²⁵ Nichtsdestotrotz fungierten die hochmittelalterlichen Hofkleriker hier aber offenbar auf verschiedene Weisen als Vermittler lateinisch tradierter Begrifflichkeiten und Denkmuster. Denn die zentralen Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen, die in der höfischen Literatur der diskursiven Konstruktion von hövescheit dienen, so führt Reuvekamp-Felber aus, scheinen tatsächlich aus den Denktraditionen antiker Philosophie und spätantiker Rhetorik zu stammen und über die Rezeption dieser Schriften in die volkssprachliche Literatur eingegangen sein. In der Volkssprache hatten Ausdrücke ethischen Verhaltens keine Tradition, während die klerikalen [höfischen; J. S.-B.] Autoren an Topoi in den lateinischen Schriften der Antike wie Spätantike anknüpfen konnten. […] Auch wenn Jaeger auf der Suche nach einer einheitlichen und kontinuierlichen Entwicklungslinie in der kulturellen Evolution des Hochmittelalters sein Quellenmaterial häufig mit pointierten Thesen überzustrapazieren scheint, bleibt ein wesentlicher Erkenntnisgewinn über den Status der höfischen Dichtung. Diese kann nicht länger mit ihrer Thematik einer spezifisch höfischen und ritterlichen Lebensweise vornehmlich als Zeugnis eines faktischen oder idealisierten laienadligen Verhaltens verstanden werden, sondern muß an einen bestehenden klerikal geprägten lateinischen Literaturdiskurs im deutschsprachigen Bereich angebunden werden.¹²⁶
Im Zuge einer entsprechenden Analyse der höfischen Literatur wird allerdings, wie schon Jaeger anmerkt, deutlich, dass das, was im höfischen Diskurs des 12./13. Jahrhunderts unter den Begriffen hövesch/hövescheit subsumiert wird, durchaus umfänglicher bzw. auch nicht mehr in allen Fällen deckungsgleich mit der lateinischen curialitas-Tradition des 10./11. Jahrhunderts ist: Denn während sich letztere im hofgeistlich-bischöflichen Kontext noch vor allem auf „Kleidung, Gestik, Sprechen, Tischmanieren, Haltung und Bewegung“¹²⁷ konzentriert, zählen wenige Jahrhunderte später etwa auch bestimmte Formen von Minnegebaren, Turnierrittertum und Musik zu den Komponenten eines – sich immer expansiver und kreativer zurück auf die antike Tradition berufenden – vornehm-weltlichen Verhaltensideals.¹²⁸
Vgl. Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 100 f. Die Quellenlage, so Reuvekamp-Felber (ebd.), spreche insofern gegen eine Annahme, dass curialitas/hövescheit ausschließlich als Ergebnis eines geistlichen Erziehungsprogramms im engeren Sinne zu sehen sei, als bezeichnenderweise sowohl in der Chronistik als auch in der höfischen Literatur kaum Darstellungen „von Hofgeistlichen als pädagogische[n] Vermittler[n] dieser Tugenden“ zu finden seien. Ebd. Ebd., S. 93. Zu den von Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 146 – 160 u. 180 – 241, grundlegend beschriebenen Modifikationen und Expansionen des lateinischen Verhaltenideals der curialitas im volkssprachlichen Bereich, die sich zunächst in der französischen höfischen Literatur feststellen lassen und später im Zuge von deren Rezeption dann z. T. auch im deutschsprachigen Raum wirksam werden, vgl. prägnant zusammenfassend auch Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 84 f.
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Was nun speziell die Verhandlungen des Gegenstands weltlicher Musik im höfischen Diskurs anbelangt, ist zunächst die antike Kategorie der hilaritas grundlegend. Ähnlich wie schon Cicero den „Männern des öffentlichen Lebens bei ihrer Staatsführung“ empfiehlt, „auf die Vorzüge der Liebe statt auf die Furcht zu setzen (De off. 2.23)“,¹²⁹ findet sich nämlich auch in der höfischen Literatur des Hochmittelalters immer wieder das Argument, „daß Fröhlichkeit, Freude und gute Kameradschaft […] zur idealen Atmosphäre bei Hof gehören.“¹³⁰ Dabei wird der Musik vor allem im Kontext von topischen Festbeschreibungen sowie der Abendunterhaltung im kleineren Kreise eine wesentliche Bedeutung für die Erzeugung der weltzugewandten Hochstimmung der vreude zugeschrieben.¹³¹ Darüber hinaus weist die diskursspezifische Bewertung bestimmter Musikformen (v. a. Gesang und Saitenspiel) als Ausdrucksformen von Vornehmheit allerdings auch Anklänge an altrömische Vorstellungen von urbanitas auf:¹³² Urbanus/Urbanitas war seit Cicero Bezeichnung städtisch verfeinerten Umgangs und entsprechender sprachlicher Ausdrucksweise, im Gegensatz zur rusticitas, der in diesem Sinn seit frühaugusteischer Zeit nachweisbaren Bezeichnung für ländlich-ungehobeltes Wesen und Verhalten.¹³³
Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 232. Ebd., S. 234. Auf die hilaritas als Bestandteil eines möglicherweise bereits im Zuge der frühmittelalterlichen Annäherung von Laien und Klerus entstandenen höfischen Verhaltensideals verweist (in Abgrenzung von Jaeger) Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 15 – 24, hier v. a. S. 23, inkl. Anm. 107. Vgl. dazu auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 24. Zum starken argumentativen Konnex zwischen Musik/Dichtung und der Erzeugung von Freude im höfischen Diskurs vgl. weiterhin auch Ehrismann, Ehre und Mut, S. 245: „Im höfischen Selbstverständnis waren es neben der vrouwe und minne vor allem die Sänger, die das Hochgefühl der Freude auszulösen vermochten. […] Der Grundgedanke, daß der Dichter ‚Künder der Freude‘ ist, gehörte zu den wiederholt artikulierten Prämissen höfischer Kunstanschauung“. Zur höfischen Tugend der vreude vgl. außerdem erneut auch Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 234 f. Zu den sprachgeschichtlichen Umständen, die einer wörtlich-direkten Entlehnung von urbanus/ urbanitas aus dem Lateinischen ins Mittelhochdeutsche entgegenstanden, siehe Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 204: „Urbanus wurde nicht direkt in das höfische Vokabular der volkssprachlichen Literatur eingepaßt. Das ist verständlich, denn eine wortwörtliche Übersetzung hätte ein Wort ergeben, das im zwölften Jahrhundert etwas ganz anderes als das lateinische Wort bedeutet hätte. Das, was mit urbanus gemeint war, ging auf in der Bedeutung der Wörter curialis, courtois und hövesch“. Ähnlich auch Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 7: „Es ist bezeichnend, daß die verwandten Phänomene in der Antike urbanitas, im Mittelalter curialitas, in der Renaissance aber civilitas hießen.“ – Zur intensiven, aber zumeist nicht begriffsgebundenen Rezeption des Konzepts der urbanitas von der christlichen Spätantike (seit der entsprechenden Kritik in Augustinus’ Confessiones) bis hin zur positiven Adaptation des Konzepts im höfischen Kontext mit ausgewählten Belegstellen vgl. weiterhin ausführlich Zotz, Urbanitas, S. 396 – 448, hier v. a. S. 396 – 399. Zotz, Urbanitas, S. 394. Zum engen semantischen Verhältnis von urbanitas und curialitas/hövescheit, die beide „ihr Zentrum in der Bezeichnung des feinen Benehmens, Sprechens und Gebarens sowie der liebenswürdigen und vornehmen Umgangsformen [haben] und […] darüber hinaus auf ethische Normen bezogen und mit den Vorstellungen der Herrschertugenden […] verbunden“ sind,
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Diese traditionsreiche Gegenüberstellung scheint in den Argumentationsweisen des höfischen Diskurses immer wieder in der zeitspezifischen Variante hövesch – dörperlich auf,¹³⁴ welche das Landleben, ganz anders als die lateinische Hofkritik, als negativ-ungehobeltes Gegenbild zur höfischen Zivilisation perspektiviert.¹³⁵ Auf diese Weise avanciert die Musik im höfischen Diskurs nicht zuletzt zu einem so gemeinschaftsstiftenden wie zugleich auch ausgrenzenden Statussymbol.¹³⁶ In terminologischer Hinsicht spielt des Weiteren auch das von Seneca, Quintilian und Tacitus in die Literaturgeschichte eingeführte Konzept der elegantia morum („ruhiges, würdevolles Meistern von Widrigkeiten und eine Beherrschung der Gefühle“) eine Rolle.¹³⁷ Dessen Geltungsbereich wird in der analogen höfischen Formel der schœnen site nun allerdings vom Bereich der innerlichen Affektkontrolle (Ethik) zunehmend auch auf denjenigen des Äußerlichen (d. h. der Ästhetik) ausgeweitet.¹³⁸ Eine solche, sich
siehe prägnant auch Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 433 f.: „Vor dem Hintergrund der Begriffsgeschichte von urbanitas erscheint die Geschichte des Wortes curialitas geradezu wie eine Episode. Wichtige Bedeutungsaspekte des im 11. Jahrhunderts neugebildeten Wortes curialitas waren im Begriff urbanitas längst vorgeprägt; und diese Bedeutungsinhalte haben mit dem Wort urbanitas weitergewirkt, als der Begriff curialitas wieder verschwand.“ Das mhd. Oppositionspaar hövesch/dörperlich ist nach Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 431 f., seit ca. 1170 belegt. Bumke (ebd., S. 473) sieht in dem Umstand, dass, „[w]enn es darum ging zu definieren, was höfisch ist, […] ‚höfisch‘ nicht in Gegensatz zu ‚kirchlich‘ oder ‚religiös‘ gestellt [wurde], sondern zu ‚bäurisch‘ (dörperlich)“, ein grundlegendes Argument dafür, die höfische Kultur trotz aller Spannungen nicht, wie in der älteren Forschung geschehen, als prinzipiellen Gegenentwurf zur kirchlichen Kultur zu begreifen. Eine kurze Übersicht zu entsprechenden Belegstellen in der mhd. höfischen Epik und Lyrik seit Veldekes Eneasroman liefert Ehrismann, Ehre und Mut, S. 50 – 54, der allerdings den Bezug zur Antike nicht anspricht. Wie schon Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 346, betont, erwächst der höfischen Geringschätzung der ländlich-bäuerlichen Sphäre allerdings speziell in „der lateinischen Hofkritik des Mittelalters zunehmend Konkurrenz: Das Landleben wurde gegenüber dem Hof als Dasein voll Ruhe, Einfachheit, Reinheit und Freiheit gepriesen.“ Zu Musikalität und Kleidung als höfischen Statussymbolen vgl. (im Hinblick auf die Musikalität) Sabine Žak: Musik als ‚Ehr und Zier‘ im mittelalterlichen Reich. Studien zur Musik im höfischen Leben, Recht und Zeremoniell. Neuss 1979, S. 205 f., bzw. (im Hinblick auf die Kleidung) Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 172 u. 224. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 189 f.: „Offensichtlich gehört diese Formulierung zum Vokabular des Stoizismus. Ihr seltenes Vorkommen und die Tatsache, daß sie nie bei Cicero erscheint, zeigen jedoch, daß sie kein zentraler Begriff gewesen sein kann.“ Nichtsdestotrotz scheine es sich bei dem Begriff der schœnen site um eine direkte Entlehnung aus dem Lateinischen zu handeln, da es „weder im Provenzalischen noch im Altfranzösischen […] eine direkte Entsprechung“ gebe, ebd., S. 197. Der erste mhd. Beleg findet sich in Gottfrieds Tristan (Entführung des Protagonisten durch die norwegischen Kaufleute; V. 2242). Zuvor verwenden Heinrich von Veldeke und Hartmann von Aue allerdings schon den verwandten Begriff der schœnen zühte; vgl. dazu erneut Jaeger (ebd., S. 198). Im Nibelungenlied findet sich zudem die Variante hêrliche site (347 B), die im Vergleich mit den anderen Formen allerdings mehr den Adelsstand (=Herrenstand) als die Ästhetik in den Vordergrund rückt. Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 199, und Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 51 f. Dabei ist allerdings, wie Schnell (ebd.) problematisierend anmerkt, nicht von einer „einlinige[n] Entwicklung der Wortverbindung elegantia morum von eher
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beispielsweise im Musizieren (das eine gewisse körperliche Beherrschung voraussetzt), oder seiner affektkontrollierten Rezeption ausdrückende Selbstdisziplinierung wird darüber hinaus allerdings auch mit dem höfischen Konzept der zuht assoziiert, das nach Jaeger seinerseits wiederum auf antike Vorstellungen von disciplina zurückgeht.¹³⁹ In dieser „Interdependenz von sittlicher Zucht und Ästhetik“ drückt sich, wie Rüdiger Schnell hervorhebt, nicht zuletzt ein allgemein sehr wichtiges Charakteristikum des höfischen Diskurses aus, nämlich dass sich dessen ethische[] Anforderungen wie zuht, mâze, disciplina, mezzura auch einem ästhetischen Bedürfnis verdanken. Schön ist, was richtig geordnet ist, ob dies nun Gefühle oder Körperteile sind. Die Ethik erweist sich so als Ästhetik.¹⁴⁰
Was nun wiederum die Diskursivierung höfischer Kleidung anbelangt, ist – neben den in diesem Zusammenhang ebenfalls relevanten Kategorien der hilaritas (prächtige Kleider erzeugen visuell vreude),¹⁴¹ urbanitas, disciplina und elegantia morum (ein eleganter Kleidungsstil als Ausdruck von Vornehmheit bzw. äußerlicher Selbstkontrolle)¹⁴² – weiterhin auch das antike Konzept der Kalokagathia von großer Bedeu-
ethischer zu eher ästhetischer Semantik“ auszugehen. Denn „der Begriff elegantia“ begegne „von der Spätantike bis ins Spätmittelalter sehr oft in Wortverbindungen […], die nur den ästhetischen, nicht den ethischen Aspekt von elegantia betonen: elegantia corporis, elegantia vultus, elegantia verborum, elegantia aedificiorum, elegantia columnae, elegantia basilicae. Deshalb kann, wenn vor der äußeren Schönheit der Welt gewarnt wird, für diese Schönheit stellvertretend der Terminus elegantia stehen“; ebd., S. 51. Vgl. dazu erneut Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 183 – 188, hier v. a. S. 183 f.: „Das Wort disciplina besitzt in der Form, in der es […] im Blick auf höfische Verhaltensweisen im zwölften Jahrhundert benutzt wird, keine Entsprechung im klassischen Latein. Seine hauptsächliche Bedeutung in der Antike bezog sich auf den Bereich der Schulbildung; dort umfaßte das Wort sowohl die bestimmten Gegenstände dieser Bildung (‚die Disziplinen‘), den Lernprozeß an sich als auch das Endprodukt dieses Prozesses. Diese Bedeutung behielt es im Mittelalter bei. Ein wenigstens ebenso weitgespannter Bedeutungsbereich des Wortes fand sich allerdings in der klösterlichen Regel und in den Ordnungen des religiösen Lebens überhaupt. Das Wort disciplina bedeutete eben auch ‚Züchtigung‘, genauer ‚Geißelung‘.“ Daneben nehme disciplina im Hochmittelalter aber auch „immer mehr die Bedeutung von Höflichkeit, Selbstbeherrschung und gutem Betragen an, bedeute[] also das Resultat einer höfischen Erziehung.“ Zur Verwendung von disciplina in dem skizzierten Sinne bereits seit dem 9. Jh. vgl. weiterhin Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 23 f.; zur höfischen Musik (und zwar insbesondere des Minnesangs) als Ausdruck von zuht siehe weiterhin ders., Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 350. Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 96. Zur grundlegenden Bedeutung von Schönheit für das adlige Selbstverständnis vom 7. bis zum 12. Jh. siehe ebd., S. 24– 70. Zu den modischen bzw. visuellen Erzeugungsdimensionen höfischer vreude im Angesicht von Prunk und Schönheit vgl. schon Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 69, sowie Ehrismann, Ehre und Mut, S. 245. Vgl. Ehrismann, Ehre und Mut, S. 71: „Kleidung und Gestik waren für den mittelalterlichen Menschen Zeichen: Zeichen der Herrschaft – der Luxus des Gewandes zeigte auch die Rangordnung
1.3 Konkurrierende Wissensordnungen: Der höfische Diskurs des 12./13. Jhs.
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tung:¹⁴³ Denn wie u. a. schon Cicero physische Schönheit als analoges Phänomen zu Mäßigung und Beständigkeit behandelt, d. h. als einen sichtbaren Ausdruck (decorum) von Tugend (honestas),¹⁴⁴ gilt ein attraktives und nicht zuletzt prächtig geschmücktes Erscheinungsbild auch im höfischen Diskurs geschlechtsübergreifend als Ausdruck von moralisch-innerlicher Vollkommenheit.¹⁴⁵ Als prägend für die Ver-
innerhalb der Adelshierarchie an – und Zeichen der Selbstkontrolle, Zeichen also der äußeren und inneren Würde.“ Hervorhebung J. S.-B. Zu Herkunft und Bedeutungsspektrum dieses ursprünglich hellenistischen Begriffs vgl. zusammenfassend Rüdiger Bubner, Wilhelm Grosse: Art. Kalokagathia. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie: Volltext-CD-Rom des Gesamtwerks. Hrsg. von Joachim Ritter. Basel 2010, Sp. 681– 684, hier Sp. 681: „Kalokagathia ist eine Substantivierung des Hendiadyoin kalos kai agathos, das seit Homer ein griechisches Wertprädikat des Edlen und Guten ist, so daß die Analyse in ein ethisches und ein ästhetisches Moment spätere Vorstellungen auf den Begriff überträgt“; diese Begriffsdefinition verwendet auch schon Ehrismann, Ehre und Mut, S. 189. Zu den wichtigsten Eckpunkten der Rezeption der Kalokagathia, die sich im Hochmittelalter v. a. in den Argumentationsweisen des höfischen Diskurses niederschlägt, vgl. weiterhin ebd., S. 189 – 191. Zur Bedeutung der Kalokagathia für das curialitas-Programm seit dem 10. Jh. siehe weiterhin Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 204– 207. Dem zustimmend (allerdings nur im Hinblick auf den hellenistischen Adel sowie dann wieder für das 11./12. Jh.) auch Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 52, inkl. Anm. 242. Wie Schnell (ebd., S. 52– 54) einräumt, lässt sich eine „Affinität des Adels zum Schönen – losgelöst von ethischen Gesichtspunkten“ allerdings auch schon in Quellen des 6. bis 10. Jhs. belegen: „Die Vorliebe des laikalen wie klerikalen Adels für schöne Gegenstände, für schöne Gebäude, für schöne Personen und schöne Verhaltensweisen scheint seit dem Frühmittelalter zum Selbstverständnis dieser Führungsschicht gehört zu haben. […] Wenn ich von Affinität des frühmittelalterlichen Adels zum Schönen rede, so impliziert dies nicht ein Wissen des Adels um die gelehrte Rede über das Schöne, sondern zielt auf die alltagsweltliche Faszination des Schönen auf den Adel, so wie sie uns in den mittelalterlichen Quellen überliefert ist. […] Die Faszination […] zeigt sich vor allem im Hinblick auf körperliche Schönheit. Dabei ist wiederum zu unterscheiden zwischen angeborener und einer durch Selbstkontrolle erworbenen körperlichen Schönheit. Beide Arten körperlicher Schönheit erweisen sich als Ursache für die Beliebtheit einer Person“. Neben physischen Merkmalen werde, so Schnell (ebd., S. 63) weiter, vom 6. Jh. an aber auch schon äußerer Schmuck als Ausdrucksform von Schönheit bewertet: „[D]ie Schönheit der Ehefrauen und Töchter fungierte als Ausweis der Macht von Männern. Umgekehrt galten hochrangige Frauen selbstverständlich als schön. Kostbarer Schmuck wiederum repräsentierte nicht nur Reichtum, sondern auch Schönheit. Der Adel konnte also auf verschiedene Art Schönheit inszenieren und dabei Schönheit als Zeichen von Macht und Legitimität reklamieren. Damit erweist sich das ästhetische Moment zugleich als politisches Instrument. Schönheit konnte per se Adel anzeigen. Es ist also anzunehmen, daß im Selbstverständnis schon des frühmittelalterlichen Adels das Schöne eine gewichtige Rolle spielte.“ Vgl. Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 68, im argumentativen Anschluss an Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 204 f.Vgl. dazu auch im Einzelnen Cicero: De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und übersetzt von Rainer Nickel. Düsseldorf 2008, S. 80 f. Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 204 f. So erscheine im Anschluss an die Argumentation Ciceros das „Bemühen um […] äußerliche Verfeinerung“ aus höfischer Sicht „nicht nur legitim, sondern […] geradezu eine Verpflichtung“ (Zitat ebd., S. 204). Nach Cicero ist die menschliche Fähigkeit, Schönes zu erkennen bzw. vom Hässlichen unterscheiden zu können, neben der Fähigkeit zur Moral einer der wesentlichen Punkte, in denen sich der Mensch vom Tier unterscheidet; ihr Anblick
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handlungen von Musik und Kleidung im höfischen Diskurs erweisen sich mit êre und milte jedoch schließlich auch einige in Adels- und Kriegergesellschaften allgemein verbreitete ethische Universalia. So wird Musik und Kleidung hier einerseits eine bedeutende Rolle bei der Akkumulation und repräsentativen Zurschaustellung von weltlichem Ansehen zugewiesen,¹⁴⁶ indem etwa eine enge Korrelation von verschiedenen Musikformen (Saitenspiel vs. Blasmusik) bzw. speziellen Kleidungsstücken (dem Krönungsmantel, der Tasselschnur etc.) mit Aspekten des höfischen Zeremoniells erfolgt.¹⁴⁷ Bei einer der verbreitetsten Darstellungsformen von fürstlicher Freigebigkeit in der höfischen Literatur handelt es sich schließlich um die Beschenkung von adligen Gästen und Spielleuten – mit prächtigen Kleidungsstücken.¹⁴⁸ Ich werde könne den Betrachter in der Tat, so Cicero, sogar zum moralischen Handeln inspirieren. Vgl. dazu im Einzelnen erneut Vom pflichtgemäßen Handeln, S. 18 f. Wie Christoph Cormeau,Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 1993, S. 191, zusammenfassen, basiert das hochmittelalterlich-höfische Konzept von êre „auf der Behauptung persönlicher Integrität im ritterlichen Kampf, sowohl in den existentiellen Herausforderungen des Angriffs auf Ehre und Leben, auf fremdes Leben ohne berechtigten Grund, als auch ergänzend in der Spielform des Turniers.“ Ausführlicher dazu siehe auch Stephanie Seidl: Eine kleine Geschichte der êre. Thesen zur historischen Semantik von Ehre und zu ihrer Narrativierung in höfischen und legendarischen Texten des hohen Mittelalters. In: Höfische Textualität. Festschrift für Peter Strohschneider. Hrsg. von Beate Kellner [u. a.]. Heidelberg 2015 (Germanisch-romanische Monatsschrift Beiheft. 69), S. 45 – 63, hier v. a. S. 53 – 56, und Ehrismann, Ehre und Mut, S. 66 – 70 u. 94– 96, der hier neben dem ritterlichen Zweikampf auch explizit den Besitz bzw. die Zurschaustellung materieller und/oder ästhetischer Pracht (also z. B. die Aufführung von Musik oder das Tragen/Verschenken luxuriöser Kleidung) als Mittel zur Akkumulation und Demonstration von êre hervorhebt. Zur allgemein grundlegenden Bedeutung dieser Kategorie für Kriegergesellschaften vgl. weiterhin auch Jan-Dirk Müller: Scham und Ehre. Zu einem asymmetrischen Verhältnis in der höfischen Epik. In: Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne. Hrsg. von Katja Gvodzdeva, Hans Rudolf Velten. Berlin/Boston 2011 (Trends in medieval philology. 21), S. 61– 96, hier S. 65: „Ehre ist das zentrale Prinzip von Adelskulturen.“ Vgl. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, hier v. a. S. 81– 107 u. 243 – 258, Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 206 f., und Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen/Basel 2006 (Bibliotheca Germanica. 50), S. 6. Siehe dazu allgemein auch JanDirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 348: „Ehre ist etwas, das sich gegen Gaben eintauschen läßt, Geschenke an Fremde wie an die eigenen Leute. Doch gibt es keine feste Preisrelation zwischen Gabe und Gegengabe. Man muß schenken, ohne zu rechnen.“ Zur kultur- und epochenübergreifenden Verbreitung (je zeitspezifischer) Vorstellungen von Freigebigkeit im Kontext des Gabentauschs archaischer Gesellschaften vgl. mit Fokus auf das Hochmittelalter Ehrismann, Ehre und Mut, S. 99 – 101: „[D]ie milte, war ein fester Bestandteil des mittelalterlichen Sozialsystems […], denn der mittelalterliche Personenenverbandsstaat kannte keine ‚staatlichen‘ Verteilungsmechanismen. […] Gâbe, als Gastgeschenk, nicht als Lohn, und wirtschaft, im Sinne von Bewirtung und Gastung, befanden sich im Mittelalter in einem traditionsreichen und recht sensiblen Raum. Sie begründeten zwischen Geber und Empfänger zwar kein formelles juristisches Verhältnis, aber sie stifteten Bindungen. Deren Belastbarkeit war jedoch nicht mehr, wie in archaischen Gesellschaften, absolut zu definieren, nur Tradition und Volksglauben verbürgten noch die gegenseitige Unantastbarkeit. Auf sie baut König Gunther, als er Rüdiger vom Kampf gegen die Burgunden abhalten will und ihn an die ‚Gaben‘ von Bechelâren erinnert. […] Werte, die freilich gegenüber dem
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auf all dies an späterer Stelle noch einmal ausführlich eingehen. Zusammenfassend ist jedenfalls der Eindruck einer grundlegenden Innovativität des in der höfischen Literatur präsentierten Gesellschaftsideals, wie schon Joachim Bumke konstatiert, in vielerlei Hinsicht täuschend: Denn „wichtige Aspekte der neuen Konzeption von höfischer Eleganz“ in der Volkssprache sind schon lange zuvor im Lateinischen bezeugt und gehören „zu einer Tradition des feinen Benehmens […], deren Begrifflichkeit zum Teil bis in die antike Rhetorik zurückreicht.“¹⁴⁹ Insofern der hofkritische und der höfische Diskurs also, wie sich in der Zusammenschau festhalten lässt, zumindest was die Musik und Kleidung anbelangt, auf Basis von sehr unterschiedlichen Prämissen und Argumentationsweisen identische Redegegenstände verhandeln, lässt sich ihr Verhältnis mit Titzmann nicht nur als das einer hofbezogenen Diskursgruppe, sondern auch als ein (teilweise) von diskursiver Konkurrenz bestimmtes beschreiben.¹⁵⁰ Dem entsprechenden interdiskursiven Spannungsfeld, das den Referenzrahmen für die kritisch-selbstreflexive Kulturdarstellung der mittelhochdeutschen höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts bildet, widmet sich die vorliegende Arbeit. In diesem Zusammenhang werden sowohl die höfische Musik als auch die höfische Kleidung in erster Linie als diskursive Gegenstände verstanden,¹⁵¹ die in der Rede erst konstituiert werden, und von denen im Hochmittel-
aktuellen vasallitischen Vertrag, der Rüdiger an Etzel bindet, minderes Recht darstellten.“ Ähnlich weiterhin auch Müller, Spielregeln, S. 348. – Speziell zum höfischen Ritual der Beschenkung von Spielleuten siehe Ehrismann, Ehre und Mut, S. 78, Wolfgang Hartung: Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Düsseldorf/Zürich 2003, S. 194, und Margit Bachfischer: Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter. Augsburg 1998, S. 133. Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 468. Zu der hier verwendeten Terminologie siehe erneut Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 53. Zum Verhältnis von Diskurs und ‚historischer Realität‘ bzw. dessen nur eingeschränkt repräsentativen Funktionen vgl. grundlegend Foucaults Ausführungen in der Archäologie, S. 69 – 71: „Diese Beziehungen [zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen und dem Diskurs; J. S.-B.] unterscheiden sich zunächst von den Beziehungen, die man ‚primäre‘ nennen könnte und die, unabhängig von jedem Diskurs oder jedem Diskursgegenstand, zwischen Institutionen, Techniken, Gesellschaftsformen usw. beschrieben werden können. […] So öffnet sich ein ganzer aus möglichen Beschreibungen gegliederter Raum: System der primären oder wirklichen Beziehungen; System der sekundären oder reflexiven Beziehungen und System der Beziehungen, die man eigentlich diskursiv nennen kann. […] Aber es sind […] keine dem Diskurs äußerlichen Beziehungen, die ihn beschränken oder ihm bestimmte Formen auferlegen oder ihn zwingen würden, unter bestimmten Umständen bestimmte Dinge zu äußern. Sie befinden sich irgendwie an der Grenze des Diskurses: sie bieten ihm die Gegenstände, über die er reden kann, oder vielmehr (denn dieses Bild des Angebots setzt voraus, daß die Gegenstände auf der einen Seite gebildet werden und der Diskurs auf der anderen) sie bestimmen das Bündel von Beziehungen, die der Diskurs bewirken muß, um von diesen und jenen Gegenständen zu reden, sie behandeln, sie benennen, sie analysieren, sie klassifizieren, sie erklären zu können. Diese Beziehungen charakterisieren nicht die Sprache, die der Diskurs benutzt, nicht die Umstände, unter denen er sich entfaltet, sondern den Diskurs selbst als Praxis. […] Man sieht: in den Beschreibungen, deren Theorie ich gerade darzulegen versuchte, handelt es sich nicht darum, den Diskurs zu interpretieren, um durch ihn eine Geschichte des Referenten zu zeichnen.“ Hervorhebungen
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alter, wie bereits gezeigt wurde, auf durchaus unterschiedliche Arten und Weisen gesprochen werden kann.¹⁵² Demzufolge geht die vorliegende Arbeit schließlich auch nicht davon aus, dass sich die Musik- und Kleiderdarstellungen der analysierten Texte auf eine außerliterarische „Wirklichkeit ‚an sich‘ beziehen“, sondern vielmehr auf verschiedene und jeweils diskursspezifische „kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen“ ihrer Zeit.¹⁵³
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung Während im Hinblick auf den grundsätzlichen Befund einer Adaptation geistlicher Hofkritik durch die höfische Literatur Konsens über ein einschlägiges Forschungsfeld der Mediävistik herrscht, ist dessen Erschließung nach wie vor ein Desiderat.¹⁵⁴ Dabei lassen sich mit Blick auf die wenigen bereits vorliegenden Arbeiten allerdings überaus unterschiedliche methodische und interpretative Zugänge erkennen.¹⁵⁵ Es folgt hier J. S.-B. Ähnlich zu den Beziehungen der Literatur zur „hypothetischen ‚black box‘ der ‚eigentlichen Realität‘“ siehe Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 59 (Zitat ebd.). Vgl. dazu schon Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 242. Grundlegend zu der daraus resultierenden Form der Textlektüre vgl. weiterhin auch die Ausführungen Foucaults in der Archäologie, S. 72– 74. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 287: „Was wir für die Wirklichkeit halten, hängt vom Wissen unserer kulturellen Gemeinschaft ab: Auf ihm beruhen die Bedeutungen allen sozialen Handelns und aller menschlichen Hervorbringungen genauso wie die Bedeutungen, die wir allem ‚Natürlichen‘ im Sinn des nicht von Menschen Gemachten geben. Kulturelles Wissen dient deshalb der kulturellen Wirklichkeitskonstruktion und mit ihr der Gemeinschaftsbildung: Die Einzelnen lernen in der kulturellen Gemeinschaft, was die Wirklichkeit ist, und dass sie kulturelle Wirklichkeitskonstruktionen teilen, macht sie zu einer Gemeinschaft. Zugleich sind es in der kulturellen Praxis jedoch die Einzelnen, die das kulturelle Wissen mehr oder weniger überlegt gebrauchen und es dabei stabilisieren oder verändern. Aus diesem Grund kann man die kulturellen Praktiken als ein Umgehen mit Sinnhaftem einschätzen – als Bedeutungspraktiken, die einerseits auf Wirklichkeitskonstruktionen beruhen und andererseits auf sie zurückwirken. Texte sind dann eine Form solcher Bedeutungspraktiken.“ Die Überschrift zu diesem Teilkapitel lehnt sich an die von Rüdiger Schnell (im Anschluss an H.W. Goetz) geprägte Formel „Hofliteratur als Hofkritik“ an; vgl. dazu Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 331. Neben den im Folgenden noch ausführlich zu besprechenden, da grundlegenden Beiträgen Jaegers, Bumkes, Schnells und Schaustens verweisen – am Rande ihrer eigentlichen Ausführungen und zumeist nur mit Bezug auf einzelne Texte – etwa auch die folgenden Arbeiten auf antihöfische Tendenzen der mhd. höfischen Literatur: Gabriele Raudszus: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik in der deutschen Epik des Mittelalters. Köln 1985 (Ordo. 1), S. 82, und Kraß, Geschriebene Kleider, S. 171 (jeweils zur Kleiderkritik in Hartmanns Ereck), Tomas Tomasek: Gottfried von Straßburg. Stuttgart 2007 (RUB. 17665), S. 205 f. (zur Hofkritik in Gottfrieds Tristan), Müller, Spielregeln, S. 435 – 456 (mit einer kritischen Revision der einschlägigen Thesen Jaegers zum Nibelungenlied), Andreas Kraß: Der effeminierte Mann. Eine diskursgeschichtliche Skizze. In: Hard bodies. Hrsg. von Ralph J. Poole. Wien [u. a.] 2011, S. 34– 52, hier S. 42 f. (zum höfischen Hunnen im Nibelungenlied), sowie Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhun-
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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daher ein zugespitzter Forschungsüberblick, in dessen Zentrum die germanistischen Arbeiten stehen, die sich des Themas in den letzten Jahrzehnten systematisch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive angenommen haben. Es handelt sich dabei um C. Stephen Jaegers Arbeiten zur hofkritischen Figuren- und Gesellschaftsdarstellung im Nibelungenlied und Tristan, eine grundlegende Übersichtsdarstellung in Joachim Bumkes Höfischer Kultur sowie um drei jüngere Beiträge Rüdiger Schnells bzw. Monika Schaustens mit entsprechenden Befunden zur Konstruktion höfischer Ethik bzw. Jagd in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur.¹⁵⁶ Weitere interdisziplinäre Arbeiten zum Thema werden hier aus Gründen der methodischen oder zeitlich-epochalen Relevanz dagegen nicht im Einzelnen besprochen.¹⁵⁷ Ich beginne chronologisch mit den Beiträgen C. Stephen Jaegers zur Hofkritik in Gottfrieds Tristan und im Nibelungenlied (1983, 1984), deren zentrale Ergebnisse zudem in seinen Origins of Courtliness (1985) eine breitere Kontextualisierung erfahren haben.¹⁵⁸ Vorrangiges Erkenntnisinteresse dieser Studien ist es, sozialhistorische Erklärungsansätze für die Entstehung und Verbreitung mittelalterlicher Hofkritik zu liefern. In expliziter Abgrenzung von den früheren Arbeiten Claus Uhligs und Helmuth Kiesels vertritt Jaeger diesbezüglich die Position, dass die Entstehung antihöfischer Texte stets eng an konkrete realgesellschaftliche Entwicklungen gebunden gewesen sei.¹⁵⁹ Obschon die mittelalterlichen Hofkritiker eine ganze Reihe von „Standardthemen“ in ihren Schriften entwickelt hätten und man daher mitunter versucht sei, von „topoi der Hofkritik“ zu sprechen, seien diese weniger als das Ergebnis einer literarischen Tradition, sondern in allererster Linie als „Reaktion auf bestimmte soziale Gegebenheiten“ ihrer Zeit zu betrachten.¹⁶⁰ So hätten die Verfasser hofkritischer Texte immer zuerst auf „die Wirklichkeit der Zustände bei Hof“ geblickt, um erst danach – also im Prozess der jeweiligen konkreten Ausformulierung – optional zusätzlich auf antike oder zeitgenössische Quellen zurückzugreifen.¹⁶¹ Bezeichnenderweise seien die ersten überlieferten Textzeugen, in denen eine Kritik an den neuen weltlichen
derts. Heidelberg 1989 (Euphorion Beihefte. 23), S. 149 f. (zur Kleiderkritik in Ulrichs von Etzenbach Wilhelm von Wenden, Hartmanns Ereck, Wolframs Parzival und im Reinfried von Braunschweig). Vgl. C. Stephen Jaeger: The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy. In: Spectrum Medii Aevii. Essays in Early German Literature in Honor of George Fenwick Jones. Hrsg. von William C. McDonald. Göppingen 1983 (GAG. 362), S. 177– 200, ders., The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan, Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, und Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik. Vgl. dazu auch den breiter angelegten Forschungsüberblick bei Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 77– 79. Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, hier v. a. das Kapitel 3 „Hofkritik“, S. 88 – 104, und das Kapitel 9 „Die klerikale Kritik des höfischen Lebensstils, S. 242– 264 (zuerst erschienen als: The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939 – 1210. Pennsylvania 1985). Vgl. dazu bereits Jaeger, The court criticism of MHG didactic poets, S. 407 f. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 90. Ebd.
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Kulturformen im Vordergrund gestanden habe, nämlich just um die Jahrhundertwende des 10./11. Jahrhunderts in der Provence entstanden, also gerade zu jener Zeit, als dort „die monastische Reformbewegung mit der Ausbreitung eines höfischen Lebensstils […] aufeinandertraf.“¹⁶² Insofern erscheint die Hofkritik bei Jaeger, der, wie bereits erwähnt, die Ursprünge der neuen höfischen „Verhaltenskultur in bezug auf Kleidung, Gestik, Sprache, Tischmanieren und Bewegung“ in den ottonisch-salischen Kathedralschulen sowie am deutschen Königshof verortet, also paradoxerweise als negative Reaktion des Klerus auf ursprünglich ebenfalls vom Klerus auf den Weg gebrachte kulturelle Innovationen.¹⁶³ Entlang deren Verbreitungslinien seien wenig später dann auch in anderen geographischen Regionen antihöfische Schriften entstanden, in welchen sich die entsprechenden Autoren auf ganz ähnliche Weise über die Sitten und Gebräuche am Hof beklagten.¹⁶⁴ Insofern Jaeger die mittelalterliche Hofkritik also primär als Reflex realer Gegebenheiten ansieht, lassen die entsprechenden Textzeugen seines Erachtens nicht zuletzt einiges an lokalhistorischen Rückschlüssen zu. So könne man beispielsweise diejenigen antihöfischen Schriften, in denen eine „courtoise Verfeinerung“ an bestimmten Höfen beklagt werde, als zuverlässige Quelle dafür ansehen, dass sich eine bestimmte Entwicklung regional zu einem gegebenen Zeitpunkt bereits vollzogen habe.¹⁶⁵ Vor einem solchen Hintergrund spielt für Jaeger nicht zuletzt die Rekonstruktion der persönlichen Motivationslage der Verfasser hofkritischer Texte eine zentrale Rolle. Als einer der wichtigsten Beweggründe für die Attacken gegen das höfische Leben gilt ihm dabei, mit Bezug auf die entsprechenden lateinischen Autoren, persönliche Enttäuschung:¹⁶⁶
Ebd., S. 242 f. Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 78. Zusammenfassend zu den entsprechenden Thesen Jaegers vgl. auch ebd., S. 78 – 81. Speziell zum Zusammenhang von curialitas und Hofkritik siehe weiterhin ebd., S. 84, Anm. 244. Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 248 – 264. Ebd., S. 244. In Anbetracht des allgemeinen Quellenmangels handelt es sich nach Jaeger (ebd., S. 31) bei den Schriften der hofkritischen Autoren sogar um „[e]inige der besten Zeugnisse des Zivilisationsprozesses in Europa zur Zeit des Mittelalters“. Ähnlich bewertet dies auch Kiesel, Bei Hof, bei Höll, S. 5. Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 103. Zur Eindimensionalität der Argumentationsweisen der lateinischen Hofkritik vgl. zuvor außerdem bereits Köhn, Militia curialis, S. 228 f.: „Jedoch dürfen weder Peters [von Blois; J. S.-B.] Bemerkungen noch die Äußerungen seiner Zeitgenossen als unvoreingenommene Beschreibungen des anglo-normannischen Königshofes angesehen werden, denn es geht den genannten Weltgeistlichen um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Hofleben und Höflingen. Sie verurteilen nämlich das Treiben der Hofleute als allzuweltlich und sie wenden sich besonders gegen solche Kleriker (und Mönche), die dem König bei der Verwaltung seines Reiches helfen, sich aber nicht um die Seelsorge der Gläubigen kümmern. Daß Geistliche im Dienst des Königs stehen und an seinem Hof leben, wird daher als Verstoß gegen die Pflichten des kirchlichen Amts betrachtet. Aus den Werken dieser und anderer Autoren des späten 12. Jahrhunderts kann man kein objektives Bild vom zeitgenössischen Hofleben erwarten, weil ihre religiös und moralisch ausgerichtete Hofkritik eher bewerten als beschreiben will. Noch weniger ist von ihnen eine unverfälschte Schil-
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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Die wichtigsten Werke der Hofkritik wurden oft aus Gründen geschrieben, die nicht gerade Bewunderung verdienen. Ihre Autoren wurden vom Hof vertrieben, waren gezwungen, ihn zu verlassen oder waren in anderer Weise enttäuscht darüber, daß sich ihre ehrgeizigen Ziele nicht hatten verwirklichen lassen.¹⁶⁷
Ein weiteres grundlegendes Motiv für das Verfassen lateinisch-hofkritischer Texte sei darüber hinaus speziell im 11. und 12. Jahrhundert auch das „Eintreten für die Kirchenreform und die gregorianische Partei gegen Heinrich IV.“ gewesen.¹⁶⁸ Vor diesem Hintergrund misst Jaeger den einschlägigen Texten allgemein keinen hohen Wirklichkeitsgehalt bei.¹⁶⁹ Wie schon die zahlreichen idealisierenden Hofdarstellungen der höfischen Literatur nicht als Abbildungen realhistorischer Wirklichkeit gelten könnten, handele es sich auch dabei nur um einseitig perspektivierte „Verzerrungen höfischen Lebens“, welche dieses kalkuliert „von seiner schlechtesten Seite“ zeigten.¹⁷⁰ Mit Bezug auf die Autoren volkssprachlicher höfischer Literatur sieht Jaeger die entsprechenden Motivationen hingegen etwas anders gelagert. So setze etwa der anonyme Nibelungendichter hofkritische Motive, wie sie sich im lateinischen Bereich bspw. in Ordericus Vitalis’ Historia ecclesiastica, Williams von Malmesbury Gesta regum anglorum oder Saxo Grammaticus’ Gesta Danorum nachweisen ließen, ganz gezielt als „instruments“ einer „heroic pedagogy“ ein.¹⁷¹ Mit dem Begriff der „heroic pedagogy“ bezeichnet Jaeger ein dichterisches Programm, das seiner These nach im 13. Jahrhundert entscheidend zur Herausbildung der literarischen Gattung der Heldenepik beigetragen habe: Alte Heldensagen seien von klerikalen Autoren der Mündlichkeit entrissen und christlich-didaktisch überformt worden, um mit einer solchen, den Forderungen der Ständetheorie entsprechenden Tätigkeit der Laienerziehung den eigenen Dienst in der Welt zu rechtfertigen.¹⁷² Der höfisierend-unver-
derung des geistlichen Hofdienstes zu erhoffen, denn die Mitglieder der königlichen Hofkapelle werden natürlich noch schärfer verurteilt als die Höflinge aus dem Laienstand.“ Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 103. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 104. Vgl. hierzu und zum Folgenden Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 198 – 200, sowie ders., Die Entstehung höfischer Kultur, S. 260 – 264 u. 311 f. Eine komplementäre These hat Jaeger wenige Jahre später zu den Entstehungsbedingungen und zur poetologischen Ausrichtung des höfischen Romans formuliert. In dieser Gattung sieht er nämlich v. a. ein grundlegendes Medium zur Vermittlung (ursprünglich ebenfalls klerikaler) Vorstellungen von hövescheit; vgl. dazu zusammenfassend Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 304 f. Jaeger geht in diesem Zusammenhang sogar so weit, die in der Forschung traditionell angenommene Bedeutung des fürstlichen Mäzens für die Entstehung des höfischen Romans im 12. Jh. anzuzweifeln und den entsprechenden historischen Impetus stattdessen primär dem Klerus zuzuweisen: Dieser habe an den ersten Erzähltexten dieser Art möglicherweise ganz ohne vorherigen Auftrag von adliger Seite zu arbeiten begonnen; vgl. ebd., S. 313 – 315. Kritisch zu dieser These Jaegers vgl. allerdings schon D. H. Green: Review. The Origins of Courtliness. Civilizing Trends and the Formation of Courtly Ideals 939 – 1210. By C. Stephen Jaeger. Philadelphia: University of Pennsylvania Press. 1986. In: The Modern
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fängliche Erzählton des ersten Teils des Nibelungenlieds, welcher den Rezipienten zunächst förmlich dazu einlade, den Luxus und die kultivierten Verhaltensweisen Siegfrieds und der Burgunden zu begehren, fungiere dabei als eine Art narrative Falle: Diese schnappe nämlich spätestens in dessen zweitem Teil zu, wenn durch den tragischen Handlungsverlauf nach und nach die Gefahrenpotenziale und Trivialität der verhandelten Formen höfischer Kultur offengelegt würden. Als bedeutendsten Umschlagspunkt zwischen Höfisierung und Kritik hebt Jaeger in diesem Zusammenhang die Ermordung Siegfrieds hervor, in deren Kontext der Erzähler zynisch die höfische zühte (980,1) des Xanteners als Ermöglichungsbedingung für die Tat hervorhebe.¹⁷³ Eine ähnlich antihöfische Geisteshaltung des anonymen Dichters schwinge darüber hinaus aber etwa auch in Volkers brutaler Ermordung des höfischen Hunnen (1885 – 1889) oder in der Darstellung des Küchenmeisters Rumold mit,¹⁷⁴ der den Burgunden vor ihrem Aufbruch nach Etzelburg den Rat gibt, sich statt für die Beschwerlichkeiten der Reise doch besser für den Komfort der Heimat zu entscheiden (1465 – 1469).¹⁷⁵ Neben dem Nibelungenlied attestiert Jaeger des Weiteren auch Gottfrieds von Straßburg Tristan antihöfische Tendenzen.¹⁷⁶ Allerdings falle die Hofkritik in einem Text der Gattung höfischer Roman, die Jaeger wenige Jahre später noch als eines der „effektivsten pädagogischen Mittel“ der klerikalen „Unterweisung des weltlichen Adels in der courtoisie“ beschreiben wird,¹⁷⁷ wesentlich gebrochener bzw. differenzierter aus. Im Gegensatz zum Dichter des Nibelungenlieds sei Gottfried – trotz all seiner bekannten Schattenseiten – offensichtlich ein Fürsprecher für das Leben am Hof gewesen.¹⁷⁸ Diese These entwickelt Jaeger exemplarisch am Beispiel von Gottfrieds Darstellung der Intrige der cornischen Landbarone (V. 8315 – 8378), einer Episode, der bei genauerem Hinsehen das in der lateinischen Hofkritik verbreitete Motiv der Höflingsintrige zugrundeliege (vgl. dazu etwa Petrus’ von Blois „Brief 14“, Giraldus
Language Review 82 (1987), S. 234– 236, hier S. 236: „[I]t is a dangerous argument ex silentio to conclude from our ignorance of patrons that patronage played little part in originating twelfth-century narrative literature (p. 234)“. Vgl. Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 195. Vgl. ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 194. Vgl. Jaeger, The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, Kap. 11 („Die Unterweisung des weltlichen Adels in der courtoisie“), S. 284– 315 (Zitat ebd., S. 286). Dabei begegnen nach Jaeger (ebd., S. 316) im höfischen Roman allerdings „zwei sehr verschiedene Auffassungen von courtoisie“: So komme den höfischen Verhaltensweisen im Genre des „Hofmann-Romans“ (z. B. Gottfrieds Tristan, erster Teil des Nibelungenlieds) weder eine „rühmlich[e] noch ideal[e]“ zu: hövescheit sei hier v. a. „Ausdruck von Ehrgeiz und […] Mittel zum Zugang bei Hof“, wodurch der Blick auf ihre „konkrete gesellschaftliche und politische Funktion“ gelenkt werde; ebd., S. 318 f. Im Typus des „Ritter-Romans“ (Hartmanns Ereck und Iwein, Wolframs Parzival etc.) hingegen werde die courtoisie idealisierend „als ein Code verfeinerten und edlen Verhaltens“ mit dem Zweck der „Zivilisierung“ des Ritters dargestellt; ebd., S. 323. Vgl. Jaeger, The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan, S. 63.
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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Cambrensis’ De principiis instructione liber, Walter Maps De nugis curialium etc.).¹⁷⁹ Dieses erfahre im mittelhochdeutschen höfischen Roman nun allerdings eine grundlegende Modifikation: Denn im Gegensatz zu den gebildeten und vornehmen Emporkömmlingen der lateinischen Quellen entscheide sich Tristan trotz seiner ausgeprägten Todesangst vor den Intriganten letztlich nicht für eine Flucht vom cornischen Hof.¹⁸⁰ Auf Markes Rat hin stelle er sich stattdessen offen dem hazzen unde nîden der Barone (V. 8395) und könne seine Situation mit überragender List dann schließlich noch einmal zum Guten wenden: „Tristan gains the upper hand by similarly manipulating his enemies: he requires that the barons themselves form the wooing expedition. They must agree, and […] their surival now depends on his.“¹⁸¹ Zusammenfassend diene eine solche Modifikation des hofkritischen Motivs der Höflingsintrige bei Gottfried also v. a. als Mittel zur Profilierung eines intellektuell wie moralisch überlegenen Protagonisten, dessen im Roman explizit positiv bewertetes Verhalten gegenüber den Baronen den Dienst am Hof auch im Angesicht all seiner Gefahren als grundlegende moralische Verpflichtung erscheinen lasse.¹⁸² Im deutschsprachigen Raum ist der erste, der mit Nachdruck auf einen Zusammenhang zwischen lateinischer Hofkritik und volkssprachlicher höfischer Literatur verweist, Joachim Bumke (1986). In seinem Standardwerk zur Höfischen Kultur widmet er diesem Gegenstandsbereich sogar ein eigenes Kapitel.¹⁸³ Hier zeichnet Bumke in Form einer Übersichtsdarstellung anhand von zahlreichen Textbeispielen nach, wie im Nordfrankreich und England des 12. Jahrhunderts (vermeintlich) zum ersten Mal ein antihöfisches Gedankengut seinen schriftlichen Niederschlag findet, welches einige Jahrzehnte später dann zunehmend auch Eingang in die volkssprachliche Literatur erhält. Als „Begründer […] hofkritischen Schrifttums“ gilt Bumke dabei Johannes von Salisbury, dessen Einfluss auf die Entstehung antihöfischer Texte im Umfeld des englischen Königshofs (Petrus’ von Blois De palpone et assentatore und Briefe, Jo Vgl. ebd., S. 54. Zur Hofkritik in Gottfrieds Tristan vgl. zusammenfassend außerdem auch Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 151– 154. Vgl. dazu und zum Folgenden Jaeger, The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan, S. 61– 64. Ebd., S. 48. Vgl. ebd., S. 64: „In this [Gottfrieds; J. S.-B.] affirmation of the facing of intrigue there is a breath of ancient attitudes toward state service. To ancient Greek and Roman civilization, state service cannot have appeared evil by nature. It was the duty of the citizen; its ardors, trials, and treacheries were to be faced with the virtues of fortitudo and constantia. Plutarch can point to an opinion of the ‚natural philosophers‘ that strife and discord among men is the force which keeps the planets in motion; if men lived in perfect harmony, then all growth would cease and the planets would stand still in their courses. The Spartans, the passage continues, had prescribed ambition and contention in their constitution as a spur to virtue. And even that famous phrase from Lucan, ‚Exeat aula qui vult esse pius‘, in the context of the Pharsalia is not a sentiment to which the poet himself subscribes. It is from a speech of a wicked and unscrupulous counselor of the young king Ptolemy, urging him to throw over all his obligations to the defeated Pompey. Lucan’s intention was to show what kind of man could mouth a sentiment which must have appeared ahorrent to a Roman. For him and for ancient Rome generally, public service with all its dangers was a moral obligation.“ Siehe dazu Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 583 – 594.
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hannes’ von Altavilla Architrenius, Nigellus Wirekers Tractatus contra curiales et officiales clericos etc.) hier eine besondere inhaltliche Würdigung erfährt.¹⁸⁴ Den einschlägigen Texten wird dabei von Bumke allerdings, wie auch schon zuvor bei Jaeger, primär der Status eines negativen Reflexes realhistorischer Gegebenheiten zugewiesen.¹⁸⁵ Als frühesten Zeitpunkt der Rezeption hofkritischen Gedankenguts in der deutschsprachigen Literatur veranschlagt Bumke in einem zweiten Schritt dann die Entstehung der religiös-didaktischen Literatur in der Mitte des 12. Jahrhunderts.¹⁸⁶ Als exemplarische Textzeugen zitiert er in diesem Zusammenhang u. a. die Rede vom Glauben des ‚Armen Hartmann‘, Heinrichs von Melk Von des tôdes gehugde, die Tugendlehre Wernhers von Elmendorf, Thomasins von Zerklære Welschen Gast und Hugos von Trimberg Renner an. In einem dritten Schritt rücken bei Bumke dann die verschiedenen Anverwandlungsformen von Hofkritik in den Fokus, die sich in der höfischen Epik und Lyrik feststellen lassen. So sei im hochmittelalterlichen Südfrankreich „bereits in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, von Cercamon und vor allem von Marcabru, die moralische Fragwürdigkeit der neuen Minnekultur angeprangert worden.“¹⁸⁷ Darüber hinaus ließen sich aber auch in epischen Werken wie der Chantefable Aucassin et Nicolette (um 1200) deutlich hofkritische Darstellungstendenzen feststellen.¹⁸⁸ Neben der französischen weise jedoch sehr früh auch schon die deutschsprachige höfische Literatur hofkritische Tendenzen auf.¹⁸⁹ In der Lyrik habe hier beispielsweise „die kritische Auseinandersetzung mit der höfischen Minnekonzeption sofort in der ersten Phase der Rezeption romanischer Muster“ begonnen.¹⁹⁰ Noch wesentlich schärfer falle allerdings die Hofkritik in der Spruchdichtung aus, wobei Walther von der Vogelweide hier, wie Bumke zeigen kann, mitunter sogar terminologisch an die lateinische Hofkritik anknüpft.¹⁹¹ In der erzählenden Literatur beginne die Rezeption hofkritischer Denkmuster dann schließlich um etwa 1180 mit dem Reinhart Fuchs, wobei sich allerdings auch in diesem Bereich gattungsspezifische Ebd., S. 583 f. (Zitat S. 583). Vgl. ebd, S. 583: „Johannes von Salisbury [hat] die erste grundsätzliche Auseinandersetzung mit der damals in Frankreich und England erblühten Hofkultur geführt. […] Der Anstoß dazu kam offenbar aus eigenen Erfahrungen am englischen Hof.“ Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 585 – 594. Ebd., S. 589. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 590. Ebd., S. 591: „Allerdings blieb die Absage an die weltliche Liebe in den Kreuzliedern Friedrichs von Hausen ebenso ein Sonderfall wie die Kritik an der überhöhten Position der Dame und an der Unergiebigkeit des einseitigen Dienstes in den Liedern Hartmanns von Aue und Walthers von der Vogelweide […]. Erst bei Neidhart rückten die satirisch-kritischen Darstellungstendenzen in den Mittelpunkt.“ Vgl. ebd., S. 591: „‚Ich weiß nicht, mit wem ich die Hofhunde vergleichen soll…‘: So beginnt eine Strophe, die auf die Verhältnisse am Kärntner Hof unter Herzog Bernhard II. († 1256) zielte. Das Wort hovebellen für die Intriganten und Verleumder am herzoglichen Hof schloß an eine lateinische Begriffstradition an, die bis zu Boethius zurückreichte und die bereits im 11. Jahrhundert in den Dienst der Hofkritik gestellt worden ist (canes palatini ‚Hofhunde‘= ‚Höflinge‘).“
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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Unterschiede feststellen ließen:¹⁹² So setze einerseits der Artusroman nur ausgesprochen „selten kritische Akzente“: „König Artus und sein Hof standen für höfische Vollkommenheit, und die Aufnahme in die Tafelrunde war die höchste Auszeichnung, die es für einen Ritter gab.“¹⁹³ Wesentlich hofkritischer falle hingegen von Beginn an „die Heldenepik mit ihren geschichtlichen Stoffe und ihrer größeren Nähe zur Wirklichkeit“ aus.¹⁹⁴ Als zentrale Beispiele für die poetische Hofkritik in der Volkssprache führt Bumke in diesem Zusammenhang das Nibelungenlied,Wolframs von Eschenbach Willehalm und Gottfrieds Tristan an.¹⁹⁵ In der Gesamtschau folgert er schließlich jedoch, dass „[d]ie kritische Potenz“ dieser Werke beim höfischen Publikum „offenbar […] nicht viel Resonanz gefunden“ habe:¹⁹⁶ Jedenfalls ist die Gesellschaftsdarstellung im 13. Jahrhundert rasch wieder verflacht. Das ‚Nibelungenlied‘ wurde durch die früh dazugedichtete ‚Klage‘ entschärft, und Wolframs ‚Willehalm‘ ist ebenso wie Gottfrieds ‚Tristan‘ durch verharmlosende Fortsetzungen in die Normalform höfischer Idealisierung zurückgeholt worden.¹⁹⁷
Gut fünfzehn Jahre später widmet sich dann auch Rüdiger Schnell (2002, 2011) dem Forschungsfeld der Hofkritik. Anders als bei Jaeger und Bumke gilt sein Interesse nun allerdings nur noch dem „Hof als Vorstellungsmodell und als Produkt literarischer Projektion“ und nicht mehr „der ‚Realität‘ Hof“.¹⁹⁸ Dabei liegt der Fokus der älteren seiner beiden einschlägigen Studien (2002) zunächst vor allem darauf, die von der Forschung immer wieder postulierte Grenze zwischen höfischer und hofkritischer Literatur systematisch aufzuheben, um im Anschluss daran konkrete Unterschiede zwischen lateinischer und volkssprachlicher Hofkritik herausarbeiten zu können.¹⁹⁹ Denn wie Schnell eingangs mit einem skizzenhaften Durchgang durch Texte verschiedenster Gattungen der höfischen Lyrik und Epik des hohen Mittelalters nach-
Vgl. ebd., S. 592. Ebd. Im Zuge dessen verweist Bumke allerdings auch auf die merkwürdig ambivalente Konzeption sowohl von König Artus als auch der Keiefigur im hochmittelalterlichen Artusroman. Wie man dies zu interpretieren habe, so Bumke (ebd.), sei „unklar“. Ebd., S. 593. Vgl. ebd, S. 593 f. Eine gesamtgesellschaftliche Breitenwirkung habe die geistliche Hofkritik in Deutschland, so Bumke (ebd., S. 588), allerdings erst „am Ende des 13. Jahrhunderts in den wortgewaltigen Predigten des Franziskaners Berthold von Regensburg [erreicht], der den aufwendigen Lebensstil der Hofgesellschaft als Ausdruck sündhafter Hoffart geißelte und der die Gefährdung des Seelenheils durch das Hofleben in den grellsten Farben gemalt hat.“ Ebd., S. 594. Ebd. Ähnlich niedrig schätzt Bumke (ebd., S. 589) darüber hinaus übrigens auch die Wirkung der poetischen Hofkritik auf die Lebensweise des Adels ein: „Weder die Anprangerung des höfischen Kleiderluxus noch die zahlreichen kirchlichen Turnierverbote hatten mehr als lokale Erfolge; und die geistlichen Mahnungen haben nicht verhindert, daß die Gesellschaftsmoral des Adels immer mehr verweltlichte und sich immer mehr aus der Bevormundung durch die Kirche löste.“ Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 327. Vgl. ebd., S. 323 f.
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weisen kann, nimmt bei weitem nicht nur die lateinische, sondern oftmals auch die volkssprachlichen Literatur eine kritische Perspektive auf den Hof ein.²⁰⁰ So prangere im Bereich der Lyrik etwa schon Walther von der Vogelweide die neuartige Vorliebe des Adels für die „angeblich unhöfische Liedkunst Neidharts“²⁰¹ an (L. 64,31: Owe, hovelichez singen), und auch der klassische höfische Roman (Hartmanns Ereck und Iwein, Gottfrieds Tristan) verbinde geradezu programmatisch „die Welt der Zivilisation, der Triebbändigung, der Affektkontrolle, der Öffentlichkeit und Ordnung“ mit der „Welt der Wildnis, der Triebhaftigkeit, der ungezügelten Affekte, der Heimlichkeit und des Chaos“.²⁰² Im Verlauf der Zeit verflache diese Ambivalenz der Hofdarstellung dann allerdings zunehmend, bis sich schließlich in der höfischen Literatur des Spätmittelalters „[d]ie Welt des Guten und die Welt des Bösen […] als völlig separate Bereiche gegenüber[stünden]“.²⁰³ Im zweiten Teil der Studie unternimmt Schnell dann einen exemplarischen Vergleich zwischen dem berühmten und hochgradig topischen Brieftraktat De miseriis curialium (1444) des Aeneas Silvius Piccolomini mit ausgewählten Passagen der mittelhochdeutschen geistlich-didaktischen Literatur (Hugos von Trimberg Renner, Thomasins von Zerklære Der Welsche Gast und der Seifried Helbling).²⁰⁴ Diese Analyse hat zum Ergebnis, dass, bei allen textspezifischen Besonderheiten, sich grundsätzlich „eine lateinische Hofkritik mit einer gelehrt-individualistischen Perspektive (zu Ruhe, Muße, Abgeschiedenheit neigend) von einer volkssprachlichen Hofkritik“ abgrenzen lasse, die „auch in geistlich-didaktischen Texten […] der Dichtungstradition und dem Selbstverständnis einer laikal-adligen Gemeinschaft verpflichtet“ sei.²⁰⁵ Denn die Kritik der volkssprachlichen Autoren fällt, wie Schnell hier immer wieder zeigen kann, grundsätzlich weniger scharf und außerdem wesentlich differenzierter aus als dieje-
Vgl. ebd., S. 334: „In der mittelalterlichen Hofliteratur des 12./13. Jhs., die angeblich vom Zivilisationsprozeß gezeichnet ist, hält sich hartnäckig die Skepsis gegenüber dem Glauben, der Mensch könne zur gänzlichen und dauerhaften Niederwerfung seiner Triebe gelangen.“ Ebd., S. 328. Zu weiteren Beispielen für Hofkritik im mhd. Minnesang vgl. ebd., S. 332 f. Ebd., S. 329 – 331: „Was den heutigen Betrachtern der Artusromane oft als heile Welt, als heiteres Dasein, als ‚Luftschloss‘ entgegentritt, darf nicht über die tieferen Sinnschichten dieser poetischen Gebilde hinwegtäuschen: Der Idealzustand des Artushofes ist ständig Gefahren und Gefährdungen ausgesetzt; er stellt eine Welt vor, die immer nur punktuell den mühsamen Ausgleich zwischen individuellem Liebesbegehren und gesellschaftlichen Normen, zwischen Trieb und Selbstbeherrschung, zwischen natura und nutritura, zwischen Chaos und Kultur herzustellen vermag. […] In der volkssprachlichen Hofliteratur des Hochmittelalters ist also die Hofkritik immer schon mit angelegt, ja sie lebt geradezu von dem stets präsenten Gegenbild zuchtlosen Verhaltens. Trotz dieses kritischen Aspekts aber bleibt der Glaube an die Besiegbarkeit der sinnlich-animalischen Triebkräfte des Menschen entscheidendes Merkmal der höfischen Dichtung.“ Ebd., S. 334. Vgl. ebd., S. 340 – 355. Zum Verhältnis zwischen lateinischer und mhd. (moral-didaktischer) Hofkritik vgl. zuvor außerdem auch schon Jaeger, The court criticism of MHG didactic poets, hier v. a. S. 407 f., dessen Fokus allerdings weniger auf den verschiedenen Kritikformen als auf den von ihm angenommenen gemeinsamen soziologischen Grundlagen der Texte liegt. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 354.
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nige der topisch zum Verlassen des Hofs aufrufenden lateinischen Texte. So verlagere etwa Hugo von Trimberg in seinem Renner (V. 535 – 802) das Konzept höfischer Idealität topisch in die Vergangenheit und differenziere außerdem auch im Hinblick auf die Gegenwart zwischen tugendhaften und lasterhaften Fürsten.²⁰⁶ Ähnlich argumentiere weiterhin auch Thomasin von Zerklære im Welschen Gast (V. 6325 – 6338), nach dem für den moralischen Verfall an den Höfen seiner Zeit eben nicht „das ‚System‘ Hof“²⁰⁷ verantwortlich sei, sondern v. a. die diesen bevölkernden Herren bzw. Ritter.²⁰⁸ Schließlich beklage auch der Seifried Helbling (XV 108 – 166) die Zustände im gegenwärtigen Österreich topisch vor dem Hintergrund einer glanzvollen höfischen Vergangenheit, die hier als wiederherzustellender Idealzustand präsentiert werde.²⁰⁹ Wo in der lateinischen Hofkritik die „Alternative zum Hof nur […] Einsamkeit, Ruhe, Studium auf dem Lande“ sein könne,²¹⁰ so hält Schnell abschließend fest, glaube die volkssprachliche Hofkritik also stets noch „an die Möglichkeit eines tugendhaften Lebens am Hof […] (ob generell in der Vergangenheit oder vereinzelt in der Gegenwart)“, und arbeite daher v. a. auf die „Veränderungen der lasterhaften Verhältnisse […] hin.“²¹¹ Vgl. ebd., S. 348 – 350. Zu Johannes’ von Salisbury Policraticus und Johannes’ von Altavilla Architrenius als möglicherweise von Hugo in diesem Zusammenhang verwendeten lateinischen Referenztexten vgl. weiterhin Jaeger, The court criticism of MHG didactic poets, S. 405 f. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 349. Vgl. ebd., S. 351 f. Zu diesen Ausführungen Thomasins siehe zuvor auch schon Jaeger, The court criticism of MHG didactic poets, S. 402. Vgl. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 352 f. Ebd., S. 344. Ebd., S. 350. Zur funktionalen Abgrenzung von lateinischer und volkssprachlicher Hofkritik vgl. ausführlicher auch ebd., S. 350 f.: „Sie [die volkssprachlichen Hofkritiker; J. S.-B.] wollen durch Literatur auf die Wirklichkeit einwirken. Die lateinische Hofkritik dagegen möchte weniger die Realität als die (irrigen) Vorstellungen vom Hof korrigieren. Diejenigen, die sich durch eine Anstellung bei Hofe Ansehen und Erfolg versprechen, sollen durch eine drastische Schilderung des lasterhaften und demütigenden Hoflebens die Augen geöffnet werden. Die lateinische Hofkritik will ‚Bilder‘ vom Hof verändern, nicht die Hofrealität. Denn sie glaubt gar nicht an eine moralische Besserung der Institution Hof. […] Das mangelnde moralische Engagement der lateinischen Hofkritiker und die dafür stärker ausgeprägte rhetorische Stilisierung lassen sich durch die spezifischen Adressaten erklären: die lateinische Hofkritik wendet sich an Personen, die über lateinische Sprachkenntnisse verfügen und entsprechende Lektürekenntnisse über rechtes sittliches Verhalten besitzen. Diese müssen nicht belehrt werden, wie man sich richtig zu verhalten hat. Dafür goutieren diese Adressaten um so mehr, wie die Inhalte vermittelt werden. Hugo von Trimberg, der an der Schnittstelle von lateinischem und volkssprachlichem Kulturbereich steht, meint, daß es an geistlichen Fürsten nichts zu tadeln gebe: diese könnten ja selbst den Schriften entnehmen, was man tut oder lassen soll (Der Renner, V. 554– 559). Der volkssprachlichen Hofkritik wächst also zugleich die Aufgabe eines Wissens- und Bildungstransfers zu: sie muß schriftlich tradiertes moralisches Wissen in mündlicher Form an Laien vermitteln. Die lateinische Hofkritik moralisiert nicht, sondern demonstriert bekanntes Wissen und rhetorisches Können.“ Im Anschluss an diese Ausführungen Schnells lässt sich (bei allen Unterschieden zu den lateinischen Texten) also auch die Hofkritik der mhd. geistlich-didaktischen Literatur mit Konersmann, Kulturkritik, S. 54 f., als ‚restitutiv‘ beschreiben, da sie zur Wiederbelebung eines vergangenen höfischen Gesellschaftsideals aufruft.
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In seiner jüngeren Studie zur mittelalterlichen Hofkritik (2011) ändert sich Schnells Zugriff auf das Thema dann beträchtlich. So geht es ihm hier nun primär darum, „den Gegenstand bzw. das Textkorpus ‚Hofkritik‘“²¹² näher einzugrenzen und struktural-funktionale Zusammenhänge zwischen dem ‚Höfischen‘ bzw. der höfischen Literatur sowie der geistlichen Hofkritik aufzuzeigen. So sieht Schnell den langjährigen Stillstand der Forschung, was die mittelalterliche Hofkritik anbelangt, vor allem darin begründet, dass bislang eine wirkliche Systematisierung des vielfältigen lateinischen und volkssprachlichen Textmaterials fehle.²¹³ Diesen von ihm attestierten Missstand begegnet er, indem er eingangs folgende Definition von ‚Hof‘ aufstellt: Das Wort Hof (curia) bezeichnet in lokaler Hinsicht den Aufenthaltsort, die Residenz eines Herrschers; in sozialer Hinsicht ist das Gefolge eines Herrschers bzw. die in seiner Umgebung anwesenden Personen, Funktionsträger (Kapellane, Sekretäre, Erzieher, Wirtschaftspersonal, Diplomaten) gemeint; in kommunikativer Hinsicht wird dem Hof ein besonderes Verhalten in der Umgebung eines Herrschers unterstellt. Hof wird somit als ein politisches Machtzentrum verstanden, in dem sich ein kleinerer, später größerer Kreis von abhängigen Funktionsträgern um eine Herrscherperson versammelt, dem alle zu völligem Gehorsam verpflichtet sind.Vorausgesetzt wird am Hof ein besonderer Verhaltenskode.²¹⁴
In Schnells Augen ist eine solche „konsensfähige Definition“ des Begriffs ‚Hof‘ für die weitere Erforschung der mittelalterlichen Hofkritik unverzichtbar, denn nur so lasse sich der Forschungsgegenstand überhaupt erst zweifelsfrei bestimmen bzw. könnten einzelne Texte diesem zugeordnet werden.²¹⁵ Mit der zitierten Definition als „Ausgangspunkt“ seiner Analysen schlussfolgert Schnell nun, dass im weiteren Vorgehen einige Schriften aus „dem in der germanistischen Mediävistik immer wieder zitierten einschlägigen Text-Repertoire“ herausfallen müssten, da „von einem Hof in dem skizzierten Sinne“ hier schlicht „nicht die Rede“ sei.²¹⁶ So sei eine Kritik des Hofs bspw. grundsätzlich von der „Kritik an (einzelnen) Fürsten“ abzugrenzen,²¹⁷ denn
Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 80. Vgl. ebd., S. 78. Ebd., S. 80. Hervorhebungen J. S.-B. Ebd.; ähnlich zuvor auch schon ders., Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 323, Anm. 1: „Um eine Begriffsverwirrung zu vermeiden und das Textkorpus einigermaßen homogen zu gestalten, bezeichne ich Hofkritik als literarische Kritik des Hofes mit seinen typischen Handlungsabläufen, seinen wichtigsten Funktionen und zugehörigen Personengruppen.“ Die geistliche „Kritik am höfischadligen Treiben“ klammert Schnell bereits in dieser früheren Arbeit definitorisch explizit aus; vgl. ebd. Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 80. Zu den Texten, die nach Schnell (ebd., Anm. 17) nicht mehr zum Textrepertoire der Hofkritik gehören würden, zählt bspw. die nur fragmentarisch erhaltene Tugendlehre Wernhers von Elmendorf (12. Jh., Berlin Ms. germ. oct. 226), die Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 587, oder Werner Rösener: Leben am Hof. Königs- und Fürstenhöfe im Mittelalter. Ostfildern 2008, S. 250 f., hingegen durchaus zum antihöfischen Textkorpus zählen. Im Sinne Schnells wiederum auch Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 363. Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 81.
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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auch wenn beide in der Literatur oftmals „komplexe Verbindungen“ eingingen, so handle es sich doch um zwei unterschiedliche Formen der Kritik.²¹⁸ Vor dem Hintergrund der bereits erwähnten gattungstypologischen Inhomogenität hofkritischer Texte, welche Schnell in erster Linie als ein Problem auffasst, sowie der von ihm vertretenen Ansicht, dass es in diesen primär um unmoralische Verhaltensweisen gehe, definiert er das ‚Höfische‘ hier schließlich als „soziokulturelle[] Kategorie“ im Sinne eines „Verhaltensideal[s]“.²¹⁹ Ausgehend davon gelingt es ihm, zu zeigen, dass zwischen den Verhaltensnormen der curialitas auf der einen Seite und dem Phänomen der Hofkritik auf der anderen bei genauer Betrachtung ein wichtiger Zusammenhang besteht. Ganz im Gegensatz zur Sichtweise der früheren Forschung sind höfisches Verhaltensideal und hofkritische Invektiven für Schnell nämlich keine Gegensätze mehr, sondern stehen – wie er am Beispiel verschiedener lateinischer und volkssprachlicher Texte vom Frühmittelalter bis zum Humanismus nachweisen kann – vielmehr in einem referentiellen Verhältnis zueinander: Das höfische Verhaltensideal, wie es in lateinischen und volkssprachlichen Texten entworfen wurde, besitzt eine Qualität, die das Unhöfische und damit die Kritik am Hof und Höfischen notwendigerweise provoziert und produziert. Zugespitzt formuliert: Dem Höfischen wohnt latent das Unhöfische inne – und fordert Hofkritik geradezu heraus.²²⁰
Laut Schnell sind die von den hofkritischen Autoren angeprangerten Verhaltensweisen also im Höfischen selbst „strukturell schon immer angelegt“.²²¹ Diese Hypothese stützt er durch eine ausführliche Analyse zweier Laster, die in der mittelalterlichen Hofkritik insbesondere im Kontext des geistlichen Hofdiensts standardmäßig thematisiert werden: Schmeichelei (adulatio) und allgemeine Verstellung (dissimulatio).²²² Diese von klerikaler Seite kontinuierlich attackierten Untugenden ließen nämlich, so Schnell hier weiter, bezeichnenderweise einen unmittelbaren Bezug zu zwei der wichtigsten Verhaltensvorschriften der curialitas erkennen. Dabei handle es sich nun wiederum um die grundlegende höfische Verhaltenskategorie der affabilitas (Umgänglichkeit, Leutseligkeit, Liebenswürdigkeit, Ansprechbarkeit) und um eine weitere wichtige Grundregel höfischen Verhaltens: ‚Das tun, was den anderen gefällt‘. Der strukturell-funktionale Zusammenhang zwischen beiden Begriffspaaren bestehe nun wiederum darin, dass affabilitas nicht nur jederzeit in adulatio umschlagen und
Ebd., S. 81, inkl. Anm. 19. Für Schnell (ebd.) liegt eindeutig Hof-Kritik vor, „wenn sich in einem Text Kritik am Hof mit einem Lob des Herrschers verbindet“; demgegenüber sollte seiner Ansicht nach von Fürsten-Kritik gesprochen werden, „wenn ein Text die Fürsten, nicht die Höflinge ins Visier nimmt.“ Zusammen gingen Fürsten- und Hofkritik da, „wo ein Text die Laster der Höflinge zugleich dem Fürsten zur Last legt“. Nach einer solchen Argumentation wäre also etwa die gesamte Literaturgattung ‚Fürstenspiegel‘ aus dem Textrepertoire der mittelalterlichen Hofkritik auszuschließen. Ebd., S. 82. Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 82 f. Ebd., S. 83. Ebd., S. 93. Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 90 – 104.
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‚das zu tun, was den anderen gefällt‘ äußerst leicht zur dissimulatio mutieren könne – im Einzelfall sei zudem auch nur schwer entscheidbar, welche Beweggründe sich tatsächlich hinter einer bestimmten Handlung verbergen.²²³ So könne affabilitas beispielsweise „von wohlwollenden Dritten als Akt der Rücksichtnahme gewertet, von mißtrauischen Zeitgenossen hingegen als adulatio wahrgenommen werden“.²²⁴ Grundlage beider Bewertungen sei jedoch ein und dieselbe Erscheinung: Denn darüber, wie eine konkrete Handlung zu bewerten sei, entscheide letztlich immer der Betrachter – und nicht die handelnde Person. Die hochmittelalterliche Hofkritik sei, so gesehen, in erster Linie eine literarische Reaktion auf das höfische Verhaltensideal, die darin recht einseitig die latent lauernden unhöfischen Laster fokussiere; sie beschreibe damit allerdings „keinesfalls immer eine andere Wirklichkeit als idealisierende Texte es tun“, sondern repräsentiere lediglich „eine andere Sicht auf denselben Sachverhalt“.²²⁵ Über den Alltag an hochmittelalterlichen Höfen – und hier treffen sich die Ansichten Schnells (teilweise) mit denjenigen C. Stephen Jaegers – sei vor diesem Hintergrund allerdings ähnlich wenig aus der Hofkritik zu erfahren wie aus den zahlreichen idealisierenden Darstellungen des Hofes in der höfischen Literatur.²²⁶ Die von Schnell vorgenommene Beschreibung des höfischen Verhaltens als einem „fragilen Idealzustand“²²⁷ lässt sich seiner Ansicht nach zudem auch auf andere Vorstellungsbereiche der curialitas ausweiten: Aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen, handle es sich nämlich letztlich bei jeder höfischen Tugend um eine „Gratwanderung zwischen zwei negativ konnotierten Extremen“.²²⁸ Denn während sich etwa die affabilitas als „Mittelweg zwischen schmeichlerischem und mürrischunfreundlichem Verhalten“ beschreiben lasse, gehe es bei der höfischen milte (Freigebigkeit) darum, „das rechte Maß zwischen Geiz und Verschwendung“ einzuhalten.²²⁹ Da höfisches Verhalten somit grundsätzlich in einem maßvollen Schwebezustand bestehe, und das wiederum von außen ganz unterschiedlich wahrgenommen werden könne, sei das Höfische sowohl hinsichtlich seiner Beschaffenheit als auch seiner Bewertung allgemein als ein „Kipp-Phänomen“ zu beschreiben.²³⁰ Vor einem solchen Hintergrund erscheint es Schnell abschließend auch nur wenig verwunderlich, dass sich „im literarischen Kontext des Hofideals“ sehr oft „auch die Hofkritik einfinde[]“:²³¹ ‚Höfisch-Sein‘ sei eben nicht nur im Alltag, sondern auch in der Lite-
Vgl. ebd., S. 101 f. Ebd., S. 91. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch ebd., S. 91– 93. Ebd., S. 97. Vgl. dazu schon Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 11: „Die höfische Literatur ist kein mimetischer Spiegel, sondern eher eine Maske, hinter der die Realität, der sie entstammt, verborgen bleibt.“ Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 144. Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 100. Ebd. Ebd. Ebd., S. 100, Anm. 79.
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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ratur ständig mit der Möglichkeit konfrontiert, zu einer der beiden Extremseiten hin umzuschlagen.²³² Einer für die vorliegende Arbeit wichtigsten Befunde Schnells ist somit, dass die literarische Konstruktion einer Norm des ‚Höfischen‘ – hier ausschließlich verstanden als ein ethischer Code – im Hochmittelalter grundsätzlich durch vielfältige Interferenzen zwischen höfisierend-repräsentativen und hofkritischen Akzentuierungen charakterisiert ist. Den bis zu diesem Zeitpunkt von der Forschung angeführten möglichen „Kausalfaktoren der Hofkritik“²³³ – also bspw. Jaegers Erklärungsansatz, nach dem vor dem Hintergrund überindividueller historischer Prozesse v. a. persönliche Enttäuschung oder die Rechtfertigung des geistlichen Diensts in der Welt Autoren zur Hofkritik getrieben hätten – stellt Schnell also eine andere These entgegen: Nämlich dass die Ursachen für deren Herausbildung womöglich in erster Linie in der „Qualität des ‚Höfischen‘ (der curialitas)“ selbst zu suchen sind.²³⁴ Der Frage nach dem Verhältnis von Höfisierung und Hofkritik speziell in der mittelhochdeutschen höfischen Epik widmet sich schließlich auch Monika Schausten (2011). Anknüpfend an einige der zentralen Thesen Rüdiger Schnells, welcher Hofkritik, wie bereits dargelegt, nicht mehr als einen von anderen Hofdarstellungen scharf abzugrenzenden textuellen Bereich begreift, sondern vielmehr als „integrale[n] Bestandteil dessen, was das Mittelalter als Wesen des Hofes und des Höfischen in seinen Literaturen konstruier[t]“, regt Schausten hier zu einer „grundlegenden Revision der Erforschung höfischer Literatur“ an.²³⁵ Denn ihrer Argumentation zufolge lässt sich die von Schnell speziell für den Bereich der höfischen Verhaltenslehre konstatierte, „offensichtlich diskurstypische Verschränkung normierender und kritischer Einlassungen für die Konstruktion eines spezifisch höfischen Menschenideals“ auch für die Analyse weiterer literaturwissenschaftlicher Themenfelder fruchtbar machen: Denn Schnells Ausführungen machen wahrscheinlich, dass womöglich besonders die Gattungen der höfischen Epik über die kreativen Formen der Aneignung mittelalterlicher Verhaltenslehre und deren Begrifflichkeit hinaus auch andere Themen und Aspekte, die fiktionale Imagination von ‚Hof‘ betreffend, im Rahmen der dargelegten Interferenz konzipieren. Zu vermuten ist, dass dies nicht zuletzt in verschiedenen Modi einer Anknüpfung an die Ausführungen der lateinischen Hofkritik und ihrer Textgattungen geschieht.²³⁶
Vor diesem Hintergrund hebt Schausten, welche – anders als Schnell – nicht von Hofkritik als einer sozialen, sondern als einer „literarischen Kategorie“²³⁷ ausgeht, die Fragestellung, ob die Verhandlungen des hofkritischen Diskurses möglicherweise gar
Vgl. ebd. Ebd., S. 84. Ebd., S. 87. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 144. Ebd. Ebd., S. 144, Anm. 27.
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1 Einleitung
als ein „grundlegender Bestandteil einer textuellen Konstruktion des Höfischen“ in der höfischen Epik gelten könnten, nachdrücklich als ein Desiderat mediävistischer Forschung hervor.²³⁸ Es sei demnach zu überprüfen, ob – und, falls ja, auf welche Weise und mit welcher Funktion – „implizite und explizite Adaptationen und Modifikationen der Spielart des hofkritischen Diskurses […] das ‚Vorstellungsmodell ‚Hof‘ als Produkt literarischer Projektion‘ gerade in denjenigen Gattungen volkssprachlicher Literatur mit generieren, die von einem adeligen Mäzen in Auftrag gegeben, für ein höfisches Publikum entwickelt werden“.²³⁹ Schließlich handele es sich dabei um eine Form von Literatur, die von der germanistischen Mediävistik bislang im Anschluss an die Arbeiten von Norbert Elias’ vor allem soziologisch hinsichtlich ihrer Funktion als Repräsentationsmedium höfischer Idealität beschrieben worden sei.²⁴⁰ Was die bereits von Schnell näher in den Blick genommene Problematik des Hofbegriffs anbelangt, kommt Schausten angesichts der Erkenntnisse der jüngeren Geschichtswissenschaft jedoch zu einem anderen Ergebnis. So sei der hochmittelalterliche Hof, welcher sich aufgrund seiner vielfältigen Erscheinungs- und Darstellungsformen einer stringenten Definition ohnehin entziehe,²⁴¹ zwar zunächst durch-
Ebd., S. 145. Hervorhebung J. S.-B. Ebd., S. 145 (im Rekurs auf Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 326). Vgl. zu dieser Problematik auch schon Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 324: „Inwiefern kann Hofliteratur überhaupt Hofkritik sein? In welchem Funktionsverhältnis stehen die an einem bzw. für einen Hof hergestellten Werke und die gegen einen Hof gerichteten literarischen Äußerungen zueinander? […] Wie verteilen sich die zwei sehr unterschiedlichen literarischen Konzeptionen des Hofes – der Hof als Ort verfeinerten gebildeten Benehmens und der Hof als Zentrum der Lasterhaftigkeit – auf verschiedene Literaturbereiche? Was ist die These von der mittelalterlichen Literatur als einer Auftragsdichtung noch wert, wenn es Dichter wagen können, gegen Fürsten und Hof öffentlich zu opponieren?“ Vgl. hierzu und zum Folgenden Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 144 f. Zur konstitutiven Unbestimmbarkeit des zeitgenössischen Hofbegriffs vgl. schon Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 437: „Der Hof des hohen Mittelalters ist zunächst als ein lockerer Personenverband zu verstehen, der durch die Ausrichtung auf die Person des Herrschers gekennzeichnet ist. So haben es auch die Zeitgenossen gesehen. Walter Map († 1209) hat in seinem Buch über die Läppereien der Hofleute (‚De nugis curialium‘) den Hof definiert als ‚eine Menge, die gewissermaßen auf eine einzige Spitze hin ausgerichtet ist‘ und ‚nur einem Herrn zu gefallen sucht‘. Da aber die ‚Menge‘, die den Hof bildet, unbestimmbar ist, weil sie sich dauernd verändert, entzieht sich der Hof für Walter Map fast gänzlich einer Definition: ‚Ich bin am Hof und spreche vom Hof und weiß doch weiß Gott nicht, was der Hof ist.‘ Sicher ist nur: der Hof ist ‚wandelbar und schillernd, räumlich begrenzt und umherziehend, niemals im selben Zustand verharrend.‘ Ein solcher Hofbegriff offenbart einen Widerspruch, der dem Bemühen um ein historisches Verständnis der höfischen Kultur innewohnt: die Anbindung an den Hof erscheint als das Wichtigste, und dieser wichtigste Punkt ist doch historisch kaum zu fassen. Diesen Widerspruch nicht wegzudisputieren, sondern in das Bild der höfischen Kultur einzubringen, erscheint mir notwendig.“ Mit Recht verweist Schmidt, Curia und curialitas, S. 18 f., in diesem Zusammenhang weiterhin auch auf das Fehlen einer bildlichen Tradition zu curia/curialitas. Dem zustimmend außerdem auch Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 47.
1.4 Hofkritik in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur: Zum Stand der Forschung
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aus, wie Schnell dies vorschlage, in sozialer, lokaler, und kommunikativer Hinsicht zu erfassen. Darüber hinaus müsse der Hof jedoch auch im Kontext einer Verfassungsund Rechtsgeschichte, einer Ökonomiegeschichte, sowie nicht zuletzt auch im Kontext einer Kulturgeschichte beschrieben werden.²⁴² Dass Schausten von einem wesentlich weiter gefassten Hofbegriff (und damit auch einem weiter gefassten Begriff des ‚Höfischen‘) ausgeht, kann jedoch wiederum nicht ohne Folgen für die entsprechende Eingrenzung des Gegenstandbereichs bzw. Textkorpus ‚Hofkritik‘ bleiben. Im Unterschied zu Schnell bezieht Schausten dabei nämlich nicht nur diejenigen Texte mit ein, die sich kritisch mit den am Hof als vorbildlich geltenden Verhaltensweisen auseinandersetzen, sondern auch all jene, deren Fokus auf den ästhetischen und materiellen Formen ritterlich-höfischer Kultur liegt, also bspw. auf der Jagd, aber auch der Kleidung oder Musik. Vor dem skizzierten Hintergrund untersucht Schausten im Weiteren exemplarisch die Darstellung höfischer Jagdpraktiken im Tristan Gottfrieds von Straßburg. Ihre diskurshistorische Analyse, welche den ersten Versuch darstellt, die lateinische Jagdkritik mit der bast-Episode in einen Zusammenhang zu bringen, hat zum Ergebnis, dass die Gottfriedsche Darstellung in der Tat auf einige Aspekte der lateinischen Hofkritik Bezug nimmt. So kann Schausten zeigen, wie der mittelhochdeutsche Roman die von der konservativen Geistlichkeit scharf angeprangerte Jagdleidenschaft des Adels und ihre besonderen Ausprägungen zu einer „ambigen Kennzeichnung“ der Markegesellschaft bemüht.²⁴³ Tristans Jagdkünste, die die Forschung zuvor meist als Ausdruck seiner vorbildlichen hövescheit gedeutet hat, erscheinen im Spiegel der lateinischen Hofkritik dabei als eine Kunstfertigkeit, die die cornische Hofgesellschaft zwar einerseits auszeichnet, sie zugleich aber auch bedroht.²⁴⁴
Vgl. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 145 f. Schausten bezieht sich mit diesen Ausführungen wiederum auf Reinhardt Butz, Lars-Arne Danneberg: Überlegungen zur Theoriebildung des Hofes. In: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen. Hrsg. von Reinhardt Butz, Jan Hirschbiegel, Dietmar Willoweit. Köln [u. a.] 2004, S. 1– 41, hier v. a. S. 6 u. 24– 32. Gegen eine (definitorische) Trennung vom ma. Hof und seiner Kultur wendet sich zuvor auch schon Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 435: „Das historische Verständnis der höfischen Kultur muß vom Hof als der zentralen Instanz von organisierter Herrschaft im Mittelalter ausgehen. Höfische Kultur war Hofkultur; sie wurde von den Fürstenhöfen und dem Königshof getragen. Ihre Entstehung war an Veränderungen in der Herrschaftskultur gebunden, die in der Neuorganisation der Hofverwaltung im 12. Jahrhundert und in den neuen Formen des gesellschaftlichen Lebens am Hof ihren historisch faßbaren Ausdruck fanden. Deswegen führt die Frage nach den spezifischen Organisationsformen des adligen Hoflebens in das Zentrum der höfischen Kultur.“ Ähnlich weiterhin auch Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 78. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 157. Vgl. hierzu und zum Folgenden Schaustens entsprechende Analyse von Gottfrieds Tristan (ebd., S. 152– 162).
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1.5 Anlage der Arbeit, methodisches Vorgehen und Textauswahl Obwohl die mediävistische Literaturwissenschaft seit mehr als 35 Jahren auf die zentrale Bedeutung der lateinischen Hofkritik für die Gesellschaftsdarstellung der höfischen Literatur verweist, und es allgemein als völlig unstrittig gilt, dass die volkssprachlichen Texte auf diese Bezug nehmen, ist eine systematische und gattungsübergreifende Untersuchung bislang ein Desiderat geblieben.²⁴⁵ Geläufig ist stattdessen, v. a. als wirkmächtiges ‚Basiswissen‘ in Einführungsbüchern zur höfischen Literatur, noch immer ein Forschungstopos, nach dem die literarischen Verhandlungen der materiellen sowie der literarisch-musikalischen Hofkultur, und zwar insbesondere im höfischen Roman, ausschließlich (oder zumindest in erster Linie) repräsentativen Charakters seien.²⁴⁶ In Abgrenzung davon soll im Rahmen der vor-
Auf die Adaptation hofkritischer Wissensbestände durch die höfische Literatur verweist sehr früh schon Köhn, Militia curialis, S. 230, Anm. 10, der als Beispiel Walthers von der Vogelweide „Spruch 32,27“ (Die Gedichte Walthers von der Vogelweide. Hrsg. von Hugo Kuhn, Karl Lachmann. 13. Aufl. Berlin 1965, S. 43) anführt, in welchem die Höflinge des Herzogs von Kärnten als hovebellen bezeichnet und „mit Mäusen [verglichen werden], die Schellen tragen und so auf sich aufmerksam machen“. An prominenter Stelle hebt dann einige Jahre später auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 589 – 594, auf die hofkritischen Darstellungstendenzen der höfischen Literatur des Hochmittelalters ab. In seiner sechs Jahre später erschienenen „kritischen Bestandsaufnahme“ (S. 491, Anm. 267) ruft Bumke dann sogar programmatisch zur Erforschung jener Sinnschichten auf: „Für das heutige Verständnis der höfischen Literatur spielen die kritischen Züge im Gesellschaftsbild der Dichter eine ebenso große Rolle wie die idealisierenden und legitimierenden Tendenzen. Man kann sogar die kritischen Reflexionen auf die Gesellschaftszustände der damaligen Gegenwart und auf die neue Konzeption höfischer Vorbildlichkeit als die bedeutendste geschichtliche Leistung der höfischen Dichtung betrachten.“ Auf das entsprechende Forschungsdesiderat verweisen weiterhin auch Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 70, Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 90, sowie (mit gewissen Einschränkungen) Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, hier v. a. S. 323 – 326, ders., Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 77– 80, sowie Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 143 f. Vgl. dazu jüngst etwa noch Dorothea Klein: Mittelalter. Lehrbuch Germanistik. 2. Aufl. Stuttgart 2015, S. 155: „Das Bedürfnis nach höfischer Repräsentation entsprang dem ständigen Konkurrenzkampf der adeligen Herren um Macht und Prestige. Er trieb sie dazu an, die Leistungsfähigkeit ihres Hauses, Macht und Reichtum auszustellen. Besonders in luxuriösen Stoffen und Kleidern, in der repräsentativen Ausstattung von Pfalzen und Burgen, kostbaren Waffen, herrenmäßigem Essen und Trinken, auch in Empfängen, Festen und Turnieren konnte sich das ausgeprägte Repräsentationsbedürfnis der ritterlichen Hofgesellschaft glanzvoll entfalten. Die Dichter wurden nicht müde, diesen ganzen materiellen Bereich höfischer Lebensart in ihren Romanen vorbildhaft darzustellen; sie boten ihren Hörern und Lesern damit Symbole einer kollektiven adeligen Identität und bestätigten sie zugleich. Zur adeligen Selbstdarstellung gehörte es aber auch, sich als Förderer der Kunst zu präsentieren und sich mit Hilfe der Kunst feiern zu lassen.“ So weiterhin an prominenter Stelle auch Volker Mertens: Der deutsche Artusroman. Stuttgart 1998 (RUB. 17609), S. 13, nach dem die „Förderung der höfischen Literatur durch die hohen Adligen […] mit großer Wahrscheinlichkeit eine starke gesellschaftlich-politische Komponente“ gehabt und „der Selbstdarstellung der Führungsschicht als kulturelle Avantgarde“ gedient habe. In entsprechenden Schilderungen des höfischen Lebens sieht Mertens (ebd., S. 17) schon seit Geoffrey von Monmouth ein aus den zeitgenössischen realhistorischen Verhältnissen
1.5 Anlage der Arbeit, methodisches Vorgehen und Textauswahl
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liegenden Arbeit nun erstmals systematisch das Augenmerk auf die gegenläufigen Tendenzen der mittelhochdeutschen höfischen Epik gelenkt werden. Meinen Untersuchungen lege ich dabei – im Anschluss an Schausten und die jüngere Geschichtswissenschaft – einen weiten Begriff des Hofes bzw. des ‚Höfischen‘ zugrunde und gehe demzufolge auch von einem breiten Textkorpus und Gegenstandsbereich hochmittelalterlicher Hofkritik aus.²⁴⁷ Denn das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht, anders als bei Schnell, nicht darin, „großflächige Entwicklungen zu konstruieren“,²⁴⁸ sondern zunächst einmal anhand von vier ausgewählten Einzeltexten exemplarisch, aspektorientiert und textnah aufzuzeigen, inwiefern und mit welcher Funktion hofkritische Topoi überhaupt Eingang in die höfische Epik gefunden haben und diese in Konkurrenz mit stereotyp-höfisierenden Argumentationsweisen geprägt haben. Eine solche, eher mikroskopisch angelegte Analyse erscheint nicht nur dem aktuellen Forschungsstand angemessener, sondern bringt zudem auch den großen Vorteil mit sich, dass sie die grundlegende Bedeutung hofkritischer Topoi für die Poetologie und die Didaxe der untersuchten Texte sowie den ausgesprochen interessanten modifizierenden Umgang der volkssprachlichen Autoren damit deutlicher zutage treten lässt.²⁴⁹ Als vielversprechende exemplarische Untersuchungsgegenstände haben sich dabei schon im Zuge einer ersten Sichtung und Katalogisierung des Primärtextkorpus die Poetisierungen der ästhetisch-repräsentativen Teilbereiche der ritterlich-höfischen Kultur erwiesen. Aufgrund ihrer besonders diesseitig-materiellen Verfasstheit stehen diese nämlich in scharfem Gegensatz zu zentralen Wertvorstellungen des Christentums (Armut, Schlichtheit, Demut, Innerlichkeit, Bescheidenheit, etc.);²⁵⁰ sie bilden daher vom 12. Jahrhundert an, gemeinsam mit dem geistlichen Hofdienst, auch
Englands abgeleitetes „Idealbild“. Prägend in der älteren Forschung dazu außerdem auch Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1: Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue. Berlin 1967 (Grundlagen der Germanistik. 7), S. 91: „Artuswelt ist Phantasie- und Wunschwelt, indem sie die Träume vom Leben schreibt. Es waren Träume der adeligen Gesellschaft“. Zur deutlich kritischeren Perspektivierung der höfischen Kultur speziell in der mhd. Heldenepik siehe hingegen schon Müller, Spielregeln, S. 440. Neutraler zu deren höfisierenden Darstellungstendenzen in der jüngeren Forschung weiterhin Ursula Schulze: Das Nibelungenlied. Stuttgart 1997 (RUB. 17604), hier S. 142– 176, und Elisabeth Lienert: Mittelhochdeutsche Heldenepik. Eine Einführung. Berlin 2015 (Grundlagen der Germanistik. 58), S. 14, die darin v. a. dichterische Bemühungen der Aktualisierung von archaischen Erzählstoffen sehen. Vgl. hierzu erneut Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 145 f. Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 82. Denkbare thematische Untersuchungsschwerpunkte für die zukünftige Erforschung der höfischen Epik unter dem skizzierten Gesichtspunkt wären bspw. – neben der narrativen Konstruktion der höfischen Ethik (wie bei Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter), der Jagd (wie bei Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik), oder der höfischen Kleidung und Musik (wie in der vorliegenden Arbeit) – die literarische Imagination höfischer Minne, des Schach- und Würfelspiels als höfischen Freizeitbeschäftigungen oder auch der Rezeption von weltlicher Dichtung. Vgl. dazu erneut Zotz, Urbanitas, S. 393, und Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 94.
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das Zentrum mittelalterlicher Hofkritik.²⁵¹ Die weitere thematische Eingrenzung der Arbeit speziell auf die Diskursivierungen von Musik und Kleidung verdankt sich schließlich deren überdurchschnittlich ausführlichen Verhandlungen in vier zentralen Texten der mittelhochdeutschen höfischen Epik: Hartmanns von Aue Ereck (um 1180/90), Gottfrieds von Straßburg Tristan (um 1210), dem Nibelungenlied (um 1200) und der Kudrun (13. Jh.). Diese Auswahl kann nicht nur in gattungstypologischer Hinsicht (Roman und Epos), sondern auch im Hinblick auf den literarhistorischen Status der einzelnen Texte als hinreichend repräsentativ gelten: Bei Hartmanns Ereck handelt es sich um den ersten deutschsprachigen Artusroman, beim Nibelungenlied um das erste mittelhochdeutsche Heldenepos – und Gottfrieds Tristan wird von Bumke nicht umsonst als „Höhepunkt poetischer Hofkritik in Deutschland“²⁵² bezeichnet. Die Einbeziehung der – nur einmalig und sehr spät im Ambraser Heldenbuch überlieferten – Kudrun wiederum rechtfertigt sich, neben der Ausführlichkeit ihrer Musikdarstellung, v. a. durch eine intertextuelle Bezogenheit auf die Musik- und Kleiderkritik in Gottfrieds Tristan und im Nibelungenlied, welche sie als ein ganz besonderes zeitgenössisches Rezeptionszeugnis auszeichnet.²⁵³
1.6 Methodisches Instrumentarium: Zur Interdiskurstheorie nach Link/Link-Heer Als naheliegende Methode der Textanalyse erscheint im Anschluss an die weiter oben vorgenommene Definition der Hofkritik als Diskurs ein diskursgeschichtlicher Zugriff. Denn erst über ein solches Verfahren lässt sich die Gattungsvielfalt mittelalterlicher Hofkritik überhaupt methodisch solide erfassen.Von Michel Foucault ursprünglich als eine philosophische Methode zur Untersuchung der Wissensgeschichte entwickelt, analysiert die historische Diskursanalyse allgemein, wie Aussagen mittels bestimmter begrifflicher Wissensordnungen im Rahmen bestimmter Machtpraktiken hervorgebracht, verbreitet, akzeptiert und bestritten werden und wie sie sich zu anderen Aussagen verhalten, die innerhalb anderer Diskurse hervorgebracht, verbreitet, akzeptiert und bestritten werden.²⁵⁴
Vgl. zur besonderen Fokussierung der lateinischer Hofkritik auf die „positive[] Bewertung der weltlichen Güter“ neben dem Aspekt des geistlichen Hofdiensts bereits Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 474. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 593. Zur spärlichen Überlieferung sowie den erst sehr spät bezeugbaren Nachwirkungen der Kudrun vgl. überblicksartig Uta Störmer-Caysa: Nachwort. In: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart 2010, S. 640 – 663, hier v. a. S. 660 – 663. Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 244; ähnlich auch Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 96, sowie prägnant Fohrmann, Diskurstheorie(n), S. 373: „Die Untersuchung der ‚Äußerungsmodalitäten‘ (‚wer spricht?‘), der ‚Formation der Begriffe und Strategien‘ usw. soll die Selektion, Kanalisierung, die Organisation und Kontrolle: das ‚Regime‘ des Diskurses‘ aufweisen, und das heißt zugleich: soll die diskontinuierlich auftauchenden Ereignisse in ihrer Streuung beschreiben. Foucault
1.6 Methodisches Instrumentarium: Zur Interdiskurstheorie nach Link/Link-Heer
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Allerdings handelt es sich bei der Diskursanalyse, obwohl Foucault sich im Zuge ihrer Entwicklung recht häufig exemplarisch auf poetische Literatur bezogen hat,²⁵⁵ um keine spezifisch literaturwissenschaftliche Methode der Textbeschreibung.²⁵⁶ Eine solche Ausrichtung lag schlicht nicht im Fokus seines Forschungsinteresses:²⁵⁷ Dieses richtete sich nämlich grundsätzlich mehr auf das Verständnis von abstrakten Wissensordnungen und ihren historischen Entstehungsbedingungen als auf die Strukturen und Bedeutungen einzelner literarischer Texte.²⁵⁸ Dennoch hat die Foucaultsche Terminologie auch in den Literaturwissenschaften schon früh eine intensive Rezeption erfahren. Beschränkte diese sich zu Anfang noch v. a. auf die Problematisierung des Autorbegriffs sowie die literarische Aktualisierung einzelner von Foucault herausgearbeiteter Diskurse, hat sich seit den 1980er Jahren eine fast unüberblickbare Vielfalt von Ansätzen mit „unterschiedliche[n] Akzentuierungen einzelner Aspekte seiner Diskurstheorie bzw. Kombinationen mit weiteren Theorieelementen“ herausgebildet.²⁵⁹ In der deutschsprachigen interdisziplinären Diskussion hat sich für die Anwendung einer solchen Untersuchungsmethode schon sehr früh der Name Diskursanalyse durchgesetzt, welcher seit Friedrich Kittlers und Horst Turks (1977) grundlegenden Studien zur diskursiven Wirksamkeit von historischen „Aufschreibesystemen“ (Handschrift, Schreibmaschine etc.) auch in der Germanistik zur festen Bezeichnung avanciert ist.²⁶⁰ Eine solcher Ansatz begreift literarische Texte in erster Linie als Träger
setzt sich entschieden von einer Geschichtsrekonstruktion ab, die den Menschen als Konstitutionsinstanz des historischen Prozesses denkt. Er ist nicht daran interessiert, die Äußerungen (énoncés) auf ein sinnverbürgendes, transzendentales Signifikat zu beziehen, sondern will die Bedingungen ihres Erscheinens, ihr Beziehungsfeld, jenen Macht-Raum ‚zwischen den Äußerungen‘ analysieren, der – jenseits aller subjektiven Unterschiede – als Spielraum des Ähnlichen die Produktion von Sinn organisiert.“ Vgl. Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 91. Vgl. dazu bspw. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürgen Fohrmann, Harro Müller. Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp-Taschenbuch. 2091), S. 284– 311, hier S. 284 f., oder Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 96. Vgl. Harst, Diskursanalyse, S. 12, und Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 91 f. Vgl. Harst, Diskursanalyse, S. 19 f.; zum Foucaultschen Archäologiebegriff siehe weiterhin zusammenfassend Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 245 f., sowie Foucaults viertes Kapitel („Die archäologische Beschreibung“) in der Archäologie, S. 191– 280. Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 96, mit einem kurzen Überblick über die verschiedenen diskurstheoretischen Forschungsstränge. So lassen sich nach Gerhard/Link/Parr (ebd.) etwa historische von medien- oder auch gendertheoretischen Verlängerungen der Foucaultschen Diskurstheorie abgrenzen. Siehe dazu weiterhin auch Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 92, und Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 284 f. Zur Forschungsterminologie vgl. zusammenfassend Fohrmann, Diskurstheorie(n), S. 372 f. Zur germanistischen Begriffsprägung durch Friedrich Kittler und Horst Turk siehe weiterhin dies.: Vorwort der Herausgeber. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hrsg. von
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von historischen Wissensordnungen.²⁶¹ Diese maßgebliche „Orientierung […] an der Streuung von Aussagen quer durch ganze Bündel von Texten stellt[] den Werkbegriff ebenso in Frage wie den des individuellen Autors“²⁶² und steht traditionellen hermeneutischen Ansätzen insofern in vielerlei Hinsicht diametral entgegen.²⁶³ Im Kontext der vorliegenden Arbeit hat sich nun sowohl mit Blick auf den angenommenen Status der mittelhochdeutschen Primärtexte als auch in Bezug auf die konkrete analytische Vorgehensweise insbesondere eine literaturwissenschaftliche Weiterentwicklung als fruchtbar erwiesen, welche die Diskursanalyse bei Jürgen Link (1988) und Ursula Link-Heer (1990) erfahren hat.²⁶⁴ Im Anschluss an die Foucaultschen Theoreme des ‚Gegendiskurses‘ sowie der ‚interdiskursiven Konfiguration‘ beschreiben Link/Link-Heer die poetische Literatur als einen Ort „der Häufung solcher Diskurselemente und diskursiver Verfahren […], die der Re-Integration des in den
dens. Frankfurt a. M. 1977, S. 7– 44; zur historischen Bedeutung dieser Studie weiterhin auch Harst, Diskursanalyse, S. 15. Vgl. Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 96. Zum entsprechenden Verhältnis von Diskursanalyse und Dekonstruktion bzw. dem New Historicism siehe weiterführend auch Niklaus Largier: Diskursanalyse/New Historicism. Die Fiktion der Erotik. In: Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von ‚Nemt, frouwe, disen kranz‘. Hrsg. von Johannes Keller, Lydia Miklautsch. Stuttgart 2008 (RUB. 17673), S. 159 – 179, hier S. 161 f. Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 97. So auch Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 284, und Harst, Diskursanalyse, S. 14 f. Zum Begriff und den grundlegenden Analysemethoden der Hermeneutik vgl. grundlegend etwa Rüdiger Ahrens: Art. Hermeneutik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 207– 210; zu Foucaults Kritik an den hermeneutischen Kategorien des ‚Werks‘, des ‚Buchs‘, der ‚Literatur‘ und des ‚Autors‘ siehe exemplarisch die Archäologie, S. 40 – 44. Vgl. Largier, Diskursanalyse/New Historicism, S. 160. Zur programmatischen Abgrenzung Foucaults von der hermeneutisch geprägten isolierten Lektüre von Einzeltexten siehe grundlegend auch die Archäologie, S. 42 f.: „Die Analyse des Denkens ist stets allegorisch im Verhältnis zu dem Diskurs, den sie benutzt. Ihre Frage ist unweigerlich: was wurde in dem, was gesagt worden ist, wirklich gesagt? Die Analyse des diskursiven Feldes ist völlig anders orientiert; es handelt sich darum, die Aussage in der Enge und Besonderheit ihres Ereignisses zu erfassen; die Bedingungen ihrer Existenz zu bestimmen, auf das Genaueste ihre Grenzen zu fixieren, ihre Korrelationen mit den anderen Aussagen aufzustellen, die mit ihm verbunden sein können, zu zeigen, welche anderen Formen der Äußerungen sie ausschließt. Man sucht unterhalb dessen, was manifest ist, nicht das halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses; man muß zeigen, warum er nicht anders sein konnte als er war, worin er gegenüber jedem anderen exklusiv ist, wie er inmitten der anderen und in Beziehung zu ihnen Platz einnimmt, den kein anderer besetzen könnte. Die für eine solche Analyse typische Frage könnte man folgendermaßen formulieren: Was ist das also für eine sonderbare Existenz, die in dem ans Licht kommt, was gesagt wird, – und nirgendwo sonst?“ Hervorhebung im Original. Dazu grundlegend Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, und Link/Link-Heer, Diskurs/ Interdiskurs und Literaturanalyse. Einen breiten bibliographischen Überblick zur Interdiskurstheorie und deren wissenschaftlicher Rezeption bieten darüber hinaus Rolf Parr, Matthias Thiele: Link(s). Eine Bibliographie zu den Konzepten ‚Interdiskurs‘, ‚Kollektivsymbolik‘ und ‚Normalismus‘ sowie einigen weiteren Fluchtlinien. Jürgen Link zum 65. Geburtstag. Heidelberg 2005.
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Spezialdiskursen arbeitsteilig organisierten Wissens dienen“.²⁶⁵ So werde das zunehmende „Auseinanderdriften von Spezialdiskursen“ in komplexen arbeitsteiligen Gesellschaften stets durch bestimmte soziale Felder, „die eine übergreifende Kommunikation ermöglichen“, ausgeglichen.²⁶⁶ Dazu zähle nun wiederum, neben beispielsweise den „populären Medien“ und der „Alltagskonversation“, auch das literarische Feld.²⁶⁷ Zur näheren Beschreibung von dessen integrativen Funktionen haben Link/Link-Heer, auf Basis einiger beiläufiger Ausführungen Foucaults in der Archäologie, die im Zentrum ihrer Theorie stehenden Begriffe der ‚Interdiskursivität‘ sowie, davon abgeleitet, des ‚Interdiskurses‘ geprägt.²⁶⁸ Dabei sei die Ermöglichungsbedin-
Gerhard/Link/Parr, Diskurstheorien und Diskurs, S. 96. Prägnant zur Anknüpfung der Interdiskurstheorie an das Foucaultsche Theorem der ‚interdiskursiven Konfiguration‘ siehe weiterhin Arne Klawitter: Diskurstopologie. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Untersuchung literarischer Texte. In: Bulletin of the Graduate Division of Letters, Arts and Sciences of Waseda University 61 (2016), S. 55 – 72, hier S. 60 f., Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 285, Link/Link-Heer, Diskurs/ Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 92, sowie grundlegend Foucaults Archäologie, hier v. a. S. 225 u. 245 f. Die Vorstellung von der poetischen Literatur (seit dem 19. Jh.) als einem contre-discours entwickelt Foucault dagegen schon in Die Ordnung der Dinge, und zwar, wie Marc Föcking: Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert. Tübingen 2002, S. 211, Anm. 135, zusammenfasst, im Sinne eines „zu Diskursen und Episteme des 19. Jahrhunderts oppositive[n] Reden[s]“. Siehe dazu auch grundlegend Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1971, S. 76. Überblicksartig zur weiteren Entwicklung des Literaturbegriffs bei Foucault vgl. außerdem Rainer Zaiser: Foucault und die Folgen für die Literaturwissenschaft. In: Literaturtheorie und sciences humaines. Frankreichs Beitrag zur Methodik der Literaturwissenschaft. Hrsg. von dems. Berlin 2008 (Romanistik. 2), S. 203 – 219, hier S. 214 f. Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 34. Prägnant zu den von der Interdiskurstheorie vermuteten Hintergründen zum Entstehen von Interdiskursen in komplexen Gesellschaften siehe weiterhin auch Jürgen Link: Subjektivitäten als (inter)diskursive Ereignisse. Mit einem historischen Beispiel (der Kollektivsymbolik von Maschine vs. Organismus) als Symptom diskursiver Positionen. In: Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Hrsg. von Reiner Keller, Werner Schneider, Willy Viehöver. Wiesbaden 2012, S. 53 – 68, hier S. 59: „Offensichtlich können moderne differenziert-spezialistische Kulturen sich nicht ausschließlich auf spezielle Wissensbereiche beschränken, sondern benötigen zu ihrer Reproduktion zusätzlich umgekehrt als eine Art Korrelat bzw. Kompensation immer auch reintegrierende Wissensbereiche, die zwischen den Spezialitäten vermitteln und ‚Brücken schlagen‘.“ In seinen älteren Arbeiten knüpft Link diesbezüglich noch enger an die Arbeiten Niklas Luhmanns an; siehe dazu etwa Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 285 – 288. Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 34; dazu grundlegend außerdem Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 288, der aufgrund der fehlenden Institutionalisierung speziell im Fall der Alltagskonversation allerdings zögert, diese als „einen Interdiskurs oder mehrere Interdiskurse“ zu beschreiben; er spricht stattdessen von „interdiskursiven Sprachspiele[n]“. Hervorhebungen im Original. Vgl. Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 92 f.: „Wir schlagen vor, jede historisch-spezifische ‚diskursive Formation‘ im Sinne Foucaults als ‚Spezialdiskurs‘ zu bezeichnen und dann alle interferierenden, koppelnden, integrierenden usw. Quer-Beziehungen zwischen mehreren Spezialdiskursen ‚interdiskursiv‘ zu nennen. ‚Interdiskursiv‘ wären dann z. B. alle Elemente, Relationen, Verfahren, die gleichzeitig mehrere Spezialdiskurse charakterisieren. […] Auf der Basis der
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gung für eine solche, die einzelnen Wissensordnungen überbrückende Funktionsweise speziell im Fall der poetischen Literatur nun wiederum in deren ausgiebiger Verarbeitung von interdiskursiven (d. h. diskursübergreifend auftretenden) Elementen unterschiedlichster Art zu sehen. Dazu zählten vor allem „Kollektivsymbole, stereotype Figuren […] und Narrationsschemata (z. B. Mythen), ferner Themen, Motive, Probleme und Argumente“.²⁶⁹ Die weitaus meiste Aufmerksamkeit widmen Link/LinkHeer davon allerdings der Kollektivsymbolik.²⁷⁰ Im Fokus ihrer einschlägigen Analysen stehen dabei grundsätzlich Stellen des „Umschlag[s] von einer diskursiven Position in die entgegengesetzte“, womit die „(positiv oder negativ) wertende Verwendung eines Kollektivsymbols bzw. genauer einer Serie solcher Symbole“ gemeint ist.²⁷¹ Inin allen modernen Kulturen zu beobachtenden spontanen Interdiskursivität können nun eigens und regelrecht institutionalisierte ‚Interdiskurse‘ entstehen. Deren kulturelle Funktion liegt eben in der (wenn auch stets partiellen und imaginären) Re-Integration (bis hin zur ‚Synthesis‘ und Totalisierung) des in den Spezialdiskursen sektoriell zerstreuten Wissens. Typische Beispiele in der Goethezeit waren Natur- und Geschichtphilosophien, im 19. Jahrhundert Popularphilosophien und Weltanschauungen, heute wäre vor allem der Interdiskurs der Massenmedien zu nennen. Zu diesen gesondert institutionalisierten Interdiskursen ist nun unseres Erachtens auch die moderne Literatur zu zählen.“ Klawitter, Diskurstopologie, S. 60. Zu den drei Grundtypen interdiskursiver Elemente siehe schon Jürgen Link: ‚Einfluß des Fliegens! – Auf den Stil selbst!‘ Diskursanalyse des Ballonsymbols. In: Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen. Fallstudien zum Verhältnis von elementarem Wissen und Literatur im 19. Jahrhundert. Hrsg. von dems., Wulf Wülfing. Stuttgart 1984 (Sprache und Geschichte. 9), S. 149 – 164, hier S. 149 f., Anm. 3: So könnten diese (innerhalb und ‚vor‘ bzw. jenseits der Literatur) sowohl „materialer (z. B. Symbole, Situationen, Mythen, Charakterkonfigurationen usw.)“ als auch „formaler (z. B. syntaktische Anordnungsschemata im wörtlichen und übertragenen Sinne, Matrizen, mathematisch-logische Formalisierung)“ oder „pragmatischer Art sein (z. B. Instiutionalisierung von Symbolen usw.; Versuchsanordnungen, Handlungsschemata usw.)“. Nach Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 286, handelt es sich allerdings bei sämtlichen Typen interdiskursiver Elemente ursprünglich um „elementar-literarische Anschauungsformen“, die kulturspezifisch bspw. in der Alltagskonversation „aus der Tendenz zur Reintegration der Spezialdiskurse generiert“ würden und dann ihrerseits wiederum „als ‚Rohstoffe‘ für die Literatur im engen Sinne“ dienten. Hervorhebungen im Original. Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 96, verstehen unter dem Begriff „Kollektivsymbolik“ die „Gesamtheit“ der interdiskursiv (d. h. diskursübergreifend) auftauchenden „‚bildlichen‘ Redeelemente (Symbole, Allegorien, Embleme usw., Metaphern, Synekdochen, Bilder)“. Der re-integrierenden Funktionsweise von Kollektivsymbolen als interdiskursiver Teilstruktur der Literatur geht Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, schwerpunktmäßig anhand der Verwendungsarten des Ballon-Symbols in ausgewählten Texten des 18. und 19. Jhs. nach (wo der Ballon neben dem naturwissenschaftlichen Fortschritt etwa auch Freiheit/Demokratie im Sinne der französischen Revolution, Heiligkeit, mythische Wunderhaftigkeit oder auch Blasphemie signifizieren kann). Wie Link am Beispiel von literarischen Texten wie Karl Immermanns Die Epigonen (1836), Theodor Fontanes Der Stechlin (1898) oder Michael Denis’ Die Aeonenhalle (1799) nachweisen kann, werden im Rückgriff auf das hochgradig ambivalente Kollektivsymbol Ballon im Interdiskurs der schönen Literatur des 18. und 19. Jhs. immer wieder die Grenzen zwischen den verschiedensten Spezialdiskursen aufgebrochen. Vgl. hierzu vertiefend auch ders.: Riskante Bewegung im Überbau. Zur Transformation technischer Innovation in Kollektivsymbolik am Beispiel des Ballons. In: ders.: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983, S. 48 – 71, und ders., Einfluß des Fliegens. Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 290. Hervorhebungen im Original.
1.6 Methodisches Instrumentarium: Zur Interdiskurstheorie nach Link/Link-Heer
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sofern lässt sich die Kollektivsymbolik aus der Sicht Link/Link-Heers zusammenfassend als ein „interdiskursives Verfahren“ beschreiben, welches nicht nur „zum strukturierenden Moment der Literatur sowie des gesamtkulturellen Ordnungswissens“ werde, sondern darüber hinaus auch „die kollektive und individuelle Subjektbildung“ fundiere.²⁷² Denn indem die Literatur sich u. a. im Rückgriff auf interdiskursive Kollektivsymbole „gegenüber entgegengesetzten sozial dominanten diskursiven Positionen ambivalent“ verhalte, sie „verfremde[], mit ihnen spiele[], ja sich ihnen gänzlich zu entziehen suche[]“, konstruiere sie (mitunter) auch „die Vorgaben einer Subjektivität, die den bestehenden Rahmen von Diskursen und Interdiskursivitäten utopisch überschreite[]“.²⁷³ Wie aus diesen Ausführungen ersichtlich wird, arbeitet die Interdiskurstheorie also mit einem Subjektbegriff, der sich explizit von demjenigen der frühen Arbeiten Foucaults distanziert und stattdessen an Jürgen Habermas’ Konzept der Intersubjektivität anknüpft.²⁷⁴ Dieses ist zwar nicht als völlig autonom-schöpferisch gedacht, aber impliziert durchaus die Möglichkeit einer mehr oder weniger kritischen Reflexion, innovativen Montage oder Distanzierung von zeitgenössisch verfügbaren diskursspezifischen Wissensbeständen durch einen Sprachbenutzer bzw. Autor eines literarischen Textes.²⁷⁵ Vor diesem Hintergrund beschreiben Link/Link-Heer die poetische Literatur unter Verwendung einer recht weiten Terminologie schließlich nicht nur als einen Interdiskurs, sondern hinsichtlich ihrer seit dem 18. Jahrhundert gesonderten Institutionalisierung sowie dem Vorhandensein
Ute Gerhard: Art. Kollektivsymbol/Kollektivsymbolik. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 267 f., hier S. 268. Denn was, so Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 300, „als geistreiche Formulierung solcher Art in der Konversation vielleicht bald wieder vergessen wird, kann selbst zum wirksamen diskursiven Ereignis werden, wenn es literarisch formuliert und wirksam rezipiert wird.“ Zum entsprechenden Verhältnis von Sprechern und Diskursen vgl. pointiert auch schon Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 56 f. Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 97. Zur (partiellen) Distanzierung der Interdiskurstheorie von der Foucaultschen „Dekonstruktion des Phantasmas eines als Monosubjekt bzw. Zentralsubjekt vorgestellten, ggf. sogar mit Autonomie ausgestatteten Autor-Ichs“ vgl. zuvor auch schon Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 284. Siehe dazu außerdem die grundlegenden Ausführungen Foucaults in der Archäologie, S. 138 f. Zur Forschungsdiskussion um die Möglichkeit des kritisch-reflektierten Umgang einer Autorinstanz mit verschiedenen Wissensordnungen nicht zuletzt aus Sicht der Interdiskurstheorie vgl. weiterhin auch Jürgen Fohrmann: Art. Diskurs. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 1 (2010), S. 369 – 372, hier S. 371. Siehe dazu Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 297– 300, sowie Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 89. Zum Begriff der Intersubjektivität vgl. überblicksartig Hubert Zapf: Art. Intersubjektivität. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 240 f., hier v. a. S. 241. Zu den Möglichkeiten der „Neu-Kombinatorik und Neu-Montage diskursiver Positionen unter Ausnutzung von Ambivalenzen“ in der Literatur vgl. auch schon Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 300; zum Zusammenhang von Interdiskursivität und kultureller Innovation weiterhin auch ebd., S. 299 f.
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der skizzierten integrativen „Formationsregeln“²⁷⁶ darüber hinaus auch als einen „Spezialdiskurs“ eigener Ordnung.²⁷⁷ Mit der im Folgenden vertretenen Annahme, dass nicht erst die moderne, sondern darüber hinaus auch schon die höfische Literatur des Hochmittelalters entscheidende Merkmale eines Interdiskurses im Sinne Link/Link-Heers aufweist, schließe ich mich dem Vorgehen einiger jüngerer Arbeiten der germanistischen Mediävistik von Michael Waltenberger, Ricarda Bauschke und Silvan Wagner an.²⁷⁸ Mit dem Verweis auf die Existenz eines begrenzten gerade nicht kultur- bzw. epochenspezifischen Sektors der Kollektivsymbolik hatte eine solche Hypothese jedoch zuvor auch schon Jürgen Link selber aufgestellt.²⁷⁹ Problematisch für die Übertragung der neugermanistischen Interdiskurstheorie auf einen mittelalterlichen Untersuchungsgegenstand erscheint auf den ersten Blick der Umstand, dass die höfische Dichtung noch nicht (auf dieselbe Art) institutionalisiert ist wie die Literatur des 18./19. Jahrhunderts.²⁸⁰ Dieser Befund
Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 52. Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 300: „Wir haben es dabei sozusagen mit der paradoxen Verwandlung des Interdiskurses in einen eigenen Spezialdiskurs zu tun.“ Eine solche Begriffsverwendung ist insofern als weit zu beschreiben, als sich der Foucaultsche Diskurs zwar einerseits, wie man sicherlich phasenübergreifend postulieren kann, durch bestimmte ‚Formationsregeln‘ sowie (in einigen Schaffensphasen) durch eine gesonderte Institutionalisierung auszeichnet; darüber hinaus organisiert er sich aber stets auch um einen begrifflichen und gegenständlichen Kern; vgl. dazu erneut auch Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 90, Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 242– 244, und Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 51– 55. Bei den genannten Arbeiten handelt es sich, in chronologischer Reihenfolge, um Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, Bauschke, Strategien des Erzählens, und Wagner, Erzählen im Raum (der am Beispiel ausgewählter mhd. Erzähltexte wie dem Eneasroman, dem Rolandslied, Gottfrieds Tristan, Hartmanns Ereck, dem Mauricius von Craûn und dem Prosa-Lancelot zeigt, wie die höfische Epik im Kontext ihrer Musik- und memoria-Darstellung auf „verschiedene […] Spezialdiskurse […] zurückgreift und deren Elemente […] für eigene Zwecke nutzen und miteinander verknüpfen kann“; ebd., S. 342). Vgl. dazu Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 296 f. Zur Fortführung dieser These siehe weiterhin auch Ursula Link-Heer: Weltbilder, Epistemai, Epochenschwelle. Mediävistische Überlegungen im Anschluß an Foucault. In: Weltbildwandel. Hrsg. von Hans-Jürgen Bachorski, Werner Röcke. Trier 1995 (Literatur, Imagination, Realität. 10), S. 19 – 56, hier S. 29. Auf diese Ausführungen Link-Heers verweisen auch Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 39, Anm. 69, und Wagner, Erzählen im Raum, S. 66, Anm. 8. Vgl.Wagner, Erzählen im Raum, S. 66. Zur Herausbildung der modernen ‚Institution Literatur‘ vgl. grundlegend Peter Bürger: Institution Literatur und Modernisierungsprozeß. In: Zum Funktionswandel der Literatur. Hrsg. von dems. Frankfurt a. M. 1983 (Hefte für Kritische Literaturwissenschaft. 4), S. 9 – 32, hier v. a. S. 13. Zu den verschiedenen Formen der Institutionalisierung moderner Literatur überblicksartig Jutta Ernst: Art. Institutionen, literarische. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (1998), S. 235 f. Ernst (ebd.) zählt zu den zeitgenössischen literarischen (Sub‐)Institutionen „Autorinnen und Autoren, literarische AgentInnen, ÜbersetzerInnen, LektorInnen, das Druckgewerbe, der Buchhandel, Zeitungen und Zeitschriften, die Literaturkritik, Schriftstellerorganisationen, Bibliotheken, Bildungseinrichtungen wie Schulen und Universitäten sowie Leserinnen und Leser. […] Die literarischen Institutionen stellen somit ein offenes, heterogenes Netzwerk mit vielfältigen Relationen
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lässt sich, wie Silvan Wagner ausführt, jedoch vor allem darauf zurückführen, dass im Mittelalter schlicht „noch keine Gesamtgesellschaft vorliegt, deren Wissen in Spezialdiskurse organisiert und aufgeteilt“ und dann über (gesamtgesellschaftlich verankerte) „Interdiskurse wieder enggeführt werden könnte“.²⁸¹ Das damit einhergehende methodische Dilemma lasse sich jedoch lösen, wenn „man den Blick […] – gewissermaßen eine Kategorie niedriger – auf einen spezifischen, relativ festen Gesellschaftsausschnitt“ richte.²⁸² Insbesondere mit Blick auf das Verhältnis zwischen der höfischen Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts und der ihr eigenen Dichtungsformen liege nämlich durchaus eine zur Neuzeit analoge Konstellation vor.²⁸³ Ähnlich wie die moderne Literatur mit Bezug auf die Gesamtgesellschaft ihrer Zeit funktioniere, könne nämlich auch die höfische Literatur „die Spezialdiskurse des Hofes interdiskursiv engführen, […] in der literarischen Adaption aber auch die Spezifika der Diskurse verändern, einzelne Aspekte auslassen, andere dominant setzen usw.“²⁸⁴
und Abhängigkeiten dar, in denen die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Prozesse zum Tragen kommen.“ Wagner, Erzählen im Raum, S. 66. Allgemein für die Fruchtbarkeit einer Anwendung der Diskursanalyse auch auf die ma. Literatur spricht sich an prominenter Stelle zudem auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 244– 265, aus. Ähnlich außerdem auch schon Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 284 f. Wagner, Erzählen im Raum, S. 66. Auch Ernst, Institutionen, S. 236, bezeichnet – in einem weiten Sinne des Begriffs – das vormoderne Mäzenatentum als eine literarische Institution. Gegen eine Anwendung der Interdiskurstheorie auf ma. Literatur spricht sich – hinsichtlich ihres abweichenden ‚Sitzes im Lebens‘ – hingegen Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 246 f., aus. So beiläufig außerdem auch Fohrmann, Diskurs, S. 370. Demgegenüber verweisen schon Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 93 f., darauf, dass der „sogenannten ‚bürgerlichen Institution Kunst‘ im 17. und 18. Jahrhundert“ eine ebenfalls interdiskursiv funktionierende „enzyklopädische Literatur“ der Vormoderne vorausgegangen sei. Insofern solle die gesonderte Institutionalisierung der modernen Literatur nicht als Voraussetzung für deren Interdiskursivität, sondern vielmehr als Folge bestimmter literaturästhetischer Entwicklungen gesehen werden: Denn die Literatur sei, so Link/Link-Heer (ebd.) weiter, eigentlich mit dem „von Foucault beschriebenen Übergang von sog. ‚klassischen‘ (wir würden sagen: ‚Aufklärung‘) zu ‚historizistischen‘ Diskursen um 1800 (dem u. a. auch ein ‚qualitativer Sprung‘ in Spezialisierung und Professionalisierung der Diskurse korrespondierte) […] aus dem noch eng mit den Spezialdiskursen verbundenen interdiskursiven Bereich verdrängt und auch dadurch auf eigene quasi-spezielle Institutionalisierung verwiesen [worden].“ Vgl.Wagner, Erzählen im Raum, S. 66 f. Damit greift, wie Wagner mit Recht herausstellt, allerdings jede Forschungsarbeit zur Interdiskursivität höfischer Literatur „mittelbar“ auch „auf etwas letztlich nicht Fassbares“ zu, nämlich die „Kommunikation der Hofmitglieder untereinander und über spezialdiskursive Grenzen hinweg“. So sei es zwar einerseits „mehr als unwahrscheinlich, eine solche Kommunikation nicht anzunehmen“, doch „verifizierbar“ sei sie „zumindest als mündliche interdiskursive Praxis nicht“: „[U]ns überliefert ist lediglich ihr (wiederum nur mittelbarer) schriftlicher Niederschlag in Form der höfischen Literatur: eine interdiskursive Engführung spezialdiskursiver Wissensaspekte, die im Akt der Verschiebung ihrer systematischen Einordnung beraubt werden und neue Verknüpfungen aufbauen, neue Funktionen einnehmen können“; ebd., S. 70. Ebd., S. 67. Zu den Schwierigkeiten der genauen Bestimmung des „interdiskursive[n] Potenzial[s]“ hochmittelalterlicher Höfe aufgrund des Quellenmangels zu ihrer personellen Zusammensetzung
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Neben dem Aspekt der literarischen Institutionalisierung bzw. der interdiskursiven Bezugsgesellschaft erscheinen aus poststrukturalistischer Sicht jedoch auch einige theoretische Grundannahmen und Erklärungsansätze der Interdiskurstheorie diskussionsbedürftig.²⁸⁵ So bemängelt schon Michael Waltenberger mit Recht, dass innerhalb Link/Link-Heers rein „sozialhistorisch-funktionale[r] Begründung von Literarizität aus einer Dialektik von Ausdifferenzierung und Reintegration“ die distinktive Funktionsdimension speziell des literarischen Interdiskurses im Vergleich mit anderen Typen von Interdiskursen unterbestimmt bleibe.²⁸⁶ Diese lasse sich nämlich, so weiter Waltenberger, erst dann umfassend sichtbar machen, wenn man über die literarisch-interdiskursiven Formen der Verarbeitung von Kollektivsymboliken hinaus auch jene textuellen und transtextuellen Verteilungs- und Verlaufsmuster rekonstruiert, die das, was Link mit ‚elaborierter Verarbeitung‘, ‚Steigerung von Ambivalenz‘ und ‚spielerischer Konfliktsimulation‘ umschreibt, im Verhältnis zu anderen diskursiven Formationen – und in jedem Text von neuem – als spezifisch literarische Aussagemodalitäten überhaupt ermöglichen. Statt mit dem Begriff der Interdiskursivität eine konzeptionell bereits vorgegebene Systemstelle zu bezeichnen, in die der literarische Text einrückt, müßte er als vielgestaltiger Effekt von Strategien der diskursiven Annäherung, Distanzierung und Überlagerung gefaßt werden, mit denen sich Literarizität in den Texten selbst nicht durch die Konsolidierung eines neuen und eigenen Referenzbereichs oder die Funktionalisierung eines bestimmten semantischen Materials (etwa der ‚Kollektivsymbolik‘), sondern durch eine besondere und besonders hohe konfigurative Energie konstituiert.²⁸⁷
siehe weiterhin ebd., S. 69, sowie Fleckenstein, Miles und clericus am Fürstenhof, S. 321. Schnell, Kirche, Hof und Liebe, S. 103, hebt diesbezüglich das besonders eindrucksvolle Beispiel des Grafen Balduin von Guines (gest. 1206) hervor. Vgl. dazu schon prägnant Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 34. Ebd., S. 34: „Wenn ‚protoliterarische‘ Diskursformationen [wie die Alltagskonversation bei Link/ Link-Heer; J. S.-B.] bereits primär auf den sozialen Bedarf an einer integrativen Kommunikationsfunktion reagieren, dann kann deren hybride Weiterentwicklung damit nur noch bedingt erklärt werden: Der neue Diskurs [der poetischen Literatur; J. S.-B.] füllt ja nicht einfach kommunikative Lücken zwischen schon bestehenden, sondern etabliert im Prozeß seiner Ausdifferenzierung selbst wieder spezifische diskursive Regularitäten, mit denen er sich von seiner diskursiven Umwelt abhebt.“ Ebd. Zu der von Waltenberger hervorgehobenen besonderen „konfigurativen Energie“ poetischer Literatur vgl. ausführlicher auch ebd., S. 36: So sei diese „nicht notwendig an bestimmte sozialhistorische Voraussetzungen gebunden“ und realisiere „sich auch nicht in der punktuellen Präsentation und Funktionalisierung semantischer Identitäten, sondern in der vom Rezipienten mitvollzogenen Bewegung des Textes, in deren Verlauf diskursive Formationen konturiert, kombiniert und perspektiviert werden“. Gleichzeitig profiliere sich der Text dabei „im diskursiven Geflecht seiner Kultur durch eine interdiskursive Kompetenz, die nicht unbedingt unter dem Vorzeichen des vermittelnden Ausgleichs stehen“ müsse: „Vielmehr ist sie primär in der Möglichkeit der Überschreitung diskursiver Grenzen und Horizonte begründet, ohne daß damit bereits prinzipiell über eine integrative oder desintegrierende, affirmativ-stabilisierende oder kritisch-subversive Funktion von Literatur entschieden wäre.“ Im Gegensatz zu diesen Ausführungen Waltenbergers gehen Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 95 f., noch von lediglich „zwei Haupttendenzen“ bzw. Modi literarischer Diskursintegration aus: „Zum einen kann literarische Diskursintegration ‚extensiv‘ durch
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Eine solche besondere Leistung wäre m. E. nun speziell im Fall der höfischen Epik in der kohäsiven Bündelung derjenigen zeitgenössischen, antiken und christlichen Wissensbestände zu sehen, die für die Etablierung des hochmittelalterlich-höfischen Gesellschafts- und Menschenideals von Bedeutung sind. Allerdings verbinden sich damit freilich, soviel sei an dieser Stelle bereits angemerkt, je nach Gattung unterschiedliche Wertungen und Erzählstrategien. Vor einem solchen Hintergrund unternimmt Waltenberger abschließend eine bedeutsame Modifikation des Interdiskursbegriffs, mit dem sich dieser aus seiner – insbesondere für die Analyse vormoderner Literatur – problematischen, da sehr zeitspezifisch-realhistorischen Kontextualisierung lösen lässt und stattdessen mit Fokus auf seine besonderen wissensstrukturierenden Eigenschaften beschrieben werden kann: Nicht der Konnex mehrerer nicht-literarischer Diskurse im Medium des literarischen Textes bildet die Minimalbedingung des Interdiskurses, sondern der perspektivierende Bezug des literarischen Textes auf (mindestens) eine nicht-literarische Diskursformation. Das Präfix ‚Inter‘ meint in diesem Sinn nicht einen objektiv vorgegebenen Zwischenraum, den der Text schließen würde, sondern im Grunde einen Abstand, den der Text zwischen sich und einem von ihm perspektivierend entworfenen Diskursgefüge erst öffnet.²⁸⁸
Insofern untersucht eine solche Form der Interdiskursanalyse – im Gegensatz zur Diskursanalyse – also nicht nur „bestimmte Diskursformationen“, die sich durch literarische Texte „‚hindurchziehen‘“,²⁸⁹ sondern darüber hinaus auch deren spezifische Arten und Weisen der kritisch- bzw. affirmativ-reflektierenden Aktualisierung von kulturell verfügbarem Wissen. Literarische Texte erscheinen insofern nicht nur als mehr oder weniger neutrale Träger von Diskursen, sondern auch als eine zentrale Evaluierungsinstanz der von ihnen aktualisierten Wissensbestände – sowie nicht zuletzt als ein Ort von diskursiver Innovation.²⁹⁰ enzyklopädische Reihung und durch Akkumulation von Wissen verschiedener Spezial- und Interdiskurse erfolgen. […] Zweitens läßt sich die literarische Diskursintegration auf ‚intensivem‘ Wege durch polysemische Konzentration erreichen. Typisch dafür sind Symbole, die gleichzeitig mehrere Spezialdiskurse (bzw. Wissensmengen) konnotieren.“ Hervorhebung im Original. Eine ähnliche Kritik an der Link/Link-Heerschen Unterbestimmung der interdiskursiven Funktionsdimensionen poetischer Literatur äußert, neben Waltenberger, auch Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 348 f. Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 36. Ähnlich poststrukturalistisch akzentuiert, aber noch enger fasst den Begriff Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 349, die unter ‚Interdiskursivität‘ die „Aktualisierung mehrerer konkurrierender […] Spezialdiskurse in einem Einzeltext“ versteht. So zusammenfassend zur Ausrichtung der klassischen Diskursanalyse Klawitter/Ostheimer, Diskursanalyse, S. 162. Zum interdiskurstheoretischen Konzept der „diskursiven Innovation“ vgl. grundlegend Link, Subjektivitäten als (inter)diskursive Ereignisse, S. 66: „Das Verhältnis von Diskurs und Subjekt lässt sich also aus diskurstheoretischer Sicht als geschlossener Reproduktionszyklus auffassen: Die frühkindlichen und kindlichen Individuen ‚lernen‘ ihre Diskurse und vor allem ihre Interdiskurse analog zum Spracherwerb. Dabei identizieren/gegenidentifizieren sie sich mit diskursiven Positionen. In
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Anknüpfend an einen solchen poststrukturalistischen Interdiskursbegriff werden im Fokus der vorliegenden Arbeit die diskursübergreifenden Zusammenhänge stehen, die der fiktionalen Konstruktion von ausgewählten Aspekten einer höfischen Kultur in Gottfrieds Tristan, der Kudrun, Hartmanns Ereck und dem Nibelungenlied zugrundeliegen. Aus Gründen der terminologischen Konvention bezeichne ich die in diesem Zusammenhang relevanten hochmittelalterlichen Wissensformationen dabei, gegen die von Link/Link-Heer eingeführte Begrifflichkeit des „Spezialdiskurses“, schlicht als Diskurse.²⁹¹ Auf diese Weise soll nicht zuletzt im Sinne einer noch ausstehenden
stabilen Identifizierungen/Gegenidentifizierungen ‚kristallisieren‘ sich stabile Subjektivitäten (‚Charaktere‘). Dennoch bleiben ‚Umwertungen‘ (Nietzsche), also ‚Apostasien‘ und ‚Konversionen‘, selbst relativ stabil kristallisierte Subjektivitäten immer möglich. Das relativ stabile Subjekt ‚spielt‘ mehr oder weniger souverän (im positiven Extremfall ‚genial‘) auf dem Klavier seiner Diskurse und diskursiven Positionen. Es produziert dabei kleinere und größere diskursive Innovationen, die die Diskurse ändern. Wie Michel Pêcheux (1984, Nr. 5: 63 f.) ausgeführt hat, kann im Spiel der Innovationen und Umwertungen auch das Ereignis einer vorübergehenden Lösung des Subjekts von ‚seinem‘ Diskurs, die ‚Entidentifizierung‘, eintreten, also das diskursive Ereignis einer kulturrevolutionären Situation, deren Folge ‚Wahnsinn‘ wäre oder – ein neuer Diskurs, eine neue Diskursposition: Diskurse und Subjekte bleiben im zyklischen Reproduktionszyklus untrennbar ineinander verwoben.“ Link bezieht sich hier auf folgende Publikationen Michel Pêcheux’: zu rebellieren und zu denken wagen! ideologien, widerstände, klassenkampf. Teil 1. In: kulturrevolution 5 (1984), S. 61– 65, und ders.: zu rebellieren und zu denken wagen! ideologien, widerstände, klassenkampf. Teil 2. In: kulturrevolution 6 (1984), S. 63 – 66. Vgl. dazu erneut Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 92: „Wir schlagen vor, jede historisch-spezifische ‚diskursive Formation‘ im Sinne Foucaults als ‚Spezialdiskurs‘ zu bezeichnen.“ Bei dieser Begriffsbildung Link/Link-Heers handelt es sich einerseits lediglich um eine terminologische Ummünzung, mit der andererseits aber auch zu einer weiteren Verunklarung einer schon bei Foucault vorgeprägten begrifflichen Unschärfe beigetragen wird. So verweist schon Martin Reisigl: Sprachkritische Beobachtungen zu Foucaults Diskursanalyse. In: Foucault. Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung. Hrsg. von Brigitte Kerchner, Silke Schneider.Wiesbaden 2006, S. 85 – 103, hier S. 89 f., auf das terminologische Problem, dass Foucault „Diskurs“ und „diskursive Formation“ in der Archäologie nicht immer, sondern nur teilweise synonym verwendet (was in der zitierten Definition Link/Link-Heers aber grundsätzlich vorausgesetzt wird). Vgl. dazu vertiefend auch die von Foucault eingangs vorgenommene Definition der ‚diskursiven Formation‘ in der Archäologie, S. 58 f.: „In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuung beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Typen der Äußerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmäßigkeit (eine Ordnung, Korrelationen, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat, wodurch man Wörter vermeidet, die ihren Bedingungen und Konsequenzen nach zu schwer, übrigens zur Bezeichnung einer solchen Dispersion auch inadäquat sind: wie ‚Wissenschaft‘, ‚Ideologie‘, ‚Theorie‘ oder ‚Objektivitätsbereich‘.“ Als Beispiele für diskursive Formationen nennt Foucault (ebd.) in diesem Zusammenhang „die Medizin in ihrer globalen Einheit, die Ökonomie und die Grammatik“. Auf S. 156 der Archäologie werden der „Diskurs“ (als eine „Menge von Aussagen“) und die „diskursive Formation“ (als das einer solchen Aussagenserie zugrundeliegende und sie verbindende „Gesetz“ bzw. ihr „Verbreitungs- und Verteilungsprinzip“) dann von Foucault erstmals in einen (bedeutungsunterscheidenden) Zusammenhang gebracht: „Wenn es mir zu zeigen gelingt […], daß das Gesetz einer solchen Serie [d. h. einer Menge von Zeichenfolgen in Form von Aussagen; J. S.-B.] genau das ist, was ich bisher eine diskursive Formation genannt habe, wenn es mir zu zeigen gelingt, daß diese das Verbreitungs- und Verteilungsprinzip ist, und zwar nicht der Formulie-
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Geschichte der Kulturkritik der Vormoderne gezeigt werden, auf welch vielfältige Art und Weise die stereotypen Argumentationsweisen des hofkritischen Diskurses Eingang in die höfische Epik gefunden haben und diese – so meine Hauptthese – in Konkurrenz mit höfisierenden Topoi maßgeblich mitgeprägt haben.²⁹² Dabei bietet das zugrundeliegende „Konzept von Interdiskursivität“ gegenüber älteren Methoden (wie v. a. der Intertextualitätstheorie) den großen Vorzug,²⁹³ dass sich damit nicht nur schwer nachweisbare Einzeltext- oder Systemreferenzen, sondern auch „literarische Verfahren beschreiben [lassen], für die ganze Diskurse montiert und dabei primär die hinter ihnen stehenden Denkmodelle in Konkurrenz gebracht werden“.²⁹⁴ Denn in der Tat werden im Kontext einer subtil ambiguisierenden bis mitunter auch offen kritisierenden Musik- und Kleiderdarstellung der mittelhochdeutschen Texte, die auf der Verwendung verschiedenster Typen von interdiskursiven Elementen (die Themen Musik und Kleidung, entsprechende Figurentypen, Kollektivsymbole, Situationstypen/Motive etc.) basiert, immer wieder die Grenzen zwischen den konkurrierenden Wissensordnungen des höfischen und des hofkritischen Diskurses niedergerissen.²⁹⁵ Grundlage für diese Interdiskursivität sind die höfischen Dichter, die als clerici/litterati im Sinne Joachim Bumkes schon durch den Erwerb von Schreib- und Lesekompe-
rungen, nicht der Sätze, nicht der Propositionen, sondern der Aussagen (in dem Sinne, das ich dem Wort gegeben habe), wird der Terminus Diskurs bestimmt werden können: eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören. Und so werde ich vom klinischen Diskurs, von dem ökonomischen Diskurs, von dem Diskurs der Naturgeschichte, vom psychiatrischen Diskurs sprechen können.“ Hervorhebungen jeweils J. S.-B. In seiner abschließenden Definition des Diskursbegriffs setzt Foucault die beiden Begrifflichkeiten dann jedoch praktisch gleich; vgl. ebd., S. 170. Aufgrund der uneindeutigen Begriffsverwendung bei Foucault finden sich geradezu zwangsläufig auch in der Forschung widersprüchliche Formen der terminologischen Anknüpfung an die Archäologie. Denn während etwa Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 92, von einer Synonymie von ‚Diskurs‘ und ‚diskursiver Formation‘ ausgehen, versteht Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 348, unter dem Begriff der ‚diskursiven Formation‘ die thematisch-argumentative Schnittmenge bzw. die strukturellen Analogien mehrerer „Kleindiskurse“. Bauschkes Verständnis von ‚diskursiver Formation‘ entspricht damit in etwa Titzmanns, Kulturelles Wissen, S. 53, weiter oben bereits referierter Definition von ‚Diskurstyp‘ (als einer Gruppe von Diskursen mit „verschiedene[n] Gegenstände“, die „aber die Basisprämissen teilen, so daß dem Denken über verschiedene Gegenstände dieselben Strukturen zugrunde liegen“). Zum Forschungsdesiderat einer Geschichte vormoderner bzw. mittelalterlicher Kulturkritik vgl. bereits Bollenbeck, Kulturkritik, S. 45 u. S. 53. Allgemein zum „Verhältnis zwischen den Begriffen der Interdiskursivität und Intertextualität“ und den zugehörigen Methoden der Textanalyse vgl. prägnant Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 35 f., Anm. 61. Zu den unterschiedlichen Intertextualitätsbegriffen in der Literaturwissenschaft vgl. weiterhin unlängst Caroline Emmelius: Intertextualität. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 275 – 313. Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 349. Zu den verschiedenen Typen von interdiskursiven Elementen siehe erneut Klawitter, Diskurstopologie, S. 60, Link, Einfluß des Fliegens, S. 149 f., Anm. 3, und Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 95.
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1 Einleitung
tenzen im geistlichen Bildungskontext auch mit Diskursen der gelehrt-lateinischen Tradition vertraut sind.²⁹⁶ Ihre diskursübergreifenden Kompetenzen ermöglichen eine kulturkritisch-selbstreflexive Doppelperspektive der höfischen Literatur zumindest auf bestimmte Teilbereiche des ihr eigenen gesellschaftlichen Ursprungskontexts, die weit über eine verherrlichende Selbstbespiegelung der höfischen Gesellschaft im Medium ihrer Literatur hinausgeht. Wie noch zu zeigen sein wird, steht die Gesellschaftsdarstellung der höfischen Literatur also ganz offensichtlich nicht nur im Dienste literarischer Repräsentation,²⁹⁷ sondern dient darüber hinaus auch der Steigerung der poetischen Komplexität und hat außerdem Anteil an einer bislang nur wenig beachteten kulturkritischen prodesse-Dimension der mittelhochdeutschen Erzähltexte.²⁹⁸ Insofern in deren „kritischen Reflexionen […] auf die neue Konzeption
Die Bildung der höfischen Dichter als Grundlage für die Interdiskursivität der höfischen Literatur hebt schon Wagner, Erzählen im Raum, S. 67, hervor. Auch wenn der genaue soziale Stand der meisten mhd. Epiker aufgrund des Mangels an einschlägigen Quellen unbekannt ist, lässt sich nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 682, doch schon an den von ihnen produzierten Texten ablesen, dass sie größtenteils lateinisch gebildet gewesen sein müssen: „Entgegen der verbreiteten Ansicht, daß mit dem Beginn der höfischen Literatur der Kleriker als Autor von Autoren aus dem Laienstand abgelöst wurde, muß betont werden, daß die epischen Dichter in der Regel eine gelehrte Bildung besaßen, die nur an kirchlichen Schulen erworben werden konnte. Bei der Erörterung dieser Frage ist oft übersehen worden, daß das lateinische Wort clericus in dieser Zeit nicht primär den geweihten Priester oder den Inhaber eines kirchlichen Amts bezeichnete, sondern den geistlich Gebildeten. […] Das deutsche Gegenwort zu clericus heißt pfaffe, und auch dieses Wort zielte mehr auf den Bildungsgrad als das Amt. In diesem Sinn konnte auch ein gebildeter Laie ein pfaffe sein.“ Dem zustimmend auch Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 28. Zur lateinischen Bildung als grundlegender Eigenschaft höfischer Dichter vgl. in der jüngeren Forschung weiterhin auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 43 f., Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit. Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen. 259), S. 24– 26, und Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 24. Zu den entsprechenden Bildungsinhalten geistlicher Schulbildung im 12./13. Jh. vgl. zusammenfassend etwa Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 25 f. Zur vermeintlich v. a. repräsentativen Funktion der Darstellung materiell-ästhetischer Aspekte höfischer Kultur in der höfischen Literatur vgl. exemplarisch erneut Klein, Mittelalter, S. 155, und Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 13; zur kritischeren Perspektivierung der höfischen Kultur in der Heldenepik hingegen schon Müller, Spielregeln, S. 440, neutraler zu den heldenepischen Höfisierungstendenzen im Sinne einer Aktualisierung archaischer Erzählstoffe weiterhin Schulze, Das Nibelungenlied, S. 142– 176, und Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 14. Zusammenfassend zu den didaktischen Dimensionen ma. Dichtung siehe unlängst noch Silvan Wagner: Literarische Didaxe als Arbeit am Glauben der Anderen. In: Interpassives Mittelalter? Interpassivität in mediävistischer Diskussion. Hrsg. von dems. Frankfurt a. M. 2015 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft. 34), S. 37– 59, hier S. 41– 43: „Als Gemeinplatz der Mediävistik gilt, dass die Literatur des Mittelalters noch nicht im neuzeitlichen Sinne Literatur ist, noch nicht ein in sich geschlossenes Kunstsystem darstellt, sondern neben dem delectare auch das prodesse dominant gesetzt ist. […] Diese didaktische Funktion behauptet die mittelalterliche Literatur in der Tat von sich selbst regelmäßig, und sie scheint damit zu einer schlechthin interaktiven Kunstform zu werden, deren Vollendung im ethischen Handeln der Rezipienten läge […]. Von den Erzählerreden abgesehen, ist es inhaltlich vor allem der Artushof der ‚klassischen‘ Artusromane, der – trotz und gerade wegen seiner fiktionalen Überspitzung der Idealität – als didaktisch wirksam gilt“. Zu prodesse (‚Nützen‘) und de-
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höfischer Vorbildlichkeit“, wie schon Bumke betont, vielleicht „die bedeutendste geschichtliche Leistung der höfischen Dichtung“ zu sehen ist, verdienen diese eine ausführliche und systematische Untersuchung.²⁹⁹ Der einzelne mittelhochdeutsche Primärtext wird dabei mit Waltenberger als diskursive „Bewegung aufgefaßt, in deren Verlauf er wechselnde und sich überlagernde Diskurskonstellationen entwirft und sich dadurch zugleich aktiv und unmittelbar in das (stets nur partiell und relational bestimmbare) Gesamtspektrum des ‚Archivs‘ einschreibt.“³⁰⁰ In diesem Zusammenhang wird nicht zuletzt zu prüfen sein, ob sich auch die volkssprachlich-poetische Kulturkritik des Hochmittelalters mit Konersmann als ‚restitutiv‘ und damit als typisch vormodern beschreiben lässt.³⁰¹ Denn in vielen Fällen, soviel sei hier bereits vorweggenommen, bilden die höfischen Autoren die Topoi der lateinischen Hofkritik nicht einfach in ihren Werken ab, sondern präsentieren stattdessen einen poetischkreativen Umgang mit dem diskursiven Referenzmaterial. So wird etwa im Fall von Gottfrieds Tristan und Hartmanns Ereck deutlich, dass die Gattung des höfischen Romans in verschiedenen Weisen um eine Vermittlung zwischen den konkurrierenden Wissensbeständen ringt: Zwar werden hier durchaus gewisse Aspekte höfischer Kultur problematisiert, den topischen Argumentationsweisen geistlicher Musik- und Kleiderkritik durch eine höfisierende Protagonistendarstellung allerdings zum Teil auch der diskursive Wahrheitsanspruch abgesprochen. Die anonymen Autoren der mittelhochdeutschen Heldenepen scheinen den höfischen Diskurs hingegen vor allem zum Zweck seiner kalkulierten „Demontage“³⁰² vor dem Hintergrund hofkritischer Argumentationsmuster zu aktualisieren.
lectare (‚Erfreuen‘) als wesentlichen poetologischen Kategorien der höfischen Literatur siehe an prominenter Stelle weiterhin auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 709, sowie – speziell zu den Empfehlungen Thomasins von Zerklære zum entsprechenden Einsatz höfischer Romane – auch Klein, Mittelalter, S. 197, und Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 111 f. Auf eine didaktische Dimension der Interdiskursivität von Literatur, die in diesem Zusammenhang „Integral-Wissen in subjektiv applizierbare ‚Vorgaben‘“ verwandle, mit denen sich das „Publikum […] ‚identifizieren‘ und dadurch ein bestimmtes Integral-Wissen ‚erleben‘“ könne, verweisen im Übrigen schon Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 95. Allgemein zur „Tendenz“ insbesondere des frühen Artusromans, „weltliche Dinge in sakrale Bezüge zu stellen“, um dem Rezipienten durch „Bedeutungszuwachs […] einen gesteigerten intellektuellen Genuss des als reich an Aspekten erlebten ästhetischen Objekts [zu bereiten]“, siehe unlängst außerdem Mark Chinca: Der Horizont der Transzendenz. Zur poetologischen Funktion sakraler Referenzen in den Erec-Romanen Chrétiens und Hartmanns. In: Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg. von Susanne Köbele, Bruno Quast. Berlin/New York 2014 (LTG. 4), S. 20 – 38, hier S. 22 f. Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 491, Anm. 267. Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, S. 32. Vgl. dazu erneut Konersmann, Kulturkritik, S. 54 f. Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 358. Vgl. dazu auch die entsprechenden Ausführungen Bauschkes zum Liet von Troye Herborts von Fritzlar (ebd.).
2 Von Wundersängern und Sirenen: Höfische Musik in Gottfrieds von Straßburg Tristan und in der Kudrun Ein Bursche, der eine Zither und Stimme hat, schlägt sich überall durch. Johann Wolfgang von Goethe (Claudine von Villa Bella; 1776) We’re more popular than Jesus now. I don’t know which will go first, Rock ‘n’ Roll or Christianity. John Lennon (1966) The man that hath no music in himself, / Nor is not moved with concord of sweet sounds, / Is fit for treasons, stratagems, and spoils / The motions of his spirit are dull as night, / And his affections dark as Erebus / Let no such man be trusted. / Mark the music. (William Shakespeare: The Merchant of Venice, V,1; um 1596– 1598)
Im Folgenden soll nun erstmals der Versuch unternommen werden, die Musikdarstellung in Gottfrieds von Straßburg Tristan und in der Kudrun in einen Zusammenhang mit der lateinischen Hofkritik des Hochmittelalters zu bringen.¹ Meine grundlegende These ist, dass die Musikdarstellung der untersuchten mittelhochdeutschen Erzähltexte nicht nur ausgiebig auf höfisierende Topoi zurückgreift, sondern darüber hinaus auch ganz wesentlich vom hofkritischen Diskurs getragen ist. Durch diese – textspezifisch allerdings recht unterschiedlich ausfallenden – Bezugnahmen auf die beiden „konkurrierende[n] Diskurse“² werden sowohl im höfischen Roman als auch im Heldenepos ausgewählte Aspekte des musikalischen Hoflebens problematisiert, ja mitunter auch offen kritisiert. Zuvor soll hier jedoch, aspektorientiert vertiefend, noch einmal das relevante diskursive Feld aufgearbeitet werden.³ Dies erfolgt einerseits, um dessen historischer „Alterität“⁴ aus Sicht eines modernen Rezipienten gerecht zu werden, andererseits aber auch, um die jeweils aktualisierten Wissensbestände im Kontext der späteren Textanalysen überhaupt als spezifisch diskursives Material identifizieren zu können. Daher widmet sich das folgende Unterkapitel zunächst den ästhetisierenden und ethisierenden Verhandlungen des Gegenstands Musik im höfischen Diskurs, wie er sich schriftlich vor allem in der höfischen Epik und Lyrik sowie, in geringerem Ausmaß, auch in der Chronistik des hohen Mittelalters niederge-
Wie schon einzelne Teile des vorangegangenen Kapitels basieren auch die folgenden Ausführungen zu Gottfrieds Tristan teilweise auf meiner Staatsexamensarbeit, welche im Wintersemester 2012/2013 von der Fakultät I der Universität Siegen angenommen wurde (Titel: Die Darstellung der höfischen Musik in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. Zu den diskurshistorischen Voraussetzungen eines fiktionalen Entwurfs unter besonderer Berücksichtigung der lateinischen Hofkritik). Die Ergebnisse wurden seitdem überarbeitet, aktualisiert und stark ausgeweitet. Dieser Begriff stammt von Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 53. Eine solche Art des analytischen Vorgehens empfehlen schon Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 94. Wagner, Erzählen im Raum, S. 70. Wagner geht in dieser Studie strukturell ähnlich vor. https://doi.org/10.1515/9783110673258-002
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schlagen hat. In einem zweiten Schritt soll dann anhand des Policraticus Johannes’ von Salisbury – d. h. einem der zentralsten antihöfischen Texte in lateinischer Sprache – exemplarisch veranschaulicht werden, inwiefern die höfische Musik im hofkritischen Diskurs hingegen ausgesprochen kritisch perspektiviert wird.⁵ Auf diese Weise soll ein genauerer Einblick in das interdiskursive Spannungsfeld zwischen höfisierendem Musikpreis und christlicher Musikschelte gegeben werden, aus welchem sich – wie die Darstellungen Gottfrieds und des anonymen Verfassers der Kudrun veranschaulichen – nicht zuletzt im Dienste einer poetischen Kulturkritik schöpfen lässt. Unter ‚höfischer Musik‘ verstehe ich dabei im Anschluss an die breite Definition Sabine Žaks all „diejenige Musik“, die in den zeitgenössischen Quellen
Die geistliche Kritik an der höfischen Musik hat gemäß der schriftlichen Überlieferung im hohen Mittelalter eine weniger große Verbreitung gefunden als die im nachfolgenden Kapitel noch ausführlich zu besprechende Kritik an der höfischen Mode. Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 358, führt dies auf den Umstand zurück, dass die Musik (zumindest als ars) „eine der sieben freien Künste und damit Teil des mittelalterlichen Bildungskanons“ des Klerus war. Die Kleidung hingegen spielt im biblischen Kontext des Sündenfalls eine ausgesprochen negative Rolle, was auch die größere Verbreitung der Kritik an ihr erklären könnte; vgl. dazu zusammenfassend etwa Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 249: „Schon vor dem Bericht vom Sündenfall heißt es, dass Mann und Frau zu einem Fleisch werden; Adam und Eva schämten sich jedoch im Paradies nicht voreinander, obwohl sie nackt waren (1. Mose 2,24– 25). Unmittelbar nachdem beide gegen das Verbot Gottes den Apfel vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, erkannten sie, dass sie nackt waren, und flochten sich aus Feigenblättern Schurze (1. Mose 3,7).“ Eine gute Überblicksdarstellung zur christlichen Musikkritik bei Meinhard von Bamberg, Magister Gratian, Berthold von Regensburg, Petrus von Blois und Thomas von Aquin sowie ihren grundlegenden Topoi bietet Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 104– 115, hier v. a. S. 105 f.: „Die Abneigung der Kirche gegen Dichter, Sänger und Spielleute, die an geistlichen und weltlichen Höfen ihre poetischen, musikalischen und theatralischen Künste zum Besten gaben, hatten Tradition. Das kirchliche Recht und die kirchliche Moral machten keinen Unterschied zwischen gebildeten Literaten vornehmer Abkunft, die an Höfen und auf Burgen ihre eigenen Dichtungen vortrugen, und weniger kreativen ‚Entertainern‘, die als histriones, ioculatores, mimi und scurrae durch Stegreifprodukte oder auswendig gelernte Vortragsstücke Hofgesellschaften zu unterhalten suchten. Heldenepen, Minnelieder und Abenteuergeschichten wurden von klerikalen Kritikern des Hoflebens als verführerische Vortragsstoffe sittlich suspekter Spielleute wahrgenommen, nicht als Texte, die belehren, erbauen und erfreuen sollten. Auf die ars musica, ars poetica und ars theatrica fiel der Schatten ihrer verrufenen Repräsentanten. Die Spielleute lebten, religiös und sozial diskriminiert, am Rande der Gesellschaft. Ihre vita turpis et inhonesta schloß sie – gleich den Prostituierten – von den Gnadenmitteln der Kirche aus. Ihre unterhaltsamen Possen mit Geld zu honorieren, galt als Sünde. Vorgeworfen wurde ihnen insbesondere, daß sie durch scurrilia vel effeminata carmina die Gemüter ihrer Zuhörer verweichlichen und ihnen mit gekonnter List das Geld aus der Tasche ziehen würden. Die Theologen, die sich im 12. und 13. Jahrhundert mit poetischen, musikalischen und theatralischen Erscheinungsformen höfischer Kultur auseinandersetzten, fühlten sich einer Tradition verpflichtet, die Theater, weltliche Musik und Dichtung als Quelle sittlicher Verführung und asozialer Verschwendung gebrandmarkt und verworfen hatte. Christlicher Glaube vertrug sich nicht mit dem Lesen und Anhören von Texten, in denen heidnische Helden und Götter gefeiert wurden. Die Heiterkeit der schönen Künste widersprach dem Ethos christlicher Königsherrschaft. […] Asketischer Ernst ließ kurzweilige Entspannung nicht zu. Mimen und Musiker spielten den Widerpart Gottes.“
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entweder als „Teil eines rechtlichen oder festlichen Aktes“ oder im engeren Sinne als „ein Stück des höfischen Lebens“ präsentiert wird.⁶
2.1 Hofmusik im interdiskursiven Spannungsfeld zwischen Höfisierung und Kritik Die mediävistische Forschung zur höfischen Musik des hohen Mittelalters setzt Ende des 19. Jahrhunderts mit Alwin Schultz ein. Schultz’ zweibändige Studie Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger von 1879 – der erste Versuch einer Gesamtdarstellung der ritterlich-höfischen Kultur – befasst sich u. a. auch mit der höfischen Musik.⁷ Da in materieller Hinsicht diesbezüglich kaum etwas die Jahrhunderte zur Moderne überdauert hat (und performative Aspekte auf diese Weise ohnehin nicht fassbar wären), betont bereits Schultz die große Bedeutung sekundärer, d. h. bildlicher und schriftlicher Quellen.⁸ Während er dabei, so merkt schon Helmut Brackert an, „mit spürbarer Begeisterung […] ein stupendes Material“ zusammenstellt, verfährt er „jedoch methodisch noch so […], daß er literarische und geschichtliche Wirklichkeit mit großer Unbedenklichkeit [gleichsetzt]“.⁹ Aufbauend auf den Schultzschen Ergebnissen veröffentlicht daher rund 100 Jahre später Joachim Bumke sein zweibändiges Standardwerk Höfische Kultur (1986), welches sich durch einen wesentlich kritischeren
Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 1. Zur grundlegenden Zwiegespaltenheit des hochmittelalterlichen Musikbegriffs vgl. weiterführend auch Wagner, Erzählen im Raum, S. 343: „Der Musikbegriff des Mittelalters unterscheidet sich grundsätzlich von einem modernen Musikbegriff. Einerseits wird Musik [im Anschluss an die antike Tradition; J. S.-B.] mit der hier zentralen Größe Zahl als ars betrieben, andererseits mit der dort zentralen Größe Klang als usus. Musik bildet damit im Hochmittelalter eigentlich zwei Spezialdiskurse aus, die nur zögerlich miteinander vernetzt werden. Doch gerade der hochmittelalterliche Hof stellt ein Sammelbecken dar, in dem beide Musikbegriffe aufeinandertreffen und interdiskursive Beziehungen eingehen können: Die artistisch gebildete Hofkapelle einerseits und die Musikantenkultur des höfischen Festes andererseits halten Musik (und damit auch grundsätzliches musikalisches Wissen) am Hof dauerhaft präsent.“ Alwin Schultz: Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. 2 Bände. 2. Aufl. Leipzig 1889. Schultz’ Ausführungen zur höfischen Musik finden sich hier verstreut auf mehrere Kapitel; vgl. dazu v. a. ebd., Bd. 1, S. 157, 171, 331 f., 369, 427, 518, 551, 563, 621, 631, 547 f. u. 563. Zu den wenigen archäologisch (v. a. in Form von Grabbeigaben) erhaltenen Instrumenten aus merowingischer Zeit sowie einigen etwas jüngeren Objekten aus dem angelsächsischen und skandinavischen Raum vgl. zusammenfassend etwa Wenzel, Waffen, Saitenspiel und Schrift, S. 206, Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge.Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700 – 1050/ 60). Frankfurt a. M. 1988 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. 1.1), S. 81– 86, hier v. a. S. 86, sowie, daran anknüpfend, Schulze, Das Nibelungenlied, S. 77, Anm. 18. Helmut Brackert: deist rehtiu jegerîe. Höfische Jagddarstellungen in der deutschen Epik des Hochmittelalters. In: Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Hrsg. von Werner Rösener. Göttingen 1997 (VMPIG. 135), S. 365 – 406, hier S. 367. Brackert schließt damit wiederum an das entsprechende Urteil Bumkes, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 15 f., an.
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Umgang mit dem Quellenmaterial auszeichnet.¹⁰ So betont Bumke in Abgrenzung zu Schultz, dass die „Ebene der Realität“, zu der sich die höfische Literatur „direkt in Beziehung setzen“ lasse, „nicht die Wirklichkeit der materiellen Gegenstände oder der faktischen Vorgänge“ sei, „ sondern die Wirklichkeit der Vorstellungen, Erwartungen und Wünsche, die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins und der kulturellen Normen.“¹¹ Obwohl Höfische Kultur ebenfalls als Gesamtdarstellung konzipiert ist, wird das musikalische Hofleben von Bumke eher beiläufig behandelt und erhält kein eigenes Kapitel. Die einzige neuere Monographie Musik als ‚Ehr und Zier‘ im mittelalterlichen Reich (1979) wiederum stammt von Sabine Žak,¹² deren Methode, neben einigen (im engeren Sinne) historischen Quellen wie der Königsaaler Chronik, v. a. die höfische Literatur „zur Beantwortung historischer Fragen zu benutzen“,¹³ sich wiederum an den Studien Bumkes und Johanna Maria van Winters zum Ritterbegriff aus den 1960er Jahren orientiert.¹⁴ Flankiert werden diese mehr oder weniger umfassend angelegten Publikationen schließlich durch einige kürzere bzw. thematisch enger gefasste Beiträge der mediävistischen Literatur-, Musik- und Geschichtswissenschaft zur höfischen Musik.¹⁵
Bumke, Höfische Kultur. Die höfische Literatur stellt nach Bumke (ebd., Bd. 1, S. 17) die „umfangreichste und wichtigste Quellengruppe“ für die Erforschung der höfischen Kultur des hohen Mittelalters dar. Weitere relevante Quellengruppen seien darüber hinaus bildliche Darstellungen, einige wenige materielle Hinterlassenschaften sowie lateinische Chroniken und Annalen; vgl. ebd., S. 17 f. Letztere spielten für den deutschen Bereich allerdings eine vergleichsweise geringe Rolle, da die zugehörige Geschichtsschreibung im 12. Jh. noch überwiegend im klösterlichen Kontext stattgefunden habe und die Autoren daher wenig Interesse am bzw. Kenntnis vom höfischen Leben in der Welt gehabt hätten; vgl. ebd., S. 14. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 24 f. Nach der These Bumkes (ebd., S. 12 f.) kam das realhistorische Leben am Hof seinem fiktionalen Pendant im Kontext der großen höfischen Feste am nächsten: „Die höfische Gesellschaft als historisches Phänomen ist nirgends so gut zu belegen wie anläßlich solcher Veranstaltungen, und dies sicherlich nicht nur deswegen, weil die historischen Quellen nur selten einen Blick in das Alltagsleben gestatten, sondern auch, weil die Mitglieder der adligen Gesellschaft offenbar nur in der Ausnahmesituation des Festes ein gesellschaftliches Verhalten an den Tag gelegt haben, das in besonderer Weise als höfisch galt. […] Die Irrealität des poetischen Gesellschaftsbildes lag weniger in […] Übertreibungen als vielmehr darin, daß die Alltagsrealität in der Dichtung überhaupt nicht vorkam, so daß der Eindruck entstand, als ob das Fest die Normalform des adligen Lebens gewesen sei. Dieser poetischen Konstruktion erlegen zu sein und sie für ein Abbild der Wirklichkeit gehalten zu haben, war der Hauptfehler der älteren Kulturgeschichte.“ Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘. Ebd., S. 3. Dabei geht Žak (ebd., S. 4) davon aus, dass die „ideale[] Welt der Dichtung“ und „die Erzählungen von […] Geschichtsschreibern“ einander „erhellen und korrigieren“. Eine Gesamtübersicht der von ihr herangezogenen Quellen zur Erforschung der höfischen Musik findet sich ebd., S. 317– 323. Vgl. dazu Joachim Bumke: Studien zum Ritterbegriff im 12. und 13. Jahrhundert. Heidelberg 1964 (Euphorion Beihefte. 1); ders.: Ministerialität und Ritterdichtung. München 1976, sowie Johanna Maria van Winter: Rittertum. Ideal und Wirklichkeit. München 1969 (dtv. 4325). Hierbei handelt es sich v. a. um die folgenden Arbeiten: Margit Bachfischer: Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter. Augsburg 1998, Mathias Bielitz: Über Wertkriterien in
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Während meine nachfolgenden Ausführungen sich einerseits maßgeblich auf diese älteren Arbeiten stützen, soll es im Kontext einer diskurstheoretisch ausgerichteten Textanalyse andererseits weniger um die Frage gehen, inwiefern Gottfrieds Tristan oder die Kudrun eine – wie auch immer geartete – realhistorische ‚Wirklichkeit‘ repräsentieren. Stattdessen wird der Fokus hier auf den Tristan und Kudrun eigenen „Aspekte[n] der Wirklichkeitskonstruktion“¹⁶ liegen. Denn während der Erkenntnisgewinn einer sozialhistorischen Lektüre höfischer Literatur etwa für die Geschichtswissenschaft (angesichts des ausgesprochenen Quellenmangels im deutschsprachigen Raum) kaum zu überschätzen ist,¹⁷ erscheint deren Reduktion auf den Status einer historischen Quelle aus literaturwissenschaftlicher Sicht nicht unproblematisch. Denn beim Versuch der analytischen Offenlegung von Aspekten einer geschichtlichen ‚Realität‘ muss das, was diese Texte als spezifisch literarisch auszeichnet, ja ihren besonderen Eigenwert ausmacht – also z. B. ein interdiskursives Potenzial –, geradezu zwangsläufig aus dem Blick geraten.
der Musikanschauung des 12. und 13. Jh. In: Die Mächte des Guten und Bösen. Vorstellungen im XII. und XIII. Jahrhundert über ihr Wirken in der Heilsgeschichte. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin/ New York 1977 (Miscellanea Mediaevalia. 11), S. 489 – 531, ders.: Zu Zeugnissen der neuen außerliturgisch-weltlichen Wertung von Musik seit dem 12. Jh. vornehmlich in volkssprachlicher, erzählender Dichtung. Neckargemünd 1998 (Musik als Unterhaltung. 3), Achim Diehr: Literatur und Musik im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin 2004, Astrid Eitschberger: Musikinstrumente in höfischen Romanen des deutschen Mittelalters. Wiesbaden 1999 (Imagines Medii Aevi. 2), Wolfgang Hartung: Die Spielleute im Mittelalter. Gaukler, Dichter, Musikanten. Düsseldorf/Zürich 2003, Robert Lug: Minnesang und Spielmannskunst. In: Die Geschichte der Musik. Hrsg. von Matthias Brzoska, Michael Heinemann. Laaber 2001, Bd. 1, S. 89 – 116, Silke Müller-Hagedorn: Höfisches Musizieren. In: dies.: Höfische Kultur des hohen Mittelalters – eine Hypertext-Studie mit Modellen. Karlsruhe 2001 [http:// www.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/2001/geist-soz/3/Lebensf/Unterh/fr_mus.htm, Zugriff: 23.03. 2015], Herbert Riedel: Die Darstellung von Musik und Musikerlebnis in der erzählenden deutschen Dichtung. Bonn 1959, S. 143 – 262, Walter Salmen: Höfische Kultur im Hoch- und Spätmittelalter. In: Musikgeschichte Österreichs. Hrsg. von Rudolf Flotzinger, Gernot Gruber. Graz [u. a.] 1977, Bd. 1, S. 117– 142, ders.: Der Spielmann im Mittelalter. Innsbruck/Neu-Rum 1983 (Innsbrucker Beiträge zur Musikwissenschaft. 8), Franz Viktor Spechtler: Höfische Musik im hohen und späten Mittelalter. In: Musikgeschichte Österreichs. Hrsg. von Rudolf Flotzinger, Gernot Gruber. Wien [u. a.] 1995, Bd. 1, S. 101– 137, Horst Wenzel: Waffen, Saitenspiel und Schrift. In: ders.: Höfische Repräsentation. Symbolische Kommunikation und Literatur im Mittelalter. Darmstadt 2005, S. 205 – 220, und Sabine Žak: Luter schal und süeze doene. Die Rolle der Musik in der Repräsentation. In: Höfische Repräsentation. Das Zeremoniell und die Zeichen. Hrsg. von Hedda Ragotzky, Horst Wenzel. Tübingen 1990, S. 133 – 148. Largier, Diskursanalyse/New Historicism, S. 161. Wie Largier (ebd.) zusammenfasst, ist „Repräsentation“ zwar durchaus „eine der möglichen Funktionen eines Diskurses“ im Sinne Foucaults. Zugleich aber kommentiere und konstituiere jeder Text „die Wahrnehmung der Welt und soziale Verhältnisse“. Ähnlich auch Titzmann, Kulturelles Wissen, S. 59. Siehe dazu grundlegend auch Foucaults Ausführungen zum Verhältnis von Diskursen und ihren Redegegenständen sowie den daraus resultierenden Konsequenzen für die historische Diskursanalyse in der Archäologie, S. 68 – 74, hier v. a. S. 74. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 14– 26.
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2.1.1 Musik als Gegenstand des höfischen Diskurses: Zur Musikdarstellung in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur und der Historiographie des 12./13. Jhs. Die wichtigste Quelle für die Konstruktion des Gegenstands der Musik im höfischen Diskurs ist die höfische Literatur des Hochmittelalters.¹⁸ Schon seit den frühesten Anfängen finden sich v. a. in der mittelhochdeutschen höfischen Epik zahlreiche Darstellungen von musizierenden Adligen sowie von – zumeist in übergroßer Zahl auftretenden – Spielleuten als Teil von Szenen der Abendunterhaltung, der Festlichkeit und des Krieges.¹⁹ So wird bereits im Alexanderroman des Pfaffen Lamprecht um 1150 verhältnismäßig ausführlich von der musikalischen Ausbildung des Protagonisten erzählt (V. 177 ff.).²⁰ Und auch für die Herrscherkonzeption und den Handlungsverlauf des anonymen König Rother (um 1150 – 60) sowie des Rolandslieds des Pfaffen Konrad (um 1170) spielen Musikinstrumente – Rolands Olifant, Rothers Harfe – eine bedeutende Rolle (vgl. dazu etwa König Rother V. 166 ff. u. 2508 ff.; Rolandslied V. 6053 ff.). Den ersten adligen ‚Wundersänger‘ entwirft dann der zur sog. ‚Spielmannsdichtung‘ gerechnete Text Salman und Morolf (um 1190), dessen Protagonist, der über Jerusalem herrschende Christenkönig Salman, nicht nur ausgesprochen klug ist, sondern auch so wunderschön singen und harfen kann wie der biblische David (V. 1316 ff.). Weiterhin finden sich auch in Hartmanns von Aue Erec und Iwein (um 1180/90 bzw. 1200) einige kürzere Beschreibungen von Saitenspiel und Gesang als Formen höfischer Unterhaltung (Erec V. 2150 – 2161 u. 8156 f.; Iwein V. 65 – 72).²¹ Neben der angeborenen Musikaffinität seines jugendlichen Protagonisten (118,7– 119,8) erzählt Wolframs von Eschenbach Parzival (1200/10) hingegen – im Rahmen von prunkvollen Festzugs- und Schlachtszenen – v. a. von der beeindruckenden Lautstärke zeitgenössischer Blas- und Schlaginstrumente (z. B. 19,6 – 12; 63,2– 12; 627,19 – 21; 639,4– 14; 764,24– 29 u. 379,11– 15).²² Diese Aufzählung ließe sich noch weiterführen, sie zeigt aber bereits, dass Musik stets ein Gegenstand der mittelhochdeutschen höfischen Epik gewesen ist. Von Gottfrieds Tristan und der Kudrun, deren Musikdarstellung im Fokus der vorliegenden Arbeit steht, unterscheidet sich der
Zum methodischen Vorgehen bei der Rekonstruktion historischer Diskursformationen vgl. erneut grundlegend Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 248 – 265, speziell zum höfischen Diskurs und dessen Quellen ebd., S. 256 – 262. Überblicksartig zur Musik in der höfischen Literatur siehe weiterhin auch Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 205 – 212 u. 225 – 242. Vgl. hierzu und zum Folgenden Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 124– 236. In der späteren Straßburger Fassung spielt die Musik dann eine sogar noch prominentere Rolle als im Vorauer Alexander; vgl. dazu erneut Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 124– 126. Vgl. ebd., S. 152. Vgl. ebd., S. 156 f. Nach Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 88, verhält sich Wolframs Parzival im Hinblick auf die Musikdarstellung insofern fast komplementär zu Gottfrieds Tristan, da es in letzterem kaum um ‚laute‘ Musikinstrumente gehe, dafür aber „umso mehr kunstvolle Musik auf Saiteninstrumenten“ vorkomme.
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überwiegende Teil dieser Szenen allerdings deutlich im Hinblick auf seine wesentlich geringere Ausführlichkeit. Neben der höfischen Epik vermittelt insbesondere im Zuge der Rezeption des romanischen „Konzept[s] des ‚Frauendienstes‘ bzw. der ‚fin’ amor‘“²³ allerdings auch die höfische Lyrik ein sehr positives Bild höfischen Musizierens.²⁴ Ingrid Kasten fasst die entsprechenden Ästhetisierungs- und Ethisierungstendenzen des hohen Minnesangs wie folgt zusammen: Subjekt der Liebeserfahrung ist meist ein männliches Ich, Voraussetzung des Sprechens die Situation eines Mannes, der außerhalb der gesellschaftlich sanktionierten Form der Ehe eine Frau begehrt. Die Geschlechterbeziehung ist nach dem sozialen Interaktionsmuster der Vasallität modelliert: In der Rolle eines ‚Vasallen‘ bemüht sich der Mann [singenderweise; J. S.-B.] durch seinen ‚Dienst‘, die Zuneigung seiner ‚Herrin‘, seiner ‚Dame‘, zu erlangen. Der aus dem Begehren resultierende Spannungszustand bleibt unaufgelöst und dient als Anlaß für immer neu variierte Formen des Frauenpreises, von Gefühlsäußerungen der Freude und Klage sowie von Reflexionen über die Liebe. Die Affektation durch die Liebe und die Fähigkeit, die Frustration des Begehrens zu bewältigen, erscheinen dabei als Voraussetzungen für die Vervollkommnung des Mannes.²⁵
Des Weiteren finden sich auch einige wohlwollende Schilderungen von Aspekten des musikalischen Hoflebens in der zeitgenössischen Historiographie. Allerdings gehen diese Schilderungen, insbesondere was das deutsche Reich anbelangt, zumeist kaum über knappe Feststellungen hinaus,²⁶ da die lokale Geschichtsschreibung hier – im Gegensatz zu etwa England oder Frankreich – noch überwiegend im klösterlichen Kontext zu verorten ist.²⁷ So berichtet etwa der Chronist Gislebert von Mons (um 1150 – 1224) von Friedrich Barbarossas Mainzer Hoffest im Jahr 1184, dass die zahlreichen anwesenden joculatoribus et joculatricibus im Anschluss an die Darbietung ihrer Künste von der Festgesellschaft reichlich beschenkt worden seien:
Ingrid Kasten: Art. Minnesang. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2010), S. 604– 608, hier S. 604. Die Überlieferung der Melodien des mhd. Minnesangs ist höchst dürftig. Für die Zeit vor 1200 ist, wie Lug, Minnesang und Spielmannskunst, S. 108, zusammenfasst, in der Tat keine einzige Melodie erhalten. Für einige dieser älteren Lieder hat die Forschung vorgeschlagen, die entsprechenden Melodien auf dem Weg der Kontrafaktur zu erschließen. Ansonsten kann nach Lug (ebd.), zumindest von weitgehenden Gemeinsamkeiten mit den (besser überlieferten) französischen Melodien der Zeit ausgegangen werden. Was die klanglichen Qualitäten der höfischen Lyrik anbelangt, habe diese, so Lug (ebd., S. 103) weiter, offenbar selbst in ihren „hochartifiziellen Erscheinungen“ stets „in unmittelbarem Zusammenhang“ mit der „usuellen spielmännischen ‚Musik‘“ gestanden, aus welcher sie einst erwachsen sei. Obwohl die überlieferten Melodien zum Teil gewiss als „kunstreicher“ gelten könnten, zeugten sie letztlich nicht von einer „‚aristokratischen‘ Elitekunst“. Zu dieser Position Lugs sei einschränkend angemerkt, dass sich mögliche Formen der Virtuosität in der Ausgestaltung durch einen zeitgenössischen Musiker an den musikalischen Aufzeichnungen grundsätzlich nicht ablesen lassen. Kasten, Minnesang, S. 604 f. Vgl. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 230 f. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 14.
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Feria secunda pentecostes, dominus Heinricus rex Romanorum et Fredericus dux Suevorum, domini Frederici Romanorum imperatoris filii, novi ordinati sunt milites, pro quorum honore ab ipsis et aliis nobilibus multa militibus captivis et cruce signatis et joculatoribus et joculatricibus data sunt, scilicet equi, vestes preciose, aurum et argentum. Principes enim et alii nobiles non solum pro dominorum suorum scilicet imperatoris et ejus filiorum honorum, sed eciam pro sui proprii nominis fama dilatanda, largiussua erogabant. ‚Am Pfingstmontag wurden die Söhne des römischen Kaisers Friedrich, Heinrich, römischer König, und Friedrich, Herzog von Schwaben, in den Ritterstand aufgenommen. Ihnen zu Ehren wurden von ihnen selbst, von allen Fürsten und den anderen Edelleuten den besitzlosen und ein Kreuz tragenden Rittern sowie den Spielleuten und Spielweibern reiche Geschenke gemacht, nämlich Pferde, kostbare Kleider, Silber und Gold. Die Fürsten spendeten nicht nur zu Ehren ihrer Herren, des Kaisers und seiner Söhne, auf großzügigste Weise von ihrem Habe, sie taten es auch, um ihren eigenen Namen rühmlich bekannt zu machen.‘²⁸
Trotz einer insgesamt sehr negativen Darstellung wird darüber hinaus auch Kaiser Friedrich II. in der Cronica des franziskanischen Geschichtsschreibers Salimbene von Parma explizit dafür gelobt, dass er ein guter Sänger und darüber hinaus auch kompositorisch tätig gewesen sei:²⁹ De fide Dei nichil habebat. Calidus homo fuit, versutus, avarus, luxuriosus, malitiosus, iracundus. […] Et valens homo fuit interdum, quando voluit bonitates et curialitates suas ostendere, solatiosus, iocundus, delitiosus, industrius; legere, scribere et cantare sciebat et cantilenas et cantiones invenire; pulcher homo et bene formatus, sed medie stature fuit. ‚Nichts besaß er von Glauben an Gott. Er war ein durchtriebener Mann, verschlagen, geizig, ausschweifend, boshaft und jähzornig. […] Gelegentlich aber zeigte er auch tüchtige Eigenschaften, wenn er willens war, seine Güte und Freigebigkeit zu beweisen; dann war er freundlich, fröhlich, voll Anmut und edlen Strebens; er konnte lesen, schreiben, singen und Kantilenen und Gesänge erfinden; er war ein schöner, wohlgebauter Mann, wenn auch nur von mittlerem Wuchse.‘³⁰
Das lateinische Zitat stammt aus folgender Textausgabe: La Chronique de Gislebert de Mons. Hrsg. von Leon Vanderkindere. Brüssel 1904, S. 156 f., die deutsche Übersetzung von Wolfgang Mohr: Mittelalterliche Feste und ihre Dichtung. In: Festschrift für Klaus Ziegler. Hrsg. von Eckehard Catholy, Winfried Hellmann. Tübingen 1968, S. 37– 60, hier S. 42 (beides zitiert nach Kraß, Geschriebene Kleider, S. 7). Vgl. zu dieser Textstelle schon Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 230. Salimbene von Parma: Chronica. Hrsg. von Giuseppe Scalia. Bari 1966, Bd. 1, S. 508 (Kap. De bonitatibus Friderici et sufficientiis eius), die deutsche Übersetzung stammt von Alfred Doren: Die Chronik des Salimbene von Parma. Nach der Ausgabe der Monumenta Germaniae hrsg. von dems. Leipzig 1914 (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit. 93), Bd. 1, S. 357.Vgl. zu dieser Stelle erneut auch schon Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 230 f., die hier zudem auf eine Passage der Chronica (Bd. 1, S. 480) verweist, in der Salimbene aus ähnlichen Gründen auch Enzio, den Sohn Friedrichs II. rühmt: Erat autem rex Hencius, qui et Henricus, naturalis, id est non legitimus, filius Friderici imperatoris condam depositi, et erat valens homo et valde cordatus, id est magnifici cordis, et probus armatus et solatiosus homo, quando volebat, et cantinum inventor, et multum in bello audacter se exponebat periculis; pulcher homo fuit mediocrisque stature („König Enzio, der auch Heinrich hieß, war aber ein natürlicher, d. h. illegitimer Sohn des einstigen, entthronten Kaisers Friedrich, und war ein tapferer, sehr beherzter, d. h. hochgemuter Mann, ein kühner Recke und, wenn er wollte, auch voll Fröhlichkeit, ein Dichter von
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Ottokar aus der Gaal schließlich hebt in seiner Österreichischen Reimchronik das kunstgerechte Spiel von Friedrichs Sohn Manfred als ebenso schön wie dasjenige des biblischen Davids hervor, wenn er dem Höfling Occursius hier im Gespräch die folgenden lobenden Worte in den Mund legt:³¹ ‚Ir [Manfred, J. S.-B.] hiet uf iwer seitensnuor mit drivaltigem swanz gemachet ein sô süezen tanz mit iwer selbes liden, ez wær kunic Daviden der kunst genuoc gewesen.‘ (V. 718 – 723)³²
Von der älteren Forschung sind die grundlegenden Charakteristika der Musikdarstellung in der höfischen Literatur und der Chronistik des 12. und 13. Jahrhunderts – zumeist unter Verwendung sozialhistorischer Methoden – in den vergangenen Jahrzehnten bereits gründlich aufgearbeitet worden. Zur Vertiefung der skizzenhaften Ausführungen zum höfischen Diskurs im vorangegangenen Kapitel sollen die einschlägigen Textstellen im Folgenden nun allerdings noch einmal einer Revision aus diskurstheoretischer Perspektive unterzogen werden. Dabei werde ich mich v. a. auf diejenigen Aspekte der Verhandlungen des Gegenstands Musik im höfischen Diskurs konzentrieren, die im Hinblick auf die anschließenden Analysen von Gottfrieds Tristan und der Kudrun wesentlich erscheinen. Im Kontext des höfischen Diskurses des Hochmittelalters erreicht die uralte „Verbindung von Adel und Musik“, deren Ursprünge weit zurück bis in die Antike reichen, einen neuen Höhepunkt:³³ Eine naturgegebene Musikaffinität ist hier fester Bestandteil des diskursspezifischen Menschenideals, welches in den zentralen Begrifflichkeiten des höveschen bzw. der hövescheit seinen Ausdruck findet.³⁴ Wie bereits erwähnt, entstammen dabei zahlreiche der grundlegenden Terminologien, Basisprämissen und Argumentationsweisen ursprünglich der römischen Moralphilosophie, deren Inhalte der höfischen Gesellschaft spätestens vom 10./11. Jh. an durch den Hofklerus vermittelt werden.³⁵ So wird hier einerseits im Anschluss an antike VorKanzonen; im Krieg setzte er sich mit vielem Mut den Gefahren aus, schön anzusehen und von mittlerer Größe“; Die Chronik des Salimbene von Parma, Bd. 1, S. 338). Vgl. zu dieser Textstelle erneut auch schon Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 230 f., nach der (ebd., Anm. 31) mit swanz (V. 719) hier im musiktheoretischen Sinne wohl die Coda des von Manfred vorgetragenen Stücks gemeint ist. Ottokars Österreichische Reimchronik. Nach den Abschriften Franz Lichtensteins hrsg. von Joseph Seemüller. Hannover 1890 – 1893 (Deutsche Chroniken und andere Geschichtsbücher des Mittelalters. 5.1), S. 10. Vgl. Wenzel, Waffen, Saitenspiel und Schrift, S. 206. Vgl. hierzu und zum Folgenden Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 205 f. Vgl. dazu erneut Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, hier bspw. S. 15, sowie kritisch im Hinblick auf den von Jaeger auf das 10./11. Jh. angesetzten Beginns eines intensiveren Austauschs von Klerus und Laien am Adelshof Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, zusammenfassend v. a. S. 98.
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stellungen von Vornehmheit (urbanitas) argumentiert, dass nicht nur eine ausgeprägte „Empfänglichkeit für die feineren Arten von Musik“,³⁶ sondern auch die Fähigkeit, ein Musikinstrument zu erlernen bzw. dann auch (besonders) gut darauf zu spielen, spezifische Ausdrucksformen von hövescheit seien.³⁷ Da gemäß dem aristotelischen Bewertungsmuster von ‚lauten‘ und ‚leisen‘ Instrumentengattungen das Spielen von Blasinstrumenten jedoch als einem vornehmen Menschen unwürdig gilt, beschränken sich die poetischen (und bildlichen) Darstellungen adligen Musizierens bis zum Ende des 14. Jhs. gänzlich auf Gesang und Saiteninstrumente.³⁸ Lediglich der Beherrschung eines solchen, ‚feinen‘ Instruments wird diskursiv der Wert eines „Charakteristikum[s] für Bildung, Gesittung“ und „höfische Lebensform“ zugesprochen.³⁹ Grundlegend dafür ist die Vornahme, dass es sich beim adligen Musizieren um eine Aktivität handle, die nur schön sei und daneben keinerlei praktisch-nützlichen Zweck verfolge.⁴⁰ In dieser Hinsicht hebt sich das „zweckfreie[] Spiel“ des Adels „im Kreise der Gleichgesinnten“ deutlich vom spielmännischen Musizieren ab, welches dem Erwerb des täglichen Brots – von guot umb êre – dient.⁴¹
Žak, Luter schal und süeze dœne, S. 144. Zur diskursiven Kategorie der urbanitas vgl. erneut Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 200 – 204. Vgl. Žak, Luter schal und süeze dœne, S. 143: „[D]ie theoretische Begründung dafür ist […] erst spät in die Literatur aufgenommen worden, seit Aristoteles’ ‚Politik‘ um 1260 in der lateinischen Übersetzung rezipiert und kommentiert wurde, vor allem durch Albertus Magnus (um 1270). Das achte Buch handelt von Musik, und zwar ganz wesentlich unter sozialen Gesichtspunkten, nämlich welche Arten von Musik für die Freien einerseits und die ‚Banausen‘ andererseits angemessen sind. Das Spielen auf Blasinstrumenten galt vor allem aus drei Gründen als unvereinbar mit dem adeligen Menschenbild: wegen der Beeinträchtigung des Aussehens durch die aufgeblasene Kehle und das entstellte Gesicht, wegen der geringeren kunstlichkeit der Blasinstrumente, d. h. wegen ihrer geringeren musikalischen Beweglichkeit und Genauigkeit, und wegen ihrer Wirkung auf die Seele, denn nach der antiken Ethoslehre entfachten Blasinstrumente Zorn, nicht Tugend.“ So auch Ralf Schlechtweg-Jahn: Harfenspiel und Sirenengesang. Zur Funktion der Musik in Gottfrieds Tristan. In: Phoibos 1 (2010), S. 65 – 103, hier S. 85, Anm. 56. Ferner zu dieser Thematik außerdem auch Hannes Kästner: Harfe und Schwert. Der höfische Spielmann bei Gottfried von Straßburg. Tübingen 1981, S. 67. Žak, Luter schal und süeze dœne, S. 148. Vgl. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 191; so auch Müller-Hagedorn, Höfisches Musizieren. Zur grundlegenden Bedeutung der Kategorie des ‚Zweckfrei-Schönen‘ für den höfischen Diskurs, auch jenseits der Verhandlungen von Musik, siehe weiterführend auch die Ausführungen von Müller, Spielregeln, S. 393, zum ritterlichen Turnier: „Ritterspiele entstehen nicht erst in der höfischen Kultur des 12. und 13. Jahrhunderts; dort aber werden sie zum zentralen Kulturmuster einer agonal strukturierten Rittergesellschaft, indem sie einem Apparat von Regeln unterworfen werden, die den latenten Gewaltcharakter kontrollieren sollen und den Sieg im Kampf zur zweckfrei schönen Demonstration machen.“ Eine Diskussion der unterschiedlichen Bedeutungsnuancen der Sprachformel guot umbe êre findet sich bei Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 697 f. Bachfischer, Musikanten, S. 10, weist mit Recht darauf hin, dass sich das Tätigkeitsfeld des seit dem 8. Jh. bezeugten historischen „Typus“ des Spielmanns grundsätzlich nicht eng eingrenzen lässt und u. a. auch Taschenspielertricks, akrobatische Vorführungen und Tierdressuren umfasst. Die einschlägigen Darstellungen der höfischen Literatur sowie der
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Gesang und Saitenspiel wird im höfischen Diskurs allerdings nicht nur des Status eines standesgemäßen Zeitvertreibs zugewiesen: Gemäß einem weiteren höfisierenden Topos, der seinen deutlichsten Ausdruck im Kontext des lyrischen Entwurfs von ‚hoher Minne‘ findet, verfügen diese Arten der musikalischen Betätigung nämlich nicht zuletzt über ein tugendförderliches Potenzial:⁴² So erscheint Musik hier nicht allein als Ästhetisierung von (Liebes‐)Leid, sondern zugleich auch als Ausdruck der verfeinerten Affektkontrolle des typisierten Sänger-Ichs. Das diskursspezifische Bildungsideal des höfischen Menschen schließt dementsprechend auch einen intensiven Musikunterricht mit ein, wobei die eigene Ausübung von Saitenspiel im höheren Alter allerdings durch dessen theoretisch fundierte und v. a. rational dominierte Rezeption abgelöst werden soll.⁴³ Doch auch in jungen Jahren sollen die feinen Klänge von Gesang und Saitenspiel stets mit zuht (disciplina) vernommen werden: Schweigen und diszipliniertes Zuhören gelten als angemessene Haltung.⁴⁴ Die in der literarischen Darstellung meist spontan stattfindende und dabei in nahezu jedem Fall als solistischer Auftritt inszenierte Präsentation von adligen Gesangs- und Instrumentalfähigkeiten ist dabei grundsätzlich an ein kleines Publikum von Verwandten und vornehmen Vertrauten gekoppelt.⁴⁵ Als prototypischen sozialen Rahmen konstruiert die höfische Epik in diesem Zusammenhang das gesellige Beisammensein nach dem Abendessen, wobei von einzelnen Mitgliedern der Adelsgesellschaft – in Eigenbegleitung auf einem Saiteninstrument – in erster Linie Minnelieder vorgetragen werden.⁴⁶ Dass Minnesang als freudenspendende „Adelskunst“,⁴⁷ in deren Ausübung neben vreude/hilaritas auch „tugent, zuht, und êre“⁴⁸ ihren Ausdruck finden, im höfischen Diskurs deutlich ständisch konnotiert ist, zeigt darüber hinaus auch ein Blick in die Autorenverzeichnisse der großen Liederhandschriften des 13. Jhs.⁴⁹ Der Gegenstand Musik wird im höfischen Diskurs allerdings nicht nur unter dem Gesichtspunkt des adligen, sondern darüber hinaus auch unter dem des spielmän-
Chronistik würden sich dabei allerdings auffallend auf den „Bereich der Instrumentalmusik“ konzentrieren; ebd., S. 61. Vgl. Žak, Luter schal und süeze dœne, S. 146. Vgl. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 199. Vgl. ebd., S. 91 u. 200. Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 201 u. 231– 234. Eine große Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang das gemeinsame Musizieren Tristan und Isoldes in der Minnegrotte bei Gottfried (V. 17205 ff.), welches der Unterstreichung der Außergewöhnlichkeit ihrer Liebe dient. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 721 u. 752. Ebd., S. 686. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 350, der sich hier auf eine Passage des Renners Hugos von Trimberg bezieht. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 685: „Die Dichter der [Großen] Heidelberger Handschrift repräsentieren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur zwei gesellschaftliche Gruppen, die in sich ziemlich homogen waren: adlige Herren und fahrende Berufsdichter. Den Adligen gehört der Minnesang, den Fahrenden die Spruchdichtung.“ Auf hochadlige Mitglieder aus dem Kreis der deutschsprachigen Minnesänger verweist auch Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 32.
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nischen Musizierens verhandelt.⁵⁰ Denn fast noch häufiger als von musizierenden Adligen erzählt die höfische Epik von halb- bzw. vollberuflich am Hofe beschäftigten Fahrenden, die hier entweder für einen zeitlich begrenzten Rahmen (etwa im Hinblick auf einen bevorstehenden festlichen Anlass) „gastweise“⁵¹ engagiert werden oder als Erzieher und Musiklehrer mitunter auch dauerhafte Anstellungen finden.⁵² Wie die Darstellungen adliger Musikaktivitäten sind auch diejenigen des spielmännischen Musizierens von diversen Aspekten des aristotelischen Bewertungsmusters der Instrumentengattungen geprägt.⁵³ Dies betrifft hier vor allem konkrete Vorstellungen vom ‚richtigen‘ Kontext einer Aufführung. Um 1300 finden sich die entsprechenden Diskursregeln in Hugos von Trimberg Lehrgedicht Renner dann in der Tat auch explizit ausformuliert: Harpfen, rotten und gîgen wil süeze andâht, zuht und swîgen: urliuge wil toben und schrîen, bûden, swegeln und schalmîen. (V. 5857– 5860)⁵⁴
Ich schließe mich im Rahmen der vorliegenden Arbeit der Definition Bachfischers, Musikanten, S. 16, an, nach der sich der Begriff ‚Spielleute‘ (geschlechtsübergreifend) auf „nicht sesshafte Berufsmusiker verschiedenartigster Herkunft und Bildung sowie unterschiedlichster Fähigkeiten“ im Mittelalter bezieht. Wiebke Alf [u. a.]: Art. Höfische Musikkultur. In: Der Brockhaus Musik (2001), S. 318 f.; hier S. 318. Vgl. Martin van Schaik: Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. In: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. Hrsg. von Lambertus Okken. 2. Aufl. Amsterdam/Atlanta 1996, Bd. 2, S. 1009 – 1046, hier S. 1039, oder Müller-Hagedorn, Höfisches Musizieren. Vgl. dazu erneut Žak, Luter schal und süeze dœne, S. 143. Hugo von Trimberg: Der Renner. Hrsg. von Gustav Ehrismann. Stuttgart 1908, Bd. 1. Diese Textstelle heben auch schon Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 247 f., und Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 235 f., hervor, wobei Žak (ebd., S. 202– 204) darüber hinaus auf eine ähnliche Argumentation des französischen Musiktheoretikers Johannes de Grocheo (1255 – 1320) verweist, der ein Zeitgenosse Hugos von Trimberg war. Vgl. dazu im Einzelnen Johannes von Grocheo: De musica. Der Musiktraktat des Johannes de Grocheo. Nach den Quellen neu hrsg. mit Übersetzung ins Deutsche und Revisionsbericht von Ernst Rohloff. Leipzig 1943, S. 52: Et adhuc inter omnia instrumenta chordosa, visa a nobis, viella videtur praevalere. Quemadmodum enim anima intellectiva alias formas naturales in se virtualiter includit et tetragonum trigonum et maior numerus minorem, ita viella in se virtualiter alia continet instrumenta. Licet enim aliquia instrumenta suo sono magis moveant animos hominum, puta in festis, hastiludiis et torneamentis tympanum et tuba, in viella tamen omnes formae musicales subtilius descernuntur („Ferner scheint unter allen Saiteninstrumenten, die wir gesehen haben, die Viella voranzustehen. Wie nämlich die verständige Seele die anderen natürlichen Formen virtuell in sich einschließt und das Viereck das Dreieck und die größere Zahl die kleinere, so begreift die Viella die anderen Instrumente virtuell in sich ein. Wenn auch manche Instrumente mit ihrem Klange die Gemüter der Menschen mehr bewegen, zum Beispiel bei Festen, Speerspielen und Turnieren die Pauke und die Trompete, werden dennoch auf der Viella alle musikalischen Formen feiner unterschieden“; ebd., S. 82).
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Dementsprechend werden dem spielmännischen Musizieren auf ‚lauten‘ Instrumenten (Trompeten, Trommeln, Becken, Tamburine, Businen, Sackpfeifen, Hörner etc.) in der höfischen Epik auch grundsätzlich andere Funktionen und Einsatzbereiche als demjenigen auf ‚leisen‘ Instrumenten (Harfen, Rotten, Fiedeln, Geigen oder Flöten) zugewiesen. So begegnen etwa im Zusammenhang mit der Darstellung von kriegerischen Auseinandersetzungen ausschließlich musikalische Ensembles bestehend aus Trompeten- und Schlaginstrumenten.⁵⁵ Mit Verweis auf ihre große Lautstärke wird der Musik dabei topisch sowohl das Potenzial zur Ermutigung und Selbstbehauptung des Angreifers als auch zur Einschüchterung und Aufreizung des Gegners zugeschrieben.⁵⁶ Auch im Zusammenhang mit festlichen Zügen werden oftmals Verbindungen von Blech- und Holzbläsern mit Schlaginstrumenten, aber keinerlei Ensembles bestehend aus leisen Instrumenten erwähnt.⁵⁷ So berichtet bspw. die hochmittelalterliche Chronistik wiederholt davon, dass dem deutschen Kaiser ab etwa 1150 spielmännische Trompeter vorausgehen und dass zu repräsentativen Zwecken von nun an auch Könige und Fürsten in Begleitung professioneller Musiker zum Hoftag erscheinen.⁵⁸ Auch wenn die diskursiv geformten Normen von hövescheit es dem Adel zusammenfassend also untersagen, selbst Blas- und Schlagmusik zu betreiben, besitzt diese nichtsdestotrotz einen hohen kulturellen Wert: Sie erfüllt „vor allem die Aufgabe der lautstarken Repräsentation, des Schallmachens; Macht, Reichtum und Pracht w[e]rden dadurch zum Ausdruck gebracht“.⁵⁹ Dem spielmännischen Musizieren auf ‚leisen‘ Instrumenten hingegen kommt im höfischen Diskurs ein anderer Stellenwert zu: Ähnlich wie das adlige Singen und Spielen selbst gilt nämlich auch die Verfügungsmacht über bzw. die Präsentation von entsprechenden Musikern als Ausdruck „der höfischen Bildung und […] Lebensform“ (urbanitas/hövescheit).⁶⁰ So wird etwa von Spielleuten erzählt, die im Kreise der Hofgesellschaft mit feinen Klängen für die abendliche Unterhaltung sorgen,⁶¹ oder deren (hohe) Mitglieder singender- und spielenderweise in den Schlaf begleiten.⁶² Noch viel häufiger kommen Spielleute narrativ allerdings dann zum Einsatz, wenn sich das eigene Musizieren des Adels durch eine zu große Öffentlichkeit der Aufführungssituation verbietet. Sie haben daher einen besonderen Platz in der stereotypen Darstellung des Zeremoniells großer Hoffeste. Dabei werden diejenigen Programmpunkte, die an eine ‚unruhige‘ Umgebung gebunden sind (d. h. die ritterlichen Schaukämpfe, der Einzug der Gäste und das Auftragen der Gänge beim festlichen
Vgl. hierzu und zum Folgenden Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 82– 89. Vgl. Wenzel, Waffen, Saitenspiel und Schrift, S. 210: „Musik hat eine Funktion im Agon der gegnerischen Parteien, sie imponiert den Gegnern und stärkt die eigene Seite.“ Vgl. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 84. Vgl. ebd., S. 100 f. Ebd., S. 103. Ebd., S. 242. Vgl. ebd., S. 279. Vgl. Bachfischer, Musikanten, S. 130.
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Bankett) gemäß den Regeln des höfischen Diskurses von Blas- und Schlaginstrumenten begleitet,⁶³ während die höfischen Tänze sowie das Unterhaltungsprogramm vor bzw. nach dem Mahl eng an Gesang und Saitenspiel gekoppelt sind.⁶⁴ Was die instrumentalen Zusammensetzungen anbetrifft, ist in letzterem Zusammenhang sowohl von reinen Saiteninstrument-Ensembles als auch von Verbindungen mit feinen, zarten Flöten die Rede. Der gesanglichen Vortrag volkssprachlicher Lyrik und Epik wird hingegen üblicherweise „auf der Fiedel, seltener auf der Harfe“ begleitet.⁶⁵ Den Abschluss bildet schließlich traditionell eine feierliche Beschenkungsszene, in der die Spielleute von der Festgesellschaft für ihre musikalischen Darbietungen reich entlohnt werden.⁶⁶ Dabei gibt als erster stets der König, Fürst bzw. jeweils Ranghöchste; nach ihm gegebenenfalls dann auch die anderen anwesenden, rangniedrigeren Adligen in abfallender Reihenfolge.⁶⁷ Auf diese Weise eröffnet spielmännisches Musizieren in der höfischen Epik nicht zuletzt einen Rahmen zur literarischer Inszenierung zweier weiterer zentraler Tugenden des höfischen Diskurses: milte und êre. Denn durch den Wert ihrer Gaben erweisen sich die Schenkenden auch voreinander als freigebig und vergrößern so nicht nur ihr eigenes, sondern nicht zuletzt auch das weltliche Ansehen des Gastgebers.⁶⁸
2.1.2 Musik als Gegenstand des hofkritischen Diskurses: Die christliche Musikkritik in Johannes’ von Salisbury Policraticus Im scharfen Gegensatz zu den ästhetisierenden und ethisierenden Verhandlungen des Gegenstands weltlicher Musik im höfischen Diskurs stehen die missbilligenden Äußerungen derjenigen Mitglieder des zeitgenössischen Klerus, die diese als Zeichen eines sittlich-moralischen Verfalls beurteilen.⁶⁹ Unter welchen Gesichtspunkten eine solche Kritik typischerweise erfolgt, kann hier angesichts des noch geringen Forschungsstands nur exemplarisch anhand des Policraticus des Johannes von Salisbury
Vgl. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 91. Vgl. hierzu und zum Folgenden ebd., S. 243 – 258. So weiterhin auch Kästner, Harfe und Schwert, S. 51. Neben der höfischen Musik ist auch der Tanz ein zentraler Gegenstand der lateinischen Hofkritik, vgl. dazu Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 309 – 312, hier v. a. S. 311. Lug, Minnesang und Spielmannskunst, S. 99. Nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 723 f., ist davon auszugehen, dass die strophische Epik des Hochmittelalters (also v. a. die Heldenepik) beim Vortrag dem Publikum vorgesungen, die Epik in Reimpaaren dagegen in „getragene[m] Tonfall“ gesprochen wurde (Zitat ebd., S. 724). Vgl. Bachfischer, Musikanten, S. 133. Vgl. ebd. Vgl. dazu nochmals Kraß, Geschriebene Kleider, S. 7. Zum nachfolgenden methodischen Vorgehen bei der Rekonstruktion mittelalterlicher Wissensformationen vgl. erneut grundlegend Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 248 – 265.
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aufgezeigt werden.⁷⁰ Dieser wohl zwischen 1156 und 1159 entstandene und ausgesprochen breit überlieferte Text ist eine zentrale Quelle für den hofkritischen Diskurs des Hochmittelalters.⁷¹ Er wird zu einer Zeit verfasst, in der sich die provenzalische Liedkunst der Troubadours durch die Heirat Heinrichs II. mit Eleonore von Aquitanien zu einem zentralen Bestandteil auch der englischen Hofkultur entwickelt, ja diese einen ihrer ersten historischen Höhepunkte erfährt.⁷² Gerichtet ist Johannes’ „mittelalterliche Staatslehre“ an Thomas Becket, den berühmten Hofgeistlichen und Kanzler Heinrichs.⁷³ Johannes’ erklärte Absicht ist es, seinen früheren Freund Becket –
Johannes von Salisbury (1115/20 – 1180) war ein englischer Gelehrter und Prälat. Von 1136 bis 1147 studiert er Philosophie, Rhetorik, Literatur und Theologie in Paris und Chartres bei einigen der berühmtesten Lehrern seiner Zeit (Peter Abaelard, Robert von Melun, Wilhelm von Conches etc.). Nach seiner Studienzeit arbeitet er zunächst als Sekretär für Theobald, den Erzbischof von Canterbury, sowie ab dem Jahr 1162 dann für dessen Nachfolger, Thomas Becket. Die letzten Jahre der 1160er verbringt Johannes aufgrund von politischen Differenzen mit dem Königshaus weitestgehend im französischen und italienischen Exil. 1176 wird er schließlich zum Bischof von Chartres ernannt; vgl. dazu ausführlich Andrew Hughes, Randall Rosenfeld: Art. John of Salisbury. In: Grove Music Online. Oxford 2001 [http:// www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/14394, Zugriff: 04.03. 2019]. Vgl. dazu schon Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 140 f., Anm. 9, und Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 583. Wie Stefan Seit: Einleitung. In: Johannes von Salisbury: Policraticus. Eine Textauswahl. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von dems. Freiburg i. Br. 2008 (Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters. 14), S. 11– 57, hier S. 18, konstatiert, ist der Policraticus des Johannes von Salisbury mit insgesamt 113 Handschriften „sehr gut überliefert“ und weist zudem „eine signifikante Rezeptionsgeschichte“ auf. Ich zitiere den Policraticus, da bislang keine Gesamtausgabe vorliegt, nach den folgenden beiden lateinischen Teilausgaben: Johannes von Salisbury: Policraticvs I–IV. Hrsg. von K. S. B. Keats-Rohan. Turnhout 1993, sowie Johannes von Salisbury: Policratici sive De nvgis cviralivm et vestigiis philosophorvm libri VIII. 2 Bände. Hrsg. von Clemens C. I. Webb. Oxford 1909. Vgl. Walter F. Schirmer: Die kulturelle Rolle des englischen Hofes im 12. Jahrhundert. In: Literarisches Mäzenatentum. Ausgewählte Forschungen zur Rolle des Gönners und Auftraggebers in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke. Darmstadt 1982 (Wege der Forschung. 598), S. 232– 247, hier S. 242. Eleonores Großvater war, wie Schirmer (ebd., S. 242 f.) herausstellt, Wilhelm IX. von Poitiers, der ‚erste Troubadour‘, von welchem es heißt, er habe den Minnekult des Hochmittelalters seinerzeit eingeleitet. Durch die Verheiratung Eleonores mit Heinrich II. seien die Troubadourlyrik sowie die Dichtungsideale des kulturell führenden Südfrankreichs in der zweiten Hälfte des 12. Jhs. dann gewissermaßen an den angevinischen Königshof ‚verpflanzt‘ worden. Im Gegensatz zum deutschen Reich, wo das Fehlen einer starken Zentralmacht eine Verteilung der Musikzentren auf eine Vielzahl von Fürstenresidenzen bewirkt, konzentriert sich die höfische Musikkultur in England auf den Königshof in London; vgl. dazu Alf [u. a.], Höfische Musikkultur, S. 319. Zur allgemein großen Bedeutung französischer Vorbilder für die europäische Musikkultur des Hochmittelalters vgl. weiterhin Sarah Kay, Terence Cave, Malcolm Bowie: A Short History of French Literature. Oxford 2006, S. 41. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 141. Johannes stand nicht nur zeitweise in einem professionellen, sondern darüber hinaus auch in einem freundschaftlichen Verhältnis zu dem gleichaltrigen Thomas Becket, wodurch er in den großen Streit zwischen Königshaus und Kirche um die Frage der geistlichen Gerichtsbarkeit mit hineingezogen wurde. Aus heute nicht mehr im Einzelnen zu klärenden Gründen fiel Johannes Mitte der 1150er Jahre bei König Heinrich II. zunehmend in Ungnade, was ihn im Jahr 1163 schließlich ins französische Exil trieb; vgl. dazu ausführlicher Seit, Einleitung, S. 18 – 20, und Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 30 f. Im
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gemäß dem Lucanschen Diktum exeat aula qui volt esse pius – zur Abkehr vom englischen Königshof zu bewegen.⁷⁴ Er selbst befindet sich zu diesem Zeitpunkt schon im französischen Exil.⁷⁵ In dem insgesamt acht Bücher umfassenden Text werden dabei eine ganze Reihe von Themen abgehandelt. Johannes beginnt mit drei Büchern, welche sich mit ausgewählten ‚Torheiten‘ der höfischen Gesellschaft beschäftigen.⁷⁶ Neben den im vorliegenden Kontext besonders relevanten Erörterungen zum höfischen Musikleben, welchem er hier gleich mehrere Kapitel widmet,⁷⁷ nimmt v. a. die Kritik an der Jagd einen besonderen Raum ein.⁷⁸ In den Bücher IV–VI, die ihrer Thematik nach wohl am ehesten als „Fürstenspiegel“ zu charakterisieren sind, widmet sich Johannes dann den strukturellen „Schwächen der Administration Heinrichs II.“⁷⁹ In den Schlussbüchern VII und VIII werden die Ausführungen der vorangegangenen Teile schließlich auf eine höhere philosophische Ebene gehoben, indem die Verirrungen der weltlichen Menschen als „Erscheinung der epikureischen Lebensweise“ gedeutet werden.⁸⁰ Seine kritischen Erläuterungen zur höfischen Musik leitet der englische Geistliche mit einer zynischen Aussage über das musikalische Bildungsideal des zeitgenössischen Adels ein: Nunc uero nobilium in eo sapientia declaratur […] si naturae robur effeminatae uocis articulis fregerint, si modis et musicis instrumentis uirtutis immemores obliuiscantur quod nati sunt. ⁸¹
Policraticus bringt Johannes allerdings, wie Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 127, hervorhebt, durchaus noch die Hoffnung zum Ausdruck, dass die Inhalte seiner Schrift neben Becket bzw. über Becket auch an seinen ‚Augustus‘, Heinrich II., herangetragen würden: „Thomas Becket […] bezeichnete er als ‚Beschützer‘ seines Werkes gegen höfische Kritiker. Um sicherzugehen, übersandte er den Fürstenspiegel zuvor Petrus von Celle, einem engen Freund, der anstößige, beim König und seinen Höflingen möglicherweise Kritik hervorrufende Stellen beseitigen sollte. ‚Ich möchte nicht‘, schrieb Johannes von Salisbury, ‚daß mich das Buch bei den Höflingen verhaßt macht. Deshalb bitte ich, daß Ihr es ohne Zögern korrigiert und es Eurem wartenden Freund verbessert zurückschickt.‘ Die Bitte zeigt: Johannes hatte bei der Abfassung seines Werkes klare Vorstellungen über dessen Leserkreis.“ Vgl. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 141; ähnlich auch Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 40. Vgl. Jaeger, The court criticism of MHG didactic poets, S. 400. Vgl. Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 41. Policraticvs, I,6 (De musica et instrumentis et modis et fructu eorum), I,7 (De dissmilitudine Augusti et Neronis) und I,8 (De histrionibus et mimis et praestigiatoribus). Einige ergänzende Passagen, in denen es ebenfalls um höfische Musik geht, finden sich zudem im 12. Kapitel des 8. Buches des Policraticus (Quod brutis et insensibilibus quidam appetunt conformari: et quanta humanitate cum servis vivendum sit: et de trium reliquorum sensuum voluptate). Policraticvs, I,4 (De uenatica et auctoribus et speciebus eius et exercitio licito et illicito). Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 41. Ebd. Policraticvs, S. 45.
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‚Heutzutage aber wird die Klugheit von Adligen daran gemessen, […] ob sie ihre natürliche Stärke mit einer weibischen Stimme schwächen, und ob sie – uneingedenk ihrer Mannhaftigkeit – über Gesang und Musikinstrumente vergessen, als was sie geboren worden sind.‘⁸²
Bereits an dieser Stelle zeichnet sich der scharfe Ton der nun folgenden Ausführungen des Policraticus deutlich ab. Doch stellt die Annahme, dass eine übermäßige Beschäftigung des männlichen Adels mit Musik einen verzärtelnden und verweichlichenden Effekt auf diesen habe,⁸³ d. h. zu seiner effeminatio führe,⁸⁴ aus Johannes’ Sicht längst nicht das einzige Problem dar. Vielmehr ist ihm das musikalische Bildungsideal des Adels nur Symptom eines sehr viel umfassenderen Sittenverfalls. So sei es grundsätzlich unvertretbar, dass die Musik, welche als eine der Sieben Freien Künste grundsätzlich von einer ausgesprochen ehrenvollen Herkunft sei, an den hochmittelalterlichen Höfen zur Befriedigung der persönlichen Interessen und Bedürfnisse des Adels – d. h. als Unterhaltungsmusik – eingesetzt und so im wahrsten Sinne des Wortes missbraucht werde.⁸⁵ Nach Johannes soll Musik vom Menschen nämlich lediglich zu dem Zweck eingesetzt werden, Gott zu loben.⁸⁶ Ausgehend von der diskursspezifischen Prämisse, dass der ars musica ausschließlich in ihrem liturgischen Gebrauch eine Daseinsberechtigung zukomme,⁸⁷ listet Johannes im Folgenden dann verschiedene verdammenswerte Formen des Musikeinsatzes in der Welt auf. Skandalös erscheint dem englischen Geistlichen zunächst die große Begeisterung des Adels für Minnelyrik.⁸⁸ Während es zu früheren Zeiten bereits als geschmacklos ge-
Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 584. Auf diesen Topos christlicher Musikkritik verweist in allgemeiner Weise bereits Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 105. Laut Joachim Bumke: Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. Eine Einführung. Berlin/New York, S. 99, war effeminatio „der schlimmste Vorwurf, den man gegen einen Herrscher erheben konnte“, denn er „bedeutete, dass der Herr von seinen Begierden beherrscht wurde und seiner Verantwortung für das Gemeinwesen nicht mehr nachkam.“ Grundlegend zu einer Definition des effeminierten Mannes in der Vormoderne vgl. weiterhin Kraß, Der effeminierte Mann, S. 35 f.: „Eine […] Möglichkeit, den effeminierten Männlichkeitstyp zu bestimmen, bietet die geschlechtertheoretische Unterscheidung zwischen sex (biologisches Geschlecht), gender (soziale Geschlechterrolle) und desire (sexuelle Orientierung). Auf der Basis dieser Triade lässt sich der effeminierte Mann als Person definieren, die hinsichtlich ihres biologischen Geschlechts männlich, hinsichtlich ihrer sozialen Geschlechterrolle weiblich und hinsichtlich ihres erotischen Begehrens heterosexuell orientiert ist.“ Vgl. dazu weiterführend auch Kraß’ (ebd., S. 43 – 51) Besprechung der diskurshistorischen Nachfolgetypen des ma. effeminierten Mannes (Buhler, Stutzer, Softie, metrosexueller Mann), der sich in der Moderne dann schließlich mit einer neuen Art von Vorwurf (nämlich dem der Homosexualität) konfrontiert sieht. Vgl. Policraticvs, S. 46 u. 48; siehe zu dieser Passage auch schon Bielitz, Über Wertkriterien in der Musikanschauung, S. 489. Vgl. Policraticvs, S. 48. Vgl. Bielitz, Über Wertkriterien in der Musikanschauung, S. 517. Unter seinen Zeitgenossen war Heinrich II. von England als rex litteratus und großer Liebhaber weltlicher Literatur bekannt; vgl. dazu schon Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 44.
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golten habe, ‚verführerische Hirtengesänge‘ (Amatoria bucolicorum)⁸⁹ in der Gegenwart mächtiger Männer vorzutragen, trügen die Großen seiner Zeit diese Art von Liedern nun gar selbst vor, was Johannes widersinnig und verachtenswert erscheint. Auch der Beschäftigung des hochmittelalterlichen Adels mit sonstiger weltlicher Dichtung (fabulas)⁹⁰ erkennt der auf der Tradition beharrende Geistliche jeglichen kulturellen Wert ab – aus seiner Sicht handelt es sich hierbei ebenfalls um nichts als Lügen und Torheit. Um seine Ausführungen noch weiter zu untermauern, bemüht Johannes im Weiteren die exempla der berühmten römischen Kaiser Augustus und Nero. Augustus wird von ihm als vorbildlicher Herrscher dargestellt, dem nur ein einziges Mal im Rahmen einer öffentlichen Festlichkeit der ‚Fehler‘ unterlaufen sei, auf einem Tamburin zu musizieren.⁹¹ Von einem der anwesenden Soldaten mit scharfen Worten bedacht, habe dieses Ereignis eine einschneidende Wirkung auf den ersten der römischen Kaiser gehabt. Denn laut den historischen Quellen, auf die Johannes sich zu beziehen angibt, kehrte Augustus von jenem Tage an aller weltlichen Musik für immer den Rücken. Augustus gegenüber stellt Johannes Nero, non imperatorum sed hominum foedissimus, welcher von allem, was die Musik anbetrifft, zu einem an Absurdität grenzenden Ausmaß besessen gewesen sei, und sich selbst (zu Unrecht) für einen großen Sänger und Harfner (citharoedum principem) gehalten habe.⁹² In den Augen des englischen Klerikers ist es nicht zuletzt diese exzessive Leidenschaft für kunstvolle Musik, die Nero zu einem schlechten Herrscher machte:⁹³ Denn während tugendhafte Philosophen gnadenlos von ihm verfolgt worden seien, habe er sich von den schmeichlerischen Worten der im Kaiserhaus beschäftigten (musikalischen) Unterhaltungskünstler umgarnen lassen. Diese habe er mit Reichtümern überschüttet und teilweise sogar zu Patriziern und Senatoren ernannt. Neros Vita kann in Johannes’ Augen als mahnendes Beispiel auch noch für die Vornehmen seiner Zeit gelten. Denn wie einst der berühmte römische Kaiser hege auch der hochmittelalterliche Adel eine viel zu große Begeisterung für Musik sowie die Darbietungen entsprechender Unterhaltungskünstler, womit in diesem Zusammenhang natürlich die Spielleute gemeint
Policraticvs, S. 48. Die Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Ebd., S. 53. Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 51 f. Vgl. ebd. Dieser musikkritische Topos hat sich in der Tat bis heute prägend auf die wissenschaftliche und mediale Auseinandersetzung mit der historischen Nerogestalt ausgewirkt. Vgl. dazu unlängst etwa noch Matthias Schulz: Der singende Antichrist. Wie fies war Nero wirklich? In: Spiegel 21/2016. Hamburg 2016 [http://www.spiegel.de/spiegel/kaiser-nero-der-singende-antichrist-a-1098812.html, Zugriff: 04.03. 2019]: „Als er regieren sollte, sang er, statt Kinder zu zeugen, heiratete er zwei Männer, und statt die Mutter zu ehren, ließ er sie erdolchen.“ Hervorhebung J. S.-B. Vorsichtiger formuliert hingegen in jüngerer Zeit etwa Alexander Bätz: Nero: Ein unsterbliches Monster? In: Die Zeit 20/2016. Hamburg 2016 [http://www.zeit.de/2016/20/nero-ruf-tyrann-berechtigung-geschichte, Zugriff: 04.03. 2019]. Für diese Hinweise danke ich Fabian Scheidel (Köln).
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sind.⁹⁴ Im höfischen Ritual des Beschenkens fahrender Berufsmusiker sieht Johannes dementsprechend auch keinen Akt der milte, sondern nichts als ein abscheuliches adliges Laster und Zeichen der Unmoral.⁹⁵ Dieses müsse, in Anbetracht der Tatsache, dass zeitgenössischen Spielleuten das heilige Sakrament der Kommunion aufgrund ihrer Tätigkeit verwehrt bleibe, im Grunde ebenfalls harte Strafen von geistlicher Seite nach sich ziehen.⁹⁶ An anderer Stelle geht Johannes sogar noch einen Schritt weiter, indem er die Beziehung zwischen den adligen Gönnern und fahrenden Musikkünstlern seiner Zeit als ein starkes gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis beschreibt. So seien nicht allein die Spielleute auf die Vornehmen und deren Großzügigkeit angewiesen, sondern, letztlich auch umgekehrt, der Adel aufgrund seiner gefährlichen Musikversessenheit den weltlichen Tonkünstlern demütig, ja nahezu sklavisch ergeben – er diene diesen förmlich: Quid ergo aliud faciunt mimi, histriones, parasiti, et huiusmodi monstra hominum, nisi quod ineptam conuincunt felicium seruitutem? Sed et illi qui uoculis capiuntur (licet aurium sensus purissimus et defecatissimus sit) seruiunt quidem. ⁹⁷ ‚Was also machen Possenreißer, Schauspieler, Schmarotzer und Menschen-Ungeheuer von dieser Art anderes, als dass sie die Unterwürfigkeit der vom Glück gesegneten Menschen als töricht erweisen? Aber auch diejenigen, die von sanften Singstimmen eingenommen sind (mag den Ohren auch die reinste und klarste Empfindung zuteil sein), sind freilich Sklaven.‘⁹⁸
Doch nicht nur den fahrenden Musikern, sondern auch der Musik selbst misst Johannes eine ausgesprochen große Macht zu. So könne man mit ihrer Hilfe, wie die alttestamentliche Geschichte vom singenden und harfenden David und König Saul zeige, beispielsweise böse Geister bannen.⁹⁹ Bedingt durch ihre ‚Verwandtschaft‘ mit der Seele – Johannes spielt hier auf zeitgenössisch verbreitete Wissensbestände der antiken Musiktheorie an – besäße die Tonkunst darüber hinaus jedoch auch die Fähigkeit, auf den menschlichen Geist und somit auch auf das menschliche Verhalten einzuwirken.¹⁰⁰ Dabei sind aus Johannes’ Sicht indes ganz unterschiedliche Arten der
Vgl. dazu und zum Folgenden Policraticvs, S. 55. Dafür, dass in diesem Zusammenhang die Spielleute gemeint sind, sprechen sich auch Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 195, und Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 43, aus. Auf diesen Topos christlicher Musikkritik verweist in allgemeiner Weise bereits Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 105. Zu Johannes Zeiten war das fahrende Volk von der heiligen Kommunion ausgeschlossen, wodurch sich zwangsläufig auch deren Förderer in eine aus christlicher Sicht fragwürdige Position begaben; vgl. dazu z. B. Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 196. Policratici sive De nvgis cviralivm et vestigiis philosophorvm, S. 309. Hervorhebung J. S.-B. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Vgl. Policraticvs, S. 46 f. Johannes bezieht sich mit dieser Aussage offenbar auf die im Mittelalter unter geistlichen Gelehrten verbreitete, ursprünglich platonische – und von Boethius im 6. Jh. an prominenter Stelle zitierte – Ansicht, dass die Seele von proportionaler Beschaffenheit sei und aus musikalischen Harmonien bestehe. Daher sei der menschliche Geist durch Musik in besonderer Weise beeinflussbar; vgl. dazu
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Beeinflussung möglich. So schreibt er der Musik einerseits – allerdings nur unter ganz bestimmten Umständen – ausgesprochen positive Einwirkungsmöglichkeiten auf die Sitten des Menschen und dessen Beziehung zu Gott zu.¹⁰¹ Um einen derartigen Effekt zu erzielen, müsse Musik im Hinblick auf ihre klangliche Beschaffenheit jedoch so schlicht und ‚einfach‘ wie möglich sein.¹⁰² In einer solchen schmucklosen Form sei sie in der Tat nicht nur in der Lage, von diesseitigen Sorgen und Problemen abzulenken (und dadurch Freude und inneren Frieden zu gewähren), sondern bringe den Menschen und seine Seele sogar näher zu Gott. Dies ist für Johannes jedoch nur die eine Seite der Medaille. An den Höfen seiner Zeit präferiere man nämlich eine ganz andere Art von Musik,¹⁰³ welche sich nicht zuletzt hinsichtlich ihrer klanglichen Qualitäten von dem zuvor beschriebenen Ideal drastisch unterscheide: eine Musik kunstvollen, aufwändigen, ja luxuriösen Charakters.¹⁰⁴ In einer solch weltlichen Erscheinungsform – als „reine Sinnenkunst“¹⁰⁵ – kann Musik Johannes’ Ansicht nach keinen positiven, sondern nur einen äußerst negativen Einfluss auf den Menschen ausüben und diesen zu unterschiedlichsten Arten der Sünde verführen: So schwächten solch eitle Klänge neben dem verweichlichenden Einfluss auf den männlichen Adel geschlechterübergreifend die Seele, erweckten das Böse und riefen Gefühle von Lüsternheit sowie allgemeiner Verderbtheit hervor. Mit einer anständigen christlichen Lebensweise sei die Rezeption einer solchen Art von Musik insofern völlig inkompatibel.¹⁰⁶ Besonders gefährlich sei in diesem Zusammenhang nicht zuletzt, dass sich kunstvolle Musik
etwa Bielitz, Über Wertkriterien in der Musikanschauung, S. 500 f., und Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 192. Darüber hinaus ist aber etwa auch der „Ausspruch Isidors Musica movet affectus et provocat in diversum habitum sensus“ nach Kästner, Harfe und Schwert, S. 84, „‚mittelalterliches Allgemeingut‘“. Vgl. Policraticvs, S. 48; siehe dazu weiterhin auch Bielitz, Über Wertkrierien in der Musikanschauung, S. 514. Vgl. dazu und zum Folgenden Policraticvs, S. 49. In seinen kritischen Passagen zur sündhaften Musik richtet sich Johannes interessanterweise aber nicht nur gegen das musikalische Treiben an den Höfen, sondern darüber hinaus auch gegen die aus seiner Sicht teilweise zu kunstvollen Erscheinungsformen der zeitgenössischen Kirchenmusik; vgl. dazu Policraticvs, S. 48 f., und Bielitz, Über Wertkriterien in der Musikanschauung, S. 519 f. Johannes’ entsprechende Ausführungen zielen höchstwahrscheinlich auf die sich zwischen 950 und 1150 in Europa allmählich vollziehende Herausbildung und Etablierung der Polyphonie sowie die daraus resultierende Diversifizierung und Verfeinerung der Kirchenmusik ab; vgl. dazu Henry Raynor: Music in England. London 1980, S. 23. Wie einige andere hochmittelalterliche Geistliche befürchtete offensichtlich auch Johannes, dass die „sinnenhafte Freude“, wie Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 282 f., zusammenfasst, an einer solchen Musik „den Menschen zu sehr in ihren Bann schlagen und damit in der Liturgie vom göttlichen Wort ablenken [könnte]“. Vgl. Policraticvs, S. 48 f. Bielitz, Über Wertkriterien in der Musikanschauung, S. 519. Vgl. Policraticvs, S. 48 f.; siehe dazu erneut auch Bielitz, Über Wertkriterien in der Musikanschauung, S. 518.
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einschränkend auf die menschliche Urteilsfähigkeit auswirke und somit jeglicher Art von Täuschung den Weg bereite.¹⁰⁷ Als ein letztes, die zuvor bereits dargelegten negativen Wirkungen weltlicher Musik in besonders drastischer Weise illustrierendes exemplum zieht Johannes schließlich den der griechischen Mythologie entstammenden Riesen Argos heran.¹⁰⁸ Nach Ovid handelte es sich bei Argos um einen Mann gewaltigen Körperbaus mit einhundert, über den gesamten Kopf verteilten Augen, welcher so in alle Richtungen schauen konnte und, da immer nur ein Augenpaar zu einer gegebenen Zeit schlief, praktisch unangreifbar und unverletzlich war.¹⁰⁹ Allein Hermes, der Götterbote, konnte diesem Giganten durch eine List ernsthaft gefährlich werden: Da er wusste, dass Argos aufmerksamen Augen nichts entging, schläferte er ihn zunächst mit seinem Flötenspiel ein, um ihn im Anschluss daran dann zu enthaupten.¹¹⁰ Der Musik kommt dabei als Ermöglichungsbedingung für die Tat nicht zuletzt insofern ein sehr hoher Stellenwert zu, als Argos zu einem früheren Zeitpunkt selbst „das Ungeheuer Echidna im Schlaf erlegt“ hatte und deshalb aus eigener Erfahrung hätte wissen müssen, wie tödlich Schlaf sein kann.¹¹¹ Vor den hieraus erneut deutlich werdenden, bedrohlichen Folgen, die eine Beschäftigung mit weltlicher Musik für den Adel haben kann, warnt der englische Kleriker die Vornehmen seiner Zeit abschließend nun eindringlich mit folgenden Worten: Centum luminibus cinctum caput Argus habebat, quae omnia unius fistulae uoluptate non tam sopita sunt quam extincta. Tu quis es qui te circumspectiorem esse confidis? ¹¹² ‚Argus hatte ein Haupt, das mit hundert Augen bewehrt war, die alle durch den süßen Klang einer einzigen Hirtenflöte nicht bloß betäubt, sondern vielmehr vernichtet wurden. Wer bist du, der du glaubst, du seist wachsamer?’¹¹³
Obwohl Johannes an keiner Stelle zweifelsfrei explizit macht, auf welche Art von Gefahr hier angespielt werden soll, könnte man vor dem Hintergrund seiner vorangegangenen Ausführungen einerseits davon ausgehen, dass hier noch einmal ganz allgemein auf die „die Sitten unterminierenden Wirkungen“¹¹⁴ höfisch-weltlicher Musik verwiesen werden soll. Im Hinblick auf die eingangs zitierte Bemerkung, dass
Vgl. Policraticvs, S. 48 f. Wie Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 368 f., hervorhebt, wird der höfischen Sprechweise (hoverede) in Hugo von Trimbergs Lehrgedicht Der Renner (um 1300) interessanterweise ein ähnliches Täuschungspotenzial wie weltlich-kunstvoller Musik zugesprochen. Vgl. dazu im Detail auch Der Renner, V. 665f., 685 – 687 u. 1105 – 1107. Vgl. Policraticvs, S. 51. Vgl. Richard Engelmann: Art. Argos. In: Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie 1 (1886), Sp. 537– 540, hier Sp. 538. Vgl. ebd. Edward Tripp: Art. Argos. In: Reclams Lexikon der antiken Mythologie (2001), S. 96. Policraticvs, S. 51. An anderer Stelle vergleicht Johannes die Wirkung höfisch-weltlicher Musik zudem mit derjenigen eines tödlichen Giftes; vgl. dazu ebd. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 43.
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höfisch-weltliche Musik eine verweichlichende und verzärtelnde Wirkung auf die adligen Männer habe,¹¹⁵ wird dem Leser m. E. hier jedoch eine spezifischere Lesart nahe gelegt. So scheint diesen Äußerungen subtil ein in der mittelalterlichen Hofkritik allgemein verbreitetes Argumentationsmuster zugrundezuliegen, nach dem der männliche Adel, anstelle seinen eigentlichen Verpflichtungen nachzugehen, in den Tag hinein lebe und sich hemmungslos höfischen Vergnügungen hingebe. Auf diese Weise würden sich die Ritter zwangsläufig zu effeminierten Schwächlingen entwickeln, die – im mentalen wie im physischen Sinne kampfunfähig und von ihren Sinnesfreuden abgelenkt – ihren (politischen) Feinden letztlich wehrlos ausgesetzt seien.¹¹⁶ Denn wie Johannes an anderer Stelle ausführt, sei auch schon dem alttestamentlichen König Belšazar (Sohn Nebukadnezars II.) der gottgewollte Untergang seines Reiches Babylon bezeichnenderweise während eines von Musik untermalten höfischen Fests verkündet worden: Cithara et lira et tympanum et tibia et uinum in conuiuiis uestris […]. Quid quod rex Babylonis non nisi in conuiuio uidit manum scribentis in pariete MANE, TECHEL, PHARES, quo regnum dinumeratum, appensum denuntiatur et scissum? Diuino siquidem iudicio principatu iudicatur indignus qui uasa Domini, humana uidelicet corpora, in uanae uoluptatis gaudia exponit et sponsi thalamum maligni spiritus immunditiis aperit. ¹¹⁷ ‚Die Zither, die Leier, das Tamburin, die Flöte und der Wein sind Teil eurer Gelage […]. Was ist der Grund dafür, dass der König von Babylon gerade bei einem Festmahl eine Hand sah, die an eine Wand MANE, TECHEL, PHARES, schrieb, wodurch angekündigt wird, dass seine Herrschaft gezählt, gewogen und geteilt worden ist? Zumal nach göttlicher Auffassung gerade derjenige als eines Herrscheramtes unwürdig gilt, der die Gefäße des Herrn, gemeint sind die menschlichen Körper, den Freuden eitler Lust aussetzt und das Schlafgemach des Bräutigams dem Schmutz des teuflischen Geistes zugänglich macht.‘¹¹⁸
Vgl. dazu z. B. Policraticvs, S. 50: An non recolis Ciconum matres et nurus indignationem suam totam in Orpheum, qui mares modis suis effeminauerat, usque ad Parcarum inuidiam effudisse, licet ille flexerit Manes duritiamque Ditis mollierit Euridicemque suam uocis gratia, etsi infausta sorte, meruerit? (‚Erinnerst du dich etwa nicht mehr daran, dass die Mütter und Schwiegertöchter der Ciconer ihre ganze Empörung auf Orpheus entluden, der die Männer mit seinen Gesängen verweichlicht hatte, sodass sogar die Parzen neidisch wurden, wenngleich er auch die Manen umstimmen und Plutos Grausamkeit mildern konnte, und er sich dank seiner Stimme, auch wenn es ein unglückliches Schicksal war, seine Eurydike verdiente?‘). Die Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Besonders prägnant formuliert diesen hofkritischen Topos einige Jahrzehnte später Petrus von Blois in seinem „Brief 94“ (um 1191) an den Erzdiakon Johannes von Bath, der grundlegend für meine Analysen des nachfolgenden Kapitels zur Kleidung sein wird. Vgl. dazu im Einzelnen Petrus von Blois: Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum. In: Petri Blesensis. Bathoniensis in Anglia Archidiaconi. Opera Omnia. Hrsg. von Jacques-Paul Migne. Paris 1904 (Patrologia Latina. 207), Sp. 293 – 297, hier v. a. Sp. 294– 296, sowie die Besprechung der relevanten Inhalte dieses Briefs auf S. 205 – 207 der vorliegenden Arbeit. Zu dem skizzierten Topos lateinischer Hofkritik vgl. außerdem auch schon Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 199. Policraticvs, S. 51. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln).
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Obwohl zusammenfassend also einige der für die Konstruktion höfischer Musik im hofkritischen Diskurs grundlegenden Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen eindeutig dem zeitgenössischen theologischen Diskurs entlehnt sind,¹¹⁹ geht Johannes’ Argumentation in dessen Wissensbeständen nicht auf. Denn sehr viel häufiger noch als auf die Bibel (König Belšazar von Babylon) nehmen seine kritischen Ausführungen Bezug auf exempla der antiken Tradition (Augustus, Nero, Argos). Auf diese Weise wird der höfischen Musik nicht nur ein personengebunden-sündhaftes, sondern darüber hinaus auch ein gesamtgesellschaftliches Gefährdungspotenzial zugeschrieben: So wirke sich diese nicht nur negativ auf das Seelenheil der Mächtigen aus, sondern bewirke darüber hinaus auch deren Verweichlichung und ungünstige Beeinflussbarkeit zu einem affektiv-irrationalen Handeln hin, wodurch im Ernstfall ganze Völker politischen Feinden schutzlos ausgeliefert seien.¹²⁰ Im folgenden Analyseteil des Kapitels soll nun am Beispiel von Gottfrieds Tristan und der Kudrun gezeigt werden, inwiefern verschiedene Gattungen der mittelhochdeutschen höfische Epik auf diese topischen Argumentationsweisen des hofkritischen Diskurses zurückgreifen, um bestimmte Aspekte des musikalischen Hoflebens einer poetisch-kulturkritischen Revision zu unterziehen. Ich beginne dabei in entstehungschronologischer Reihenfolge mit Gottfrieds Tristan.
2.2 Tristans leiche von Britûn: Vom Aufstieg eines musizierenden Verführers Herbert Riedel hat den um 1210 entstandenen Tristan Gottfrieds von Straßburg vor langer Zeit einmal als das „Hauptwerk für die Musikdarstellung des gesamten Mittelalters“ bezeichnet.¹²¹ So spielt die Musik, wie später dann auch noch einmal Peter K. Zum theologischen Diskurs des Hochmittelalters vgl. grundlegend (mit Fokus auf den Redegegenstand des Geschlechtsverkehrs) Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 248 – 250. Zu den diskurshistorischen Hintergründen der klerikalen Forderung nach militärischem Schutz durch den Adel vgl. zusammenfassend etwa Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 203. Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 172. Das Zitat im Titel stammt von Gottfried (V. 3557). Ich zitiere den mhd. Text nach folgender Ausgabe: Gottfried von Straßburg: Tristan. 3 Bände. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. 6. Aufl. Stuttgart 1993 (RUB. 4472– 4474). Dieser Ausgabe zugrunde liegt die auf Basis der „Gesamtüberlieferung“ des Tristan (11 vollständige Handschriften u. 18 Fragmente) erstellte Textfassung Friedrich Rankes von 1930, die nach Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 63, als „sorgfältige, abgewogene editorische Leistung gilt und die bislang letzte kritische Ausgabe darstellt“ (Zitate ebd.). In der Forschung herrscht, wie Tomasek (ebd., S. 65) weiter zusammenfasst, grundsätzlich „Einmütigkeit darüber, dass die Textüberlieferung im Falle der GottfriedHandschriften insgesamt von recht guter Qualität und vergleichsweise einheitlich ist“. Dadurch unterscheide sich die Tristan-Überlieferung deutlich von der Überlieferung der meisten anderen mhd. Großdichtungen, die oftmals schon früh in stark differierenden Fassungen vorlägen; vgl. ebd., S. 65 f. Zur unfesten Überlieferung höfischer Dichtung als Konsequenz einer zeitgenössischen Poetik des Wiedererzählens vgl. immer noch grundlegend Joachim Bumke: Die vier Fassungen der ‚Nibelun-
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Stein hervorheben sollte, zwar in den meisten mittelalterlichen Tristanfassungen „eine nicht unbedeutende Rolle“, bei Gottfried sei diese allerdings noch einmal deutlich ausgebaut.¹²² In der Tat sind rund 700 Verse des berühmten höfischen Romans um Liebe, Verrat und Tod auf die Musik konzentriert.¹²³ Die umfangreiche, vor allem aber ausgesprochen vielschichtige und komplexe Musikdarstellung des Straßburger Dichters hat seit Max Wehrlis Aufsatz „Der Tristan Gottfrieds von Straßburg“ von 1946,¹²⁴ in welchem dieser der Musik erstmals ein eigenes Kapitel („Einsamkeit und Musik“) widmete, eine breite Forschungsliteratur hervorgebracht.¹²⁵ Während
genklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Berlin/New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 8). Peter K. Stein: Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘: Ihre Bedeutung im epischen Gefüge. In: ders.: Tristan-Studien. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Beatrix Koll, Ruth Weichselbaumer. Stuttgart 2001, S. 323 – 398, hier S. 324. Ähnlich auch Kästner, Harfe und Schwert, S. 47: „Von allen TristanBearbeitungen zeichnet sich allein Gottfrieds Version dadurch aus, dass die Musik Tristans und seiner Schülerin Isolde neben Minne und Rittertum das dritte Strukturelement bildet.“ Vgl. Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 194. Max Wehrli: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Gottfried von Straßburg. Hrsg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (WdF. 320), S. 97– 134, hier v. a. S. 113 – 118 (erstmals 1946). Hierbei handelt es sich, in chronologischer Reihenfolge, um die folgenden Arbeiten: Wolfgang Mohr: ‚Tristan und Isold‘ als Künstlerroman. In: Gottfried von Straßburg. Hrsg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (WdF. 320), S. 248 – 279 (erstmals 1959), W. T. H. Jackson: Der Künstler Tristan in Gottfrieds Dichtung. In: Gottfried von Straßburg. Hrsg. von Alois Wolf. Darmstadt 1973 (WdF. 320), S. 280 – 304 (erstmals 1962 auf Englisch erschienen: Tristan the Artist in Gottfried’s Poem. In: PMLA 77 [1962], S. 346 – 372), Louise Gnädinger: Musik und Minne im ‚Tristan‘ Gotfrids von Strassburg. Düsseldorf 1967 (Beihefte zur Zeitschrift ‚Wirkendes Wort‘. 19), Otto Langer: Der ‚Künstlerroman‘ Gottfrieds – Protest bürgerlicher ‚Empfindsamkeit‘ gegen höfisches ‚Tugendsystem‘? In: Euphorion 68 (1974), S. 1– 41, Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘ (erstmals 1979), Kästner, Harfe und Schwert, James V. McMahon: Music in Gottfried’s Tristan. In: Tristania 8 (1982/83), S. 9 – 17, Rüdiger Krohn: Gottfrieds ‚Tristan‘ und der Minnesang. Anmerkungen zu einem heiklen Verhältnis. In: Tristan et Iseut, mythe européen et mondial. Actes du Colloque du Centre d’Etudes médiévales de l’Université de Picardie, Amiens, 10, 11 et 12 janvier 1986. Hrsg. von Danielle Buschinger. Göppingen 1987, S. 199 – 211, E. D. Blodgett: Music and Subjectivity in Gottfried’s Tristan. In: Analogon Rationis. Festschrift für Gerwin Mahrens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Marianne Henn, Christoph Lorey. Edmonton 1994, S. 1– 19, Martin van Schaik: Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. In: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. Hrsg. von Lambertus Okken. 2. Aufl. Amsterdam/Atlanta 1996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 57), Bd. 2, S. 1009 – 1046, Ulrike Draesner: Zeichen – Körper – Gesang. Das Lied in der Isolde-WeißhandEpisode des ‚Tristan‘ Gotfrits von Straßburg. In: Wechselspiele. Kommunikationsformen und Gattungsinterferenzen mittelhochdeutscher Lyrik. Hrsg. von Michael Schilling, Peter Strohschneider. Heidelberg 1996, S. 77– 101, Klaus Ridder: Ästhetisierte Erinnerung – erzählte Kunstwerke: Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: LiLi 105 (1997), S. 62– 85, Gerd Dicke: Gouch Gandin. Bemerkungen zur Intertextualität der Episode von ‚Rotte und Harfe‘ im ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 127 (1998), S. 121– 148, Marion Oswald: ‚Kunst um jeden Preis‘. Gabe und Gesang in Gottfrieds von Straßburg Tristan. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Hrsg. von Ludger Lieb, Beate Kellner. Frankfurt a. M. [u. a.] 2001 (Mikrokosmos. 64), S. 129 – 152, Anna Sziraky: Éros Lógos Musiké. Gottfrieds ‚Tristan‘
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sich diese in der Anfangszeit, stets mit Blick auf den Gesamttext, vor allem mit dem „Künstlertum Tristans als ein[em] Hauptzug des Protagonisten“¹²⁶ beschäftigte (Mohr 1959, Jackson 1962, Langer 1974, Kästner 1981 etc.), legen jüngere Arbeiten den Fokus mehr auf exemplarische Analysen und perspektivieren Gottfrieds Musikdarstellung dabei aus sehr heterogenen Blickwinkeln. So diskutiert beispielsweise Henrike Lähnemann (2007), um hier nur auf einige der neueren Forschungsansätze einzugehen, aus intertextueller Perspektive „die Bedeutung des einzigen Liedzitats des Romans, des Leisenincipits In gotes namen varn wir (v. 11533)“.¹²⁷ Béatrice Kropf (2005) geht hingegen der Frage nach, inwieweit Musik im Tristan „zur Darstellung von Emotionen eingesetzt wird und welche Funktion ihr im Zusammenhang mit Emotionen zukommt.“¹²⁸ In der jüngsten, musiktheoretisch ausgerichteten Monographie vertritt Anna Sziraky (2003) wiederum die These, „dass die Triade Minne – Sprache – Musik bei Gottfried als organisierendes musikgemäßes Grundprinzip in der Dichtung, der Rezeption und in der Gestaltung des Weltbildes waltet.“¹²⁹ Und während Marion Oswald (2001) vor dem Hintergrund der „von Marcel Mauss in archaischen Gesellschaften beobachteten Austauschbeziehungen“ feststellt,¹³⁰ dass „Sängerleistung und voreiliges Lohnversprechen […] in der Gandîn-Episode zweimal nacheinander entsprechend der Logik von Gabe und Gegengabe zusammengeschlossen werden“,¹³¹ wählt Ulrike Draesner (1996) einen zeichentheoretischen Zugang, wenn sie Tristans musikalische Autorschaft im Rahmen der Isolde-Weißhand-Episode einer erneuten Analyse unterzieht.¹³² Wie ein roter Faden zieht sich durch diese thematisch-methooder eine utopische renovatio der Dichtersprache und der Welt aus dem Geiste der Minne und Musik? Bern [u. a.] 2003 (Wiener Arbeiten zur Germanischen Altertumskunde und Philologie. 38), Béatrice Kropf: Musik zur Darstellung von Emotionen im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. In: Unmitte(i)lbarkeit. Gestaltung und Lesbarkeit von Emotionen. Hrsg. von Paul Michel. Zürich 2005, S. 377– 396, Henrike Lähnemann: Leich, Lied und Leise. Singen im ‚Tristan‘. In: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Hrsg. von Gisela Vollman-Profe [u. a.]. Tübingen 2007, S. 179 – 191, Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, William Layher: Sô süeze waz der schellen klanc. Music, Dissonance and the Sweetness of Pain in Gottfried’s Tristan. In: PBB 133 (2011), S. 1– 30, Ingeborg Müller: ‚der minnen melodîe…‘: Musik im Text – Text in der Musik. Zur Rolle der Musik im Tristan bei Gottfried und zur Rezeption des ‚Tristan und Isolde‘-Stoffes in der Musik des 18. bis 21. Jahrhunderts. In: Variationen des Tristan-Stoffes in diachroner Darstellung. Hrsg. von Danielle Buschinger, Caroline Kolisang, Stefan Hartmann. Amiens 2012, S. 99 – 121, und Wagner, Erzählen im Raum, S. 133 – 158. Vgl. dazu außerdem auch die entsprechenden Forschungsüberblicke bei Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 369 – 371, und Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 221– 225. Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 222. Lähnemann, Leich, Lied und Leise, S. 179. Kropf, Musik zur Darstellung von Emotionen, S. 377. So der hintere Klappentext zu Sziraky, Éros Lógos Musiké. Einen musiktheoretischen Ansatz verfolgt weiterhin auch Layher, Music, Dissonance and the Sweetness of Pain, welcher Szirakys Methode allerdings kritisch gegenübersteht; vgl. dazu im Einzelnen ebd., S. 245 f. Skeptisch dazu weiterhin auch Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, S. 69 f., Anm. 19. Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 145. Ebd., S. 143. Vgl. Draesner, Zeichen – Körper – Gesang.
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dische Vielfalt allerdings die Frage nach der Wirkung der Musik, der oftmals eine seelisch-geistige Dimension, ja mitunter gar eine realitätsverschleiernde bis magische Macht zugeschrieben wird.¹³³ Ebendiesem Aspekt soll nun auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit noch einmal nachgegangen werden, wobei ich argumentativ vor allem an Peter K. Steins umfangreiche Studie „Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘“ (1979) anknüpfe, die trotz eines (mit Recht) als zu neuzeitlich kritisierten Kunstbegriffs für die Musikwirkung noch immer einschlägig ist.¹³⁴ Anders als Stein geht es mir im Folgenden allerdings weniger um die „Ohnmacht“ der Musik gegenüber dem Minnegeschehen „der epischen Realität“,¹³⁵ sondern vor allem um den diskurshistorischen Ursprungskontext ihrer erzählten Wirkung.
2.2.1 dâ begunden herze und ôren / tumben unde tôren: Tristans Harfenkonzert am Markehof Die erste in diesem Zusammenhang zu betrachtende Episode spielt sich an einem Abend auf Markes Burg in Tintajol ab, als man sich ein lützel nâch der ezzenzît (V. 3507) mit kunstvollem Saitenspiel unterhält.¹³⁶ Tristan und der König lauschen hier zu-
Neuere Arbeiten, die diese im Ansatz schon von Mohr, ‚Tristan und Isold‘ als Künstlerroman, S. 257, formulierte These (mehr oder weniger ausführlich bzw. explizit) aufgreifen, sind inbesondere Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, hier v. a. S. 342– 344, sowie weiterhin auch Kropf, Musik zur Darstellung von Emotionen, S. 379, Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 489 f., Draesner, Zeichen – Körper – Gesang, S. 77, Blodgett, Music and Subjectivity, S. 3, und Kästner, Harfe und Schwert, S. 77. Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 323 – 398 (erstmals 1979). Stein argumentiert hier, dass der Fragmentstatus des Tristan Teil des poetologischen Programms bei Gottfried sei, dieser die Arbeit an seinem Roman also ganz bewusst abgebrochen habe. Zur berechtigten Kritik der späteren Forschung an einer solchen These vgl. zusammenfassend Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 226. Außer Stein vertritt – wenn auch anders argumentierend – in der Forschung eine solche Position nur noch Gerd-Dietmar Peschel-Rentsch: Prolog-Programm und Fragment-Schluß in Gotfrits Tristanroman. Erlangen 1976. Vgl. dazu erneut Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 226. Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 341; zu dieser These vgl. vor allem ebd., S. 344– 346 (Unterkapitel „Extreme Geschehensirrelevanz der Musik“). Dieser These Steins ist m. E. nur mit Einschränkungen zuzustimmen: So erscheint mir einerseits die Vorstellung des musikalischen ‚Anspielens‘ der Hauptfigur eines mittelalterlichen Erzähltexts gegen die finale Motivierung von dessen Handlung als zu modern gedacht (im Roman selbst gibt es zu einer solchen Art der Bewusstheit Tristans im Hinblick auf das Ende der von ihm getragenen Geschichte keinen einzigen Hinweis); zum anderen wirkt sich Tristans Harfenspiel sowohl am cornischen als auch am irischen Hof durchaus „geschehensbestimmend“ aus, nämlich insofern, als es eine jeweils überaus schnelle und wesentliche Umstrukturierung der sozialhierarchischen Strukturen durch die entsprechenden Herrscherfiguren bewirkt (anders dagegen Stein, ebd., S. 346, da auch das Zitat). Das Zitat im Titel stammt von Gottfried (V. 3593 – 3595). Die hier besprochene Episode umfasst im Tristan die Verse 3505 – 3756. Sie fand sich nach Gnädinger, Musik und Minne, S. 24, „in schlichterer Form“ wohl bereits in Gottfrieds Vorlage, dem zwischen 1160 und 1176 verfassten altfranzösischen Roman de Tristan des Thomas von Britannien. Dieser Text ist allerdings nur bruchstückhaft überliefert und ausgerechnet von dem Handlungsteil, den Gottfried bearbeitet hat, ist fast nichts erhalten. In der
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nächst hingebungsvoll den Harfenkünsten eines walisischen Spielmanns, der vom Erzähler als ein meister sîner liste, / der beste den man wiste (V. 3511f.) beschrieben wird.¹³⁷ Ungeachtet der höfischen Etikette äußert sich Tristan plötzlich mitten im Vortrag „in gebildeter Fachsprache“ lobend über die große Kunstfertigkeit des Walisers.¹³⁸ Als der Berufsmusiker ihn daraufhin fragt, ob er ebenfalls die Harfe spiele, ziert sich der Knabe jedoch zunächst und entgegnet, dass er es zwar einmal gekonnt habe, seine Finger mittlerweile aber so steif seien, dass er nicht mehr wagen könne, das Instrument vor diesem in die Hände zu nehmen (man bedenke, dass Tristan zu diesem Zeitpunkt gerade einmal vierzehn Jahre alt ist).¹³⁹ Als er nach einigem Drängen dann schließlich doch zur Harfe greift, übertrifft seine Kunstfertigkeit, auf deren Schilderung Gottfried viele Verse verwendet, das zuvor Gehörte dann allerdings noch einmal bei weitem. Den denkwürdigen Auftritt beginnt der tugende rîche (V. 3623) mit einem „präludierenden“, wohl zumindest teilweise frei improvisierten instrumentalen „Vorspiel“, um so zunächst die Harfe und deren Klang zu testen (V. 3554: ursuoche und notelîne).¹⁴⁰ Im Anschluss daran stimmt er das Instrument dann entsprechend seinen dagegen vollständig überlieferten altnordischen Tristrams Saga ok Ìsondar (1226) des Mönches Robert, welchem der Tristan des Anglonormannen Thomas ebenfalls als Quelle diente (der er offenbar auch recht genau gefolgt ist), fand sie Aufnahme in das Kapitel XXII; vgl. dazu Bruder Robert: Tristrams Saga ok Ìsondar. Mit einer literaturhistorischen Einleitung, deutscher Übersetzung und Anmerkungen. Hrsg. von Eugen Kölbing. Hildesheim/New York 1978 (Die nordische und die englische Version der TristanSage. 1), S. 129 – 130. Zum Verhältnis von Gottfrieds Version zu den Tristanfassungen des Thomas bzw. des Mönches Robert sowie zur Geschichte des Tristanromans im Allgemeinen vgl. überblicksartig Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 249 – 288, oder auch Christoph Huber: Gottfried von Straßburg: Tristan. 2. Aufl. Berlin 2001 (Klassiker-Lektüren. 3), S. 15 – 25. Vgl. Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1021. Historische Informationen zur ma. Harfe (Aussehen, Spielweise, Klang etc.) finden sich weiterhin ebd., S. 1021 f., oder auch bei Eitschberger, Musikinstrumente, S. 13 – 33. Mohr, ‚Tristan und Isold‘ als Künstlerroman, S. 249; vgl. zu dieser Romanpassage außerdem auch schon Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 74, Žak, Luter schal und süeze dœne, S. 145, sowie ferner auch auch Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 487. Wie bereits erwähnt gelten im höfischen Diskurs Schweigen und fachkundig-diszipliniertes Zuhören als angemessene Reaktion auf eine vollkommene Musikdarbietung; vgl. dazu erneut Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 91. An dieser Stelle meiner Analyse lässt sich weiterhin eine erste Analogie zu den Befunden Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, feststellen: Denn auch in der von ihr untersuchten bast-Episode ist es „die dem Helden zugeschriebene souveräne Beherrschung einer Fachsprache, die ihm allererst die Möglichkeit eröffnet, der Hofgesellschaft vorzuführen, wie man einen Hirsch auf höfisch angemessene Weise zerlegt“; ebd., S. 150. Hervorhebung J. S.-B. Diesen Aspekt hebt bereits Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 74, hervor. Eitschberger, Musikinstrumente, S. 22. Nach Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1023, sind mit ursuoche und notelîne hier wohl „‚Test-Melodien‘“ gemeint, „mit denen Tristan sich auf die Harfe einstimmt“. Wie Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 487 f., Anm. 855, mit bestätigendem Verweis auf eine These der älteren Forschung (Joseph Smits van Waesberghe: Musikerziehung. Lehre und Theorie der Musik im Mittelalter. Leipzig 1969 [Musikgeschichte in Bildern. 3]) hervorhebt, verweist dabei insbesondere der von Gottfried in diesem Zusammenhang verwendete Begriff ursuoche auf die musikalische „Kunst der Improvisation“. Ähnlich auch Kästner, Harfe und Schwert, S. 52, und Gnädinger, Musik und Minne, S. 28.
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Bedürfnissen neu (V. 3556 – 3561),¹⁴¹ erprobt es – ausgesprochen spannungswirksam – nochmals mit einem Vorspiel (V. 3567: seltsæne grüeze), um erst danach das erste wirkliche Stück, den leich von der Geliebten Gralants, aufzuführen (V. 3585 – 3587).¹⁴² Wie magnetisch von den lieblichen und zugleich exotisch-fremdartigen Klängen angezogen, die Tristan dem Instrument entlockt, kommt nach und nach – almeistic loufende (V. 3574) – der gesamte Hof zusammen. Tristans adlige Zuhörerschaft ist dabei einerseits hochgradig verzückt von seinem „reichverzierte[n] und ausgeschmückte[n] Spiel“.¹⁴³ Während der Vorführung wird der Knabe darüber hinaus jedoch auch zum „visuellen Zentrum der anwesenden höfischen Gesellschaft“:¹⁴⁴ So können viele im Publikum, wie der Erzähler anmerkt, ihre Augen kaum von Tristans – vollkommen dem höfischen Schönheitsideal entsprechenden – hermelinweißen, zarten, langen Händen und der „Anmut seiner Griffe“¹⁴⁵ abwenden (V. 3607: der kapfete vil manegez dar). Auf den ersten Leich folgt – wie der König es ausdrücklich wünscht – sodann ein zweiter, der Leich von Thisbe (V. 3610 – 3631).¹⁴⁶ Dieses Stück beginnt mit einer in-
Mittelalterliche Harfen mussten nach Eitschberger, Musikinstrumente, S. 18, „nicht nur oft nachgestimmt, sondern auch umgestimmt werden, um die jeweils für ein Stück erforderlichen Töne parat zu haben.“ Vgl. ebd., S. 22 f. So auch Krohn, Kommentar, S. 77, nach dem sich der Begriff grüeze zurück auf Tristans „Präludium“ bezieht. Zum weiten Bedeutungsspektrum des mhd. Begriffs leich sowie seiner spezifischen Verwendung im Tristan vgl. weiterhin überblicksartig Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1019 f.: „Das mittelhochdeutsche Wort leich kann etymologisch mit dem irischen Wort laoidh oder laid verknüpft werden, das sowohl ‚Lied‘ wie auch ‚musikalische Begleitung eines Liedes‘ bedeutet. Bretonische Sänger haben den entsprechenden Ausdruck ihrer Sprache über ihre Liedvorträge dem Französischen vermittelt, wo er dann in der Gestalt lai vornehmlich den literarischen Inhalt eines Gedichts bezeichnet. […] Der von Literarhistorikern benutzte Ausdruck Leich benennt eine lyrische Form, die in der mittelhochdeutschen Literatur vom ausgehenden 12. Jahrhundert bis ins 14. Jahrhundert angewandt wurde. Formal kennzeichnend ist eine längere Abfolge formverschiedener Strophen (Versikel) sowie deren metrische Untergliederung. […] Das Wort leich ist [somit] offenbar eine mehrdeutige Bezeichnung, die sowohl eine mit Worten unterlegte Weise als auch eine rein instrumental aufgeführte Melodie meinen kann. […] Je nach Art der vertonten leich-Texte sind geistliche und weltliche leiche zu unterscheiden.“ Ausführlichere Informationen zum Inhalt des tatsächlich überlieferten lai de Graelent finden sich bei Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. 2. Aufl. Amsterdam/Atlanta 1996 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 57), Bd. 1, S. 199 f. Inhaltlich betrachtet folgt dieses Stück dem Erzählschema der gestörten Mahrtenehe. Gnädinger, Musik und Minne, S. 29. Gottfried verwendet zur Charakterisierung von Tristans Harfenspiel außerdem auch mehrfach das ambivalente Adjektiv seltsæne („seltsam, wunderbar, fremdartig, unbekannt, selten“; V. 3555, 3567), welches nach Krohn, Kommentar, S. 77, „den exotischen Zauber, der von Tristans Spiel ausgeht“, bezeichnet (Übersetzung ebenfalls nach ebd.). Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 150. Auf diesen Aspekt der Darstellung verweist außerdem auch schon Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 342, Anm. 48: „Hier spielt […] Optisches eine große Rolle. Vv. 3546– 50 fokussiert der Erzähler Tristans Hände; Marke wird als Zuseher mehr denn als Zuhörer gekennzeichnet.“ Mohr, ‚Tristan und Isold‘ als Künstlerroman, S. 249. Vgl. dazu zusammenfassend Krohn, Kommentar, S. 78: „Die Sage von dem antiken Liebespaar ‚Pyramus und Thisbe‘ aus dem vierten Buch der ‚Metamorphosen‘ von Ovid war im Mittelalter überaus
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strumentalen Einleitung (V. 3616 – 3619); etwas später, alse ez ie ze staten kam (V. 3622), kommt dann auch die Singstimme hinzu (V. 3620 – 3633).¹⁴⁷ Durch seinen Gesang, „mit dem er Teile der Melodie des [zweiten; J. S.-B.] Leiches auf Texte der verschiedensten Sprachen singt“, steigert Tristan seinen Auftritt dann schließlich zu einem finalen Höhepunkt.¹⁴⁸ Zusammenfassend konstruiert der mittelhochdeutsche Roman im Rahmen dieser Episode also erneut „eine Art Kulisse“,¹⁴⁹ vor der der Protagonist erstmals auch im Hinblick auf die Musik seine außergewöhnlichen höfischen Fähigkeiten präsentieren kann. Tristan erscheint hier als ein vornehmes Genie, ein „blutjunger[r] Meister[]“, welcher sich – ohne nennenswerte Mühen – dazu imstande sieht, einen „erfahrenen Musiker von hohen Graden“ mit seinen Künsten zu überbieten.¹⁵⁰ Nicht weniger als außergewöhnlich ist allerdings auch die vom Erzähler beschriebene Publikumswirkung des virtuosen Harfenspiels des Knaben – eine Passage, auf die ich zu einem späteren Zeitpunkt noch ausführlich zu sprechen kommen werde (V. 3588 – 3597). Alle – d. h. der König, sein Gefolge, ja selbst der walisische Harfner – sind sich am Ende der vorliegenden Episode jedenfalls darüber einig, dass sie sô höfsche lêre und alsô guote liste (V. 3580 f.), welche „das Hofgesinde schließlich [gar] von Gott herleitet“ – noch nie zuvor erlebt haben.¹⁵¹ Dass die Markegesellschaft Tristan, abgesehen von dem für sie hohen Lustfaktor seiner Musikkünste, allerdings auch im Rahmen dieser Szene einen beträchtlichen sozialen Stellenwert zuweist, verdeutlichen dabei vor allem die folgenden Verse:¹⁵² der sprach dort und dirre hie: ‚â waz ist diz von kinde? waz hân wir zuo gesinde? ez ist allez umbe den wint; elliu diu kint, diu nu sint, wider unserm Tristande!‘ (V. 3640 – 3645)
beliebt und weitverbreitet. Diese Popularität erklärt sich gewiß daraus, daß in dieser Geschichte wesentliche Elemente des ritterlichen Minne-Ideals bereits enthalten sind: Liebestreue und Liebestod.“ Vgl. Eitschberger, Musikinstrumente, S. 23. Gnädinger, Musik und Minne, S. 31, fasst den Leich von Thisbe dagegen als ein in sich geschlossenes instrumentales Stück auf, dem dann weitere gesungene Stücke folgen. Vgl. Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 181; ähnlich weiterhin auch schon Mohr, ‚Tristan und Isold‘ als Künstlerroman, S. 249; anders dagegen Krohn, Kommentar, S. 79. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 149. Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1021 f. Kästner, Harfe und Schwert, S. 53. Vgl. dazu auch Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 181. Zu Tristans idealer höfischer Ausbildung, in deren Rahmen er nach Gnädinger, Musik und Minne, S. 19, neben kämpferischen Aspekten auch „mit allem trivialen und quadrivialen Wissen ausgestattet [wird]“, siehe grundlegend auch Gisela Hollandt: Die Hauptgestalten in Gottfrieds Tristan.Wesenszüge, Handlungsfunktion, Motiv der List. Berlin 1966 (Philologische Studien und Quellen. 30), S. 79 – 81, u. im Detail V. 2085 – 2121 des Tristan. Zur ähnlichen Inszenierung der Tristanfigur bei Gottfried in der bast-Episode vgl. bereits Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 160 f.
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Verglichen mit Tristan und seiner hövescheit, so die Ansicht der Höflinge hier, erscheinen alle anderen der Markegesellschaft zugehörigen Knaben also von nun an völlig unbedeutend. Marke zieht aus dem Vorgefallenen freilich seine eigenen Konsequenzen und verleiht Tristan – nachdem dieser von ihm erst kurz zuvor das Amt des Jägermeisters erhalten hat – noch eine weitere Position in Tintajol, nämlich die des „Hofmusikers“:¹⁵³ ‚dîne leiche ich gerne hœren sol underwîlen wider naht, sô dû doch niht geslâfen maht. diz tuostu wol mir unde dir.‘ (V. 3652– 3655)
Der Knabe kommt diesem Angebot des Königs, wodurch ihm von nun an der direkte Zugang auch zu den privatesten Gemächern gewährt ist, natürlich nur allzu gerne nach, und so wird in dieser Episode schließlich der alte höfische Spielmann durch Tristan – den niuwe[n] spilman am Hofe von Cornwall (V. 3563) – ersetzt.¹⁵⁴ Abschließend verlangt der König jedoch noch eine vollständige Aufklärung über Tristans beeindruckende musikalische und sprachliche Ausbildung. Wie nach einigem höfischen Kokettieren schließlich aus diesem herauszubekommen ist, beherrscht der Held in der Tat schlechthin alle zeitgenössischen Saiteninstrumente und erweist sich darüber hinaus in jeder Sprache „wie ein Muttersprachler“.¹⁵⁵ Von dem Instrument, das Tristan nach eigenen Angaben am besten spielt – der sambjût (V. 3682) – hat man in Cornwall jedoch noch nie zuvor gehört.¹⁵⁶ Die allgemeine Begeisterung erreicht dementsprechend nun ihren Höhepunkt. Zwischen den Höflingen, von denen sich, wie der Erzähler anmerkt, mittlerweile mehr als einer inneclîche (V. 3709) wünscht, so zu sein wie Tristan, entspinnen sich zahlreiche zwischen Euphorie und Neid schwankende Gespräche – und auch der König selbst verleiht seiner Bewunderung für die Talente des fremden „Wunderkind[s]“ offenen Ausdruck:¹⁵⁷ ‚[…] Tristan, hœre her: an dir ist allez, des ich ger. dû kanst allez, daz ich wil: jagen, sprâche, seitspil.
Bielitz, Wertung von Musik, S. 379; ähnlich auch Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 75. Vgl. Bielitz, Wertung von Musik, S. 379 f. Ich schließe mich an dieser Stelle der Deutung Bielitz’ (ebd., S. 379) an, für den hier „kein Anlaß besteht, in der Formulierung des niuwen spilman kryptischallegorische Hinweise zu suchen“, da Tristan in dieser Episode „tatsächlich ein neues Amt erhält, und […] der alte Spielmann ja ganz konkret ersetzt wird“. Jeweils anders dagegen Krohn, Kommentar, S. 76, Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 488, Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 337, Anm. 38, Kästner, Harfe und Schwert, S. 60, und Jackson, Der Künstler Tristan, S. 288. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 74. Vgl. zu diesen besonderen Fähigkeiten Tristans außerdem auch schon Gnädinger, Musik und Minne, S. 33. Vgl. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 74. Ebd.
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nu suln ouch wir gesellen sîn, dû der mîn und ich der dîn. tages sô sul wir rîten jagen, des nahtes uns hie heime tragen mit höfschlîchen dingen: harpfen, videlen, singen.‘ (V. 3721– 3730)
Wie aus dieser Passage erkennbar wird, erhält Tristan in der vorliegenden Episode also nicht nur eine weitere soziale Funktion am Hofe von Cornwall, sondern er steigt darüber hinaus auch zum neuen „Günstling“¹⁵⁸ des Königs auf: So bietet Marke dem erst vierzehnjährigen Knaben hier in der Tat seine Freundschaft an und stellt ihn dadurch „mit sich auf eine Ebene“.¹⁵⁹ In den letzten Versen des Handlungsabschnitts wird Tristan vom König für seine exzeptionelle Leistung zudem überreich mit Geschenken bedacht. Doch sind es, wie schon C. Stephen Jaeger betont, nicht nur Tristans sensationelle höfisch-musikalische Talente als solche, die am Hofe von Cornwall alle so sehr beeindrucken, sondern eben gerade auch „die Strategie, mit der sie präsentiert werden“:¹⁶⁰ „Indem er große Talente zunächst verbirgt, um sie dann zu bagatellisieren, macht er diese umso größer und vervielfacht noch das Maß an Ehre, das er vom erstaunten Hof erntet.“¹⁶¹ Der Held setzt seine höfisch-musikalischen Fähigkeiten hier also ganz „kalkuliert zur Erringung eines gesellschaftlichen Ziels [ein]“.¹⁶² Sein Erfolg verschafft Tristan, wie angedeutet, unter den Höflingen allerdings auch zu diesem Zeitpunkt schon „die ersten Neider“¹⁶³ (V. 3704 f.: dâ begunde sich manc herze senen / nâch Tristandes vuoge) – eine subtile Vorausdeutung auf die Intrige der höfischen Barone (V. 8315 – 8600). Auf das Leid der späteren Haupthandlung verweist, wie bereits Kästner mit Recht hervorhebt, darüber hinaus jedoch auch die tragische Minnethematik sämtlicher der von Tristan vorgetragenen Stücke, und zwar insbesondere die „de[s] zweite[n] Leich[s] von Pyramus und Thispe“.¹⁶⁴ Bei aller er Ebd., S. 75. Eitschberger, Musikinstrumente, S. 32; ähnlich auch Gnädinger, Musik und Minne, S. 39, und Rainer Gruenter: Der Favorit. Das Motiv der höfischen Intrige in Gotfrids Tristan und Isold. In: Euphorion 58 (1964), S. 115 – 128, hier S. 116. Die von Marke in V. 3725 verwendete Anrede geselle ist nach Kästner, Harfe und Schwert, S. 32, in der Tat eine „Anrede unter Gleichrangigen“. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 75. Ebd., S. 74. Zu diesem Verhalten Tristans siehe weiterhin auch Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 337, sowie die erneut analogen Befunde Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 151, zu Tristans Darstellung im Rahmen der bast-Episode. Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 339 f. Tristans strategisches Verhalten wird vom Gottfriedschen Erzähler bis hin zur Isolde-Weißhand-Episode stets gelobt; vgl. dazu bereits Hollandt, Hauptgestalten, S. 98 f. u. 116. Ähnlich auch Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, S. 98, sowie Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 186 – 189. Gnädinger, Musik und Minne, S. 39; so in der jüngeren Forschung weiterhin auch Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 491. Anders dagegen Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, S. 81, für den die Musik in dieser Episode als eine „harmonisierende[…] Instanz“ fungiert. Kästner, Harfe und Schwert, S. 52. Ähnlich auch Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 490, Anm. 857, die hervorhebt, dass es in den von Tristan vorgetragenen Liedern „immer um eine traurige Liebe geht“, bei
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zählerischen Opulenz wird dies wohl zumindest bei literarisch gebildeten Mitgliedern des höfischen Publikums, dessen Kenntnis des Erzählstoffs allgemein vorausgesetzt werden kann, auch eine gewisse „Irritation im Wissen um das zersetzende Potenzial, das die Liebe Tristans für die cornische Gesellschaft entfalten wird“, ausgelöst haben.¹⁶⁵ Insgesamt lässt sich Gottfrieds spezifische Art der Darstellung des Harfenkonzerts am Markehof also bereits auf der Ebene ihrer intra- und intertextuellen Bezugnahmen als doppelbödig beschreiben – ein Eindruck, der sich im Kontext einer (Inter‐)Diskursanalyse der Episode noch einmal wesentlich verstärkt. So werden hier über das interdiskursive Element der Musik nämlich nicht zuletzt die konkurrierenden Wissensbestände des höfischen und des hofkritischen Diskurses enggeführt und die erzählten Vorgänge dadurch nachhaltig ambiguisiert. Im Zuge eines ausgeklügelten erzählerischen Spiels mit der rezipienteneigenen Erwartungshaltung sind die Beschreibungen von Tristans Saitenspiel und Gesang dabei in erster Linie gemäß den Regeln des höfischen Diskurses gestaltet, während die Reaktionen seines Publikums nahezu ausschließlich auf hofkritische Topoi rekurrieren.¹⁶⁶ So greift bereits die das Harfenkonzert einleitende descriptio von Tristans Händen durch den Erzähler ganz offensichtlich auf das höfische Schönheitsideal zurück, wenn diese vom Erzähler als weich unde linde, cleine, lanc / und rehte alsam ein harm blanc beschrieben werden (V. 3551 f.).¹⁶⁷ Einem solchen diskursiven Kontext lässt sich im
der die Liebenden schließlich sterben müssen, „allerdings nicht deswegen […], weil ihre Liebe unmoralisch ist, sondern weil die liebesentfremdete Gesellschaft sich einer solchen Liebe widersetzt.“ Die genaue Bezeichnung der beiden von Tristan hier vorgetragenen Musikstücke stelle weiterhin – zumindest nach Ausweis der Tristrams Saga – eine Neuerung Gottfrieds gegenüber seiner altfranzösischen Quelle dar: In der Thomasnachdichtung des Mönches Robert sei in diesem Zusammenhang nämlich lediglich von zwei ‚schönen‘ Stücken, die Tristan vorträgt, die Rede; vgl. ebd., S. 130. Bei einem solchen (Detail‐)Vergleich mit der altnordischen Tristanfassung ist selbstverständlich immer Vorsicht geboten, denn er macht nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass der Mönch Robert dem Text des Thomas konstant sehr genau gefolgt ist. Die Möglichkeit, dass Robert auch größere Änderungen gegenüber seiner altfranzösischen Quelle vorgenommen hat, kann letzten Endes nicht ausgeschlossen werden. Dieser Problematik bin ich mir, wenn hier Vergleiche zwischen der Saga und Gottfrieds Tristan angestellt werden, bewusst; vgl. dazu bspw. auch schon Monika Schausten: Erzählwelten der Tristangeschichte im hohen Mittelalter. Untersuchungen zu den deutschsprachigen Tristanfassungen des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1999 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur. 24), S. 148, Anm. 125. Darüber hinaus zeigt sich an dieser Stelle eine weitere Parallele zu den Befunden Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 151 f., die auch in Bezug auf die Gottfriedsche Jagd-Episode ein subtiles Einflechten von erzählerischen Vorausdeutungen auf die spätere Haupthandlung feststellt. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 152. Bereits Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 196 f., verweist darauf, dass ma. Dichter, wenn sie etwas über Musik aussagen wollen, dies für gewöhnlich nicht unmittelbar zum Ausdruck bringen, sondern stattdessen deren Wirkung auf die Zuhörer schildern. Vgl. dazu schon Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 337, sowie Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 151 f., analoge Befunde zur erzählerischen Fokussierung von Tristans physischer Schönheit im Kontext der bast. Wie Sziraky, Éros Lógos Musiké, S. 487,
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Anschluss dann auch die höfisierende Aktualisierung des Motivs des kunstfertigen Harfestimmens einordnen, wodurch Tristan schon vor seinem eigentlichen Auftritt als ein technisch ausgesprochen versierter Musiker inszeniert wird.¹⁶⁸ Noch wesentlich ausgiebiger greifen dann die Beschreibungen von Tristans Harfenspiel auf den höfischen Diskurs zurück. So wird dieses hier im engen Anschluss an zahlreiche diskursspezifische Begrifflichkeiten als vuoge (V. 3638) und höfsche lêre (V. 3580) beurteilt sowie geradezu mantraartig als süeze (V. 3555, 3568, 3588, 3624, 3629, 3631 etc.), schœne (V. 3569, 3570, 3618), lobebære (V. 3632), wunneclîche (V. 3624) oder meisterlîch[] (V. 3620) ästhetisiert.¹⁶⁹ Durch die einmalige Verwendung des Adjektivs guot
anmerkt, erweist Tristan sich hier dadurch, dass er die Melodien des walisischen Harfners „in seinem Herzen verspürt und zugleich versteht“, schon vor seiner eigentlichen Darbietung auch als fachkundiger, „ideale[r] Rezipient[]“ höfischer Musik. Vgl. dazu im Einzelnen V. 3518 – 3527 bei Gottfried. Das Motiv des kunstvollen Harfestimmens ist nach Eitschberger, Musikinstrumente, S. 18, Anm. 41, Teil „der meist im keltischen Bereich angesiedelten literarischen Tradition des harfespielenden Helden […], wie er sich in den verschiedenen Tristanfassungen und anderen französischen und anglo-normannischen Romanen manifestiert“. Ähnlich zuvor auch schon Christopher Page: Voices and Instruments of the Middle Ages: Instrumental Practice and Songs in France 1100 – 1300. London 1987, S. 112 (zitiert nach Eitschberger, Musikinstrumente, S. 18, Anm. 41): „The hero-harpist romances […] often mention the hero’s tuning-preliminary before playing, and while this ‚tuning‘ motif can be traced as early as the Gesta Herewardi written by Richard of Ely between ca. 1109 and 1131 […], it is tempting to assume the hero-harpist romances embody a contemporary view of scordatura as one of the most telling signs of an expert harpist“. Nach Müller, Spielregeln, S. 392, handelt es sich bei fuoge um einen „höfische[n] Zentralbegriff“, der sich jenseits vom musikalischen Kontext aber auch auf jegliche andere „Art von Proportion“ anwenden lässt. Weiterhin gehört auch das mhd. Adjektiv süez zum Standardvokabular der Verhandlungen des Gegenstands Musik im höfischen Diskurs und wird, abgesehen von Gottfrieds Tristan, etwa auch in der Kudrun (süeze wîse, 377,4 u. 406,4; süezer sange, 379,3 u. 377,4 etc.) oder dem Nibelungenlied (süeze dœne, 1705 f.) immer wieder verwendet. Zur insgesamt allerdings sehr viel breiteren Semantik dieses mhd. Begriffs vgl. vertiefend auch Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 207 f. Der Kernbegriff des höfischen Diskurses wiederum hat in den Adjektivvarianten höfsch/höfschlich nach Clifton D. Hall: A Complete Concordance to Gottfried von Strassburg’s Tristan. Lewiston 1992, S. 112 f., ganze 71 Mal in Gottfrieds Tristan Eingang gefunden; darüber hinaus kommt auch das entsprechende Substantiv höfscheit/hövescheit weitere sieben Mal zum Einsatz. Beide diskursspezifischen Begrifflichkeiten werden dabei einerseits zur näheren Beschreibung verschiedener Elemente der zeitgenössischen Hofkultur verwendet, zu welchen neben der Musik (V. 3580: höfsche lêre; V. 3729 f.: höfschlîchen dingen: / harpfen; V. 7560: höfscher spilman; V. 19211: höfschiu liedelîn) etwa auch die Jagd (V. 3315: höfscher jegerîe), die Kleidung (V. 10924: höfscher zobel; V. 3345 f.: sîn gewant, als ich iu hân geseit, / daz was mit grôzer höfscheit), bestimmte Bewegungen/Gesten (V. 5742– 5744: Tristan […] / nam sîne bruoder an die hant / wan ez ime ze höfscheit was gewant; V. 4330: höfschlîche salûieren; V. 5184 f.: sîn hüetelîn und sîn gewant / leit er höfschlîche dort hin dan) sowie die Tugenden der Affektkontrolle (V. 14810 – 14814) und Empathie (V. 19182– 19187) zählen. Darüber hinaus kommen die entsprechenden Begrifflichkeiten allerdings auch weniger spezifisch als Epitheta mit Bezug auf zahlreiche Figuren zum Einsatz. So werden neben Tristan, dem höfsche[n] hovebære (V. 2287, 2793, 3427 etc.) auch Marke, Riwalin, Blanscheflur, Rual, die blonde Isolde, die alte Isolde, Brangäne, Gandin und Kaedin vom Erzähler bzw. anderen Figuren in allgemeiner Hinsicht als ‚höfisch‘ bezeichnet (vgl. dazu etwa V. 628, 695, 753, 1167, 3983, 7982, 10465, 10778, 13109, 15617 u. 18738). Zur Musik als Ausdrucksform von hövescheit im Tristan vgl. beiläufig auch schon Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 335.
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(V. 3555) wird hier in geringerem Umfang zudem auch auf die „ethische Akzentuierung“¹⁷⁰ der Musik im höfischen Diskurs angespielt. Schließlich lässt sich auch der Umstand, dass Tristan vor der Markegesellschaft ausgerechnet auf der Harfe (V. 3570: seitgedœne) brilliert – und auch ansonsten, nach eigener Aussage, zwar iegelîche[s] seitspiel, aber (neben dem standessymbolischen Jagdhorn) keinerlei ‚laute‘ Musikinstrumente beherrscht (V. 3667) –, als narrative Konkretisierung diskursspezifischer Vorstellungen von hövescheit (urbanitas) begreifen.¹⁷¹ Diesen entspricht im Übrigen auch die von Tristan vorgetragene Musikauswahl, die sich, abgesehen von seinem instrumentalen Vorspiel, schwerpunktmäßig aus Liebesliedern zusammensetzt und insofern in besonderer Weise als „Adelskunst“¹⁷² markiert ist. Auf diese höfisierenden Darstellungstendenzen hat ein Großteil der früheren Forschung den Fokus gelegt, wenn etwa Mathias Bielitz argumentiert, dass Gottfrieds Schilderung des Harfenkonzerts am Markehof dem „Nachweis der idealen Höfischkeit Tristans“ diene,¹⁷³ oder Hannes Kästner darin „ein Leitbild des adeligen, höfisch gebildeten Ritters“ verwirklicht sieht, welcher „durch die Musikausübung den repräsentativen Glanz des Hoflebens erhöhen und ein veredeltes Menschsein verwirklichen [könne]“.¹⁷⁴ Eine solche Lesart mag zwar partiell zutreffend sein, doch führt sie hier lediglich eine Seite der Medaille vor Augen. Erinnert man sich nämlich noch einmal an das, was beispielsweise Johannes von Salisbury zur höfischen Musik zu sagen hatte, wird schnell deutlich, dass die Anlage der Gottfriedschen Harfenkonzert-Episode darüber hinaus auch vom hofkritischen Diskurs durchsetzt ist. Auf dessen topische Argumentati-
Ehrismann, Ehre und Mut, S. 189: „Die Semantik des mittelhochdeutschen ‚höfischen‘, die antike Tradition [der Kalokagathia; J. S.-B.] aufnehmenden guot/güete spannte sich zwischen materiellem ‚Gut, Besitz‘ und ethischem ‚Gut-Sein‘ (güete).“ Zur urbanitas als grundlegender Kategorie für das höfische Verhaltensideal vgl. erneut Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 200 – 204. Schon Gnädinger, Musik und Minne, S. 33, hebt Tristans lange Aufzählung der Saiteninstrumente, die er beherrscht, hervor (neben der Harfe betrifft dies auch die Fiedel, Symphonia, Rotte, Leier und die geheimnisvolle Sambjut; vgl. V. 3675 – 3682). Gnädinger (ebd.) ordnet diesen Instrumentenkatalog als eine „erweiternde[] enumeratio mit deutlich ornamentalem Charakter“ ein, die „den Eindruck von Tristans Können superlativisch“ wiedergeben solle. Dies werde im Weiteren besonders deutlich, wenn man sich vor Augen halte, dass in der ganzen Dichtung Gottfrieds „beim Spiel Tristans realiter nur die Harfe in Aktion“ trete. Allgemein zur Funktion solcher Instrumentenkataloge vgl. weiterhin auch Eitschberger, Musikinstrumente, S. 10: „Hyperbolische Steigerung, die Darstellung der Unüberbietbarkeit des jeweiligen Ereignisses und das Prunken mit Gelehrsamkeit seitens des Dichters stehen meist hinter langen Listen von Instrumentennamen.“ Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 686. Bielitz, Wertung von Musik, S. 381; ähnlich auch Gnädinger, Musik und Minne, S. 31, nach der in dieser Episode „Tristans Bildung, in seinem musikalischen Können zusammengefasst und vollendet […] erstmals höfisch-gesellschaftliche Anerkennung“ finde. So mit Nachdruck weiterhin auch Kropf, Musik zur Darstellung von Emotionen, S. 381: „Offensichtlich ist die sinnenverwirrende Kraft nicht einfach Wesensmerkmal jeglicher Musik, sondern vor allem von gut gespielter Musik. […] Diese Kunstfertigkeit wiederum ist nur auf dem Hintergrund höfischer Bildung denkbar.“ Kästner, Harfe und Schwert, S. 34 f. Dem zustimmend weiterhin auch Wenzel,Waffen, Saitenspiel und Schrift, S. 217.
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onsweisen wird dabei allerdings, wie eingangs bereits erwähnt, darstellerisch weniger im Zusammenhang mit Tristans Gesang und Harfenspiel zurückgegriffen, sondern vor allem hinsichtlich der vom Erzähler immer wieder beschriebenen Reaktionen der cornischen Hofgesellschaft. So wird erstmals in V. 3591 effektvoll mit der Erwartungshaltung des (intra- wie extrafiktionalen) Publikums gebrochen, wenn der Erzähler im Zuge eines abrupten diskursiven Umschlags anstelle einer der Standardreaktionen des höfischen Diskurses auf kunstvolle Musik (d. h. Freude, beherrschte Wertschätzung oder auch Beruhigung) eine moralisch problematische Wirkung von Tristans Harfenspiel auf die Markegesellschaft schildert:¹⁷⁵ do begunde er [Tristan, J. S.-B.] suoze dœnen und harpfen sô ze prîse in britûnischer wîse, daz maneger dâ stuont unde saz, der sîn selbes namen vergaz. dâ begunden herze und ôren tumben unde tôren und ûz ir rehte wanken. dâ wurden gedanken in maneger wîse vür brâht. (V. 3588 – 3597)
Peter K. Stein hat mit Bezug auf diese Szene bereits sehr treffend von einem durch die Musik ausgelösten „Realitätsverlust[]“ seitens der Markegesellschaft gesprochen, doch geht er in diesem Zusammenhang den diskurshistorischen Ursprüngen einer solchen Art der Wirkung nicht weiter nach.¹⁷⁶ Dabei lässt sich, wenn hier geschildert wird, wie die metaphorisch wohl für die „Körper und Seele[n]“¹⁷⁷ stehenden Ohren und Herzen der cornischen Hofgesellschaft „dumm und unbesonnen“¹⁷⁸ werden und
Diesen im hofkritischen Diskurs hergestellten Zusammenhang zwischen weltlicher Musik und moralischer Verderbtheit greift neben dem Tristan auch das Donaueschinger Passionsspiel auf. Dort wird nämlich im Rahmen der Szene über das weltliche Leben Maria Magdalenas „wiederholt Saitenspiel erwähnt (V. 91, 111, 129 f., 130b)“; vgl. dazu im Einzelnen Das Donaueschinger Passionsspiel. Hrsg. von Anthonius H. Touber. Stuttgart 1985 (RUB. 8046), S. 263. Für diesen Hinweis danke ich Fabian Scheidel (Köln). Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 342. Bielitz, Wertung von Musik, S. 382; anders hingegen Wagner, Erzählen im Raum, S. 148 f. So die treffende Übersetzung von Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, S. 87; ähnlich weiterhin auch Gnädinger, Musik und Minne, S. 30. Zurückhaltender übersetzt Krohn in der dieser Arbeit zugrundegelegten Tristan-Ausgabe die Verse 3593 – 3595: „Herzen und Ohren begannen da, taub und benommen zu werden und von der rechten Bahn zu geraten“. Vgl. im Gegensatz dazu allerdings das ausgesprochen negative sematische Spektrum der Lemmata tumben („unverständig werden“) und tôren („bin, werde ein thor“) bei Georg Friedrich Benecke, Wilhelm Müller, Friedrich Zarncke: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Leipzig 1854– 1866, Bd. 3, Sp. 130a u. 51b, sowie noch detaillierter tumben/tummen („töricht sein; betört werden; refl. sich zum Toren machen“) und tôren/ tœren („eigensinnig/verrückt sein; ertauben, zum Narren machen/halten, betören, täuschen, betrü-
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„von der rechten Bahn […] geraten“,¹⁷⁹ ein deutlicher Bezug zu den – wenn auch um einiges expliziter und drastischer formulierten – Warnungen des Policraticus vor einer moralisch problematischen Wirkung weltlich-kunstvoller Musik herstellen.¹⁸⁰ Mit Recht verweist zudem Ralf Schlechtweg-Jahn darauf, dass die Mitglieder der Markegesellschaft hier mit ihren Namen ausgerechnet „ein wesentliches Element ihrer durch Zugehörigkeit zu einer Sippe definierten Basisidentität [vergessen], die ja erst ihre Stellung als Adlige begründet.“¹⁸¹ Tristans Harfenmusik wird von Gottfrieds Erzähler insofern also nicht nur eine antirational-sündhafte, sondern auf subtile Weise auch eine ‚entadelnde‘ Art der Einflussnahme auf das höfische Publikum zugeschrieben. Ich werde auf diesen Aspekt weiter unten noch ausführlicher eingehen. Jedenfalls handelt es sich bei dieser erstmaligen Bezugnahme des Erzählers auf die christliche Musikkritik – sofern man von der altnordischen Tristrams Saga des Mönches Robert auf Gottfrieds Quelle, den Thomasschen Tristanroman, zurückschließen darf – um eine wesentliche Neuerung des deutschen Bearbeiters.¹⁸² In der Tat wird bei einem detaillierten Vergleich der zitierten Verse mit den entsprechenden lateinischen Ausführungen sogar deutlich, dass der Tristan dem Policraticus streckenweise nicht nur abstrakt-argumentativ, sondern gar bis hin zu den gewählten Formulierungen und sprachlichen Bildern ähnelt (V. 3593 – 3595: dâ begunden herze und ôren / tumben unde tôren / und ûz ir rehte wanken und Policraticvs, S. 53: At nostra aetas prolapsa ad fa-
gen“) bei Beate Hennig: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch. 6. Aufl. Berlin/Boston 2014, S. 320 u. 328. Diese Übersetzung stammt erneut von Krohn. Vgl. dazu die Verse 3593 – 3595 in der dieser Arbeit zugrundegelegten Tristan-Ausgabe. Zum Verhältnis zwischen Gottfrieds Musikdarstellung und der antiken Musiktheorie sowie seinem offensichtlich hohen Grad an entsprechender Bildung vgl. ausführlich Sziraky, Éros Lógos Musiké, sowie ferner auch Layher, Music, Dissonance and the Sweetness of Pain, Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 208 f., Lähnemann, Leich, Lied und Leise, 181 f. u. 183 f., Blodgett, Music and Subjectivity, S. 10 – 12, und Jackson, Der Künstler Tristan, S. 291– 293. Krohn, Kommentar, S. 77, bringt Gottfrieds Darstellung der Musikwirkung darüber hinaus in einen Zusammenhang mit der Minnekonzeption des Hochmittelalters; genau den umgekehrten Ansatz verfolgt wiederum Layher, Music, Dissonance and the Sweetness of Pain. Diesen Befunden stimme ich grundsätzlich zu und sie stehen m. E. auch nicht im Widerspruch zu den von mir hier zusätzlich herausgearbeiteten (inter‐)diskursiven Referenzdimensionen des Romans. Mit dem Verweis darauf, dass Gottfrieds Musikdarstellung u. a. auch Bezug auf ein bestimmtes in den lateinischen Hofkritiken vorgeprägtes Argumentationsmuster nimmt, und dass die hier beschriebene Musikwirkung nicht allein Dimensionen des Seelischen, sondern eben auch Dimensionen des Moralisch-Sittlichen umfasst, möchte ich lediglich einen weiteren Aspekt in die Diskussion einbringen. Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, S. 88 f. Vgl. dazu die Tristrams Saga, S. 130. Wenn sich eine solche These aufgrund der schwierigen Quellenlage denn formulieren lässt, scheint es mir insgesamt so zu sein, dass Gottfried mit seiner Musikkritik ein bei Thomas im Kontext der neuen Gandin-Episode hinzugekommenes, aber zu diesem Zeitpunkt noch eher rudimentäres Darstellungsmoment mit Bezug auf nahezu den gesamten Handlungsverlauf ausgebaut hat.
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bulas et quaeuis inania […] aures et cor prostituit uanitati).¹⁸³ Auf diese Weise wird der Rezipient hier erstmals mit einer gewissen Ratlosigkeit hinsichtlich der Bewertung von Tristans zunächst so höfisierend beschriebenem Harfenspiels zurückgelassen. Der weiteren Untersuchung der Gottfriedschen Darstellung von Tristans Harfenspiel am Markehof soll an dieser Stelle zunächst ein kurzer Exkurs vorangestellt werden. Denn was den problematischen Zusammenhang von Musik und Moral angeht, rückt etwas später im Handlungsverlauf auch die im Policraticus besonders ausführlich verhandelte Wollust einmal in den Fokus des mittelhochdeutschen Romans. Den erzählerischen Rahmen bildet dabei der in vielerlei Hinsicht analog zu Tristans Harfenkonzert konzipierte Auftritt seiner Schülerin Isolde vor der irischen Hofgesellschaft (V. 8036 – 8131).¹⁸⁴ So wird nämlich auch hier die vom Erzähler zunächst als höfschlîche[] liste (V. 8042) angekündigte Tonkunst der Königstochter – welche zur Unterstreichung ihrer „vornehme[n] Bildung“ dabei zusätzlich französisch als Îsôt, la bêle apostrophiert wird (V. 8071)¹⁸⁵ – anhand der entsprechenden Publikumsreaktionen einer (deutlich gegenderten) Ambiguisierung unterzogen. Das unter den männlichen Zuhörern aufkommende erotische Begehren führt der Erzähler dabei metaphorisch schon früh auf die Kombination des offenlîchen unde tougen Gesangs Isoldes (V. 8113), d. h. ir senftez seiten clingen (V. 8118) einerseits und ir wunderlîchiu schœne (V. 8123) andererseits, zurück. Nach dem mehrfachen Umschlagen der höfisierenden in die hofkritische Diskursposition mündet der Passus dann schließlich in einer so innovativen wie musikkritischen Verknüpfung des antiken Mythos von den Sirenen mit dem mittelalterlichen Sagenmotiv des magnetischen agesteine (V. 8088).¹⁸⁶ Wie die musizierende Schönheit Isolde zwei Arten der Anziehung verkörpert, so vereint sie also auch das gewählte Bild: „die vernehmbare durch den Sirenengesang und die heimliche des Magnetbergs“:¹⁸⁷
In Anbetracht dieses Umstands stellt sich hier in der Tat die Frage, ob Gottfried von Straßburg den Policraticus des Johannes von Salisbury womöglich gekannt hat. Immerhin besteht in der Forschung, wie Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 27, zusammenfasst, soweit Konsens darüber, dass Gottfried des Lateinischen mächtig und auch „mit zeitgenössischer lateinischer Literatur vertraut [war]“. Auf diese szenischen Analogien (Setting, Virtuosität des jeweiligen Musikers, Art der Musikwirkung, besonderer Fokus auf die Hände etc.) verweist schon Krohn, Kommentar, S. 143. Hinsichtlich ihrer narrativen Funktion müsste diesbezüglich allerdings noch die größtenteils analoge musikkritische Stoßrichtung beider Szenen ergänzt werden. Ebd. Zu den mit der Musikkritik eng verflochtenen höfisierend-ästhetisierenden Darstellungstendenzen der Szene vgl. weiterhin auch Manfred Kern: Isolde, Helena und die Sirenen: Gottfried von Straßburg als Mythograph. In: Oxford German Studies 29 (2000), S. 1– 30, hier S. 16. Zu dieser ungewöhnlichen und hochgradig problematisierenden Verknüpfung des antiken Mythos mit dem mittelalterlichen Sagenmotiv bei Gottfried vgl. ausführlicher Kern, Isolde, Helena und die Sirenen, S. 13 – 15. Krohn, Kommentar, S. 144, verweist darüber hinaus auf einen möglichen Bezug des „ankerlosen Schiff[s], das seinerseits für den ungewissen minnen muot (8103) steht“, auf die Carmina Burana (CB 62 u. 108). Kern, Isolde, Helena und die Sirenen, S. 14. Allgemein zur Kunstfertigkeit von Isoldes Saitenspiel und dessen Publikumswirkung vgl. weiterhin auch Bielitz, Wertung von Musik, S. 402 f., Kropf, Musik zur Darstellung von Emotionen, S. 379 f., Kästner, Harfe und Schwert, S. 92– 94, Stein, Die Musik in
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si videlte ir stampenîe, leiche und sô vremediu notelîn, diu niemer vremeder kunden sîn, in franzoiser wîse von Sanze und San Dinîse, der kunde s’ûzer mâze vil. ir lîren unde ir harpfenspil sluoc sî ze beiden wenden mit harmblanken henden ze lobelîchem prîse. in Lût noch in Thamîse gesluogen vrouwen hende nie seiten süezer danne hie la dûze Îsôt, la bêle. si sang ir pasturêle, ir rotruwange und ir rundate, schanzûne, refloit und folate wol unde wol und alze wol. wan von ir wart manc herze vol mit senelîcher trahte, von ir wart maneger slahte gedanke und ahte vür brâht. durch si wart wunder gedâht, als ir wol wizzet, daz geschiht, dâ man ein solich wunder siht von schœne und von gevuocheit, als an Îsôte was geleit Wem mag ich sî gelîchen die schœnen, sælderichen wan den Syrênen eine, die mit dem agesteine die kiele ziehent ze sich? als zôch Îsôt, sô dunket mich, vil herzen unde gedanken în, die doch vil sicher wânden sîn von senedem ungemache. (V. 8058 – 8093)
Nach Manfred Kern drückt sich bereits in der besonderen intertextuellen Bezogenheit dieser Musikbeschreibungen auf die antike Mythologie aus, dass es nicht ihre einzige Funktion in der Erzählung sein kann, die Außergewöhnlichkeit von Isoldes Instrumentenspiel herauszustellen:¹⁸⁸ Denn Gottfried, so Kern, genüge hier eben „nicht […] ein Vergleich mit den Musen“, sondern er rufe „mit der Nennung der Sirenen natürlich
Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 343 f., und Schausten, Erzählwelten der Tristangeschichte, S. 163 f.; speziell zu den entsprechenden Inhalten von Isoldes Unterricht im Kontext der mittelalterlichen Musiktheorie Wagner, Erzählen im Raum, S. 134– 139. Vgl. Kern, Isolde, Helena und die Sirenen, S. 14 f. Etwas schwächer impliziert dies auch schon Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 226 f.
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auch die Tradition ihrer negativen mythographischen Deutung“ auf.¹⁸⁹ Auf diese Weise evoziere Gottfrieds Art der Darstellung zwangsläufig auch „Aspekte“ von „todbringender Gefahr“, wodurch „Musik wie erotischer Attraktivität eine magische und gefährliche Bedeutung“ zugeschrieben werde.¹⁹⁰ Auf diskurstheoretischer Ebene lassen sich diese Befunde Kerns nun zusätzlich durch die auffallende Anlehnung der Passage an zentrale Begrifflichkeiten der christlichen Musikkritik stützen. So warnt an prominenter Stelle schon Augustinus im zehnten Buch seiner Confessiones (397– 401 n. Chr.) vor den voluptates aurium, also den „Genüsse[n] des Hörens“, als einer der zahlreichen Versuchungen in der Welt, die einen tugendhaften Lebenswandel gefährden.¹⁹¹ Dementsprechend werden durch Kern, Isolde, Helena und die Sirenen, S. 15. Zur grundlegenden „Unbestimmtheit und Ambivalenz“ der antiken Sirenendarstellung in Homers Odyssee siehe zusammenfassend außerdem Henriette Herwig: Sirenen und Wasserfrauen: Kulturhistorische, geschlechterdiskursive und mediale Dimensionen eines literarischen Motivs. In: Heine-Jahrbuch 47 (2008), S. 118 – 140, hier S. 120: „Die Sirenen werden innerhalb der Ich-Erzählung des Odysseus im zwölften Gesang der ‚Odyssee‘ durch die Voraussage der Kirke eingeführt. Die Prophetie dieser Zauberin enthält eine Warnung und einen Rat: die Warnung vor der lockenden, aber tödlichen Wirkung des Sirenengesangs, denn die Wiese, auf der die Sängerinnen säßen, sei eine Schädelstätte; den Rat, den Ruderern die Ohren mit Wachs zu verkleben, sich selbst aber an den Schiffsmast binden zu lassen, um beides zu erreichen, den betörenden Gesang hören und die zielgerichtete Fahrt fortsetzen zu können. Das Lied der Sirenen scheint das Leben und die kulturelle Identität des Mannes zu gefährden. Im rückblickenden Augen- und Ohrenzeugenbericht des Odysseus wird aus der tödlichen Gefahr aber eine Verheißung, jene von Vergnügen und Wissen, Lust und Erkenntnis. […] Sind die Sirenen nun Glücksbringerinnen und Erkenntnisquellen oder Todesboten? Wir wissen es nicht. Die Spannung zwischen dem Selbst- und Fremdbild der Sirenen bleibt in der ‚Odyssee‘ selbst unaufgelöst.“ Ovid hingegen stellt, wie Andreas Kraß: Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe. Frankfurt a. M. 2010, S. 60, herausstellt, die Sirenen in der Liebeskunst (3,311) und den Metamorphosen (5,552– 563) „rundweg positiv“ dar und preist sie „als Vorbilder der Liebe“. Kern, Isolde, Helena und die Sirenen, S. 15. Dieses Verfahren der Ambiguisierung der Isoldefigur (und damit einhergehend der gesamten Minnethematik des Tristan) werde, so weiter Kern (ebd., S. 10 f.), einige hundert Verse später durch deren Vergleich mit einer weiteren problematischen Figur der Mythologie (Helena von Troja) dann sogar noch zugespitzt: So preise Tristan nach seiner Rückkehr nach Cornwall die Schönheit Isoldes ausgerechnet als derjenigen Helenas überlegen an (V. 8261– 8286), die ja bekanntlich „nicht einfach die schöne Frau [repräsentiert], sondern […] die weibliche Hauptfigur der größten Minnetragödie [ist], die das höfische Mittelalter kennt, sie verschuldet den trojanischen Krieg“. Auf diese Weise übertrage sich also nach derjenigen der Sirenen auch „die Ambivalenz von Helena auf Isolde, w[erde] die Ambivalenz, die mit dem Namen Isoldes und dem Minnethema des Tristanromans verbunden ist, selbst eine neue und höhere“. Vertiefend zu den hier von Gottfried zum Einsatz gebrachten komplexen Erzähltechniken sowie dem für Helena verwendeten Ovidschen „Patronymikon“ Tyntarides (V. 8267) in Kombination mit einer neuen genealogischen Linie (angebliche Abstammung Helenas von Aurora) vgl. ausführlich erneut Kern, Isolde, Helena und die Sirenen, S. 6 – 11. Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, hrsg. und kommentiert von Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch. Stuttgart 2009 (RUB. 18676), S. 528 f.: Voluptates aurium tenacius me implicaverant et subiugaverant, sed resolvisti et liberasti me („Hartnäckiger hatten mich die Genüsse des Hörens umgarnt und unterjocht, aber du hast die Fesseln gelöst und mich befreit“). Zu den unterschiedlichen Facetten der von ihm hier problematisierten delectatio carnis zählt
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Isoldes Harfenspiel und Gesang auch bei der irischen Hofgesellschaft nicht nur höfische vröude (V. 8046) und Liebessehnsucht (V. 8077), sondern bald auch sündhafte Ohren- bzw. Herzenslust geweckt (V. 8049 f.: der ôren unde des herzen lust),¹⁹² die sich im weiteren Vortragsverlauf dann schließlich gar zu einem unkontrollierbarem Verlangen steigern (V. 8102: wîselôse ger).¹⁹³ Diesen Aspekt übersieht Peter K. Stein, wenn er mit Bezug auf die Erzählerbeschreibungen von Isoldes Harfenspiel lediglich von einem „Höhepunkt“ des „betörende[n], sinnenverwirrende[n] Effekt[s]“ der Musik spricht,¹⁹⁴ denn die Wirkung der Musik ändert sich hier eben nicht nur in quantitativer, sondern – genderbedingt – auch in qualitativer Hinsicht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang schließlich aber auch eine leicht zu überlesende Analogie in der Darstellung von Isoldes Auftritt zu Tristans Harfenkonzert am Markehof. Die problematische Wirkung der Musik scheint in beiden Fällen nämlich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den gewählten Stilformen zu stehen: Denn wo im Kontext von Tristans Auftritt vor der Markegesellschaft vom Erzähler betont wird, dass es sich um ein Harfenspiel in britûnische[r] wîse handelt (V. 3590), videlt[] Isolde in franzoiser wîse (V. 8058 – 8061).¹⁹⁵ Eine derart genaue stilistische Eingrenzung und
Augustinus neben den angesprochenen voluptates aurium u. a. auch die concupiscidentiam manucandi et bibendi („Gier des Essens und Trinkens“, S. 528 f.), die inlecebra odorum („Verlockung durch Wohlgerüche“, ebd.) sowie die Augenlust (voluptates oculorum; ebd., S. 532 f.). Daher lehnt bereits Augustinus den Einsatz von aufwändiger Musik im Gottesdienst ab, vgl. hierzu ebd., S. 530 f. Für diesen Hinweis danke ich Fabian Scheidel (Köln). Eine ähnliche Position zur Musik im Rahmen des Gottesdienstes vertritt auch Johannes von Salisbury. Vgl. dazu erneut Policraticvs I,6 sowie Anm. 103 (Kap. 2) der vorliegenden Arbeit. Derselbe musikkritische Topos grundiert – in umgekehrter Weise gegendert – übrigens auch eine Szene der Crône Heinrichs von dem Tuerlin (um 1230): Hier kommt im Rahmen einer Tugendprobe am Artushof nämlich ein magischer Handschuh zum Einsatz, der unsichtbar macht, wobei allerdings stets die Körperteile einer Person sichtbar bleiben, mit denen der- oder diejenige gesündigt hat. Auch Artûses muoter […] Îgern stellt sich dieser Probe (V. 2395f.). Die einzigen Körperteile, die bei ihr sichtbar bleiben, sind ein ouge und ein ôre. Gesündigt hat sie mit diesen, wie Keie gegenüber Artus anmerkt, insofern, als sie das videln sowie den Anblick eines Hofmusikers in zweierlei Hinsicht zu sehr genossen habe: ‚herre, schouwent iuwer muoter, / wie wol ir Gansguoter / an sînem videln geviel, / dô sie nâch sîner minne wiel! / wie vrœlîch ir ouge sach, / dô sie in sach, und swaz er sprach, / wie gern ir ôre hôrte daz!‘ (V. 23705 – 2713); Heinrich von dem Tuerlin: Diu Crône. Kritische mittelhochdeutsche Leseausgabe mit Erläuterungen. Hrsg. von Gudrun Felder. Berlin 2012. Krohns Übersetzung von wîselôse ger (V. 8102) als „vage[s] Verlangen“ ist zu schwach und irreführend. Vgl. dazu das Lemma wîselos/wîslos („ohne führer, lenker, verlassen, hülflos“, „unverständig“) im Mittelhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 757b. Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang auch die ein ungutes technisches Übermaß andeutenden Akzentuierungen des Erzählers, nach denen Isolde kunde s’ûzer mâze vil (V. 8063) bzw. wol unde wol und alze wol spiele (V. 8075). Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 344. Ich schließe mich damit dem momentanen Forschungskonsens an, wie ihn Krohn, Kommentar, S. 79 f., zusammenfasst. Danach verwendet Gottfried zwar im Romanverlauf die Begriffe Britûne/ britûnisch nicht immer nur mit explizitem Bezug auf die Bretonen, sondern vereinzelt auch auf die Briten, an dieser Stelle muss aber kontextbedingt ganz offensichtlich zweiteres gemeint sein. Siehe hierzu auch die Selbstauskunft Tristans hinsichtlich seiner musikalischen Bildung in V. 3666 – 3682.
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spezifische lokale Zuordnung nimmt Gottfrieds Erzähler an keiner weiteren Stelle des Romans mit Bezug auf die Musik vor – und entsprechend ist in nachfolgenden Musikepisoden dann auch nirgends mehr die Rede von einer solchen Art bzw. einem solchen Ausmaß der Publikumswirkung.Was Frankreich und die Bretagne anbelangt, handelt es sich insofern wohl auch nicht zufällig um historische Sprach- und Kulturräume, von denen im Hinblick auf das zeitgenössische literarisch-musikalische Hofleben ein kaum zu überschätzender Einfluss ausgegangen ist. Wenn man bedenkt, dass auf diesem Wege auch der zur matière de Bretagne zugehörige Tristanstoff Eingang in die deutschsprachige Literatur gefunden hat (Béroul und Thomas von Britannien dichteten auf Französisch!), drängt sich geradezu die Frage auf, ob es sich bei der Herausstellung der genannten Musikstile möglicherweise gar um einen ironischen metapoetischen Kommentar des Gottfriedschen Erzählers handelt: Ein solcher ließe sich autoreflexiv etwa auf die (passagenweise) besondere musikalische Qualität der Sprache im Tristan zurückbeziehen, die sich Gottfrieds Erzähler nach verbreiteter Forschungsmeinung nicht zuletzt immer wieder strategisch dabei zunutze macht, seinem Publikum einen hochproblematischen Stoff zu vermitteln.¹⁹⁶ Doch kommen wir zurück zu Tristans Harfenkonzert am Markehof. Denn im Kontext der daran anschließenden überreichen Beschenkung des Protagonisten durch den König wird deutlich, dass die höfische Musik in Gottfrieds Tristan nicht nur im Hinblick auf ihre seelisch-innerlichen, sondern auch mit Bezug auf ihre äußerlich sichtbaren Wirkungsdimensionen problematisiert wird. Nach einhelliger Forschungsmeinung übersteigen die vom Erzähler genannten Gaben – prächtige Kleider
Offensichtlich gab es also bereits im Mittelalter von Region zu Region unterschiedliche Stilrichtungen der Harfenmusik; vgl. dazu schon Eitschberger, Musikinstrumente, S. 24, und Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1022 u. 1028. Obwohl aufgrund des Quellenmangels unklar bleiben muss, was damit im Einzelnen gemeint ist, liefert Constance Bullock-Davies: The Form of the Breton Lay. Medium Aevum 42 (1973), S. 18 – 31, hier S. 23 f., ein interessantes Gedankenspiel dazu, was das Besondere am hier angesprochenen ‚bretonischen‘ Harfstil gewesen sein könnte. So könne aufgrund der Formulierung Gottfrieds sô lie der tugende rîche [d. h. Tristan; J. S.-B.] / suoze unde wunneclîche / sîne schanzûne vliegen în (V. 3623 – 3625) vermutet werden, dass Tristans bretonischer Harfstil „some kind of voice/harp technique similar to that practised in the performance of […] penillion-singing“ sein könnte. Dabei handelt es sich um eine besondere musikalische Technik der Begleitung aus Wales. Für diesen Denkanstoß danke ich Markus Stock (Toronto). Einen Forschungsüberblick zu dieser in funktionaler Hinsicht erstmals von Julius Schwietering: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg und die Bernhardische Mystik. Berlin 1943 (Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften Phil.-hist. Klasse. 1943,5), S. 13, formulierten These („Sein […] Stil breitet sich als einheitliches Gewand über die ganze Dichtung, um in dämpfendem Gegenspiel zum Inhalt als einer der geheimsten Reize dieser Kunst von der höfischen Gesellschaft empfunden zu werden“) und im Anschluss breit rezipierten These liefert Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 359 f. Stein bietet im Weiteren (ebd., S. 360 – 363, hier v. a. S. 362 f.) zudem eine entsprechende Detailanalyse zur musikalischen Sprache des Gottfriedschen Prologs. In der jüngeren Forschung wird die These von der „betörenden Sprache“ Gottfrieds beispielsweise an prominenter Stelle von Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 117, aufgegriffen.
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und Pferde (so viele Tristan jeweils haben will!), Markes eigenes Schwert, seine Sporen, Armbrust und sein goldenes Horn (V. 3734– 3739) – sowie das Angebot des Königs, fortan in seiner unmittelbaren Nähe zu leben (V. 3725 – 3730), nämlich das, was ein zeitgenössischer (Berufs‐)Musiker als Dank für eine noch so gute Darbietung erwarten konnte, bereits in materieller Hinsicht bei weitem: So werden in zeitgenössischen Besoldungslisten, Chroniken sowie in weiten Teilen der höfischen Literatur in solchen Zusammenhängen üblicherweise getragene Kleider oder bestimmte Geldbeträge (sowie in besonderen Fällen mitunter auch ein Pferd) als typische Geschenke angeführt.¹⁹⁷ Vor dem Hintergrund der lateinischen Hofkritik lässt sich Markes Verhalten hier nun allerdings nicht einfach mehr, wie z. T. in der älteren Forschung geschehen, als extrem höfisierende Inszenierung von milte einordnen, sondern müsste vielmehr als eine weitere narrative Umsetzung antihöfischer Topoi in ein erzähltes Geschehen beschrieben werden:¹⁹⁸ In der Argumentation antihöfischer Geistlicher zeigt sich das exzessives Interesse des Adels für weltliche Musik nämlich insbesondere im Zusammenhang mit der übermäßig-verschwenderischen Beschenkung weltlicher (Berufs‐)Musiker bzw. deren Ausstattung mit sonstigen Privilegien. Das in Gottfrieds Tristan geschilderte Musikinteresse Markes muss insofern maßlos erscheinen: Um „an seinem Hof über eine Form von Unterhaltung verfügen zu können, die in ihrer Vollendung ausschließlich von Tristan beherrscht wird“, ja um dessen außergewöhnliche höfische Kunstfertigkeiten zu ‚besitzen‘, liefert der König in Form seiner Geschenke hier eine mehr als nur großzügige Gabe.¹⁹⁹ Diese Unangemessenheit der Geschenke profiliert im Übrigen erneut nur Gottfried als Eigenschaft der Königsfigur; im altfranzösischen Vorlagentext hat Tristan im Anschluss an seine Darbietung wohl ‚nur‘ ein Reitpferd erhalten.²⁰⁰ So wird der sich zu diesem Zeitpunkt als Sohn eines reichen Kaufmanns ausgebende Tristan, wie Rüdiger Krohn hervorhebt, bei Gottfried bereits dadurch, dass Marke ihm ein Pferd gibt – ein Tier also, „das im ritterlichen Selbstgefühl des Adels eine wesentliche Funktion hatte“ – weit über seinen (angeblichen) Stand erhoben.²⁰¹ Ähnlich ‚adelnde‘ Bedeutung haben weiterhin auch
So etwa Kästner, Harfe und Schwert, S. 53, der in diesem Zusammenhang von einer „Übersteigerung der üblichen Spielmannsentlohnung“ spricht, oder auch Gruenter, Der Favorit, S. 115 f. Ganz anders (nämlich im Sinne einer Idealisierung fürstlicher milte) deuten die Stelle Krohn, Kommentar, S. 82, Gnädinger, Musik und Minne, S. 39, und Hollandt, Hauptgestalten, S. 55 f. Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 142 f., Anm. 39. Ähnlich auch Thomas Kerth: Marke’s Royal Decline. In: Gottfried von Strassburg and the Medieval Tristan Legend. Papers from an Anglo-North American Symposium. Hrsg. von Adrian Stevens, Roy Wisbey. Cambridge 1990 (Arthurian Studies. 23), S. 105 – 116, hier S. 107: „Marke offers Tristan rich rewards in exchange for his entertaining companionship. […] What Marke expresses here is the knowledge that Tristan has a cultural superiority in ‚höfschlichen dingen‘ (3729), which the king himself lacks. An apologist could even suggest that Marke is here actually serving his court by enhancing the cultural environment.“ Die entsprechende Textstelle in der Tristrams Saga, S. 130, lautet wie folgt: „Alle liebten ihn, aber der könig am meisten, […], auch schenkte ihm der könig ein reitpferd.“ Krohn, Kommentar, S. 82. Dem zustimmend weiterhin auch Gnädinger, Musik und Minne, S. 39, Anm. 88. Vgl. dazu weiterhin auch die Stellensammlung zur Entlohnung von ma. Spielleuten bei
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die übrigen Geschenke des Königs: So ist beispielsweise das Horn „im Mittelalter fast ausschließlich ein Instrument der vornehmen, berittenen Gesellschaft und [daher] ein Symbol von Macht und Ansehen des Adels“.²⁰² Im Fall von Schwert und Sporen handelt es sich gar um „Attribute der Ritterwürde“,²⁰³ wodurch an dieser Stelle erneut die problematische Frage nach der Bedeutung adliger Abstammung innerhalb der hierarchischen Strukturen der Markegesellschaft aufgeworfen wird. Insbesondere im Fall von Armbrust und Schwert erschöpft sich die symbolische Bedeutung der Gaben allerdings nicht nur in einer unangemessenen Rangerhöhung Tristans – die darstellerisch, wie weiter oben bereits ausgeführt, mit einer subtilen ‚Entadelung‘ seines Publikums einhergeht –, denn diese Gegenstände verweisen darüber hinaus auch auf die eigentliche Aufgabe und Pflicht des Ritterstandes: das Kämpfen.²⁰⁴ Indem Marke hier seine eigene Kampfausrüstung gegen ephemere ästhetische Formen austauscht, überreicht er Tristan also nicht zuletzt sinnbildlich sein Rittertum und das sich mit seinen Waffen verbindende Gewaltmonopol. Dies ist, insofern „Rüstungen, Pferde und Waffen“ nach Andrea Sieber in der mittelalterlichen Literatur allgemein entscheidend „zur Stiftung männlicher Identität bei[tragen]“,²⁰⁵ in der Tat gleichbedeutend mit seiner Männlichkeit. Neben der verschwenderischen Beschenkung weltlicher (Berufs‐)Musiker beutet Gottfried hier im Zuge der Konzeption seiner Königsfigur also subtil auch noch einen weiteren hofkritischen Topos aus: den angeblich verweichlichenden, ja verweiblichenden Effekt höfischer Musik. Im Ganzen präsentiert sich Marke damit jedenfalls genau so, wie er von der Forschung immer wieder beschrieben worden ist: als ein wenig ritterlicher, aber dafür umso höfischerer König.²⁰⁶ Ein
Salmen, Der fahrende Musiker, S. 140 – 144. Der Umstand, dass ein (angeblicher) Kaufmannssohn über ein solches Maß an höfischer Bildung verfügt, löst bei den Mitgliedern der Markegesellschaft, wie schon Mohr, ‚Tristan und Isold‘ als Künstlerroman, S. 252, anmerkt, zwar zunächst große Verwunderung aus (vgl. dazu V. 3281– 3311), aber Tristans „Aufstieg am Hofe steht die vermeintliche Herkunft nicht im Wege“. Zu den Gründen, warum sich für Tristan in seiner Situation gerade die Rolle des Kaufmannssohns anbietet vgl. weiterhin Schlechtweg-Jahn, Harfenspiel und Sirenengesang, S. 84, Anm. 54. Kästner, Harfe und Schwert, S. 69. Krohn, Kommentar, S. 82. Zur symbolischen Bedeutung insbesondere des Schwerts im Mittelalter vgl. weiterhin Kästner, Harfe und Schwert, S. 62: „Das Schwert repräsentierte im Mittelalter die Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden. Es war Symbol von Adelsherrschaft und legitimer Gewaltanwendung, z. B. in der Fehde, und verpflichtete den Träger auf ein religiös-moralisches Programm (Schwertleite).“ Für diese Anmerkung danke ich Udo Friedrich (Köln). Andrea Sieber: Gender Studies. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 103 – 140, hier S. 121. Zum interdisziplinären gender-Begriff vgl. zusammenfassend weiterhin ebd., S. 103 f. Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 142 f., Anm. 39, geht an dieser Stelle sogar noch einen Schritt weiter, wenn sie argumentiert, dass Marke Tristan hier in Form seiner Gaben (Schwert, Sporen, Armbrust und Horn) sogar „die Insignien seiner Herrschaft“ überlasse. Indem er den Knaben auf diese
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durchaus vergleichbares Verhalten legt Marke übrigens auch später im Handlungsverlauf noch einmal an den Tag: So sichert er in der berühmten Gandin-Episode einem fremden Baron aus Irland,²⁰⁷ der eines Tages mit einer kostbaren, reichverzierten Rotte auf dem Rücken am cornischen Hof eintrifft, aus lauter Gier auf dessen „Spiel und Gesang“ vorschnell zu, „ihm alles zu geben, wonach er verlang[e]“, wenn er denn im Gegenzug nur einmal für ihn musiziere.²⁰⁸ Der betrügerische Gandin, welcher von der Forschung passenderweise wiederholt ein ‚zweiter Tristan‘ genannt worden ist, fordert im Anschluss dann bekanntlich Isolde, mittlerweile Markes Ehefrau und die Königin von Cornwall und England.²⁰⁹ Und in der Tat lassen der eingeschüchterte König und sein feiges Gefolge den listigen Iren schließlich kampflos mit der Königin von dannen ziehen. Obwohl der herbeieilende Tristan Isolde dann kurze Zeit später wieder zurückerobern kann, erweist sich Markes „Verlangen nach Kunst um jeden Preis“ und die damit zusammenhängende „verschwenderische Freigebigkeit“ also auch im letzten Romandrittel noch einmal als überaus „fatal“.²¹⁰
Weise gewissermaßen zum „Gleichgestellten“ erhebe, vernachlässige der König, so Oswald weiter, hier also „erstmals seinen Anspruch auf die uneingeschränkte Macht“. Die Gandin-Episode gehört zu den Neuerungen des Thomas von Britannien, die in der durch Eilhart und Béroul repräsentierten älteren Textstufe keine Entsprechung besitzen. Gottfried hat diese Episode vermutlich sehr ähnlich aus seiner französischen Vorlage übernommen; vgl. dazu etwa Krohn, Kommentar, S. 193, sowie ausführlich zu deren intertextueller Anlage Dicke, Gouch Gandin. Dies zeigt, dass die Episode in jener Form, wie sie stofflich bei Thomas vorgeprägt war, offensichtlich gut in Gottfrieds eigene Bearbeitungstendenzen gepasst hat. Beim Tristan des Thomas handelt es sich nun jedoch wiederum um einen Text, dessen hofkritisch geprägtes Entstehungsumfeld ziemlich offensichtlich ist: Denn die Gönner des anglonormannischen Dichters waren nach recht einhelliger Meinung der Forschung das englische Königspaar Heinrich II. und Eleonore von Aquitanien, vgl. dazu etwa Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 284, oder Schausten, Erzählwelten der Tristangeschichte, S. 126. Es ist also zu vermuten, dass die von mir hier angesprochenen hofkritischen Tendenzen der Gottfriedschen Gandin-Episode bereits auf Thomas von Britannien zurückgehen, der sich – wie ja beispielsweise auch Johannes von Salisbury und zahlreiche andere Hofkritiker des 12. Jhs. – im Umkreis des englischen Hofes bewegte. Zum ma. Saiteninstrument der Rotte und seiner von der Forschung unterschiedlich hoch beurteilten zeitgenössischen Wertschätzung vgl. weiterführend etwa Eitschberger, Musikinstrumente, S. 50 – 53, oder Krohn, Kommentar, S. 194. Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 129. Zur Konzeption der Gandin-Figur siehe etwa Krohn, Kommentar, S. 194– 198, Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 130 – 147, Dicke, Gouch Gandin, hier v. a. S. 140 f., oder Gnädinger, Musik und Minne, S. 51– 54. Überaus ironisch erscheint vor dem skizzierten Hintergrund weiterhin, dass Tristan Marke am Ende der Episode mit folgenden Worten streng für dessen Verhalten tadelt: ‚hêrre‘ sprach er ‚wizze crist, / sô lieb als iu diu künegîn ist, / sô ist ez ein michel unsin, / daz ir si gebet sô lihte hin / durch harpfen oder durch rotten. / ez mac diu werlt wol spotten. / wer gesach ie mêre künigîn / durch rottenspil gemeine sîn? / her nâch sô bewâret daz. / und hüetet mîner vrouwen baz!‘ (V. 13441– 13450). Immerhin hat sich Gandin hier ja nur genau derjenigen (musikalischen) Strategie bedient, welche auch Tristan zuvor bereits mehrfach zu seinem Vorteil benutzt hat. Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 134. Ähnlich urteilt auch Dicke, Gouch Gandin, S. 140, nach dem Marke bei Gottfried ganz klar „die Hauptschuld an der Entführung seiner Gattin tragen soll, weil er einem durch manchen Fauxpas […] auffälligen und damit wenig vertrauenerweckenden Ritter aus altem Feindesland für ein Rottenspiel verspricht: ‚welt ir iht, des ich han, / daz ist allez getan‘
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Und auch, wenn der König Tristan im Anschluss an seinen ersten Auftritt in Cornwall wissen lässt, dass er solche Lieder in Zukunft gerne am Abend hören würde – und zwar immer dann, wenn jener (d. h. Tristan!) nicht schlafen könne, da das ihnen beiden gut tun werde – erscheint mir dies mehr zu sein als bloß eine höfisch-höfliche Floskel.²¹¹ Vielmehr muten Markes Worte wie eine eigenartig deplatzierte Geste der Unterordnung gegenüber Tristan an. Dieser Eindruck verstärkt sich sogar noch weiter, wenn man zum Vergleich noch einmal die Tristrams Saga heranzieht. Hier lautet die entsprechende Textstelle in der deutschen Übersetzung Eugen Kölbings nämlich: „Da sprach der könig zu ihm: ‚[…] du sollst zu nacht in meinem zimmer sein, und mich durch dein kunstfertiges harfenspiel beruhigen, wenn ich wach liege“.²¹² Dass der mächtige König von Cornwall und England bei Gottfried angesichts der besonderen musikalischen Kunstfertigkeiten Tristans – im Voraus, freiwillig, ja völlig ungefragt – die Bereitschaft ausdrückt, seine Launen und Bedürfnisse hinter denjenigen eines fremden Kindes anstellen zu wollen, wird auch auf ein zeitgenössisches Publikum irritierend gewirkt haben. Denn das aus hochmittelalterlicher Sicht sozialhierarchisch eigentlich sehr klar definierte Verhältnis zwischen dem sich als Spielmann ausgebenden Tristan und dem König Marke scheint hier in der Tat kurzfristig geradezu in sein Gegenteil zu kippen: Statt von Tristan, gemäß seiner königlichen Position, schlicht und einfach einzufordern, dass dieser ihm von nun an mit seinen musikalischen Kunstfertigkeiten zu Diensten sei – eine einem Herrscher nur angemessene Attitüde, wie sie in den imperativischen Formulierungen der Saga deutlich zum Ausdruck kommt –, bietet Marke dem Knaben hier unterwürfig-schmeichlerisch, ja diesen geradezu hofierend, seine Gesellschaft für zukünftige schlaflose Nächte an.²¹³ Groteskerweise scheint es damit vorübergehend beinahe so, als sei es eigentlich Marke, der hier um die Gunst Tristans buhlen müsse, und nicht umgekehrt – um die Gunst eines Knaben, der nach eigener Aussage des Königs alles kann, was er selbst gern könnte: jagen, sprâche und vor allem seitspil (V. 3724). Denkt man in diesem Zusammenhang noch einmal zurück an die Ausführungen Johannes’ von Salisbury, welcher die Haltung adliger Gönner gegenüber musikalischen Unterhaltungskünst-
(v. 13193 f.)“; ganz anders dagegen Kelley Kucaba: (Behind) The Scenes, (Behind) The Signs: Some Pragmatic Reflections on Courtliness in Gottfried’s Tristan. Washington D. C. 1997, S. 142– 160. Allgemein zur Darstellung Markes im Rahmen der Gandin-Episode siehe weiterhin auch Krohn, Kommentar, S. 195 – 198, oder Hollandt, Hauptgestalten, S. 63. Diesen interessanten Aspekt der Darstellung Gottfrieds hebt bereits C. Stephen Jaeger: Gottfried’s ‚Tristan‘ as courtier romance. In: Nu lôn’ ich iu der gâbe: Festschrift for Francis G. Gentry. Hrsg. von Ernst Ralf Hintz. Göppingen 2003 (GAG. 693), S. 133 – 158, hier S. 146, hervor. Vgl. dazu im Einzelnen auch erneut V. 3652– 3655 des Tristan. Tristrams Saga, S. 130. Und dort weiter: „Er [Tristan; J. S.-B.] begleitete den könig den tag über bei seinen belustigungen und in den nächten diente er ihm durch sein harfenspiel.“ Hervorhebung J. S.-B. Vgl. hierzu auch die diesen Befund stützenden beiläufigen Ausführungen Gruenters, Der Favorit, S. 116 f., der Markes Angebot an Tristan als einen „Akt königlicher Schwärmerei“, der jeglicher „Besonnenheit“ entbehre, bezeichnet, und die Gefühle des Königs für den Knaben in diesem Zusammenhang als Ausdruck einer „fast unterwürfige[n] Zärtlichkeit“ deutet. Hervorhebung J. S.-B.
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lern als nahezu sklavische Verfallenheit beschreibt – ein jeglicher göttlicher Ordnung aus seiner Sicht völlig widerstrebendes Phänomen –, zeigt sich Gottfrieds Darstellung auch an dieser Stelle noch einmal durchzogen von hofkritischen Denkmustern. Schließlich lassen sich sowohl hinsichtlich der Wirkung der höfischen Musik auf die cornische Hofgesellschaft als auch ihres narrativen Stellenwerts innerhalb der vorliegenden Episode Reminiszenzen an den im Policraticus beiläufig erwähnten Riesen Argos nachweisen. Während Argos’ Funktion sich bei Johannes allerdings, ohne jegliche Reflexion seiner Rolle innerhalb der Liebesgeschichte zwischen Zeus und Io, auf die wenig spezifische Mahnung zur Wachsamkeit beschränkt, macht sich Gottfried den Erzählkern des unheilvollen einschläfernden Flötenspiels poetischkreativ zu Nutze.²¹⁴ So überblendet er Tristans betörendes, eben auch die Augen der Höflinge fesselndes Musizieren vor der Markegesellschaft (V. 3606 – 3608: dane wart ouch ougen niht gespart, / der kapfete vil manegez dar / und nâmen sîner hende war), welches an Hermes’ musikalische Überwindung des hundertäugigen Riesen erinnert, im Zuge seiner spezifischen Ausgestaltung der Harfenkonzert-Episode mit anderen narrativen Mustern (David, Orpheus).²¹⁵ Genau wie Hermes gelingt nämlich auch Tristan hier durch sein Spiel das nahezu Unmögliche: Während es ersterer auf diese Weise schafft, eine – bedingt durch ihre monströse Körpergröße und außergewöhnliche Physis mit hundert, niemals gleichzeitig schlafenden Augen – eigentlich unangreifbare Kreatur musikalisch zu überwinden und im Anschluss Io zu verschleppen, verschafft sich der landesfremde, angebliche Kaufmannsohn innerhalb kürzester Zeit und scheinbar mühelos „die Position […], die am Hof die begehrteste jeden Höflings ist, die der unmittelbaren Nähe zum Herrscher“.²¹⁶ Überdies wohnt der Musik in
Für Kästner, Harfe und Schwert, S. 61, handelt es sich bei dieser verhüllten „Anspielungstechnik“, die die biblischen und antiken „Grundmuster [zwar] durchscheinen, niemals aber einseitig dominant werden läßt“, um ein „wesentliches Merkmal von Gottfrieds Kunst“: „Der durch solche ‚eingewobene‘ Gestaltmuster und Bildformen unterschwellig, d. h. oft mehr durch Assoziationen konkretisierbare Bedeutungsgehalt wird von Gottfried stets nur zur Akzentuierung, Paraphrasierung oder Stützung eines Teils der eigenen Sinngebung verwendet.“ Kästners hier zitierte Ergebnisse gewinnt er freilich an anderen Passagen des Gottfriedschen Romans; sie lassen sich aber auch auf die vorliegende Textstelle übertragen. So die These Kästners, Harfe und Schwert, S. 47– 96. Die von Kästner (ebd., S. 56) herausgearbeiteten Motiv-Parallelen zwischen Tristans Spiel vor Marke und des biblischen Davids vor Saul („mit Schönheit, Mut und Klugheit ausgestatteter, von Gott auserwählter jugendlicher Held und Musiker, Aufnahme am Hof, Spiel vor dem König, therapeutische, die Unruhe beschwichtigende Wirkung des Harfenspiels“) erscheinen mir allerdings gerade im Hinblick auf die Wirkung des Harfenspiels im Tristan nicht zutreffend. Im weiteren Verlauf zieht Kästner (ebd., S. 77) zur Analyse der Musikdarstellung dann allerdings auch zusätzlich die antike Orpheusgestalt heran, der „wie keine andere mythische Figur die Bann- und Zauberkraft der Musik bei Griechen, Römern und auch im Mittelalter“ verkörpere. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 152. Zur Exzeptionalität von Tristans (aus Sicht der über die Verwandtschaftsverhältnisse Tristans und Markes noch nicht informierten Hofgesellschaft auch ständischer) Aufstiegsgeschichte am Hof von Cornwall, die Schausten (ebd.) betont, vgl. zuvor auch Gruenter, Der Favorit, S. 115. Siehe dazu schließlich auch die in eine ähnliche
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beiden literarischen Kontexten ein mehr oder minder starkes Moment des UnheilvollBedrohlichen inne:²¹⁷ Zwar bedeutet diese für die Markegesellschaft – im Gegensatz zu Argos – nicht direkt den Tod; doch dadurch, dass Tristan von nun an zu jeder Tagesund Nachtzeit Zutritt zu den Gemächern des Königs hat, wird im Rahmen des vorliegenden Handlungsabschnitts nicht zuletzt auch „motivierend […] der Weg dafür gebahnt, dass Tristan später Isolde als Königin nahe sein kann“.²¹⁸ Bislang ist hier nur die Rede von Gottfrieds ambivalenter Darstellung der cornischen Hofgesellschaft gewesen, doch erscheint darüber hinaus auch das Verhalten seines männlichen Protagonisten an zumindest einer Stelle der untersuchten Episode fragwürdig. So lässt Tristan im Rahmen seiner Unterhaltung mit Marke über die zahlreichen Saiteninstrumente, die er beherrscht, unter anderem auch den mysteriösen Namen sambjût fallen (V. 3682).²¹⁹ Dies löst beim König große Verwunderung aus: ‚sambjût, waz ist daz, lieber man?‘ (V. 3683), fragt er den Knaben, und die Antwort Tristans lautet: ‚daz beste seitspil, daz ich kan‘ (V. 3684). Wie an der Frage Markes bereits deutlich wird, handelt es sich um einen „für das fiktive Publikum Tristans und damit auch das reale Publikum Gottfrieds […] ungewöhnlichen Begriff“.²²⁰ Bei einem lateinisch gebildeten zeitgenössischen Textrezipienten wird dieses Wort, so Martin van Schaik, vermutlich Assoziationen zur sogenannten sambuca ausgelöst haben, welche „in der Vulgata-Version des Buches Daniel viermal unter reihenweise aufgezählten Instrumenten“, und zwar konkret im Zusammenhang mit dem musikalischen Aufwand beim Götzendienst Nebukadnezars genannt wird (Daniel 3,5; 3,7; 3,10; 3,15).²²¹ Nach Meinung der jüngeren Forschung handelt es sich dabei höchstwahrscheinlich um ein „dreieckiges Saiteninstrument“²²² der Antike, von dem man im westeuropäischen Hochmittelalter, d. h. Jahrhunderte nach seinem Untergang, jedoch
Richtung wie meine These weisenden Ausführungen von Petrus W. Tax: Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. Studien zum Denken und Werten Gottfrieds von Straßburg. Berlin 1961 (Philologische Studien und Quellen. 8), S. 30 („[Tristan] wird nicht wenig bestaunt und beneidet [3706 ff.]. So überrumpelt er ‚spielend‘ Marke und seinen Hof“), und Gnädinger, Musik und Minne, S. 39 („König Marke ist [nach Tristans Darbietung; J. S.-B.] vorbehaltlos begeistert, er ist gewissermaßen geschlagen“). Hervorhebungen jeweils J. S.-B. Sofern man von der altnordischen Thomasnachdichtung des Mönchs Robert, wo sich keine vergleichbare Passage findet, auf den Thomasschen Tristan zurückschließen kann, stellt wohl auch dieser Aspekt eine inhaltliche Neuerung Gottfrieds dar; vgl. dazu Tristrams Saga, S. 130. Bielitz, Wertung von Musik, S. 372. In der altnordischen Prosaversion ist von einem solchen Instrument nirgendwo die Rede. Es handelt sich hierbei also offenbar erneut um eine Eigenzutat Gottfrieds; vgl. dazu die Tristrams Saga, S. 130. Eitschberger, Musikinstrumente, S. 34. Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1029. Dieser dort weiter: „Die Vulgata gibt mit sambuca den Namen sabekka wieder, der vermutlich aramäischen Ursprungs ist. […] Das so bezeichnete Instrument war der jüdischen Musikkultur fremd: Es stammte aus einem heidnischen Gebiet, und außer im Buch Daniel wird es in keinem Buch der Bibel erwähnt“; ebd., S. 1030. Eitschberger, Musikinstrumente, S. 34.
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definitiv keine feste Vorstellung mehr hatte: Selbst „[f]ür […] Bibelexegeten und Gelehrte[], die sich notwendigerweise damit befassen mußten, war [die sambuca; J. S.-B.] nur noch ein ‚literarischer Schemen‘.“²²³ Die hier verwendete, seltsame Namensform sambjût hat Gottfried dabei offenbar aus dem Französischen übernommen.²²⁴ Vor dem skizzierten Hintergrund ist die Aussage Tristans, er beherrsche u. a. auch das Spiel auf der sambjût, also mit Martin van Schaik als ein wohlkalkulierter „Bluff“ des Protagonisten zu werten: „So genießt denn Tristan als Musiker einen gewaltigen Kredit bei Hofe. Es ist ein sicherer Kredit, weil doch niemand jemals eine sambjut herbeischaffen wird.“²²⁵ Dass Tristan, der umfassend höfisch-musikalisch gebildete Wunderknabe, sich hier – und zwar nachdem Marke ihn ohnehin bereits offiziell zu seinem neuen Hofmusiker ernannt hat – zu der Behauptung hinreißen lässt, er spiele ein zu Gottfrieds Lebzeiten längst ausgestorbenes, mysteriöses biblisches Instrument, ist irritierend. Dieser Eindruck wird außerdem dadurch verstärkt, dass dieses – wie auch immer geartete – antike Instrument aufgrund seines biblischen Ursprungskontexts (Babylon, musikalischer Götzendienst etc.), auf den übrigens auch Johannes von Salisbury mehrfach Bezug nimmt, durchweg negativ konnotiert ist.²²⁶ Insofern treten hier an Gottfrieds Helden, der sich aufgrund seiner früheren Erfahrungen mit der Markegesellschaft im Hinblick auf deren Begeisterung für (angebliche) neue höfische
Ebd., S. 36. Bei Eitschberger (ebd., S. 34– 36) und Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1029 – 1032, finden sich weitere Informationen zu diesem rätselhaften Instrument der Antike, seinem literarischen Vorkommen und seinen vielfältigen Auslegungen (bspw. als eine Art Pfeife/Flöte, Saiteninstrument oder sogar eine Trommel) in der ma. Literatur. In der Volkssprache gibt es nach Eitschberger, Musikinstrumente, S. 35 – 37, – abgesehen von Gottfrieds Tristan – nur noch zwei weitere Belege: So tauche der Begriff (als sambuce) erstmals in der Anfang des 12. Jhs. entstandenen Dichtung Die drei Jünglinge im Feuerofen auf, wo er allerdings explizit „in inhaltlicher Beziehung zu den genannten Bibelstellen“ des Alten Testaments stehe (Zitat ebd., S. 35). Nach Gottfried liege dann auch nur noch ein weiterer volkssprachlicher Beleg vor, welcher zudem wohl direkt vom Tristan abhängig sei: In einem Leich, der unter dem Namen Rudolfs von Rothenburg überliefert ist, finde sich im Zusammenhang mit der Lobpreisung Mariens, eingebettet in ein Umfeld von Saiteninstrumenten, die Form sanbût. Vgl. Eitschberger, Musikinstrumente, S. 36: Mfr. sambue sei als Glosse zu lat. psalterium belegt (Ms. Montp. H 110, f. 212v). Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1032. Dieser hier weiter: „Tristan darf sicher sein: Die sambuca und mit ihr die sambjut ist und bleibt ein Instrument ohne Eigenschaften, an denen es zu erkennen wäre, falls es aus dem grauen chaldäischen Altertum noch auftauchen sollte.“ Ähnlich, aber etwas schwächer dazu auch Eitschberger, Musikinstrumente, S. 37. Vgl. dazu Policraticvs, S. 49: Qui autem uoluptatis aut uanitatis affectus exprimit, qui uocis gratiam prostituit concupiscentiis suis, qui lenociniorum clientulam musicam facit, ignorat quidem canticum Domini, modis Babyloniis festiuus in terra aliena (‚Derjenige, der damit [mit der Musik, J. S.-B.] Wollust oder Eitelkeit zum Ausdruck bringt, der den Einfluss der Singstimme seinen eigenen Begierden unterwirft, der die Musik zur Dienerin sexueller Verführung macht, kennt freilich den Gesang des Herrn nicht und feiert mit babylonischen Gesängen in einem fremden Land‘). Die Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln).
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Fachterminologie sicher sein kann, mitunter auch Züge eines Blenders hervor.²²⁷ Eine Kommentierung dieses Verhaltens findet allerdings weder durch den Erzähler, noch durch eine der handelnden Figuren statt – der Rezipient ist somit im Hinblick auf die Bewertung der erzählten Vorgänge auf sich allein gestellt.
2.2.2 Ein Harfenspiel um Leben und Tod: Tristans Ankunft am irischen Hof Wenden wir uns nun einer weiteren Episode des Gottfriedschen Romans zu, nämlich Tristans erstmaligem Zusammentreffen mit der irischen Königin Isolde.²²⁸ Die Handlung ist bekannt: Nachdem Tristan im Kampf mit dem hünenhaften Recken Morold mit einem vergifteten Schwert am Oberschenkel verletzt worden ist, beschließt der Held, alles auf eine Karte zu setzen und nach Dublin zu segeln.²²⁹ Denn die langfristig tödliche Wunde kann, wie sein Gegner geprahlt hatte, nur von der Herstellerin des Toxikums geheilt werden, wobei es sich ausgerechnet um dessen Schwester Isolde, die mächtige Königin des mit Cornwall verfeindeten Irlands handelt.²³⁰ Das einzige aus
Vgl. dazu Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 149 – 151. Darüber hinaus lässt sich die Erwähnung des Instrumentennamens sambjut in diesem Kontext allerdings auch schlicht als ein publikumsbezogener Bluff seitens des Dichters werten; vgl. Van Schaik, Musik, Aufführungspraxis und Instrumente im Tristan-Roman, S. 1032. Die zu untersuchende Episode umfasst im Tristan die Verse 7503 – 7972 und fand sich wohl bereits im Tristan des Thomas von Britannien. In der altnordischen Prosafassung hat sie Eingang in das 30. Kapitel gefunden; vgl. dazu die Tristrams Saga, S. 141 f. Allerdings hat Gottfried in diesem episodischen Zusammenhang offenbar einige beträchtliche Änderungen gegenüber seiner Quelle vorgenommen, die im Folgenden – wo erhellend im Hinblick auf meine Ausführungen – noch angesprochen werden. Morold hält sich zu diesem Zeitpunkt in Cornwall auf, um im Auftrag seines Schwagers, des irischen Königs Gurmun, von Marke einen schmachvollen Tribut zu fordern. Tristan zeigt sich angesichts der Feigheit der cornischen Ritter, die sich aus Angst dazu bereit erklären, den von irischer Seite geforderten Menschenzins weiterhin zu zahlen, entrüstet. Er erklärt sich daher, obwohl ihn die Tributforderungen gar nicht selbst betreffen, zum Zweikampf gegen Morold bereit. Morold stirbt dabei durch Tristans Schwert (V. 5866 – 7230). Nachdem man in Irland vom Tode Morolds erfahren hat, verhängt König Gurmun ein strenges Einreiseverbot für alle Menschen aus Cornwall in sein Land. Bereits der Versuch einer Einreise soll grundsätzlich mit dem Tod bestraft werden, wozu es nach Aussage des Erzählers vor Tristans Ankunft in Irland wohl auch einige Male kommt; vgl. dazu V. 7204– 7222. Obwohl von Gottfrieds Erzähler an keiner Stelle explizit erwähnt wird, dass es sich bei der alten Isolde um die Herstellerin des Giftes an Morolds Schwert handelt, besteht aufgrund diverser auffälliger Indizien, die im Roman dafür sprechen, in dieser Hinsicht Forschungskonsens; vgl. dazu etwa Albrecht Classen: Female agency and power in Gottfried von Strassburg’s ‚Tristan‘: The Irish Queen Isolde. New Perspectives. In: Tristania 23 (2004), S. 39 – 60, hier S. 45, Anm. 17, oder auch Katja Altpeter-Jones: Love Me, Hurt Me, Heal Me – Isolde Healer and Isolde Lover in Gottfried’s Tristan. In: The German Quarterly 82 (2009), S. 5 – 23; hier S. 7 u. 12. Zum außergewöhnlich großen politischen Einfluss der alten Isolde bei Gottfried siehe ausführlich Classen, Female agency and power in Gottfried von Strassburg’s ‚Tristan‘, und ders.: Matriarchy versus Patriarchy: The Role of the Irish Queen Isolde in Gottfried von Strassburg’s ‚Tristan‘. In: Neophilologus 73 (1989), S. 77– 90.
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seinem Besitz, was Tristan mit auf diese Reise nimmt – und somit offensichtlich auch das einzige, von dem er glaubt, dass es ihm bei dieser höchst riskanten Unternehmung nützlich sein könnte – ist, wie der Erzähler betont, bezeichnenderweise seine Harfe (V. 7359 – 7361).²³¹ Als das Schiff nach einigen Tagen die irische Küste erreicht, legt der Held daz aller ermeste gewant, / daz man in der barken vant (V. 7421 f.) an, verabschiedet sich von seinen acht ritterlichen Begleitern und steigt allein in ein kleines Boot um.²³² So finden ihn dann am nächsten Morgen, Harfe spielend, auch die begeisterten boten von Dublin auf (V. 7512).²³³ Diese bieten dem sich aus Tarnungszwecken als höfscher spilman (V. 7560) namens Tantris ausgebenden Tristan sogleich ihre Hilfe an und nehmen ihn mit „in die für Leute aus Cornwall seinetwegen verbotene Stadt“.²³⁴ Die sich wie ein Lauffeuer in Dublin verbreitende Kunde vom hochbegabten und doch todkranken fremdländischen Spielmann gelangt nach einer Weile auch an den irischen Hof, wo sie zunächst v. a. das Interesse des Hauslehrers der Königin und ihrer Tochter weckt. Dabei handelt es sich um einen überaus gebildeten und musikbegeisterten Hofkleriker, welcher, nach Aussage des Erzählers, an vuoge unde an höfscheit / hæte […] gewendet unde geleit / sîne tage und sîne sinne (V. 7705 – 7707).²³⁵ Nachdem der pfaffe (V. 7697) sich zunächst höchstpersönlich von Tristans sensationellem Talent überzeugt hat, sieht er es nur als seine Pflicht an, auch seiner königlichen Schülerin von einem solchen ‚spielmännischen‘ wunder (V. 7746) zu berichten. Im Handumdrehen lässt die alte Isolde den musikalischen Wunderknaben durch ihre Diener an den irischen Hof bringen und unterzieht dort zuallererst seine lebensbe-
Diesen Aspekt hebt auch Hollandt, Hauptgestalten, S. 91, hervor. Gottfried weicht mit seiner Darstellung in dieser Hinsicht (wahrscheinlich) ein weiteres Mal erheblich von seiner Vorlage ab: So ließ sich Tristan auf seiner ersten Irlandfahrt bei Thomas wohl ziellos in seinem Boot treiben und wurde nur zufällig-schicksalhaft vom Wind nach Irland verschlagen; vgl. dazu die Tristrams Saga, S. 141: „Nun wurden sie so lange im meere umher getrieben durch sturm und wogen, dass sie nicht wussten, wo sie sich befanden; schliesslich aber gelangten sie nach Irland, und als ihnen gesagt wurde, wo sie hingerathen seien, da war Tristram voll furcht darüber, dass der könig und seine feinde erfahren möchten, wer er wäre und legten sich deshalb den namen Tantris bei.“ Vgl. dazu außerdem auch Thomas: Tristan. Eingeleitet, textkritisch bearbeitet und übersetzt von Gesa Bonath. München 1985 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben. 21), S. 38. Zu Sinn und Zweck dieser Verkleidung siehe Kropf, Musik zur Darstellung von Emotionen, S. 384, Anm. 11: „Tristan ist nicht nur ein brillanter Musiker, sondern auch ein gewiefter Inszenator Mitleid erregender Widersprüche. Seinem elenden Äusseren [sic] verschafft er mit den schäbigen Kleidern das entsprechende Kostüm und verstärkt so den Überraschungseffekt, der sich bei den Boten einstellen muss, sobald sie ihn sehen können.“ Unter den Boten soll man sich nach Eitschberger, Musikinstrumente, S. 31, wohl „eine Art Wächter [vorstellen], die die fremden ankommenden Schiffe kontrollieren“. Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 338. Den Boten gegenüber behauptet Tristan/Tantris zudem, er stamme aus Spanien (V. 7579: dâ heime ze Hispanje). Zur Darstellung der Hofklerikerfigur bei Gottfried siehe v. a. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 296, welcher in dieser „unter Umständen“ eine „Selbstdarstellung des Dichters hinsichtlich seines Standes und seiner Aufgabe“ sieht. Thomas hat von einer solchen Figur jedenfalls offenbar noch nicht erzählt; vgl. dazu erneut die Tristrams Saga, S. 141.
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drohliche, stark übelriechende Wunde einer eingehenden Untersuchung. An deren Zustand und v. a. ihrer besonderen Färbung erkennt die Königin recht schnell, dass Tristan vergiftet worden sein muss: ‚ach armer spilman‘, sprach si sâ / ‚dû bist mit gelüppe wunt‘ (V. 7772f.). Dieser stellt sich seiner Todfeindin gegenüber allerdings gänzlich unwissend und teilt ihr stattdessen auf herzzerreißende Weise seine Befürchtungen mit, ohne Hilfe vermutlich schon sehr bald sterben zu müssen.²³⁶ Nachdem die alte Isolde Tristan dann zumindest einmal nach seinem Namen gefragt hat – ‚vrouwe, ich heize Tantris‘ ist seine Antwort (V. 7787) – beschließt sie, sich als seine arzât (V. 7791) von nun an höchstpersönlich um die Behandlung der lebensbedrohlichen Wunde bemühen. Doch auch angesichts von Tristans ausgesprochen schlechtem gesundheitlichen Zustand – wie die Boten zuvor berichten, sieht Tristan in der Tat auch aus, als ob er stirbet morgen oder noch (V. 7651) – kann die hochgebildete Königin das Begehren nach seiner Musik kaum noch zügeln: ‚Tantris‘ sprach aber diu künigîn ‚möhte ez an dînen staten gesîn, wan dazt aber alse uncreftic bist, als ez kein wunder an dir ist, sô hôrte ich gerne harpfenspil. des kanstu, hœre ich sagen, vil.‘ (V. 7799 – 7804)
In Anbetracht seiner mehr als brenzligen Lage stimmt der Held diesem Wunsch der Königin natürlich zu, doch bevor er zu harfen und zu singen beginnt, lässt die alte Isolde noch schnell nach ihrer Tochter schicken. Unter ihrer beider wachsamen Blicken beginnt Tristan nun, von neuer Hoffnung beflügelt, das Spiel auf der Harfe. Obwohl die Musik hier nur in verhältnismäßig wenigen Versen beschrieben wird, stellt sie nach Aussage des Erzählers alle bisherigen Leistungen Tristans in den Schatten: Nie zuvor habe der junge Mann besser geharft als jetzt und hier, am Dubliner Hof, vor seiner Todfeindin und deren wunderschöner Tochter (V. 7820 f.). Darüber hinaus verweist der Erzähler hier allerdings auch explizit auf die strategische Komponente des Harfenspiels des Protagonisten:²³⁷ er machete ez in sô rehte guot mit handen und mit munde, daz er in der kurzen stunde ir aller hulde alsô gevienc, daz ez im z’allem guote ergienc. (V. 7828 – 7832)
Noch mehr als zuvor am Markehof setzt Tristan seine musikalischen Fähigkeiten hier also zur Erringung eines persönlichen Ziels ein, denn er spielt, im wahrsten Sinne des Vgl. dazu V. 7774– 7784: ‚ine weiz‘ sprach Tristan sâ zestunt / ‚ine kann niht wizzen, waz ez ist, / wan mir enmac kein arzâtlist / gehelfen noch gevrumen hie zuo. / nune weiz ich mêre, waz getuo, / wan daz ich mich gote muoz ergeben / und leben, die wîle ich mac geleben. / swer aber genâde an mir begê, / sît ez mir kumberlîche stê, / dem lône got: mirst helfe nôt, / ich bin mit lebendem lîbe tôt‘. Vgl. Kästner, Harfe und Schwert, S. 89.
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Wortes, um Leben und Tod. Doch obwohl die beiden Isolden ob der sensationellen musikalischen Kunstfertigkeiten des Helden mehr als entzückt sind, zwingt der hässliche Gestank seiner Wunde sie bereits nach kurzer Zeit dazu, den Raum wieder zu verlassen. Zuvor ernennt die überaus beeindruckte irische Königin den Knaben allerdings noch spontan zum neuen Hauslehrer ihrer Tochter, welcher – im Gegenzug für sein (ihm ja schon im Vorfeld zugesichertes) Leben – deren ohnehin exzellente, durch den pfaffen vermittelte höfische Bildung noch weiter vervollkommnen soll.²³⁸ Tristan nimmt dieses aus Rezipientensicht einigermaßen überraschende Angebot der Königin, wodurch der angebliche Spielmann hier innerhalb kürzester Zeit erneut Aufnahme in den „inneren Zirkel der […] Hofgesellschaft“ findet, selbstverständlich an.²³⁹ Zugleich lässt er es sich aber auch nicht nehmen, vor der alten Isolde noch einmal nachdrücklich seine herausragenden musikalischen Fähigkeiten zu betonen: Ganz sicher sei er sich, so der Held in diesem Zusammenhang, ‚daz [s]îner jâre kein man / sô manic edele seitspil‘ könne (V. 7875 f.).Von der gespielten Bescheidenheit, die Tristan während des Harfenkonzerts am Markehof an den Tag legte, ist am irischen Hof in Anbetracht seines kritischen Gesundheitszustands also nur noch wenig zu spüren. Bedingt durch das „superior medical knowledge“²⁴⁰ und die aufopferungsvolle medizinische Pflege der Königin ist der Knabe allerdings bereits nach zwanzig Tagen schon wieder vollständig genesen und tritt sodann seine ehrenvolle neue Position am irischen Hofe an. Erneut hat die Forschung die Funktion dieser – zugegebenermaßen bislang von ihr nicht gerade viel beachteten – Episode des Gottfriedschen Romans in erster Linie darin gesehen, Tristan als überragenden höfischen Musiker zu inszenieren. So erscheint der Protagonist hier in den Augen Hannes Kästners als „Protegé der irischen Fürstinnen, der den Hofkleriker überbiete[]“, indem er „alle Kenntnisse und Fertigkeiten“, welche dieser „Isolde bislang vermittelt ha[be], noch verbessern k[önne]“.²⁴¹ Und in der Tat schlägt Tristan, nach dem walisischen Spielmann am Markehof, nun auch den höfischen clericus, der am irischen Hof, bevor der Held ihn aus seiner Stellung verdrängt, zum innersten Zirkel der Königin gehörte, auf dessen „ureigenstem Gebiet, der intellektuellen und künstlerischen Qualifikation, aus dem Felde“.²⁴² Aus interdiskurstheoretischer Sicht greift eine solche Lesart allerdings erneut zu kurz, da sie die Durchzogenheit auch dieses Handlungsabschnitts von hofkritischen Allusionen ausblendet. Wie schon im Fall von Tristans Harfenkonzert am Markehof lässt
Isolde ist von ihrem klerikal gebildeten Hauslehrer bereits seit frühester Kindheit in Buchwissen, fremden Sprachen und Saitenspiel unterrichtet worden.Vgl. dazu im Einzelnen V. 7720 – 7724 u. 7979 – 7993 des Tristan. Albrecht Classen: Sprache und Gesellschaft – Kommunikative Strategien in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. In: Europäische Literaturen im Mittelalter. Mélanges Wolfgang Spiewok. Hrsg. von Danielle Buschinger. Greifswald 1994 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter. 15), S. 79 – 98, hier S. 93. Classen, Female agency and power in Gottfried von Strassburg’s ‚Tristan‘, S. 41. Kästner, Harfe und Schwert, S. 32. Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 339.
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sich dabei auch hier eine charakteristische Streuung der interdiskursiven Bezugnahmen feststellen. So werden mit den ausgesprochen höfisierenden Beschreibungen von Tristans Harfenspiel erneut die problematischen Reaktionen v. a. seiner adligen Zuhörerschaft kontrastiert, welche gemäß den Regeln des hofkritischen Diskurses gestaltet sind. Durch den gezielten Wechsel zwischen den konkurrierenden Diskurspositionen wird dabei erneut mit der rezipienteneigenen Erwartungshaltung gebrochen und das erzählte Geschehen auf diese Weise grundlegend ambiguisiert. So ist im engen Anschluss an die ästhetisierende Diktion der HarfenkonzertEpisode auch bei Tristans Ankunft in Irland zunächst ausführlich von der überragenden Schönheit seines Gesangs und Harfenspiels die Rede: Weder der Erzähler, noch die von Develîn (V. 7507) werden es hier müde, die unvergleichliche süeze der höfischen Tonkunst des Protagonisten zu betonen (V. 7516 f., 7518, 7608, 7676, 7748); der Hofkleriker bezeichnet diese gar einmal als ein wunder (V. 7746). Gemäß den Regeln des höfischen Diskurses bewirken Tristans musikalische Darbietungen bei den Bürgern der Stadt des Weiteren zunächst vor allem vröude (V. 7524) und kurzewîle (V. 7539), darüber hinaus aber auch schon jenes strategisch provozierte erbarmen (V. 7677), das ihn schließlich zum irischen Hof führen wird. Dort erfolgt dann der entscheidende diskursive Umschlag: Denn auch wenn Tristans Auftritt vor den beiden Isolden, wohl zur Vermeidung von Redundanz, vom Erzähler hier nicht mehr im Detail beschrieben wird, lässt sich die übermäßige Musikleidenschaft der irischen Königin doch bereits an den besonderen äußeren Umständen ablesen: Aufgrund der lebensbedrohlichen Verletzung, die er von Morolds Schwert davongetragen hat, befindet der Held sich nämlich, wie eingangs bereits erwähnt, zu diesem Zeitpunkt in einem äußerst besorgniserregenden physischen Zustand. Dabei akzentuiert die Erzählung die todbringende Wunde Tristans allerdings nicht nur als ein persönliches, sondern auch als soziales Problem: Denn schon in Cornwall fällt der Held durch den scheußlichen, ja geradezu ekelerregenden Geruch (V. 7276: griulîchen smac), der von seiner Wunde ausgeht, seinem näheren Umfeld immer mehr zur Last, was ihn nicht zuletzt aufgrund des Umstands, dass er dadurch mehr und mehr in die soziale Isolation gerät, stark bedrückt.²⁴³ So bemerkt der Erzähler kurz vor Tristans Abreise nach Irland, es sei zu diesem Zeitpunkt wohl sein meistez ungemach gewesen, dass er, eben aufgrund der von seiner Wunde ausgehenden Ausdünstungen, alle zît wol sach, / daz er den begunde swâren, / die sîne vriunde ê wâren (V. 7279 – 7282).²⁴⁴ Als der Held einige Zeit später dann schließlich seiner Todfeindin, der irischen Königin, gegenübersteht, scheint sich dieser Zustand eher verschlimmert als verbessert zu haben. Denn, wie der Erzähler bemerkt, hat der Gestank, der von seiner vergifteten Wunde ausgeht, mittlerweile ein solches Ausmaß angenommen, daz nieman keine stunde / bî ime belîben kunde (V. 7837 f.). Tristans musikalische Darbietung am irischen Hof findet demnach Vgl. Classen, Matriarchy versus Patriarchy, S. 80. Vgl. hierzu erneut auch die noch etwas drastischere Formulierung bei Bruder Robert: „[…] es wurde da seinen verwandten und freunden zuwider, bei ihm zu sitzen, wegen des gestankes, der von ihm ausging“; Tristrams Saga, S. 141.
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also – und diesen, von der Forschung bislang noch nicht berücksichtigten Aspekt sollte man sich im vorliegenden Zusammenhang einmal deutlich vor Augen führen – in einem geschlossenen Raum statt, welcher von einem nahezu unerträglichen Gestank erfüllt ist. Dass nicht einmal dieser denkbar abschreckende Umstand die vornehme irische Königin davon abhalten kann, den halbtoten Helden, unmittelbar nachdem sie seine Bekanntschaft gemacht hat, um eine Kostprobe seiner musikalischen Kunstfertigkeit zu bitten (statt damit schlicht bis zu seiner Genesung zu warten), mutet geradezu bizarr an. Gottfrieds Schilderung scheint hier in der Tat kurzzeitig ins Groteske umzukippen, was die der irischen Königinnenfigur von ihm zugeschriebene Musikversessenheit – ein von Tristan, wir erinnern uns, bereits im Vorfeld seiner Reise antizipierter Wesenszug – wohl wie kein anderer narrativer Aspekt der vorliegenden Episode zu verdeutlichen vermag.²⁴⁵ Aufschlussreich erweist sich in diesem Zusammenhang übrigens auch noch einmal ein Vergleich mit der altnordischen Prosafassung: Hier ist nämlich von einem solchen – oder von irgendeinem anderen – Auftritt Tristans am irischen Hof an keiner Stelle die Rede, was wiederum wahrscheinlich macht, dass Gottfried in diesem Punkt (wenn Bruder Robert Thomas denn richtig wiedergibt), erneut beträchtlich von seiner Vorlage abgewichen ist.²⁴⁶ Zwar findet der Held in der altnordischen Thomasnachdichtung ebenfalls eine neue Anstellung als Erzieher der irischen Königstochter, doch geschieht dies – ganz im Gegensatz zu Gottfrieds Version – auf ausdrücklichen Wunsch seiner späteren Schülerin, der jungen Isolde selbst, hin.²⁴⁷ Somit ist es vermutlich auch bei Thomas eben nicht die Königin gewesen, welche ein Verlangen nach einer noch weiter verfeinerten Bildung ihrer Tochter verspürt, sondern die (hier im Übrigen kaum höfisch vorgebildete) Prinzessin selbst, die durch Gerüchte aus der Stadt von Tristans unglaublichen musikalischen Talenten erfährt und daraufhin mit dem Wunsch, bei ihm in den Unterricht zu gehen, an ihre Eltern herantritt. Insgesamt beschränkt sich der in Tristrams Saga erkennbare Einsatz von Musik jedenfalls „ausschließlich auf die Motivierung des Entstehens eines direkten Kontakts [Tristans; J. S.-B.] zur Königstochter“.²⁴⁸ König Gurmun und Königin Isolde werden dementsprechend auch als nur wenig bis gar nicht musikalisch interessiert gezeichnet. Gerade vor diesem Hintergrund scheinen mir Gottfrieds Bearbeitungstendenzen hier jedoch abermals von einem bestimmten, in den lateinischen Hofkritiken nicht zuletzt ironisch kommentierten Denkmuster grundiert zu sein – der Vorstellung einer exzessiven, bis an äußerste Absurdität grenzenden Musikversessenheit des Adels und einer daraus resultierenden, bedenklichen Verfallenheit an (noch so übelriechende) Spielleute. Doch die offensichtlich zu große Leidenschaft der irischen Königin für kunstvollweltliche Musik äußert sich in der vorliegenden Episode längst nicht nur in ihrer Wie bereits erwähnt nimmt Tristan auf seine Reise nach Irland bezeichnenderweise nichts aus seinem Besitz außer eben seiner Harfe mit. Vgl. hierzu und im Folgenden die Tristrams Saga, S. 141 f. Siehe dazu bereits Jackson, Der Künstler Tristan, S. 291. Bielitz, Wertung von Musik, S. 399.
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Bereitschaft, über den von Tristans vergifteter Wunde ausgehenden schlimmen Geruch hinwegzusehen, um nur schnellstmöglich in den Genuss seines Harfenspiels zu kommen: Denn auch der Umstand, dass die alte Isolde, als der Held in der Rolle eines spanischen Spielmanns an ihrem Hof eingeführt wird, augenblicklich bereit ist, diesen zum neuen Hauslehrer ihrer Tochter zu ernennen und damit die Ordnung ihrer Gesellschaft grundlegend umzustrukturieren, erscheint bemerkenswert.²⁴⁹ Dazu passt, dass Tristans Identität und Herkunft sowie die Ursache seiner schlimmen Verletzung in diesem Zusammenhang nur eine sehr untergeordnete Rolle spielen: Das Wissen um seinen (vorgeblichen) Namen sowie sein sensationelles musikalisches Talent sind in den Augen der irischen Königin offensichtlich ausreichend Information und Ausweis, um einem völlig Fremden mit mysteriöser Verwundung innerhalb kürzester Zeit Zutritt zum engsten Kreise ihrer familia zu gewähren.²⁵⁰ Aus einer solchen Perspektive betrachtet scheint mir auch in den Versen 7932– 7934, in welchen der Erzähler mit Bezug auf die Königin anmerkt, dass diese von Tristan zu diesem Zeitpunkt ja niuwan guot, nur Gutes also, gewusst habe, ein durchaus ironischer Unterton mitzuschwingen – denn die alte Isolde weiß von Tristan ja eigentlich so gut wie nichts. Im Rückgriff auf den Diskurs der geistlichen Hofkritik entwirft Gottfried in diesem Zusammenhang also nicht nur das Bild eines sich durch musikalische hövescheit sowie kluge List auszeichnenden Helden, sondern auch das einer Königin, welche sich – stark abweichend von ihrer sonstigen Darstellung als eine sich durch „Scharfsinn“²⁵¹ und „besonnene[s] Urteilsvermögen“²⁵² auszeichnende Figur – aus Gier nach Tristans Spiel zu irrationalen, spontan-affektiven, ja letztlich politisch unvorsichtigen Handlungen hinreißen lässt.²⁵³ Der bereits von Stein herausgestellte musikbedingte „Rea-
Hierbei handelt es sich um eine weitere Analogie zu den Befunden Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 161, welche mit Bezug auf die Gottfriedsche bast-Episode hervorhebt, dass eben auch Marke, „der dem Geschehen des enbestens nicht einmal als Augenzeuge beiwohnt“, Tristan allein veranlasst durch die Erzählungen seiner Hofleute sofort ein hohes Hofamt, nämlich das des Jägermeisters, verleiht. Auch der Hauslehrer der Königin weiß nicht mehr von Tristan, als dass dieser ein vorzüglicher Harfner ist und an einer mysteriösen Wundkrankheit leidet; er erwähnt auch im Gespräch mit der alten Isolde nicht mehr als genau diese beiden Details, nicht einmal der (falsche) Name des Helden fällt in diesem Zusammenhang; vgl. dazu V. 7696 – 7766. Hollandt, Hauptgestalten, S. 33. Ebd.; ähnlich auch Classen, Female agency and power in Gottfried von Strassburg’s ‚Tristan‘, S. 41. Gottfrieds Darstellung der Königin Isolde in dieser Episode sollte jedoch nicht allein aus figurenpsychologischer Sicht (d. h. als erzählerische Veranschaulichung der verführerischen Macht von Tristans Harfenspiel), sondern darüber hinaus auch aus strukturell-narratologischer Perspektive betrachtet werden. Denn dadurch, dass die Reaktionen von König Marke und der alten Isolde auf Tristans Musikdarbietungen ganz offensichtliche und fundamentale Analogien aufweisen, erhält die kritische Perspektivierung der höfischen Musik im Tristan auch ein stärkeres Gewicht bzw. eine wesentlich allgemeinere Qualität. Für diese Anmerkung danke ich Markus Stock (Toronto). Bei der analogen Zeichnung bestimmter Figuren und ihres (problematischen) Verhaltens handelt es sich, wie in den folgenden Kapiteln noch mehrfach zu zeigen sein wird, um ein grundlegendes Verfahren der Ver-
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litätsverlust[]“²⁵⁴ seitens der irischen Königin lässt sich also erneut im hofkritischen Diskurs kontextualisieren und über dessen topische Argumentationsweisen erklären. In der die Episode abschließenden Schilderung der medizinischen Versorgung Tristans wird diese besondere Facette des Figurenprofils der alten Isolde dann sogar noch weiter ausgebaut: Denn wenn der Erzähler hier anmerkt, dass die irische Königin im Gegenzug für Tristans lîp und […] leben / […] gerne hæte gegeben / ir lîp und alle ir êre (V. 7915 – 7917), das heißt bereitwillig ihr eigenes Leben und all ihr Ansehen (!) hingegeben hätte, wird daraus wohl mehr als deutlich, welch enormen und v. a. völlig irrationalen Stellenwert diese dem musikalischen Wunderknaben nicht zuletzt für ihre persönliche Unterhaltung zumisst.²⁵⁵ Vor diesem Hintergrund lässt sich schließlich auch im Fall der Figurenkonstellationen am irischen Hof in gewissen Hinsichten ein homologes Verhältnis zur Verwendung des Argos-Exempels bei Johannes von Salisbury konstatieren. So macht sich Gottfried den Erzählkern des verhängnisvollen einschläfernden Flötenspiels des Hermes hier erneut zunutze, wenn es seiner Tristanfigur durch die Musik am Hof von Dublin gelingt, eine eigentlich kaum zu überlistende Figur ‚einzulullen‘ und gründlich hinter das Licht zu führen.²⁵⁶ Zwar kann die alte Isolde im Gegensatz zum hundert-
mittlung poetischer Hofkritik in der mhd. höfischen Epik; vgl. dazu zusammenfassend auch S. 334 der vorliegenden Arbeit. Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 342. Einen ähnlichen Effekt der Musik konstatiert Stein (ebd., S. 343) hier auch in Bezug auf die Bewohner Dublins und den irischen Hofkleriker: „Wichtig ist […], daß die Wirkung dieses Spiels wiederum in einem Realitätsverlust der Betroffenen besteht […]. [D]ie Bewohner Develins werden ihrer Aufgabe nicht gerecht, jeden aus Cornwall zu töten, dessen sie habhaft werden können (Vv. 7208 – 26); der pfaffe merkt gar nicht, daß er durch seine Hymne auf Tristan sich selbst in seiner Position bei Hofe gefährdet; den Realitätsverlust der Königin […] kommentiert […] der Erzähler ausführlich.“ Vgl. dazu auch weiterhin die V. 7920 – 7924 des Tristan, in welchen der hier angesprochene übermäßige Eifer der Königin bei Tristans Pflege noch ein weiteres Mal seinen Ausdruck findet: und swes si sich versinnete, / daz ime ze senfte und ze vromen / und ze heile möhte komen; / dâ was sie spâte unde vruo / betrehtic unde gescheffec zuo. In der Tristrams Saga, S. 141 f., steht hingegen nicht das ungewöhnliche Ausmaß der Bemühungen, die die Königin betreibt, um den Protagonisten zu heilen, im Vordergrund, sondern eine detaillierte Beschreibung der verschiedenen medizinischen Prozeduren, die dafür notwendig sind (wovon sich Gottfrieds Erzähler in V. 7935 – 7949 vor dem Hintergrund höfischer Sprechweisen hingegen ganz explizit distanziert). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang außerdem, dass Tristram in der Saga (S. 142) innerhalb von vierzig, Tristan bei Gottfried dagegen bereits nach zwanzig Tagen geheilt ist (V. 7958) und weiterhin in der altnordischen Prosafassung vor seiner ersten Rückreise nach Cornwall von Königin Isolde „eine mark lauteren goldes“ (S. 143) für seine Dienste erhält, während es bei Gottfried bezeichnenderweise erneut eben zwô marc von rôtem golde (V. 8213) sind. Zudem fesselt Tristans Spiel hier erneut zumindest die Blicke der irischen Königstochter (V. 7817– 7819). Auf den ausgesprochen exzeptionellen Charakter von Tristans gelungener Täuschung der weit über die Landesgrenzen hinaus als weise und umsichtig bekannten irischen Königin verweisen auch die V. 8246 f., wo die verwunderte Reaktion des cornischen Hofes auf Tristans Erzählungen von seiner ersten Irlandfahrt folgendermaßen beschrieben wird: si jâhen, sine gevrieschen nie / solhes wunders gemach.
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äugigen und riesenhaften Argos, bei welchem es sich um die mythologische Personifizierung von Umsicht und Wachsamkeit, ja den alles – und immer – Sehenden handelt, freilich nicht mit einer besonderen physischen Ausstattung aufwarten. Doch stattet auch Gottfried seine Figur durchaus mit einigen außergewöhnlichen Attributen, ja „feenhafte[n] Züge[n]“²⁵⁷ aus, die es eigentlich geradezu unmöglich machen sollten, diese zu täuschen: So verfügt die vom Erzähler auffällig oft als wîse oder sinnerîche (z. B. V. 7184f.) und listec (z. B. V. 9437) bezeichnete irische Königin bei Gottfried (womit dieser übrigens ein weiteres Mal von seiner Vorlage abweicht), generell nicht nur über eine „scharfe Beobachtungsgabe“,²⁵⁸ sondern darüber hinaus auch über bestimmte magisch-hellseherische Fähigkeiten.²⁵⁹ Auf ebendiese greift sie nämlich etwas später im Erzählverlauf zur Überprüfung des Wahrheitsgehaltes der Erzählung des aufschneiderischen Truchsessen zurück.²⁶⁰ Dass Tristans Erscheinen am irischen Hof bei einer Figur mit einem solchen Profil nicht einmal einen Anflug von Misstrauen erweckt, ist in der Tat beachtenswert:²⁶¹ Gibt es doch recht auffällige Indizien wie den besonderen Zustand seiner Wunde, die ja immerhin von einem überaus seltenen, von der Königin selbst hergestellten Gift infiziert ist – etwas, das ihr, wie der Erzähler an einer Stelle andeutet (V. 9992– 9999), möglicherweise auch in Anbetracht der Tatsache, dass in Irland niemand etwas von einer Verletzung Tristans durch Morolds Schwert weiß, hätte auffallen können.²⁶² Hinzu kommt die äußere Erschei-
Hollandt, Hauptgestalten, S. 31. Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 32. wîse ist nach Hollandt (ebd., S. 31) Isoldes „häufigstes Attribut“ im Roman: „Vielfach erscheint es als feste Bezeichnung, die Gottfried auch dann gebraucht, wenn sie keinen unmittelbaren Bezug zum Textzusammenhang hat“. Zusammenfassend zur abweichenden Konzeption der alten Isolde bei Gottfried siehe weiterhin auch Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 112. Die besondere strukturelle Bedeutung der Episode, in der die Königin hellseherisch „ihr einziges Kind […] vor einer erniedrigenden Ehe mit einem aufsässigen Betrüger“ bewahrt, hebt Ann Marie Rasmussen: Bist du begehrt, so bist du wert. Magische und höfische Mitgift für die Töchter. ‚Die Winsbeckin‘, Gottfried von Straßburg ‚Tristan und Isolde‘, Neidhartsche Gedichte, Mären, ‚Stiefmutter und Tochter‘, Hans Sachs ‚Gesprech der mutter‘. In: Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur. Hrsg. von Helga Kraft, Elke Liebs. Stuttgart/Weimar 1993, S. 7– 35, hier S. 16, hervor. Vgl. dazu im Detail auch V. 9298 – 9305 in Gottfrieds Tristan. Dies merkt beiläufig schon Classen, Female agency and power in Gottfried von Strassburg’s ‚Tristan‘, S. 45, an. Wie selten das von Königin Isolde hergestellte Gift sein muss, wird ja bereits daran deutlich, dass es von niemandem außer ihr selbst geheilt werden kann. Für diese Anmerkung danke ich Sarah Jancigaj (Köln). Zum entsprechenden Kommentar des Erzählers im Hinblick auf das unvorsichtige Verhalten der alten Isolde vgl. weiterhin V. 9992– 9999: nu nam [die junge; J. S.-B.] Îsôt sîn dicke war / und marcte in ûzer mâze / an lîbe und an gelâze. / sî blicte im dicke tougen / an die hende und under d’ougen. / si besach sîn arme und sîniu bein, / an den ez offenlîche schein, / daz er sô tougenlîche hal, und V. 10123 – 10136: ‚jâ jâ‘ sprach aber diu schœne dô / ‚ist disen mæren danne sô, / disen valsch und dise trügeheit / hât mir mîn herze wol geseit. / wie wol ich wiste al dise vart, / sît ich in merkende wart, / sît ich an ime lîp unde gebar / und sîn dinc allez alsô gar / besunder in mîn herze las, / daz er gebürte ein hêrre was! / wer hæte ouch diz getân wan er, / daz er von Curnewâle her / ze sînen tôtvinden vert / und wir in zwirnt haben ernert! Beide Zitate entstammen dem Kontext der Bad- bzw. Splitter-Episode.
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nung des Helden, die, wie sowohl der Erzähler als auch die junge Isolde zu einem späteren Zeitpunkt anmerken, seine vornehme Herkunft trotz spielmännischer Verkleidung im Grunde immer offenbart hatte.²⁶³ Aus dem diskursiven Kontext der lateinischen Hofkritik heraus betrachtet scheint mir all dies jedenfalls in einem unmittelbaren Zusammenhang mit Tristans musikalischem Vorgehen zu stehen, durch welches er, wie die cornischen Höflinge im Nachhinein noch einmal sehr treffend formulieren werden, die gesehendiu ougen der Königin ‚blendet‘ (V. 8347). Durch diese „Diskrepanz“ zwischen der „Blindheit“ der irischen Königin und ihrer „sonstigen Scharfsicht“ soll also offensichtlich ein weiteres Mal auf das auch Tristans kunstvoller Musik inhärente Täuschungsvermögen verwiesen werden.²⁶⁴ Zusammenfassend steht in Irland also weniger der mit bestimmten regionalen Stilformen verbundene christlich-moralische Problemaspekt höfischer Musik als vielmehr ihre politischen Gefahrendimensionen im Fokus. Im Gegensatz zum Riesen Argos führt der Einsatz von Musik hier zwar nicht unmittelbar in den Tod, doch gewährt man auch am Dubliner Hof eben nicht nur der personifizierten hövescheit Einlass, wenn die Königin mit Tristan zugleich den Mörder ihres Bruders Morold, ohne jegliche Bedenken und Nachfragen, freudig in die Mitte der Gesellschaft aufnimmt.²⁶⁵ Dieser „realitätsverschleiernde[n]“²⁶⁶ Macht der Musik fallen bei Gottfried allerdings nicht nur Marke und die alte Isolde zum Opfer: So erweist sich zu einem späteren Zeitpunkt nämlich auch der betrügerische Baron Gandin als so unvorsichtig wie Argos, wenn er, gebannt von der Musik des erneut als Spielmann auftretenden Tristans, am Strand von Cornwall jegliche Zeit und vor allem die Flut vergisst, welche ihm schließlich den Weg zu seinem Schiff abschneidet. Die Entführung Isoldes kann durch den Helden so gerade noch einmal vereitelt werden.²⁶⁷
Tristan hatte die ihm von Morold zugefügte Wunde in weiser Voraussicht nach dem Kampf vor den Iren hinter seinem Schild verborgen; vgl. dazu V. 7131– 7137. Hollandt, Hauptgestalten, S. 34, Anm. 7. Nach Hollandt (ebd., S. 35) ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt zu bedenken, wie anders sich die alte Isolde später dem aufschneiderischen Truchsessen gegenüber verhält, welcher ebenfalls versucht, sie zu täuschen und zu belügen: „Besonnen und energisch zugleich setzt sie ihre vielfältigen Fähigkeiten bei der Entlarvung des feigen Lügners ein, dessen Behauptungen sie von vornherein mit Skepsis betrachtet. Als sie durch das Traumorakel erfährt, wie sich der Drachenkampf in Wirklichkeit zugetragen hat, lässt sie im Morgengrauen heimlich die Pferde satteln und reitet mit ihrer Tochter, Brangaene und dem Pagen Paranis auf die Suche nach dem vermißten Helden“. Vgl. dazu schon die Ausführungen Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 162, zum ähnlich sorglosen Verhalten der Markegesellschaft im Anschluss an die bast-Episode. Auf das hier angesprochene musikalische Moment der Täuschung bzw. des Unheilvoll-Bedrohlichen wird auch im Erzählerkommentar mehrmals angespielt; vgl. dazu etwa die V. 7918f. (si [die Königin; J. S.-B.] hazzete in [Tristan; J. S.-B.] noch mêre / dan sî sich selben minnete) und 7927– 7932 (und möhte sî daz wizzen, / an wen sî was vervlizzen / und wem sî half ûz todes nôt, / wære iht ergers danne der tôt / den hæte s’ime zewâre gegeben / vil michel gerner dan daz leben). Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 350. Gandin lässt sich nach der Entführung Isoldes mit dieser zunächst eine Weile am Strand nieder, da sein Schiff aufgrund von Ebbe auf dem Ufersand festliegt. Dort stößt auch Tristan zu den beiden, der
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Wie ich am Beispiel ausgewählter Episoden des Tristanromans zeigen konnte, greift Gottfrieds Musikdarstellung im Zuge eines ausgeklügelten Spiels mit der rezipienteneigenen Erwartungshaltung neben dem höfischen Diskurs regelmäßig auch auf die konkurrierenden Wissensbestände der geistlichen Hofkritik zurück. Vom mehr oder weniger wörtlichen Transfer von diskursspezifischen Argumentationsmustern in den Erzählerkommentar bis hin zur narrativen Aneignung der dort als verkürztes Argument gebrauchten exempla im Zuge der Figurengestaltung lassen sich dabei ganz unterschiedlich ausdifferenzierte Formen der diskursiven (und mitunter evtl. auch intertextuellen) Bezugnahme voneinander abgrenzen. Im Hinblick auf die Art der Interferenz der konkurrierenden Diskurspositionen ist dennoch episodenübergreifend eine charakteristische Streuung erkennbar: Denn während sich die erzählerischen Beschreibungen der von Tristan, Isolde (und auch Gandin) vorgetragenen Musik in terminologisch-argumentativer Hinsicht primär aus dem höfischen Diskurs speisen, handelt es sich bei den Reaktionen der Zuhörer in erster Linie um erzählerische Konkretisierungen hofkritischer Topoi. Zusammenfassend lässt sich dieses von Gottfried – offenbar größtenteils in Abgrenzung von seiner altfranzösischen Quelle – entwickelte Darstellungsverfahren also als eine literarische Technik der Ambiguisierung beschreiben:²⁶⁸ Diese ermöglicht es dem Straßburger Dichter, sowohl Tristans Aufstieg zum Favoriten Markes – welchen dieser künftig noch mehr als einmal schwerwiegend hintergehen wird – als auch seine Aufnahme in die Hofgesellschaft der Königin von Irland – seiner Todfeindin – als zutiefst ambivalente Vorgänge zu markieren.²⁶⁹ Vor dem diskursiven Horizont der lateinischen Hofkritik liest sich Tristans sensationelles musikalisches Talent insofern nicht nur als ein kultureller Zu-
sich vor dem betrügerischen Baron als irischer Spielmann, ein Landsmann Gandins also, ausgibt und von diesem dann um eine Kostprobe seines Könnens gebeten wird. Über Tristans Harfenspiel vergisst Gandin trotz diverser Warnungen seiner Begleiter völlig die Zeit, bis die Flut schließlich so hoch angestiegen ist, dass es ohne Pferd nicht mehr möglich ist, die Landungsbrücke des Schiffes zu erreichen. Gandin bittet Tristan daraufhin, Isolde auf dem Rücken seines Pferdes hinüber zum Schiff zu bringen. Der Held lässt sich dies natürlich nicht zweimal sagen, zieht Isolde zu sich auf sein Pferd und sprengt augenblicklich mit ihr davon – nicht ohne den Iren allerdings aufgrund seiner Unvorsicht noch einmal kräftig als gouch (‚Tölpel‘, V. 13412) zu verspotten. Zur strukturellen Funktion dieser Episode vgl. Oswald, Kunst um jeden Preis, S. 134, und Blodgett, Music and Subjectivity, S. 7. Mit dieser These knüpfe ich argumentativ erneut an die von Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 161 f., am Beispiel der Gottfriedschen bast-Episode gewonnenen Ergebnisse an. Zur konstitutiven Ambivalenz von Gottfrieds Tristan vgl. grundlegend schon Ingrid Hahn: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Ein Beitrag zur Werkdeutung. München 1963 (Medium Aevum. 3), S. 143: „Bei Gottfried erfüllt sich die antithetische Entgegensetzung nicht in einem einfachen ‚entweder oder‘; vielmehr erzeugt sie in chiastischer Verschlingung der Begriffe eine Mehrdeutigkeit, die der Dichter als solche bestehen läßt.“ Zur grundlegenden Ambivalenz der Integration Tristans in die Markegesellschaft vgl. erneut auch Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 161 f.; zu den problematischen Implikationen seiner Aufnahme am irischen Hof siehe weiterhin schon Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 339: „Der todkranke Todfeind des Landes und insbesondere von dessen erster Dame ist von dieser geheilt worden.“
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gewinn, sondern auch als ein moralisches und nicht zuletzt politisches Problem:²⁷⁰ Das Mehr an hövescheit, das man in Cornwall und Irland mit Tristan für sich gewinnt, ist bei Gottfried auch als ein Verlust markiert, wenn im Handlungsverlauf gleich zweimal die unheilvollen Folgen angedeutet werden, die das Wissen eines ‚höfischen Insiders‘ um die Schwächen des Adels haben kann.²⁷¹ Durch gezielte strukturelle Dopplungen (die durch musikalische Kunstfertigkeit ausgelöste leichtfertige Öffnung bzw. Umstrukturierung einer höfischen Gesellschaft zugunsten zweifelhafter neuer Mitglieder) und in entscheidenden Hinsichten analog gestaltete Herrscherfiguren (Marke/die alte Isolde) wird Gottfrieds Musikkritik dabei eine besondere Nachdrücklich- und Allgemeingültigkeit verliehen.²⁷² Darüber hinaus muss abschließend allerdings auch festgehalten werden, dass sich die Musikdarstellung in Gottfrieds Tristan nicht als einsinnig bzw. im engeren Wortsinn ‚hofkritisch‘ bezeichnen lässt. Denn die Funktion der expliziten und impliziten Referenzen auf antihöfische Topoi erschöpft sich hier nicht in einer eindimensional belehrenden: Vielmehr werden das erzählte Geschehen und die Handlungen der Figuren auf diese Weise komplex und vielschichtig gestaltet, wobei die höfischen Musikideale zwar oftmals in ein fragwürdiges, jedoch niemals in ein gänzlich negatives Licht gestellt werden. Zu diesem Eindruck trägt außerdem bei, dass sich im Roman eine differenzierende Arbeit an der Polemik des hofkritischen Diskurses feststellen lässt, wenn der Erzähler der höfischen Musik nicht per se eine unmoralischsündhafte Publikumswirkung zuschreibt, sondern diese auf Tristans einmalig zum Einsatz gebrachten ‚bretonischen‘ Harfstil (V. 3590: britûnische wîse) sowie Isoldes Saitenspiel in franzoiser wîse (V. 8061) einschränkt.²⁷³ Dennoch kann die Musik ihre wirklich lûter[en] und reine[n] Wirkungsdimensionen (V. 17236) bei Gottfried nur an einem Ort jenseits der Grenzen der „moralisch verdorbenen Hofwelt“²⁷⁴ entfalten, und
Ahnlich auch Layher, Music, Dissonance and the Sweetness of Pain, S. 238: „Gottfried’s work characterizes music as an ennobling force, but also as a domineering and controlling one“. Vgl. dazu auch schon die Ausführungen Schaustens, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 161 f., zum ähnlichen Verhalten der Gottfriedschen Markegesellschaft im Anschluss an die bast-Episode. Für diesen Hinweis danke ich Markus Stock (Toronto). Zur Produktion diskursiver Innovationen als einer grundlegenden Eigenschaft von Interdiskursen sei erneut auf die Ausführungen Links, Subjektivitäten als (inter)diskursive Ereignisse, S. 66, verwiesen. Zur narrativen Inszenierung von idealtypischer Minne als einer (temporären) Alternative zum moralisch verderbten höfischen Leben in Gottfrieds Tristan vgl. auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 593. Darüber hinaus hat Tomas Tomasek: Die Utopie im ‚Tristan‘ Gotfrids von Straßburg. Tübingen 1985 (Hermaea. 49), versucht, das spannungsreiche Verhältnis von Minne und Hof im Tristan mit Ernst Blochs Konzept der ‚konkreten Utopie‘ zu erfassen. Seine grundlegende These (ebd., S. 41) ist, dass in Gottfrieds Roman „eine Utopie enthalten ist, die aus dem höfisch-feudalen Weltbild hinausweist“. Der entsprechende Entwurf einer utopischen Minneethik komme neben dem Prolog und den Exkursen insbesondere in der Minnegrotten-Allegorie zum Ausdruck; vgl. ebd., S. 179.
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zwar in der Minnegrotte (V. 16679 – 17658).²⁷⁵ Denn in diesem auffallend höfisierend gestalteten Naturraum wird das Liebespaar erst- und letztmalig im Roman in „völlig harmonischem Zusammenspiel“ präsentiert.²⁷⁶ So singen Tristan und Isolde hier in stetem Wechsel namenlose leiche unde noten der minne (V. 17211), die auf ihre eigene Liebe zurückverweisen, und begleiten sich dabei jeweils gegenseitig auf der Harfe:²⁷⁷ sô slichen s’in ir clûse hin und nâmen aber ze handen, dar an s’ir lust erkanden, und liezen danne clingen ir harphen unde ir singen senelîchen unde suoze. si wehselten unmuoze mit handen und mit zungen. si harpheten, si sungen leiche unde noten der minne. si wandelten dar inne ir wunnenspil, swie sî gezam. sweder ir die harphen genam, sô was des anderen site,
Zu dem von Tristan und Isolde als einen großen Mangel empfundenen êre-Verlust im Rahmen der Minnegrotten-Episode vgl. v. a. den Erzählerkommentar in V. 16875 – 16880: sine hæten umbe ein bezzer leben / niht eine bône gegeben / wan eine umbe ir êre. / waz solte in ouch dâ mêre? si hæten hof, si hæten rât, / dar an diu vröude elliu stât. Zu den auffallenden Höfisierungstendenzen bei Gottfried, in deren Zusammenhang v. a. das allegorisierende Lob des Vogelgesangs (V. 16887– 16895, 17354– 17384) eine wichtige Rolle spielt, siehe weiterhin schon Gnädinger, Musik und Minne, S. 78 – 82. In ähnlich ungebrochen-höfisierender Weise lobt der Erzähler des Tristan zuvor übrigens auch den Gesang der Vögel als Teil des locus amoenus, welcher das Setting für Markes Maifest am Handlungsbeginn bildet (V. 575 – 586): daz senfte vogelgedœne, / daz süeze, daz schœne, / daz ôren unde muote / vil dicke kumet ze guote, / daz vulte dâ berge unde tal. / diu sælege nahtegal, / daz liebe süeze vogelîn, / daz iemer süeze müeze sîn, / daz kallete ûz der blüete / mit solher übermüete, / daz dâ manc edel herze van / vröude unde hohen muot gewan.‘ Krohn, Kommentar, S. 247: „Bisher hatten Tristan und Isolde immer nur allein musiziert. Die Ineinssetzung der beiden Liebenden dokumentiert sich in dieser Episode auch darin, daß das Paar nunmehr in völlig harmonischem Zusammenspiel vorgestellt wird.“ Ähnlich auch schon Gnädinger, Musik und Minne, S. 85. Ich deute die Minnegrotte-Episode damit anders als Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 350 – 353, der simplifizierend davon ausgeht, dass die Liebenden sich hier „der mächtigen Ohnmacht der Musik bewußt [bedienen]“ (ebd., S. 350), um sich von ihrer „eigene[n], triste[n], weil gesellschaftsferne[n] […] Situation“ abzulenken (ebd., S. 353). Zwar merkt Gottfrieds Erzähler durchaus an, dass Tristan und Isolde hier musizieren, um sich von den traurigen senemære[n] über Villîse von Trâze, […] der armen Canâze, von Tîre und von Sîdone und der seneden Didône (V. 17189 – 17196) abzulenken (17200 f.: Sô s’aber der mære denne / vergezzen wolten under in). Mit mære ist hier aber nicht (auf Metaebene) der Romanplot gemeint, sondern ganz konkret die sich von den Figuren gegenseitig erzählten Liebesgeschichten innerhalb der erzählten Welt. Im Rückbezug auf den Prolog scheint mir die Musik hier also vielmehr für die vröude (V. 203) der edelen herzen zu stehen, wohingegen die sich von ihnen erzählten Liebesgeschichten in der Situation das für eine ideale Liebe ebenso notwendige leit (V. 204) beitragen. Vgl. Gnädinger, Musik und Minne, S. 86.
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daz es diu notelîn dermite suoze unde senelîche sanc. ouch lûtete ietweder clanc der harphen unde der zungen, sô s’in ein ander clungen, sô suoze dar inne, als ez der süezen Minne sol z’einer clûse wart benant: la fossiure a la gent amant. swaz aber von der fossiure von alter âventiure vo hin ie was bemæret, daz wart an in bewæret. diu wâre wirtinne diu hæte sich dar inne alrêrste an ir spil verlân. swaz ê dar inne ie wart getân von kurzewîle oder von spil, dazn lief niht ze disem zil. ezn was niht von meine so lûter noch sô reine, als ir spil was under in. si triben der minne ir stunde hin sô wol sô nie gelieben baz. sine tâten niht wan allez daz dâ sî daz herze zuo getruoc. (V. 17202– 17241)
Musik als freudenspendendes Spiel ohne praktischen Zwang und Nebenzweck im Sinne des höfischen Diskurses ist im Tristan also lediglich in einem außerhöfischen „Reich der Liebe“ möglich, welches jenseits „der bestehenden Gesellschaftsordnung“ aber „keine Chance“ hat, „sich auf Dauer zu verwirklichen“.²⁷⁸ Jedoch bleibt zu hinterfragen, ob in einem solchen Zusammenhang wirklich noch von ‚höfischer‘ Musik gesprochen werden sollte: Denn abgesehen von dem entlegenen Setting werden die Grenzen des höfischen Diskurses, der adliges Musizieren nur in solistischer Form vorsieht, hier nicht zuletzt in der Hinsicht überschritten, dass Tristan und Isolde im Sinne eines künstlerischen Ausdruck ihrer innigen Minneverbundenheit gemeinsam musizieren. In einer derartig modifizierenden Weise nimmt die Romanepisode hier allerdings nicht nur auf den höfischen, sondern auch auf den hofkritischen Diskurs Bezug. Denn ausgehend von den Ausführungen Jaegers zur Episode der Intrige der cornischen Barone lässt sich auch mit Blick auf die Gottfriedsche Darstellung der Minnegrotte konstatieren, dass dieser latent der Lucansche Topos zugrundegelegt ist,
Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 593. Vgl. dazu auch Gnädinger, Musik und Minne, S. 87: „In dieser absoluten Einhelligkeit der Minne verbleiben Tristan und Isolde solange sie in der Minnegrotte und ihrer idealisierten Umgebung weilen. Der Höhepunkt ist ihr reines Spiel.“
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nach dem der Tugendhafte den Hof verlassen muss (exeat aula qui vult esse pius).²⁷⁹ Im Gegensatz zur lateinischen Hofkritik wird das einsame Landleben bei Gottfried jedoch weder als asketisch, noch als langfristig anstrebenswerter Lösungsansatz präsentiert: Denn aufgrund des mit ihrer paradiesischen Lebensweise einhergehenden Verlusts von êre (V. 16877) sehnen sich die Liebenden hier in der Tat schon sehr bald zurück an den Markehof. Im höfischen Kontext bleibt die Musik allerdings bis zum Ende des Romanfragments dem Bereich des Problematischen verhaftet: Sie dient der Manipulation, kann mitunter zur Sünde verführen und löst bei den Mächtigen bedenkliche Anflüge von politischer Unvorsicht aus.²⁸⁰ Entsprechend schließt die Musikdarstellung in Karke dann auch auf einer überaus unguten Note: So musiziert Tristan im Rahmen der Isolde-Weißhand-Episode (V. 18949 – 19548) in der Hoffnung, ein neues höfisches Publikum, und zwar insbesondere die wegen seines ambivalenten Verhaltens an Liebeskummer leidende Königstochter, in einen Zustand der vröude (V. 19187) versetzen zu können.²⁸¹ Doch aufgrund des unerträglichen Schmerzes, den ihm die Trennung von seiner geliebten Isolde bereitet, büßt Tristan hier zunehmend sein rationales Denkvermögen ein und verliert im wahnhaften Zustand der melancholia nicht nur „die Herrschaft über die Sprache“, sondern schließlich auch die „Verfügungsgewalt über die Musik“.²⁸² Am Ende „beherrscht“ daher, wie schon Stein grundlegend ausführt, die Musik ihren Urheber – und dies sogar in einem derartigen Ausmaß, dass
Zu Gottfrieds erzählerischer Verarbeitung dieses antihöfischen Topos im Zusammenhang mit der Intrige der höfischen Barone vgl. bereits Jaeger, The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan, hier v. a. S. 54 f. Vgl. dazu nicht zuletzt auch die ‚etymologische‘ Herleitung von Tristans Namen durch den Erzähler in V. 2003 – 2022, hier v. a. V. 2021 f.: er was reht alse er hiez ein man / und hiez reht alse er was: Tristan. Dieses Bemühen Tristans hebt beiläufig schon Claudia Konetzke: triuwe und melancholia. Ein neuer Annäherungsversuch an die Isolde-Weißhand-Episode des ‚Tristan‘ Gottfrieds von Straßburg. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999). Hrsg. von Klaus Ridder, Otto Langer. Berlin 2002 (Körper, Zeichen, Kultur. 11), S. 117– 138, hier S. 127 f., hervor. Ähnlich zuvor auch schon Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 356: „Der einzige Zweck, überdies nur Ausgangspunkt seines Tuns, ist schlicht der, Isolt als blanches mains aufzuheitern, ein – im positiven Sinne […] – höfischer.“ Ferner auch Kästner, Harfe und Schwert, S. 95, der Tristans „Darbietung von Trauer und Klage im Lied zur Freude der Zuhörer“ mit der „paradoxe[n] Haltung, aus der die Lieder eines Reinmar von Hagenau leben“, vergleicht. Siehe dazu im Einzelnen auch V. 19180 – 19195 des Tristan. Der hinsichtlich seiner Werturteile allgemein schwankende Gottfriedsche Erzähler hebt das musikalische Verhalten Tristans zu Anfang der Episode zwar noch als Zeichen von höfscheit (V. 19182) hervor, verurteilt es dann einige hundert Verse später aber scharf und ernennt den Protagonisten zum alleinigen Schuldigen; vgl.V. 19397– 19412: daz was des schult: si was betrogen. / Tristan hæte ir sô vil gelogen / mi disen zwein handelungen / der ougen unde der zungen, / daz si sînes herzen unde sîn / gewis und sicher wânde sîn. / und al der trügeheite, / die Tristan an si leite, / sô was ie daz diu volleist, / diu ir herze allermeist / an Tristandes liebe twanc, / daz er daz alsô gerne sanc: / ‚Îsôt ma drûe, Îsôt m’amie, / en vûs ma mort, en vûs ma vie!‘ / daz lockete ir herze allez dar. / daz was, daz ir die liebe bar. Konetzke, triuwe und melancholia, S. 128.
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
129
Tristan gar nicht mehr bemerkt, dass er „gänzlich Gefangener ihrer Wirkung – und deren einziger Gefangener – ist.“²⁸³ Denn Isolde Weißhand muss die gedankenlosen Sehnsuchtsgesänge des Protagonisten (V. 19213 f.: ,Îsôt ma drûe, Îsôt m’amie, / en vûs ma mort, en vûs ma vie!‘) geradezu als Liebeserklärung in aller Öffentlichkeit auffassen und reagiert dann auch in entsprechender Weise darauf (V. 19230 – 19252).²⁸⁴ So wie im gemeinsamen Instrumentenspiel Tristans und Isoldes die vollkommene Liebe ihren vielleicht schönsten Ausdruck findet, beginnt bei Gottfried schließlich also auch der Anfang vom Ende mit einem Musikstück.
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun Während höfische Musik in Gottfrieds Tristan mitunter auch als reines Instrumentenspiel begegnet, konzentriert sich die 6. Aventiure der Kudrun (Wie suoze Hôrant sanc) allein auf den Gesang.²⁸⁵ Fast siebzig Strophen lang wird hier im Kontext der
Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 356 f. Dem zustimmend weiterhin auch Konetzke, triuwe und melancholia, S. 128 f. Vgl. Konetzke, triuwe und melancholia, S. 128. So zuvor auch schon Stein, Die Musik in Gotfrids von Straßburg ‚Tristan‘, S. 356, und Gnädinger, Musik und Minne, S. 92. Ich zitiere den Text nach folgender Ausgabe: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Uta Störmer-Caysa. Stuttgart 2010 (RUB. 18639), deren Textbestand sich nach der ersten Edition Karl Bartschs in der Neubearbeitung Karl Stackmanns von 1965 richtet. Auch bei dieser neuesten Edition der unikal überlieferten Kudrun handelt es sich um eine aus heutiger Forschungssicht eigentlich nicht mehr zu rechtfertigende Rückübertragung aus dem Frühneuhochdeutschen auf Basis des Ambraser Heldenbuchs (1504– 1516/17). Der edierte Text enthält zudem zahlreiche Eingriffe in die Überlieferung, deren wichtigste Kennzeichnungen für die vorliegende Arbeit übernommen wurden: Auslassungen von überlieferten Wörtern (markiert durch Sperrstellung zweier aufeinanderfolgender Wörter), gleichzeitige Auslassungen und Umstellungen (markiert durch Sperrstellung einzelner Wörter), Zusätze (markiert durch spitze Klammern), Konjekturen aufgrund von verderbten Stellen (markiert durch ein oder zwei Kreuze); drei Punkte in eckigen Klammern markieren darüber hinaus Stellen, an denen aufgrund einer stilistischen Orientierung am Nibelungenlied eigentlich ein Zusatz gefordert wäre, dieser aber nicht ergänzt werden konnte. Die Manuskriptfassung des Ambraser Heldenbuchs (Cod. Ser. nova. 2663 der Nationalbibliothek Wien) ist mittlerweile online einsehbar unter http://data.onb.ac.at/rep/100277D3 [Zugriff: 04.03. 2019]. Eine ausschließliche Arbeit mit dem Manuskript gestaltet sich allerdings, wie schon Karl Stackmann: Art. Kudrun. In: 2VL 5 (1985), Sp. 410 – 426, hier Sp. 410, betont, nahezu unmöglich, da „ohne erhebliche Eingriffe in den überlieferten Wortlaut […] ein verständlicher Zusammenhang nicht hergestellt werden [kann]“. Zur prekären Überlieferungssituation der Kudrun vgl. zusammenfassend auch Uta Störmer-Caysa: Nachwort. In: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart 2010, S. 640 – 663, hier S. 660 – 662. – Bei dem von mir gewählten Titelzitat handelt es sich um die Überschrift zur 6. Aventiure der Kudrun in der normalisierten mhd. Version der Ausgabe Störmer-Caysas. Im Ambraser Heldenbuch lautet sie eigentlich – frühneuhochdeutsch – Wie süess zu Horannt sanng.
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zweiten Brautwerbungshandlung des Epos,²⁸⁶ dem sogenannten Hilde-Teil, vom dänischen Sängerheros Horant erzählt, welcher im Auftrag seines Herren, König Hetel von Hegelingen, fast ein wenig zu erfolgreich um die irländische Königstochter Hilde wirbt.²⁸⁷ Nach Gottfrieds Tristan handelt es sich bei der Musikdarstellung des anonymen Kudrun-Autors um die umfangreichste der mittelhochdeutschen höfischen Epik.²⁸⁸ Infolgedessen hat die 6. Aventiure schon früh das Interesse der germanistischen Forschung auf sich gezogen. So entwickelte sich im 19. Jahrhundert eine bis heute anhaltende Forschungsdiskussion, die sich den erzählten Ereignissen und der sie dominierenden Sängerfigur aus einer ganzen Vielfalt von Perspektiven genähert hat.²⁸⁹ Während die älteste Forschung, deren Qualitätsurteil zur Musikdarstellung in Die Kudrun wird von der Forschung üblicherweise der Heldenepik zugerechnet. Nichtsdestotrotz darf darüber, wie schon Stackmann, Kudrun, Sp. 421, hervorhebt, „nicht vergessen werden, daß sie wegen der Bedeutung des Brauterwerbungsthemas […] für den Aufbau der Handlung auch in enger Beziehung zur sog. Spielmannsdichtung steht. Schließlich ist auch eine Bemühung des Dichters um eine Annäherung seiner Erzählung an den Typus des höfischen Romans nicht zu verkennen.“ Darüber hinaus beutet die Kudrun laut Uta Störmer-Caysa: Nachwort. In: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart 2010, S. 640 – 663, hier S. 643, „im dritten Teil so reichlich die Muster der Legende aus, dass man sich beinahe wundert, warum Herwig und Kudrun nicht unmittelbar nach ihrer Eheschließung das klösterliche Leben wählen.“ Die sechste Aventiure (Str. 372– 439) bildet nach Werner Hoffmann: Kudrun. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1994 (RUB. 8914), S. 293 – 310, hier S. 298 f., das Zentrum der stoffgeschichtlich ältesten Partie der Kudrun. Die diesem Handlungsabschnitt zugrunde liegende frühmittelalterliche Hilde-Sage stammt ursprünglich wohl aus dem Ostseeraum und wanderte von dort aus an die Nordseeküste. Zur Sagengeschichte und -verbreitung vgl. zusammenfassend ebd., S. 299. Die beiden anderen Teile des Epos – d. h. Hagen- und Kudrun-Teil – stammen nach Störmer-Caysa, Nachwort, S. 647 f., dagegen vermutlich weitestgehend aus eigener Feder des anonymen Autors, der sie von der Hilde-Erzählung ausgehend entwickelte, „als sollten Vorgeschichte und Folgen wie bei einem Triptychon aus der sagenhaften Geschichte ausgeklappt werden“ (Zitat ebd., S. 648). Eine Übersicht aller weiteren (oftmals nur einen einzigen Vers umfassenden) Musikstellen der Kudrun findet sich bei Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 207– 212. Zur genauen Entstehungszeit und räumlichen Herkunft der für gewöhnlich ins 13. Jh. datierten Kudrun besteht in der Forschung nach wie vor kein Konsens. Vgl. dazu zusammenfassend Störmer-Caysa, Nachwort, S. 660 – 663. Hierbei handelt es sich im Wesentlichen um die folgenden Arbeiten: Werner Hoffmann: Kudrun. Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung. Stuttgart 1967 (Germanistische Abhandlungen. 17), S. 61– 70, Friedhelm Debus: Wie suoze Hôrant sanc. In: Zijn akker is de taal. Bundel opstellen aangeboorden aan Klaas Heeroma ter gelegenheid van zijn 60. verjaardag op 13. September 1969. Hrsg von P. J. Meertens [u. a.]. Den Haag 1970, S. 73 – 113, Eckart Loerzer: Eheschließung und Werbung in der ‚Kudrun‘. München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 37), S. 51– 61, Barbara Siebert: Rezeption und Produktion: Bezugssysteme in der ‚Kudrun‘. Göppingen 1988 (GAG. 491), S. 81– 120, Winder McConnell: The Epic of Kudrun. A Critical Commentary. Göppingen 1988 (GAG. 463), S. 29 – 43, Thomas Grenzler: Erotisierte Politik – politisierte Erotik? Die politisch-ständische Begründung der Ehe-Minne in Wolframs ‚Willehalm‘, im ‚Nibelungenlied‘ und in der ‚Kudrun‘. Göppingen 1992 (GAG. 552), S. 428 – 452, Helmut Tervooren: Helden in der Lyrik – Minnesänger in der Heldendichtung. In: swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch. Festschrift für András Vitzkelety zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Márta Nagy [u. a.]. Budapest 2001, S. 63 – 75, Stephan Müller: Minnesang im Himmelreich? Über Örtlichkeiten literarischer Kommunikation an den
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der Kudrun zumeist ausgesprochen negativ ausfiel, sich anfangs vor allem mit stoffund überlieferungsgeschichtlichen Aspekten sowie der Frage nach der ‚Echtheit‘ der einschlägigen Textpassagen beschäftigte,²⁹⁰ verbindet zahlreiche jüngere Arbeiten eine intertextuelle Zugriffsweise. Das jeweils herangezogene Referenzmaterial reicht dabei von einzelnen Texten der mittelhochdeutschen höfischen Epik (v. a. dem Nibelungenlied, König Rother und dem Dukus Horant)²⁹¹ über die höfische Lyrik (die Kürenberger-Überlieferung, das Genre des Tagelieds etc.)²⁹² bis hin zur geistlichen Literatur (z. B. das frühmhd. himelrîche-Gedicht).²⁹³ Von besonderem Interesse ist dabei im vorliegenden Kontext ein durch die Arbeiten Helmut Tervoorens (2001), Stephan Müllers (2001), Kerstin Schmitts (2002) und Patrick Fortmanns (2006) vertretener Forschungsstrang, welcher sich der u. a. durch zahlreiche intertextuelle Referenzen erzeugten Doppelbödigkeit der Musikdarstellung in der Kudrun widmet.²⁹⁴ So kann etwa Tervooren (2001) am Beispiel der Horantfigur problematisierende „literarische Interaktionsformen zwischen Lyrik und Heldendichtung“ veranschaulichen.²⁹⁵ Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt weiterhin auch Fortmann (2006), der sich in seiner Untersuchung der Strategien, mithilfe derer die „Heldenepik das Problem des Lied-Vortrags bewältigt“, allerdings stärker auf die Interdependenz der Musikdarstellung von „den Vorgaben von Handlungsschemata“ konzentriert.²⁹⁶ Eher raumtheoretisch und einzeltextorientiert geht wiederum Müller (2001) vor, der die Ursprünge der „prekär gestaltete[n] Situation bei der Kontaktaufnahme zwischen Singendem und Besungener“ in der Kudrun im bairisch-donaulän-
Grenzen des Höfischen beim Kürenberger, in der ‚Kudrun‘, im ‚Dukus Horant‘ und im ‚himelrîche‘. In: Literarische Kommunikation und soziale Interaktion. Hrsg. von Ludger Lieb, Beate Kellner. Frankfurt a. M. 2001 (Mikrokosmos. 64), S. 51– 71, Kerstin Schmitt: Poetik der Montage: Figurenkonzeption und Intertextualität in der ‚Kudrun‘. Berlin 2002 (Philologische Studien und Quellen. 174); S. 95 – 132, und Patrick Fortmann: …und sanc ir sîniu liet. Der Auftritt des Sängers in der Epik. In: ZfDPh 3 (2006), S. 342– 367. Einen Überblick zur einschlägigen Forschung des 19. Jhs. bietet Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 75 – 79. Zur intertextuellen Bezogenheit der Kudrun auf das Nibelungenlied, den König Rother und den Tristan vgl. vor allem Siebert, Rezeption und Produktion, und Schmitt, Poetik der Montage; zum Dukus Horant exemplarisch Tervooren, Helden in der Lyrik, und Müller, Minnesang im Himmelreich. So z. B. Müller, Minnesang im Himmelreich, bzw. Siebert, Rezeption und Produktion, S. 85. Tervooren, Helden in der Lyrik, und Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, argumentieren hingegen textübergreifend mit Blick auf die Gesamtgattung Minnesang.Vgl. dazu weiterhin auch Schmitt, Poetik der Montage, S. 118. Müller, Minnesang im Himmelreich. Zur ausgeprägt intertextuellen Konzeption der gesamten Kudrun vgl. grundlegend auch Schmitt, Poetik der Montage. Tervooren, Helden in der Lyrik, Müller, Minnesang im Himmelreich, Schmitt, Poetik der Montage, und Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik. Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 63. Vgl. zusammenfassend zu dieser These v. a. ebd., S. 74 f. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 342.
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dischen Minnesang-Corpus des Kürenbergers verortet (v. a. MF 8,1).²⁹⁷ Primär von heldenepischen Schreibweisen ausgehend argumentiert schließlich Schmitt (2002), die die musikalische Werbung um Hilde v. a. hinsichtlich ihrer intertextuellen Bezogenheit auf das Nibelungenlied (Ring/Gürtel, der irländische Kämmerer als Referenz auf Rüdiger) untersucht und dem Kudrun-Autor diesbezüglich spielerische Verfahren der Ironisierung und Spannungserzeugung attestiert.²⁹⁸
2.3.1 eine wîse,
diu was von Amilê: Höfische Tonkunst als Sirenengesang²⁹⁹
Als Fruote, Wate und Horant, die drei besten Vasallen König Hetels von Hegelingen, ausziehen, um für ihren Herren die unmâzen schœne Hilde (199,2) zu gewinnen, erweisen sich weder heroische Kampfkraft noch Weisheit, sondern nur die höfische Musik als geeignetes Mittel zum Zweck:³⁰⁰ Es ist Horants Gesang,³⁰¹ der am Hofe des in
Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 57. Diese Ergebnisse Müllers sind eingebettet in den Versuch einer intertextuellen Lokalisierung des bairischen Gedichts vom himelrîche aus dem 12. Jh. Zu der im Zentrum von Müllers entsprechenden Analysen stehenden, von ihm (ebd.) als „Kürenberger-Situation“ bezeichneten Figuren-Raum-Konstellation vgl. zusammenfassend ebd., S. 55 f. Auf einen solchen intertextuellen Zusammenhang verweist früh auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 713. Vgl. dazu Schmitt, Poetik der Montage, S. 116 – 123, hier v. a. S. 117 u. 119. Ein solcher Vergleich mit dem Nibelungenlied findet sich zuvor auch schon bei Siebert, Rezeption und Produktion, S. 97– 119, die das Verhältnis der Kudrun zu diesem Text jedoch grundsätzlich (und ausschließlich) als einen „antithetische[n] Bezug“ (ebd., S. 92) begreift. Entsprechende intertextuelle Bezüge (Ring/Gürtel, die Kampfspiele am irländischen Hof, Werbung mithilfe von Magie etc.) werden von ihr zumeist als narrative Relativierungen inhaltlich problematischer Kernstellen des Prätextes bzw. „Vehikel zur Profilierung eigener Sinnaussagen“ in der Kudrun (ebd., S. 113) gedeutet. Eine derart simplifizierende, bspw. auch die Komplexität und Vielschichtigkeit der Musikdarstellung der Kudrun ignorierende Lesart geht m. E. jedoch – zumindest mit Bezug auf die vorliegende Episode – am Text vorbei. Das Titelzitat entstammt der Kudrun. Auf die entsprechende Textstelle (397,1) wird im Rahmen der nachfolgenden Analyse noch ausführlich eingegangen. Die drei Werbungshelfer König Hetels verkörpern stereotype (Herrscher‐)Qualitäten: Während Horant besonders musikalisch (d. h. ‚höfisch‘) ist, verfügt Wate über eine nahezu übermenschliche heroische Kampfeskraft. Fruote wiederum zeichnet sich durch große Weisheit und Freigebigkeit aus. Zur damit einhergehenden dreifachen Besetzung der Rolle des Werbungshelfers in der Kudrun vgl. zusammenfassend Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. Berlin 2015, S. 198 f. Die Horantfigur ist allerdings, wie schon Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 356, herausstellt, nicht bloß als höfischer Sänger sondern – ähnlich wie etwa auch die Volkerfigur des Nibelungenlieds – als „Sänger-Krieger“ konzipiert und „im Zwischenraum von Heroentum und höfischer Minnewelt an[zusiedeln]“. Dabei bilde die im Zentrum der vorliegenden Analysen stehende 6. Aventiure den stärksten „Fall ins außerheroische Muster“, in der Horants künstlerische Fähigkeiten zum ersten und zugleich letzten Mal in der Kudrun extensiv zur Darstellung gebracht werden. Die ältere Forschung sah in dieser Art der Konzeption der Horant-Figur noch einen dichterischen Mangel; vgl. hierzu exemplarisch bspw. Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 70: „Eine […] organische Verknüpfung zweier Wesenszüge […] ist dem ‚Kudrun‘Dichter nicht gelungen, […] seine Gestaltungsfähigkeit erweist sich als begrenzter denn die des Ni-
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allen Landen gefürchteten Brautvaters, König Hagens von Irland, schließlich die Voraussetzungen für die Entführung von dessen Tochter schaffen kann.³⁰² So trägt der außergewöhnlich musikalische Werbungshelfer hier eines Abends unangekündigt mit sô hêrlîcher stimme ein Lied vor, dass darüber nicht nur die Vögel im Umland verstummen, sondern auch die adlige Zuhörerschaft nur mit einhelliger Begeisterung reagieren kann (372,3 – 4).³⁰³ Beim weiblichen Teil der Hofgesellschaft weckt Horants Auftritt allerdings eine derart große Verzückung, dass die alte küniginne (373,3) ihn im unmittelbaren Anschluss an seine Darbietung sogar in ihre privaten Gemächer führen lässt. Dort bittet sie Horant, von nun an jeden Abend für sie zu singen; im Gegenzug werde er von ihr reichen Lohn erhalten (376,3 – 4). Der höfische Sänger stimmt diesem Angebot der Königin umgehend zu, allerdings nicht ohne seinen Gesang und dessen, wie er versichert, ausschließlich positive Wirkungseffekte noch einmal ausgiebig vor ihr anzupreisen: Wer seinen süßen Weisen lausche, so Horant hier, dem verginge dadurch jegliches Leid, und alle Sorgen erschienen plötzlich ganz klein: ‚Frouwe, ob irs geruochet, welt ir mirs sagen danc, ich singe iu zallen zîten alsô guotez sanc,
belungendichters.“ Vertiefend zur Horant-Figur in der Kudrun vgl. schließlich Kerstin Schmitt: Alte Kämpen – junge Ritter. Heroische Männlichkeitsentwürfe in der ‚Kudrun‘. In: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ornit, Waltharius, Wolfdietrich). 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Pöchlarn, 3.–6. April 2002. Hrsg.von Klaus Zatloukal.Wien 2003 (Philologica Germanica. 25), S. 191– 212, hier S. 200 f. Die im Zentrum der nachfolgenden Analysen stehende Horantfigur findet ihre erste schriftliche Erwähnung als Hofsänger der Heodinge im altenglischen Gedicht „Deors Klage“, welches im sog. Exeter-Book (um 1000) überliefert ist. Im 13. Jh. findet sich der Name Horant dann (neben der Kudrun) noch in zwei weiteren Texten, und zwar einerseits als beiläufige Erwähnung in Salman und Morolf (V. 155,1– 3) sowie als Protagonistenfigur des altjiddischen Dukus Horant. Siehe dazu zusammenfassend Caysa-Störmer, Nachwort, S. 654 f. Alle übrigen (wenigen) Erwähnungen Horants in der Literatur sind aufgelistet bei Wilhelm Grimm: Die Deutsche Heldensage. 3. Aufl. Gütersloh 1889, S. 379. Wie Hartmut Bleumer: Diagramm und Dimension. Zum Raumproblem heldenepischer Narration am Beispiel der ‚Kudrun‘. In: LiLi 176 (2014), S. 93 – 126, hier S. 117, hervorhebt, ist Horant allerdings nicht in allen überlieferten Versionen des Stoffs der Werbungshelfer Hetels. Beim Skalden Bragi etwa wird Hilde (=Hild) nämlich von Hetel (=Hedin) selbst (während Hagens [=Högnis] Abwesenheit) mit einem Schiff entführt. Nach Franziska Wenzel: Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters. Ein strukturalistisch-anthropologisches Experiment zur Kudrun. In: Euphorion 99 (2005), S. 395 – 423, hier S. 423, verkörpert „der Brautvater Hagen, welcher Boten und Werber ungeachtet der Regeln höfischen Empfangs, töten lässt“, in der Kudrun eine „anarchische Dimension“ von Gewalt. Zu Hagens Beinamen (‚teuflischster aller Könige‘) vgl. weiterhin auch Jerold C. Frakes: Brides and Doom. Gender, Property, and Power in Medieval German Women’s Epic. Philadelphia 1994, S. 185. Zum Erzählschema der gefährlichen Brautwerbung, welches sich neben einem spezifischen Inventar an Handlungssequenzen und Rollen auch durch eine spezielle Raumstruktur auszeichnet, vgl. einführend etwa Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 193 – 204, hier v. a. S. 196. Grundlegend dazu außerdem Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica. 28), hier v. a. S. 40 – 100.
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swer ez rehte erhœret, daz im sîn leit verswindet und minnert gar sîn sorgen, der mîne süeze wîse rehte ervindet.‘ (377)
Der zweite Auftritt des Dänen folgt sodann in Kürze: Schon früh am nächsten Morgen, [d]ô sich diu naht verendet und ez begunde tagen (379,1), lässt er mit seinem Gesang erneut die Vögel verstummen und weckt, an ihrer statt, die Hofgesellschaft aus dem Schlaf.³⁰⁴ Wie der Erzähler anmerkt, erweist sich Horant, der in diesem Zusammenhang nun insgesamt drî dœne (384,1) vorträgt, insbesondere in den höheren Tonlagen als ein wahrer Meister seines Fachs: Sîn liet erklang im schône, ie hôher und ie baz (380,1). Während die irländische Königsfamilie Horants Gesangsvortrag erneut mit Begeisterung lauscht, löst dieser bei seinem Onkel, dem wîsen Fruote, allerdings überraschend große Empörung aus: dô sprach von Tenen Fruote: ‚mîn neve m ö h t e l â n sîn ungefüege dœne, die ich in hœre singen. wem mag er ze dienste als ungefüege tagewîse bringen?‘ (382,2– 4)
Bei der irländischen Hofgesellschaft stößt die scharfe Kritik des wîsen Fruote am Verhalten seines Neffen allerdings auf taube Ohren. Denn anstatt sich dessen Worte in irgendeiner Weise zu Herzen zu nehmen, verteidigen die Hagenen helde kollektiv den gehörten Gesang und schreiben ihm eine wohltuende, ja gar gesundheitsförderliche Wirkung zu (383,1). Zur selben Zeit beklagt sich der irländische König wiederum bei got von himele, dass seine Stimme nicht so schön sei wie die des Dänen (383,4), während die Königstochter bemüht ist, ihrem Vater „weitere Aufführungen von Horants Kunst ab[zu]schmeicheln“.³⁰⁵ Dies lehnt Hagen jedoch, höfisch vorbildlich, mit Hinweis auf den besonderen Rang seiner Gäste ab (387).³⁰⁶ Doch der listige Horant, welcher das Gespräch zwischen Vater und Tochter mit angehört hat, erfüllt der jungen Hilde ihren Wunsch im Folgenden auch ohne weitere Bitten – und singt nun sô ritterlîche wie noch nie (388,3).
Bleumer, Diagramm und Dimension, S. 112 f., sieht in dieser Art der Darstellung Horants eine intertextuelle Systemreferenz auf die Gattung Tagelied. Vgl. zu dieser Szene ausführlich auch Siebert, Rezeption und Produktion, S. 104 f. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 358. Vgl. dazu im Einzelnen Str. 387 der Kudrun: Er sprach: ‚liebiu tohter, ze âbendes stunt / wolte er dir singen, ich gæbe im tûsent phunt. / nu sint sô hôchvertic die geste mîne, / daz uns hie ze hove niht wol erklingen die dœne sîne.‘ Das ambivalente mittelhochdeutsche Adjektiv hôchvertic meint in diesem Zusammenhang also offenbar „auf edele weise stolz“; zum entsprechenden semantischen Spektrum siehe ausführlich das Mittelhochdeutsche Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 258b. Auf die Hagens zitierten Anweisungen zugrundeliegenden „Spielregeln höfischer Kommunikation“ mit hochgestellten Gästen verweist auch schon Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 359: „Der Gast unterhält, […] dient oder trägt zur höfischen Prachtentfaltung bei, wenn er es wünscht.“ Ähnlich formuliert dies außerdem Thomasin von Zerklære: Der Welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Willms. Berlin/New York 2004, V. 376 – 404.
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Mit zunehmender Qualität ändert sich nun allerdings auch die Art der Wirkung von Horants Sang, der sich kaum ein Lebewesen entziehen kann.³⁰⁷ Am irländischen Hof ereignet sich in der Folge Unglaubliches: So lässt die schöne Königstochter, âne ir vater wizzen […] noch daz ir muoter (391,2– 3), Horant von einem gefüege[n] kamerære (392,1) heimlich in ihre Kemenate bringen.³⁰⁸ Dort soll der sanges meister (392,4), welcher lediglich in Begleitung des jungen Morung erscheint, nur noch für sie ganz alleine seine Kunst ausüben.³⁰⁹ Doch Horant zögert zunächst – wie er angibt, aus Angst vor Hagens Zorn – in einem so intimen Rahmen für die Königstochter zu singen (396). Schließlich fällt seine Wahl dann jedoch auf eine wîse, diu was von Amilê (397,1). Dieses besondere Musikstück kennt Horant, wie der Erzähler erörtert, von einer seiner Seefahrten, wo er es das erste Mal ûf dem wilden fluote gesungen hörte (397,3). Wie insgesamt typisch für die Kudrun werden auch in diesem Zusammenhang nur wenige Worte auf musik- oder aufführungsbezogene Details verwendet, sondern v. a. deren Publikumswirkung zur Darstellung gebracht: So bietet Hilde Horant im unmittelbaren Anschluss an seinen Auftritt ihren goldenen Ring und Gürtel als Gaben an, wovon dieser allerdings nur letzteren annimmt – und dies auch ausschließlich für seinen Herrn, wie er betont.³¹⁰ In diesem Zusammenhang legt der Däne nun endlich auch die wahren Hintergründe der Irlandreise der Hegelingen offen und richtet der Prinzessin die Werbungsbotschaft Hetels aus. Hilde reagiert darauf wie folgt: Si sprach: ‚got müeze im lônen, daz er mir wæge sî. kome er mir ze mâze, ich wolte im ligen bî, ob du mir woltest singen den âbent und den morgen.‘ (405,1– 3)
Auf die ungewöhnliche Forderung der irländischen Königstochter, dass sie nur dann mit Hetel schlafen, wenn Horant dafür weiterhin jeden Abend und Morgen für sie singen werde, geht der Däne natürlich sofort ein. Doch noch im selben Atemzuge preist er vor ihr auch das angeblich so vorbildliche musikalische Hofleben in Hegelingen sowie die besonders gefüege[n] Fähigkeiten seines Herren an (407,1): ‚[…] ‚vil edelez magedîn, mîn herre tegelîche hât in dem hove sîn zwelve, die ze prîse für mich singent verre. swie süeze sî ir wîse, doch singet aller beste mîn herre.‘ (406)
Vgl. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 357, der hier allerdings nur von einer ‚Intensivierung‘ der Musikwirkung spricht. Für diesen riskanten Dienst erhält der Kämmerer von Hilde einen entsprechend hohen Lohn: rôt golt, / lieht unde tiure zwelf bouge swære (392,2– 3). Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 90, sieht in der Anwesenheit Morungs einen erzählerischen Kniff des Kudrun-Autors, der Hildes völlige Fixierung auf Horant noch stärker verdeutlichen solle. Beides schließt sich m. E. nicht gegenseitig aus. Vgl. Str. 400: Swaz im diu frouwe büte des wolte er niht, / wan einen gürtel: ‚des man mir vergiht, / daz ich † sî behalten † , maget vil minneclîche. / den bringe ich mînem herren; sô ist er mîner mære freuden rîche.‘
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Damit lässt sich Hilde endgültig von einer Vermählung mit Hetel überzeugen und stimmt voller Vorfreude ihrer eigenen Entführung in das Land der Hegelingen zu.³¹¹ Wie schon Gottfried von Straßburg verschränkt auch der Kudrun-Autor im Kontext seiner interdiskursiven Musikdarstellung konsequent normierende mit kritisierenden Akzentuierungen. Dabei kommt im mittelhochdeutschen Heldenepos nun allerdings ein deutlich abweichendes Erzählverfahren zum Einsatz, bei dem eine zu Anfang ausgesprochen höfisierende Musikdarstellung mehr und mehr von einer musikkritischen Unterströmung zersetzt wird, die am Ende schließlich die Überhand gewinnt.³¹² Diese speist sich einerseits aus diskursiven Bezugnahmen auf die lateinische Hofkritik, darüber hinaus aber auch, wie schon die frühere Forschung gezeigt hat, aus intertextuellen Referenzen auf ausgewählte Werke der antiken und höfischen Literatur.³¹³ Auf diese Weise evoziert die 6. Aventiure der Kudrun sowohl bei der innerfiktionalen Hofgesellschaft als auch beim außerliterarischen Publikum zunächst große Bewunderung für die musikalischen Kunstfertigkeiten Horants, die, wie der weitere Handlungsverlauf verdeutlicht, allerdings darüber hinaus auch ihre christlich-moralischen und politischen Schattenseiten haben und am Ende ein tragisches Szenario der Gewalt heraufbeschwören. So wird Horants Gesang im Kontext seines ersten Auftritts zunächst sowohl von Erzähler- als auch von Figurenseite fast ausschließlich mit superlativischen Formulierungen sowie einem dem höfischen Diskurs zugehörigen Vokabular der Ästhetik gepriesen:³¹⁴ Immer wieder ist in diesem Zusammenhang etwa von der fuoge (389,4)
Diese Funktionalisierung der Musik auf der Figurenebene geht einher mit einer handlungslogischen Funktionalisierung der Musik als Werbungslist durch den anonymen Kudrun-Epiker; vgl. dazu auch schon Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 364. Insofern lassen sich einige interessante Ausführungen Oswalds, Kunst um jeden Preis, S. 151, zur Musik als Gabe in Gottfrieds Tristan auch auf die Kudrun übertragen: „Sämtlichen Momenten, die die Brautgeschichte konstituieren, wie Werbung oder Liebes- und Herrschaftshandeln, liegen Tauschbeziehungen zugrunde. Kunst wird nun im Mittelpunkt der insbesondere für archaische Gesellschaften ausgeprägten Wechselbeziehungen zwischen Austausch und Brautwerbung funktionalisiert. Denn der Gesang selbst erhält einen besonderen Tauschwert im System der Werbung, insofern Gesang und Frau als Gabe und Gegengabe aufeinander bezogen werden können.“ Das hier skizzierte Erzählverfahren erinnert an die von Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, im Kontext einer sozialhistorischen Textlektüre beschriebene Art und Weise der Verarbeitung antihöfischer Topoi im Nibelungenlied. Es handelt sich dabei, wie noch zu zeigen sein wird, offensichtlich um ein heldenepisches Gattungsspezifikum der narrativen Anverwandlungformen von Hofkritik. Vgl. dazu zusammenfassend auch S. 336 f. der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu erneut v. a. Tervooren, Helden in der Lyrik, Müller, Minnesang im Himmelreich, Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, und Schmitt, Poetik der Montage. Im Hinblick auf die Diktion der Musikbeschreibungen fällt auf, dass die Kudrun – möglicherweise gattungsbedingt, möglicherweise aber auch aufgrund einer gewissen begrifflichen Überholtheit zum (unklaren) Zeitpunkt ihres Entstehens – zwar ausgiebig auf typische Begrifflichkeiten und Argumentationsweisen des höfischen Diskurses zurückgreift, ganz im Gegensatz zu Gottfrieds Tristan dabei allerdings kein einziges Mal dessen Zentralbegriff (hövesch/hövescheit) aufgreift. Dieser kommt in der Tat allerdings auch ansonsten im gesamten Epos nicht ein einziges Mal zum Einsatz; vgl. dazu Klaus M.
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
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oder dem schönen Klang (375,1) des süeze[n] sange[s] (379,3; ähnlich 377,4 etc.) die Rede;³¹⁵ einmal bezeichnet die alte Hilde Horants Lied gar als diu aller beste wîse […] / die ich ze dirre welte von iemen hân erfunden (374,2– 3) und schreibt ihm außerdem das Potenzial zu, damit höfische freuden (375,3) zu erzeugen (hilaritas).³¹⁶ Des Weiteren wird Horant vom Erzähler an einer Stelle mit dem ehrenvollen Titel eines meister[s] versehen (392,4), der im Rahmen seiner vielfältigen Verwendungsweisen nach Susanne Bürkle stets ein „Übertreffen, Überlegensein und damit Autorität zum Ausdruck [bringt]“.³¹⁷ Wenn der Erzähler den Gesang des Dänen an anderer Stelle als hêrlîche[] (372,3) bezeichnet, wird diesem hier diskurstypisch außerdem subtil der Status eines ständischen Attributs verliehen.³¹⁸ Schließlich dient auch der implizit hergestellte Bezug zwischen Horant und der mythischen Gestalt des Orpheus zu Anfang der Episode durchaus noch der Inszenierung eines höfischen Musikideals:³¹⁹ Denn wenn die Vögel aufgrund der Schönheit von Horants Gesang aufhören, die eigenen, offensichtlich weniger kunstvollen Lieder zu singen, stellt dies den Dänen zunächst positiv wertend auf eine Stufe mit dem „appolinische[n] Mustersänger“,³²⁰ welcher mit seiner Stimme eben nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, das Wetter, Steine, Pflanzen sowie die Götter zu betören vermochte.³²¹ Setting und Figurenkonstellation mit der an der Zinne lauschenden irländischen Königin fungieren hier zudem, wie die Forschung bereits mehrfach herausgestellt hat, als eine intertextuelle
Schmidt: Begriffsglossar und Index zur Kudrun. Tübingen 1994 (Indices zur deutschen Literatur. 29), S. 348 – 352. Bei dem Begriff fuoge, mit dem hier „das Beherrschen schöner Proportion durch den Musiker“ gemeint ist (und der sich jenseits eines musikalischen Kontexts auch auf jede andere „Art von Proportion“ anwenden lässt), handelt es sich nach Müller, Spielregeln, S. 392, um einen „höfische[n] Zentralbegriff“. Vgl. dazu auch schon Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 73. Susanne Bürkle: Der Meisterdiskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200. Handwerkliche Kompetenz und artistische Valorisierung. In: Literarischer Stil. Mittelalterliche Dichtung zwischen Konvention und Innovation. Hrsg. von Elizabeth Andersen [u. a.]. Berlin/Boston 2015, S. 119 – 140, hier S. 126. Nach dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 668a, verfügt das mhd. Adjektiv hêrlich neben einer primär ästhetisierenden („vornehm, ausgezeichnet, schön, prächtig, herrlich“) weiterhin auch eine explizit ständische Bedeutungsdimension („wie es einem Herren gebührt“). Vgl. dazu auch die Str. 388,3 u. 413,4 der Kudrun, in denen Horants Gesang vom Erzähler und der jungen Hilde auch zwei Mal explizit als ritterlîch beschrieben wird. Vgl. Kästner, Harfe und Schwert, S. 86 f. Ähnlich weiterhin auch Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 65. Volker Kalisch: Art. Musik. In: Ästhetische Grundbegriffe 4 (2002), S. 256 – 309, hier S. 260. Vgl. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 357 u. 360. Zur magischen Komponente von Horants Sang vgl. weiterhin auch Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 75, Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 73, Schmitt, Poetik der Montage, S. 117, Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 362, und Loerzer, Eheschließung und Werbung, S. 34. Speziell zum Rückbezug der Darstellung des KudrunEpikers auf die antike Orpheusgestalt vgl. weiterhin ausführlich Kästner, Harfe und Schwert, S. 85 – 87.
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Systemreferenz auf den hohen Minnesang bzw. das Tageliedgenre.³²² Insgesamt tragen im Kontext von Horants erstem Auftritt am irländischen Hof also zahlreiche diskursive und intertextuelle Bezugnahmen dazu bei, zunächst ein ausgesprochen „höfisches Ambiente […] zu schaffen“.³²³ Mit dem Beginn des zweiten Auftritts zeichnet sich dann jedoch allmählich der Beginn eines groß angelegten diskursiven Umschlags ab. Zwar lassen sich auch in diesem Handlungsabschnitt noch diverse Rekurrenzen der Musikdarstellung auf den höfischen Diskurs feststellen, doch erhalten die konkurrierenden Wissensbestände der geistlichen Hofkritik von nun an immer mehr an Raum und Gewicht. Dementsprechend verschiebt sich auch die Bewertung der Musik durch den Erzähler und die Figuren immer weiter ins Negative. So werden inmitten von höfisierend-ästhetisierenden Musik- und Sängerbeschreibungen (379,3: süezen sange; 388,3: gesanc sô ritterlîche; 389,4: fuoge; 381,4: der von Tenemarke sanc sô schône; 380,1: Sîn liet erklang im schône etc.) nun auch bedenkliche „Risiken und Nebenwirkungen des Sangs“³²⁴ thematisch, von denen zuvor noch nicht die Rede war.³²⁵ Einleitend wird dabei in Str. 381 nochmals der interdiskursiv verfügbare Orpheusmythos aktualisiert, der jetzt allerdings nicht mehr nach den Regeln des höfischen, sondern nach denjenigen des hofkritischen Diskurses verhandelt wird: Denn ganz im Gegensatz zum ersten Mal ist hier nun nicht mehr die Rede davon, dass die Vögel verstummen, um dem gesangstechnisch begabteren Horant den Vortritt zu lassen (372,4), sondern dass diese mentale Aussetzer haben (381,2– 3: diu vogellîn / vergâzen ir dœne) und ihrer von der Natur zugewiesenen Aufgabe insofern gar nicht mehr nachkommen können. Gleich im Anschluss hagelt es dann auch prompt die scharfe (und doch von den meisten bisherigen Forschungsarbeiten überlesene) Musikkritik Fruotes, die sich argumentativ ebenfalls aus dem antihöfischen Diskurs speist.³²⁶ Denn in deutlicher Abgrenzung zu dem
Auf diesen intertextuellen Zusammenhang verweisen bereits Bleumer, Diagramm und Dimension, S. 112, Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 75, Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 358, Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 62, und Siebert, Rezeption und Produktion, S. 85. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 371, inkl. Anm. 23, macht weiterhin darauf aufmerksam, dass der Erzähler Hetels Werbung am Anfang des Hilde-Teils explizit als hôhe[] minne (268,3) bezeichnet. Im Zusammenhang mit Hartmuts Minnedienst an der Königstochter Kudrun werde das Motiv der Hohen Minne dann schließlich auch im dritten Handlungsteil noch einmal kritisch verhandelt. Denn das Ergebnis sei hier, so Müller (ebd., S. 371), genauso blutig wie im zweiten Handlungsteil: „Der höfische Frauendiener [d. h. Hartmut, J. S.-B.] entpuppt sich als skrupelloser Rechtsbrecher, der die beteiligten Verbände in blutige Kämpfe verwickelt“. Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 74. Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 62. Nach Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 68, Anm. 15, sind Horants häufigste Epitheta außerhalb der 6. Aventiure und ihren stark höfisierenden Darstellungen die heroischen Begrifflichkeiten küene und snel, wobei letztere „die Bedeutung tapfer, mutig zumindest einschließt.“ Stattdessen deuten etwa Siebert, Rezeption und Produktion, S. 104, und Debus,Wie suoze Hôrant sanc, S. 84, Fruotes Aussagen verharmlosend als „listige[] Bescheidenheit“ bzw. „gut überlegte List im
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höfischen Topos, nach welchem der Vortrag von Liebesliedern in besonderer Weise ständisch konnotierte „Adelskunst“³²⁷ ist, bezeichnet Fruote die Kunst seines Neffen hier gleich zweimal (und dies in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Versen) als ungefüege (382,3 – 4).³²⁸ Dieses ausgesprochen negativ konnotierte mhd. Adjektiv lässt sich aus antihöfischer Sicht vor allem in zweierlei Hinsicht auf Horants Gesang zurückbeziehen: einerseits hinsichtlich der ‚unpassenden‘ Tonhöhe (womit hier der bspw. auch im Policraticus häufig im Zusammenhang mit der Orpheusgestalt verbundene effeminatio-Aspekt mitschwänge),³²⁹ anderseits aber auch hinsichtlich der besonderen inhaltlichen ‚Geschmacklosigkeit‘ einer tagewîse (das Liebeslied als eine besonders unsittliche Art von Musik).³³⁰ In jedem Fall vertritt Fruote damit die hofkritische Diskursposition, welche der Kudrun-Autor (neben dem Erzähler) hier ausgerechnet der Figur des wîsen in den Mund legt und ihr damit bereits eine besondere Autorität verleiht. Beim literaturkundigen Rezipienten mag das Schlagwort ungefüege (382,3 – 4) darüber hinaus aber auch Assoziationen zu einem hofkritischen Lied Walthers von der Vogelweide hervorgerufen haben (Owê, hovelîchez singen, daz dich ungefüege dœne solten ie ze hove verdringen; L 64,31), in welchem dieser nach Meinung Zusammenspiel mit Horant“. Auch Loerzer, Eheschließung und Werbung, S. 53, geht in diesem Zusammenhang lediglich von einem „höfische[n] Understatement“ aus. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 686. Vgl. zu dieser Begriffsverwendung Wates auch schon Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 84: „Daß er dabei gleich zweimal das Schlagwort ungevüege verwendet, macht das Herausfordernde nur umso deutlicher. Dem steht die zweimalige Erwähnung der vuoge Horants gegenüber“. Zum durchgängig negativen semantischen Spektrum des mhd. Adjektivs ungevüege siehe weiterhin auch das Mittelhochdeutsche Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 438b: „die schicklichkeit nicht beobachtend; unanständig, ungestüm, roh, grob“, „ungeschickt, unpassend“, „übermäßig groß oder stark, häufig mit dem nebenbegriffe des plumpen oder schlimmen“. Eine solche Lesart schlägt bereits Schmitt, Poetik der Montage, S. 116, vor. Vgl. dazu erneut auch den Policraticvs, S. 45: Nunc uero nobilium in eo sapientia declaratur […] si naturae robur effeminatae uocis articulis fregerint, si modis et musicis instrumentis uirtutis immemores obliuiscantur quod nati sunt (‚Heutzutage aber wird die Klugheit von Adligen daran gemessen, […] ob sie ihre natürliche Stärke mit einer weibischen Stimme schwächen, und ob sie – uneingedenk ihrer Mannhaftigkeit – über Gesang und Musikinstrumente vergessen, als was sie geboren worden sind‘), oder ebd., S. 50: An non recolis Ciconum matres et nurus indignationem suam totam in Orpheum, qui mares modis suis effeminauerat, usque ad Parcarum inuidiam effudisse, licet ille flexerit Manes duritiamque Ditis mollierit Euridicemque suam uocis gratia, etsi infausta sorte, meruerit? (‚Erinnerst du dich etwa nicht mehr daran, dass die Mütter und Schwiegertöchter der Ciconer ihre ganze Empörung auf Orpheus entluden, der die Männer mit seinen Gesängen verweichlicht hatte, sodass sogar die Parzen neidisch wurden, wenngleich er auch die Manen umstimmen und Plutos Grausamkeit mildern konnte, und er sich dank seiner Stimme, auch wenn es ein unglückliches Schicksal war, seine Eurydike verdiente?‘). Die beiden Übersetzungen stammen von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Vgl. hierzu auch den Policraticvs, S. 48: Amatoria bucolicorum apud uiros graues esse fuerat criminis, nunc uere laudi ducitur si uideas grauiores amatoria quae ab ipsis dicuntur elegantius stulticinia personare (‚Verführerische Hirtengesänge waren einst bei einflussreichen Männern verpönt, heutzutage aber gilt es als lobenswert, wenn Männer von noch größerem Einfluss Liebesgesänge laut vortragen, die sie selbst recht elegant ‚Albernheiten‘ nennen‘). Die Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln).
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vieler Forscher den dörperlichen Minnesang seines ebenfalls sehr erfolgreichen Konkurrenten Neidhart kritisiert.³³¹ Dass zu den von Fruote geäußerten Bedenken am irländischen Hof in der Tat Anlass besteht, bestätigt dann die im Folgenden vom Erzähler beschriebene Wirkung des Gesangs auf die Irländer, welche sich – trotz aller Offenheit der Formulierung – wohl am ehesten unter den Schlagworten Verwirrung, Verlust des Zeitgefühls und damit (zu einem gewissen Grad) auch der erzählten ‚Realität‘ subsumieren lässt: Dô er drî dœne sunder vol gesanc, alle die ez hôrten, dûhte ez niht sô lanc. si hêtenz niht einer hende wîle; ob er solte singen, daz einer möhte rîten tûsent mîle. (384)
Dieser latent bedrohliche Eindruck wird im Anschluss dann noch verstärkt, wenn der Erzähler die weitgreifenden Verhaltensänderungen thematisiert, die Horant mit seinem Gesang, abgesehen von den verstummenden Vögeln, auch beim übrigen „nichtmenschliche[n] Teil der Schöpfung“³³² auslöst: Diu tier in dem walde ir weide liezen stân. Die würme, die solten in dem grase gân, die vische, die dâ solten in dem wâge vliezen, die liezen ir geverte. jâ kunde er sîner fuoge wol geniezen. (389)
Wie man aus diesem Bericht des Erzählers erfährt, unterbrechen also auch die Tiere des umliegenden Waldes, als sie den Dänen singen hören, ihre natürlichen Verhaltensweisen: Sie beenden zum Teil sogar die für sie überlebenswichtige Nahrungsaufnahme und verfallen stattdessen in Regungslosigkeit.³³³ Neben den zuvor bereits
Von einer intertextuellen Bezugnahme dieses Kudrun-Verses auf Walther (L 64,31) geht auch Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 73, aus. Von einer Kritik Walthers an Neidhart geht im Anschluss an eine verbreitete Forschungsmeinung bspw. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 328, aus. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 360. Ähnliche Beschreibungen eines musikalisch bedingten Abweichungsverhaltens der Tiere finden sich auch in dem stofflich mit der Kudrun eng verwandten Dukus Horant, dessen Autor diese allerdings nicht zwangsläufig gekannt haben muss. Dort ist nämlich von Vögeln die Rede, die nicht (wie in der Kudrun) das Singen, sondern das Fliegen einstellen, sowie von Wildschweinen, die plötzlich das Wühlen sein lassen. Ich zitiere den Text nach folgender Ausgabe: Dukus Horant. Hrsg. von Peter F. Ganz, Frederick Norman, Werner Schwarz. Mit einem Exkurs von Salomo A. Birnbaum. Tübingen 1964 (ATB. 2), hier F. 66,3 – 4: er hup uf alse lute ein śtime unde sank, / daś ës sa wunkelichen durch die wolken drank, / unde daś die kleinen vogelin / ir vligen muśten lośen sin. / unde begunden ale zu dër linden dringen. / si horten alse gërne dën kunen Horanden singen. / unde daś die wilden ëber świn / ir woilen muśten lośen sin. Zur spektakulären Entdeckung und Editionsgeschichte des Dukus Horant vgl. zusammenfassend Manfred Kern: Verwilderte Heldenepik in hebräischen Lettern. Literarischer Horizont und kultureller Austausch im ‚Dukus Horant‘. In: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ornit, Waltharius, Wolfdietrich). 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Pöchlarn, 3.–6. April 2002. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2003 (Philologica Germanica.
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erwähnten, die Lüfte bevölkernden Vögeln werden vom Erzähler hier als Erd- und Wassertiere außerdem exemplarisch die Würmer und Fische genannt, womit sämtliche der drei naturbezogenen Hauptlebensräume (Luft, Erde, Wasser) abgedeckt sind. Auf diese Weise wird der universelle Charakter der lähmenden Wirkung von Horants Tonkunst zum Ausdruck gebracht: Im Verhalten der Tiere spiegelt sich allegorisierend das Verhalten der irländischen Hofgesellschaft, die zeit- und realitätsvergessen in der Rezeptionssituation erstarrt ist und deren Mitglieder nicht mehr ihren alltäglichen Verpflichtungen nachgehen.³³⁴ Was diese hier eigentlich wären, wird durch den Erzähler dann nur wenig später verdeutlicht, wenn er in Str. 390 beschreibt, dass „der Chorgesang der Geistlichen und das Glockengeläute […] gegenüber Hôrants Gesang [verblassen]“,³³⁵ der irländische Adel also von seinen religiösen Verpflichtungen wie Messe und Gebet abgelenkt (und durch die höfische Musik im Umkehrschluss sein Seelenheil gefährdet) wird:³³⁶ Swaz er [Horant; J. S.-B.] dâ dœnen mohte, daz dûhte niemen lanc. sich minnert ir kœren dâ von der phaffen sanc. die glocken niht klungen sô wol a l sam ê. allez daz in hôrte, dem was nâch Hôranden wê. (390)
Der diesem Erzählerkommentar argumentativ zugrundeliegende antihöfische Topos findet zwar im Policraticus des Johannes von Salisbury nur am Rande Erwähnung, hat dafür aber umso ausführlichere Verhandlungen in Petrus’ von Blois De confessione
25), S. 109 – 134, hier S. 109 f.: „Der ‚Dukus Horant‘ ist in einem Codex in hebräischer Schrift überliefert, der auf das Jahr 1382/83 datiert. Die Sammelhandschrift wurde gemeinsam mit anderen hebräischen Handschriften in der Genisa der Synagoge von Fostat bei Kairo Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt. Das gesamte Corpus wurde 1897 von der Cambridger Universitätsbibliothek gekauft. Es sollte bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts dauern, bis unsere Handschrift durch die Edition von Lajb Fuks (1957) der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt wurde. […] Der Codex ist nichts weniger als das erste Zeugnis geistlicher und weltlicher Dichtung aschkenasischer, das bedeutet für diese Zeit grob gesagt: auf deutschsprachigem Gebiet lebender (oder aus ihm stammender) und Deutsch sprechender Juden in hebräischer Schrift.“ Meine Lesart dieser Stelle unterscheidet sich damit grundlegend von derjenigen Grenzlers, Erotisierte Politik, S. 438 f., der die zitierten Tierbeschreibungen in einen Zusammenhang mit bestimmten Rechtsformeln (Verbannung/Verfehmung, Grund und Boden, Grundherrschaft und Gerichtsbarkeit) bringt und daraus dann schließt, dass Horants Gesang hier die „intakte herrschaftliche Gewalt des Landesherren“ Hetel widerspiegele (Zitat ebd., S. 438). Dieser in Anbetracht der durchgängigen musikkritischen Grundierung der Aventiure eher abwegigen Deutung widerspricht auch schon Schmitt, Poetik der Montage, S. 117. Debus,Wie suoze Hôrant sanc, S. 74. Ähnlich dazu in der jüngeren Forschung auch Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 360, Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 121, Anm. 29, und Loerzer, Eheschließung und Werbung, S. 56. Zum geistlichen Topos des Ablenkungspotenzials weltlicher Musik von Glauben und Gott vgl. erneut auch Žak, Musik als ‚Ehr und Zier‘, S. 282 f. Ganz anders Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 360.
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sacramentali (um 1190) erfahren.³³⁷ Zu einer solchen, wie in der Kudrun beschriebenen unguten Vereinnahmung der rezipienteneigenen Aufmerksamkeit durch den Vortrag weltlicher Literatur führt der englische Geistliche hier nämlich folgendes aus:³³⁸ Saepe in tragoediis et aliis carminibus poetarum, in joculatorum cantilenis describitur aliquis vir prudens, decorus, fortis, amabilis et per omnia gratiosus. Recitantur etiam pressurae vel injuriae eidem crudeliter irrogatae, sicut de Arturo et Gaugano et Tristanno, fabulosa quaedam referunt histriones, quorum auditu concutiuntur ad compassionem audientium corda, et usque ad lacrymas compunguntur. […] Qui compateris Deo, compateris et Arturo. Ideoque utrasque lacrymas pariter perdis, si non diligis Deum, si de fontibus Salvatoris, spe scilicet fide et charitate, devotionis et poenitentiae lacrymas non effundis. Sane mirabili Deus artificio misericordiae salutem nostram operatur ineffabiliter. ³³⁹ ‚Oft wird in Tragödien und in anderen poetischen Formen der Dichter sowie in den Liedern der Spielleute ein schlauer, gutaussehender, tapferer, liebenswürdiger und in jeder Hinsicht gefälliger Mann beschrieben. Rezitiert werden auch die Nöte oder Ungerechtigkeiten, die ihm grausam zugefügt wurden, wie die Schauspieler von Artus, Gawein (?) oder Tristan manch Sagenhaftes vortragen; wenn sie dies hören, werden die Herzen der Zuhörer zu Mitleid angeregt und zu Tränen gerührt. […] Wer Mitleid mit Gott empfindet, der empfindet auch Mitleid mit Artus. Deshalb vergeudet man gleichermaßen beide Tränen, wenn man seine Liebe nicht Gott zuwendet und nicht aus den Quellen des Erlösers – nämlich Hoffnung, Glaube und Nächstenliebe – Tränen der Demut und der Reue vergießt. In der Tat bewirkt Gott unaussprechlich mit der wunderbaren Gabe der Barmherzigkeit unser Seelenheil.‘³⁴⁰
Diesem antihöfischen Denkmuster entspricht nicht zuletzt, dass die adligen Figuren in der untersuchten Episode der Kudrun zwar durchaus noch ein gewisses Interesse an Gott zeigen, dieses sich, wie bereits erwähnt, allerdings auf sehnsüchtige, auf die Musik bezogene Anrufungen gen Himmel beschränkt (die Königin wünscht, ihr Kämmerer könnte singen wie Horant [374,4] und der König hätte gern selbst eine Stimme wie der Däne [383,4]). Musikkritisch grundiert ist in der 6. Aventiure darüber hinaus aber auch Hildes Wunsch, „unabhängig von der Öffentlichkeit des Hofes über die Kunst [Horants] zu verfügen“.³⁴¹ Denn den Auftrag, den Sänger in ihre privaten Gemächer und damit zum „innersten Bereich des irischen Hofes“³⁴² zu schmuggeln, erteilt die Königstochter hier ganz offensichtlich bedingt durch das aus antihöfischer Sicht sündhafte Verfüh-
Petrus von Blois: De confessione sacramentali. In: Petri Blesensis. Bathoniensis in Anglia Archidiaconi. Opera Omnia. Hrsg. von Jacques-Paul Migne. Paris 1904 (Patrologia Latina. 207), Sp. 1077– 1092, hier v. a. Sp. 1088 f. Johannes von Salisbury erwähnt hingegen nur sehr beiläufig einen gewissen Abt, der seinen Nonnen das Singen in der Messe verboten habe, da die Musik sie zu sehr vom Wort Gottes abgelenkt habe; vgl. dazu erneut Policraticvs, S. 48 f. Diese musikkritischen Ausführungen des Petrus von Blois fasst bereits Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 108 f., zusammen. De confessione sacramentali, Sp. 1088 f. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Wenzel, Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters, S. 408. Ebd., S. 406.
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rungspotenzial höfischer Tonkunst.³⁴³ Wie prekär diese passenderweise im Rahmen eines tageliedähnlichen Settings erzählten Handlungen der Figur aus Rezipientensicht einzuschätzen sind,³⁴⁴ drückt sich dabei schon im Wortlaut der zugehörigen Erzählerkommentare aus. Hier lässt sich zur Betonung des Heimlichkeitsaspekts von Str. 391 an nämlich eine auffallende Häufung von tougen bzw. tougenlîche feststellen.³⁴⁵ Wie zur negativen Bestätigung der Empfehlungen theologischer Traktate und höfischer Tugendlehren der Zeit, nach denen das höchste Gut eines adligen Mädchens, ihre Jungfräulichkeit, „nur durch die Trennung von der Welt bewahrt werden könne“,³⁴⁶ überschlagen sich die erzählten Ereignisse von nun an auch förmlich.³⁴⁷ So betont der Erzähler bereits im unmittelbaren Vorfeld der musikalischen Darbietung Horants im intimen Rahmen der Kemenate, welch große Anziehung dessen Kunstfertigkeit auf die Königstochter ausübt (393,3 – 4). Dass das hier beschriebene Interesse Hildes definitiv problematische Züge aufweist und nicht nur gegen die literarisch etablierten Regeln des Brautwerbungsschemas und Minnesangs, sondern auch gegen wesentliche Grundlagen des christlichen Glaubens verstößt, erweist sich dann nur wenig später:³⁴⁸ So will die zuvor immer wieder betont als Jungfrau stilisierte Königstochter dem adligen Sänger zum Dank für seinen Gesangsvortrag ausgerechnet
Vgl. Bleumer, Diagramm und Dimension, S. 114. Vgl. Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 71. Vgl. McConnell, The Epic of Kudrun, S. 35. Siehe dazu im Einzelnen auch Str. 391– 393: Dô bat in ir gewinnen daz schœne magedîn, / daz ez âne ir vater wizzen vil tougen solte sîn, / noch daz ir muoter Hilden niemen sagte daz mære, / daz er alsô tougenlîche in ir kemenâten wære. […] Er warb ez tougenlîchen jâ freute sich der man, / daz er sô guoten willen dâ ze hove gewan. / er was von fremeden landen gevarn nâch ir minne. / durch die sîne fuoge truoc si im wol holde sinne. Müller-Hagedorn, Höfisches Musizieren. Diese Haltung drückt sich, wie Sieber, Gender Studies, S. 124, hervorhebt, nicht zuletzt auch im stereotypen „Aktionsradius weiblicher Figuren“ der höfischen Literatur aus, der, „meist auf die Kemenate als Schutzraum beschränkt [bleibt]“. Zu den entsprechenden geistlich-didaktischen Empfehlungen zur Geschlechtertrennung am Hof, nach denen adlige Mädchen zu ihrem eigenen Schutze nur an ausgewählten gesellschaftlichen Ereignissen teilnehmen sollen, vgl. exemplarisch etwa das im Rahmen des nachfolgenden Kapitels ausführlich besprochene Erziehungstraktat De eruditione filiorum nobilium des Vinzenz von Beauvais (Vincent of Beauvais: De Eruditione Filiorum Nobilium. Hrsg. von Arpad Steiner. New York 1938, hier v. a. Kap. 42 De puellarum custodia et absonsione). Nach Müller-Hagedorn, Höfisches Musizieren, sind die in höfischen Erziehungstraktaten geforderten weiblichen Tugenden mit denjenigen in „kirchlichen Erziehungslehren weitgehend identisch“: „Der Schwerpunkt lag – wegen der angeblichen Veranlagung der Frau zur Sittenlosigkeit – im Bereich der chiusche und der zuht. Hierin erwartete man von ihr auch, gegebenenfalls, später auf ihren Ehemann einzuwirken.“ Zur grundsätzlichen Problematik der Rolle des Werbungshelfers in der ma. Literatur vgl. weiterhin auch Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 363: „Die Erzähllogik der heroischen Welt ordnet dem besten Mann die schönste Frau zu. Das Auftreten eines Werbungshelfers, dem es zufällt, anstelle des Werbers die Aufgabe zu lösen, verkompliziert das Schema, da der Helfer den Werber repräsentieren muss, ihn aber nicht überstrahlen darf. Das Schema implodiert, wenn der Helfer zugleich selbst der Beste ist.“
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ihren Ring und Gürtel überreichen (398 – 400).³⁴⁹ Dabei handelt es sich nun allerdings, wie von der Forschung schon oft hervorgehoben worden ist, um nur eine von zahlreichen Einzeltextreferenzen der Kudrun auf das Nibelungenlied. ³⁵⁰ Auf diese Weise werden die erzählten Vorgänge in einen Bezug zu dessen 10. Aventiure gesetzt, wo Siegfried dem physisch zu schwachen Gunther unter Einsatz seiner Tarnkappe ermöglicht, Brünhild gewaltsam zu entjungfern und ihr dabei aus unklaren Gründen ebendiese Gegenstände entwendet (660 – 682).³⁵¹ Kerstin Schmitt fasst den skizzierten intertextuellen Zusammenhang von Kudrun und Nibelungenlied an dieser Stelle wie folgt zusammen: Die Darstellung von Brünhilds Vergewaltigung enthält nicht nur das gleiche Figureninventar (Braut und Werbungshelfer) und die gleichen Gegenstände (Ring und Gürtel), auch das ostentativ geäußerte Vorhaben Horants, den Gürtel behalten zu wollen, spielt offensichtlich auf diese Szene an.³⁵²
Zur näheren Charakterisierung der Beziehung zwischen Hilde und Horant wird hier, neben dem Diskurs der geistlichen Hofkritik, durch Ring und Gürtel also auch intertextuell auf eine Szene des Nibelungenlieds mit problematischem sexuellem Gehalt rekurriert.³⁵³ Mit den Liebespfändern Ring und Gürtel übergibt sich Hilde so gesehen
So wird Hilde auffallend oft als maget bezeichnet (385,4; 386,1; 396,1 etc.) und auch ihre Bekleidung, ein liehte[s] […] gewande (385,3), verweist symbolisch auf einen jungfräulichen Status; vgl. zu ersterem Aspekt allgemein schon Sieber, Gender Studies, S. 119 f. Im Dukus Horant bietet Hilde Horant als Dank für seinen Gesang einen goldenen Ring mit Zauberstein an; von einem Gürtel ist in der altjiddischen Fassung im Gegensatz zur Kudrun jedoch nicht die Rede (F. 70.2,1). Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, das größere Teile der in Rede stehenden Strophen im altjiddischen Manuskript kaum lesbar sind. Gegen eine vergleichbare intertextuelle Bezugnahme auf das Nibelungenlied wie in der Kudrun spricht im Grunde aber schon die erwähnte magische śteineś kraft (F. 70.2,3). So etwa Uta Störmer-Caysa: Stellenkommentar. In: Kudrun. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Stuttgart 2010, S. 577– 628, hier S. 593, Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 360, Anm. 65, Schmitt, Poetik der Montage, S. 118 f., und Siebert, Rezeption und Produktion, S. 97 f. Zusammenfassend zur intertextuellen Bezogenheit der Kudrun auf das Nibelungenlied vgl. auch Stackmann, Kudrun, Sp. 422 f. Die als erstes von Hugo Kuhn: Kudrun. In: Nibelungenlied und Kudrun. Hrsg. von Heinz Rupp. Darmstadt 1976, S. 502– 514, geäußerte These, dass die Kudrun in vielerlei Hinsicht antithetisch zum Nibelungenlied konzipiert sei, ist heute Forschungskonsens. Ich zitiere den Text nach folgender Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrsg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert. 2 Bände. 29. Aufl. Frankfurt a. M. 2004. Zu Ring und Gürtel vgl. hier insbesondere Str. 679 f.: Sîfrit stuont dannen, lígen líe er die meit, / sam er von im ziehen wolde sîniu kleit. / er zôch ir ab der hende ein guldîn vingerlîn, / daz si des nie wart innen, díu édele künegîn. / Dar zuo nam er ir gürtel, daz was ein porte guot. / ine wêiz ob er daz tæte durch sînen hôhen muot. / er gap ez sînem wîbe; daz wart im sider leit. / dô lâgen bî ein ander Gunther unt diu schœniu meit. Schmitt, Poetik der Montage, S. 118 f. Zur Funktion dieser intertextuellen Referenz auf das Nibelungenlied in der Kudrun vgl. (m. E. versimplizierend) auch ebd., S. 119. Vgl. Siebert, Rezeption und Produktion, S. 101– 103, im Rückverweis auf Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 66.Wie Siebert (ebd., S. 97) herausstellt, wirft der intertextuelle Kontext des Nibelungenlieds darüber hinaus allerdings auch strukturell gesehen ein
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
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„symbolisch selbst an Horant“.³⁵⁴ Die besondere Konnotation ihrer Gaben sollte jedoch selbst für einen literaturunkundigen Rezipienten offensichtlich gewesen sein:³⁵⁵ Denn der Ring steht schon im Mittelalter für die „Verbundenheit von Geliebten bzw. Verheirateten“³⁵⁶ und der Gürtel verweist aufgrund seiner Verwendung beim Vermählungsritual seit der Antike auf die „freiwillige[…], gegebenenfalls in der Ehe mündende[…] sexuelle Begegnung“.³⁵⁷ Die (zu) große Vertraulichkeit der Situation wird aber nicht zuletzt auch in der intim-vertrauten Weise greifbar, in der Hilde Horant mit friunt anspricht (398,2).³⁵⁸ Auf ganz verschiedene Arten und Weisen wird im Rahmen der vorliegenden Szene also nachdrücklich „die Gefahr eines Kurzschlusses zwischen außergewöhnlichem Werbungshelfer und Braut evoziert“ und damit „die Erwartung eines Schemabruchs [erzeugt], wie er im Tristan und im Nibelungenlied
zwiespältiges Licht auf Horants betörenden Gesang: „An die Stelle der pervertierten Werbung durch trugvollen Kampf im ‚Nibelungenlied‘ tritt in der ‚Kudrun‘ die Werbung durch Gesang. Siegfried unterstützt seinen Freund mit der magischen Hilfe des Tarnmantels, Horant zieht Mensch und Natur durch Gesang in Bann“. Störmer-Caysa, Stellenkommentar, S. 593; ähnlich (mit Bezug auf Brünhild und das Nibelungenlied) außerdem auch schon Sieber, Gender Studies, S. 122. Etwas schwächer formuliert eine solche These außerdem auch schon Schmitt, Poetik der Montage, S. 119. Ganz anders dagegen erneut Grenzler, Erotisierte Politik, S. 440 f. Siebert, Rezeption und Produktion, S. 102, hebt in diesem Zusammenhang die besonders starke sexuelle Konnotierung des Gürtels hervor: „Der Gürtel ist Zeichen der Jungfräulichkeit, an die in Brünhilds Falle die überragende Körperkraft gebunden ist. Was Siegfried in der Hochzeitsnacht leistet, ist nicht mehr und nicht weniger als Beihilfe zur Vergewaltigung.“ Vgl. hierzu im Einzelnen auch Str. 677 des Nibelungenlieds: Dô gréif sí [Brünhild; J. S.-B.] zir sîten, dâ si den porten vant, / unt wolte in hân gebunden. dô werte ez sô sîn hant, / daz ir diu lit erkrachten unt ouch al der lîp. / des wart der strît gescheiden: dô wart si Guntheres wîp. Zu Kleidungsstücken und Schmuck als Liebespfändern vgl. weiterführend auch Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 212 f. Vgl. dazu bereits Störmer-Caysa, Stellenkommentar, S. 592 f.: „Hilde gibt Horant Ring und Gürtel als Dank, ohne vor der symbolischen Bedeutung dieser Gaben zurückzuschrecken. Das ist im hier konjizierten Text schon abgemildert, im Text der Handschrift aber noch deutlicher, wo es heißt: des man mir vergicht. daz ich Sy behalten mag. Das bedeutet dann: ‚Darüber wird man mir sagen, dass ich sie für mich behalten / dass ich sie behüten kann.‘ Diese doppeldeutige Formulierung ist der Situation durchaus angemessen, in der sich Hilde ja in Horant, nicht in Hetel verliebt.“ Nine Miedema: Brünhilds Ring und Gürtel. In: Mittelneu. Nachwuchsforschergruppe ‚Mittelhochdeutsche Texte im Deutschunterricht‘ der Universität Duisburg-Essen. Duisburg 2012 [https:// www.uni-due.de/~hg0222/index.php?option=com_content&view=article&id=358:begehrenswertedinge-ring-und-guertel-3-von-3&catid=83&Itemid=347, Zugriff: 22.03. 2016]. Claudia Schopphoff: Der Gürtel. Funktion und Symbolik eines Kleidungsstücks in Antike und Mittelalter. Köln/Weimar/Wien 2009 (Pictura et poesis. 27), S. 127. Mit Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 361, ist Hildes Angebot außerdem auch vor dem Hintergrund der impliziten Gattungsregeln zeitgenössischer Minnelyrik, auf welche die Aventiure ja immer wieder rekurriert, als „prekär“ einzuschätzen, da „die Gegengabe, die Horant zum Lohn für seinen Sang von der jungen Hilde erhält, nicht von der Konzeption des Frauendiensts durch den Sang gedeckt ist.“ Auf dieses Spiel mit lyrischen Gattungskonventionen verweist auch Schmitt, Poetik der Montage, S. 118, nach der hier so v. a. „Spannung“ erzeugt werde. Darauf verweisen bereits Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 360, und Schmitt, Poetik der Montage, S. 118.
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vorliegt.“³⁵⁹ Auch Horant scheint sich der großen Brisanz seiner Situation bewusst zu sein, wenn er, „gebührend Abstand schaffend, die Anrede in vrouwe“ wandelt (402,4),³⁶⁰ und von Hilde lediglich den Gürtel als Gabe (für seinen Herrn!) annimmt, und zwar nicht ohne den entschuldigenden Zusatz anzufügen: ‚des man mir vergiht, / daz ich † sî behalten †, maget vil minneclîche (400,2– 3). Das erotische Moment der Begegnung zwischen Horant und Hilde ist im altjiddischen Dukus Horant – dem „Fragment eines Kurzepos“ aus dem 14. Jahrhundert, das „die Hilde-Handlung der Kudrun [variiert], ohne, dass diese als Bezugstext vorausgesetzt werden kann“ – übrigens sogar noch etwas weiter ausgebaut.³⁶¹ Hier bietet die Königstochter dem höfischen Sänger im Gegenzug für weitere musikalische Darbietungen nämlich neben Silber und Gold außerdem auch den „Beischlaf mit einer Stellvertreterin“ an:³⁶² Es handelt sich dabei um ihre (ebenfalls adlige) Zofe, eine Herzogstochter (F. 67.1).³⁶³ Im weiteren Handlungsverlauf bringt Hilde dann zudem auch mehrfach explizit ihr eigenes sexuelles Begehren für den höfischen Sänger zum Ausdruck, den sie laut eigener Aussage sehr viel lieber als seinen Herren Etene heiraten möchte, und daher am Hofe ihres Vaters geradezu auf Schritt und Tritt verfolgt.³⁶⁴ Obwohl sich die entscheidende Gesangsszene im Dukus Horant sogar unter
Schmitt, Poetik der Montage, S. 117. Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 91. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 362. Wenn hier und und im Folgenden Vergleiche der Kudrun mit dem Dukus Horant hinsichtlich der Beziehung von Horant und Hilde angestellt werden, soll damit nicht der Eindruck einer zwangsläufigen Abhängigkeit beider Dichtungen vermittelt werden. Vielmehr geht es mir darum, das dem gemeinsamen stofflichen Kern beider Texte ja ganz offensichtlich inhärente musikalische Problempotenzial in seinen verschiedenen Aktualisierungen innerhalb einer (sehr weit gefassten) deutschsprachigen Literatur des Mittelalters herauszuarbeiten. Zum Verhältnis von Dukus Horant und Kudrun, über das in der Forschung bis heute keine Einigkeit besteht, vgl. zusammenfassend Stackmann, Kudrun, Sp. 418 f.: „Vor einem ähnlichen Problem wie bei den Balladen steht man im Falle des ‚Dukus Horant‘. Es gibt eine Reihe von Motivparallelen zum Hildeteil der ‚Kudrun‘ und auch die Namen einiger Hauptpersonen stimmen überein. Die Gemeinsamkeiten reichen aber nicht aus, um die Herkunft des ‚Dukus Horant‘ aus der ‚Kudrun‘ zu erweisen. Beide können auf (u. U. mündliche) Dichtungen des gleichen Quellenbereichs zurückgehen.“ Detaillierter zu den inhaltlichen Gemeinsamkeiten und Unterschieden beider Texte vgl. weiterhin Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 116 f. Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 61 f. Vgl. Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 114. Interessanterweise wird dieses überaus delikate Angebot in der Figurenrede des Dukus Horant gleich zweimal ausführlich thematisch: Und zwar einmal geäußert von Hilde selbst sowie – nur drei Strophen später – noch einmal ausführlich und in größtenteils wörtlicher Wiederholung durch ihre Zofe. Die entsprechenden Textstellen (F. 67.1,1– 4/4,1– 4) lauten in der Transliteration der verwendeten Ausgabe von Ganz/Norman/Schwartz: „…… dër dëgen kune wolde dër zu miner kemenoten gan, / zehen tusent mark roteś goldeś scholde ër zu lone han. / och scholde ër hint haben ein schoneś mëgetin, / di muśte sin ślof geselin sin“ und „…… dëgen kune, woldeśtu zu miner vrouen kemenoten gan, / zehen tusent mark roteś goldeś scholdeśtu zu lone han. / och scholdeśtu hint haben ein schoneś mëgetin, / di muśte din ślof geselin sin.“ So auch Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 120: „Diese zweite Gesangsszene ist handlungsmotivierend: Hilde hört zu und entwickelt eine nachgerade zwanghafte Gier nach weiterem Kunstgenuß.
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
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einer linden (F. 67.6,4) abspielt,³⁶⁵ weist der (hier außerdem auffallend schöne) Horant Hildes Angebot mit Hinweis auf seine geliebte Ehefrau jedoch auch in der altjiddischen Fassung zurück (F. 68.1,3 – 4).³⁶⁶ Zusammengefasst lässt sich das Verhalten der Hildefigur also sowohl in der mittelhochdeutschen Kudrun als auch im altjiddischen Dukus Horant als narrative Umsetzung des hofkritischen Topos, nach dem weltlich-kunstvolle Musik Empfindungen der Lüsternheit bewirkt, in ein überaus problematisches Figurengebaren lesen.³⁶⁷ Indem beide höfische Erzähltexte auf diese Weise andeuten, was geschehen kann, wenn adlige Töchter vor ihrer Hochzeit Kontakt mit Männern – und zwar insbesondere mit gesangstechnisch versierten Männern – haben, bedienen sie zugleich jedoch auch verbreitete zeitgenössische Geschlechtsstereotypen wie die größere Sittenlosigkeit der Frau.³⁶⁸ Aus antihöfischer Sicht ist Hilde übrigens – abgesehen von
Diese Gier lässt sie gegen die analogen Szenen in der ‚Kudrun‘ und im ‚Rother‘ selbst zum Brautwerber gehen.“ Vgl. dazu im Einzelnen auch den Dukus Horant (F. 71.4– 6) in der Transliteration von Ganz/ Norman/Schwartz: da śprach di schone maget „vil lieber here min, / ich wolde ………… dir sëlber sin. / das tete ………… ant, / ich vor lośe mit dir mineś vater lant. / ër śprach gezogenlichen „vil śtolze kunegin, / igen gezëme dir nicht zu mane, ich mochte wol din eigen sin. / och han ich daś aller schonśte wip, / di libe ich alse minen eigen lip. / unde nimeśtu minen heren ……… ich din dineśt man / … da will ich …alen ziten zu diner …… gan, / und ich singe dir, vroue …….“ Vgl. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 366: „Indem der Helfer die Braut zum locus amoenus bestellt, gefährdet er das Werbungsschema wie seine Werbungsabsicht durch die nahe liegende Verwechslung mit dem Werber selbst. Die junge Hilde tappt geradewegs in diese Falle.“ Als Horant in Griechenland eintrifft, wo er für seinen Herren Etene um die Prinzessin Hilde werben soll, nimmt ihn ein reicher Kaufmann als Gast auf, welcher ihn auffälligerweise direkt als erstes darum bittet, nicht Hand an seine Ehefrau zu legen. Vgl. dazu F. 55.7,1– 2 in der Transliteration der Ausgabe von Ganz/Norman/Schwartz: „unde sit wirt in mime huse uber aleś daś ich han, / one mine vroue eine, di will ich sëlber beśtan“. Zu Horants physischer Schönheit vgl. weiterhin auch die entsprechende Schilderung Hildes nach ihrer ersten Begegnung (F. 65.1– 2: da di junge kunegine … Horant alse nahen kam, / si blikte ime under di ougen, / […] si gedochte in ireme mute „here got, wër iśt dieser man ? / ër get sa rëchte schone unde iśt sa wol getan / unde śtet alse wunkelich. / ër mak wol sin ein vurśte rich.“) sowie die Beschreibung Horants durch Etene als einen hubesche[n] man (F. 46.1,1). Vgl. hierzu erneut den Policraticvs, S. 49: Cum haec quidem modum excesserint, lumborum pruriginem quam deuotionem mentis poterunt citius excitare (‚Wenn freilich diese Dinge das Maß überschritten haben, werden sie schneller eine sexuelle Erregung der Lenden hervorrufen können als die Frömmigkeit des Herzens‘). Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 55, sieht in Hildes Begehren dagegen eine Anspielung auf die frühe mhd. Minnesangtradition, wie sie etwa im Werk des Kürenberger überliefert ist. Auch wenn dem grundsätzlich zuzustimmen ist, übergeht eine solche Lesart die zahlreichen Bezugnahmen der Episode auf die lateinische Musikkritik. Diese für die diskursspezifischen Frauenbilder des Mittelalters allgemein prägenden Negativstereotypen lassen sich zum Teil (z. B. Sinnlichkeit/Lüsternheit, Wankelmut, Zanksucht, Hochmut, List, Heuchelei) schon in der antiken Literatur bei Vergil, Juvenal, Ovid etc. finden; vgl. dazu überblicksartig Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 454– 458, hier v. a. S. 457 f., u. 470 – 472. Grundlegend zur Konzeption der Frauenfiguren der Kudrun siehe außerdem Ingrid Bennewitz: Kriemhild und Kudrun. Heldinnen-Epik statt Helden-Epik? In: Mittelhochdeutsche Heldendichtung außerhalb des Nibelungen- und Dietrichkreises (Kudrun, Ornit, Waltharius, Wolfdietrich). 7. Pöchlarner Heldenliedgespräch.
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ihrem weiblichen Geschlecht – auch durch ihr jugendliches Alter besonders gefährdet, lasterhaften Einflüssen zum Opfer zu fallen und dadurch „ihre soziale Existenz, die nur durch das patriarchale Modell der Ehe abgesichert ist oder im alternativen Raum eines Klosters vorstellbar wäre“,³⁶⁹ aufs Spiel zu setzen. Denn schon Johannes von Salisbury mahnt im Policraticus ein stärkeres Bemühen der älteren Generation zum Schutz ihrer Kinder vor weltlichen Versuchungen an.³⁷⁰ Im Fall der irländischen Prinzessin müssen solche Bemühungen jedoch geradezu zwangsläufig versagen: Denn am Hofe weiß schlicht und ergreifend (fast) niemand etwas davon, in welch prekäre Lage sie sich aufgrund ihrer Gier nach Horants Gesangskünsten gebracht hat.³⁷¹ Alles in allem erscheint Hilde in der 6. Aventiure damit als eine „etwas zwielichtig agierende[] junge Frau“,³⁷² deren Verhalten unter dem Einfluss weltlicher Tonkunst nicht länger von höfischen Werten wie kiusche, zuht und mâze, sondern von ihren ungezügelten Trieben bestimmt ist.³⁷³ Dieses Moment der
Pöchlarn, 3.–6. April 2002. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2003 (Philologica Germanica. 25), S. 9 – 20, und Theodor Nolte: Unde daz sie wære ein wîp unwandelbære: Weibliche Rollenbilder des ‚Kudrunepos‘ im Vergleich mit hagiographischen und höfischen Frauenentwürfen. In: New Methods in the Research of Epic. Hrsg. von Hildegard L. C. Tristram. Tübingen 1998 (ScriptOralia. 107), S. 223 – 249. Sieber, Gender Studies, S. 123 (allerdings mit Bezug auf Kriemhild und das Nibelungenlied). Entsprechende Vorstellungen von Weiblichkeit produziert vor allem der theologische, aber, wie Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 253 – 256, hier S. 254, ausführt, darüber hinaus auch der (v. a. antiken Wissensbeständen verpflichtete) medizinische Diskurs des Hochmittelalters. Frauen wird hier „eine schwächere Konstitution“ zugeschrieben; sie seien dadurch bedingt „weniger vernunftskontrolliert als Männer“ sowie „stets zum Geschlechtsverkehr bereit und mit unersättlichem Begehren ausgestattet“. Zur zwischen Verehrung und Verachtung schwankenden Inszenierung von Weiblichkeit in der höfischen Dichtung vgl. außerdem schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2., S. 459 – 466, hier v. a. S. 459. Vgl. Policraticvs, S. 45. Ähnlich argumentiert, wie Rosemary Barton Tobin: Vincent of Beauvais’ Double Standard in the Education of Girls. In: History of Education 7 (1978), S. 1– 5, hier S. 1, herausarbeitet, neben Johannes von Salisbury später etwa auch der französische Hofkritiker Vinzenz von Beauvais. Die hier im Anschluss an den hofkritischen Diskurs verhandelte besondere Affinität schöner Frauen zu kunstvoller Musik thematisiert in einem seiner Sangsprüche am Beispiel der Elêne / von Kriechen (V. 6 f.) bspw. auch Konrad von Würzburg; vgl. Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Volker Schupp, Theodor Nolte. Stuttgart 2011 (RUB. 18733), S. 190 f. Für diesen Hinweis danke ich Fabian Scheidel (Köln). Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 74. Das christliche Stereotyp weiblicher Unkeuschheit wird, wie Frakes, Brides and Doom, S. 205, hervorhebt, dann auch im dritten Teil der Kudrun noch einmal im Zusammenhang mit Hergards Verführung durch Hartmut thematisch: Sie muss dafür später – ebenso wie die ‚Teufelin‘ Gerlind – sterben. Zu dem einer solchen Art des Verhaltens entgegengesetzten Ideal der höfischen Dame vgl. etwa Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 477– 481. Vgl. dazu exemplarisch auch den Welschen Gast, V. 1415 – 1420, nach dem eine höfische Dame sich durch ir guote site, ir kiusche, ir guot getæte, ir triuwe und ouch ir stæte, ir prîs und ir hüfscheit, ir guoten namen und edelkeit und ir tugent auszeichnet. Mit dieser Art der Figurenzeichnung hebt sich der Kudrun-Epiker auffällig von den skandinavischen Versionen der Sage ab, wie sie etwa bei Snorri Sturluson oder Saxo Grammaticus überliefert sind. Dort verfügt Hilde
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
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Figurenkonzeption wird abschließend auch noch einmal durch den überraschend expliziten Umgang Hildes mit dem sexuellen Aspekt ihrer zukünftigen Ehe – ein sehr unhöfisches Redeverhalten – untermauert:³⁷⁴ Si sprach: ‚[…] ich wolte im [d. h. Hetel; J. S.-B.] ligen bî, / ob du [Horant; J. S.-B.] mir woltest singen den âbent und den morgen‘ (405,1– 3).³⁷⁵ Wie schon Helmut Tervooren anmerkt, wird durch diesen sprachlichen Normverstoß aber auch noch einmal ganz deutlich, dass Hilde eben nicht an Hetel, sondern an seinem Vasall Horant interessiert ist.³⁷⁶ Wo die Musikdarstellung des Kudrun-Epikers mittlerweile also von hofkritischen Topoi dominiert ist, muss der diskursive Wahrheitsanspruch der entsprechenden höfischen Pendants angesichts des erzählten Figurenverhaltens zunehmend zweifelhaft erscheinen. Daher ist für die entsprechende Diskursposition am Ende auch nur noch im Rahmen der Figurenrede Hildes Platz: Halb verzaubert, halb naiv sieht die irländische Prinzessin Horants Gesänge nach wie vor als das Juwel aller freudenspendenden höfischen Zerstreuungen an (395,4: vor aller freude ob aller kurzwîle ein gimme) – eine Sicht, die der Rezipient so schon längst nicht mehr uneingeschränkt teilen kann.
nämlich noch selbst über magische Gesangsfähigkeiten, welche die hier geradezu dämonenhaft anmutende Königstochter benutzt, um nach der von ihr verursachten finalen Schlacht die Toten wieder zum Leben zu erwecken. Vater und Entführer verharren dadurch in einem ewigen Kampf, weshalb die Musik auch hier deutlich negativ besetzt ist. Zur nordischen Stofftradition vgl. überblicksartig Stackmann, Kudrun, Sp. 415 – 419, sowie Schmitt, Poetik der Montage, S. 126 f., die Hildes „vermittelnde Position“ (ebd., S. 127) in der Kudrun hier ebenfalls nachdrücklich von der altnordischen Überlieferung abgrenzt. Zum höfischen Redeideal vgl. erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 477– 479, sowie die im Welschem Gast formulierten Verhaltensregeln für adlige Frauen: ein vrouwe sol niht vrevelîch schimphen (V. 397 f.), ein juncvrouwe sol senfticlîch und niht lût sprechen (V. 405 f.), ein juncfrouwe sol selten iht sprechen, ob mans vrâget niht. ein vrouwe sol ouch niht sprechen vil […] und benamen swenn si izzet (V. 465 – 469). Eine weitere berühmte Frauenfigur der höfischen Literatur, die wie Hilde über ihr von der Norm abweichendes Sprechverhalten eine Negativcharakterisierung erfährt, ist übrigens Hartmanns Laudine; vgl. dazu grundlegend Ralf Wohlgemuth: ‚Der Tod des Königs‘ – weibliche Herrschaftsinszenierung durch kompetatives Sprechverhalten in Hartmanns ‚Iwein‘. In: Mauerschau 1 (2008), S. 59 – 76. Loerzer, Eheschließung und Werbung, S. 60, merkt zu dieser „eigenartig[en]“ Aussage der HildeFigur psychologisierend an: „Eine solche Bedingung scheint denn doch in keinem Verhältnis zu einem derart gewichtigen Lebensentscheid zu stehen. Sie wirkt gewollt und überspannt, ja geradezu unsinnig.“ Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 92, möchte den Versen aus ähnlichen Gründen sogar noch ihr „wörtliches Gewicht“ absprechen. Vgl. Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 74. Etwas schwächer dazu auch Störmer-Caysa, Stellenkommentar, S. 592 f., Schmitt, Poetik der Montage, S. 117, und Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 90. Diese Lesart unterscheidet sich erneut grundlegend von derjenigen Grenzlers, Erotisierte Politik, S. 442, laut dem Hilde hier „nichts anderes [fordert], als dass ihr künftiger Gatte in der Lage ist, seinen – mittels Horants Gesang – einmal bewiesenen Status permanent aktualisieren zu können.“
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2.3.2 Treuer Vasall oder Minnesänger? Zur ambivalenten Konzeption der Horantfigur Doch auch was die Konzeption der Horantfigur angeht, lohnt sich eine neuerliche Revision vor dem diskursiven Hintergrund der lateinischen Hofkritik. Denn in der Tat sind im Kontext der 6. Aventiure der Kudrun zeitweise auch die Absichten des höfischen Sängers gegenüber der irländischen Königstochter unklar.³⁷⁷ Dubios erscheint in diesem Zusammenhang zunächst, dass Horants Gesangsvortrag sowohl von Fruote als auch von ihm selbst mehrfach explizit als eine Form des dienens eingestuft und damit nachdrücklich der lyrische Assoziationsrahmen der Werbungssituation aufgerufen wird (378,1; 382,4; 396,4).³⁷⁸ Dies wirft die Frage auf, ob Horant hier temporär womöglich nicht nur in seiner Funktion als Vasall Hetels, sondern auch selbst als Minnesänger agiert.³⁷⁹ Doch auch seine Liedauswahl wirft ein befremdliches Licht auf den höfischen Sänger: Denn ähnlich wie in Gottfrieds Tristan scheint die besonders problematische Wirkung, die Horants Gesang schließlich in der Kemenate auf Hilde ausübt, nicht zuletzt mit ihrer fremdländischen Herkunft zusammenzuhängen: Horants wîse […] von Amilê, die dieser erstmals ûf dem wilden fluote – d. h. gesungen von Wasserfrauen – hörte, und die nach Aussage des Erzählers gelernte nie kristen mensche sît noch ê (397,2), ist sowohl ihrer Herkunft als auch ihrer Verbreitung nach offensichtlich böse, „heidnisch-außerchristliche“³⁸⁰ Musik. Durch den zitierten Erzählerkommentar wird Horants Darbietung jedenfalls in einen engen assoziativen Zusammenhang mit den auch im hofkritischen Diskurs immer wieder als musikali-
So schon Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 71 f.; anders erneut Grenzler, Erotisierte Politik, S. 439 f. Vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 368, Anm. 18, und Schmitt, Poetik der Montage, S. 116. So die These Tervoorens, Helden in der Lyrik, S. 69. Vgl. dazu auch ebd., S. 74 f. Ähnlich weiterhin auch Müller, Höfische Kompromisse, S. 368, Anm. 18, Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 361, und Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 66. Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 126, ergänzt, dass sich diese Lesart vor allem durch eine „sich gewissermaßen verselbstständigende[] Episodengestaltung, die ihr Muster im ‚Tristan‘ zu finden scheint“, aufdrängt. Ganz anders deuten die Szene hingegen Schmitt, Poetik der Montage, S. 116, und Grenzler, Erotisierte Politik, S. 441 f. Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 66. In der Parallelszene des Dukus Horant (unter dem Lindenbaum; F. 69.4 ff.) wird die Liedauswahl Horants dagegen nicht näher erläutert, es ist stattdessen nur von seiner śtime di alse suśe erklank die Rede (F. 69.4,1). Die ältere Forschung zu dieser Textstelle, wie sie im Kommentarteil von Ernst Martins Ausgabe der Kudrun (Halle 1872 [Germanistische Handbibliothek. 2], hier S. 93), zusammengefasst ist, zog neben den antiken zusätzlich auch arabische und nordische Darstellungsvorbilder in Betracht; vgl. dazu bereits Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 73, inkl. Anm. 45. Darüber hinaus kommt hier möglicherweise auch eine Einzeltextreferenz auf einen Sangspruch Konrad von Würzburgs in Betracht, ein (ironisches) Lob eines Mîssenærs (V. 1), der seine zweifelhaften Gesangsfähigkeiten ebenfalls auf dem Meer von einer syrêne (V. 6) lernt, in Frage; vgl. Mittelhochdeutsche Sangspruchdichtung des 13. Jahrhunderts. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Volker Schupp, Theodor Nolte. Stuttgart 2011, S. 190 f. Für diesen Hinweis danke ich Fabian Scheidel (Köln).
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sches Negativexempel verwendeten Sirenen gebracht, deren Gesängen nur Odysseus und Orpheus jemals wieder entkommen konnten.³⁸¹ Unter Theologen gelten die Sirenen daher noch im hohen Mittelalter als mythologischer „Inbegriff sexueller Betörung“.³⁸² Wenn Horant in dieser Szene aber nicht nur als „Auslöser und Ziel weiblichen Begehrens“,³⁸³ sondern gleichermaßen auch als betörende männliche Sirene inszeniert wird, ist dies nicht zuletzt aus der Gender-Perspektive hochinteressant. Denn auf diese Weise verkehrt der Kudrun-Epiker einerseits das besondere „Geschlechterverhältnis“ des Sirenenmythos (verführende Frauen vs. verführte Männer) in sein Gegenteil, wobei die ihm eigene „Vertauschung der Rollen von Penetration und Rezeption“ wieder rückgängig gemacht und so patriarchalen Denkmustern angepasst wird.³⁸⁴ Durch die Analogien zwischen der (männlichen) Horantfigur und den (weiblichen) Sirenen werden zugleich aber auf der Rezeptionsebene auch „Phantasien freigesetzt“, die „nicht dem Begehrensmodell der heteronormativen Matrix“ entsprechen, sondern „die Geschlechterordnung zumindest vorübergehend [irritieren].“³⁸⁵ Speziell aus hofkritischer Perspektive scheinen in diesem Aspekt der Figurenkonzeption nun gleich zwei (auf Geschlechtsstereotypen basierende) Topoi auf: die effeminatio des adligen Musikers sowie die – von Fruote nicht umsonst mehrfach als ungefüege (382,3 – 4) bezeichnete – Hofmusik als verführerisch-gefährlicher Sirenengesang (Sirenarum concentus).³⁸⁶ Der Dukus Horant verhandelt diese Sirenenthematik übrigens erneut sogar noch etwas intensiver: So kann Horant, der hier seine Gesangskünste bereits während der Seefahrt nach Griechenland zum Besten gibt, mit seinem Gesang nicht nur zusätzlich auch ein Unwetter bezwingen (Orpheus!), sondern
Vgl. Homer: Odyssee. Griechisch/Deutsch. Hrsg. und übertragen von Anton Weiher. Düsseldorf/ Zürich 2003, XII,36 – 54, XII,153 – 164 u. XII,165 – 200, sowie Apollonius von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Stuttgart 2002 (RUB. 18231), IV,891– 919 u. IV,1264– 1290. Zur „Unbestimmtheit und Ambivalenz der Sirenenepisode in der Odyssee“ sowie den Vereindeutigungstendenzen der christlichen Rezeptionsgeschichte siehe zusammenfassend erneut auch Herwig, Sirenen und Wasserfrauen, S. 120 – 122 (Zitat ebd., S. 120). Rüdiger Schnell: Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica. 27), S. 337. So auch Herwig, Sirenen und Wasserfrauen, S. 121. Dabei wird der antike Mythos nach Andreas Kraß: Poetik der Stimme. Der Gesang der Sirenen in Homers Odyssee, im Tristan Gottfrieds von Straßburg und im Buch der Natur Konrads von Megenburg. In: der âventiuren dôn. Klang, Hören und Hörgemeinschaften in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz,William Layher.Wiesbaden 2013 (Imagines Medii Aevi. 31), S. 31– 44, hier S. 42, oft „mit dem biblischen Mythos von Adam und Eva kurz[geschlossen]. Sirene und Eva erscheinen als typologische Vorbilder der sündhaften Frau.“ Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 72. Vgl. dazu weiterhin auch ebd., S. 70 f. Auf die Art der Darstellung Horants als Sirene verweist schon Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 121, Anm. 29, der hier beiläufig Parallelen zwischen dem Gesang Horants sowie speziell der Darstellung Isoldes als „Sirene“ bei Gottfried von Straßburg konstatiert, dieser Spur dann aber nicht weiter nachgeht. Zu diesem Aspekt vgl. auch erneut S. 103 – 105 der vorliegenden Arbeit. Kraß, Poetik der Stimme, S. 31. Sieber, Gender Studies, S. 111 f. Vgl. dazu erneut den Policraticvs, S. 49.
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lockt damit auch mermine und vische an die Meeresoberfläche (F. 52.1– 2).³⁸⁷ Die grundlegende Zwiespältigkeit der höfischen Sängerfigur wird am Schluss der 6. Aventiure der Kudrun dann schließlich auch noch einmal durch die offensichtlich erlogenen Versprechungen untermauert, die Horant Hilde bezüglich ihrer Zukunft als Königin von Hegelingen macht (405 f.):³⁸⁸ Dass er für sie weiterhin jeden Abend am Hof von Hetel musizieren werde, ist schon insofern gar nicht möglich, als er als Herrscher von Dänemark kein dauerhaftes Mitglied von Hetels Hofgesellschaft ist – er hat schließlich ein eigenes Land zu regieren.³⁸⁹ Und auch von den zwölf adligen Meistersängern, die gar ze prîse für Hetel singen (406,3) sowie der angeblichen musikalischen Kunstfertigkeit seines Herren ist später nicht noch ein einziges Mal die Rede.³⁹⁰ Wie meine Re-Lektüre der 6. Aventiure ergeben hat, speist sich die Musikdarstellung der Kudrun in vielfacher Hinsicht aus den Wissensbeständen konkurrierender Diskurse. Dabei entwirft das mittelhochdeutsche Epos im Anschluss an die Argumentationsweisen des höfischen Diskurses zunächst ein prächtiges Musikszenario, das im weiteren, zunehmend den Regeln des hofkritischen Diskurses folgenden Handlungsverlauf dann jedoch als vordergründig entlarvt wird.³⁹¹ In diesem Zusammenhang steigert sich die Problematik der Musikwirkung von der freudigen Verzückung und Lähmung der Zuhörer über die Ablenkung vom christlichen Glauben bis hin zu Lüsternheit und sexueller Frivolität. Im Kontext einer stark gegenderten Mu-
Vgl. Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 364, sowie im Einzelnen den Dukus Horant, F. 52.1,1– 4: da begunde ër alse lute unde alse suśe singen, / daś di mermine zume schife begunde ale dringen, / unde di vische in dëme bodeme / śwumen ale obene. Auf diese „glatte Lüge“ verweist schon Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 67. Zur Lüge als Verstoß gegen das höfische Verhaltensideal vgl. außerdem exemplarisch erneut den Welschen Gast, V. 215 – 224: Ruom, lüge, spot – swer die drî / hât, der mac niht heizen ‚vrî‘, / wan der ist schalc der schalkeit. / im sî mîn dienest widerseit. / das ist der zühte gebot, / da niemen habe des andern spot / und daz weder wîp noch man / niht enliege den andern an. Zur grundlegenden Ambivalenz der höfischen Sängerrolle und deren sich insofern geradezu anbietender Verschränkung mit der Rolle des Werbungshelfers in der Kudrun siehe weiterhin auch Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 59: „Die Rolle des Werbungshelfers und des Sängers gleichen sich […] insofern, als dass sie beide zumindest potentiell soziale Katastrophen auslösen können.“ Vgl. dazu schon Störmer-Caysa, Stellenkommentar, S. 593. Im Dukus Horant (F. 71.2) preist Horant hingegen nur die überragenden musikalischen Fähigkeiten und die Freigebigkeit seines Herrn Etene an; von weiteren Musikern an dessen Hof ist hier nicht die Rede. Auf diesen Umstand verweisen auch schon Schmitt, Poetik der Montage, S. 120, sowie Riedel, Musik und Musikerlebnis, S. 207. Die Lüge Horants kann mit Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 363, allerdings auch als „Sicherungsmechanism[us]“ gedeutet werden, „um das Scheitern des Erzählens an den Friktionen seiner Schematik abzuwenden“; ähnlich auch schon Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 92, der betont, dass diese Behauptungen Horants eben auch „der letzte Versuch“ seien, „die Zuneigung Hildes auf eine sozial adäquate Weise auf seinen Herren überzuleiten und so ihr beiderseitiges Verhältnis zu neutralisieren“. Zu einer ähnlichen Art der Verarbeitung hofkritische Topoi im Nibelungenlied vgl. erneut auch die (allerdings primär sozialhistorisch argumentierende) Studie Jaegers, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, hier v. a. S. 198 – 200.
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sikkritik erweist sich dabei insbesondere der weibliche Teil der irländischen Königsfamilie (die alte und die junge Hilde) als gefährdet, was einerseits dem Fokus der Kudrun auf weibliche Figuren entspricht, andererseits aber auch in ganz offensichtlicher Weise verbreitete Geschlechtsstereotypen bedient. Ähnlich wie schon bei Gottfried von Straßburg wird die höfische Musik also auch in der Kudrun weniger als ein freudenspendender und standesgemäßer Zeitvertreib des Adels präsentiert, sondern vor allem als etwas Funktionalisierbares, ein (in christlich-moralischer wie politischer Hinsicht problematisches) Mittel zum Zweck.³⁹² Denn durch seinen Gesang gelingt es Horant, dessen Wissen um die entsprechenden Vorlieben der Irländer schon zuvor als großer Vorteil für die Unternehmung betont worden war, am Hofe Hagens sehr schnell, der friunde vil (373,2) und sô grôzez (378,2) zu gewinnen.³⁹³ Bei einer solchen Durchsetzung individueller Interessen und Vorteile handelt es sich aus geistlicher Sicht jedoch – wir erinnern uns an die entsprechende Argumentation Johannes’ von Salisbury am Beispiel der Spielleute – um eine höchst verwerfliche Form des Musikeinsatzes mit stets negativen Folgen.³⁹⁴ Und so singt schließlich auch Horant in der 6. Aventiure der Kudrun, wie schon Stefan Müller ausführt, „die Katastrophe herbei“.³⁹⁵ Dabei handelt es sich nun allerdings nicht nur um eine „spezifisch nach der Logik der Brautwerbung“, sondern, so müsste man ergänzen, darüber hinaus auch um eine gemäß den Regeln des hofkritischen Diskurses (Argos!) „organisierte Katastrophe“:³⁹⁶ Denn Hildes Entführung, die durch Horants Gesang hier überhaupt erst grundlegend ermöglicht wird, kulminiert in der 7. und 8. Aventiure schließlich in einer großen Schlacht, in der aus Sicht des Erzählers dreihundert Helden (545,3) einen bedauerlichen, unnötigen Tod sterben.³⁹⁷ So hebt der Erzähler hier in einer ausge-
Vgl. dazu ferner auch schon Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 364. Vgl. Str. 214: Dô sprach aber Môrunc: ‚sô sende in sîn lant, / heiz Hôranden bringen; dem ist wol erkant / alle site Hagenen hât er wol gesehen. / âne sîne helfe kunde ez nimmer geschehen.‘ Dieses „überlegene Wissen um die Verhältnisse“ in Irland dient, wie Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 363, anmerkt, darüber hinaus natürlich auch dazu, „Horant als hervorragenden Vasallen […] zu profilieren“. Vgl. dazu erneut den Policraticvs, S. 46: Non tamen curialium nugis musicam calumnietur aliquis sociatam, licet se beneficio eius conentur nugatorum plurimi commendare (‚Dennoch sollte niemand die Musik kritisieren, die mit den höfischen Possen verbunden ist, wenngleich die meisten Possenreißer versuchen, sich mit ihren Vorzügen zu empfehlen‘), und ebd., S. 55: Sacrae quidem communionis gratiam histrionibus et mimis, dum in malitia perseuerant, ex auctoritate patrum non ambigis esse praeclusam (‚Du bezweifelst freilich nicht, dass nach der Autorität der Kirchenväter die Gnade der heiligen Kommunion Schauspielern und Possenreißern untersagt worden ist, solange diese in ihrer Boshaftigkeit verharren‘). Die beiden Übersetzungen stammen von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 59. Ebd. Vgl. Str. 495,4: vil maniger gesunder gestuont sînes lîbes an der freide, Str. 545,4: si lâgen jæmerlîchen mit scharphen swerten gar zerschrôten, Str. 546,3 – 4: iedoch jener mâge, die dort lâgen tôt, / die freuten sich vil trâge; des gieng in wærlîchen nôt, und Str. 547,2: dâ weinte m a n i c w e i s e.
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sprochen anti-heroischen Diktion sehr viel weniger die êre der Kämpfenden hervor, als die Schwere der Beleidigung Hagens durch die Hegelingen,³⁹⁸ beklagt die Blutigkeit des Kampfs, die ausgesprochen großen Verluste auf beiden Seiten und ächtet Hildes (zu) späte Reue.³⁹⁹ Zynisch fasst er das den Irländern geschehene Unrecht schließlich mit folgenden Worten zusammen: Wie gar selten iemen gæbe dar sîn kint, dâ man sô kunde dienen, daz man des fiures wint slüege ûz herten helmen ze sehene schœnen frouwen! (499,1– 3)
Für den aufmerksamen Kudrun-Rezipienten ist diese handlungslogische Verknüpfung von Musik, Entführung und daraus resultierendem Leid allerdings nicht neu, wurde sie doch schon lange zuvor mit dem Kidnapping Hagens auf die Greifeninsel in das Epos eingeführt.⁴⁰⁰ Denn auch dieses starke mære (57,4) kann sich in der 1. Aventiure nur deshalb abspielen, weil die komplette Hofgesellschaft des Königs Sigebant – Hagens Vater und Figur der ersten Generation des Texts – bei einem höfischen Fest so gebannt der musikalischen Darbietung eines begabten Spielmanns lauscht, dass sie die Ankunft des fliegenden Teufelsboten (54,3: übele tiuvel) erst viel zu spät bemerkt:⁴⁰¹
Vgl. McConnell, The Epic of Kudrun, S. 36. Zu dem bereits vor der Entführung angespannten Verhältnis zwischen Hegelingen und Irländern, das sich erzählerisch zunächst v. a. im Bereich des Gabentauschs manifestiert, siehe weiterhin auch Schmitt, Poetik der Montage, S. 112 f. Zu Hagens Leid vgl. etwa Str. 510,4 (im was græzlîche leide), zur Blutigkeit der Kämpfe bspw. Str. 493,4 (in den herten stürmen gâben si in die bluotvarwen selde), Str. 498,4 (dâ von geschach der wunden deste mêre), Str. 500,4 (geverwet was daz wazzer mit dem verchbluote), Str. 532,2– 3 ([…] jâ habent si den sant / genetzet mit bluote, sam ez ein r e g e n w a e r e), zu den großen Verlusten auf beiden Seiten weiterhin exemplarisch Str. 545,3 – 4 ([…] wol driu hundert tôte. / sie lâgen jæmerlîchen mit scharphen swerten gar zerschrôten) und Str. 546,3 – 4 (iedoch jener mâge, die dort lâgen tôt, / die freuten sich vil trâge; des gieng in wærlîchen nôt). Zu Hildes später Reue vgl. schließlich Str. 499,4 (ir reise mit den gesten hêt die schœnen Hilden vil sêre gerouwen), Str. 534,2 (‚ich [Hilde; J. S.B.] hân ab leider verre wider mînen vater getân‘), Str. 537,4 (ir [Hilde; J. S.-B.] was leit umb ir friunde, swes halt ir Hetele mohte getrouwen). Vgl. dazu im Einzelnen Str. 50 – 113 der Kudrun. Bei der Entführung Hagens handelt es sich um eine der am meisten diskutierten Episoden der Kudrun; vgl. hierzu etwa Hoffmann, Ein Beitrag zur Deutung der nachnibelungischen Heldendichtung, S. 25 – 28, McConnell, The Epic of Kudrun, S. 12– 20, Siebert, Rezeption und Produktion, S. 17– 33, Grenzler, Erotisierte Politik, S. 419 – 425, Schmitt, Poetik der Montage, S. 138 – 143, Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. München 2000 (Historische Semantik. 5), S. 260 – 264, sowie zuletzt Jan-Dirk Müller: Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der Kudrun. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin 2004 (Trends in medieval philology. 2), S. 197– 218. Die Verbindung zwischen dieser Episode und den Geschehnissen der 6. Aventiure übersieht Debus, Wie suoze Hôrant sanc, S. 73, wenn er behauptet, „dass der Dichter das für die Gewinnung der jungen Hilde schlechthin entscheidende Motiv des Singens nicht vorausdeutend ins Spiel gebracht ha[be].“ Eine Variante dieses Erzählmusters findet sich auch im altenglischen Beowulf. Hier verursacht ein Spielmann, der allerdings christlich-religiöse (!) Lieder von Gottes Schöpfung der Welt singt, den ersten
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Dô der wirt mit freuden bî sînen gesten saz, dô kom der varnden einer. mit vlîze kunde er daz, daz er für si alle – wer möhte des getrouwen? – dâ spilte mit gefuoge, daz in werde fürsten muosten schouwen. Dar wîste an ir hende ein schœne magetîn dâ ûz Irlande des wirtes kindelîn. dâ mite giengen frouwen, die sîn mit zühten phlâgen, und ouch des wirtes friunde: zugen ez mit vlîze sînen mâgen. In des wirtes hûse hôrte man grôzen schal. diu liute begunden lachen allez über al. des jungen Hagenen magezogen kômen gar ze nâhen, daz si der jungen meide d e s k i n d e l î n e s niht ensâhen. Des wirtes ungelücke nâhen dô began, dâ von er und frou Uote grôziu leit gewan. ez het der übele tiuvel gesant in daz rîche sînen boten verre. daz ergieng in allen klagelîche. (51– 54)
Weil hier also bis auf ein einziges schœne[s] magetîn (52,1) sämtliche Erzieher ihre Aufmerksamkeit auf den Berufsmusiker gerichtet haben, hat der Greif bei der Entführung des Thronfolgers ein ähnlich leichtes Spiel wie Horant es eine Generation später bei Hilde haben wird. Das Fest erscheint dabei im Übrigen als ein besonders passendes Setting, denn wie im lateinischen Bereich schon Johannes von Salisbury sein Publikum ermahnt, verkündet Gott etwa auch dem babylonischen König Belšazar den Untergang seines Reichs während eines höfischen Gelages: Der Spielmann in der Kudrun erscheint insofern auch als narrative Konkretisierung des topischen ministri satanae-Vorwurfs u. a. der geistlichen Hofkritik.⁴⁰² Dass sich eine Figurengeneration
Angriff des teuflischen Dämons Grendel auf die Halle des Dänenkönigs Heorot; vgl. hierzu Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und hrsg. von Martin Lehnert. Stuttgart 2004 (RUB. 18303), V. 90 – 101. Für diesen Hinweis danke ich Michael Schwarzbach-Dobson (Köln). Zu der auch ansonsten kritischen Darstellung Sigebants als einem schwachen König in der Kudrun vgl. weiterhin ausführlich Mark Pearson: Sigeband’s courtship of Ute in the ‚Kudrun‘. In: Colloquia Germanica 25 (1992), S. 101– 111. Vgl. dazu erneut Policraticvs, S. 51: Cithara et lira et tympanum et tibia et uinum in conuiuiis uiestris […]. Quid quod rex Babylonis non nisi in conuiuio uidit manum scribentis in pariete MANE, TECHEL, PHARES, quo regnum dinumeratum, appensum denuntiatur et scissum? Diuino siquidem iudicio principatu iudicatur indignus qui uasa Domini, humana uidelicet corpora, in uanae uoluptatis gaudia exponit et sponsi thalamum maligni spiritus immunditiis aperit (‚Die Zither, die Leier, das Tamburin, die Flöte und der Wein sind Teil eurer Gelage […]. Was ist der Grund dafür, dass der König von Babylon gerade bei einem Festmahl eine Hand sah, die an eine Wand MANE, TECHEL, PHARES, schrieb, wodurch angekündigt wird, dass seine Herrschaft gezählt, gewogen und geteilt worden ist? Zumal nach göttlicher Auffassung gerade derjenige als eines Herrscheramtes unwürdig gilt, der die Gefäße des Herrn, gemeint sind die menschlichen Körper, den Freuden eitler Lust aussetzt und das Schlafgemach des Bräutigams dem Schmutz des teuflischen Geistes zugänglich macht‘). Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Zur geistlichen Spielmannskritik vgl. exemplarisch auch Policraticvs I,8.
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später dann am irländischen Hofe Hagens, dessen Gedächtnis diesbezüglich wieder „‚auf Null‘“⁴⁰³ gestellt zu sein scheint, ganz Ähnliches abspielen kann, ist dem ausgeprägt paradigmatischen Erzählen der Kudrun geschuldet. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Bezugnahmen der Musikdarstellung der Kudrun auf die lateinische Hofkritik zusammenfassend auch als ein negativer Kommentar auf das Erzählschema der gefährlichen Brautwerbung beschreiben. Dessen „Prämissen“, „Basisregeln“ und „zentrale Elemente“ werden im mittelhochdeutschen Epos nämlich, wie Corinna Dörrich vor allem für den dritten und letzten Handlungsteil nachgewiesen hat, in gezielter Weise „‚zerlegt‘, diskursiviert und auf den Prüfstein gestellt.“⁴⁰⁴ Durch die Besetzung der Rolle des außergewöhnlichen Brautwerbungshelfers mit einer so dubiosen Sängerfigur wie Horant, so wäre diese These m. E. nun zu ergänzen, findet eine solche Arbeit am Schema allerdings bereits im Hilde-Teil statt.⁴⁰⁵ Die Kudrun problematisiert also schon lange bevor schließlich mit Hetels Tod der Brautvater und das zugehörige Erzählschema verabschiedet werden, das in diesem enthaltene archaische Wissen über die Fortsetzung von Genealogie.⁴⁰⁶ Denn der durch Horants Gesang erst ermöglichte und in einem Blutbad mündende Raub der in einem fernen Land lebenden Hilde steht in scharfem Kontrast zu den am Handlungsschluss präferierten Prinzipien der räumlichen „Nähe“ und des friedlichen
Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 12. Zu dieser allgemeinen Tendenz ma. Erzählens vgl. ausführlicher auch ebd., S. 12 f. Corinna Dörrich: Die Schönste dem Nachbarn. Die Verabschiedung des Brautwerbungsschemas in der ‚Kudrun‘. In: PBB 133 (2011), S. 32– 55, hier S. 35. Zur grundlegenden These dieses Beitrags vgl. zusammenfassend ebd., S. 54 f.: „Die drei Werbungen des ‚Kudrun‘-Teils sind aufeinander bezogen nicht im Rahmen innerliterarischer Oppositionssetzungen (höfisch – heroisch), sondern so, dass verschiedene Axiome des Brautwerbungsschemas, das im Hilde-Teil zunächst idealtypisch und summenhaft eingeführt worden war, diskutiert und in entscheidenden Punkten zurückgewiesen werden: Statt der heroischen oder höfischen Bewährung, statt des wertsetzenden Prinzips der Ferne ist das entscheidende Kriterium für Kudruns Verbindung mit Herwig die politische Allianz, die Befriedung und Saturierung des aggressiven Nachbarn. Nicht also um literarisch ausgebildete Oppositionen geht es hier, sondern darum, die Axiome eines literarischen Schemas durch aus der politischen Lebenswelt entnommene, pragmatische Kriterien zu korrigieren. […] So lassen sich die Allianzen am Ende des Textes nicht nur als friedlicher und harmonisierender Gegenentwurf zum gewaltvollen und desolaten Ende des ‚Nibelungenlieds‘, sondern auch konsequent aus der Logik des Textes selbst, als Ergebnis der dem Text eigenen Auseinandersetzung mit dem Brautwerbungsschema und seiner sukzessiven Verabschiedung verstehen.“ Für diesen Denkanstoß danke ich Markus Stock (Toronto). Anders hingegen Dörrich, Die Schönste dem Nachbarn, S. 35, nach der es sich beim Hilde-Teil der Kudrun um eine idealtypische Realisierung des Erzählschemas handelt. Zur kritischen Arbeit der Kudrun am Brautwerbungsschema vgl. beiläufig auch schon Frakes, Brides and Doom, S. 182 f., nach dem hier „mass destruction and vengeance in the name of marriage negotiations“ erzählerisch auf ihre Aktualität und ihren ethisch-moralischen Gültigkeitsanspruch befragt werden: „[T]he Nibelungenlied is about what happens when men steal women’s property; Kudrun is about what happens when men steal men’s property, that is, women.“
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Miteinanders:⁴⁰⁷ So ist die Hochzeit Kudruns mit dem militärisch wie ständisch unterlegenen Herwig, wie Dörrich ausführt, nämlich gerade keine Verbindung mehr zwischen dem Besten und der Schönsten, sondern eine „politische Allianz, die der Friedenssicherung unter Nachbarn dient“.⁴⁰⁸ Im Zuge der Besetzung der Schemaposition der Werbungslist durch die Musik wird in der Kudrun darüber hinaus jedoch auch das „agonale Potenzial“⁴⁰⁹ höfischer Tonkunst unterstrichen: So erscheint diese hier als eine ungemein wirksame, aber zugleich auch problematische Alternative zum Waffeneinsatz des Brautwerbers.⁴¹⁰ Eine ähnliche Arbeit am Erzählschema findet mit verschärfter Tendenz übrigens auch im Dukus Horant statt, wo die Rolle des außergewöhnlichen Werbungshelfer nicht nur allein durch den (von drei Riesen und seinem Bruder Morunc begleiteten) Horant besetzt ist, sondern die Musik auch von Anfang an
Dörrich, Die Schönste dem Nachbarn, S. 52 f.: „Herwig als Nachbar ist der Richtige, er kann sich mittels kriegerischer Gewalt durchsetzen; Hartmut aus der Ferne ist der Falsche, seine Gewalt wird negativ bewertet. Das ‚Prinzip der Nähe‘ erweist sich beim Angriff Herwigs auch als entscheidender strategischer Vorteil, denn die Hegelingen werden von dem Überfall überrumpelt […]. Bei Siegfried hingegen kommt die Distanz seines Herrschaftsbereichs im Kampf gegen Herwig als entsprechender strategischer Nachteil zur Sprache, z. B. wenn er keine Verstärkung holen kann: sîniu lant diu lâgen von im gar ze verre (Str. 731,4; vgl. auch iuwer lant sint iu ze verre, Str. 831,4). Die Ferne, durch die im literarischen Schema die auszeichnende Werthaftigkeit kodiert ist, wird in der ‚Kudrun‘ sehr realitätshaltig als geradezu unpraktisch, als strategischer Nachteil im raschen Zugriff auf die Braut gewertet. […] Sicherlich zeigt sich Herwig in den Kämpfen dabei (man möchte fast sagen: Gott sei Dank) auch als Held (Str. 644), aber primär beweist er doch seine Qualitäten als übel nâchgebûre (Str. 650,4), wie ihm Kudrun bescheinigt. Mit Kudruns Einwilligung wird also weniger der Beste prämiert als vor allem ein aggressiver Nachbar befriedet.“ Ebd., S. 53. Zuvor argumentiert auch schon Wenzel, Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters, S. 413, dass die Kudrun eine „Pazifierungsgeschichte“ erzähle, und es daher „eine strukturelle Notwendigkeit [sei], den gefährlichen Brautvater aus der Geschichte herauszunehmen.“ Zum besonderen Handlungsschluss der Kudrun und der entsprechenden Minnekonzeption vgl. weiterhin etwa auch Bleumer, Diagramm und Dimension, S. 125, und Bennewitz, Kriemhild und Kudrun, S. 18. Ich knüpfe hiermit erneut an einige Überlegungen Oswalds, Kunst um jeden Preis, S. 143, zu Gottfrieds Tristan an, die sich darüber hinaus auch auf die Kudrun bzw. Horant übertragen lassen: „So glaube ich, daß Tristan in allen beschriebenen Situationen zunächst der Kunstfertigkeit bedarf, um überhaupt die Rolle des erfolgreichen Werbungshelfers einnehmen zu können. […] Zu trivial wäre freilich die Aussage: ‚Tristan singt sich durch die Brautwerbung‘. Doch möchte ich dezidiert darauf hinweisen, dass Tristan im Werben und im Kampf um Isolde in letzter Instanz nicht mit dem Schwert, sondern mit der Harfe erfolgreich ist. Gesang erweist sich damit als eine zum ritterlichen Kampf alternative Artikulationsform agonalen Handelns. Die agonale Struktur, die dem Verhältnis von Protagonist und Antagonist zugrunde liegt, wird also im Wesentlichen im Medium des Sanges und weniger durch den Einsatz von Waffen codiert. Tristan wird dabei wesentlich über seine Kunstfertigkeit konstituiert, und so agiert er auch als der Held der Brautwerbung.“ Hervorhebungen J. S.-B.Vgl. dazu auch schon Fortmann, Der Auftritt des Sängers in der Epik, S. 357. Vgl. dazu schon Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 59. Vor der Ankunft Fruotes, Wates und Horants hatte Hagen jeden der zahlreichen Werber um seine Tochter geköpft. Ähnlich auch Müller, Höfische Kompromisse, S. 368 f., und Wenzel, Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters, S. 408. Grundlegend zu List und Gewalt als Alternativen im Brautwerbungsschema vgl. weiterhin auch Schulz, Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 195 – 204.
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das einzige Mittel der Wahl zur Durchsetzung des lebensgefährlichen Unterfangens bildet (F. 45.6–F. 46.1).⁴¹¹ Bislang wurde allerdings noch nicht auf eine Besonderheit der Musikdarstellung der Kudrun eingegangen, die ebenfalls entscheidend zu ihrer Aufnahme in das Primärtextkorpus der vorliegenden Arbeit beigetragen hat. Denn der nach jüngerem Forschungskonsens literarisch hochgebildete Kudrun-Epiker hat neben dem Nibelungenlied für die Gestaltung seiner 6. Aventiure offensichtlich auch Gottfrieds Tristan als Inspirationsquelle genutzt.⁴¹² So machen auffällige Parallelen „zwischen der Werbung um Hilde und der um Isolde (Kaufmannsmotiv als Ankunftslist, die Sangeskunst der Werbungshelfer, Irland als Ziel der Werbungsfahrt, die Namensgleichheit von Mutter und Tochter)“, sowie die angedeutete „Hofintrige“ Morungs (212 f.), wie bereits Kerstin Schmitt hervorhebt, eine solche „Einzeltextreferenz“ überaus „wahrscheinlich“.⁴¹³ In der Tat lassen sich mit Blick auf die Darstellung der Musik und ihres narrativen Stellenwerts bei der Kontaktaufnahme des Werbungshelfers zur Braut, ihr Instrumentalisierungspotenzial im höfischen Kontext sowie die handlungslogische Verknüpfung bestimmter fremdartiger Musikstile mit der Erregung von Lüsternheit (Tristans leiche von Britûn; V. 3590; und Horants wîse […] von Amilê; 397,1) sogar noch weitere Analogien zwischen beiden Texten herausarbeiten.⁴¹⁴ Die 6. Aventiure der Kudrun kann insofern auch als ein musikkritisches Rezeptionszeugnis von Gottfrieds Tristan gelten und liefert damit zumindest in exemplarischer Hinsicht eine Antwort auf die von Bumke aufgeworfene Frage, inwiefern bzw. wie viel „Resonanz“ die „kritische Potenz […] der höfischen Epik“ wohl bei ihrem Publikum gefunden haben könnte.⁴¹⁵ Denn wie die intertextuellen Bezugnahmen der Kudrun auf den Tristan zeigen, ist man damit offensichtlich zumindest in gebildeten Kleriker-
Vgl. Dukus Horant, F. 45.7– 46.1: da sach dër kunik Etene dën herzok von Denemarkten vor ime śtan. / ër umevink gezogenlichen Horant dën jungen man. / ër śprach ‚woldeśtu, here, min bote sin, / mir wurde daś schone mëgetin. / ich erkene dich wol, liber here, du biśt ein alse hubescher man, / mit dime suśen gesange brëchteśt du mir di maget her dan.‘ Vgl. Siebert, Rezeption und Produktion, S. 13, sowie weiterhin auch schon Kästner, Harfe und Schwert, S. 86, Anm. 171. Neben dem Nibelungenlied und Gottfrieds Tristan diente dem Kudrun-Autor bei der Gestaltung der 6. Aventiure als weiterer wichtiger Referenztext wohl auch der König Rother; vgl. dazu überblicksartig Siebert, Rezeption und Produktion, S. 81– 89. Schmitt, Poetik der Montage, S. 107. Die Hofintrige bleibt nach Schmitt in der Kudrun allerdings ein „blindes Motiv“; ebd., S. 106. Siebert, Rezeption und Produktion, S. 114, benennt als weitere strukturelle Analogien des Hilde-Teils der Kudrun im Verhältnis zu Gottfrieds Tristan die „versteckten Werbungshelfer“ und die „Quellenkritik vor dem Bericht über die Ankunft der Brautwerber“. Zur Funktion der Musik im Rahmen des Brautwerbungsschemas im Tristan ausführlich Oswald, Kunst um jeden Preis, hier v. a. S. 150 – 152. Von einer Übernahme des Gesangsmotivs der Kudrun aus Gottfrieds Tristan geht schon Kästner, Harfe und Schwert, S. 86 f. (inkl. Anm. 171), aus. Zu Vorsicht mahnt in solchen intertextuellen Zusammenhängen allerdings berechtigterweise Schmitt, Poetik der Montage, S. 101, an. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 594.
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
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kreisen nicht auf gänzlich taube Ohren gestoßen.⁴¹⁶ Kenntnis von Gottfrieds Tristan (oder des Tristan-Stoffs) zeigt im Übrigen erneut auch der Autor des Dukus Horant, dessen Hildefigur der Erzähler als schoner wene Isolde, dëś kunegeś tochter von Irlant (F. 44.7,1) beschreibt.⁴¹⁷ Zu Beginn der Werbungsfahrt stimmt der hier titelgebende Held – genau wie Tristan bei seiner ersten Rückreise aus Irland (V. 11531– 11534) – außerdem auch das bekannte Pilgerlied „In Gottes Namen fahren wir“ an (F. 51.7,1– 4).⁴¹⁸ Bei allen Gemeinsamkeiten besteht zwischen Tristan und Kudrun (bzw. dem Dukus Horant) mit Blick auf das Verhalten der jeweils zentralen Musikerfiguren allerdings auch ein entscheidender Unterschied: Denn während es bei Gottfried bekanntlich zum Kurzschluss zwischen Werbungshelfer und Braut kommt, bleibt Horant trotz aller erotischen Versuchungen in der Fremde alles in allem ein treuer Vasall, der seinem Herren – wenn auch mit teils fragwürdigen Mitteln – jeden Dienst erweist.⁴¹⁹ Man könnte die Ausführungen an dieser Stelle nun abbrechen, wie es die Forschung zur Musik in der Kudrun bislang üblicherweise getan hat. Dabei würde man jedoch eine auf den ersten Blick unscheinbare Szene am Handlungsschluss des Epos übergehen, in der die Musik auch im Zusammenhang mit der dritten Figurengeneration noch einmal in den Fokus rückt. Es handelt sich dabei um eine Szene der 31.
Allerdings muss in einem solchen Zusammenhang mit Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 703 f., immer bedacht werden, dass ein Großteil der Mitglieder einer hochmittelalterlich-höfischen Gesellschaft wohl gar nicht die Möglichkeit hatte, einen längeren Erzähltext in voller Länge zu rezipieren: „Im Hinblick auf den Literaturbetrieb an den Höfen läßt sich […] der Schluß ziehen, daß es nur eine kleine Zahl von Personen gewesen sein kann, die kontinuierlich am literarischen Leben teilgenommen haben: der fürstliche Gönner selbst und seine Familie, die Hofgeistlichkeit, die Verwalter der obersten Hofämter mit ihren Frauen, die engsten Berater des Fürsten aus dem Adel des Landes, alles in allem sicherlich nicht mehr als 20 bis 25 Personen. Bei festlichen Anlässen, wenn zahlreiche Gäste den Hof besuchten, war die Zuhörerschaft wohl um ein Mehrfaches größer. Auf diesen festlichen Versammlungen können jedoch nur kleine Stücke oder kurze Ausschnitte aus längeren Werken vorgetragen worden sein. Wenn man dagegen ein umfangreiches Epos von 10000 bis 20000 Versen mitanhören wollte, mußte man viel länger am Hof bleiben. […] Diese Feststellung soll den Blick dafür schärfen, daß für das Literaturverständnis im Mittelalter offenbar andere Kategorien galten als die uns vertraute Methodik der literarischen Interpretation, die ein Kunstwerk ‚als Ganzes‘ zu erfassen sucht.“ Nach Kern, Verwilderte Heldenepik, S. 119, sprechen diverse weitere Analogien im Dukus Horant wie etwa „die Linde […], unter der Horant singt, sowie […] die Beschreibung des grünen Marmorbodens im Palast des reichen Kaufmanns“ jedoch durchaus für eine Kenntnis des Gottfriedschen Texts. Dukus Horant, F. 51.7,1– 4: ër ime alse loute ‚nu komke unś dër zu trośte / an diseme tage hoite, dër di juden uf dëme mer erlośte. / in goteś namen varn wir. / siner genaden gërn wir.‘ Insofern bleibt mit Tervooren, Helden in der Lyrik, S. 74, festzuhalten, dass Horants „problematisches Handeln“ zwar das Geschehen ambiguisiert und „emotionalisiert […], aber den von der Tradition vorgegebenen Handlungsverlauf nicht abbiegen [kann]. Der Kudrun-Dichter lenkt ihn durch Horants formvollendeten Antrag (404) wieder in die offizielle Richtung. Das ändert jedoch nichts daran, daß sich vor diesem Antrag die epischen Personen und auch die Hörer unsicher sind, wo bei Horant eigenes Handeln und wo delegiertes Handeln vorliegt. Diese Unsicherheit schwindet selbst nach dem Antrag nicht ganz.“ Zu Horants triuwe siehe weiterhin auch Wenzel, Die Geschichte des gefährlichen Brautvaters, S. 423, Siebert, Rezeption und Produktion, S. 100, und Müller, Minnesang im Himmelreich, S. 60.
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Aventiure, welche der finalen Großhochzeit zur Friedensstiftung zwischen den streitenden Parteien des dritten Handlungsteils gewidmet ist.⁴²⁰ Zu diesem Anlass lässt die mittlerweile alte und verwitwete Hilde in Hegelingen eine werde hôchzîte (1667,3) an ihrem Hof ausrichten, in deren Rahmen Kudrun ihren ‚Nachbarn‘ Herwig ehelichen, dessen Konkurrent Hartmut ihre Zofe Hildeburg heiraten und darüber hinaus Kudruns Bruder Ortwin mit Hartmuts Schwester Ortrun sowie Herwigs Schwester mit Siegfried von Morlant vermählt werden soll.⁴²¹ Das weitestgehend topisch gestaltete Festprogramm umfasst nun wiederum neben der Schwertleite von fünf hundert oder mê tapferen Männern (1667,2), ritterlichen Spielen (1669,4) und gemeinsamen Messgängen (1671,3) auch eine ausgiebige Darbietung spielmännischer Tonkunst. In deren Kontext kommt das zuvor ausführlich beschriebene interdiskursive Darstellungsverfahren des Kudrun-Autors nun noch ein letztes Mal im Epos subtil zum Einsatz. So wird die Musik hier im Anschluss an höfische Topoi anfangs erneut sehr unverfänglich als Anlass von weltlicher Freude und Kurzweil inszeniert: Der varnden kunst muoste schînen den tac. swaz ieclîcher kunde, wie gerne er des p h l a c! […] Waz möhte dâ sîn mêre dan freude unde schal? von maniger dône der palas ofte erhal. daz werte volliclîche unz an den vierden tac. daz edele ingesinde selten müezic dâ gelac. (1671 f.)
Am dritten Tage des Festes wird diese musikalische Darbietung der Spielleute dann – wie man zunächst meinen könnte, noch immer gemäß den Regeln des höfischen Diskurses –, von einer ausgiebigen Beschenkungszeremonie gekrönt (1673,1). Den
Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 87 f., verweist diesbezüglich allerdings mit Recht auch darauf, dass Kudruns (den Brautvater strukturell ersetzender) Rolle als Heiratsvermittlerin weniger christliche als pragmatisch-machtpolitische Motivationen zugrundegelegt sind: „Abweichend von traditionellen heldenepischen Mustern stehen am Ende der ‚Kudrun‘ nicht Gewalt und Untergang, sondern der politische Wille, die Gewalteskalation zu unterbinden. […] Das christliche Argument, daz niemen mit übele sol deheines hazzes lônen (‚dass niemand Böses mit Bösem vergelten soll‘, Ku 1595,3), das Kudrun gegenüber Hilde anführt, spielt nur am Rande eine Rolle. Nicht zuletzt der privilegierte Beistandspakt zwischen Herwig und Ortwin am Ende zeigt, dass es nicht um die Utopie umfassender Versöhnung geht, sondern um pragmatische Macht- und Friedenspolitik, die die Möglichkeit künftiger Kriege ins Kalkül einbezieht.“ Zur poetologischen und strukturellen Bedeutung dieser finalen Episode vgl. zusammenfassend erneut Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 85: „Kudrun drängt ihren Bruder Ortwin, Hartmuts Schwester Ortrun zur Frau zu nehmen. […] Fruote und Kudrun schlagen vor, dass Hartmut im Gegenzug Hildeburg heiratet. Aus politischen Gründen, um den Frieden zu sichern, und unter der Bedingung, dass seine Schwester ehrenvoll mit Ortwin vermählt wird, stimmt Hartmut zu (Ku 1640,4). Vervollständigt wird die Friedens- und Heiratspolitik durch die Vermählung von Herwigs Schwester mit dem verbündeten Siegfried von Morlant. […] Bevor Kudrun und Herwig nach Seeland abreisen, schließen Herwig und Ortwin ein Verteidigungsbündnis gegen potentielle Angreifer“.
2.3 Wie suoze Horant sanc: Von der Macht höfischen Singens in der Kudrun
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Anfang macht dabei Kudruns Ehemann Herwig, der den Fahrenden zum Beweis seiner Freigebigkeit rôten goldes […] wol ze tûsent phunden überreicht (1674,4); sein Gefolge tut es ihm dann mit luxuriösen Kleidern und prächtig gesattelten Pferden gleich (1675,1– 2). Einige der Kleidungsstücke haben die Gäste dabei offenbar zu Anfang der Festlichkeiten erst selbst als Geschenke der Königin Hilde erhalten (1668,1). In diesem Zusammenhang hebt der Erzähler nun erstmals subtil auf die ständische Unangemessenheit der Geschenke der adligen Festgäste an die Spielleute ab (1675,2– 3: ros mit guoten satelen maniger dô gewan, / der si selten hête geriten vor disen zîten). Als dann jedoch auch Kudruns Bruder Ortwin vom Verhalten Herwigs Notiz nimmt, beginnt hier ein der allgemeinen Ungerichtetheit höfischer milte widersprechender „Wettstreit der Freigebigkeit“⁴²² (1675,4: si begunden mit der milte strîten):⁴²³ Der künic von Nortlande gap sô rîche wât, ob iemen bezzer deheine sît getragen hât, des wizzen wir niht mære noch habens niht erfunden. er und sîne degene gestuonden kleider blôz in kurzen stunden. (1676)
Mit diesen Versen stellt der anonyme Epiker einen im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausgesprochen bedeutsamen Zusammenhang zwischen den Festbeschreibungen der Kudrun und einer folgenschweren Szene des Nibelungenlieds her. Es handelt sich dabei um die Hochzeit von Etzel und Kriemhild in Wien (1365 – 1374). Denn schon in der 22. Aventiure des Nibelungenlieds löst Kriemhilds exzessives Beschenken ihrer neuen hunnischen Untergebenen mit prächtiger Kleidung (1366 – 1369) eine Art Wettstreit der milte aus, wodurch am Ende auch hier vil der degene von milte blôz âne kleit dastehen (1370,4). Ich werde auf diese Szene im nachfolgenden Kapitel zur Kleiderkritik noch ausführlich eingehen. Für den Moment erscheint diesbezüglich v. a. wichtig, dass die intertextuelle Bezogenheit der 31. Aventiure der Kudrun auf eine Szene des Nibelungenlieds, in der die politischen und militärischen Grundlagen für den grôze[n] mort (2086,1) am Etzelhof gelegt werden, die erzählten Ereignisse in einem überaus problematischen Licht erscheinen lässt. Denn in beiden Fällen fungiert das Verteilen von Gaben weniger als ein höfisches Zeremonialhandeln zur Stabilisierung der neuen Gesellschaftsordnung, sondern vielmehr als eine destabilisierende Form des „[a]gonale[n] Schenken[s]“.⁴²⁴ Entsprechend werden durch Ortwins Gaben So die treffende Übersetzung in der Kudrun-Edition Störmer-Caysas. Vgl. dazu grundlegend Monika Schausten: Agonales Schenken. Rüdigers Gaben im ‚Nibelungenlied‘. In: Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne. Hrsg. von ders. [u. a.]. Berlin [u. a.] 2016 (LTG. 9), S. 83 – 109, hier S. 89. Schausten definiert die höfische Tugend der milte vor dem Hintergrund des Gabentauschs in archaischen Gesellschaften als eine „christliche Überführung gabenökonomischer Prinzipien in eine Herrschertugend des ‚ungerichteten‘ Schenkens“ (was auf den Kontext der vorliegenden Episode eben gerade nicht zutrifft). Ebd. Speziell zur „Verstrickung“ der Rüdigerfigur des Nibelungenlieds in eine ähnlich „agonale Praxis […] des Schenkens, die im Gang der Erzählung ihren Niedergang plausibilisiert“, vgl. zusammenfassend weiterhin ebd., S. 87. Hervorhebungen im Original. Die verschiedenen Dimensionen des von Schausten in Anlehnung an Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in ar-
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in der Kudrun dann auch Siegfried von Morlant, der die Spielleute ebenfalls mit manige rîche wât und rossen […] vil guoten überhäuft (1677,1– 3), sowie Hartmut von der Normandie zur streitlustigen Präsentation ihres Reichtums angestachelt (1678 f.). Über das kostbarste Gewand am irländischen Hof verfügt zu diesem Zeitpunkt allerdings, weniger seinem vasallitischen Stand als seiner handlungsübergreifenden Funktion als Vorzeige-Heros geschuldet, der alte Wate: Wate der gab eine alsô guote gewant, daz man an küniges lîbe bezzer nie bevant. von golde und von gesteine was ez überhangen mit einem netze rîche. dâ mite kom der helt ze hove gegangen. In ieclîchem stricke lag ein edelstein, swie sîn name hieze, dâ bî wol daz schein, daz si versliffen wâren ze Abalî dem lande. Waten und sîne helde nâmen dô die helde bî ir handen. (1683 f.)
Wates überprächtige Kleidergabe lässt dann schließlich wieder Einigkeit zwischen den Festgästen entstehen, die ihm gegenüber einstimmig verkünden, dass sein kunstvolles Gewand an Kostbarkeit nicht mehr zu übertreffen sei (1685). Am Ende geht man hier friedlich auseinander. Und doch wird auch in der vorletzten Aventiure der Kudrun durch gezielte intertextuelle und diskursive Verweise (Argos!) die Musik noch einmal als potenzielle Quelle für Unheil und Krieg, ja möglicherweise sogar den Untergang ganzer Adelsgeschlechter akzentuiert. Denn wenn als Folge der kunstvollen Darbietungen der Spielleute ausgerechnet zwischen Herwig, Hartmut und Siegfried, deren konkurrierende Brautwerbungen zuvor schon mehr als ein grausames Blutbad zur Folge gehabt haben, das alte agonale Potenzial wieder an die Oberfläche drängt, erscheinen die von Kudrun mit Gottes Hilfe (1692,4) gerade erst mühsam
chaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von E. E. Evans-Pritchard. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Anhang: Henning Ritter: Die ethnologische Wende. Über Marcel Mauss. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1996, S. 24, geprägten Begriffs des „agonalen Schenkens“ fasst diese (ebd., S. 86 f.) wie folgt zusammen: „Der durch die Gabenökonomie ermöglichten Stabilisierungsfunktion von sozialen Gruppen, ihrer zyklischen und reziproken Struktur als Fundamente eines funktionierenden, für jeden Partizipierenden auskömmlichen ökonomischen und gleichzeitig rechtlich verbindlichen Kreislaufs, eignet eine Schattenseite, ein ‚antagonistische[r]‘ Zug, wie Mauss sagt, an den die Strukturierung und Akzentuierung des heldenepischen Plots wohl besonders intensiv anschließt. Im Lied werden also vor allem jene Aspekte der Tauschökonomie thematisch, die die Geschlossenheit und Reziprozität eines funktionierenden Handels und damit die Verbindlichkeit der durch ihn geschlossenen Bindungen unterwandern. […] Diese Risiken können prinzipiell aus aggressiven Akten des Gebens, aus Akten des Sich-Verausgabens, ebenso erwachsen, wie aus der besonderen Faktur der Gaben selbst sowie schließlich aus dem unachtsamen Akt des Annehmens von Geschenken oder aber auch aus Geschenkverweigerung“. Hervorhebungen J. S.-B. Zu agonalen Formen des Schenkens vgl. zuvor auch schon Müller, Spielregeln, S. 348: „Wo Geschenke Freundschaftsbindungen zwischen Gleichen herstellen oder befestigen sollen, müssen sie durch gleichwertige Gegengeschenke beantwortet werden. Umgekehrt kann Schenken als Mittel des Wettkampfes aggressiv eingesetzt werden; man sucht sich an Geschenken zu überbieten, bis dem anderen die Gegengabe unmöglich wird.“
2.4 Zwischenfazit
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ausgehandelten politischen Allianzen ironischerweise schon zum Zeitpunkt der entsprechenden Eheschließungen bedroht.⁴²⁵ Dass die Wirkung der Musik hier im Vergleich mit der 6. Aventiure dennoch eher begrenzt ausfällt, wird übrigens durch einen besonderen erzählerischen Kniff plausibilisiert: Denn als Festgast am Hof der Hegelingen fehlt am Ende ausgerechnet der verführerische Wundersänger Horant, der sich zu diesem Zeitpunkt noch als als Statthalter in Normanîelant befindet (1693,1).
2.4 Zwischenfazit Betrachtet man nun einmal abschließend die literarischen Imaginationen eines musikalischen Hoflebens in Gottfrieds Tristan und der Kudrun im direkten Vergleich, lassen sich einerseits wichtige Gemeinsamkeiten feststellen. So zeichnet sich die interdiskursive Musikdarstellung beider Texte durch ein auf den ersten Blick widersprüchlich anmutendes Gemenge von höfisierenden und antihöfischen Akzentuierungen aus, dem bei näherer Betrachtung allerdings komplexe, je spezifische Erzählstrategien zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang ist für Gottfrieds hybride Darstellungstechnik ein kontinuierliches Oszillieren zwischen positiver und negativer Musikwertung kennzeichnend, bei der die höfische Musik sowohl als Inbegriff von vollkommener Liebe und hövescheit als auch von Sünde und politisch bedrohlicher Manipulation erscheinen kann. Im Fall der drei zentralen Figurengenerationen der Kudrun schlägt hingegen ein zunächst stark höfisierendes Erzählen immer wieder von Neuem in einen eindimensionalen Musiktadel um. Dabei greifen die Texte im Zuge ihrer problematisierenden bis kritischen Darstellungsweisen auf einen ganzen Fundus von interdiskursiven Elementen zurück. Ganz allgemein gesprochen handelt es sich dabei um den Redegegenstand der Musik; etwas genauer differenzierend lässt sich zwischen diskursübergreifend vorkommenden Figurentypen (der/die höfische MusikerIn, der/die musikinteressierte FürstIn), Kollektivsymbolen (Harfe und Minnelied als Inbegriffe von hövescheit bzw. Gottesferne und Verweichlichung) und bestimmten Situationstypen/Motiven unterscheiden (die Aufführung/Rezeption weltlich-kunst-
Diesen kritischen Aspekt übersieht Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 85, wenn sie in Bezug auf die Hochzeitsfeierlichkeiten nur von „einem prachtvollen Fest mit freigebigen Geschenken der hochrangigen Beteiligten“ spricht. Die Konkurrenz zwischen den drei Brautwerbern um Kudrun hat im dritten Handlungsteil an verschiedenen Stellen schwere Gewaltausbrüche zur Folge: So erfolgt schon die Zustimmung Hetels zur Vermählung seiner Tochter mit Herwig nur unter dem militärischen Druck von dessen Einfall in Hegelingen. Infolge ihrer Verlobung wird Kudrun dann vom eifersüchtigen Hartmut nach Ormanie entführt; der Versuch der Rückentführung durch Hetel und Siegfried endet in der vernichtenden Schlacht auf der Insel Wülpensand, bei der Hetel durch die Hand von Hartmuts Vater Ludwig getötet wird, was die Heeresmacht der Hegelingen auf Jahre schwächen wird. Schließlich endet auch die erfolgreiche Rückentführung Kudruns am Epenschluss durch Ortwin, Herwig und Siegfried noch einmal in einem ausgesprochenen blutigen Gemetzel am Normannenhof, bei dem Wate sogar Kleinkinder und Frauen tötet.
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voller Musik am Hof).⁴²⁶ In den höfischen Texten werden diese kalkuliert mal nach den Regeln des hofkritischen, mal nach denjenigen des höfischen Diskurses (und insofern mit unterschiedlichen Wertsetzungen) verhandelt. Diese Befunde stützen einerseits die Thesen Rüdiger Schnells und Monika Schaustens, nach denen die Hofdarstellung der höfischen Literatur des Hochmittelalters grundsätzlich durch eine „Ambivalenz von Optimismus und Skepsis“⁴²⁷ bzw. eine „Verschränkung normierender und kritischer Einlassungen“⁴²⁸ geprägt sei. Es ist dies jedoch nicht zuletzt auch eine Eigenschaft, mit der sich die poetische Musikkritik der höfischen Erzähltexte deutlich von derjenigen der lateinischen Hofkritik abgrenzt: Denn sowohl in Gottfrieds Tristan als auch in der Kudrun wird auf diese Weise ein „wesentliche[r] […] imperativische[r] Aspekt, der dem im Policraticus und vielen anderen Texten zum Ausdruck gebrachten restitutiven Denkmodus eigen ist“,⁴²⁹ vermieden. Stattdessen führen die höfischen Erzähltexte am Beispiel der Handlungen ihrer Figuren mehr oder weniger subtil die Verlockungen und Gefahren weltlicher Unterhaltungsmusik vor, bieten für dieses Problem zugleich aber keine wirklichen Lösungen an: Dem Rezipienten wird hier weder explizit eine Abwendung von der Institution des Hofes und seiner Kultur nahegelegt, noch wird ein alternatives Modell des unbedenklichen Umgangs mit höfischer Musik entworfen. Was Tristan und Kudrun hingegen eng mit den lateinischen Texten verbindet, ist nicht nur ihre ungewöhnlich kritische Orpheus-Rezeption, sondern auch die enge Kopplung der Musikkritik an zeitgenössische Geschlechtsstereotype.⁴³⁰ Mit einer ganzen Fülle von effeminatio-Vorwürfen bietet der lateinische antihöfische Diskurs etwa einen ausgesprochen ergiebigen Referenzkontext für Gottfrieds Konzeption der Markefigur als einem schwachen und nicht nur der Musik zu sehr verfallenen König.⁴³¹ In ähnlicher Weise fußt außerdem auch die Musikkritik in der Kudrun maßgeblich auf problematischen Gender-Transgressionen (Hildes Freigebigkeit und Risikobereitschaft, Horant als Sirene) sowie der wiederholten Aktualisierung christlich-negativer Weiblichkeitsstereotype (Hildes Affektivität und Lüsternheit).⁴³² Diese werden am
Zu den von der Interdiskurstheorie unterschiedenen Typen von interdiskursiven Elementen vgl. zusammenfassend erneut Klawitter, Diskurstopologie, S. 60, sowie grundlegend Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 95, bzw. Link, Einfluß des Fliegens, S. 149 f., Anm. 3. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 331. Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 144. Ebd., S. 157. Zur ansonsten zumeist sehr positiven Rezeption des antiken Orpheus-Mythos im Mittelalter sowie der großen Beliebtheit Ovids als zeitgenössischem Schulautor (v. a. im Hinblick auf seine Metamorphosen und Briefe) vgl. überblicksartig Kästner, Harfe und Schwert, S. 77– 80. Vgl. hierzu, speziell zu Gottfried, v. a. Kerth, Marke’s Royal Decline, sowie allgemein erneut auch Kraß, Der effeminierte Mann. Nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 481 f., gehört Freigebigkeit zu den tendenziell eher männlich konnotierten höfischen Tugenden. Denn wie etwa der französische Autor Phillippe de Novare (1200 – 1270) argumentiere, könne sich die Freigebigkeit einer Frau immer nur schädlich auf ihren Mann auswirken: Denn wenn er selber freigebig sei, bleibe einem Paar nichts zum Leben, und wenn er
2.4 Zwischenfazit
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Beispiel einer angesichts des höfischen Gesangs „wehrlosen“ Hildefigur verhandelt, deren eigene, in der skandinavischen Tradition noch greifbare gesangliche „Zaubermächte“ in der mhd. Version auf eine „heroische, männliche Nebenfigur“ – Horant – verschoben werden.⁴³³ Bei Gottfried wiederum vermag die weltliche Musik nur in Kombination mit Isoldes außergewöhnlicher weiblicher Schönheit, die in der christlichen Tradition seit jeher als besonders sündhafte Verlockung gilt, unkontrollierbare Wollust auszulösen, während die Reaktionen auf Tristans Spiel lediglich sehr allgemein als ‚Schwanken vom rechten Weg‘ bewertet werden (V. 3595). Dass insofern die erotische Macht weltlicher Musik sowie zumindest Teile ihrer negativen Wirkungsdimensionen (effeminatio) grundlegend weiblich gegendert sind, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass diese immer wieder im Rückgriff auf den antiken Sirenenmythos erläutert werden, wobei es eben keine Rolle spielt, ob die jeweils musizierende Figur nun weiblich (Isolde) oder männlich (Horant) ist. Wirkung und Nachhaltigkeit bezieht die Musikkritik in Tristan und Kudrun jedoch nicht nur im Rückgriff auf zeitgenössische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, sondern auch durch eine scharfe Kontrastierung der Ephemerität der verhandelten Kunstformen mit der Permanenz der jeweiligen Folgen. Letztlich erzählen sowohl Gottfried als auch der anonyme Kudrun-Autor davon, wie ihre fiktionalen Hofgesellschaften etablierte Konventionen für einen zeitlich stark begrenzten, klanglichen ‚Rausch‘ austauschen. Auf diese Weise wird in beiden Texten eine starke Spannung erzeugt: Denn wo bei Gottfried König Marke und Königin Isolde – mit stets bedenklichen Folgen – durch die Musik dazu bewogen werden, die Ordnung ihrer Hofgesellschaften grundlegend umzustrukturieren, lässt sich in der Kudrun die junge Hilde freiwillig nach Hegelingen entführen und trägt damit die Schuld am unnötigen Tod zahlreicher tapferer Helden.
geizig sei, bereite sie ihm dadurch Schande. Einer Frau solle daher höchstens das Almosenspenden erlaubt sein. Uta Störmer-Caysa: Kommentare zum heroischen Handeln. Sinnangebote für weibliche Rollenmuster in der Tradition der Hilde- und Kudrun-Erzählungen. In: Heldinnen. 10. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Wien 2010 (Philologica Germanica. 31), S. 185 – 203, hier S. 194: „Die Hilde der ‚Kudrun‘ ist Objekt, nicht Subjekt zauberischen Singens [in der skandinavischen Tradition singt Hilde selbst die Toten wach; J. S.-B]. Die Erzählung macht sie zum wehrlosen Opfer des Zaubers, der sie so in seinen Bann schlägt, dass sie Hetel um Horants Willen nimmt. Es gibt das Motiv auch im ‚Dukus Horant‘, aber in keiner älteren Hilde-Erzählung (und auch nicht im ‚Beowulf‘). Wie es zu lesen sei, nämlich als Verschiebung von Zaubermächten von der dämonischen weiblichen Haupt- auf eine heroische, männliche Nebenfigur, lehrt, wenn man der Analogie wie einem Wegweiser folgt, eine zweite zauberische Episode in der Hilde-Entführung [nämlich Wates Heilung der Verletzten, J. S.-B.].“
3 Von geschmückten Damen und effeminierten Rittern. Höfische Kleidung in Hartmanns von Aue Ereck und im Nibelungenlied Fine feathers make fine birds. englisches Sprichwort Dressing well is a form of good manners. Tom Ford: GQ America 9/2013 Alamode-Kleider, Alamode-Sinnen, wie sich’s wandelt außen, wandelt sich’s auch innen. Friedrich Freiherr von Logau: „Fremde Tracht“ (1654) Wer Jogginghosen trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Karl Lagerfeld (1933 – 2019) I’m not ashamed to dress like a woman because I don’t think it’s shameful to be a woman. Iggy Pop (*1947)
Im methodischen Anschluss an die vorangegangenen Interdiskursanalysen zur Musikdarstellung in der mittelhochdeutschen höfischen Epik rücken im vorliegenden Kapitel nun die höfischen Gewandmoden in den Fokus. Als Ausgangspunkt einer entsprechenden Untersuchung von Hartmanns Ereck und dem Nibelungenlied soll dabei erneut die These dienen, dass sich insbesondere die Darstellung ästhetischmaterieller Kulturelemente in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur nicht allein aus höfisierenden, sondern darüber hinaus auch maßgeblich aus hofkritischen Topoi speist. Im Vorfeld soll allerdings auch hier noch einmal vertiefend das grundlegende diskursive Feld aufgearbeitet werden.¹ Daher widmet sich der nachfolgende Abschnitt des Kapitels zunächst überblicksartig den ästhetisierenden und ethisierenden Verhandlungen des Redegegenstands der Kleidung im höfischen Diskurs. In einem zweiten Schritt soll dann anhand der Historia Ecclesiastica des Ordericus Vitalis (ca. 1142), Petrus’ von Blois „Brief 94“ (1191) und Vinzenz’ von Beauvais De eruditione filiorum nobilium (1249/50) exemplarisch veranschaulicht werden, inwiefern jegliche Art äußeren Schmucks im hofkritischen Diskurs hingegen scharf kritisiert wird. Anknüpfend an den breiten mittelhochdeutschen Sprachgebrauch, welcher unter den zentralen Substantiven gewant/kleit sämtliche Arten von Kleidungsstücken (inklusive etwa auch der ritterlichen Rüstung) zusammenfasst, verstehe ich unter Gewandung/ Kleidung dabei grundsätzlich alle Gegenstände, die vom Menschen aus Gründen der Bedeckung, des Schutzes und/oder der Zier des Körpers getragen werden.²
Vgl. zu diesem methodischen Vorgehen erneut Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 94: „Die Interdiskursanalyse literarischer Texte rekonstruiert […] zunächst die Struktur des ‚umgebenden‘ Feldes von Spezialdiskursen wie auch von außerliterarischen Interdiskursivitäten.“ Nach dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 683a, schließt die Semantik des mhd. Substantivs gewant neben „kleidung, kleid“ und „rüstung“ eben auch das, „was […] zur bewaffnung gehttps://doi.org/10.1515/9783110673258-003
3.1 Höfischer Kleiderluxus und christliche Gewandkritik
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3.1 Höfischer Kleiderluxus und christliche Gewandkritik Den Grundstein zur mediävistischen Erforschung der höfischen Gewandkultur legt 1879, wie auch schon für den Bereich der Musik, Alwin Schultz mit Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. ³ Der Kleidung widmet Schultz hier ein besonders „umfangreiches Kapitel […], in welchem er auf Grundlage der mittelhochdeutschen und altfranzösischen Dichtung und historischen und kunstgeschichtlichen Quellenmaterials (Miniaturen, Siegel, bauplastischer Schmuck) die wichtigsten Kleidungsstücke der Frauen- und Männermode beschreibt.“⁴ Wie die meisten Beiträge der frühen Kulturund Kostümgeschichte, welche die literarische Darstellung noch unkritisch mit den realhistorischen Gegebenheiten gleichsetzt, weist allerdings auch Schultz’ Arbeit – ich habe dies bereits im vorangegangenen Kapitel zur Musik angesprochen – gravierende methodische Mängel auf.⁵ Ähnliches trifft auch auf die 1922 bzw. 1936 erschienenen germanistischen Dissertationen Sebastian Loys Stoffe und Kleidung im Mittelalter und Elfriede Bertelts Gewandschilderungen in der erzählenden höfischen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts zu.⁶ Dieses Problem nimmt Joachim Bumke Mitte der 1980er Jahre zum Anlass, sich in seiner Höfischen Kultur (1986) ein weiteres Mal mit dem entsprechenden Verhältnis zwischen der höfischen Dichtung und der historischen Wirklichkeit weltlicher Kleidermoden zu befassen.⁷ Wenige Jahre später legt dann
hört“, ein, also z. B. das Schwert eines Ritters. Vgl. dazu auch das entsprechende Kompositum îsengewant; ebd., Sp. 684a. In ähnlicher Weise kann weiterhin auch der Begriff wât („gewand im ganzen sowohl als zur kleidung verarbeitet“) in Form des Kompositums îsenwât die ritterliche Rüstung bezeichnen; ebd., Sp. 776b–777b. Zum ebenfalls sehr breiten Verwendungsspektrum von mhd. kleit vgl. weiterhin ebd., Bd. 1, Sp. 838b. Alwin Schultz: Das höfische Leben zur Zeit der Minnesinger. 2 Bände. 2. Aufl. Leipzig 1889; hier v. a. Bd. 1, S. 222– 359. Eine kritische Überblicksdarstellung zur älteren interdisziplinären Kleiderforschung v. a. der zweiten Hälfte des 20. Jhs. bietet Elke Brüggen: Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter. Anmerkungen zu neueren Forschungen. In: PBB 110 (1988), S. 202– 228, hier v. a. S. 203 – 210. Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989 (Euphorion Beihefte. 23), S. 13. Zu Schultz’ mangelnder Quellenkritik vgl. erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 15 f. Sebastian Loy: Stoffe und Kleidung im Mittelalter, dargestellt an Hand der mittelhochdeutschen Dichtungen unter besonderer Berücksichtigung der Dichtungen von 1180 bis 1220. Freiburg i. Br. 1922, und Elfriede Bertelt: Gewandschilderungen in der erzählenden höfischen Dichtung des 12. und 13. Jh. Emsdetten 1936. Kritisch zum methodischen Vorgehen dieser beiden älteren Studien siehe erneut Brüggen, Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter, S. 210, Anm. 21: So reflektiere Loy „Stärken und Schwächen der literarischen Zeugnisse im Hinblick auf eine kulturgeschichtliche Auswertung […] nur ansatzweise“, während die Problematik von Bertelts Arbeit vor allem „in der engen Auswahl der Quellen und in der Beschränkung des Blickwinkels“ liege. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 172– 210 (Kap. III.2: „Kleider und Stoffe“). Bumke (ebd., S. 24 f.) betont hier in Abgrenzung zu Schultz, dass „die Ebene der Realität“, zu der sich die höfische Literatur „direkt in Beziehung setzen“ lasse, eben „nicht die Wirklichkeit der materiellen Gegenstände oder der faktischen Vorgänge [sei], sondern die Wirklichkeit der Vorstellungen, Erwartungen und Wünsche, die Wirklichkeit des gesellschaftlichen Bewusstseins und der kulturellen Normen“.
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schließlich Elke Brüggen mit ihrer Dissertation Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts (1989) die erste einschlägige Monographie der jüngeren Forschung vor, wobei sich indes „Fragestellung, Methode und Ergebnisse“ größtenteils mit Bumkes Ansatz decken.⁸ So wertet auch Brüggen hier „die Kleiderbeschreibungen der höfischen Epik als kostümgeschichtliche Zeugnisse“ aus,⁹ um davon dann die typischen Eigenschaften der höfischen Frauen- und Männerkleidung, ihre Rolle im „höfische[n] Zeremoniell“ und die grundlegenden „[m]odischen Entwicklungen“ des 12. und 13. Jahrhunderts abzuleiten.¹⁰ Darüber hinaus hat die einschlägige Forschung allerdings auch schon früh erkannt, dass sich die Funktionen der Kleiderdarstellung in der höfischen Literatur nicht in der Abbildung einer wie auch immer verstandenen historischen ‚Wirklichkeit‘ erschöpfen können. Einen zu den Arbeiten Bumkes und Brüggens komplementären Ansatz verfolgt daher schon Gabriele Raudszus in Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters (1985) – eine Studie, die die literarischen „Kleiderbeschreibungen weniger auf ihren sachgeschichtlichen, sondern vor allem auf ihren bedeutungsgeschichtlichen Wert hin befragt“.¹¹ Allerdings fehlt es auch dieser Arbeit, die sich ihrem Gegenstand in siebzehn breitgefächerten Einzeltextanalysen vom Heliand über Hartmanns Ereck bis hin zum Helmbrecht nähert, an einem theoretischen Fundament.¹² Diese Forschungslücke sucht schließlich Andreas Kraß’ kulturwissenschaftliche Studie Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel (2006) zu begegnen, die sich – mit Hilfe eines beachtlichen, auf den Arbeiten Roland Barthes’, Cornelius Castoriadis’ und Wolfgang Isers basierenden methodischen Instrumentariums – der Frage widmet, „wie sich die ritterlich-höfische Gesellschaft des 12. und 13. Jahrhunderts des Zeichensystems der Kleidung bedient, um ihre Identität zu modellieren.“¹³ Im Fokus von Kraß’ Analysen stehen insofern v. a. diejenigen Szenen eines von Hartmanns Ereck bis Konrads von Würzburg Engelhard reichenden umfangreichen Textkorpus, „die unmittelbar auf die Identitätsproblematik der handelnden Figuren
Kraß, Geschriebene Kleider, S. 33. Anknüpfend an Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 24 f., betont auch Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 11, nachdrücklich, dass die Gewandbeschreibungen der höfischen Literatur gerade nicht den vielfach zitierten ‚Alltag bei Hofe‘ abbilden, sondern – ganz im Gegenteil – „unter Ausscheidung des Alltäglichen und durch konsequente Stilisierung ins Mustergültige ein Idealbild der höfischen Gesellschaft“ entwerfen. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 33. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 5. Brüggens Studie liefert weiterhin erstmals ein ausführliches Glossar zur modischen Terminologie sowie einen Anhang mit reichem Bildmaterial; vgl. ebd., S. 191– 293. Kritisch zur Vorgehensweise Brüggens vgl. allerdings erneut schon Kraß, Geschriebene Kleider, S. 33 f. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 34. Kritisch zum methodischen Vorgehen von Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, siehe nochmals Kraß, Geschriebene Kleider, S. 34 f. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 2.
3.1 Höfischer Kleiderluxus und christliche Gewandkritik
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bezogen sind“.¹⁴ Aus der Geschichtswissenschaft sind in jüngerer Zeit zudem zwei Publikationen Jan Keupps hinzugekommen, die in thematischer Hinsicht an die germanistischen Arbeiten Kraß’ und Brüggens anknüpfen:¹⁵ So geht Keupp in Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters (2010) zunächst anhand einer umfangreichen Auswahl weltlicher und geistlicher Texte des europäischen Mittelalters dem Zusammenhang der Trias Kleidung – Identität – Macht nach,¹⁶ wohingegen er mit Mode im Mittelalter (2011) die neueste Kompaktdarstellung aus der Sicht eines Historikers liefert.¹⁷ Flankiert werden diese längeren Arbeiten schließlich von diversen Aufsatzpublikationen, die sich in den meisten Fällen entweder der Kleiderdarstellung einzelner Autoren widmen oder sich vertiefend mit speziellen Teilaspekten der höfischen Kleidermoden befassen.¹⁸
Ebd., S. 24. Aus kunsthistorischer bzw. archäologischer Perspektive haben sich dem Gegenstand in den letzten Jahren des Weiteren auch Magaret Scott: Kleidung und Mode im Mittelalter: Perlen, Seide und Brokat. Darmstadt 2009, sowie Katrin Kania: Kleidung im Mittelalter: Materialien – Konstruktion – Nähtechnik. Ein Handbuch. Köln 2010, genähert. Beide Arbeiten bleiben aufgrund ihrer anders gelagerten Quellenbasis (europäische Buchmalerei vom 9. bis zum 16. Jh. bzw. die materielle Überlieferung) im Rahmen der vorliegenden Übersichtsdarstellung unberücksichtigt. Jan Keupp: Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters. Ostfildern 2010 (Mittelalter-Forschungen. 33). Jan Keupp: Mode im Mittelalter. Darmstadt 2011. Vgl. hierzu v. a. Gesine Taubert: Erwähnung von Textilien in mhd. Epen. In: Documenta Textilia. Festschrift für Sigrid Müller-Christensen. Hrsg. von Mechthild Flury-Lemberg. München 1981 (Forschungshefte Bayerisches Nationalmuseum München. 7), S. 13 – 18, Marjatta Wis: Zu den ‚Schneiderstrophen‘ des Nibelungenliedes: Ein Deutungsversuch. In: Neuphilologische Mitteilungen 84 (1983), S. 251– 260, Dietmar Peil: Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns unter besonderer Berücksichtigung der Artus-Epen. In: Les ‚Realia‘ dans la littérature de fiction au Moyen Âge. Actes du colloque du Centre d’Études Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne, Chantilly, 1er–4 Avril 1993. Hrsg. von Danielle Buschinger, Wolfgang Spiewok. Greifswald 1993 (Greifswalder Beiträge zum Mittelalter. 10), S. 119 – 139, Elke Brüggen: Kleidung und adliges Selbstverständnis. Literarische Interessenbildung am Beispiel der Kleidermotivik in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien Berichtsbände. 14), S. 200 – 215, Lydia Miklautsch: Glänzende Rüstung – rostige Haut: Körper- und Kleiderkontraste in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach. In: Kontraste im Alltag des Mittelalters. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 29. September bis 2. Oktober 1998. Hrsg. von Gerhard Jaritz. Wien 2000 (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. 5), S. 61– 74, Andrea Sieber: Ladies on the Catwalk oder: Was hat Designermode im Mittelalter zu suchen? In: DU 60 (2008), S. 7– 19, Katrin Kania: Das Blaue vom Himmel gelogen oder bunt wie das Leben selbst? Kleiderbeschreibungen in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘ und archäologische Funde im Vergleich. In: Farbe im Mittelalter. Akten des 13. Symposiums des Mediävistenverbandes. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler. Berlin 2011, Bd. 1, S. 213 – 220, Christiane Witthöft: Kleidergaben im Liebes- und Freundschaftsdiskurs: Das Hemd der Herzeloyde, der Brangäne und anonymer Minnedamen in der Kleinepik. In: Liebesgaben. Kommunikative, performative und poetologische Dimensionen in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi [u. a.]. Berlin 2012 (Philologische Studien und Quellen. 240), S. 119 – 140.
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Auch wenn die nachfolgende Übersichtsdarstellung zur Kleidung im höfischen Diskurs aus thematischen Gründen maßgeblich auf die Arbeiten Bumkes und Brüggens zurückgreift, schließen sich meine das spezifisch Literarisch-Interdiskursive der Kleiderdarstellung fokussierenden Analysen methodisch eher dem durch Raudszus und Kraß vertretenen Forschungsstrang an. Mit der systematischen Aufarbeitung der lateinischen Gewandkritik des Hochmittelalters grenzt sich die vorliegende Arbeit zudem deutlich von der einzigen älteren Arbeit mit ähnlicher Fragestellung ab, Ulrike Lehmann-Langholz’ Kleiderkritik in mittelalterlicher Dichtung (1985).¹⁹ Denn LehmannLangholz stellt ihren grundsätzlich gewinnbringenden Analysen der Rede vom glouven des Armen Hartmann, Heinrichs von Melk Von des todes gehugde, der Lieder Neidharts sowie Wernhers des Gärtner Helmbrecht lediglich eine unspezifische Übersichtsdarstellung zur höfischen Kleidung des Hochmittelalters voran.²⁰ Zwar wird im mittleren Teil der Studie dann auch noch die Tradition der christlichen
Vgl. Ulrike Lehmann-Langholz: Kleiderkritik in mittelalterlicher Dichtung. Der Arme Hartmann, Heinrich ‚von Melk‘, Neidhart, Wernher der Gartenaere und ein Ausblick auf die Stellungnahmen spätmittelalterlicher Dichter. Frankfurt a. M. 1985 (Europäische Hochschulschriften Reihe I Deutsche Sprache und Literatur. 885). Abgesehen von dieser Arbeit finden sich in der Forschung noch einige beiläufige Hinweise auf kleiderkritische Tendenzen der mhd. höfischen Literatur. So erwähnt etwa Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 149 f., abgesehen von der im Folgenden noch genauer zu untersuchenden Ablehnung von Kleidergaben durch Hartmanns Ereckfigur nur eine Stelle in Wolframs Parzival, wo „[d]ie Überlegung, dass eine Frau, die in Lumpen gehüllt ist, unter Umständen der Vorzug gebührt vor einer prächtig gekleideten Dame, […] in einer Bemerkung des Erzählers über die von Orilus gedemütigte Jeschute an[klingt]: ich saget iu vil armuot / war zuo? Daz ist als guot. / doch næme ich sölhen blôzen lîp / für etslîch wol gekleidet wîp (Parz 257,29 – 32).“ Auf diese Stelle verweist weiterhin auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 171, Anm. 73. Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 43 f., wiederum bemerkt an Wolframs Willehalm (140,1– 7), kleiderkritische Tendenzen: So halte dessen durch sein „ungepflegtes Äußeres“ zum Außenseiter gewordener Titelheld im Anschluss an den erfolglosen Heidenkampf „der höfischen Entourage einen Spiegel der eigenen Dekadenz und Statusverliebtheit“ vor (Zitate ebd., S. 44). Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 207 f., erwähnt darüber hinaus den nur fragmentarisch erhaltenen Reinfried von Braunschweig (um 1300), wo „im Rahmen einer groß angelegten Frauenschelte die unzüchtige Enge der höfischen Kleider und die Entblößung des Körpers durch die Mode“ angegriffen werden (Zitat ebd., S. 208). Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 10 – 15, nimmt schließlich kritische Untertöne in Gottfrieds von Straßburg ausführlichen descriptiones der Kleidung Tristans und Isoldes wahr: So werde etwa „bei Tristans Auftritt in Weisefort […] sein Kleiderprunk […] als über das Idealmaß hinausschießend und fremdartig beschrieben, sowie außerhalb der höfischen Gepflogenheiten verortet (ûzer mâze rîch, 11103, vremede, 11104, niht von hove, 11105)“. Ebenso sei Isoldes entsprechende descriptio „mit negativen Bildern durchsetzt: „Ihre Schönheit erscheint grell wie die eines Papageis (vgl. 10995) und trägt die latente Aggressivität domestizierter Raubvögel in sich (vgl. 10994, 10997). Schließlich deutet der oszillierende Goldglanz ihres Kopfschmucks und ihrer Haare (s. o., 10962– 10985) auf eine destruktive Wahrnehmungsverwirrung voraus, welche die gestörten Zeichenbezüge in der Ehebruchshandlung antizipiert“ (Zitate ebd., S. 14 f.). Für den Bereich der höfischen Lyrik erwähnt Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 50, außerdem Walther von der Vogelweides „resignative[s] Lamento“ zur dörperlîche[n] wât hochmittelalterlicher Ritter (L 124,24 f.). Kritisch zu diesem Vorgehen siehe auch schon Brüggen, Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter, S. 221 f.
3.1 Höfischer Kleiderluxus und christliche Gewandkritik
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Kleiderkritik skizzenartig aufgearbeitet (Kap. IV: „Ablehnung von Kleiderluxus in der christlichen Tradition“), wobei der Fokus mit der Bibel sowie der Patristik (Tertullian, Cyprian, Gregor von Nazianz und Hieronymus) allerdings v. a. auf den (spät‐)antiken Quellen liegt. Aus der Zeit des Hochmittelalters finden dagegen lediglich einige gewandkritische Ausführungen Thomas’ von Aquin Erwähnung.²¹ Lehmann-Langholz scheint insofern zumindest implizit von einer größtenteils direkten Übernahme spätantiken kleiderkritischen Gedankenguts in die mittelhochdeutsche geistlich-didaktische bzw. höfische Literatur auszugehen, während die Herausbildung eines spezifisch hochmittelalterlichen Diskurses bei ihr kaum Beachtung erfährt.
3.1.1 Kleidung als Gegenstand des höfischen Diskurses: Zur Kleiderdarstellung in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur und der Historiographie des 12./13. Jhs. Prachtvolle Kleidermoden gehören von Beginn an zu den beliebtesten Motiven der mittelhochdeutschen höfischen Literatur.²² So beschreibt schon Heinrich von Veldeke in seinem Eneasroman (zwischen 1170 und 1188) ausführlich – und in der Folge mo-
Vgl. dazu die knappen Ausführungen bei Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 152 f., zur Kritik an bestimmten Kleidermoden in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin. Vgl. Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 43. Wie ein Großteil der hochmittelalterlichen Materialkultur haben auch die meisten zeitgenössischen Kleidungsstücke, wie Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 12, zusammenfasst, die Jahrhunderte bis zur Moderne nicht überdauert: „Bei den noch erhaltenen Gewändern handelt es sich vorwiegend um liturgische Paramente; von der profanen Kleidung des Mittelalters zeugen fast nur noch einige königliche Zeremonialgewänder, kostbare Einzelstücke, die ihre Konservierung ihrem hohen ideellen Wert verdanken.“ Dieser Umstand sei darauf zurückzuführen, dass frühestens „mit der Übernahme Siziliens durch Kaiser Heinrich VI. und spätestens mit der Kaiserkrönung Friedrichs II. im Jahre 1220 […] die Gewänder der normannischen Könige den Reichskleinodien eingegliedert [wurden], deren Besitz dem mittelalterlichen Kaisertum als eine wesentliche Rechtsgrundlage seiner Herrschaft galt. Krönungsmantel, Alba, Dalmatica, Strümpfe, Gürtel, Handschuhe und Schuhe des Reichsschatzes befinden sich heute in der Weltlichen Schatzkammer der Wiener Hofburg (Kunsthistorisches Museum). Das imposanteste Stück ist der rotseidene, goldbestickte Krönungsmantel in Form eines Umhangs, der ausgebreitet fast dreieinhalb Meter mißt. Eine dem Mantelsaum folgende Borte mit kufischer Inschrift weist ihn als ein 1133/34 gefertigtes Produkt der königlichen Werkstatt zu Palermo aus“. In Anbetracht dessen komme, so weiter Brüggen (ebd., S. 19), sekundären, d. h. bildlichen und textuellen Quellen seit jeher der höchste Stellenwert bei der Erforschung der hochmittelalterlichen Kleidermoden zu. Den schriftlichen Teil bildeten dabei Texte verschiedenster Gattungen, zu denen neben der höfischen Literatur auch Schwänke, religiöse Dichtungen, Predigten und Reimchroniken zählten. Darüber liegt aber auch einiges an bildlichem Material vor, welches laut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 203, jedoch allgemein als ein (noch) weniger zuverlässiges Quellenmaterial einzustufen sei, da „die höfischen Dichter die Vorstellungen und Wünsche ihres adligen Publikums unverstellter zum Ausdruck bringen konnten als die Bildhauer, die in kirchlichem Auftrag arbeiteten.“
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dellbildend – das Aussehen von Didos luxuriösem Jagdgewand (V. 1687– 1755).²³ Direkten Bezug auf diese Verse nimmt wenige Jahre später dann an prominenter Stelle Hartmanns von Aue Erec (um 1180/90), dessen Investitur der Enitefigur durch Ginover sich z. T. wörtlich an Veldeke anlehnt (V. 1537– 1610).²⁴ Für die offensichtlich große Beliebtheit elaborierter descriptiones speziell von vornehmer Frauenbekleidung spricht, dass auch aus den nachfolgenden Jahrzehnten kaum ein höfischer Erzähltext überliefert ist, in dem diese fehlen würden:²⁵ So enthält bspw. der Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven (um 1200) eine ausführliche – und ihrerseits wiederum den Erec zitierende – Gewandbeschreibung zur Botin der merminnen-Königin (V. 5760 – 6226);²⁶ weitere bekannte Beispiele wären Wirnts von Grafenberg fiktionstheoretisch aufgeladenes Prunkstück zum äußeren Schmuck der Larie (Wigalois, ca. 1210/1220; V. 10514– 10586) oder Wolframs von Eschenbach Entwurf einer hässlichen, aber doch vornehm gekleideten Gralsbotin Kundrie im Parzival (ca. 1200/1210, 778,17– 23).²⁷ Kennzeichnend für die Konzeption einer männlichen Hauptfigur erscheint eine prachtvolle ‚Zivilkleidung‘ hingegen v. a. in Gottfrieds Tristan (um 1210), dessen Protagonist sich nicht nur zum Hoftag von Weisefort so vornehm kleidet als ein volmüete ritter sol (V. 10848).²⁸ Als Pendant zu den zahlreichen descriptiones weiblicher Kleiderpracht fungiert in der mittelhochdeutschen höfischen Literatur ansonsten eine Vielzahl von ausführlichen Beschreibungen ritterlichen Rüstungsprunks,²⁹ für die etwa das Rolandslied des Pfaffen Konrad oder das Nibelungenlied bekannt sind. Eine parodistische Perspektive wählen im 13. Jahrhunderts schließlich der Lyriker Neidhart, dessen Sommer- und Winterlieder immer wieder auch von der Aneignung hö-
Vgl. dazu Brüggen, Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter, S. 214 f. Zur Innovativität der Kleiderbeschreibung bei Veldeke vgl. weiterhin ausführlicher auch dies., Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 39 f. Vgl. Ehrismann, Ehre und Mut, S. 75. Nach Brüggen, Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter, S. 213, nehmen die Kleiderbeschreibungen in der höfischen Epik im Hinblick auf Häufigkeit und Umfang vom 12. zum 13. Jh. kontinuierlich zu. Die Botin ist, wie Enite (Erec,V. 1558f.), mit eime rieme von Iberne / […] begürtet hart wol; vgl. hierzu im Einzelnen Ulrich von Zatzikhoven: Lanzelet. Text – Übersetzung – Kommentar. Studienausgabe. 2. Aufl. Hrsg. von Florian Kragl. Berlin/Boston 2005, V. 5798 f. Zur entsprechenden descriptio des Gewands der Ehefrau des Protagonisten vgl. im Einzelnen Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach, Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2011, V. 10552– 10586. In diesem Zusammenhang fällt außerdem auf, dass Larie, genau wie zuvor Enite (Erec, V. 1558f.) und im Anschluss daran die Botin bei Ulrich von Zatzikhoven (Lanzelet, V. 5798 f.), einen riemen von Îberne (V. 10568) trägt. Zur entsprechenden Darstellung Kundries vgl. weiterhin v. a. die Beschreibung von deren Hut im französischen Stil (313,7– 10) in Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. 2. Aufl. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin/New York 2003, sowie Kundries zweiten Auftritt (778,17– 23). Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 100. Vgl. ebd. und Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 197.
3.1 Höfischer Kleiderluxus und christliche Gewandkritik
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fischer Kleidermoden durch ein dörperliches Personal handeln, sowie Wernher der Gärtner, der in seinem Helmbrecht (zwischen 1250 und 1280) vom Aufstieg eines Bauernsohns zum Raubritter erzählt, dessen prächtige Seidenhaube hier als Sinnbild einer unstandesgemäßen Existenz fungiert.³⁰ Zahlreiche Erwähnungen prachtvoller Kleidung finden sich darüber hinaus aber auch in der zeitgenössischen Historiographie. Diese fallen hier jedoch, wie schon im Bereich der Musik, in den meisten Fällen verhältnismäßig kurz und beiläufig aus.³¹ So weiß etwa Arnold von Lübeck bezüglich der Pilgerreise Heinrichs des Löwen im Jahr 1172 zu berichten, dass dieser während seines Aufenthalts in Konstantinopel von der Kaiserin so viele Kleidergeschenke erhalten habe, „daß er alle seine Ritter in Seidenbrokat kleiden konnte“ (samittos plurimos, ita ut omnes milites suos vestiret samittis).³² Auf der späteren Heimreise bekommt dann auch Heinrich selbst von einem türkischen Sultan „einen Mantel und einen Rock aus bester Seide“ geschenkt (mantellum et tunicam de optimo serico).³³ Reichlich Anlass zur Kleiderbeschreibung gab den Chronisten des deutschsprachigen Raums weiterhin auch das berühmte Mainzer Hoffest Friedrich Barbarossas im Jahr 1184.³⁴ So geht etwa Gislebert von Mons, der Kanzler des Grafen Balduin V. von Hennegau – und selbst ein Gast des Festes –, in
Beispiele hierfür wären etwa der flämelnde, eine prächtige rote Rüstung tragenden Dörper Adeltir (WL 27: Mirst von herzen leide) sowie das junge Dörpermädchen aus SL 18 (Der walt mit loube stat), das seiner Mutter stolz von den (unstandesgemäßen) Kleidergeschenken ihres ritterlichen Verehrers, dem Riuwentaler, erzählt. Zur Kleiderkritik bei Neidhart vgl. ausführlich auch Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 155 – 193. Daher bilden die im engeren Sinne historischen Quellen nach Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 22, auch die „im Grunde genommen unergiebigste Quellengruppe“ für die Erforschung der höfischen Kleidermoden des Hochmittelalters: „Details der adligen Hofkultur lagen in diesem Zeitraum im allgemeinen nicht im Blickfeld der lateinischen und deutschen Geschichtsschreibung. Bei dem, was aus den Chroniken über die adlige Kleidung in Erfahrung zu bringen ist, handelt es sich um zufällig wirkende Einzelnachrichten, deren Generalisierung fragwürdig erscheinen muß. Als aussagekräftige Quelle für die Lebensgestaltung des mittelalterlichen Adels sind dagegen die vom Ende des 13. Jahrhunderts stammenden Rechnungsbücher der Landesfürsten von Tirol zu werten. […] Besondere Beachtung verdienen auch die Reiserechnungen Wolfgers von Erla, Bischof zu Passau, aus den Jahren 1203 und 1204, zum Thema ‚Kleidung und Mode‘ enthalten sie allerdings nur spärliche Nachrichten.“ Arnold von Lübeck: Chronica. Hrsg. von Johann Martin Lappenberg. In: Historici Germaniae saec. XII. Hrsg. von Georg Heinrich Pertz. Hannover 1869, S. 100 – 250, hier S. 120, zitiert nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 179, Anm. 20. Die deutsche Übersetzung stammt ebenfalls von Bumke; ebd., S. 179. Bumke führt hier außerdem noch einige weitere Beispiele für höfisierende Kleiderdarstellungen in der hochmittelalterlichen Historiographie an. Arnold von Lübeck, Chronica, S. 120, erneut zitiert nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 179, Anm. 21. Die Übersetzung stammt ebenfalls erneut von Bumke (ebd., S. 179). Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 6 f. Davor verweist auch schon Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 212, auf die „ungewöhnlich ausführliche[] Weise“, in der die Geschichtsschreiber „die Entfaltung des Zermoniells“ beim Mainzer Hoftag gewürdigt hätten. Zur historischen Bedeutung des Mainzer Hoftags vgl. weiterhin etwa Johannes Laudage: Friedrich Barbarossa (1152– 1190). Eine Biographie. Hrsg. von Lars Hageneier, Matthias Schrör. Regensburg 2009, S. 300 – 310.
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seinem Chronicon Hanoniense (ca. 1196 – 1198) verhältnismäßig ausführlich auf die Bedeutung prächtiger Kleidung für das höfische Zeremonialhandeln ein: Comes autem Hanoniensis ad curiam illam cum probis et discretis viris […] et Henrico ipsius comitisgermano, milite novo, sericis vestibus ornatis, […] venit vigilia pentecostes cum magno et honesto apparatu, tam vasis argenteis multis quam ceteris sibi necessariis, et cum servientibus honeste ornatis. […] Feria secunda pentecostes, dominus Heinricus rex Romanorum et Fredericus dux Suevorum, domini Frederici Romanorum imperatoris filii, novi ordinati sunt milites, pro quorum honore ab ipsis et aliis nobilibus multa militibus captivis et cruce signatis et joculatoribus et joculatricibus data sunt, scilicet equi, vestes preciose, aurum et argentum. Principes enim et alii nobiles non solum pro dominorum suorum scilicet imperatoris et ejus filiorum honorum, sed eciam pro sui proprii nominis fama dilatanda, largius sua erogabant. ‚Der Graf von Hennegau brach zum Hoftage auf, begleitet von angesehenen und erfahrenen Männern […] und Heinrich, dem Sohn des Grafen selbst, alle in Seidengewänder gekleidet, und kam […] am Abend vor Pfingsten an mit großer herrschaftlicher Ausrüstung, vielen Silbergeräten und anderem eigenen Bedarf und mit würdig gekleideter Dienerschaft. […] Am Pfingstmontag wurden die Söhne des römischen Kaisers Friedrich, Heinrich, römischer König, und Friedrich, Herzog von Schwaben, in den Ritterstand aufgenommen. Ihnen zu Ehren wurden von ihnen selbst, von allen Fürsten und den anderen Edelleuten, den besitzlosen und ein Kreuz tragenden Rittern sowie den Spielleuten und Spielweibern reiche Geschenke gemacht, nämlich Pferde, kostbare Kleider, Silber und Gold. Die Fürsten spendeten nicht nur zu Ehren ihrer Herren, des Kaisers und seiner Söhne, auf großzügigste Weise von ihrem Habe, sie taten es auch, um ihren eigenen Namen rühmlich bekannt zu machen.‘³⁵
Zum Jahr 1240 schildert schließlich der franziskanische Chronist Salimbene von Parma die Vorliebe höfischer Damen, ihre Kleider mit Schleppen zu tragen, die „anderthalb Armlängen auf dem Boden“ schleifen (per terram longas per brachium et dimidium).³⁶ Von der älteren, zumeist sozialhistorisch geprägten Forschung sind diese und zahlreiche andere Darstellungen höfischer Kleiderpracht in der mittelhochdeutschen
Das lateinische Zitat stammt aus folgender Ausgabe: Gislebert von Mons: Chronicon Hanoniense. Hrsg. von Leon Vanderkindere. Brüssel 1904, S. 155 – 157; die deutsche Übersetzung nach Wolfgang Mohr: Mittelalterliche Feste und ihre Dichtung. In: Festschrift für Klaus Ziegler. Hrsg. von Eckehard Catholy, Winfried Hellmann. Tübingen 1968, S. 37– 60, hier S. 42 f.; beides zitiert nach Kraß, Geschriebene Kleider, S. 7. Salimbene von Parma, Chronica, Bd. 1, S. 246, zitiert nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 194, Anm. 84. Die deutsche Übersetzung stammt ebenfalls von Bumke (ebd., S. 194). Wie Bumke (ebd.) hervorhebt, ist der Unterton der entsprechenden Darstellungen in der Chronica Salimbenes allerdings kein höfisierender. Die Schilderung ist vielmehr eingebettet in den Kontext der Verordnung eines Kardinals Latinus, der hier im Namen von Papst Nikolaus III. anordnet, dass die lokalen Damen von nun an kurze Kleider und Schleier vor dem Gesicht zu tragen haben. Zu diesen Ausführungen Salimbenes siehe weiterhin auch schon Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 89, und Gundula Wolter: Teufelshörner und Lustäpfel: Modekritik in Wort und Bild 1150 – 1620. Marburg 2002, S. 79, die auf die drastischen Eindämmungsmaßnahmen in der Stadt Modena verweist, wo im 13. Jh. eine steinerne Musterschleppe aufgestellt wurde, an der sich die erlaubte Länge eines Kleides bemessen ließ.
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höfischen Literatur und der zeitgenössischen Historiographie, wie zuvor bereits ausgeführt, schon gründlich aufgearbeitet worden. Zur Vertiefung der skizzenhaften Ausführungen des einleitenden Kapitels der vorliegenden Arbeit zum höfischen Diskurs sollen die einschlägigen Textstellen nun allerdings noch einmal einer Revision aus diskurstheoretischer Perspektive unterzogen werden. Dabei werde ich mich v. a. auf diejenigen Topoi und Begrifflichkeiten konzentrieren, die für eine interdiskursive Kontextualisierung der Kleiderdarstellung in Hartmanns Ereck und dem Nibelungenlied grundlegend erscheinen. Im Gegensatz zu den Darstellungen adligen Musizierens zeichnen sich die Beschreibungen weltlicher Kleiderpracht in der höfischen Literatur und der Chronistik des Hochmittelalters durch eine auffallend geschlechtsspezifische Akzentuierung aus.³⁷ Zwar lassen sich mit Körpernähe, Kostbarkeit und Buntheit durchaus allgemeine Diskursregeln, sozusagen ‚Trends‘, ausmachen,³⁸ doch unterscheidet sich die vestimentäre Inszenierung von Männern und Frauen nun sehr viel stärker als noch zur Zeit der Karolinger mit ihrer typischen „sackartigen Gewandung“.³⁹ Dem Gegenstand
Vgl. dazu schon Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 207 f. Die im Folgenden fokussierten geschlechtsspezifischen Aspekte der höfischen Mode übersehen James A. Schulz: Courtly Love, the Love of Courtliness and the History of Sexuality. Chicago 2006, und im Anschluss daran Kraß, Der effeminierte Mann, S. 40. Stattdessen setzt Kraß den Beginn einer geschlechterdifferenzierenden Funktion der Mode erst in der Frühen Neuzeit an; vgl. ebd., S. 49. Zum engen Zusammenhang von Gender und Mode vom Mittelalter bis in die Postmoderne und der entsprechenden Modeindustrie vgl. weiterführend auch Barbara Ziringer-Schmelzer: Mode Design Theorie. Wien [u. a.] 2015 (UTB. 4403), S. 141– 188, hier v. a. S. 144 f: „Das Tragen von Kleidung kodiert den bloßen Leib als sozialen Körper, es macht seine kulturellen, religiösen und sozialen Zugehörigkeiten sowie seine Geschlechtsidentität ablesbar. Sich zu bekleiden ist daher als ein doing gender zu betrachten […]. Mit der Bekleidung und ihrer kulturellen Codierung wird eine eindeutige Klassifikation möglich gemacht, welche innerhalb der Kategorie Gender die menschlichen Körper als Mann oder Frau normieren. Das Konzept des doing gender verweist auf den performativen Charakter dieser binären Geschlechtsdifferenzierungen. Das Modesystem bildet einen beträchtlichen Teil der beständigen Performanz des kulturellen beziehungsweise sozialen Geschlechts“. Allgemein zum Vorgehen bei der Rekonstruktion historischer Diskurse vgl. außerdem erneut auch Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 244– 265, hier v. a. S. 256 – 262, speziell zum höfischen Diskurs. Zur neuartigen Enge höfischer Kleidung vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 40 f., und Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 69; zum Aspekt der Kostbarkeit zusammenfassend Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 201 f. Die zeitgenössische Vorstellung, dass die Polychromie im Gegensatz zur Monochromie das Höfische symbolisiere und damit ebenfalls repräsentativen Charakters sei, drückt sich des Weiteren nicht nur in den seit dem Hochmittelalter überlieferten Kleiderordnungen aus, sondern nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 182, auch schon in der seit dem 11. Jh. literarisch wie bildlich bezeugten mi-parti-Mode (Kleidungsstücke mit waagrechter oder senkrechter Farbteilung) aus. Elisabeth Vavra: Art. Kleidung. In: LexMA 5 (1991), Sp. 1198 – 1201, hier Sp. 1198, betont darüber hinaus die Kombination verschiedener Kleidungsstücke als Möglichkeit der Erzeugung einer möglichst großen „Farbenfreudigkeit“ des äußeren Erscheinungsbildes. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 188; ähnlich auch Ehrismann, Ehre und Mut, S. 78, und Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 116 f., die zudem auf die standesdifferenzierende Funktion des modischen Schnitts verweist: „[D]ie Enge der Kleider signalisierte die Nichtteilhabe an körperlicher Ar-
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Kleidung kommt insofern auch eine kaum zu überschätzende Bedeutung bei der diskursiven Konstruktion von Geschlecht zu: Denn „[e]ine ausführliche Würdigung von Farbe, Form und Material“ der getragenen Kleidungsstücke ersetzt insbesondere in der höfischen Literatur noch bis ins späte 13. Jahrhundert hinein „die ausgesparte Beschreibung des Leibes“.⁴⁰ Zu den grundlegenden Bestandteilen speziell der weiblichen Bekleidung zählen dabei nach Elisabeth Vavra Unter- und Oberkleid (hemd bzw. roc) sowie der mantel. ⁴¹ Von den mittelhochdeutschen Dichtern werden diese unter Einsatz eines beeindruckenden diskursspezifischen Fachvokabulars beschrieben, welches „zahlreiche Spezialtermini für Kleidungsstücke, Stoffe, Pelze und Edelsteine, für Techniken der Herstellung und Verarbeitung von Textilien und für die Verzierung der Gewänder“ umfasst.⁴² Die entsprechenden descriptiones der literarischen Figuren folgen dabei allgemein „rhetorischen Regeln“, die „zum Grundrepertoire der mittelalterlichen Poetik [gehören]“.⁴³ Andrea Sieber fasst diese in vielfacher Hinsicht aus der Antike übernommenen Darstellungsstereotype wie folgt zusammen: Die Beschreibungsmuster simulieren meist eine Blickbewegung vom Kopf zu den Füßen (de capite ad calcem) auf körperliche Details des Kopfes (Haare, Stirn, Augenbrauen, Nase, Augen,
beit“ (Zitat ebd., S. 117). Zur höfischen Modekultur der Karolingerzeit vgl. zusammenfassend etwa Vavra, Kleidung, Sp. 1198. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 76. Zur Rolle der Kleidung für die Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit in der höfischen Literatur vgl. ausführlich auch James A. Schultz: Clothing and Disclosing. Clothes, Class and Gender in Gottfried’s Tristan. In: Tristania 17 (1996), S. 111– 123, hier v. a. S. 118: „Exposing the legs turns the body into a man’s, since the body with visible legs can only be a man’s. It is the clothes, not the legs, that make the body masculine.“ Schultz stellt diese These zu den geschlechtslosen Körpern der mhd. höfischen Literatur des 12. und frühen 13. Jhs. am Beispiel von Gottfrieds Tristan auf; vgl. dazu ebd., S. 117 f. Dieser mit Blick auf die unterschiedliche Länge der Gewänder formulierte Befund lasse sich, so weiter Schultz (ebd., S. 118), darüber hinaus aber auch auf die allgemeine Enge der Kleidungsstücke im Oberkörperbereich ausweiten: „[T]he close fit does not treat women and men in the same way“, was sich eben wiederum auch in der entsprechenden Genderspezifik der descriptiones der höfischen Literatur niederschlage. Vgl. Vavra, Kleidung, Sp. 1198; so auch Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 71. Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 200; so weiterhin auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 176 f. Nach Bumke (ebd.), sind grundsätzlich viele der einschlägigen „Spezialbegriffe“, wie z. B. bonît („Mütze“?), suckenie („Überwurf“) oder væle („Mantel“) Lehnwörter aus dem Französischen. Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 8. Fabian Scheidel: Evas Kinder. Mittelalterliche Diskurse von körperlicher Schönheit zwischen aisthesis und Ästhetik (bislang unveröffentlicht), verweist in diesem Zusammenhang allerdings auch mit Nachdruck darauf, dass speziell die „descriptio pulchritudinis in den autoritativen (antiken) Rhetoriken nicht zu finden ist, sondern als spezifische Neuerung der mittellateinischen Poetiken gewertet werden muss“: So werde etwa die geschlechtsneutrale antike „Unterscheidung innerlicher und äußerlicher Beschreibung“ (notatio vs. efficito), wie sie sich etwa in der Rhetorica ad Herennium finde, durch Matthäus’ von Vendôme „Übertragung zur descriptio intrinseca und descriptio superficiale […] gegendert, insofern die descriptio intrinseca männlichen attribuierten Figuren (Cato; Papst, Cesar, Ulixes, Davus, Marcia), die der descriptio superficiale weiblichen attribuierten (Callisto; Helena, Beroe) zugewiesen wird.“ Ich danke dem Verfasser sehr herzlich für die Einsicht in sein Manuskript.
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Gesicht, Mund, Lippen, Zähne, Kinn, Nacken, Hals und Kehle), der oberen und unteren Extremitäten (Schultern, Oberarme, Unterarme, Hände und Finger sowie Beine und Füße) und des Rumpfes (Brust, Taille, Hüften, Bauch), wobei sich die Schilderung, wenn es irgendwie möglich ist, überwiegend auf die Verhüllung des Körpers durch Kleidung konzentriert.⁴⁴
Dabei entwickeln sich nach Elke Brüggen bestimmte Kleidungsstücke und -details wie etwa „das weiße Hemd, der Rock aus Seide, Hermelinfutter und Zobelbesatz des Mantels“ oder „der kostbare Gürtel […] gemeinsam mit weiteren Elementen wie etwa Tasselverschluß und Fürspan zu Stereotypen der Kleiderbeschreibung“.⁴⁵ Die größte Aufmerksamkeit gilt dabei jedoch zumeist der neuartigen Enge der Oberteile, die mithilfe von Schnürungen oder spangen die weibliche Körperform betonen.⁴⁶ Im Rückgriff auf die Argumentationsweisen des höfischen Diskurses wird dieser offenbar aus Frankreich stammende Schnitt von den höfischen Dichtern nicht zuletzt im Hinblick auf seine erotischen Vorzüge gepriesen.⁴⁷ Demnach verfüge die durch eine Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 8. Eine der wenigen Ausnahme bietet nach Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 76, in diesem Zusammenhang Wolframs von Eschenbach „Beschreibung Jeschutes, der, unter dem Verdacht der Untreue, von ihrem Ehemann Orilus angemessene höfische Kleidung verwehrt wird. Er läßt sie in einem Hemd reiten, welches Äste und Dornen zerrissen haben (Parz. 257,8 f.); nur der Kragen ist unbeschädigt (206,6 f.).“ In diesem Zusammenhang beschreibt der Erzähler auch Jeschutes wohlgeformte Brüste (258,24– 29). Häufiger fänden sich solche Beschreibungen dann aber erst ab der 2. Hälfte des 13. Jhs. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 41. Mit Recht verweist Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 8, allerdings auf den fragmentarischen Charakter der topischen Körper-, Kleider- und Rüstungsbeschreibungen der höfischen Literatur, die „[t]rotz […] ausufernde[r] Akribie und fachterminologische[r] Präzision […] im Nachvollzug der Beschreibung vor dem inneren Auge eines modernen Betrachters“ oftmals gerade kein „kohärentes Bild einer Figur“ zu erzeugen vermögen. Kritisch zu dem noch immer gängigen Topos mediävistischer Forschung, nach dem es sich bei der descriptio ausschließlich oder primär um „ein Mittel der Erzeugung optischer Eindrücke bzw. des ‚Vor-Augen-Stellens‘“ handle, siehe außerdem jüngst Scheidel, Evas Kinder (bislang unveröffentlicht). Scheidel begreift das Verständnis der „descriptio […] als Mittel der Mimesis“ hier als eine „Langzeitfolge eines veränderten Kunstverständnisses […], das Lessing in seinem Laokoon mustergültig entwickelt hat“. Völlig zu Recht wirft er in diesem Zusammenhang die Frage danach auf, „[w]as […] einer Epoche, die kein erkennbares Bedürfnis nach mimetischer Malerei hat, ferner liegen [könnte], als in ihrer Literatur mimetisch zu malen“. Vgl. Vavra, Kleidung, Sp. 1198, und Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 40 f. Vereinzelt ist nach Brüggen allerdings auch noch in der höfischen Epik die Rede von „weiter geschnittenen Obergewänder[n]“, die „mit einem Gürtel in der Taille zusammengehalten werden“. Sehr viel häufiger sei dieser weniger aufreizende Kleidertypus, so Brüggen (ebd., S. 77 f.) hingegen in der bildenden Kunst, und zwar insbesondere der (kirchlich finanzierten) Skulptur des 13. Jhs., zu finden. Etwas anders Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 69, die auf Basis ihrer Untersuchung bildlicher und literarischer Quellen eine zunehmende Ersetzung der „langärmligen, engen Oberkleider […] durch ärmellose, fließende“ feststellt. Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 40. „Wichtige Accessoires“ sind nach Vavra, Kleidung, Sp. 1198, außerdem auch die abnehmbaren, mitunter fast bodenlangen „Schmuckärmel“ (ermel, stûche, mouwe). Diese sind nach Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 87, von den höfischen Dichtern, im Vergleich mit den bildenden Künstlern, jedoch nur „selten und dann eher beiläufig in den Blick genommen worden“.
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prachtvolle Kleidung in ihrer Wirkung nochmals verstärkte Schönheit vornehmer Damen über das positive Potenzial, beim Ritter Minne auszulösen, die diesen im Gegenzug wiederum zu kämpferischen Bestleistungen antreibe und insofern nicht zuletzt der Gesellschaft von Nutzen sei.⁴⁸ Anders als das Oberteil soll der Rock bei den Damen allerdings möglichst weit und faltenreich geschnitten sein und dabei mindestens bis auf den Boden reichen;⁴⁹ bei besonders prachtvollen Gewändern kommt noch eine längere Schleppe (swanz) hinzu.⁵⁰ In einem letzten Schritt wendet sich die prototypische descriptio der Kleidung adliger Damen dann schließlich kostbaren Accessoires wie Broschen, Gürteln oder Spangen zu.⁵¹ Als Teile des äußeren Schmucks speziell von Jungfrauen werden in solchen Zusammenhängen topisch außerdem „Blumenkränze oder Reifen (schapel) aus Edelmetall“ erwähnt, während für die verheiratete Frau seit dem 13. Jahrhundert das gebende als die angemessene Kopfbedeckung gilt.⁵² Bestimmte Kleidungsstücke fungieren insofern auch als ein Index der sexuellen Verfügbarkeit einer Frau. Schließlich inszenieren die höfischen Texte die Produktion und Verzierung kostbarer Stoffe und Kleidung als standestypische weibliche Freizeitaktivität, über die adlige Damen einen aktiven Anteil an der Politik der Männer haben.⁵³ Den zahlreichen ausführlichen descriptiones von höfischen Frauenkleidern stehen in der mittelhochdeutschen Literatur, wie bereits erwähnt, nur verhältnismäßig
Zum diskursiven Zusammenhang von Schönheit, Minne und höfischer Ethik vgl. schon Ehrismann, Ehre und Mut, S. 190, und Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 78. Speziell zur Verbindung von Kleidung und Schönheit vgl. weiterhin Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 41 f. Der höfisierende Topos, nach dem die Liebe zu einer schönen Frau den Ritter zu kämpferischen Bestleistungen anspornt, lässt sich, wie Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 17, herausstellt, allerdings noch weitaus früher in Geoffreys von Monmouth Historia regum Britanniae (um 1138) nachweisen: „Geoffrey zählt die illustren Gäste [des großen Hoffests in Carlion; J. S.-B.] auf (derartige Listen finden wir dann in den Artusromanen), darauf berichtet er von der Festkrönung und dem ‚Gehen-unter-Krone‘ im Festzug, parallel zum Auftritt der Königin ‚unter Krone‘ mit ihren Hofdamen. In den Kirchen finden Orgelspiel und Chorgesang von höchster Vollkommenheit statt. Das Festmahl feiern König und Königin nach alter trojanischer Sitte mit ihrem Gefolge getrennt, aber die Damen tragen die Farben ihrer Ritter, denn sie vergeben ihre Liebe nur an erfolgreiche Krieger; auf diese Weise, so meint Geoffrey, wurden die Damen tugendhafter und die Ritter kühner.“ Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 191. Vgl. ebd., S. 194. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 194 f. Zur besonderen Bedeutung der Gürtelschnallen für die archäologische Forschung vgl. weiterhin ebd., S. 194. Zum Aussehen dieser Gürtel siehe detaillierter auch Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 90 – 92. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 194. Zum Aussehen des gebendes vgl. ausführlicher auch Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 95 – 97. Zu den entsprechenden kirchlichen Bekleidungsvorschriften für Frauen, die unter Berufung auf den 1. Korintherbrief das Tragen eines gebendes für Verheiratete anmahnen, siehe weiterhin auch Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 106 f. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 196; zur „Textilherstellung als Betätigungsfeld der adligen Frau“ siehe weiterhin ausführlich auch Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 116 – 123, hier v. a. S. 118, nach der „[i]nsbesondere das Aufsticken von Edelsteinen […] ein Topos adliger Frauendarstellung gewesen zu sein [scheint]“.
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wenige solcher Beschreibungen gegenüber, die männlichen Figuren gewidmet sind:⁵⁴ Elke Brüggen spricht diesbezüglich gar von „Raritäten“.⁵⁵ Der entsprechende literarische Fokus liegt stattdessen auf den Rüstungen und Waffen des Ritters.⁵⁶ Wo die zivile Kleidung des männlichen Adels allerdings, wie etwa in Gottfrieds Tristan (V. 10758 – 11216), ausführlich beschrieben wird, ist sie „nicht weniger kostbar im Material, nicht weniger buntfarben, nicht weniger reich verziert […] als die der Frauen“:⁵⁷ Die wichtigsten Bestandteile sind als Untergewand ein aus feinen Materialien kunstvoll genähtes Hemd, als Obergewand ein Rock mit engerem Oberteil, dessen Schoßteil in der vorderen und hinteren Mitte aufgeschnitten und durch eingesetzte Geren (Stoffkeile) erweitert wird, […] und ein Mantel, meist in der Form des Tassel- und Schnurmantels.⁵⁸
Wie aus diesen Ausführungen Vavras deutlich wird, ähnelt die männliche Bekleidung der weiblichen in der Beschreibung der mittelhochdeutschen Dichter also nicht zuletzt hinsichtlich ihres obenherum eng geschnürten bzw. geklammerten und nach unten hin weiter werdenden Schnitts.⁵⁹ Dies trifft nach Brüggen in mancherlei Hinsichten auch auf den Bereich der modischen Accessoires zu: „Gürtel und Fürspan sind die Kleinodien, mit denen sich auch der höfische Ritter schmückt, Schapel und Hut […] sind geläufige Kopfbedeckungen“ für beide Geschlechter.⁶⁰ Und doch finden sich daneben auch einige wichtige vestimentäre Unterschiede zwischen der diskursiven Modellierung der höfischen Dame und derjenigen des höfischen Ritters in der volkssprachlichen Literatur. Als wahrscheinlichen historischen Hintergrund für die entsprechenden modischen Entwicklungen hebt Barbara ZiringerSchmelzer die Kreuzzüge des 11. Jahrhunderts hervor.⁶¹ Denn durch diese sei im hohen
Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 100, und Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 197. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 100. Als Ausnahmen von der Regel hebt Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 197, für die mhd. höfische Literatur lediglich „Tristans Auftritt am irischen Hof (G. v. Straßburg 11106 ff.)“ und die „Einkleidung des jungen Paris durch die Göttin Venus (K. v. Würzburg, Trojanerkrieg 2896 ff.)“ hervor. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 197; ähnlich auch Vavra, Kleidung, Sp. 1198, und Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 100. Zu der sich darin beispielhaft ausdrückenden „Feminisierung bzw. Androgynie der höfischen Kultur“ vgl. weiterführend auch Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 76 – 86 u. 97 f. (Zitat ebd., S. 97). Vavra, Kleidung, Sp. 1199, ähnlich auch Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 100 f. Zum Aussehen des Tasselmantels im Vergleich zum älteren Schnurmantel detailliert weiterhin Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 204. Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 100 f. Ebd., S. 102. Zur engen Verknüpfung von Schapel und höfischer Lyrik in der bildenden Kunst vgl. auch ebd., S. 102 f.: „Das Schapel tragen die Lyriker Der von Kürenberg, Heinrich von Veldeke, Albrecht von Johansdorf, Reinmar, Neidhart u. a. m. auf den Autorenbildern der Manessischen Handschrift.“ Vgl. Ziringer-Schmelzer, Mode Design Theorie, S. 193.
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Mittelalter der Beginn „eine[r] geschlechtsabhängige[n] Trennung von Hosen und Kotte bzw. Rock“ geradezu „forciert[]“ worden:⁶² Um auf ihren Schlachtrössern bequem reiten zu können, begann zuerst der Ritterstand, Beinlinge zu tragen, und das nicht nur unter der Rüstung. Dieses Kleidungsstück, das zu Beginn der Neuzeit als Hose im heutigen Sinne mit einer geschlossenen Schrittnaht getragen wurde, erhielt durch die moralische und habituelle Vorbildfunktion des adeligen Ritterstands eine explizite Aufwertung als maskulines Kleidungsstück.⁶³
Ob die Ursprünge der skizzierten vestimentären Entwicklungen sich so monokausal auf die Kreuzzüge zurückführen lassen oder diese daneben auch ganz allgemein durch den zeitgenössischen Bedeutungszuwachs des berittenen Kriegers befördert werden, muss an dieser Stelle offen bleiben.⁶⁴ Nach Joachim Bumke ergeben sich jedenfalls aus den geschlechtsspezifischen Differenzierungen im unteren Körperbereich schon bald auch Unterschiede im Bereich der Oberbekleidung, die sich einerseits in einer relativen Kürze der Herrenröcke – als „neue[r], bis heutige gültige[r] Norm“⁶⁵ – sowie, andererseits, in den ausschließlich in der zeitgenössischen Männermode vorkommenden Schlitzungen ausdrücken.⁶⁶ Insofern lassen sich auch die zahlreichen literarischen Inszenierungen der freigelegten Beine eines Mannes als Sinnbild von geschlechtsspezifischer Schönheit als ein Gendering entlang den Argumentationsweisen des höfischen Diskurses begreifen.⁶⁷ So ist in der höfischen Literatur bezeichnenderweise häufig vom ‚ritterlichen‘ oder ‚kaiserlichen‘ Anblick die Rede, den ein gerader, durch diese neue Art der Mode besonders betonter männlicher Beinwuchs biete.⁶⁸
Ebd.; ähnlich auch schon Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 69. Ziringer-Schmelzer, Mode Design Theorie, S. 193 f. Bei den ma. Beinlingen handelt es sich nach Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 103, um eine „strumpfartige[] Beinbekleidung, die an der ‚bruoch‘, einer kurzen Hose, befestigt wird“ und wohl „in der Regel aus einem feinen Wollstoff genäht [ist], auffallend oft aus Scharlach“. Ähnlich zuvor auch schon Paul Martin: Waffen und Rüstungen von Karl dem Großen bis zu Ludwig XIV. Frankfurt a. M. 1967, S. 16. Zu Formen des vestimentären Genderings vgl. weiterführend auch Barbara Vinken: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. 8. Aufl. Stuttgart 2014. Für diese Anmerkung danke ich Elias Friedrichs (Köln). Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 121. Zur knieumspielenden Länge der männlichen Tuniken in Darstellungen noch zur Karolingerzeit vgl. hingegen Martin, Waffen und Rüstungen, S. 26. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 198: „Die Schlitze wurden entweder mit andersfarbenem Stoff unterfüttert oder offen gelassen, so daß man das darunterliegende Kleidungsstück bzw. die nackte Haut sehen konnte.“ Sowohl die Kürze als auch die Schlitzungen der Männerröcke sollten im Spätmittelalter zu einem der wichtigsten Gegenstände der geistlichen Kleiderkritik avancieren; vgl. hierzu Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 121 f. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 103, hebt neben den Beinlingen und Schlitzen außerdem noch die männliche „Bundhaube“ als genderexklusives hochmittelalterliches Modephänomen hervor. Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 104. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 198.
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Wesentlich ausführlicher als die descriptiones männlicher ‚Alltagskleidung‘ fallen in der höfischen Literatur jedoch, wie bereits erwähnt, die Beschreibungen der noch deutlich genderexklusiveren „Schutz- und Angriffswaffen“⁶⁹ des Ritters aus. Dabei hat das hochmittelalterliche Eisengewand nach Bumke „eine lange Vorgeschichte, die bis zu den Panzerreitern der Antike“ zurückführt; vom 11. zum 12. Jahrhundert durchläuft es allerdings einige bedeutsame Veränderungen, die im Folgenden grob skizziert werden sollen.⁷⁰ Den wichtigsten Bestandteil des zeitgenössischen Typus bildet das aus zahlreichen miteinander vernieteten Eisenringen bestehende Kettenhemd (harnasch/halsberc).⁷¹ Dessen schützende Eisenringe werden mit der Zeit vom Oberkörperbereich immer mehr auch auf die übrigen Körperteile ausgeweitet.⁷² Diese Entwicklung mündet schließlich in der „vollentwickelte[n] Panzerung“ des
Zum Unterschied zwischen „Schutz- und Angriffswaffen“ vgl. zusammenfassend Ortwin Gamber: Art. Bewaffnung. In: LexMA 2 (1983), Sp. 22, hier ebd. Im Bereich der hochma. Kampfausrüstung ist – schon aufgrund der materiellen Beschaffenheit – die archäologische Hinterlassenschaft sehr viel reicher als im Fall der höfischen Prachtgewänder, wobei dies allgemein jedoch weniger auf den Bereich der direkt am Körper getragenen (Schutz‐)Waffen als vielmehr auf den der Angriffswaffen zutrifft. Vgl. dazu zusammenfassend Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 210. Zur materiellen Quellenlage siehe außerdem auch Martin, Waffen und Rüstungen, S. 28 f. Im Bereich der künstlerischen Rezeption bietet nach Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 210 f., neben dem umfangreichen überlieferten „Bildmaterial, […] dessen wichtigster Teil die Siegelbilder sind“, insbesondere die höfische Literatur ein „reiche[s] Anschauungsmaterial“ hinsichtlich Aussehen und Trageeigenschaften des hochmittelalterlichen Eisengewands: „Manche waffentechnischen Einzelheiten können überhaupt nur poetisch belegt werden.“ Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 213. Nach Bumke (ebd.) bestand die typische Rüstung am Ende des 11. Jhs. noch aus „knielange[n] Panzerhemden mit halbem Arm und Eisenkapuzen, über die ein spitzer Helm mit Nasenband gesetzt wurde. Die berittenen Krieger wie auch die Fußtruppen führten fast mannshohe, stark gewölbte Schilde, die entweder mandelförmig waren oder unten spitz zuliefen. Als Angriffswaffen dienten Schwerter, Lanzen und Streitäxte.“ Vgl. dazu vertiefend auch Martin, Waffen und Rüstungen, S. 19 – 52. Vgl. Martin, Waffen und Rüstungen, S. 25. Nach Ortwin Gamber: Art. Ringelpanzer. In: LexMA 7 (1995), Sp. 857, hier ebd., war diese in der Forschung auch als Haubert oder Kettenpanzer bezeichnete Form „wohl eine keltische Erfindung und wurde von Griechen und Römern übernommen. Im Orient bevorzugten ihn Perser, Marmelucken und Osmanen, die ihn auch als Verbindung von Metallplatten ihrer Rüstung nutzten. Im ma. Abendland dominierte der Ringelpanzer als Panzermaterial und wurde noch im Spätmittelalter zusammen mit dem Plattenharnisch getragen.“ Vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 213 f. Nach Bumke (ebd., S. 211) besteht die aus solchen Entwicklungen resultierende neue höfische Waffenterminologie „zum großen Teil aus französischen Lehn- und Fremdwörtern“: „Die alten deutschen Bezeichnungen für die Hauptwaffen, helm, swert, sper und schilt, behielten zwar in der höfischen Zeit ihre Geltung, aber die Veränderungen an diesen Waffen wurden meistens mit französischen Fachwörtern bezeichnet. So übernahm man für die neue Eisenplatte am Helm das Wort barbiere. Der figürliche Helmschmuck wurde mit zwei französischen Wörtern, zimiere und kroier, benannt. Für den Schildbeschlag wurde französisch buckel entlehnt. Das französische Lehnwort lanze ist in der höfischen Zeit zu einem Hauptwort für die lange Stoßlanze des Ritters geworden. Es trat an die Stelle von spiez“.
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hochmittelalterlichen Ritters, die sich für die bildlichen und literarischen Darstellungen vom Ende des 12. bis ins 14. Jahrhundert hinein als prägend erwiesen hat:⁷³ Das Panzerhemd bekam lange Ärmel, die bis zum Handknöchel reichten und an die noch gepanzerten Fäustlinge angesetzt wurden. Auch die Beine und Füße wurden durch Hosen und Schuhe aus Panzerringen geschützt. Außerdem wurde die Kapuze so verlängert, daß man einen Teil über Mund und Kinn ziehen und an der Seite befestigen konnte.⁷⁴
Dabei setzt sich auch das entsprechende Beinzeug aus einem mit Lederriemen festgeschnallten Kettengeflecht zusammen.⁷⁵ Ab etwa 1190 wird dann außerdem auch der konische „Nasalhelm“⁷⁶ in der bildlichen und literarischen Darstellung von einem auffallend geschlossenen Typus abgelöst.⁷⁷ Kennzeichnend für diese als „Topfhelm“ bezeichnete Art sind v. a. eine breitere und flachere Gesamtform sowie die Verlängerung der vorderen und hinteren Helmwand.⁷⁸ Für die Verhandlungen des Gegenstands der Rüstung im höfischen Diskurs ist allerdings weniger deren zunehmend bessere Schutzfunktion von Bedeutung als der von ihr ausgehende strahlende „Glanz“.⁷⁹ So wird das literarische Erscheinungsbild des Ritters im Hochmittelalter als das Ergebnis von zunehmend ästhetisierenden Darstellungstendenzen immer „mehr durch die Teile seiner Ausrüstung geprägt, die keine militärische Funktion hatten, sondern dem Schmuck dienten.“⁸⁰ Dazu zählen bis 1200 vor allem die Satteldecke und das Lanzenfähnlein (baniere), im weiteren Verlauf des 13. Jahrhunderts kommt dann zusätzlich noch der Waffenrock (wâpenroc, surcot) hinzu:⁸¹ Er ist ohne Ärmel, fällt über den Haubert oder Maschenpanzer vom Hals bis zu den Knöcheln und bleibt seitlich offen; er kann dort durch Bänder oder Riemen geschnürt oder aber geknöpft
Zu den gewichtsbezogenen Nachteilen dieser neuen Art der Panzerung vgl. erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 221 f. Ähnlich auch Martin, Waffen und Rüstungen, S. 36 – 38, der zusätzlich die schweren Niederlagen der vollgepanzerten Ritter bei den ersten Kreuzzügen hervorhebt. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 214. Vgl. Martin, Waffen und Rüstungen, S. 30 – 35. Ortwin Gamber: Art. Beinzeug. In: LexMA 1 (1980), Sp. 1823, bietet eine kurze Übersichtsdarstellung zur Entwicklung des Beinzeugs vom 12. bis zum 15. Jh. Ortwin Gamber: Art. Normannenhelm. In: LexMA 6 (1993), Sp. 1251, hier ebd. Die in der Forschung daneben immer noch gängige, auf die Darstellungen des berühmten Teppichs von Bayeux zurückgehende Bezeichnung dieses mit einem angeschmiedeten Nasenband ausgestatteten Typus als ‚Normannenhelm‘ ist nach Gamber (ebd.) hingegen irreführend; so aber etwa noch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 214. Vgl. Martin, Waffen und Rüstungen, S. 38 f. Ebd., S. 43; vgl. hierzu weiterhin auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 214. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 216; so beiläufig dazu auch Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 59. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 223. Ähnlich wie in der höfischen Literatur sei deshalb, so Bumke (ebd., S. 224) auch „[a]uf den Ritterbildern vom Ende des 13. Jahrhunderts […] das Metall der Rüstung fast ganz hinter den bunten Stoffen und Zierraten verschwunden“. Vgl. ebd.
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werden. Zunächst ungefärbt oder einfarbig wird er bald – nach Vorbild des bemalten oder mit Dekor versehenen Schildes – mit verschiedenen Schmuckformen bestickt oder bemalt.⁸²
Auffallend häufige Erwähnung und Beschreibung finden in der höfischen Literatur schließlich auch die Zieraufsätze der ritterlichen Helme (zimier/zimierde), welche die „Form von Menschen- und Tierfiguren, Pflanzen, Geräten, Hörnern, Flügeln und Schirmbrettern“ haben können.⁸³ Neben der skizzierten Bedeutung von Kleidung für die Konstruktion von gender erfüllt diese im höfischen Diskurs jedoch auch einige wesentliche Funktionen, die sich nicht auf das einzelne Geschlecht beschränken. So gilt ein schönes und nicht zuletzt prächtig geschmücktes Erscheinungsbild hier im Anschluss an die antike Kategorie der Kalokagathia allgemein als sichtbarer Ausdruck einer innerlich-moralischen Vollkommenheit:⁸⁴ Wer physisch schön und prächtig gekleidet ist, der muss auch ein tugendhafter Mensch sein. Außerdem wird der Kleidung ein hoher Stellenwert im Kontext des höfischen Bewirtungs- und Festzeremoniells zugewiesen: Der standesgemäßen Herrichtung des sals vergleichbar, kommt der prächtigen Kleidung der Gastgeber eine Doppelfunktion zu. Zum einen dient sie der würdigen und eindrucksvollen Repräsentation des Hofes (NL 568), zum anderen ist sie als Ehrung des Ankommenden (Loh. 6447 ff.) gemeint. […] Häufiger erscheint die Ausstattung des Gastes mit höfischer Gewandung als Bestandteil des Empfangszeremoniells. Nur im Ausnahmefall geht es dabei um das Beheben schierer Not. Gedacht ist eher an den adligen Besucher, der in Reisekleidung oder im Harnisch eintrifft. Doch liegen dem Kleiderangebot keineswegs immer oder vordringlich praktische Erfordernisse zugrunde. Es handelt sich dabei um eine Geste, die im Empfangszeremoniell ihren festen Platz hat und als Ausdruck höfischer Vorbildlichkeit gewertet werden will. […] Die Kostbarkeit der Gewandung fungiert dabei ebensogut als Gradmesser der Anerkennung und Ehrung und damit der Reputation des Gastes wie als Indikator der Ressourcen und der Freigebigkeit des Gastgebers.⁸⁵
Einen Beitrag zu höfischer Feststimmung vermag die Kleidung jedoch nicht nur im Kontext des gegenseitigen Erweisens bzw. Ausstellens von êre zu leisten, sondern auch über das ihr diskursiv zugewiesene Potenzial, durch allgemeine Pracht und sorgfältige Zusammenstellung sowohl beim Träger als auch beim Betrachter visuell vreude (hilaritas) erzeugen zu können.⁸⁶ Die angemessene Präsentation kostbarer
Martin, Waffen und Rüstungen, S. 40. Ortwin Gamber: Art. Zier, Zimier. In: LexMA 9 (1998), Sp. 606, hier ebd. Vgl. dazu erneut auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 216. Zur grundlegenden Bedeutung des antiken Konzepts der Kalokagathia für die höfische Kultur des Hochmittelalters vgl. nochmals Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 204 f. Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 207. Diesbezüglich sei exemplarisch auf meine entsprechenden Ausführungen zum Nibelungenlied verwiesen; vgl. dazu S. 271 f. der vorliegenden Arbeit. Zur antiken Kategorie der hilaritas und ihrer Bedeutung für die höfische Ethik des Hochmittelalters siehe nochmals Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 232– 238.
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Kleidung muss dabei zudem mit einer vornehm-kontrollierten Körperhaltung einhergehen (zuht/elegantia morum).⁸⁷ Eine entsprechend „wirkungsvolle Kombination verschiedenfarbiger Stoffe und Pelze“ setzt nach den Argumentationsweisen des höfischen Diskurses außerdem auch „ein subtiles ästhetisches Empfinden voraus“ (urbanitas), über das grundsätzlich nur der hövesch sozialisierte Mensch verfüge.⁸⁸ Schließlich findet in dem in der höfischen Literatur immer wieder „propagierten Gedanken, daß die Exklusivität der adligen Kleidung durch gesetzliche Verordnungen gesichert […] sein sollte“, ihre Funktion als Standesattribut deutlichen Ausdruck.⁸⁹ Kleidung signifiziert dementsprechend Vornehmheit und Adel: Das Selbstverständnis und Selbstbewußtsein der Adelsgesellschaft, die als Träger dieser Literatur in Frage kommt, manifestiert sich in den Texten in der Beschreibung einer überaus prunkvollen materiellen Kultur und eines spezifischen Verhaltenskodexes. In diesem Kontext erhält die Darstellung der kostbaren und modischen Gewänder ihren Sinn. Bestimmte Privilegien der Kleidung in Material, Farbe, Schnitt und Verarbeitung sind dem Adel vorbehalten, der dadurch seine Kleider, zu deren angemessener Präsentation es zudem einer festgelegten Körperhaltung und Gestik bedarf, dann einsetzen kann, sich auszuzeichnen und von den unteren Schichten deutlich abzugrenzen. In einer solchen Darstellung, die den Zweck verfolgt, den besonderen Rang der Mitglieder der höfischen Gesellschaft herauszustellen, spiegelt sich der Herrschaftsanspruch der mittelalterlichen Feudalgesellschaft.⁹⁰
Als „visuelle[m] Code und symbolische[m] System sozio-kultureller Differenzierung“⁹¹ wird der Kleidung im höfischen Diskurs allerdings nicht nur eine bedeutsame Funktion bei der inter-, sondern auch bei der intraständischen Orientierung zugewiesen: So begegnen in der höfischen Literatur nicht zuletzt immer wieder Beschreibungen von adligen Figurengruppen, deren hierarchische Verhältnisse (Könige, Grafen, Herzöge,
Vgl. Brüggen, Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter, S. 218 f. Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 205. Zur antiken Kategorie der urbanitas und ihrer Bedeutung für das hochmittelalterliche curialitas/hövescheit-Ideal sei hier wieder auf Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 200 – 204, sowie ausführlich Zotz, Urbanitas, verwiesen. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 172. So wird, wie Bumke (ebd., S. 224) hervorhebt, schon in dem allgemeinen Landfrieden (Constitutio de pace tenenda), den Friedrich Barbarossa 1152 erlässt, „ein generelles Waffenverbot für Bauern ausgesprochen und insbesondere das Tragen von Schwertern und Lanzen untersagt“. Vgl. dazu beiläufig weiterhin auch Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 8. Zum möglichen Bezug der höfischen Literatur auf die bis zur Mitte des 13. Jhs. im deutschsprachigen Raum (Bayerischer Landfrieden, Art. 71 von 1244) nicht nachweisbaren Kleiderverbote vgl. überblicksartig erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 173 f. Ausführlicher zu den im Reich überlieferten Kleiderordnungen siehe unlängst außerdem auch Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 46 – 55. Brüggen, Die weltliche Kleidung im hohen Mittelalter, S. 218 f. So auch Kraß, Der effeminierte Mann, S. 48. Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 9. Allgemein zur Bedeutung von Kleidung innerhalb der Kultur der Visualität des Mittelalters vgl. auch Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 44.
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Ministerialen etc.) über eine entsprechend unterschiedliche Gestaltung oder Farbigkeit der Kleidung visualisiert wird.⁹²
3.1.2 Kleidung als Gegenstand des hofkritischen Diskurses: Die christliche Kleiderkritik in Ordericus Vitalis’ Historia Ecclesiastica, Petrus’ von Blois „Brief 94“ und in Vinzenz’ von Beauvais De eruditione filiorum nobilium Den diskursiven Gegenpol zu den ästhetisierenden und ethisierenden Verhandlungen des höfischen Diskurses bildet auch für den Gegenstandsbereich der Kleidung die lateinische Hofkritik. Denn aus christlicher Sicht kommt der Bekleidung des Menschen primär die Aufgabe zu, „durch Verhüllung des sündigen Körpers Demut zu demonstrieren, denn nur die Demütigen würden von Gott gerettet und erlöst.“⁹³ Insofern deshalb schon der Kirchenvater Tertullian möglichst schlichter Kleidung den Status einer „augenfällige[n] Abgrenzung zu Nichtchristen“⁹⁴ zuweist, steht jegliches Interesse für prachtvollen äußeren Schmuck im direkten Widerspruch zu grundlegenden Wertvorstellungen der christlichen Religion: „Vom klerikalen Gesichtspunkt aus indiziert Mode Eitelkeit und moralische Schwäche.“⁹⁵ Wie sich eine entsprechende Gewandkritik nun speziell für das Hochmittelalter ausnehmen konnte, soll im Folgenden anhand von Ordericus Vitalis’ Historia Ecclesiastica (1142), Petrus’ von Blois „Brief 94“ (1191) und Vinzenz’ von Beauvais Erziehungstraktat De eruditione filiorum nobilium (um 1249/50) erörtert werden. Ähnlich wie zuvor schon beim Policraticus handelt es sich auch bei diesen Texten sozusagen um ‚Klassiker‘ der lateinischen Hofkritik, die in den meisten Fällen nicht nur eine breite Überlieferung aufweisen,⁹⁶ sondern darüber hinaus auch schon einige Beachtung in der interdis Vgl. dazu auch schon Ehrismann, Ehre und Mut, S. 71: „Kleidung und Gestik waren für den mittelalterlichen Menschen Zeichen: Zeichen der Herrschaft – der Luxus des Gewandes zeigte auch die Rangordnung innerhalb der Adelshierarchie an – und Zeichen der Selbstkontrolle, Zeichen also der äußeren und inneren Würde.“ Hervorhebungen J. S.-B. Siehe dazu exemplarisch etwa auch die Ausführungen auf S. 275 f. der vorliegenden Arbeit zur Gleichfarbigkeit der Kleidung Gunthers und Siegfrieds bzw. Hagens und Dankwarts (weiß vs. schwarz) bei der Ankunft in Isenstein, bzw. Anm. 371 (Kap. 3) zu den Gewändern der zur Hochzeit Erecks und Enites eingeladenen Könige, welche deren hohen Status sowie das jeweilige Alter signifizieren. Eine ähnliche, allerdings minnebezogene Funktion erfüllt die Kleidung übrigens schon bei Geoffrey von Monmouth in der Historia regum Britanniae (um 1138); vgl. dazu erneut Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 17. Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 156. Ebd., S. 11. Kraß, Der effeminierte Mann, S. 48. Nach Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 110, sind die in über 300 Handschriften überlieferten Briefe des Petrus von Blois (1184– 1205, mindestens 5 Redaktionen) schon im Mittelalter „überall in Europa“ verbreitet, wurden dann selbst „noch von den Humanisten der Renaissance gelesen und schon vor Ende des 15. Jahrhunderts gedruckt“. Zum Desiderat einer noch ausstehenden Neuedition der Briefe sowie ihrer in vielerlei Hinsicht komplexen Überlieferungssitua-
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ziplinären mediävistischen Forschung erhalten haben.⁹⁷ Ich beginne die nachfolgende Überblicksdarstellung allerdings mit einem noch wesentlich früheren Text vom
tion vgl. zuletzt R. W. Southern: Towards an Edition of Peter of Blois’s Letter-Collection. In: The English Historical Review 110 (1995), S. 925 – 937. – Auch De Eruditione ist mit insgesamt 26 vollständigen Handschriften und Fragmenten vom 13. bis zum 15. Jh., einer französischen Übersetzung von Jean Daudin von 1373 sowie diversen Drucken ab dem 15. Jh. gut überliefert; vgl. zu den entsprechenden Textzeugen ausführlich Rebecca J. Jacobs-Pollez: The Education of Noble Girls in Medieval France. Vincent of Beauvais and ‚De eruditione filiorum nobilium‘. Columbia 2012, S. 64– 70. Dabei führen einige Textzeugen das Werk allerdings auch unter dem Titel De Eruditione Puerorum Regalium auf. – Anderes gilt hingegen für die (gattungstypisch) nur sehr eingeschränkte Überlieferung der im Folgenden zitierten Chroniken: So ist etwa die Historia Ecclesiastica des Ordericus Vitalis – trotz ihrer immensen Bedeutung für die moderne Geschichtswissenschaft – wie John O.Ward: Ordericus Vitalis as Historian in the Europe of the Early Twelfth-Century Renaissance. In: Parergon 31 (2014), S. 1– 26, hier S. 20, zusammenfasst, nur in vier mittelalterlichen Handschriften überliefert („a twelfth century autograph, and copies each from the twelfth, thirteenth, and fourteenth centuries“) sowie „five or six sixteenth-century copies“. Auch Thietmars von Merseburg im Folgenden zitierter Chronicon sive Gesta Saxonum ist nur in zwei vollständigen Handschriften (Dresden, Landesbibl., Msc. R 147 und Brüssel, Bibl. royale, Ms. 7503 – 7518, ff. 211– 278) überliefert, wovon erstere ebenfalls ein (teilweiser) Autograph ist; daneben existieren noch zwei Fragmente der sog. Corveyer Fassung. Eine entsprechende Übersicht zur Überlieferung von Thietmars Chronicon liefert das Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“, http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04425.html [Zugriff: 22.03. 2017]. Zu Ordericus Vitalis und seiner Historia Ecclesiastica ist in den letzten fünfzehn Jahren wieder ein verstärktes Forschungsinteresse aufgekommen, vgl. hierzu etwa (in Auswahl): Marjorie Chibnall: Orderic Vitalis on Castles. In: Anglo-Norman Castles. Hrsg. von Robert Liddiard.Woodbridge 2003, S. 119 – 132, dies.: Women in Orderic Vitalis. In: Piety, power and history in medieval England and Normandy. Hrsg.von ders. Ashgate 2000, S. 105 – 121, Amanda Jane Hingst: From conquest to Christendom: Orderic Vitalis’s historicized geography and the making of the eleventh- and twelfth-century world. Berkeley 2005, James Bickford Smith: Orderic Vitalis and Norman society, c. 1035 – 1087. Oxford 2006, Hanna Vollrath: Der Kriegsmann und die Liebe. Ein Essay über das, was Ordericus Vitalis über die Gefühle Wilhelms des Eroberers für seine Frau Mathilde zu berichten weiß. In: Recht, Religion, Gesellschaft und Kultur im Wandel der Geschichte: ferculum de cibis spiritualibus. Festschrift für Dieter Scheler. Hrsg. von Iris Kwiatkowski. Hamburg 2008 (Studien zur Geschichtsforschung des Mittelalters. 23), S. 89 – 100, und John O. Ward: Ordericus Vitalis as Historian in the Europe of the Early Twelfth-Century Renaissance. In: Parergon 31 (2014), S. 1– 26. Zu Vinzenz’ Ausführungen zur Erziehung adliger Mädchen vgl. weiterhin vor allem Astrik Ladislas Gabriel: The Educational Ideas of Vincent of Beauvais. Paris 1956, S. 38 – 42, Rosemary Barton Tobin: Vincent of Beauvais’ Use of Exempla for Women. In: Classical Folia 28 (1974), S. 206 – 213, dies.: Vincent of Beauvais on the Education of Women. In: Journal of the History of Ideas 35 (1974), S. 485 – 489, dies.: Vincent of Beauvais’ Curriculum for Women. In: Classical Folia 29 (1975), S. 127– 132, dies.: Vincent of Beauvais’ Double Standard in the Education of Girls. In: History of Education 7 (1978), S. 1– 5, dies.: Some further Thoughts on Vincent of Beauvais and the Education of Women. In: Vincent of Beauvais Newsletter 10 (1985), S. 3 – 6, Adam Fijalkowski: The Education of Women in the Works of Vincent of Beauvais. In: Geistesleben im 13. Jahrhundert. Hrsg. von Andreas Speer, Jan A. Aertsen. Berlin 2000 (Miscellanea mediaevalia. 27), S. 513– 526, sowie unlängst Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, hier v. a. S. 162– 210. – Auch die Inhalte des 94. Briefs des Petrus von Blois wurden von Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 431 f., und, daran anknüpfend, C. Stephen Jaeger: Courtliness and Social Change. In: Cultures of Power. Hrsg. von Thomas Bisson. Philadelphia 1995, S. 287– 309, hier v. a. S. 291– 297, bereits ausführlich besprochen. Im Vergleich mit seinem an die Hofkaplane Heinrichs II. von England gerichteten „Brief 14“ (ca. 1183/84), der insbe-
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Anfang des 11. Jahrhunderts: Denn schon der Bischof Thietmar von Merseburg (975 – 1018) verbindet in seinem Chronicon sive Gesta Saxonum (1012 – 1018) das Lob der frommen Gräfin Christina von Stöben (Saale) mit einem kurzen Seitenhieb auf die allgemeine Modeversessenheit der Hofdamen seiner Zeit: Haec bona quaeque conscientiae tegens secreto suae, fuit caeteris matronibus, quae apud modernos sunt, longedissimilis, quarum magna pars menbratim iniuste circumcincta, quod venale habet in se, cunctis amatoribus ostendit aperte. Cumque sit in his abhominatio Dei et dedecus seculi, absque omni pudore coram procedit speculum tocius populi. ‚Sie [Christina, J. S.-B.], die alle guten Taten heimlich im Herzen barg, war anderen modernen Frauen sehr unähnlich; denn viele von ihnen kleiden ihren Leib unziemlich und zeigen allen Liebhabern offen, was sie feilzubieten haben. Obwohl sie ein Gräuel vor Gott und eine Schande unserer Zeit sind, gehen sie ohne jede Scheu allem Volke zur Schau einher.‘⁹⁸
Der hier von Thietmar im Kontext der sächsischen Landesgeschichte aktualisierte Topos, nach dem weibliche Modelust ein Indiz für sexuelle Freizügigkeit sei, stammt freilich nicht von ihm selbst. Dessen diskursive Wurzeln lassen sich nämlich, wie schon Ulrich Ernst hervorhebt, bereits viele Jahrhunderte zuvor in der Spätantike ausmachen:⁹⁹ Die Kirchenväter, allen voran Tertullian, Cyprian, Ambrosius und Johannes Chrysostomus, entrüsten sich bereits in scharfer Form über die Putzsucht der Frauen, die in ihren Augen aus Gefallsucht erwächst, Ausdruck mangelnden Schamgefühls ist und die sexuelle Begierde der Männer entfacht. Mit dem sich ausbreitenden Kleiderluxus des ritterlichen Standes im 12. Jahrhundert – Zeichen für eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität in der reichen adeligen Oberschicht – mußte die kirchliche Kritik an der Putzsucht der höfischen Damen, die bei Turnieren und Festen glanzvoll im Mittelpunkt der Gesellschaft standen, neuen Auftrieb und neue Nahrung erhalten.¹⁰⁰
sondere in der Geschichtswissenschaft als ein „unschätzbares Dokument“ zum zeitgenössischen Hofalltag sowie der Institution der englischen Hofkapelle gehandelt wird (so das Urteil der einschlägigen Forschung zusammenfassend Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 102), gehört Petrus’ 94. Brief allerdings noch zu den weniger beachteten Exemplaren seiner Sammlung. Auf diese Textstelle verweist bereits Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 206. Ich zitiere den Text im Lateinischen und in der Übersetzung nach folgender Ausgabe: Thietmar von Merseburg, Chronicon sive Gesta Saxonum. Neu übertragen, erläutert und hrsg.von Werner Trillmich. Darmstadt 1960, S. 178 f. Vgl. Ulrich Ernst: Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue. Versuch einer Werkdeutung im Horizont der patristischen und monastischen Tradition. In: Euphorion 72 (1978), S. 160 – 226, hier S. 212. Zur Kleiderkritik schon in der römischen Antike vgl. weiterführend Ziringer-Schmelzer, Mode Design Theorie, S. 190: „Im antiken Römischen Reich galten Hosen für Männer als unsittlich, da sie von Germanen getragen wurden und als ‚barbarisch‘ diskreditiert waren. Die römischen Kaiser erließen noch um 397 n. Chr. ein Hosenverbot, jedoch mit geringem Erfolg.“ Ernst, Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue, S. 212. Zur Geschichte der christlichen Kleiderkritik vgl. ausführlicher auch Bumke, Höfische Kultur,
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Dementsprechend weist die christliche Kleiderkritik bis ins späte Mittelalter hinein einen deutlich höheren Verbreitungsgrad sowie eine deutlich stärkere Bezogenheit auf die Bibel und die Kirchenväter auf als die im vorangegangenen Kapitel besprochene Kritik am höfischen Musikleben.¹⁰¹ Sie hat zudem, wie schon das zitierte Beispiel aus dem 11. Jahrhundert zeigt, auch vor der mittelalterlichen Geschichtsschreibung oder der Hagiographie keinen Halt gemacht.¹⁰² So ist beispielsweise auch die im Jahr 1142 fertiggestellte Historia Ecclesiastica des Ordericus Vitalis (1075 – 1142) durchzogen von Passagen, die sowohl thematisch als auch konkret argumentativ an die Kleiderkritik der Kirchenväter anknüpfen und diese auf den historischen Kontext des Hochmittelalters ausweiten.¹⁰³ Um 1120 wird OrBd. 1, S. 205 – 210, Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 149 – 168, sowie mit Fokus auf die spätantiken Wurzeln Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 129 – 154. Nach Kraß, Geschriebene Kleider, S. 162 f., bedient sich die christliche Kleiderkritik dabei „vor allem zweier Gedankenfiguren“: „Die erste orientiert sich am paulinischen Diktum, der Gläubige möge sich in die Gewänder der Tugend hüllen. In diesem Sinne argumentiert bereits Tertullian, wenn er mit Hilfe einer allegorischen Substitution die Bestandteile luxuriöser Kleidung (Seide, Linnen, Purpur) auf die christlichen Ideale der Rechtschaffenheit, Heiligkeit und Keuschheit bezieht: ‚Kleidet Euch in den Seidenstoff der Rechtschaffenheit, in das Linnen der Heiligkeit und in den Purpur der Keuschheit! So angetan werdet ihr Gott zum Liebhaber haben.‘ Die zweite Perspektive hält sich an die biblische Verdammung der Eitelkeit, wie sie beispielsweise in der apokalyptischen Allegorie der ‚Hure Babylon‘ (Offb 17,4) und der prophetischen Kritik an den Frauen Jerusalems (Jes 3,16 ff.) zum Ausdruck kommt.“ Dieser Umstand lässt sich vermutlich mit der großen Bedeutung des Kleidermotivs für den biblischen Sündenfall erklären, wohingegen die Musik in der Bibel nicht kritisch perspektiviert wird und außerdem (als ars) zu den hochgeschätzten Septem artes liberales zählt; vgl. zu ersterem Aspekt zusammenfassend Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 249. Zur Kleiderkritik in der hochmittelalterlichen Hagiographie vgl. weiterhin die Ausführungen Keupps, Die Wahl des Gewandes, S. 101– 111. Keupp hebt diesbezüglich exemplarisch die Vita des Franz von Assisi hervor, dessen Wandel vom „Typus eines Stutzers und Modenarren“ zum Bettler bei seinen modebegeisterten Freunden großen Unmut erregt habe (ebd., S. 101), sowie eine Darstellung des Lebens der hl. Elisabeth von Thüringen, die sich laut ihrem Biografen schon sehr früh vom höfischen Modeprunk distanziert und damit den Ärger der adligen Gesellschaft auf sich gezogen habe; vgl. ebd., S. 104 f. Was die Geschichtsschreibung anbelangt, lassen sich darüber hinaus schon in den von Gregor von Tours im 6. Jh. verfassten zehn Büchern fränkischer Geschichte Referenzen auf die christliche Kleiderkritik nachweisen. So berichtet Gregor etwa im 16. Kapitel des 10. Buchs von einem Konflikt im Kloster Poitiers um die Nachfolge ins Amt der Äbtissin, in dessen Rahmen eine Kandidatin (Berthegunde, Tochter der früheren Amtsinhaberin Ingotrude) ihrer Rivalin (Ingotrudes Nichte und rechtmäßige Nachfolgerin) aus strategischen Gründen vor Gericht u. a. den Vorwurf der „Prunksucht“ (ornatus superfluus) macht (die im Übrigen auch hier schon topisch mit Wollust assoziiert wird). Vgl. dazu im Einzelnen Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichten. Auf Grund der Übersetzung Wilhelm von Giesebrechts neu bearbeitet von Rudolf Buchner. Darmstadt 1970, Bd. 2, S. 366 f. Zu der bereits seit dem 2. und 3. Jh. nachweisbaren christlichen Kleiderkritik in der bildenden Kunst vgl. weiterführend auch Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 14– 16. Auf den auffallend literarischen Stil der Historia Ecclesiastica – Ordericus verwendet bei der Schilderung der historischen Ereignisse z. B. vielfach die direkte Rede oder referiert auf ausgewählte Werke der zeitgenössischen Lyrik – verweist beiläufig schon F.-J. Schmale: Art. Ordericus Vitalis. In: LexMA 6 (1993), Sp. 1432 f.; so weiterhin auch Ward: Ordericus Vitalis as Historian, S. 10. Jean Blacker: Women, Power, and Violence in Orderic Vitalis’s Historia Ecclesiastia. In: Violence Against Women in
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dericus vom Abt seines Klosters in Saint-Evroul (Normandie) mit der Anfertigung einer lokalen Chronik beauftragt, woraus sich schließlich, bei einer Schreibzeit von mehreren Jahrzehnten, eine groß angelegte Zeitgeschichte in dreizehn Büchern entwickelt.¹⁰⁴ Die entsprechenden Schilderungen umfassen dabei nicht nur die Geschichte des Christentums inklusive einer Stammfolge sämtlicher Apostel und Päpste (Buch 1– 2) sowie eine Klosterchronik Saint-Evrouls (Buch 3 – 6), sondern darüber hinaus auch die Ereignisse des gesamten französischen und englischen Raums bis ins 12. Jahrhundert hinein.¹⁰⁵ Kleiderkritische Tendenzen lassen sich dabei etwa im 27. Kapitel des 8. Buchs der Historia ausmachen, welches einer Episode aus dem Leben des heiligen Vitalis (ca. 1060 – 1122) gewidmet ist. Von Vitalis, dem späteren Gründer der Abtei von Savigny, weiß Ordericus hier nämlich lobend zu berichten, dass er zu seiner Zeit als Kaplan Roberts de Contevilles (1031– 1090) – seinerseits Halbbruder Wilhelm des Eroberers – die normannischen Hofdamen in flammenden Warnpredigten für ihren eitlen Hang zu äußerem Schmuck kritisiert habe:¹⁰⁶ Sic nimirum superbos athletas et indomitos vulgi coetus plerumque comprimebat, atque locupletes heras, sericis vestibus et Canusinis pellibus delicate indutas, trepidare cogebat, dum verbi Dei gladio in scelera saeviret, et spurcitiis pollutas conscientias valde feriret, grandisonoque divinae animadversionis tonitruo terreret. Solers itaque seminiverbius multis profuit, multos secum aggregavit, in coenobio, quod construxerat. ¹⁰⁷ ‚Zumeist bändigte er auf diese Weise den Hochmut der Ritter und die Ungezügeltheit der breiten Masse, und er erfüllte die reichen Damen, die seidene Kleidung und feine canusinische Pelze elegant trugen, mit Furcht, indem er mit dem Schwert des göttlichen Wortes gegen diese Vergehen vorging, die von Sündhaftigkeit befleckten Gewissen hart bestrafte und sie mit dem lauten Donner der göttlichen Strafe einschüchterte. Deshalb war der begabte Priester vielen Menschen von Nutzen und er sammelte viele von ihnen um sich in dem Kloster, das er hatte bauen lassen.‘¹⁰⁸
Medieval Texts. Hrsg. von Anna Roberts. Gainesville 1998, S. 44– 55, hier. S. 47, verweist darüber hinaus auf Ähnlichkeiten zwischen Ordericus’ Beschreibung der Beziehung von Adela von der Normandie (1062– 1138), der Tochter Wilhelms des Eroberers, zu ihrem Ehemann Stephan II. von Blois (1045 – 1102) und der Minnekonzeption des frühen altfranzösischen Artusromans. Zusammenfassend zum Entstehungsprozess der Chronik vgl. bspw. Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 16, der hier wiederum auf Amanda Jane Hingst: The Written Word. Past and Place in the Work of Orderic Vitalis. Notre Dame 2009, S. xvii–xix, referiert. Vgl. Blacker, Women, Power, and Violence, S. 44, und Schmale, Ordericus Vitalis, Sp. 1432. Neben den Normannen – und damit seinen eigenen Landsleuten – kritisiert Ordericus Vitalis, wie Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 5, hervorhebt, vor allem „the people of Maine, the Welsh, the Scots, the Franks [and] the English“, während die von anderen zeitgenössischen Chronisten (wie etwa William von Malmesbury) so gescholtenen Juden bei ihm gänzlich von der Kritik ausgespart bleiben. – Zur Biographie und historischen Rolle Wilhelms I. von England vgl. zusammenfassend etwa K. Schnith: Art. Wilhelm I. ‚der Eroberer‘, König von England. In: LexMA 9 (1998), Sp. 127– 129, hier Sp. 127 f. Ordericus Vitalis: Historiae Ecclesiasticae. Libri Tredecim. Hrsg. von Augustus le Prevost. Bd. 3. Paris 1845, S. 450. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln).
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In diesem Zusammenhang fällt zunächst auf, dass die Historia Ecclesiastica – evtl. gattungsbedingt – den für die lateinische Hofkritik ansonsten so typischen rhetorischargumentativen Umweg über antike und biblische exempla vermissen lässt.¹⁰⁹ Zugleich vermag allerdings schon dieses kurze Zitat den ausgeprägt didaktischen Charakter des Textes zu veranschaulichen, der allgemein eine auffallende Nähe zur lehrhaften Literatur der Zeit aufweist.¹¹⁰ Wenige Jahre nach der Fertigstellung der Historia ecclesiastica findet die christliche Kleiderkritik dann schließlich auch Eingang in die religiös-didaktische Literatur der Volkssprachen.¹¹¹ Dies lässt sich im deutschsprachigen Bereich etwa an dem geistlichen Gedicht Diu warheit,¹¹² der Rede vom glouven des Armen Hartmann (beide um 1150)¹¹³ oder Heinrichs von Melk Von des todes gehugde (ca. 1160)¹¹⁴ nachweisen. Parallel dazu läuft jedoch auch der lateinische Traditionsstrang weiter und findet, was die topische Kritik an der weiblichen Modelust anbelangt, im 13. Jahrhundert seine wohl beeindruckendste Bündelung und Systematisierung bei Vinzenz von Beauvais (ca. 1190 – 1264).¹¹⁵ Noch vor der Vollendung seines berühmten Speculum maius (1256) Die Gattung könnte in diesem Zusammenhang insofern eine Rolle spielen, als die historischen Gestalten, wie schon Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 25, hervorhebt, in Ordericus’ Darstellung ja selbst schon als (positive oder negative) exempla fungieren: „[Ordericus] seem[s] to have assigned to history an important ethical role and also believed that the telling of the past had much to contribute to the shaping of the political present and future.“ Gegen die Allgemeingültigkeit einer solchen These spricht allerdings schon, dass Ordericus an anderen Stellen durchaus mit biblischen Exempeln arbeitet; vgl. dazu erneut Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 8. Dabei bleiben die von mir untersuchten kleiderkritischen Stellen jedoch merkwürdigerweise konstant ausgespart. Vgl. Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 1. Zu den Anfängen deutschsprachiger Kleiderkritik im 12. Jh. vgl. Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 586 f., und Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 19 – 22. Kleinere deutsche Gedichte des 11. u. 12. Jahrhunderts. Nach der Auswahl von Albert Waag neu hrsg. von Werner Schröder. Tübingen 1972 (ATB. 71– 72), Bd. 2, Nr. XI. Das wohl an ein laikales Publikum gerichtete, 183 Verse umfassende Lied, welches als sein Thema „die Belehrung über die chunft fraisliche (v. 6), also über das Jüngste Gericht“ angibt, enthält u. a. auch eine längere Passage, die vor „Sünden […] durch Kleider- und Haarputz und Schuhwerk“ warnt; Edgar Papp: Art. Die Wahrheit. In: 2VL 10 (1999), Sp. 578 – 581, hier Sp. 580. Zu der sich „generalisierend auf Rüstungen, Prunkmäntel, Edelsteine und Luxusstoffe“ beziehenden Kleiderkritik des Armen Hartmann vgl. zusammenfassend Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 20. Zur Kleiderkritik Heinrichs von Melk vgl. erneut Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 20. Ich zitiere den Text aus Gründen der besseren Lesbarkeit sowohl nach der folgenden lateinischen Edition: Vinzenz von Beauvais: De Eruditione Filiorum Nobilium. Hrsg. von Arpad Steiner. New York 1938, als auch nach den zwei vorliegenden älteren deutschen Übersetzungen (Vinzenz von Beauvais: Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen und ihre Lehrer. Bd. 1: Erster Theil, welcher die Schrift des Vincent enthält. Hrsg. und übersetzt von Friedrich Christoph Schlosser. Frankfurt a. M. 1819, und Vinzenz von Beauvais: Über die Erziehung. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit biographischem Anhang versehen von August Millauer. Donauwörth 1890). Dabei wurden die mitunter sehr freien und auch aus formaler Sicht teils problematischen älteren Übersetzungen einer gründlichen Überprüfung unterzogen und, wo nötig, inhaltlich korrigiert. Entsprechende verändernde Eingriffe in den Übersetzungstext sind durch eckige Klammern markiert. Kritisch zu den inhaltlichen und formalen Män-
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verfasst der französische Dominikanermönch mit De eruditione filiorum nobilium (ca. 1249/50) das erste spezifisch der Erziehung adliger Jungen und Mädchen gewidmete Traktat der europäischen Literaturgeschichte.¹¹⁶ Gewidmet ist die Erziehungsschrift Margarete von der Provence (1221– 1295), der Ehefrau seines Gönners und Freundes Ludwig IX. von Frankreich (1214– 1270), zum Zwecke der Erziehung des königlichen Nachwuchses:¹¹⁷ Philip (1245 – 1285), Isabelle (1241– 1271) und Louis (1244– 1260).¹¹⁸ Wie die meisten seiner Schriften verfasste Vinzenz wohl auch De eruditione im Zisterzienser-Kloster von Royaumont bei Paris, was seinen pädagogischen Ansatz, wie Adam Fijalokowski konstatiert, ausgesprochen nachhaltig beeinflusst hat: This monastery was dominated by views stemming from the anti-urban Cistercian tradition and was hostile to the emerging intelligentsia and intellectual climate in Paris as well as to new urban schools and universities. St. Bernard of Clairvaux’s early twelfth-century ideas were still influential at Royaumont. This traditional Cistercian approach influenced Vincent’s educational ideas.¹¹⁹
Inhaltlich lässt sich De eruditione grob in drei Teile untergliedern: So beginnt das Traktat zunächst mit einer allgemeinen Einführung zu den idealen Rahmenbedingungen, Inhalten und Techniken des Lernens (Kap. 1– 31),¹²⁰ die übergeht in neunzehn Kapitel zur Erziehung adliger Jungen (vom Kleinkind- bis zum frühen Erwachsenenalter; Kap. 23 – 41) sowie zehn analog gestaltete Kapitel zur Sittenlehre vornehmer Mädchen (Kap. 42– 51).¹²¹ In diesem Zusammenhang geht Vinzenz von recht unter-
geln der beiden verwendeten deutschen Übersetzungsausgaben zuvor auch schon Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 69, sowie Arpad Steiner: Introduction. In: Vincent of Beauvais: De Eruditione Filiorum Nobilium. Hrsg. von dems. New York 1938, S. xi–xxxi, hier S. xxxf. Vgl. Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 1: „Vincent’s educational treatise […] was the first medieval educational text to systematically present a comprehensive method of instruction for royal children and […] a section devoted to girls, something that previous pedagogical works lacked.“ Zur Bedeutung dieses Textes für die Literaturgeschichte vgl. weiterhin auch ebd., S. 5 f. Ähnlich zuvor auch schon Steiner, Introduction, S. xif. Trotz seines klösterlichen Lebensmittelpunkts in Royaumont pflegte Vinzenz nach Fijalkowski, The Education of Women, S. 514, seit ca. 1240/45 eine ausgesprochen enge Verbindung zu Ludwig IX. von Frankreich und dessen Familie. Der König finanzierte von nun an wohl auch einen Großteil seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Zu Vinzenz’ geistlicher Laufbahn und den Ursprüngen seiner Freundschaft mit Ludwig dem Heiligen vgl. zusammenfassend auch Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 7 f. Zur Diskussion der früheren Forschung um die Datierung von De Eruditione vgl. außerdem ausführlich Steiner, Introduction, S. xv–xvii. Vgl. Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 10 f. Margarete gebar Ludwig im Verlauf der Ehe weitere acht Kinder; vgl. ebd. Fijalkowski, The Education of Women, S. 514. Zu den Inhalten des grundlegenden ersten Teils von De Eruditione vgl. überblicksartig JacobsPollez, The Education of Noble Girls, S. 53 f. Zu Vinzenz’ Konzeption der idealen höfischen Dame vgl. zusammenfassend Fijalkowski, The Education of Women, S. 522: „[She] is humble of heart (corde humilis), taciturn (verbis gravis), prudent
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schiedlichen Erziehungszielen für die beiden Geschlechter aus: „Boys should be educated in both the spiritual and the intellectual spheres, whereas girls should, first and foremost, be protected against evil. […] [T]he education of girls consists in moral education.“¹²² Dementsprechend handeln die zehn Kapitel zur Mädchenerziehung auch primär von der Bewahrung der weiblichen Unschuld – durch soziale Isolation, die Vermittlung christlicher Erziehungsinhalte und einem ständigen Schutz vor weltlichen Versuchungen – mit dem finalen Ziel einer standesgemäßen Verheiratung (Kap. 47 u. 48) bzw. dem Eingang in das Nonnenleben (Kap. 49 – 51).¹²³ Von Bedeutung für meine nachfolgenden Analysen ist dabei vor allem das 44. Kapitel von De eruditione – De uitanda ornatus superfluitate –, welches sich ausführlich mit Formen des überflüssigen äußerlichen Schmucks beschäftigt. Das Kapitel beginnt, Vinzenz’ präferiertem Stil entsprechend, mit der Definition eines grundlegenden Terminus (Ornatus […] superfluus):¹²⁴ Ornatus autem superfluus consistit in uestium exquisicione et crinium conposicione et faciei depictione et huiusmodi. ‚Zum unnöthigen Putz rechne ich ausgewählte Kleidung, Sorge für den Haarputz, Schminken des Angesichts und Anderes von der Art.‘¹²⁵
Die Begründung, warum eine solche, angeblich vor allem unter den höfischen Damen anzutreffende ‚Putzsucht‘ unbedingt zu meiden sei, folgt sodann auf dem Fuß. Unter
(animo prudens), experienced in sensible talk (loquendi pericior), and diligent in reading (legendi studiosor), although only religious books. The ideal woman pays no attention to wealth, but respects noble poverty (non in incerto diviciorum, se in prece pauperis spem respondens). She is devoted to manual labor (intenta operi), is honest (vereconda sermoni), seeks divine, not human, favors (non hominum sed Deum querens), is solicitous of everyone’s good (omnibus benen velle), is respectful of the elderly (literally, standing up before the elderly: maioribus assurgere), does not envy her equals (equalibus non invidere) and avoids boasting (iactanciam fugere).“ Eine ausführlichere Überblicksdarstellung zu den in De Eruditione formulierten Zielen der Erziehung adliger Mädchen findet sich weiterhin bei Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 162– 170. Fijalkowski, The Education of Women, S. 515; ähnlich auch Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 170. Vgl. hierzu im Einzelnen Vinzenz’ Ausführungen zur Isolierung des weiblichen Nachwuchses vor der männlichen Hofgesellschaft in Kap. 42 (De puellarum custodia et absconsione), zu den weiblichen Tugenden der Keuschheit, Schweigsamkeit, Demut und Jungfräulichkeit weiterhin die Kap. 43 (De litterali et morali earum instruccione et primo de castitate), 46 (De humilitate puellari et aciturnitate atque maturitate), 49 (De puellarum custodia et absconsione) und 51 (De excellencia uirginiali) sowie schließlich auch die Anweisungen zur Vorbereitung adliger Mädchen auf die Rolle einer christlichen Ehefrau in Kap. 47 (De puella nuptui tradenda), 48 (Qualiter de coniugali statu sit instruenda), 49 (Qualiter admonenda sit de uita irreprehensibili) und 50 (De statu uiduali). Vgl. Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 60. De Eruditione, S. 181, und Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 207.
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wörtlicher Berufung auf Johannes Chrysostomos’ Dyalogo ad Basilium (Buch VI) führt Vinzenz diesbezüglich Folgendes aus:¹²⁶ ‚Pulcritudo uultus et oculi depicti, infecte maxille et capitis ornatus et tinctura crinium ac vestes preciose, gemmarumque splendor et pigmentorum odor et alia que pertinent ad mundum muliebrem grauia sunt ad perturbandum animum, nisi multo castitatis uigore concluserit.‘ ‚Die Schönheit des Gesichtes, gemalte Augen, geschminkte Wangen, der Schmuck des Hauptes und das Färben der Haare, kostbare Kleider und der Glanz der Geschmeide, der Duft der Salben und alles, was zum weiblichen Schmuck gehört, ist sehr geeignet, die Seele aufzuregen, wenn man nicht fest in der Keuschheit gewurzelt ist.‘¹²⁷
Als Auslöser für sexuelle Begierden, zu denen Vinzenz ansonsten u. a. auch den Verzehr von Fleisch und Wein, ein Zuviel an Schlaf oder die Gesellschaft falscher Freunde zählt, ist ihm die Putzsucht also nicht nur äußeres Indiz für eine durch „Stolz, eitles Prahlen, Schamlosigkeit und auch Thorheit“ (superbiam et uanam gloriam et impudiciciam et etiam stulticiam) gekennzeichnete sündhafte Weiblichkeit,¹²⁸ sondern darüber hinaus auch eine moralische Gefahr für das männliche Geschlecht. Dessen Verführung sei ohnehin stets das primäre Ziel eines solchen modischen Gebarens:¹²⁹ unde cyprianus, ubi supra: ‚Si tu te sumptuosius comas et per publicum notabiliter incedas, oculos in te iuuentutis illicias, suspiria adolescencium post te trahas, … peccandi fomenta succendas, ut et si ipsa non pereas, tamen alios perdas […], excusari non potes, quasi mente casta sis et pudica. Redarguit te cultus improbus et impudicus ornatus.‘ ‚Daher sagt Cyprianus: ‚Wenn du einen zu prächtigen Haarputz trägst und auffallend durch die Menge gehst, die Augen der Jugend auf dich lockest, wenn du willst, daß die Seufzer der Jünglinge dir folgen, und du den Zunder der Sünde anzündest, sodaß du andere verderbst, wenn du auch nicht selbst zugrunde gehst […], so kannst du dich nicht entschuldigen, als ob du im Herzen noch
Nach Steiner, Introduction, S. xviii, handelt es sich bei De Eruditione geradezu um ein „patchwork“ von mehr als neunhundert Zitaten. Zu den von Vinzenz verwendeten antiken, christlichen und arabischen Autoren und Werken zählt nach Steiner (ebd., S. xxi) auch Johannes von Salisbury Policraticus. Insgesamt zeichnet sich dabei nach Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 182, jedoch eine deutliche Präferenz für die Werke der Kirchenväter ab – und zwar, was die Mädchenerziehung anbelangt, insbesondere für Hieronymus und seine Briefe an Läta, Eustochium, Demetrias und Salvinia, die ganze 44 Prozent der entsprechenden Zitate ausmachen (während es in den Kapiteln zur Jungenerziehung nur zehn Prozent sind); vgl. ebd. S. 62 u. 182– 192. Zur Ungenauigkeit von Vinzenz’ Zitationspraxis, die insbesondere durch seine Verwendung von sekundären Quellen (Glossen etc.) bedingt ist, vgl. außerdem Barton Tobin, Vincent of Beauvais’ use of exempla for women. De Eruditione, S. 181, und Über die Erziehung, S. 198 f. De Eruditione, S. 185, und Über die Erziehung, S. 203. Zu der sich u. a. in übermäßigem Kleiderprunk ausdrückenden superbia als „schwerste[r] aller Sünden“, die nach ma. Exegese den Sündenfall provoziert, vgl. bspw. auch Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 19. Vgl. Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 164 f. Siehe zu dieser Stelle siehe weiterhin auch Barton Tobin, Vincent of Beauvais’ Double Standard, S. 2.
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keusch und schamhaft wärest, denn dein frecher Aufzug und dein schamloser Putz strafen dich Lügen.‘¹³⁰
Darum fordere auch schon Hieronymus in Ad matrem et filiam, dass Frauen stets auf eine passende (d. h. schlichte) Art der Gewandung zu achten hätten, denn das Kleid sei „ein Zeichen der Seele, wenn auch der Mund schweig[e]“ (‚Vestis ipsa … tacentis animi est indicium‘).¹³¹ Es folgt sodann eine Auflistung problematischer Kleidermoden und Schönheitsideale, welche hinsichtlich ihres Detailreichtums auffallend den vestimentären descriptiones der höfischen Literatur ähnelt. So lässt sich ein sündhaftes Frauenkleid gemäß Vinzenz’ – an Hieronymus (Epistola ad matrem et filiam) anschließender – Argumentation beispielsweise daran erkennen, ‚si rugam non habeat, si per terram, ut alcior uidearis, trahatur, si de industria dissuta sit tunica, ut aliquid intus appareat operiatque quod fedum est et aperiat quod formosum, papille … fasciolis conprimuntur et crispanti cingulo angustius pectus artatur, capilli uel in frontem uel in aures defluunt. Palliolum interdum cadit, ut candidos nudet humeros et quasi uideri noluerit celat festina, quod uolens detexerit. Et quando in publico quasi per uerecundiam operit faciem, lupanariarum arte id solum ostendit quod ostensum magis placere potest.’ ‚wenn es keine Falte hat, wenn es auf der Erde geschleppt wird, damit du größer erscheinest, wenn die Tunika absichtlich Öffnungen hat, damit etwas von innen durchblicke, das deckt, was mißgestaltet, aufdeckt, was hübsch ist, wenn die Brüste mit Bändern zusammengepreßt werden und die Brust mit gekräuseltem Bande enger zusammengehalten wird, wenn die Haare auf die Stirne oder die Ohren herabwallen, der Mantel zuweilen herabfällt, um die weißen Schultern zu entblößen, und man ihn schnell wieder hinaufzieht, als wollte man das nicht sehen lassen, was man mit Absicht aufgedeckt, und wenn man in der Öffentlichkeit gleichsam aus Scheu das Gesicht bedeckt und mit der Kunst der Dirnen bloß das zeigt, was, wenn man es zeigt, besser gefallen kann.‘¹³²
Ganz im Gegensatz zu den Argumentationsweisen des höfischen Diskurses, die die Kostbarkeit und den körperbetonten Schnitt höfischer Frauenmode als Ausdrucksformen innerer Tugend bewerten und diese zudem mit Minne und ritterlicher Tugend korrelieren, drückt sich aus Sicht der lateinischen Hofkritik darin also lediglich eine ausgeprägte Sündhaftigkeit aus. Um seine Argumentation noch weiter zu befördern, beruft sich Vinzenz im Weiteren dann mitunter auch direkt auf die Bibel. So zähle nach der Kleiderkritik des Apostels Petrus – die sich, so sei an dieser Stelle angemerkt, indes auf alle Menschen (und nicht nur auf die Frauen) richtet – vor Gott gerade nicht äußerliche Schönheit, sondern „der verborgene Herzensmensch“ (absconditus cordis est homo).¹³³ Bei den Bemühungen vornehmer Damen, ihre gottgegebene körperliche
De Eruditione, S. 183 f., und Über die Erziehung, S. 201. De Eruditione, S. 181, und Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 207. De Eruditione, S. 181 f., und Über die Erziehung, S. 199. De Eruditione, S. 182, und Über die Erziehung, S. 199.Vinzenz bezieht sich hier möglicherweise auf die Bergpredigt Jesu, in welcher dieser die berechtigte Sorge um die Seele mit der sündhaften Sorge um
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Erscheinung durch Schminke und modische Kleidung zu verändern, handele es sich insofern nicht nur um eine bewusste Täuschung möglicher Brautwerber, sondern auch um ein „großes Verbrechen“ ([g]raue […] crimen)¹³⁴ gegenüber Gott: Hinc et cyprianus, ubi supra: ‚Non solum uirgines ac uiduas sed eciam nuptas et omnes feminas puto admonendas, ut opus dei … et plasma nullatenus adulterent adhibito flauo colore uel nigrore pulueris uel rubore aut quolibet medicamine linimenta natiua corrumpente. Dicit deus: faciamus hominem ad ymaginem et similitudinem nostram. Et audet quisquam mutare et conuertere quod deus facit; manus deo inferunt, quando id quod ille formauit reformare et transfigurare contendunt, nescientes quia opus dei est omne quod nascitur, dyaboli, quodcunque mutatur. ‚Daher sagt auch Cyprianus: ‚Ich glaube, man muß nicht nur die Jungfrauen und Witwen, sondern auch die Verheirateten und alle Weiber mahnen, daß sie das Werk und Bild Gottes auf keine Weise entstellen mit gelber Farbe, mit des Pulvers Glanz oder roter Farbe oder irgend einem Mittel, das die natürlichen Züge zerstört. Gott spricht, lasset uns den Menschen machen nach unserem Bild und Gleichnis, und da wagt es jemand, zu ändern und zu verkehren, was Gott gemacht hat! Wer das, was Gott gebildet, umgestalten und umbilden will, der hebt die Hand gegen Gott selbst auf, ohne zu bedenken, daß alles, was von Natur entsteht, Gottes Werk ist, ein Werk des Teufels aber, was verändert wird.‘¹³⁵
An späterer Stelle bezeichnet der französische Gelehrte die weibliche Putzsucht dann sogar mehrfach als „Todsünde“ (mortaliter peccant), da ein Mädchen damit nicht nur sich selbst, sondern, zumindest potentiell, auch immer anderen schade.¹³⁶ In Anbetracht solcher Umstände belässt es Vinzenz gegen Ende des Kapitels dann auch nicht mehr bei eindringlichen Warnungen: So kippen seine Ausführungen hier zunehmend ins Bedrohliche, wenn er etwa unter Berufung auf Ambrosius den weiblichen Körper mit einem perfekten Gemälde vergleicht, welches nur „Buhldirnen“ (meretrices)¹³⁷ zu überstreichen wagten – eine törichte Anmaßung, die der „große[] Künstler“ Gott (pingendi artifex) niemals ungestraft lassen werde.¹³⁸ Eine putzsüchtige Hofdame schließe sich somit letztlich selbst von der christlichen Gemeinde aus und habe „die
das Äußere kontrastiert (Matth. 6,25); vgl. zur Bedeutung dieser Bibelstelle für die christliche Kleiderkritik schon Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 95. Über die Erziehung, S. 201, und De Eruditione, S. 183. De Eruditione, S. 182 f., und Über die Erziehung, S. 200. De Eruditione, S. 185, und Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 212. Bei dieser Einschätzung handelt es sich nach Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 13, ebenfalls um einen bereits seit der Spätantike (z. B. bei Cyprian) nachweisbaren Topos christlicher Kleiderkritik: „Die Kirchenväter sahen in prächtigen Kleidern und Schminke Aufforderungen zur Unkeuschheit, denn diese Künste entsprängen nicht der Sittlichkeit, sondern der Buhlerei. Unkeuschheit aber gehörte zu den Hauptsünden – den Todsünden –, die zum Verlust der ewigen Seligkeit führten. Deshalb sollten Christinnen nicht nur keusch leben, sondern dies auch durch ihre Kleidung dokumentieren.“ Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 210, und De Eruditione, S. 183. Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 209, und De Eruditione, S. 183. Auf diesen verbreiteten Topos der geistlichen Kleiderkritik verweist (mit Fokus auf die Patristik) schon Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 109 f.
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wahre Zierde des Leibes und des Herzens“ (ornomenta cordis et pectoris) für immer verloren.¹³⁹ In letzter Konsequenz will Vinzenz putzsüchtigen Jungfrauen schließlich gar dauerhaft ihren Status der Unschuld absprechen, wodurch ein übermäßiges Modeund Kosmetikinteresse im Hinblick auf die Schwere seiner Sündhaftigkeit hier dem vorehelichen Geschlechtsverkehr gleichgesetzt wird:¹⁴⁰ Aufgeputzte Mädchen seien als kranke Schafe zu betrachten, die – aufgrund der ständig von ihnen ausgehenden Ansteckungsgefahr mit der Seuche sündhafter Weltzugewandtheit – von der heiligen Herde auszuschließen seien.¹⁴¹ Dies träfe im Übrigen ausnahmslos auf jede gefallsüchtige Dame zu: Hinc et augustinus in regula sua: ‚Non solum appetere, sed eciam appeti uelle criminosum est.‘ Ceterum etiam, si nec appetat uel appeti cupiat, sed indiscrete tantum et inordinate pulcritudinem ostendat, laqueum aliis iniciendo mortaliter peccat, secundum illud ecclesiastici xxvii: ‚Qui laqueum alij ponit, in illo peribit, et qui fodit foueam, incidet in eam.‘ unde et dicitur in exodo xxvi: ‚Siquis aperuerit cisternam et foderit et non operuerit eam, cecideritque bos uel asinus in eam, dominus cysterne redet precium iumentorum. Quod autem mortuum est, ipsius erit.‘ ‚Auch Augustinus sagt in seiner Regel: ‚Nicht bloß Begehren ist verbrecherisch, sondern auch den Wunsch zu haben, begehrt zu werden; aber wenn sie auch nur auf ungeordnete Weise und unbesonnen ihre Schönheit zeigt, sündigt sie tötlich, indem sie andern Fallstricke legt‘, wie es heißt bei Jesus Sirach (27, 29): ‚Wer einem andern eine Schlinge legt, wird selbst darin umkommen, und wer eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.‘ Es heißt darum auch Exod. 21, 33: ‚Wenn einer eine Zisterne öffnet oder neu gräbt, und deckt sie nicht zu, und es fällt ein Ochse oder Esel hinein, so soll der Herr der Zisterne den Wert der Tiere erstatten: was aber tot geblieben, soll ihm gehören.‘¹⁴²
Zusammenfassend wird die Kulturleistung modischer Zier hier also im Kontext einer spektakulären rhetorischen Verkehrungsfigur als ‚schlechte Natur‘, ja eine Form der Animalisierung herabgewürdigt. Doch nicht nur als Tier, Krankheit, Jagdwerkzeug, Fallgrube und scharfe Waffe erscheint die putzsüchtige Dame in der drastischen Bibelmetaphorik des französischen Gelehrten, sondern schließlich – in erneuter An-
Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 211, und De Eruditione, S. 184. Auch an anderen Stellen des Traktats beschreibt Vinzenz Jungfräulichkeit als ein nicht nur körperliches, sondern darüber hinaus auch seelisches Konzept; vgl. dazu auch Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 187 f. Wie Fijalkowski, The Education of Women, S. 515 f., hervorhebt, verweist Vinzenz im Hinblick auf Frauen, die nicht unversehrt in die Ehe gehen, an anderer Stelle sogar auf die im Alten Testament für solche Fälle empfohlene Strafe der Steinigung (Deut. 22, 20 – 21). Vgl. De Eruditione, S. 184, und Hand- und Lehrbuch für königliche Prinzen, S. 211. Zu der schon von den Kirchenvätern festgelegten Funktion der schlichten Kleidung eines Christen als „augenfällige[r] Abgrenzung zu Nichtchristen“ etwa bei Tertullian siehe weiterhin auch Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 11. De Eruditione, S. 186, und Über die Erziehung, S. 203.
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lehnung an Johannes Chrysostomus – sogar als Giftmischerin und damit quasi als der personifizierte Tod:¹⁴³ ‚Mulier, si se decorauerit et oculos hominum ad se uocauerit, eciam si plagam non intulerit, extremam vindictam dabit. venenum enim intulit, etsi nullus qui bibat inuentus sit.‘ ‚Wenn sich ein Weib zieret und die Augen der Leute auf sich zieht, wird sie gestraft werden, wenn sie auch keinen Schaden gestiftet hätte, sie hat Gift gemischt, wenn auch keiner sich fand, der es getrunken.‘¹⁴⁴
Es wird abschließend also deutlich, dass Vinzenz’ Erziehungsanweisungen für die Töchter hochmittelalterlicher Adelsfamilien, denen er in einem letzten Schritt dann noch zur Verschleierung ihrer Haarpracht rät, weitestgehend den spätantiken Vorstellungen der Kirchenväter vom Nonnenleben entsprechen.¹⁴⁵ Wie stark Vinzenz damit offenbar die Vorstellungen seines Freundes König Ludwig von einer guten Mädchenerziehung zu beeinflussen vermochte,¹⁴⁶ lässt sich an einigen von diesem zwischen 1267 und 1270 verfassten Briefen ablesen.¹⁴⁷ Hier schreibt der – seinen Biografen nach selber stets bescheiden gekleidete und von seinen Zeitgenossen nicht umsonst Saint Louis genannte – Herrscher etwa an seine Tochter Isabelle, sie solle um ihrer Seele willen alle Eitelkeit vermeiden und den Verlockungen schöner Gewänder und Juwelen stets widerstehen.¹⁴⁸ Während die übergroße Lust am höfischen Kleiderluxus bei Vinzenz von Beauvais als ein ausgeprägt weiblich konnotiertes Problem erscheint, behandeln andere
Vinzenz vergleicht die aufgeputzte Jungfrau darüber hinaus mehrfach mit einem scharfen Schwert; vgl. dazu etwa De Eruditione, S. 183 f. De Eruditione, S. 185 f., und Über die Erziehung, S. 203. Vgl. dazu Fijalkowski, The Education of Women, S. 519 – 524, hier v. a. S. 522– 524: „What Vincent did was an attempt to adapt the ancient Christian ideals of the proper behavior and education of women, coming predominantly from aristocratic families but assigned to a monastic life, to the behavioral norms of all girls and women of noblemen (knighthood) in the middle of the thirteenth century. […] Vincent recommended monastic patterns of behavior for married life (obedience, chastity, humility); he did not take into account the reality of greater female participation in courtly life.“ Ähnlich auch Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 184– 186. Zum inhaltlichen Verhältnis von Vinzenz’ Ausführungen zur Mädchenerziehung in De Eruditione zu seinen sonstigen Werken vgl. zusammenfassend Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 59. Vgl. Louis IX und Isabelle: Instructions of Saint Louis. A Critical Text. Hrsg. von David O’Connell. Chapel Hill 1979, und Louis IX: The Teachings of Saint Louis. A Critical Edition. Hrsg. von David O’Connell. Chapel Hill 1972; diese inhaltlichen Besonderheiten der Briefe des Königs an seine Nachkommen hebt bereits Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 13 f. u. 205 f., hervor. Vgl. Instructions of Saint Louis, S. 78 – 81, sowie kommentierend zu diesen Textpartien erneut auch Jacobs-Pollez, The Education of Noble Girls, S. 14 f. Unter seinen Zeitgenossen gilt Ludwig übrigens nicht nur als ein Gegner höfischer Kleidermoden, sondern auch als Feind der Liebeskonzeptionen höfischer Literatur; vgl. dazu weiterhin ebd., S. 175. Zu den auffälligen Parallelen des – dem Biographen Jean de Joinville (1224/25 – 1317) nach – von Ludwig IX. verkörperten christlichen Herrscherideals und Vinzenz’ Vorstellungen zur Erziehung des adligen Nachwuchses vgl. weiterhin auch Steiner, Introduction, S. xiii.
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geistliche Hofkritiker auch das „gockelhaft-prunkende Kleiderverhalten“¹⁴⁹ des zeitgenössischen Rittertums. Im römisch-deutschen Reich ist einer der ersten, die diesbezüglich „Alarm“ schlagen, der Benediktinermönch Siegfried von Gorze.¹⁵⁰ So beschwert sich dieser im Jahr 1043 in einem an Poppo von Stablo, einem befreundeten Abt, gerichteten Brief über die Heirat des Salierkaisers Heinrichs III. (1017– 1056) mit Agnes von Poitou (gest. 1077) und den damit einhergehenden Sittenwandel im deutschen Reich.¹⁵¹ Dieser drückt sich in den Augen Siegfrieds nicht zuletzt in diversen negativen Veränderungen im Bereich der höfischen Haar- und Kleidermoden des aufkommenden Rittertums aus:¹⁵² honestas regni, quae temporibus priorum imperatorum veste et habitu nec non in armis et equitatione decentissime viguerat, nostris diebus postponitur, et ignominiosa Franciscarum ineptiarum consuetudo introducitur, scilicet in tonsione barbarum, in turpissima et pudicis obtutibus execranda decurtatione ac deformitate vestium multisque aliis novitatibus, quas enumerare longum est quasque temporibus Ottonum ac Heinricorum introducere nulli fuit licitum. At nunc plurimi patrios et honestos mores parvipendunt et exterorum hominum vestes simulque mox perversitates appetunt ac per omnia hic etiam similes esse cupiunt, quos hostes et insidiatores suos esse sciunt, et quod magis dolendum est, hi tales non modo non corriguntur, verum etiam apud regem et quosdam alios principes familiariores habentur […] Hoc vero alii videntes eorum similes fieri non verecundantur et, quia eos impune ferro simule et munerari considerant, maiores novitatum insanias excogitare festinant. ‚Die Ehre des Königreiches, das in den Regierungszeiten früherer Herrscher, nicht nur was Kleidung und Sitten, sondern auch was Kriegstaten und Rittertum anlangt, auf das Schicklichste erblühte, wird in unseren Tagen zur Seite gefegt und durch die skandalöse Vorherrschaft französischer Frivolitäten ersetzt. Männer schneiden sich z. B. ihre Bärte und – welche Scham, es mitanzusehen! – kürzen und verunstalten ihre Gewänder auf das Schändlichste und Abscheulichste. Sie leisten sich viele andere Neuerungen, die sich zu Zeiten der Ottonen und Heinriche
Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 75. Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 245. Die Benediktinerabtei Gorze befand sich in der Nähe vom heutigen Metz im Nordosten Frankreichs. Der hier zitierte Brief Siegfrieds ist nur einmal überliefert (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, 5584, ff. 185 – 194 saec. xvi); vgl. dazu überblicksartig den entsprechenden Eintrag im Repertorium „Geschichtsquellen des deutschen Mittelalters“, http://www.geschichtsquellen.de/repOpus_04285.html [Zugriff: 04.03. 2019]. Agnes, die Tochter Wilhelms V. von Aquitanien und Poitou (969 – 1030), übte den historischen Quellen nach als zweite Ehefrau Heinrichs einen nicht unwesentlichen politischen Einfluss auf den Kaiser aus. So öffnete sich Heinrich, wie Tilman Struve: Art. Heinrich III. Kaiser, deutscher König. In: LexMA 4 (1989), Sp. 2039 – 2041, hier Sp. 2040 f., zusammenfasst, offenbar nur „[u]nter dem Einfluß seiner der Gründerfamilie des burgundischen Reformzentrums Cluny angehörenden (zweiten) Gemahlin […] dem Anliegen der Kirchenreform“, und auch von „regelmäßigen Interventionen […] in den Diplomen Heinrichs III.“ weiß die zeitgenössische Chronistik mit Bezug auf Agnes zu berichten. Der kleiderkritische Topos, nach dem sich ein übermäßiges Modeinteresse oftmals erst durch angeheiratete Frauen aus dem Ausland an einen Fürstenhof ausbreitet, wird, wie Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 206, herausstellt, darüber hinaus etwa auch im Liber visionum des Benediktiners Otloh von St. Emmeram (ca. 1010 – 1077) aktualisiert. Dieser berichtet hier davon, wie Theophano (gest. 991), die byzantinische Gemahlin Kaiser Ottos (gest. 983), vom Volk beschuldigt wurde, mit ihren „griechischen Sitten“ und Modegeschmack „ein verderbliches Beispiel gegeben zu haben“.
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niemand hätte träumen lassen. […] In allen Dingen trachten sie danach, es ihren Feinden gleichzutun, denen, die sich gegen sie verschworen haben; und noch bedauerlicher: solche Männer gehen nicht nur jeder Zurechtweisung aus dem Weg, sondern stehen beim König und gewissen anderen Fürsten obendrein in hohem Ansehen. […] Daraufhin streben andere – unter Mißachtung jeder Scham – danach, das Gleiche zu tun, weil sie sehen, daß ihre Mitgenossen belohnt und nicht etwa bestraft werden; sie trachten sogar danach, sich selbst Neuheiten von noch größerer Verrücktheit auszudenken.‘¹⁵³
Modebegeisterte Ritter kennt darüber hinaus auch die rund einhundert Jahre später entstandene Historia Ecclesiastica. Als Ergebnis eines auffallenden Genderings erscheint die höfische Mode hier ebenfalls als Symptom eines bedenklichen Sittenverfalls, wenn Ordericus im 10. Kapitel des 8. Buchs von der angeblichen Erfindung des Schnabelschuhs durch Fulco IV., Graf von Anjou (1043 – 1109), berichtet.¹⁵⁴ Analog zur geistlichen Kritik am weiblichen Kleiderputz wird den viri curialis hier allerdings nicht nur der topische Vorwurf der effeminatio gemacht, sondern auch, dass ihr modisches Gebaren einzig und allein darauf abziele, sich bei den höfischen Damen beliebt zu machen.¹⁵⁵ Ordericus bezeichnet die höfischen Kleidermoden hier daher auch explizit „als Zeichen der Effemination (feminea mollities) eines ganzen Standes“:¹⁵⁶
Das lateinische Zitat ist folgender Textausgabe der insgesamt zwei überlieferten Briefe Siegfrieds entnommen: Abt Siegfried von Gorze an den Abt Poppo von Stablo. Spätsommer 1043. In: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Hrsg. von Wilhelm von Giesebrecht. 5. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1885, S. 679 – 684, hier S. 684; die deutsche Übersetzung stammt von Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 245 f. Das Argument, dass Kleiderprunk ein besonders effizientes Mittel zur Erzielung (falschen, da weltlichen) Ruhms sei, dem grundsätzlich die innere Umkehr und ein Leben in Bescheidenheit vorzuziehen sei, ist ein geistlicher Topos der Zeit, der auch in Heiligenviten verbreitet ist. Vgl. dazu ausführlicher Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 101– 111. Diese Inszenierung Fulcos IV. als einem modeversessenen ‚Gecken‘ entspricht seiner auffallend negativen Darstellung auch in anderen historischen Quellen der Zeit.Vgl. dazu zusammenfassend etwa K. Schnith: Art. Robert II., Herzog von der Normandie. In: LexMA 7 (1995), Sp. 897 f. Nach Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 80, handelt es sich bei den Schilderungen des Ordericus allerdings um ein „ebenso spekulatives wie satirisch überspitztes Erklärungsmodell“, denn die Erfindung des Schnabelschuhs sowie seine Einführung in Europa sind bis heute nicht vollständig geklärt: In Betracht gezogen werden von der historischen Forschung bisher sowohl eine orientalische als auch eine slawische Herkunft. Jedenfalls werden schon vor der Entstehung der Historia Ecclesiastica in der ma. Historiographie Schnabelschuhe erwähnt; vgl. ebd., Anm. 28, mit weiteren Literaturverweisen. Zur geistlichen Kritik am Schnabelschuh vgl. zuvor auch schon Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 167, und Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 96 – 98. Vgl. dazu schon Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 218. Der Topos, nach dem ein ausgiebiger Umgang mit dem weiblichen Geschlecht den Mann verweichlichen lasse und nicht zuletzt sein modisches Erscheinungsbild negativ beeinflusse, ist nach Kraß, Der effeminierte Mann, S. 36, schon in der antiken Literatur verbreitet. Er erfahre in der Spätantike dann aber eine auffallend intensive Rezeption bei den Kirchenvätern (Clemens von Alexandrien, Gregor von Nazianz, Tertullian etc.): „Hinter der Vorstellung, dass die Frau den Mann zur Eitelkeit verführe, steht der Mythos vom Sündenfall. Der ‚angeborene Naturfehler‘, von dem Tertullian spricht, verweist auf die Erbsünde, die nach christlicher Vorstellung aus dem Ungehorsam, mit dem sich Eva und, ihr nachfolgend, Adam über das göttliche Gebot hinwegsetzten“; ebd., S. 37.
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Hic in multis reprehensibilis et infamis erat, multisque vitiorum pestibus obsecundabat. Ipse nimirum, quia pedes habebat deformes, instituit sibi fieri longos et in summitate acutissimos subtolares; ita ut operiret pedes, et eorum celaret tubera, quae vulgo vocantur uniones. Insolitus inde mos in occiduum orbem processit, levibusque et novitatum amatoribus vehementer placuit. Unde sutores, in calceamentis; quasi caudas scorpionum, quas vulgo pigacias appellant, faciunt, idque genus calceamenti pene cuncti, divites et egeni, nimium expetunt. Nam antea omni tempore rotundi subtolares ad formam pedum agebantur, eisque summi et mediocres, clerici et laici, competenter utebantur. […] Rodbertus quidam nebulo in curia Rufi regis prolixas pigacias primus coepit implere stuppis, et hinc inde contorquere instar cornu arietis. Ob hoc ipse Cornardus cognominatus est. Cujus frivolam adinventionem magna pars nobilium, ceu quoddam insigne probitatis et virtutis opus, mox secuta est. Tunc effeminati passim in orbe dominabantur, indisciplinate debacchabantur, Sodomiticisque spurcitiis foedi catamitae, flammis urendi, turpiter abutebantur. Ritus heroum abjiciebant, hortamenta sacerdotum deridebant, barbaricumque morem in habitu et vita tenebant. Nam capillos a vertice in frontem discriminabant, longos crines veluti mulieres nutriebant, et summopere curabant, prolixisque nimiumque strictis camisiis indui, tunicisque gaudebant. Omne tempus quidam usurpabant, et extra legem Dei moremque patrium pro libitu suo ducebant. Nocte comessationibus et potationibus, vanisque confabulationibus, aleis et tesseris, aliisque ludicris vacabant; die vero dormiebant. […] Femineam mollitiem petulans juventus amplectitur, feminisque viri curiales in omni lascivia summopere adulantur. ¹⁵⁷ ‚Dieser Graf war in vielerlei Hinsicht tadelnswert und verrufen und gab sich zahlreichen lasterhaften Sünden hin. Weil er deformierte Füße hatte, ließ er sich allerdings lange und an den Zehen sehr spitze Schuhe anfertigen, um seine Füße zu bedecken und die dazugehörigen Geschwülste zu verbergen, welche man gemeinhin Ballenzehen nennt. Diese ungewöhnliche Mode verbreitete sich sodann in der westlichen Welt und fand bei Leichtsinnigen sowie Liebhabern von Neuheiten sehr großen Gefallen. Deshalb fertigen die Schuster Schuhe ähnlich der Form von Skorpionschwänzen an, die man für gewöhnlich pigaciae nennt, und fast alle, reiche wie arme Menschen, wünschen sich diese Schuhart sehr. Denn zuvor machte man stets an die Fußform angepaßte, abgerundete Schuhe, und in gleicher Weise nutzten sie Reiche und Arme, Kleriker und Laien. […] Am Hofe des Königs Rufus begann als erster ein Taugenichts namens Robert damit, die langen pigaciae mit Werg zu füllen und im Anschluss daran ganz wie das Horn eines Widders zu drehen. Deshalb gab man ihm den Beinamen Cornard. Bald übernahm ein Großteil des Adels seine alberne Erfindung, ganz so, als ob es ein Zeichen für Rechtschaffenheit und Tugend gewesen wäre. Damals herrschten allenthalben weibische Männer auf dem Erdkreis und ergingen sich reuelos in Sünde, und abscheuliche Gigolos, die durch das Feuer hätten sterben sollen, übten auf grauenvolle Weise sodomitische Praktiken aus. Die Gewohnheiten vornehmer Männer gaben sie auf, die Ratschläge von Priestern verspotteten sie, und eigneten sich in Gewandung und Lebensführung stattdessen einen barbarischen Stil an. Denn sie scheitelten ihr Haar vom Haupt bis zur Stirn, ließen sich die Haare so lang wie die Frauen wachsen und pflegten sie mit größter Sorgfalt, und sie erfreuten sich daran, lange enge Hemden und Tuniken zu tragen. Einige vergeudeten all ihre Zeit und lebten nur zu ihrem eigenen Vergnügen, ohne Rücksicht auf das göttliche Gebot und die Sitte ihrer Väter. Nachts verbrachten sie ihre Zeit mit Ess- und Trinkgelagen, nichtigen Unterhaltungen, Würfeln, Glücks- und anderen Spielen. Tagsüber aber schliefen sie. […] Die ausgelassene Jugend macht sich weibische Weichheit zu eigen, und Höflinge schmeicheln den Frauen sehr mit allen Anzüglichkeiten.‘¹⁵⁸
Kraß, Der effeminierte Mann, S. 38. Historiae Ecclesiasticae, Bd. 3, S. 323 f. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln).
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Ähnlich durchsetzt von kleiderkritischen Topoi sind schließlich auch Ordericus’ Schilderungen eines Gesprächs zwischen Serlo, Bischof von Séez (Ostfrankreich), und König Heinrich I. von England (1068 – 1135), dem Thronfolger Wilhelms des Eroberers, im Jahr 1104.¹⁵⁹ Im Zusammenhang mit lokalen Unruhen in der normannischen Bevölkerung wird der von Ordericus stets als vorbildlich präsentierte Heinrich hier mit seinem ältesten Bruder, dem Herzog der Normandie, kontrastiert.¹⁶⁰ Dieser ist unter Zeitgenossen wegen seiner geringen Körpergröße auch als Robert Courteheuse (‚Robert Kurzhose‘; um 1054– 1134) bekannt.¹⁶¹ Bischof Serlo werden diesbezüglich folgende Worte in den Mund gelegt:¹⁶² ‚Frater quippe tuus Normanniam non possidet, nec ut dux principatur populo suo, quem per rectitudinis callem ducere deberet; sed segnitie torpet, atque Guillelmo de Conversana et Hugoni de Nonanto, qui Rotomago praesidet, et Gunherio, nepoti ejus, aliisque indignis subjacet. Proh dolor! Quia magni ducatus divitias in nugis et vanitatibus dissipat, ipse pro penuria panis ad nonam usque multoties jejunat. Plerumque de lecto surgere non audet, nec pro nuditate sui ad ecclesiam procedere valet, quia femoralibus, caligisque et subtolaribus caret. Scurrae nimirum et meretrices, quae illum frequenter comitantur, vestes ejus, dum ebrietate madens stertit, noctu furantur, et cum cachinnis sese ducem spoliasse gloriantur. Sic languente capite, totum corpus infirmatur, et principe desipiente, tota regio periclitatur, et misera plebs omnimodis desolatur. A temporibus Rollonis, qui Normannorum primus Neustriae praefuit, et de quo vestra propago prodiit, usque ad hunc defectivum, strenuis ducibus Normannia subjacuit.‘ ¹⁶³ ‚Dein Bruder besitzt die Normandie freilich nicht, er herrscht auch nicht wie ein Herzog über sein Volk, welches er auf dem Pfad der Gerechtigkeit führen sollte; sondern er verharrt in Trägheit und ist Wilhelm von Conversano, Hugo von Nonant, der über Rouen herrscht, und Gunherius, dessen Neffen, und anderen unwürdigen Männern untertan. Ach, weh! Weil er den Reichtum des großen Herzogtums für Possen und Nichtigkeiten verschwendet, hungert er selbst oft aus Mangel an Brot bis zur neunten Stunde. Meistens traut er sich nicht, aus seinem Bett aufzustehen, und wegen seiner Nacktheit kann er auch nicht zur Kirche gehen, weil er keine Hosen, Stiefel und Schuhe hat. Natürlich stehlen ihm die Schmarotzer und Dirnen, in deren Gesellschaft er sich häufig befindet, nachts seine Kleidung, während er voller Trunkenheit schnarcht, und sie rühmen sich mit lautem Gelächter, ihren Herzog beraubt zu haben. Wenn der Kopf so kränkelt, ist der gesamte Körper geschwächt, und wenn ein Fürst so töricht handelt, ist die gesamte Herrschaft in Gefahr, und die arme Bevölkerung wird auf vielerlei Art ruiniert. Seit den Zeiten Rollos, der als erster Normanne
Zur auffallenden Literarizität des Dialogs zwischen Serlo und Heinrich vgl. schon Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 10 f. Vgl. Blacker, Women, Power and Violence, S. 46. Vgl. K. Schnith: Art. Robert II., Herzog von der Normandie. In: LexMA 7 (1995), Sp. 897 f., hier Sp. 897. Das Gespräch zwischen Serlo und Heinrich findet unmittelbar im Vorfeld des ersten Angriffs des Königs auf seinen Bruder Robert statt; zum historischen Kontext vgl. zusammenfassend K. Schnith: Art. Heinrich I., König von England. In: LexMA 4 (1989), Sp. 2049 f. Historiae Ecclesiasticae, Bd. 4, S. 205 f. Zu Ordericus allgemeiner Einschätzung der Normannen als einem Volk, dessen Moral maßgeblich von der Qualität seines Herrschers abhänge, vgl. auch den außergewöhnlich langen Monolog des sterbenden Wilhelm des Eroberers in der Historia Ecclesiastica (VII, 15), welchen bereits Ward, Ordericus Vitalis as Historian, S. 12, hervorhebt.
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über Neustrien herrschte und von dem eure Nachkommenschaft abstammt, bis hin zu diesem unfähigen Herrscher wurde die Normandie einstmals von starken Herzögen beherrscht.‘¹⁶⁴
Im Rückgriff auf die christliche Kleiderkritik inszeniert Ordericus Robert Courteheuse hier also als „Modenarren“¹⁶⁵ und ein katastrophales Landesoberhaupt: Da ihm Huren und Spielleute immer wieder seine prächtigen Kleider gestohlen hätten, sei es Robert wiederholt nicht möglich gewesen, an der Messe teilzunehmen. Zudem erscheinen die allgemeine Kampfes- und Regierungsunfähigkeit Roberts als Ergebnis eines von Trägheit, Völlerei, Rausch und nicht zuletzt von sündhafter Modelust geprägten Lebens. Im Kontext eines weiteren für die geistliche Hofkritik prägenden Argumentationsmusters wird hier zudem die Partizipation an weltlichen Vergnügungen als letztlich unvereinbar mit der christlichen Glaubensausübung inszeniert.¹⁶⁶ Diese Art der Berichterstattung findet im 26. Kapitel des 11. Buchs dann schließlich ihren Höhepunkt, wenn Ordericus hier ex negativo die große Begeisterung anführt, welche der modische Aufzug Robert Courteheuses und seines normannischen Gefolges während des Ersten Kreuzzugs bei den fremdländischen Bewohnern von Antiochia auslöst.¹⁶⁷ Höfische Gewandmoden erscheinen dabei nicht mehr nur als symptomatisch für einen schwachen Regierungsstil, sondern auch als etwas aus heidnischer Sicht besonders Begehrenswertes, ja gar Erotisches, was sie aus christlicher Sicht wiederum in ein ausgesprochenes Licht der Fragwürdigkeit rücken sollte: Rex quippe Medorum praefecto urbis eos commendavit, et Gallico more indutos quotidie sibi assistere praecepit. Sericis et auratis vestibus ornati erant, equos et arma, variamque supellectilem habebant, et quicquid a rege vel a praefecto postulabant. Spectabiles coram Persis procedebant, et Medi cultum Francorum admirantes collaudabant. Filiae regum decorem eorum affectabant, facetiisque arridebant. Ipsi quoque reges atque duces de semine Francorum nepotes habere concupiscebant. ¹⁶⁸ ‚Freilich vertraute der König der Meder sie [Robert Courteheuse und sein Gefolge; J. S.-B.] dem Stadtpräfekten an und trug ihnen auf, ihm – nach französischer Mode gekleidet – täglich ihre Aufwartung zu machen. Sie waren geschmückt mit seidener und mit Gold bestickter Kleidung, hatten Pferde,Waffen, vielerlei Hausrat und all das, was auch immer sie vom König oder Präfekten verlangten. Eindrucksvoll präsentierten sie sich in Gegenwart der Perser, auch die Meder staunten über das Aussehen der Franken und lobten sie dafür. Die Königstöchter sehnten sich nach ihrem Schmuck und lächelten über ihre Scherze. Sogar die Könige und Herzöge wünschten sich Nachkommen aus dem Geschlecht der Franken.‘¹⁶⁹
Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln). Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 82. Vgl. dazu auch erneut die auf S. 11 der vorliegenden Arbeit zitierten Ausführungen Meinhards von Bamberg zur übermäßigen Musik- und Literaturbegeisterung Bischof Gunthers von Bamberg. Zum unerwarteten Sieg der aus strategischen Gründen größtenteils unberittenen christlichen Ritter in der Schlacht bei Antiochia im Jahr 1098 vgl. Martin, Waffen und Rüstungen, S. 38. Historiae Ecclesiasticae, Bd. 4, S. 256. Diese Übersetzung stammt von Daniel Bürling und Peter Orth (Köln).
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An einem ähnlichen argumentativen Punkt setzt weitere fünfzig Jahre später dann schließlich auch ein „Schüler“ ¹⁷⁰ des Johannes von Salisbury an: der zeitweise ebenfalls am Hofe Heinrichs II. von England lebende Bretone Petrus von Blois (ca. 1130/35 – 1211/12). „Die Briefe des königlichen Sekretärs und Hofkaplans […] verraten trotz literarischer Stilisierung und nachträglicher Redaktionen intimste Kenntnis des höfischen Milieus“, das womöglich „aus persönlicher Enttäuschung heraus in scharfsichtiger Weise geschildert wird.“¹⁷¹ So wurde Petrus im Laufe seines Lebens, wie schon Claus Uhlig hervorhebt, gleich zwei Mal zum Opfer schwerer Hofintrigen: [A]rm war er und in Armut sollte er auch sterben, nachdem er es in der kirchlichen Hierarchie mangels guter Beziehungen nur bis zum Archidiakon gebracht hatte. Nach dem Studium in Tours (Grammatik und klassische Literatur), Bologna (beide Rechte) und Paris (Theologie) suchte er, wie so viele andere mittellose Kleriker neben ihm, nach einer Anstellung und fand sie 1167 am Hofe von Palermo, wo er die Erziehung des jungen Königs Wilhelm II. von Sizilien übernahm. Damit war er aber als Ausländer in eine entschieden zu hohe Stellung gelangt, um nicht den Neid der einheimischen Höflinge zu erregen. Ihre Intrigen vertrieben ihn denn auch schon nach einem Jahr aus Sizilien. Das gleiche Geschick verfolgte ihn in seiner Heimat Frankreich, bis er schließlich in England während der letzten dreißig Jahre des 12. Jahrhunderts eine dauernde Bleibe fand. Da ihm aber der Dienst unter Heinrich II. zu aufreibend war, wechselte er gegen 1175 an den ruhigeren erzbischöflichen Hof von Canterbury über, wo er nacheinander Richard, Baldwin und Hubert
Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 99. Uhlig (ebd., S. 105) spielt damit vor allem auf die auffallende thematisch-argumentative Verwandtschaft zwischen Petrus’ und Johannes’ Hofkritik an, die sich etwa in einem geteilten „Bewußtsein von der grundsätzlichen Unvereinbarkeit der Existenz des Gelehrten einerseits und der des Höflings andererseits“ ausdrücke. Die beiden berühmten Hofkritiker waren darüber hinaus aber offenbar auch persönlich miteinander bekannt und tauschten gelegentlich Briefe aus; vgl. dazu Cotts: Peter of Blois and the Problem of the ‚Court‘, S. 72. Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 99. Petrus verfasste seine über 200 Texte umfassende Briefsammlung nach Cotts: Peter of Blois and the Problem of the ‚Court‘, S. 69, über die Zeit seines gesamten klerikalen Werdegangs, „on an axis stretching from London to Palermo“. Dabei liegen manche Texte (wie z. B. der berühmte „Brief 14“) in mehreren Überarbeitungsstufen vor; vgl. ebd., S. 78 f. Eine besonders zentrale Stellung für die Geschichtswissenschaft nimmt in dieser Sammlung laut Köhn, Militia curialis, S. 227 f., Petrus’ „Brief an die Mitglieder der Hofkapelle Heinrichs II.“ ein, der „in der erhaltenen Fassung wohl 1183/84 geschrieben und später überarbeitet bzw. ergänzt“ wurde: „[D]enn er enthält eine ausführliche Schilderung des Alltags am englischen Königshof. Peter beschreibt hier die Zusammensetzung des königlichen Gefolges, geht auf Unterkunft und Verpflegung der Hofleute ein, schildert die Tätigkeit einzelner Gruppen von Hofleuten und die beherrschende Rolle des Königs als Mittelpunkt des Hoflebens. Er setzt sich vor allem mit der Stellung und den Aufgaben der Geistlichen am Hofe Heinrichs II. auseinander, also mit der königlichen Hofkapelle. […] Wegen seiner Anschaulichkeit und Detailfülle gilt Peters Brief als wichtiges Zeugnis für den hochmittelalterlichen Königshof und für die Situation der königlichen Hofkapelle im späten 12. Jahrhundert. […] Diese Hochschätzung erklärt sich aus der Tatsache, dass Peter von Blois eine Schilderung des Hoflebens gibt, die auf eigenen Erfahrungen beruht […]. Jedoch dürfen weder Peters Bemerkungen noch die Äußerungen seiner Zeitgenossen als unvoreingenommene Beschreibungen des anglo-normannischen Königshofes angesehen werden, denn es geht den genannten Weltgeistlichen um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Hofleben und Höflingen.“
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Walter als Kanzleivorstand (cancellarius) die Hauptlast der diplomatischen Korrespondenz abnahm.¹⁷²
In seinem schon von Joachim Bumke und C. Stephen Jaeger analysierten „Brief 94“ (um 1191), der an den Erzdiakon Johannes von Bath gerichtet ist, tritt Petrus als einer der scharfzüngigsten Gegner des ritterlichen Rüstungsprunks seiner Zeit auf.¹⁷³ So kritisiert der bretonische Geistliche hier zunächst das modische Gebaren zweier Neffen des Empfängers, um daraus in einem zweiten Schritt dann eine allgemeine Kritik am zeitgenössischen Rittertum zu entwickeln.¹⁷⁴ Der Text setzt ein mit einigen empörten Bemerkungen speziell zur mangelhaften Kampfes- und Standesmoral der zeitgenössischen Kreuzzugskämpfer: Qui contra inimicos crucis Christi vires suas exercere debuerant, potibus et ebrietatibus pugnant, vacant otio marcent crapula, vitamque degenerem in immunditiis transigentes nomen et officium militiae dehonestant. ‚Die im Kampf gegen die Feinde des Kreuzes Christi ihre Kräfte beweisen sollten, die liegen lieber mit ihrer Trunkenheit im Streit, geben sich dem Nichtstun hin, erschlaffen in Völlerei, und durch ihr verderbtes und unanständiges Leben schänden sie den Namen und die Pflichten des Rittertums.‘¹⁷⁵
Doch nicht nur der Ritter des Kreuzes sei nur noch ein effeminierter Schatten seines einstigen tapferen Selbsts, sondern es kranke darüber hinaus auch der gesamte hochmittelalterliche Kriegerstand an sündhafter Weltzugewandtheit:¹⁷⁶ Quod si milites nostros ire in expeditionem quandoque oporteat, summarii eorum non ferro, sed vino, non lanceis, sed caseis, non ensibus, sed utribus, non hastis, sed verubus onerantur. Credas eos ire ad domum convivii, non ad bellum. Clypeos deferunt optime deauratos, praedam potius hostium cupientes, quam certamen ab hostibus, et eos referunt, ut ita loquar, virgines et intactos. Bella tamen
Uhlig, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance, S. 100 f.; so weiterhin auch Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 94. Offenbar aufgrund der gegen ihn gerichteten höfischen Intrigen zog sich Petrus, der ursprünglich aus „einer aus der Bretagne eingewanderten Familie kleinadliger Herkunft“ stammte, nach Rolf Köhn: Art. Petrus v. Blois. In: LexMA 6 (1993), Sp. 1963 f., hier Sp. 1963, als Archidiakon von London (1200/01– 1211/12) schließlich komplett aus dem geistlichen Hofdienst zurück. Vgl. zum Inhalt dieses Briefs zusammenfassend auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 431 f., sowie Jaeger, Courtliness and Social Change, S. 291– 297. Vgl. Jaeger, Courtliness and Social Change, S. 291. Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum, Sp. 294. Die deutsche Übersetzung stammt von Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 431 f. Vgl. zu diesem Aspekt hochmittelalterlicher Kleiderkritik weiterführend auch die Ausführungen bei Kraß, Der effeminierte Mann, S. 37 f., zur Kontrastierung des weltlichen Ritterkonzepts mit dem religiösen in Bernhards von Clairvaux Lobrede auf das neue Rittertum. Noch wesentlich expliziter als Petrus bewertet Bernhard den ritterlichen Rüstungsprunk hier als eine äußere Ausdrucksform von effeminatio.
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et conflictus equestres depingi faciunt in sellis et clypeis, ut se quadam imaginaria visione delectent in pugnis, quas actualiter ingredi, aut videre non audent. ‚Wenn unsere Ritter zuweilen einen Feldzug unternehmen müssen, werden die Lastpferde nicht mit Waffen, sondern mit Wein beladen, nicht mit Lanzen, sondern mit Käse, nicht mit Schwertern, sondern mit Schläuchen, nicht mit Wurfspeeren, sondern mit Bratspießen. Man meint, dass sie zu einem Gelage ziehen, nicht in den Krieg. Sie tragen herrlich vergoldete Schilde mit sich und sind mehr auf die Beute der Feinde aus als auf den Kampf mit ihnen; ihre Schilde bringen sie sozusagen jungfräulich und unberührt zurück. Auf ihre Sättel und Schilde lassen sie sich Kriegsszenen und Reiterschlachten malen, damit sie sich im Bild der Phantasie an den Kämpfen erfreuen, die sie in Wirklichkeit nicht zu bestehen oder mitanzusehen wagen.‘¹⁷⁷
Als faule, affektgeleitete und materialistisch orientierte Trunkenbolde erscheinen die zeitgenössischen Ritter bei Petrus also, zu deren sündhaften Lastern nicht zuletzt ihre übergroße Begeisterung für eine prunkvolle Ausrüstung zählt.¹⁷⁸ Diese stelle, wenn es denn überhaupt einmal zum Kampf komme, in der Tat auch die ritterliche Hauptmotivation zum Besiegen des Gegners dar. Im Rückbezug auf den religiösen Ritterbegriff (miles Christianus) mahnt der bretonische Geistliche daher an, dass man über der ständigen Befriedigung leiblicher Begierden niemals vergessen dürfe, dass man das Schwert einmal „zur Ehre der Priester, zum Schutz der Armen, zur Bestrafung der Übeltäter und zur Befreiung des Vaterlandes“¹⁷⁹ – und zwar vom Altar – empfangen hätte. Zusätzliche Wirkung bezieht die Rüstungskritik des Petrus im Weiteren dann außerdem durch die Kontrastierung des zeitgenössischen Rittertums mit einem in die antike Vergangenheit zurückprojizierten „ideal of knighthood“:¹⁸⁰ Dieses sieht Petrus in dem von ihm als vorbildlich-asketisch präsentierten Kriegertum des Aeneas, Scipio Africanus, Trajan, Pompeius und Julius Caesar verkörpert.¹⁸¹ In deutlicher Abgrenzung von der im höfischen Diskurs behaupteten idealtypischen Kongruenz von Innen und Außen erscheint das zeitgenössische Rittertum bei Petrus also zusammenfassend als eine auf eitle Äußerlichkeiten fokussierte und in ihrem Verhalten gotteslästerlichvulgäre Männerschar:
Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum, Sp. 296. Die Übersetzung stammt erneut von Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 432. Vgl. Jaeger, Courtliness and Social Change, S. 291. Zum argumentativen Stil, zur Funktion sowie zum sozialen Entstehungskontext von Petrus’ von Blois „Brief 94“ vgl. auch ebd., S. 291 f.: „The occasion for writing is the slandering of clerics. Knights have an obligation to defer to clerics, which they are neglecting shockingly. […] The language of his accusations is conventional and easily recognized. The concerns of the peace movement since the late tenth century register in some of the complaints. […] But alongside this discourse is another: an attack on sloth, corruption, debauchery, drunkenness, and the resultant slackening of the warrior spirit. This is the language of polemics against the corruption of knights through life at the court, polemics that surfaced in the mid-eleventh century and continued into the thirteenth. In Peter of Blois’s letter both directions of the polemics are represented: the knights are violent outdoors; they are slothful, debauched, and corrupt at court.“ Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 431. Jaeger, Courtliness and Social Change, S. 293. Vgl. ebd., und Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum, Sp. 295.
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Porro ordo militum nunc est, ordinem non tenere. Nam cujus os majore verborum spurcitia polluitur, qui detestabilius jurat, qui minus Deum timet, qui ministros Dei vilificat, qui Ecclesiam non veretur, iste hodie in coetu militum fortior et nominatior reputatur. ‚Der Orden der Ritter besteht heute darin, keine Ordnung zu halten. Denn derjenige, der am meisten seinen Mund mit unflätigen Worten besudelt, der am abscheulichsten flucht, der am wenigsten Gott fürchtet, der die Diener Gottes verächtlich macht, der die Kirche nicht ehrt, der wird heute im Kreis der Ritter als der tüchtigste und berühmteste geachtet.‘¹⁸²
Im folgenden Analyseteil des Kapitels soll nun am Beispiel ausgewählter Figuren in Hartmanns von Aue Ereck sowie im Nibelungenlied ein weiteres Mal gezeigt werden, wie stark die Gesellschaftsdarstellung der mittelhochdeutschen höfischen Epik vom hofkritischen Diskurs durchsetzt ist. Denn auch in diesen beiden zentralen Erzähltexten lassen sich zahlreiche Bezugnahmen auf antihöfische Topoi wie v. a. die weibliche Putzsucht (bzw. ihre moralisch problematischen Auswirkungen auf das männliche Geschlecht) sowie den tugendlosen Prunkritter nachweisen. Wie noch zu zeigen sein wird, trägt eine Kenntnis der skizzierten zeitgenössischen Wissensbestände erneut wesentlich zum Verständnis der spezifischen Figuren- und Plotkonstruktionen im untersuchten Roman und Epos bei, wobei sich nun außerdem zunehmend ein gattungsspezifischer Umgang der volkssprachlichen Texte mit dem lateinischen Referenzmaterial abzeichnet.
3.2 Enites wât und Yders harnasche: Kleiderkritik in Hartmanns von Aue Ereck „Ausführliche Beschreibungen mit einer kaum überschaubaren Fülle von Informationen über die Kleidung der adligen Gesellschaft“ gehören nach Elke Brüggen „zu den festen Bestandteilen der mittelhochdeutschen höfischen Epik“,¹⁸³ und sind daher auch aus dem von Hartmann von Aue im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts verfassten Ereck kaum wegzudenken.¹⁸⁴ Allerdings unterscheiden sich die komplexen Ver Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum, Sp. 294. Die Übersetzung stammt erneut von Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 431. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 9. Ich zitiere den Text nach der neuesten Edition: Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ‚Erek‘. Hrsg.von Andreas Hammer, Victor Millet, Timo Reuvekamp-Felber. Berlin/Boston 2017. Die Verszählung dieser Edition bezieht erstmals den Mantel-Prolog des Ambraser Heldenbuchs mit ein. Aus Gründen der besseren Nachvollziehbarkeit wird im Folgenden zu jeder Versangabe jedoch zusätzlich auch die entsprechende Angabe nach älterer Verszählung mitgeliefert, der bspw. noch die Ausgabe von Volker Mertens folgt (Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von dems. Stuttgart 2008 [RUB. 18530]). – Mit der Verwendung der neuesten Ereck-Edition soll der problematischen Überlieferungssituation des Romans Rechnung getragen werden, wie sie Andreas Hammer, Victor Millet, Timo Reuvekamp-Felber: Einleitung. In: Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeut-
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handlungen höfischer Kleidermoden im ersten Artusroman der deutschsprachigen Literaturgeschichte – dies ist sicherlich ein Konsens der früheren Forschung – deutlich von den Darstellungen der meisten anderen Autoren seiner Zeit.¹⁸⁵ Der narrative Aufwand, mit dem Hartmann die Frage nach der Funktion von Be- und Einkleidung im Kontext höfischer Vorstellungen von Schönheit, Identität und Gender über die gesamte Erzählung hinweg verfolgt, ist indes bis heute nicht umfassend diskurshistorisch erörtert worden.¹⁸⁶ Die wenigen bislang vorliegenden Arbeiten beschränken sich nämlich auffallend auf jene berühmte Szene des Romans (V. 1635 – 1655/641– 661), in der die merkwürdige Reaktion des Protagonisten erzählt ist, der das Angebot eines Fürsten, Imain, seine nur unzureichend gekleidete, weil verarmte Verlobte, Enite, neu schen ‚Erek‘. Hrsg. von dens. Berlin/Boston 2017, S. ix–xxiii, hier S. ix, zusammenfassen: „Der einzige nahezu vollständige Textzeuge ist bis heute das von Kaiser Maximilian I. in Auftrag gegebene Ambraser Heldenbuch, das der Zöllner Hans Ried in den Jahren 1504– 1516 nach älteren Handschriftenvorlagen angefertigt hat. Der unikale Überlieferungszeuge stammt somit aus der Frühen Neuzeit und ist über 300 Jahre nach der Entstehung des Werkes entstanden. Nur ein paar Fragmente zeugen von einer früheren Überlieferung: zwei davon stammen noch aus dem 13., eines aus dem 14. Jahrhundert; ihr Text läuft zu dem des Ambraser Heldenbuchs parallel. […] Zur prekären Überlieferungssituation trägt ebenfalls bei, dass auch der Textbestand im Ambraser Heldenbuch offenbar nicht ganz vollständig ist“. In Abgrenzung zu den Versuchen einer Lachmannschen Editionsphilologie, auf Basis der frühneuhochdeutschen Fassung einen künstlichen mhd. „Autortext des 12. Jhs. zu rekonstruieren“, bietet die neuere Ausgabe daher „einen nur vorsichtig normalisierten und korrigierten Abdruck sämtlicher Überlieferungszeugen“ (so der Klappentext). Der Name des Protagonisten folgt dabei mit Ereck der „mit Abstand häufigste[n] Schreibung im Ambraser Heldenbuch“; ebd., S. xxiii. Hierbei handelt es sich vor allem um die folgenden Studien: Gabriele Raudszus: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik in der deutschen Epik des Mittelalters. Köln 1985 (Ordo. 1), S. 79 – 88, Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Köln 1989 (Euphorion Beihefte. 23), S. 149 f., und Kraß, Geschriebene Kleider, S. 169 – 174. Einige kurze Bemerkungen, die die Imain-Episode betreffen, finden sich darüber hinaus bei Marie-Sophie Masse: man sol einem wîbe / kiesen bî dem lîbe / ob si ze lobe stât. Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘. In: Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth Schmid. Hrsg. von Dorothea Klein. Würzburg 2011 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. 35), S. 151– 171, hier v. a. S. 152 f. Eine gute Übersichtsdarstellung zur Kleiderdarstellung vor allem in Hartmanns beiden Artusromanen Ereck und Iwein (Terminologie, erwähnte Kleidungsstücke, Stoffe/Materialien, Farben etc.) liefert Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns. Wenn hier und im Folgenden von „Hartmanns“ Ereck die Rede ist, bin ich mir der damit verbundenen problematischen Implikationen bewusst. Diese ergeben sich aus der prekären Überlieferungssituation eines in großen Teilen nur auf Frühneuhochdeutsch erhaltenen und wahrscheinlich mit einem alternativen Anfangsteil versehenen Texts des 12. Jhs. Wie schon Hammer/Millet/ReuvekampFelber, Einleitung, S. xviii, konstatieren, haben wir es im Fall des Ereck insofern „mit einem entgrenzten Text zu tun, der sich längst aus seinem kulturellen Kontext gelöst hat, in neue Funktionszusammenhänge eingerückt ist und sprachlich, vielleicht auch inhaltlich modernisiert wurde“. Allerdings konnte, so Hammer/Millet/Reuvekamp-Felber (ebd., S. xi) weiter, durch den Fund der Koblenzer und St. Pöltener Fragmente aus dem 13. und 14. Jh., welche ca. 700 Verse Parallelüberlieferung enthalten, zumindest punktuell „die Qualität und Sorgfalt des Ried’schen Textes“ bestätigt werden, der seinerseits wiederum auf eine oder mehrere Fassung(en) eines hochmittelalterlichen Romans Hartmanns von Aue zurückgeht.
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einzukleiden, ablehnt.¹⁸⁷ Erst unlängst hat Andreas Kraß (2006) im Rahmen seiner Untersuchungen zur „ästhetische[n] Figur der Epiphanie“ in der höfischen Epik noch auf einen Zusammenhang zwischen diesen Versen und einer gewandkritischen „Spruchstrophe aus dem ‚Spervogel‘-Korpus“ (MF 24,1) hingewiesen.¹⁸⁸ Beide Textstellen gelten ihm dabei als Repräsentanten eines „diskursive[n] Feld[es], das den höfischen Kleiderkult vor dem Hintergrund der geistlichen Kleiderkritik deutlich dämpft, ohne ihn aber zu verabschieden.“¹⁸⁹ Ganz ähnlich interpretiert die unerwartete Reaktion Erecks auf Imains Angebot zuvor auch schon Gabriele Raudszus, die im Zuge ihrer semiotischen Analysen zur Zeichensprache der Kleidung (1985) darin eine „Kritik des Dichters am Kleiderkult der höfischen Gesellschaft“ sieht, eine Position, die Hartmann durch die vorangegangene Beschreibung Enites, in der ihre inneren Qualitäten durch ihre ärmliche Kleidung hindurch sichtbar gemacht werden, eindrucksvoll untermauert, die aber im weiteren Epos nicht konsequent fortgeführt wird und keine klare Bestätigung durch die Handlung erfährt.¹⁹⁰
Und auch Elke Brüggen hebt in ihrer Dissertation zur Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts (1989) diese Verse beiläufig als eine der we-
Zur Deutung dieser Verse herrscht in der Forschung bis heute große Uneinigkeit: So weist etwa Carola L. Gottzmann: Rittertum, Minne, Ehe und Herrschertum. Die Artusepik der hochhöfischen Zeit. Frankfurt a. M. 1986 (Deutsche Artusdichtung. 1), S. 71, im Rahmen ihrer Analysen der Schuldfrage Erecks dessen Zurückweisung der Kleidergeschenke den Status einer indirekten Misshandlung Enites zu, da er ihr „mit dieser Ablehnung jene Vervollkommnung [versage], die ihm selbst durch Waffen und Rüstung zuteil wurde.“ Höfisierend – d. h. als ein sich durch „bemerkenswerte[n] Freimut“ auszeichnendes Lob der „ungekleidete[n] Schönheit“ Enites durch ihren Verlobten – liest die Stelle dagegen Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 115. „[S]ehr merkwürdig“ erscheint Erecks Ablehnung von Imains Gaben wiederum Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 90, der vermutet, dass der Protagonist hier „sagen [wolle], ihm sei jede Begleiterin recht, wenn sie ihm nur einen Vorwand gebe, gegen Iders zu kämpfen“. Thomas Cramer: Soziale Motivation in der SchuldSühne-Problematik von Hartmanns ‚Erec‘. In: Euphorion 66 (1972), S. 97– 112, hier S. 104, interpretiert Erecks Argumentation hingegen psychologisierend als Ausdruck der Arroganz einer noch unreifen Protagonistenfigur, während Volker Mertens: Kommentar. In: Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von dems. Stuttgart 2008 (RUB. 18530), S. 626 – 697, hier S. 634, ausgehend von der altfranzösischen Vorlage schlicht eine Motivation „von hinten“ vermutet: „[D]ie Einkleidung soll am Artushof durch die Königin erfolgen.“ Kraß, Geschriebene Kleider, S. 169. Der Text der von Kraß angesprochenen kleiderkritischen Spruchstrophe aus dem Spervogel-Korpus lautet: Treit ein rein wîp niht guoter kleider an, / sô kleidet doch ir tugent, als ich mich kan entstân, / daz sî vil wol belüemet gât, / alsam der liehte sunne hât / an einem tage sînem schîn lûter unde reine. / swie vil ein valsche kleider treit, doch sint ir êre kleine; zitiert nach ebd. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 169. Die von Kraß aufgestellte These einer diskursiven Aufeinanderbezogenheit von Hartmanns Gestaltung der Szene am Imainhof und der zitierten kleiderkritischen Spervogel-Strophe ist natürlich zutreffend, doch sollte darüber hinaus auch den gemeinsamen thematisch-argumentativen Wurzeln in der lateinischen Hofkritik nachgegangen werden. Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 82.
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nigen Ausnahmen von gewandkritischer Darstellung in der mittelhochdeutschen höfischen Epik hervor.¹⁹¹ Darüber hinaus erwähnen Carola Gottzmann und einige andere Autoren zudem die vielsagende Inkongruenz zwischen der prachtvollen Rüstung von Yders, Erecks erstem ritterlichen Gegner, und dessen ausgeprägten moralischen Defiziten, die als ein weiteres Indiz einer Poetisierung hofkritischer Topoi in Hartmanns Roman erscheinen.¹⁹² Bringt man im Anschluss daran die Gewanddarstellung des Ereck nun einmal systematisch in einen Zusammenhang mit den topischen Argumentationsweisen des hofkritischen Diskurses, so lassen sich die zitierten Erkenntnisse der bisherigen Forschung nicht nur gewinnbringend vertiefen, sondern auch ganz neue grundlegende Sinnschichten des Romans freilegen. Denn in der Tat gewinnen aus kleiderkritischer Perspektive einige der bis heute am meisten diskutierten Episoden – das verligen, die damit einhergehende Schuldfrage des Helden sowie das Geschehen im Zaubergarten von Brandigan – überraschend schlüssige Konturen.
3.2.1 Kleidung und Schönheit: Erecks Ablehnung der Neueinkleidung Enites am Imainhof Nachdem der unerfahrene Jüngling Ereck vor den Augen der Königin Ginover durch den Peitschenschlag eines Zwerges entehrt worden ist, nimmt er im Rahmen seiner allerersten Aventiure die Verfolgung des verantwortlichen Ritters Yders auf.¹⁹³ So gelangt der Held schließlich in die Siben meile (V. 2088/1091) entfernte Stadt Dulimein (V. 1169/175), wo ein Herzog namens „Imain seinen Sitz hat“.¹⁹⁴ Schon im dritten Jahr findet dort ein großes Hoffest statt, in dessen Zentrum ein Schönheitspreis steht.¹⁹⁵ Als Siegestrophäe darf sich dabei die schönste aller anwesenden Damen einen Sparber (V. 1183/189) „von der Stange holen, ihrem Ritter aber liegt es ob, ihren Anspruch […]
Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 149. Vgl. dazu Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, S. 68: „Im Kontrast zu dem unritterlichen Auftreten Erecs erscheint der prächtig gekleidete Ritter Iders. Seine prunkvolle Kleidung, sein höfisches Gebaren insgesamt, sind aber nur äußerer Schein.“ Ähnlich zuvor etwa auch schon Ingrid Hahn: Zur Theorie der Personerkenntnis in der deutschen Literatur des 12. bis 14. Jahrhunderts. In: PBB 99 (1974), S. 395 – 444, hier S. 408. Zu den unterschiedlichen Konzeptionen und narrativen Funktionalisierungen der Ydersfigur in der europäischen Literatur des Mittelalters siehe überblicksartig Rudolf Simek: Art. Yder. In: ArtusLexikon (2012), S. 369. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 23. Zu den Eigenzutaten Hartmanns im Hinblick auf die vorliegende Episode vgl. überblicksartig Lambertus Okken: Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue. Amsterdam/Atlanta 1993 (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. 103), S. 16ff. Abgesehen von dem für das Fest zentralen Schönheitswettbewerb werden von Imain in dessen Rahmen auch eine messe (V. 1657/663), ein imbis (V. 1662/668) und noch einige andere, nicht näher definierte höfische freuden (V. 1665/671) veranstaltet.
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wenn nötig mit Lanze und Schwert durchzusetzen.“¹⁹⁶ In den vergangenen beiden Jahren hat stets der prachtvoll gerüstete Ritter Yders den Vogel mit gewalte an sich nehmen können (V. 1209/215), obwohl, wie der Erzähler anmerkt, der Festgesellschaft durchaus bewusst ist, daz da manig weib schöner wäre / dann des Ritters freundin (V. 1205f./211f.). Doch während man Yders am Imainhof deshalb – in der Textfassung des Ambraser Heldenbuchs – hinter seinem Rücken abfällig als „Rindvieh“¹⁹⁷ bezeichnet (Yders fihmůt, V. 1459), hat aus Angst vor seinem animalisch-aggressiven Auftreten bislang niemand gewagt, in der offenen Konfrontation gegen ihn das Recht auf die Schönste durchzusetzen (V. 1208 – 1211/214– 217).¹⁹⁸ Bei der unmittelbar bevorstehenden dritten Auflage des Sperberpreises beabsichtigt nun allerdings ausgerechnet ein im Kampf bislang völlig unerfahrener Fremder, Yders zum Kampf herauszufordern, um so sein eigenes Ansehen vor der Artusgesellschaft wiederherzustellen. Um den Voraussetzungen des Wettbewerbs genügen zu können, bietet Ereck seinem höfisch-edelmütigen, aber unschuldig verarmten Gastgeber, Graf Coralus, am Vorabend kurzentschlossen die Eheschließung mit dessen Tochter an.¹⁹⁹ Es handelt sich dabei um Enite, die schoneste magt, / von der Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 21; ähnlich auch Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 23 f. Vgl. hierzu auch Ereck, V. 1194– 1197/200 – 203: Wes freundinne den streit / behielt zu seiner hochzeit, / daz sie die schöneste ware, / die näme den Sparbare. Zu der aus der genderPerspektive zwiegespaltenen Symbolik des Sperbers, der sich tendenziell auf beide Hauptfiguren des Hartmannschen Romans zurückbeziehen lässt, vgl. Dorothea Klein: Geschlecht und Gewalt. Zur Konstitution von Männlichkeit im Erec Hartmanns von Aue. In: Literarische Leben. Festschrift für Volker Mertens. Hrsg. von Matthias Meyer [u. a.]. Tübingen 2002, S. 433 – 463, hier S. 444: „Das Motiv ist […] durchaus überdeterminiert: Auf Erecs amîe bezogen, bedeutet der Sperber Auszeichnung ihrer Schönheit, einer Schönheit freilich, die im ritualisierten Kontext der costume als abhängig von der überragenden Kampfesleistung des Partners gedacht, mithin keine ‚natürliche‘ Schönheit ist. Hingegen legt die Analogie von ars venandi und ars amandi nahe, im Sperber ein Phallussymbol zu sehen. Doch läßt er sich daneben auch in einem weiteren Sinn als Zeichen der Männlichkeit verstehen. […] Im Sperber hat die Mann-Werdung Erecs symbolhafte Gestalt gewonnen.“ Diese recht freie Übersetzung stammt aus der Edition von Hammer/Millet/Reuvekamp-Felber. Das entsprechende frühneuhochdeutsche Schimpfwort fihmůt, das wörtlich genommen ein ‚viehisches‘ bzw. animalisches Gemüt bezeichnet (und damit als ein weiterer Verweis auf Yders unhöfischen, ja geradezu unmenschlichen Mangel an Affektkontrolle fungiert), wurde von früheren Herausgebern in Anlehnung an Chrétiens Erec et Énide (V. 1043) durch die sinnentstellende Konjektur fil Niut („Sohn des Niut“) ersetzt; vgl. hierzu V. 465 bspw. noch in der Ausgabe von Mertens (Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von dems. Stuttgart 2008 [RUB. 18530]).Was (davon?) einmal bei Hartmann gestanden hat, muss natürlich offenbleiben.Weitere Beispiele für inhaltliche Eingriffe der älteren Editionsphilologie in den überlieferten Text listen Hammer/Millet/Reuvekamp-Felber, Einleitung, S. xiii–xviii, auf. Das bekannteste und rein spekulative Beispiel bildet dabei wohl „die Diskussion um den sogenannten sælden wec“; ebd., S. xiii. Vgl. Scheidel, Evas Kinder (bislang unveröffentlicht). Im Gegensatz zu Chrétiens Licorant-Figur, der „als Untervasall Angehöriger des (unfreien) Ministerialenstandes“ ist, hat Hartmann Coralus als Grafen (der „zum 4. Heerschilde, also zum vom König unmittelbar abhängigen Adel“ gehört), ständisch aufgewertet, wobei er sich nach Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik, S. 102f., jedoch darstellerisch weiter von den historischen Verhältnissen entfernte.
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uns je ward gesagt (V. 1304f./310f.).²⁰⁰ Denn erst mit einer attraktiven Frau an seiner Seite besteht für Ereck überhaupt die Möglichkeit, am Sperberpreis teilzunehmen und in diesem Zusammenhang den Peitschenschlag von Yders Zwerg zu rächen.²⁰¹ Neben einer Verlobten fehlt es ihm dazu jedoch außerdem auch an Schutzwaffen.²⁰² Bittend wendet sich Ereck daher mit folgenden Worten an den edel armen (V. 1426/432): rates můs ich euch piten: baide hilfe und hail stat vil gar an tail, herre, in eur handt. Mochtend Ir mir umb eisen gewant getůn ainicher schlachte rat, Ich sag euch, wie mein můt stat: so wurd er streites nicht vermiten. mit meinem rosse bin ich wol beriten. So solt Ir mich lassen reiten mit eur tochter Eneiten auf dieselben hochzeit. Ich behab den streit, daz si schöner wäre, und näme den sparbäre, den des Ritters freundin. nu secht, ob es múge sin, und tuet es auf das gedinge, ob mir also gelinge
Wie Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 154, hervorhebt, handelt es sich bei Hartmanns Einführung der Enitefigur in V. 1304 f./310 f. als der schoneste[n] um eine Überbietung seiner altfranzösischen Vorlage: Denn bei Chrétien wird Enide nur „als ein Mädchen vorgestellt, welches ‚überaus schön‘ ist (qui molt fu bele, V. 398).“ Zum markanten Ausbau des Armutsmotivs bezogen auf Coralus und seine Familie vgl. bspw. Cramer, Soziale Motivation in der SchuldSühne-Problematik, S. 100, Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 25, und Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 154. Zur höfisch-ethischen Vorbildlichkeit des nur in materieller Hinsicht armen Coralus und seiner Familie siehe weiterhin V. 1394– 1413/400 – 419. Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, S. 17f., sieht in dieser Art der Darstellung gar eine Anknüpfung an das antike Motiv des göttlichen Gasts im armen Haus, die somit nicht nur der Idealisierung von Coralus’ Familie, sondern auch der Ereckfigur dienen würde. Vgl. dagegen Chrétien de Troyes: Erec et Enide/Erec und Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 2007 (RUB. 8360), V. 369 – 700. Vgl. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 27. Zur mitunter ambivalenten Zeichnung der Artusgesellschaft und des von ihr angestrebten Gleichheitsideals schon in Hartmanns Ereck vgl. allerdings auch V. 2610 – 2614/1616 – 1620. Wie Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 438, betont, „trägt Chrétiens Erec ein Schwert bei sich (V. 103f.), […] es fehlen ihm jedoch die Schutzwaffen“, während bei Hartmanns Ereckfigur aufgrund des „fragmentierte[n] Textbeginn[s]“ nicht ganz klar sei, ob diesem ebenfalls nur die Schutzwaffen fehlen oder er darüber hinaus auch das Schwert nicht bei sich trage. Allerdings verweise die spätere Nichterwähnung eines Schwerts als Leihgabe von Coralus – neben Schild und Speer (V. 1605/611) – eher auf ersteres.
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daz mir der sig beleibe, so nim ich si zu weibe. (V. 1489 – 1509/495 – 515)
Ob neben solcherlei pragmatischen Überlegungen hier für Ereck möglicherweise auch schon Enites geradezu überirdische Schönheit eine Rolle spielt (V. 1323 – 1336/329 – 342), lässt der Text offen. Enites mehr als ansehnlicher Körper wird jedenfalls durch ihre ärmliche Kleidung, „ein ganz zerfetztes Kleid“, in der Beschreibung von Hartmanns Erzählers sogar noch stärker hervorgehoben als in der altfranzösischen Vorlage, Chrétiens de Troyes Erec et Enide (um 1170).²⁰³ Zugleich aber hat Hartmann durch die Auslassung vereindeutigender Innensichten bei seinem Protagonisten „jede Spur eines persönlichen Interesses getilgt“.²⁰⁴ Coralus, der Erecks unerwartetes Angebot zunächst für einen bösen Scherz hält, stimmt angesichts der ständischen Vorteile, die eine solche Verbindung mit einem Königssohn für die Familie mit sich bringt (V. 1513 – 1517/519 – 523), dann jedoch rasch zu.²⁰⁵ Großzügig überlässt er dem zukünftigen Schwiegersohn darüber hinaus seine altmodische Kampfausstattung, und damit wohl einige der letzten – wenn nicht sogar die letzten – Wertgegenstände, die er noch besitzt: er sprach: ‚seidt Ir es mainet also, so haben wir hie ze hant vil schöns eisengewant, baide behende und gůt. Des kunde mich die armůt noch nie bezwingen noch auf den Zweifel bringen,
Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 25; dazu ausführlicher auch ebd., S. 24– 27. Siehe zu diesem Aspekt der Darstellung auch V. 1353/359, wo der Erzähler Enites Bekleidung als schwache wate bezeichnet. Bei Chrétien trägt Enide hingegen ein zwar altes, aber doch feines Kleid, das nur an den Ellenbögen ein wenig löchrig ist; vgl. Erec et Enide, V. 401– 410. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 26: „Bei Chrétien treten Erec und Enide gleich bei der ersten Begegnung in ein persönliches Verhältnis. Erec bestaunt ihre Schönheit (448f.), und Enide zeigt unverhohlene Freude, als sie vernimmt, daß er ein Königssohn ist, der um sie wirbt (684ff.)“.Vgl. dazu Erec et Enite, V. 448 f.: Erec d’autre part s’esbahi, / quant an li si grant biauté vit („Erec seinerseits staunte, als er solche Schönheit an ihr bemerkte“). Vgl. Ereck, V. 1539 f./545f.: ‚durch got solt Ir erpeten sein, / daz diser schimph beleibe.‘ Zur Ungewöhnlichkeit von Erecks Heiratsantrag vgl. problematisierend schon Mertens, Kommentar, S. 632 f.: „Um Iders in aller Öffentlichkeit zu besiegen, ist die Sperberaventüre für Erec die willkommene Gelegenheit. Dafür braucht er außer Rüstung, Schild und Speeren auch eine vriundin. Er wählt Enite. […] Daher gibt Erec gleich ein bedingtes Eheangebot ab. In der Realität dürfte er das nicht ohne die Zustimmung seines Vaters und der Großen seines Landes; aber diese Perspektive wird auch später nie thematisiert; das Publikum könnte jedoch dadurch irritiert gewesen sein und Erec der Übereilung geziehen haben. Allerdings nimmt auch König Lac keinen Anstoß und legalisiert die Heirat durch seine Zustimmung. Sie bleibt dennoch eine juristische Schwachstelle, die auch Artus betrifft. Die Reaktion von Erecs Gefolge v. 2996 – 2998 könnte die Kritik wegen der nicht eingeholten Zustimmung reflektieren.“ Ähnlich zuvor auch schon Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, S. 70.
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daz ich wurde ane. Ich behielte es nach dem wane, ob es meinem frúnde wurde not; derselb wille | mirs gepot, daz ich es im leihen solte. Und mirs got gunnen wolte. […] auch hab ich üntz her ‚beide schilt und sper ensampt behalten.‘ (V. 1583 – 1606/589 – 612)
Wie der Erzähler bemerkt, passt Coralus’ Rüstung, die dieser hier – trotz ihres Alters und entsprechenden Zustands – gegenüber Ereck als ein schöns eisengewant bezeichnet (V. 1585/591), dem jungen Artusritter dann auch wie angegossen: Sie ist weder zu enge noch ze schwäre (V. 1611/617). Nachdem Ereck mit dem alten Eisengewand des Coralus hier also „jene zweite Haut, die den Adeligen zum Rittermann macht“,²⁰⁶ erhalten hat, bricht er dann auch sogleich zur nahegelegenen Burg auf.Von Imain, bei dem es sich übrigens um Enites Onkel handelt (V. 1632/638), wird er dort auffallend höfisch-freundlich begrüßt (V. 1620 – 1622/626 – 628). So lobt der Herzog, nachdem er den Grund für Erecks Anwesenheit erfahren hat, die ritterliche Tüchtigkeit (V. 1631/ 637: frumbkait) des Jünglings in höchsten Tönen und sichert ihm für seine Teilnahme am Wettbewerb die volle Unterstützung zu. Im Zusammenhang mit weiteren freigebigen Gastfreundschaftsbekundungen (V. 1628 – 1630/634 – 636: baide leib und gůt / und williklicher muot / sol euch dartzů sein berait) macht Imain Ereck dann auch das eingangs hervorgehobene Angebot, die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Enite angesichts ihres bevorstehenden öffentlichen Auftritts nach höfischer Mode neu einkleiden zu lassen.²⁰⁷ Doch der Held reagiert auf diese im Rahmen zahlreicher anderer festlicher Empfangsszenen der mittelhochdeutschen höfischen Literatur als ausgesprochen vorbildlich bewertete Geste des Herzogs mit unerwarteter Schärfe:²⁰⁸ Ereck der widerredt das. Er sprach: ‚des sol nit geschehen. Er het hart missejehen,
Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 438. Vgl. Ereck, V. 1627– 1634/633 – 640: Er sprach: ‚ich sag euch, was ich thů. / baide leib und gůt / und williklicher můt / sol euch dartzů sein berait, / Herre gast, durch eur frumbkait / und durch meiner nifteln ere. / auch volget meiner lere / und lasset mich si vassen bas.‘ Zu dieser Funktion des in der höfischen Literatur verbreiteten Motivs der Neueinkleidung adliger Gäste vgl. zusammenfassend Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 208: „Häufiger erscheint die Ausstattung des Gastes mit höfischer Gewandung als Bestandteil des Empfangszeremoniells. Nur im Ausnahmefall geht es dabei um das Beheben schierer Not. Gedacht ist eher an den adligen Besucher, der in Reisekleidung oder im Harnisch eintrifft. Doch liegen dem Kleiderangebot keineswegs immer oder vordringlich praktische Erfordernisse zugrunde. Es handelt sich dabei um eine Geste, die im Empfangszeremoniell ihren festen Platz hat und als Ausdruck höfischer Vorbildlichkeit gewertet werden will.“ Ähnlich dazu auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 185.
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Wer ein weib erkande nur bei dem gewande. man sol einem weibe kiesen bei dem leibe, ob si ze lobe stat, Und nicht bei der wat. Ich lass euch heut schauen, Ritter und Frauen, und wär si nagte sam mein handt und schwertzer dann ein prant, daz mich sper und schwert volles lobes an Ir wert, ob ich verleuse das leben.‘ (V. 1635 – 1650/641– 656)
Nicht weniger verwunderlich als diese brüske Ablehnung der Kleidergeschenk durch die Ereckfigur erscheint allerdings, dass Imain den Affront des Fremden geflissentlich übergeht.²⁰⁹ Denn obwohl ein solches Verhalten im Sinne mittelalterlicher Konventionen des Schenkens überaus problematisch ist,²¹⁰ wünscht der Herzog dem jungen Artusritter lediglich noch einmal herzlich Gottes Segen für den bevorstehenden Kampf (V. 1651– 1655/657– 661).²¹¹ Diesen leitet der Held unmittelbar nach dem Festmahl mit einer bewussten Provokation seines Kontrahenten ein: Zu des Ritters gehörde fordert er Enite auf (V. 1679/685), sich den auf einer Stange inmitten des Feldes befindlichen Sperber zu holen, da er ihr als schönster aller anwesenden Frauen on streit zustehe (V. 1682/688). Yders reagiert darauf in erwartbar aggressiver Weise: So stellt er hier in einer ausgesprochen „unhöfische[n] Rede“²¹² zunächst Enite Schönheit und dann sogar ihre Verstandeskräfte in Zweifel, wobei er erneut auf ihre zerschlissene Gewandung abhebt:²¹³ ‚lat den sparber stan! Es sol euch nicht so wol ergan, Ir dürftigine. wo hin tuet Ir eur sinne?
Schon Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 210, betont, dass in den Darstellungen der höfischen Literatur „[d]er Glanz und das Gelingen eines Festes […] ganz wesentlich darauf [beruhen], daß sich alle Anwesenden in prächtigen Kleidern und schönem Schmuck präsentieren.“ Vgl. dazu etwa Müller, Spielregeln, S. 356: „Geschenke nicht anzunehmen, deutet auf Feindschaft.“ Zum Annehmen (und Erwidern) von Gaben als einer der wichtigsten Bedingungen für das störungsfreie Funktionieren von Gabentauschsystemen als ökonomischer Grundlage von archaischen Gesellschaften vgl. grundlegend Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Mit einem Vorwort von E. E. Evans-Pritchard. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Anhang: Henning Ritter: Die ethnologische Wende. Über Marcel Mauss. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1996. Vgl. Ereck, V. 1651– 1655/657– 661: ‚got sol euch gelúck geben‘, / Sprach der Hertzoge Ymain. / ‚auch solt Ir des gewiss sein, / daz Eur ellenthafter můt / Eu gefüeget alles gůt.‘ Mertens, Kommentar, S. 634. Diese Beleidigung Enites durch Yders fehlt bei Chretien.
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lant In Ir, der Er bas getzäme und die In von recht neme: daz ist hie mein freundin, der sol Er billichen sin.‘ (V. 1686 – 1693/692– 699)
Volker Mertens übersetzt das von Yders in V. 1688/694 mit Bezug auf Enite verwendete Schimpfwort dürftigine frei mit „Frau Habenichts“, Joachim Bumke und die Herausgeber des Ambraser Ereck schärfer mit „Bettlerin“.²¹⁴ Die argumentative Stoßrichtung dieser Beleidigung, die in ihrer Vulgarität an die Sprechweise des Zwergs erinnert, ist in jedem Fall klar: Eine schlecht gekleidete Frau kann in Yders Augen niemals die schönste sein, denn dies ist für ihn – wie auch für die meisten Schönheitsdarstellungen der höfischen Literatur – untrennbar verbunden mit einer prachtvollen Gewandung.²¹⁵ Ereck wiederum nutzt die so gewonnene Aufmerksamkeit seines Gegners, um Yders nun explizit zum Zweikampf herauszufordern (V. 1694 – 1701/700 – 707).²¹⁶ Der Ältere reagiert darauf mit einer Mischung aus Hohn und massiver Drohung: Er bezeichnet den unerfahrenen Ereck als Jüngeling (V. 1702/708) und warnt ihn – mitunter verächtlich duzend (V. 1892/898) –, dass es ihn noch das Leben kosten werde, wenn er seinen kintlichen streit nicht sofort unterlasse (V. 1705/711), denn er kenne im Gefecht kein Erbarmen für seine Gegner:²¹⁷ ‚Ich sag euch bevor, wie euch geschicht. Ir erparmet mir nicht, als ich euch nu gesige an: des ich nie zweifl gewan. also stet hin zů euch mein můt, daz ich dann kain gůt näme fúr eurn leib. weder mann noch weib Eu dies rede geraten hat: der minnet, ob eu missegat.‘ (V. 1708 – 1717/714– 723)
Vgl. dazu Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 26, und Ereck, V. 1688/694. Vgl. Hahn, Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 404: „Am häufigsten dargestellt ist das reiche höfische Kleid als sichtbares äußeres Zeichen des im schönen Körper erscheinenden Wesens des adligen Menschen […]. Fast immer dokumentiert sich Adel in der Korrespondenz von Tugend und Schönheit, die im Gewand ihre volle äußere Gültigkeit erlangt.“ Vgl. dazu Ereck, V. 1694– 1701/700 – 707: Ereck sprach: ‚herre, guot knecht, / Ir habt den Sparber on recht / genomen dies zwei Jar. / Nu wisset recht fürwar: / es mag nicht mer geschehen: / sein wellen die leute jehen. / es muos under uns baiden / die Ritterschaft schaiden.‘ Vgl. Mertens, Kommentar, S. 636. Bei der Darstellung des Protagonisten als einem „Jüngling“ handelt es sich, wie Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 436, hervorhebt, um eine wesentliche Neuerung Hartmanns im Vergleich mit seiner altfranzösischen Vorlage: „Anders als der Erec Chrétiens, den der Erzähler als einen jungen Mann von noch nicht 25 Jahren (V. 90) vorstellt, hat er, wie man später erfährt, noch keine Kampf- und Turniererfahrung“.
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Doch Ereck lässt sich von Yders Reden nicht weiter beeindrucken und so kommt es schließlich zum langwierigen Kampf zwischen zwei höchst konträren Rittertypen:²¹⁸ dem erfahrenen und prachtvoll gerüsteten Yders, der mit einem samit grúen[en] Waffenrock in das Turnier zieht (V. 1735/741), und einem fast noch kindlichen Ereck, der seine erste Ritterschaft (V. 2260/1266) in der alten, unmodischen Rüstung seines verarmten Schwiegervaters bestreiten muss:²¹⁹ Eregk auch dört zú rait. sein schilt was alt, schwäre, lang und prait, seine sper unbehende und gros, halb Er und ross blos, als ims sein alter schwecher lech. (V. 1740 – 1744/746 – 750)
Doch kommt es für Yders anders als erwartet: Erecks ellen und zorn lassen den Jüngling nämlich ungeahnt grosse craft entwickeln (V. 1753 f./759 f.), wodurch sich die anfängliche Einschätzung seines Peinigers zunehmend als hochfertiger wan entpuppt (V. 1758/764). Mit einer hervorragenden Kampfestechnik und großer physischer Stärke erweist sich der junge Artusritter hier nämlich in der Tat als ein mehr als würdiger Gegner, dessen veraltetes eisengewant der prächtigen Rüstung Yders – wenn schon nicht in Bezug auf ihre Optik und modische Finesse – zumindest im Hinblick auf Funktionalität und Schutz in keinster Weise nachsteht.²²⁰ Und auch auf moralischer Ebene verkörpert der junge Ereck hier partiell schon Hartmanns Entwurf eines vorbildlichen Rittertums, wenn er respektvoll Abstand von dem nach der fünften Lanzenrunde am Boden liegenden Yders hält (daz jemand des möchte gejehen, / daz im die schande wäre geschehen, / daz er In ligende het erschlagen; V. 1822– 1824/828 – 830). Zwar muss Enite während des anschließenden Schwertkampfes noch einmal kurz Auf diesen „krassen Gegensatz“ zwischen Ereck und Yders verweist schon Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 114. Zur Schwere des Gefechts vgl. im Einzelnen auch die ausführlichen und elaborierten Kampfesschilderungen in Hartmanns Ereck, V. 1754– 1949/760 – 955. Zur modisch-prächtigen Kampfesausrüstung von Yders vgl. v. a. Ereck, V. 1726 – 1736/732– 742: Yders was wol worden gar, / wann er het sich gewarnet dar, / als ein man ze ritterschaft sol. / seine sper waren gewarnet wol. / Er was gezimieret, / sein ross was gezieret / mit reicher cobertuire. / die was Eregk tuire. / sein wappenrock alsam was / samit grúen als ein gras, / mit reichen porten unbestalt. Zu den völlig unterschiedlichen Kampfesvoraussetzungen von Yders und Ereck siehe weiterhin auch den entsprechenden Erzählerkommentar in V. 1722– 1725/728 – 731: zehant schieden si sich da / und waffenten si sich sa: / der Ritter, als im wol tochte, / Eregk, als er mochte. Auf einen eigentlich durch Erecks Rüstung bedingten Nachteil im Kampf verweist auch schon Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 24. Vgl. Ereck, V. 1784– 1793/790 – 799: doch het er das alte spere / seines Schwehers gehalten here / üntz an die jungsten fart. / darumb het er es dar gespart: / gros und gedigen was der schaft. / auch het er seines leibes craft / vil wol enthalten dar, / schone und vil gar. / Als Er das sper ze handt genam – sein Schilt im wol ze halse gezam. Auf die große Bedeutung des Rüstungsthemas für den gesamten Ereck verweist schon Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, deren Hauptthese nach in Erecks mangelhafter Bewaffnung am Romananfang seine „Ausgangsschuld“ (ebd., S. 84) zu sehen sei, die er u. a. im Kampf mit dem (ungerüsteten) treulosen Burggraf sowie den rüstungslosen Riesen tilge: „In ihnen begegnet Erec […] seinem vergangenen unritterlichen Dasein“ (ebd., S. 90).
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zeitig um das Leben ihres gesellen (V. 1846/852) fürchten, doch beflügelt ihr schöner Anblick Ereck dermaßen, dass er das Duell – gemäß der „für den Artusroman topische[n] Verbindung von schönster Frau und bestem Kämpfer“²²¹ – schließlich für sich entscheiden kann.²²² Im Gegensatz zu Yders brutalen Ankündigungen im Vorfeld lässt Ereck als Sieger allerdings genâde walten (V. 1949/955): So schenkt er dem um Erbarmen wimmernden, bereits ohne helm am Boden liegenden Gegner das Leben (V. 1945/951) – allerdings nicht ohne ihn noch einmal ausgiebig für seinen übermůt zu tadeln (V. 1977/983).²²³ Der Besiegte, dessen Niederlage sich nicht zuletzt visuell in seiner völlig ramponierten und blutbefleckten Rüstung manifestiert, zeigt sich in der Folge reumütig und willigt sofort in die ihm von Ereck auferlegt půsse (V. 2240/1246) ein, sich persönlich bei Ginover und ihrer Zofe für das Vorgefallene zu entschuldigen (V. 2074– 2087 u. 2208 – 2254/1080 – 1093 u. 1214– 1260).²²⁴ Auch Yders Zwerg Maledicur, dem Ereck zwar aus pädagogischen Gründen zunächst mit der Spiegelstrafe der Amputation seiner Hand droht, kommt letzten Endes ebenfalls ‚nur‘ mit einer Runde Prügel – und damit einer ebenfalls verhältnismäßig milden Vergeltung – davon (V. 2036 – 2066/1042– 1072).²²⁵ Trotz seines großen Erfolgs lehnt Ereck im Anschluss eine Teilnahme an Imains Festmahl ab und macht sich stattdessen sogleich auf den
Mertens, Kommentar, S. 629. Dabei entscheidet mit Scheidel, Evas Kinder (bislang unveröffentlicht), jedoch nicht etwa der „Waffengang über die Schönheit der Frauen“, sondern „die Schönheit der Frauen über […] den Ausgang des Kampfes, indem sie zur formalen Prämisse in einem Kampf wird, der – im Sinne eines Gottesgerichts – eine getroffene Behauptung ‚bewähren‘ muss. Der Verlauf des Zweikampfes ist damit lediglich sichtbarer Index einer präexistenten Hierarchie, der diese lediglich in reale Machtstrukturen (zwischen Iders und seinem Opponenten Erec) übersetzt.“ Ähnlich auch schon Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 155: Erec beweise hier „im Kampf […], dass Enite schöner ist als Iders Dame“. Etwas anders dagegen Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 444, nach der die „Schönheit […] im ritualisierten Kontext der costume als abhängig von der überragenden Kampfesleistung gedacht“ und daher gerade „keine ‚natürliche‘ Schönheit“ sei. Vgl. Ereck,V. 1922– 1933/928 – 939: wederem geviel der gewin, / das was zweifel under In, / üntz daz Eregk, der junge man, / begunde denckhen daran, / was im auf der haide / Ze schanden und ze laide / von seinen getzwerg geschach. / und als Er darzue ansach / die schone frau Eniten, / das half im vast striten, / wann davon gewan Er do / seiner krefte recht zwo. Vgl. Ereck, V. 1949 – 1958/956 – 964, wo Yders Ereck flehend um Erbarmen bittet. Zum Aspekt des Erbarmens siehe weiterhin auch den Erzählerkommentar in V. 2004– 2007/1010 – 1013, zu Erecks vorbildlichem Siegerverhalten weiterhin V. 1945 – 2019/951– 1025. Zu den Flecken und Schäden an Yders Rüstung vgl. Ginovers Beschreibung seines Äußeren bei der Ankunft am Artushof in V. 2176 – 2179/1182– 1185: ‚es mag euch darbei sein erkant: / Im ist der Schilt untz an die hant / vil nach verhauen gar, / sein harnasch aller plútfar.‘ Yders bezeichnet sein früheres Verhalten gegenüber der Königin hier rückblickend als schalckait (V. 2215/1221) und hochmůt (V. 2224/ 1230), für den půsse (V. 2240/1246) zu tun sei. Ginover zeigt sich in der Folge ebenfalls barmherzig und nimmt den reumütigen Yders in die Artusgemeinschaft auf; vgl. V. 2275 f./1281f. Bei der milden Bestrafung des Zwergs handelt es sich, wie schon Mertens, Kommentar, S. 636, hervorhebt, um eine Neuerung Hartmanns gegenüber seiner Vorlage, durch die Erecks Fähigkeit zum Erbarmen noch einmal unterstrichen wird.
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Rückweg in die ärmliche Unterkunft seines Schwiegervaters Coralus.²²⁶ Doch lässt Imain es sich, in seiner so charakteristisch höfischen Umgangsweise, nicht nehmen, Ereck zumindest auf dem Rückritt zu seiner armen herbergen zu begleiten (V. 2361/ 1367) und dort ein kleines Freudenfest für ihn zu veranstalten (V. 2383 – 2391/1386 – 1394). Nach einer weiteren Nacht bei Coralus macht sich das frisch verlobte Siegerpaar dann schließlich auf den Weg zurück zum Artushof. Zuvor stößt Ereck den Herzog Imain allerdings noch ein drittes Mal vor den Kopf, wenn er dessen großzügigen Abschiedsgeschenke – golt und Silber (V. 2404/1410), ross und gewant (V. 2406/1412) sowie einen zweiten Versuch zur Neueinkleidung Enites (V. 2400 – 2403/1406 – 1409) – abgesehen von einem dringend für die Reise benötigten phärd, erneut konsequent zurückweist (V. 2405 – 2410/1411– 1416).²²⁷ Bei diesem auffallend schönen Schimmel handelt es sich nun ausgerechnet um das ehemalige Reittier der Dame Mabonagrims aus der späteren Joie-de la curt-Episode – Enites Cousine (Ir nifteln,V. 2410/1416).²²⁸ Die metonymische Verbindung, die der Erzähler auf diese Weise schon sehr früh zwischen den beiden Frauenfiguren herstellt, ist für meine nachfolgenden Analysen von nicht unwesentlicher Bedeutung. Ich werde zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal ausführlicher darauf zu sprechen kommen. Jedenfalls erhält Enite zum Anlass ihrer Einführung in die Artusgesellschaft von Ginover schließlich doch noch ein prachtvolles neues Kleid nach karlischen siten (V. 2540/1547). In diesem wird sie als zukünftige Königin von Karnant den hundertvierzig Rittern der Tafelrunde präsentiert (V. 2604 – 2687/1611– 1693). Analog dazu wird im Kontext der Hochzeitsfeierlichkeiten am Artushof wenig später dann auch Ereck von dessen König mit einer modernen Prachtrüstung ausgestattet (V. 3239 – 3334/2248 – 2343). Wie meine nachfolgenden Analysen zeigen werden, sind Hartmanns Verhandlungen der höfischen Kleidermoden – über den gesamten Roman, gegen seine altfranzösische Vorlage und in einem sehr viel stärkeren Ausmaß, als es die wenigen einschlägigen Forschungsbeiträge vermuten lassen würden – unter Bezugnahme auf den hofkritischen Diskurs gestaltet. Im Zuge einer literarischen ‚Arbeit am Diskurs‘ werden dessen topische Argumentationsweisen dabei allerdings konstant in kalku-
Ereck hebt in diesem Zusammenhang auch noch einmal die Großzügigkeit des Coralus hervor, der ihn als völlig Unbekannten und trotz seiner schlechten materiellen Situation ohne Zögern bei sich aufgenommen und ihm sogar seine Tochter zur Frau versprochen habe; vgl. dazu im Einzelnen V. 2335 – 2357/1341– 1363 u. 2462– 2468/1468 – 1474. Wie Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik, S. 108, diesbezüglich betont, gilt im Hochmittelalter „zu Fuß gehen müssen [als] Signum für niedere soziale Stellung.“ Vgl. dazu im Einzelnen V. 2408 – 2421/1414– 1427. Mabonagrim ist die am häufigsten verwendete Namensform für die Figur im Ambraser Ereck; in V. 10424 findet sich zudem die alternative Form Mabonabrin, die ältere Textausgaben bevorzugen. Zu den angesprochenen ständisch-familiären Verhältnissen bei Hartmann vgl. weiterhin auch Mertens, Kommentar, S. 631f.: „Enites Mutter […] ist hochadlig, die Schwester des Herzogs Imain (v. 435). Dieser ist der Vaterbruder von Mabonagrins Freundin (v. 9722).“ Die älteren Versangaben bei Mertens entsprechen V. 1429 u. 10703 des Ambraser Ereck.
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lierter Weise mit den konkurrierenden Wissensbeständen des höfischen Diskurses enggeführt, wobei der Roman insgesamt, soweit dies möglich ist, um eine Harmonisierung der gegensätzlichen Diskurspositionen bemüht erscheint. So liegt bereits Erecks Ablehnung der Neueinkleidung Enites durch Herzog Imain einer der verbreitetsten Topoi der christlichen Kleiderkritik zugrunde, wie er sich u. a. auch in der Historia Ecclesiastica und in De eruditione (sowie grundlegend bereits in der Kirchenväterliteratur) nachweisen lässt:²²⁹ nämlich dass es sich bei dem insbesondere für das weibliche Geschlecht typischen Kleiderputz um eine Missachtung von Gottes perfekter Schöpfung des menschlichen Körpers, d. h. eine Ausdrucksform von superbia handle.²³⁰ Als Teil der direkten Figurenrede des Protagonisten findet dieses Argumentationsmuster – leicht, doch bedeutsam modifiziert – auch Eingang in Hartmanns Ereck. ²³¹ Dort erscheint es in Form einer klaren Hierarchisierung von
Ähnlich auch schon Kraß, Geschriebene Kleider, S. 170: „Der von der geistlichen Kleiderkritik inspirierte Diskurs über den Wert einer Person, der sich nicht nach ihrer Kleidung, sondern nach ihrer Tugend bemißt, wird Erec in den Mund gelegt.“ Neben der von Kraß betonten inneren „Tugend“ Enites ist hier jedoch offensichtlich auch der Aspekt ihrer äußeren Schönheit von wesentlicher Bedeutung; dies betont auch schon Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 82. Ich verstehe leib hier also v. a. wörtlich im Sinne von ‚Körper‘; vgl. dazu auch schon Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im Erec, S. 154. Für das Christentum gilt nach Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 216, „der unbekleidete Körper des Menschen nicht als etwas Negatives; denn man sah in ihm die Schöpfung Gottes, aus dessen Hand alles rein hervorgeht. Erst das Hinzutreten geschlechtlicher Begehrlichkeit, das nach dem Sündenfall sich erstmals ereignet, wird als moralisch verwerflich empfunden“. Zur christlichen Annahme, „dass jeder schmückende Eingriff in das Werk Gottes“ Sünde sei, vgl. etwa Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 11. Zur damit einhergehenden per se negativen Konnotation von Kleidung siehe zusammenfassend weiterhin auch Ziringer-Schmelzer, Mode Design Theorie, S. 92– 94, hier v. a. S. 92: „Im christlich-okzidentalen Kulturkreis wirkt ein gewichtiger Bezugspunkt – der im Alten Testament beschriebene ‚Sündenfall‘ Adams und Evas – als Erklärung und Ursache für den Zwang, die primären Geschlechtsmerkmale aus Scham zu bedecken. Beide waren sich im ‚Paradies‘ weder über die Kategorien von Gut und Böse noch ihrer Nacktheit bewusst. Scham fühlten sie erst, als Eva und dann auch Adam die ‚Früchte des Baums der Erkenntnis‘ gegessen hatten. In diesem Moment erkannten sie die Verschiedenheit und schämten sich ihrer Geschlechtlichkeit. Sie griffen nach einem Feigenblatt zum Schutz vor dem Blick des jeweils anderen, dann versteckten sie sich vor Gott unter den Bäumen des Gartens. Der Herr suchte beide und erkannte, dass sie vom verbotenen Baum gegessen hatten, da sie sich nun ihrer Nacktheit bewusst waren. Daraufhin beendete er die ‚paradiesischen‘ Zustände und erlegte ihnen die Qualen des leidenschaftlichen Verlangens, die Schmerzen der Geburt und die Leiden an Kälte und Hunger auf. Er war jedoch gütig, denn ‚Gott, der Herr, machte Adam und seiner Frau Röcke aus Fellen und bekleidete sie damit. Dann sprach Gott, der Herr: Siehe der Mensch ist geworden wie wir; er erkennt Gut und Böse.‘ [Gen. 3,30 f.; J.S.-B.] Der jüdisch-christliche Gott selbst wird in der biblischen Erzählung als erster Kleidermacher genannt, der für die menschlichen Wesen Kleidung fertigte, die aus Tierhäuten bestand. An diese schriftliche Überlieferung schließt letztlich auch der Begriff der Moral an.“ Zu den kleiderkritischen Implikationen insbesondere des Alten Testaments vgl. weiterhin auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 38 – 65, mit ausführlichen Analysen des biblischen Sündenfalls sowie entsprechender antiker und mittelalterlicher Genesis-Kommentare. Wie Kraß hier ausführt, sind innerhalb der diskursgeschichtlich auf den Sündenfall zurückgehenden christlichen „Anthropologie der Kleidung“ zwei Gewandarten zu unter-
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Körper vor Bekleidung nun allerdings ausgerechnet als ein Beitrag zur literarischen Diskussion um das Ideal der höfischen Dame:²³² Er [Ereck; J. S.-B.] sprach: ‚des sol nit geschehen. Er het hart missejehen, Wer ein weib erkande nur bei dem gewande. man sol einem weibe kiesen bei dem leibe, ob si ze lobe stat, Und nicht bei der wat.‘ (V. 1636 – 1643/642– 659)
So wird von Ereck hier durch „die Opposition zwischen lîbe und wât“²³³ zwar einerseits die höfische Kleidung marginalisiert, durch die besondere Art der Formulierung jedoch zugleich auch der argumentativ zugrundeliegende hofkritische Topos (teilweise) in Frage gestellt: Denn durch den mit ob eingeleiteten indirekten Fragesatz, nach dem innerhalb von Gottes Schöpfung zwischen mehr oder weniger lobenswerten Körpern zu unterscheiden sei (V. 1640 – 1643/646 – 649: man sol einem weibe / kiesen bei dem leibe, / ob si ze lobe stat, / Und nicht bei der wat) bringt der Protagonist hier zusätzlich die ausschließlich im höfischen Diskurs positive Bewertungs- und Differenzierungskategorie weiblicher Schönheit ins Spiel.²³⁴ Durch eine solche Verbindung von welt-
scheiden: das irdische Gewand des gefallenen Sünders (homo terrestris) und das himmlische Gewand des sich im Zustand göttlicher Gnade befindenden (d. h. nackten) homo caelesti (Zitat ebd., S. 38). Anknüpfend an das antike Konzept der Kalokagathia inszeniert die hochmittelalterliche Hofliteratur nach Hahn, Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 401, das „hervorragende Kennzeichen des höfischen Menschen, seine Schönheit, die Makellosigkeit seiner äußeren Gestalt“, meistens als einen „Spiegel innerer Vollkommenheit“. Allerdings trifft dies, wie schon Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 129 – 137, hier v. a. S. 131f., im Rahmen einer scharfen Kritik an der älteren Forschung zeigen kann, längst nicht auf alle literarischen Darstellungen des Verhältnisses von Innen und Außen zu: „[F]ür das Mittelalter sind unterschiedliche Positionen anzusetzen: 1. das Ideal einer Kongruenz von Innen und Außen. Innere und äußere Schönheit gehörten zusammen. Der Körper spiegelt das Innenleben der Seele. Dieses Ideal begegnet nicht nur in zahlreichen laikal-höfischen Dichtungen, sondern ist auch in religiös-monastischen wie in medizinisch-naturwissenschaftlichen Schriften belegt. 2. das Wissen um mögliche Diskrepanzen von Außen und Innen (dieses Wissen begegnet ebenfalls in laikalen wie in klerikal-geistlichen Texten). Diese Diskrepanzen konnten unterschiedlich bedingt sein und erfuhren entsprechend unterschiedliche Bewertungen“. Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 155. Zur positiven Wertung von körperlicher Schönheit im höfischen Diskurs vgl. erneut Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 131, nach dem „das Ideal einer Kongruenz von Innen und Außen“, bei dem „[i]nnere und äußere Schönheit“ zusammengehören, „in zahlreichen laikal-höfischen Dichtungen“ belegt ist. Zu dem im Gegensatz dazu grundlegenden Misstrauen insbesondere gegenüber weiblicher Schönheit als Auslöser bzw. Verstärker von sündhaftem Verhalten im theologischen Diskurs vgl. überblicksartig Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 248 – 253, sowie, speziell mit Blick auf Hartmanns Ereck, Volker Mertens: Enites dunkle Seite. Hartmann interpretiert Chrétien. In: Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth
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lichem Schönheitspreis mit einer christlichen Topik, nach deren grundlegenden Vorannahmen nur die Schönheit der Gottesmutter Maria frei von Sündhaftigkeit sein kann, entsteht an dieser Stelle ein irritierendes Moment.²³⁵ Doch die von Ereck vertretene innovative Position, nach der vornehme Kleidung für die Schönheit einer höfischen Dame lediglich eine sekundäre Rolle spiele, wird sich nur wenig später auf der Ebene der Figurenhandlungen bewahrheiten, wenn Ereck über Yders siegt und Enite damit als Schönste am Imainhof den Sperber als Preis erhält.²³⁶ In konsequenter Fortführung der positiven Wertung einer solchen Form von weiblicher Schönheit konstatiert der Erzähler hier zudem, dass es neben der Erinnerung an die erlittene Schmach durch den Peitschenschlag des Zwergs v. a. Enites Anblick gewesen sei, der Ereck im Kampf das doppelte (und damit kampfentscheidende) Maß an Kraft verliehen habe (V. 1929 – 1933/935 – 939: und als Er darzue ansach / die schone frau Eniten, / das half im vast striten, / wann davon gewan Er do / seiner krefte recht zwo).²³⁷ Zusammenfassend lässt sich Erecks interdiskursive Argumentation also wie folgt reformulieren: Die Schönheit einer adligen Dame – die entsprechend einer an die kalokagatische Tradition anschließenden Basisprämisse des höfischen Diskurses grundsätzlich etwas Lobenswertes darstelle – müsse – entgegen dessen topischen Argumentationsweisen – lediglich anhand ihres gottgegebenen Körpers bemessen werden.²³⁸ Der im höfischen Diskurs diesbezüglich generell gleichgewichteten luxu-
Schmid. Hrsg. von Dorothea Klein. Würzburg 2011 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. 35), S. 173 – 189, hier S. 187f. Diese These stammt von Scheidel, Evas Kinder (bislang unveröffentlicht), der den gezielten Einsatz von verzerrten Marientopoi als Teil der erzählerischen Problematisierung der Enitefigur bei Hartmann identifiziert. Vgl. dazu im Weiteren auch V. 2242– 2252/1248 – 1258, wo Yders im Anschluss an seine Niederlage gegenüber Ginover anerkennt, dass Enite trotz ihrer ärmlichen Kleidung die Schönste von allen sei, und damit die von Ereck zuvor vertretenene diskursiv innovative Position auch noch einmal auf der Ebene der Figurenrede bestätigt: ‚Er geweltigt mich mit seiner handt / und hat mich, | Frau, her gesant, / daz ich derselben schulde / gewinne eur hulde / und gar in eurer stee. / dannoch sag ich euch me: / Ir dúrfet umb In nicht sorgen, / Er kumbt euch selbs morgen / und bringet mit Im ein maget, / daz euch niemand saget, / daz er dhain schönere hab gesehen.‘ Vgl. dazu schon Bruno Quast: Getriuwiu wandelunge. Ehe und Minne in Hartmanns ‚Erec‘. In: ZfdA 122 (1993), S. 162– 180, hier S. 169: „Während des Kampfes mit Iders gewinnt Erec Kraft aus dem Anblick seiner Minnepartnerin Enite […]. Die Schönheit der Minnepartnerin ist Bedingung männlicher Kampfeskraft, umgekehrt erhält die Beständigkeit des Kampfdranges die Gunst der Minnedame aufrecht. Enite befällt ein zwîvel, als Erecs kalkulierte Zurückhaltung in der ersten Guivreizbegegnung bei ihr einen Eindruck von Schwäche erweckt.“ Siehe dazu allerdings auch einen späteren Kommentar des Erzählers im Rahmen der Joie de la curt-Episode, der eine ähnliche Art der Schönheitswirkung zu dem Zeitpunkt nur noch mit Bezug auf die Freundin Mabonagrims konstatiert, während für Ereck mittlerweile der Gedanke an die Schönheit und Minne Enites ausreichend ist, um seine Kraft zu stärken (V. 10155 – 10181/9161– 9187). Vgl. dazu auch die kleiderkritische Argumentation Heinrichs von Melk, zitiert nach folgender Ausgabe: Heinrich von Melk: Von des todes gehugde/Mahnrede über den Tod. Mittelhochdeutsch/ Neuhochdeutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einer Einführung in das Werk hrsg. von Thomas Bein [u. a.]. Stuttgart 1994 (RUB. 8907), hier v. a.V. 843 – 852: daz ist an den geirischen wol gewære: / fvr
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riösen Kleidung – ein Denkmuster, das sich wiederum implizit in Imains Angebot zur Neueinkleidung Enites (V. 1627– 1634/633 – 640) sowie explizit in deren Beleidigung als dürftigine (V. 1688/694) durch Yders ausdrückt – dürfe in einem solchen Zusammenhang hingegen eine höchstens sekundäre Bedeutung zugemessen werden.²³⁹ Wie der Fortgang des erzählten Geschehens veranschaulicht, wirkt sich eine solche Form der ‚natürlichen‘ Schönheit zudem ebenso positiv auf die ritterlichen Leistungen im Kampf aus, wie es der höfische Diskurs inbesondere für eine geschmückt-‚verkleidete‘ Form der Schönheit veranschlagt. Im unmittelbaren Anschluss an Erecks derart begründete Ablehnung von Imains Angebot lässt sich dann jedoch ein invers angelegter diskursiver Umschlag feststellen. So verkündet der Held hier nämlich vor der versammelten Imaingesellschaft großspurig, er würde sein Leben auch dann für Enite riskieren, wenn ihre Haut von tiefschwarzer Farbe wäre: Ich lass euch heut schauen, Ritter und Frauen, und wär si nagte sam mein handt und schwertzer dann ein prant, daz mich sper und schwert volles lobes an Ir wert, ob ich verleuse das leben. (V. 1644– 1650/651– 656)
Nachdem (natürliche) weibliche Schönheit also im Ereck erst kurz zuvor explizit als höfischer Wert anerkannt worden ist, wird sie hier zumindest im Hinblick auf ihre Eignung als (alleiniger) Anlass zum ritterlichen Kampf auch schon wieder kritisch hinterfragt. Denn die doppelbödige Aussage Erecks lässt sich einerseits als Ironisie-
ir schephære / nement si, daz er geschaffen hat. / ez sei golt, silber oder wat / oder icht, des iemen gewan, / ez muz allez hinder im bistan. / als ein diep begreiffet dich der iungist tac; / dein guot dich nicht gefriden mac. / dv læst ez allez hinder dein. / so ist dein riwe chupherein. Argumentativ knüpft der Protagonist damit nicht zuletzt an einige frühere Kommentare des Erzählers an, der bei der Einführung der Enitefigur bereits mehrfach lobend auf den Kontrast zwischen deren zerschlissener Kleidung (salbe wat, V. 1330/336; schwache wate, V. 1353/359) und ihrem makellosen Körper (Ir leib schain […] / als sam die lilie, V. 1330 f./336 f.; süesser[] schiltknecht, V. 1355/361) verwiesen hatte. Dabei greift auch schon der Erzähler kombinierend auf höfisierende und theologische Topoi zurück, wenn er Enites dem höfischen Schönheitsideal entsprechendes Äußeres als ein besonders gelungenes Werk Gottes anpreist: ich wäne, got seinen vleiss / an si hette gelait / von schöne und von salikait, V. 1333 – 1335/339 – 341. Chrétien hingegen spricht an entsprechender Stelle, wie schon Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, S. 21, hervorhebt, von der „schöpferischen Handwerkskunst der personifizierten Natur“: Molt estoit la pucele gente, / car tote i ot mise s’antante / Nature qui fete l’avoit; / ele meïsmes s’an estoit / plus de .vc. foiz mervelliee / comant une sole foiee / tant bele chose fere pot; / car puis tant pener ne se pot / qu’ele poïst son contrefaire („Die Jungfrau war sehr liebenswert; die Natur hatte ja auch all ihre Kunst darauf verwendet, ihren Körper zu bilden. Sie selbst hatte sich mehr als fünfhundertmal darüber gewundert, wie sie ein einziges Mal etwas derart Vollkommenes zustande bringen konnte; nachher konnte sie sich plagen, wie sie wollte, es gelang ihr nicht, dieses Muster auf irgendeine Art nachzuahmen“); Erec et Enide, V. 411– 420.
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rung höfischer Schönheitsideale, zu deren zentralen Bestandteilen neben prächtiger Kleidung eben auch ein schneeweißer Teint zählt (während eine schwarze Hautfarbe als hässlich gilt),²⁴⁰ andererseits aber auch als simplifizierende Bezugnahme auf die nur vermeintliche Opposition von Schwarzheit und Schönheit im Hohelied (Cant I,4: Nigra sum, sed formosa) verstehen.²⁴¹ Damit würde an dieser Stelle latent auch der theologische Topos mitschwingen, nach dem jedes Geschöpf Gottes schön, insofern es Teil seiner Schöpfung (und damit ritterlichen Schutzes würdig) sei. In jedem Fall wird mit dieser Bemerkung Erecks das Konzept des bevorstehenden Schönheitspreises am Imainhof subtil in Zweifel gezogen, an welchem der Held, der an Yders seine verlorene Ehre wiederherstellen will, ja auch aus anders gelagerten Gründen als sein Peiniger teilnimmt. Vergleicht man Hartmanns besondere Gestaltung dieser Szene nun abschließend noch einmal systematisch mit seiner altfranzösischen Quelle, Chrétiens de Troyes Erec et Énide, so fallen hinsichtlich der Kleiderdarstellung markante Unterschiede auf. Diese lassen die herausgearbeitete Gewandkritik als ein wichtiges Novum des deutschsprachigen Bearbeiters hervortreten: So ist es bei Chrétien nämlich gerade nicht Erec, sondern Enides Vater Licorant, der ein Angebot ihres Onkels, sie mit besseren Kleidern auszustatten, bereits zu einem noch vor Beginn der Haupthandlung liegenden Zeitpunkt abgelehnt hat; ein Verhalten, das bei seinem Schwiegersohn hier sogar auf großes Unverständnis stößt.²⁴² Zwar lehnt auch Chrétiens Erec später während des Freudenfests auf Licorants Burg noch einmal ein ähnliches Angebot der cosine (V. 1341) Enides ab, allerdings nur, wie er hier explizit erläutert, um die Ehre der Neueinkleidung seiner Verlobten später nicht Guenièvre vorenthalten zu müssen.²⁴³ Und in der Tat bittet der Erec der französischen Fassung die Artuskönigin dann wenig später auch mit Nachdruck darum, sich umgehend um das Erscheinungsbild Enides zu kümmern, die eine Neueinkleidung aufgrund einiger kleiner Löcher an den Ärmeln
Zu den Farbsemantiken von Weiß und Schwarz im Kontext der Schönheits- bzw. Hässlichkeitsbeschreibungen des mhd. höfischen Romans vgl. ausführlich Carolin Oster: Die Farben höfischer Körper. Farbattribuierung und höfische Identität in mittelhochdeutschen Artus- und Tristanromanen. Berlin/New York 2014 (LTG. 6), hier v. a. Kap. 2.4.1 („Enite – Hartmanns von Aue Erec“) und 3.3.4.2 („Wilde Frauen – Wirnts von Grafenberg Wigalois und Heinrichs von dem Türlîn Diu Crône“). Vgl. dazu schon Hahn, Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 405 f. Vgl. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 90. Der Rezipient erfährt von diesem (noch vor Beginn der eigentlichen Handlung stattfindenden) Ereignis allerdings erst mit wesentlicher Verspätung, und zwar im Kontext der ersten längeren Unterhaltung zwischen Erec und Licorant. Nach dem gemeinsamen Mahl spricht der Protagonist in der französischen Fassung seinen Gastgeber nämlich explizit auf die in seinen Augen nicht ganz standesgemäße Bekleidung seiner späteren Verlobten an. Enides Vater führt hier als Gründe für den Aufzug seiner Tochter gegenüber Erec die Armut der Familie sowie die Ablehnung zahlreicher Brautwerber durch seine Tochter an (zu denen vielleicht auch Enides Onkel zählte?), da sie noch auf das Angebot eines roi oder conte („König“ oder „Grafen“) warte; vgl. Erec et Enide, V. 1498 – 1530. Vgl. Erec et Enide, V. 1338 – 1370 u. 1549 – 1566.
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ihres ansonsten bereits prächtigen Gewands hier auch aus Sicht ihres Verlobten überaus nötig hat (V. 1559f.).²⁴⁴ Vor einem solchen Hintergrund drängt sich allerdings zunehmend die Frage auf, warum Hartmanns Ereckfigur als Gast eines sich ihm gegenüber ausschließlich wohlmeinend gebenden Herzogs ein derart feindseliges Verhalten an den Tag legt.²⁴⁵ Die deutschsprachige Fassung liefert dafür keine eindeutigen Anhaltspunkte: weder werden Einblicke in die Gedankenwelt des Protagonisten gegeben, noch findet eine erörternde Kommentierung der erzählten Vorgänge durch den Erzähler oder andere Figuren statt. Im diskursiven Kontext der lateinischen Hofkritik eröffnet sich nun allerdings ein Sinnhorizont, vor dem Hartmanns Darstellung des Imainhofs durchaus schlüssige Konturen gewinnt – nämlich wenn man den Herzog und die ihm untergebenen Ritter als narrative Konkretisierungen des materiell-weltlich ausgerichteten (und deshalb) effeminierten Rittertypus’ begreift.²⁴⁶ Zwei Jahre in Folge konnte Yders vor den Augen des Herzogs und seiner Hofgesellschaft unrechtmäßigerweise den Sperberpreis für seine Dame an sich nehmen, ohne dass sich auch nur ein einziger Herausforderer zum Kampf gefunden hätte.²⁴⁷ Dass dieser Umstand den Herzoghof kritisch perspektiviert, darauf deutet das Verhalten Erecks: Trotz seiner Jugend und kämpferischen Unerfahrenheit zeigt dieser im Rahmen seiner allerersten Aventiure
Vgl. dazu im Einzelnen Erec et Enide,V. 1552– 1561: ‚Et ne por quant, se momi pleüst, / boenes robes asez eüst, / c’une pucele, sa cosine, / li volt doner robe d’ermine, / de dras de soie, veire ou grise; / me ne volsisse an nule guise / que d’autre robe fust vestue / tant que vos l’eüssiez veüe. / Ma douce dame, or an pansez, / car mestier a, bien le veez, d’une bele robe avenant‘ („Und trotzdem, wenn ich [Erec; J. S.-B.] es gewollt hätte, dann besäße sie genug prächtige Kleider; denn eine Jungfrau, ihre Cousine, wollte ihr ein hermelinbesetztes Kleid aus Seidenstoff, bunt oder grau, geben; aber ich wünschte um keinen Preis, daß sie ein anderes Kleid anzöge, ehe Ihr [Guenièvre; J. S.-B.] sie gesehen hättet. Meine liebe Herrin kümmert Euch jetzt darum! Sie braucht ja schöne Kleidung, die zu ihr paßt, das seht Ihr wohl“). Wie erst nachträglich im Zusammenhang mit der Ankunft des Paares in Carnant erwähnt wird, schenkt Guenièvre Enide am Artushof zudem ein besonders prachtvolles Messgewand im Wert von mehr als hundert Silbermark, welches diese, am Hofe Erecs angekommen, dann schließlich dem lokalen Münster spendet (V. 2353 – 2376). Einer ähnlichen kleiderkritischen Erzähllogik folgt, wie Ehrismann, Ehre und Mut, S. 193, allerdings ohne einen Bezug zu der von mir untersuchten Szene in Hartmanns Ereck herzustellen, ausführt, auch eine Episode im Armen Heinrich: „[B]ei der Beschreibung der Meierstochter […] dominiert das Prädikat der güete, des güetlîchen gebâren. Die Bezeichnung reine maget (‚makelloses Mädchen‘, 460 und 915) gepaart mit der engel güete (466), erinnert sogar an den Marienpreis. Daß Ritter Heinrich meint, sie mit schönen Pferden und reichen Kleidern ausstatten zu müssen, zeigt nur seinen Unverstand. Denn erst nackt, nû er si als schœne sach (‚als er sie so schön sah‘, 1241), enthüllt sich an ihm ihre ganze, reine Schönheit, die wiederum seinem Denken eine neue Wendung, eine neue ‚Qualität‘, eine neue Gutheit (eine niuwe güete, 1240) verleiht.“ Dazu passt, dass Hartmann, wie Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 25, herausstellt, Chrétiens idealisierende Schilderungen der Ankunft Erecs „in Lalut (so heißt Tulmein bei Chrétien; der Name der Stadt wird erst in Vers 6268 genannt)“, deutlich umakzentuiert hat und das „fröhliche[] Treiben“ in der Stadt, das in der Vorlage so ausführlich geschildert wird, mit kaum einem Wort erwähnt. Vgl. dazu im Einzelnen auch Erec et Énide, V. 348 – 367. Auf diesen Aspekt verweist bereits Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 21.
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(erste Ritterschaft, V. 2260/1266) mehr Mut als alle in den vergangenen Jahren anwesenden Ritter zusammen, und eben das wirft ein beschämendes Licht auf den Tulmeinschen Hof. Neben seiner offensichtlichen Feigheit sowie der zweifelhaften Freundschaft zu Yders, der, so der Erzähler, nur äußerlich einem gůten Ritter glich[t] (V. 1739/745), erscheint darüber hinaus jedoch auch Imains Gabenpolitik fragwürdig:²⁴⁸ So veranstaltet dieser zwar jährlich ein kostspieliges Hoffest, zu dem er sein gesamtes Volk einlädt; zugleich lässt er jedoch die Familie seiner Schwester – Enites Mutter Karsinefite – so lange in Armut leben, bis sie von Ereck aus ihren prekären materiellen Verhältnissen befreit wird.²⁴⁹ Ein solches Verhalten steht nun wiederum im deutlichen Gegensatz zu dem schon in den Schriften Hilarius’ von Poitiers (um 315 – 367) nachweisbaren theologischen Topos, nach dem nur „derjenige, der dem Darbenden hilft, von seinem Reichtum den richtigen Gebrauch macht.“²⁵⁰ Insofern erscheint Imain hier nicht zuletzt als Verkörperung einer in erster Linie vergnügungsund repräsentationsorientierten – und damit aus christlicher Sicht fehlgeleiteten – milte. ²⁵¹ Ereck hingegen vertritt bereits hier ein karitatives Ritterideal, wenn er wenig später an der Familie seiner Verlobten auch in materieller Hinsicht seine Mitleidsfähigkeit erweist (V. 2462– 2469/1469 – 1474). Im Gegensatz zu Imain ist sein Herz eben nicht herter dann ein stain, denn genau das hatte der Erzähler zuvor mit Bezug auf jeden konstatiert, den das Schicksal der edel armen Mitglieder von Coralus’ Familie nicht erparmen könne (V. 1426 – 1429/432– 435).²⁵² Dass er „fähig und bereit“ ist,
Vgl. hierzu auch den vom Erzähler geschilderten herzlichen Empfang Yders’ am Imainhof in V. 1168 – 1173/174– 179: Nu sahe Er [Ereck; J. S.-B.], wo gegen Im schein / ein haus gehaissen Dulimein, / der wirt der Hertzog Imain. / da rait der Ritter vor Im in. / da ward er emphangen wol, / so | man zu freundes hause sol. Ich gehe in diesem Zusammenhang davon aus, dass Imain aufgrund seines benachbarten Wohnsitzes zu den ‚Wenigen‘ gehört, die nach Aussage des Erzählers von Coralus’ Armut wissen (V. 1415 – 1417/421– 423). Denn diese lässt sich ja bereits am ruinenartigen Aussehen seines Hauses ablesen; vgl. hierzu auch V. 1244– 1256/250 – 262: Nu rait Er also weislos, / untz daz Er verre vor Im kos / ein altes gemeure. / do im die so teure, / die herberg, waren, / eines weges begund Er varen, / der In dar brachte, / wann Er im gedachte / des nachtes beleiben da, / wann er möchte anderswa. / das haus er begunde / und mainet nit, daz Er funde / jemand darinne; sowie V. 1415 – 1417/421– 423: daz auch Ir je also gar / die armůt úberhant gewan, / das weste lützel jeman. Ernst, Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue, S. 222. Vgl. dazu bereits den berühmten Ausspruch Jesu, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme (Markus 10:25). Zum Zusammenhang von Gut/Habe, superbia und Gottesferne in der hochmittelalterlichen Theologie siehe weiterhin Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 427. Ganz anders deutet die hier erzählten Vorgänge Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik, S. 105, der die Armut von Coralus’ Familie als Teil „der von Gott verhängten Sozialordnung“ sieht, gegen die Ereck mit seiner Großzügigkeit verstoße und sich dadurch versündige. Diese These lässt sich allerdings nicht konkret am Text belegen. Zu diesem Aspekt klerikaler Hofkritik vgl. allgemein schon Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 97f.: „Die von Kirchen- und Mönchsreformern geäußerte Hofkritik speiste sich überdies aus der Überzeugung, daß kostspielige Repräsentation, wie sie in der adligen Hofgesellschaft angestrebt und gepflegt wurde, für die Not der Armen und Hun-
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„Werke der Nächstenliebe, der pitié/erbermde, zu tun“,²⁵³ wird der Protagonist dann auch auf dem zweiten Aventiureweg noch einmal verstärkt unter Beweis stellen, wo er den Ritter Cadoc selbstlos vor einer Gruppe sadistischer Riesen rettet (V. 6279 ff./ 5335 ff.), die Köpfe der von Mabonagrim erschlagenen achtzig Ritter angemessen beerdigt (V. 10740 ff./9746 ff.) und deren trauernde Witwen schließlich in die Artusgesellschaft integriert (V. 10779 ff./9785 ff.).²⁵⁴ Ich komme auf diese besondere Dimension
gernden blind mache. […] Kirchliche Kritiker brachten in Erinnerung, daß die geschlossene Adelsgesellschaft der Höfe die sozialen Nöte der Zeit nicht zur Kenntnis nehme. Am Hof, schrieb Peter von Blois [in seinem 14. Brief; J. S.-B.], […] nehme niemand Rücksicht auf Arme und Bettler. Caesarius v. Heisterbach (um 1180–um 1240) überlieferte [in seinem Dialogus miraculorum; J. S.-B.] eine Geschichte, wonach ein Höfling Heinrichs des Löwen einen armen Bittsteller verprügelt und vertrieben habe. Einem zisterziensischen Laienbruder, den diese Roheit [sic] traurig stimmte, sei dann Christus im Traum erscheinen und habe gesagt: ‚Dank dir, daß du gestern so sehr mit mir gelitten hast, als mich der Kämmerer des Herzogs ohne Grund so unbarmherzig geschlagen hat.‘“ Zur zeitgenössischen geistlichen Kritik an der Habgier des Adels als einem „Götzendienst“, der sich nicht zuletzt in der mangelnden Vergabe von Almosen ausdrücke, vgl. weiterhin auch exemplarisch Von des todes gehugde, V. 761– 842. Im Kontext des Gesprächs eines jungen Ritters mit seinem verstorbenen Vater, der aufgrund von Habgier in der Hölle schmort, argumentiert letzterer hier nämlich wie folgt: ‚war sint nu div almusen div du begast? / wa sint die dvrftigen, di dv getrœstet hast? / wenne gedæchte dv mein mit den messen? […] du sitzest ingrozen wirtschefften, / ih læider in des tivels zovm hefften. / man lobt dich weiten indem lande / dar vmbe læide ich die grozen schande. / doch wær ich nicht gar verdampnet, / het ih dir den geichtum niht gesammnet, / da mit dv nv læsterlichen lebest. / swie harte dv wider got strebest: / als ein diep begreiffet dih der iungiste tac; / dein guot dich nicht gefristen mac. / Wil danq wizzen, war ich dich lade? daz tuon ih dar, da dv von tage zetage / indaz inner abgrvnde vellest. / […] Swer an dem reichtum begriffen wirt, / den im div geirischæit gebirt, / dem ist daz himelreich vor bislozzen. / so hat er vbel genozzen, / swaz er guotes ie gewan; / also hat vns der gotes sun chunt gitan: / er sprichet offenleichen, daz / ein œlbende mvge baz / durch einer nadel œre gevarn / denne der reiche chœm in Abrahames barn. / swe mit dem reichtum wil genesen, der frage die phaffen, waz si lesen: / ‚als er nicht enhabe, alsus sol er haben‘; vnt enbit im daz niemen sage, / ob er in niezen sol eine: mache in allen den gemæine, / die sein gern in got. / sant Paulus, der gotes bot, / sprichet, ditzes reichtum geririschæit / sei der abgot schalchæit.‘ Silvia A. Ranawake: Verligen und versitzen. Das Versäumnis des Helden und die Sünde der Trägheit in den Artusromanen Hartmanns von Aue. In: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium. Hrsg. von Martin H. Jones, Roy Albert Wisbey. Cambridge 1993 (Arthurian Studies. 26), S. 19 – 35, hier S. 30. Die Forschung hat die besondere Fokussierung des Mitleidsmotivs bislang nur im Hinblick auf den zweiten Aventiureweg als spezifisch für die Hartmannsche Fassung hervorgehoben. Vgl. dazu speziell im Hinblick auf die Cadoc-Episode erneut Ranawake, Verligen und versitzen, S. 30: „Für den französischen Erekroman spielt das Thema eine eher untergeordnete Rolle. Obwohl das Cadocabenteuer Erbarmen als Motivation impliziert (EE, 4401– 04), tritt pitié nicht als Leitbegriff auf.“ Noch deutlichere Umakzentuierungen im Hinblick auf Erecks (und Enites Mitleidsfähigkeit) konstatiert weiterhin Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 64, mit Blick auf die Joie de la curt-Episode: „Die bedeutendste inhaltliche Neuerung Hartmanns ist die Einführung der achtzig Witwen. Damit rückt Hartmann das Mitleidsmotiv in den Mittelpunkt, das bei Chrétien keine Rolle spielt. Das führt bei Hartmann zu der paradoxen Situation, daß Erec und Enite an der ‚Freude des Hofes‘, die Erec dem Königshof in Brandigan wiedergibt, als einzige keinen Anteil nehmen.“ Auch Gottzmann, Die Artus-
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der Ereckfigur bei Hartmann noch ausführlicher zurück.²⁵⁵ Indem er Imains Kleidergaben und sein Übernachtungsangebot wiederholt zurückweist, verweigert der Held sich hier jedenfalls nicht zuletzt der Eingliederung in das gemach- und materialistisch orientierte Wertesystem des tulmeinschen Hofs, und geht aus der Episode so nicht nur als kämpferisch, sondern auch als moralisch Überlegener hervor.²⁵⁶
3.2.2 Verkleidete Schönheit: Enites Investitur am Artushof und das verligen In zunächst widersprüchlich anmutender Weise steht der von Ereck am Romananfang explizit geäußerten Kleiderkritik (und der sich damit verbindenden impliziten Kritik an den Normen des Imainhofs) die nur wenige hundert Verse später ausführlich geschilderte Neueinkleidung Enites am Artushof gegenüber. Zahlreiche Verse verwendet Hartmanns Erzähler im Rahmen dieser Szene auf die Beschreibung der neuen Gewänder der zukünftigen Königin von Karnant, deren Prunk und modische Details: die Frau [Ginover; J. S.-B.] mit der kron Irn lieben gast Si klaidet, wann da was beraitet vil reiches gewant. Si näet selbs mit Ir handt in ein hemede das magedin, das was weiss seidin. das hemede Si bedackte, daz man es loben machte, mit einem rock wol geschniten nach karlischen siten,
epik der hochhöfischen Zeit, S. 104, bezeichnet Ereck beiläufig als Vertreter eines „karitativ ausgerichtete[n] Rittertum[s], das die Voraussetzung für ideales Herrschen ist.“ Hierbei handelt es sich bezeichnenderweise erneut um eine Abweichung Hartmanns von seiner altfranzösischen Vorlage. Wie schon Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 120, hervorhebt, findet die höfisch-glanzvolle „Siegesfeier“ bei Chrétien nämlich in Lut (dem altfranzösischen Pendant zu Tulmein) und nicht bei Erecks Schwiegervater Licorant statt. Zudem blende Hartmann bei den Festschilderungen „gegenüber Chrétien allen höfischen Glanz ab“ (ebd.). Das unritterliche Laster des gemachs bildet eines der Leitmotive des Ereck: Zu große, ja sündhafte Bequemlichkeit ist es, die der Erzähler Ereck im Zusammenhang mit dem verligen vorwirft (V. 3924– 3928/2930 – 2934), und ebendieses Verhalten wird der Protagonist im Verlauf seines zweiten Aventiurewegs so vehement zu vermeiden suchen, dass es ihn einmal sogar fast das Leben kostet. Vgl. dazu die in gesundheitlicher Hinsicht verfrühte Abreise Erecks vom Artushof nach der Heilung durch Famurgans Pflaster sowie sein daraus resultierender Scheintod im Anschluss an die Befreiung Cadocs (V. 5251– 5743/4257– 4749). Eine Geringschätzung von materiellem Besitz äußert Ereck zudem schon bei den Verhandlungen mit Coralus um die Hand seiner Tochter (V. 1570 – 1575/576 – 581): Ir armůt höre Ich euch klagen. / der sült Ir stille gedagen. / es schadt euch nicht gegen mir, / wann Ich Irs gůts wol empir. / auch het ich einen schwachen můt, / näme ich fúr meinen willen gůt. Auf diese ebenfalls von der Vorlage abweichende Dimension der Figurenkonzeption (d. h. Erecks „Geringschätzung von Besitz“) und die zitierte Textstelle verweisen schon Cormeau/Störmer, Hartmann von Aue, S. 180 (Zitat ebd.).
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weder ze eng noch ze weit: der was ein grüener sameit mit spanne praiter liste, daz si sich in priszte, mit gespúnnem golde, baidenthalbe so man solde, von jetweder hende an der seiten ende. auch ward der Frauen Eniten gegúrt umb Ir siten ein rieme von Iberne, den tragen die frauen gerne. für Ir prust ward gelait ein heftel, wol handes prait, das was ein gelfer Rubin. doch überwant Im seinen schin die magt vil beigarbe mit Ir liechten varbe. der rockh was bevangen, mit Mantl behangen, der im ze masse mochte sein: das gefille härmelein, das dach ein reicher sigelat. dise künigkliche wat was gezobelt auf die handt. ein porte Ir har zusamen pant, der was ze masse prait, kreutzweise úber das haubt gelait. so gůt was des schäppeli schein, es mocht von porten nit pesser sein. Ir klaid was reich, si selber gůt. (V. 2530 – 2571/1537– 1578)
Überaus deutlich treten in diesen ausführlichen descriptiones der neuen Kleider Enites höfisierende Begrifflichkeiten und Argumentationsmuster hervor: So drückt sich einerseits in der wiederholten expliziten und impliziten Aktualisierung des zentralen Werts der mâze hinsichtlich des perfekten Schnitts von Kleid (V. 2539 – 2541/ 1546 – 1548: mit einem rock wol geschniten / […] weder ze eng noch ze weit), Mantel (V. 2560 f./1567 f.: mit Mantl behangen, / der im ze masse mochte sein) und Haarborte (V. 2566f./1573f.: ein porte Ir har zusamen pant, / der was ze masse prait) die für den höfischen Diskurs so typische „Interdependenz von sittlicher Zucht und Ästhetik“²⁵⁷ aus. Ein eleganter Kleidungsstil erscheint so als eine visuell ansprechende Aus-
Zu diesem „wesentlichen Aspekt“ der curialitas vgl. erneut Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 96, nach dem „sich die ethischen Anforderungen wie zuht, mâze, disciplina, mezzura auch einem ästhetischen Bedürfnis verdanken. Schön ist, was richtig geordnet ist, ob dies nun Gefühle oder Körperteile sind. Die Ethik erweist sich so als Ästhetik.“
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drucksform von allgemeiner Selbstkontrolle (disciplina/elegantia morum).²⁵⁸ Im Anschluss an die Tradition der Kalokagathia konstatiert Hartmanns Erzähler hier zudem eine positive Kongruenz zwischen dem prachtvollen Äußeren und dem tugendhaften Inneren Enites: Ir klaid was reich, si selber gůt (V. 2571/1578).²⁵⁹ Diskurstypisch erfüllen Ginovers Kleidergeschenke, wie bereits Andreas Kraß anmerkt, darüber hinaus jedoch auch bestimmte standessymbolische Funktionen, insofern sie Enites durch die Verlobung mit Ereck bedingte „Standeserhöhung sichtbar machen“.²⁶⁰ Auf eine ebenfalls diskurstypische Verschränkung von Kleidergeschenken und milte/êre im Rahmen dieser Szene verweist schließlich Dietmar Peil, denn die neuen Gewänder Enites zeigen natürlich auch die Freigebigkeit der Königin und damit stellvertretend auch des Königs [an], eine Freigebigkeit, zu der das Herrscherpaar gegenüber den Angehörigen des Hofes gleichsam verpflichtet ist. […] Kurzum: Die kostbaren Gewänder […] zeichnen sowohl die Empfängerin als auch die Spenderin aus.²⁶¹
Wiederholt hat die bisherige Forschung auf den vermeintlich starken Kontrast zwischen diesen elaborierten descriptiones höfischer Kleiderpracht und Erecks Verhalten am Imainhof verwiesen.²⁶² Dabei wird jedoch fast ausnahmslos von einem rein höfisierenden Charakter der Investiturszene am Artushof ausgegangen – eine Annahme, die die fortgesetzte Bezugnahme der Erzählung auch auf Topoi der lateinischen Hofkritik außer Acht lässt.²⁶³ So ist im Hinblick auf die Fassung Hartmanns bereits der
Zum Zusammenhang von Kleiderwahl und Selbstkontrolle im höfischen Diskurs vgl. erneut Ehrismann, Ehre und Mut, S. 71. Als Anknüpfung an die Tradition der Kalokagathia interpretiert diese Stelle bereits Ehrismann, Ehre und Mut, S. 71 f. Ähnlich weiterhin auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 172. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 172; ähnlich zuvor auch schon Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 84, und Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 121. Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 130. Diese Ausführungen Peils beziehen sich eigentlich auf Chrétiens Erec et Enide, lassen sich darüber hinaus aber auch auf die Hartmannsche Fassung übertragen. Gert Kaiser: Textauslegung und gesellschaftliche Selbstdeutung. Aspekte einer sozialgeschichtlichen Interpretation von Hartmanns Artusepik. Frankfurt a. M. 1973, S. 72, deutet Ginovers Geschenke in ähnlicher Weise sozialgeschichtlich und sieht darin einen positiven Ausdruck des guten ‚Lehnsverhältnisses‘ zwischen Ereck und seinem Herren Artus. Zu dem aus lehnsrechtlicher Sicht etwas kuriosen Verhältnis zwischen Ereck und Artus, der von diesem zwar kein Land erhält, aber dauerhaft an dessen Hof lebt und dort offenbar auch seine Ausbildung zum Ritter erhalten hat, vgl. ausführlicher ebd. Zur großen Bedeutung des Motivs der Neueinkleidung von Gästen für die mhd. höfische Literatur vgl. weiterhin Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 185. So etwa Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 82, die hier anknüpfend an Rolf Endres: Studien zum Stil von Hartmanns Erec. München 1961, argumentiert. So etwa Kraß, Geschriebene Kleider, S. 170 – 176, hier S. 176, der Enites Investitur als Inszenierung eines „himmlische[n] Naturereignis[ses]“ interpretiert. Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang bildet Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne Problematik, S. 104, der am Beispiel des durch den „Topos der affektierten Bescheidenheit“ abgekürzten Schönheitspreises ebenfalls auf die auffällige Ambivalenz der descriptiones der Investitur-Szene verweist: „[Hartmann] schildert über fast fünfzig
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Umstand augenfällig, dass die vorliegenden Kleiderbeschreibungen nur halb so lang wie diejenigen der französischen Vorlage ausfallen.²⁶⁴ Noch wesentlich bedeutsamer erscheint hier allerdings der Umstand, dass Enites körperliche Schönheit nur von Hartmanns Erzähler noch einmal nachdrücklich als jedem ihrer neuen Kleidungsstücke überlegen herausgestellt wird:²⁶⁵ für Ir prust ward gelait ein heftel, wol handes prait, daz was ein gelfer Rubin. doch überwant Im seinen schin die magt vil beigarbe mit Ir liechten varbe. (V. 2553 – 2558/1560 – 1565)
Diese im Roman, wir erinnern uns, erstmals von Ereck gegenüber Imain hervorgebrachte Argumentation scheint dann auch noch einmal in V. 2579 – 2582/1586 – 1589 durch, wo der Erzähler sich durch die distanzierte Formulierung so man saget (V. 2580/ 1587) von der positiven Meinung der Artusgesellschaft zu Enites neuen Gewändern abgrenzt.²⁶⁶ Wie zuvor Imain und Yders gehen deren Mitglieder nämlich im unge-
Verse hinweg Enites Pracht und Schönheit, um dann plötzlich zu erklären, er könne sie nicht schildern […]. Hartmann erklärt sich außerstande, Enite zu rühmen, weil da nichts Rühmenswertes ist.“ Dazu passt der Befund Peils, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 136, nach dem das Kleidermotiv bei Hartmann episodenübergreifend deutlich weniger Raum erhält als in der altfranzösischen Vorlage: Denn Chrétien „erwähnt mehrfach im Erec-Roman Kleiderschenkungen, die die Freigebigkeit der Spender bezeugen. Während Hartmanns Erec dem Schwiegervater nur Silber und Gold schickt, nennt Chrétien auch Kleider Stoffe und Pelze. Für das Kleidergeschenk, das die Spielleute nach der Hochzeit erhalten, begnügt Hartmann sich mit dem Terminus wât, während Chrétien ins Detail geht und Stoff- und Pelzarten anführt. […] Enides Kleidergabe in der Kirche von Karnant übergeht Hartmann stillschweigend. […] Die verschiedenen Kleidergeschenke im Zusammenhang mit der Trauer um Erecs toten Vater und anlässlich der Krönung in Nantes wie auch die ausführliche Beschreibung von Erecs Festgewand haben bei Hartmann keine Entsprechung, da er in diesen Punkten den Handlungsablauf ändert.“ Speziell zu Hartmanns deutlichen Kürzungen der Kleiderbeschreibungen im Rahmen der Investitur Enites vgl. bereits Mertens, Kommentar, S. 639 f., der diese jedoch in einem weniger großen Modeinteresse des deutschen Publikums begründet sieht. Die Unterschiede im Umfang hebt zuvor beiläufig auch schon Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 121, hervor. Zu weiteren Umakzentuierungen Hartmanns im Hinblick auf die Investitur Enites vgl. außerdem auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 174. Diesen Umstand bemerkt bereits Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 131, Anm. 37: „Die Auszeichnung erfolgt nicht nur in dem Sinne, daß der schönsten Frau das schönste Kleid zuerkannt wird, sondern daß diese Frau das schönste Kleid noch übertrifft“. Vgl. zu dieser Szene außerdem auch Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, S. 73, und Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 84. Bei Chrétien findet sich zwar ein ähnlicher Vergleich, der sich jedoch nur auf den dem goldenen Bänderschmuck überlegenen Glanz von Enides blondem Haar bezieht (V. 1636 f.). An früherer Stelle bemerkt der altfranzösische Erzähler hingegen ganz explizit, dass Enides Schönheit durch ihr neues Gewand gesteigert (!) werde (V. 1632– 1635). Vgl. hierzu auch erneut den ebenso argumentierenden früheren Erzählerkommentar in V. 1353 – 1356/359 – 362: wie si schin in schwacher wate, / so waiss ich, daz weib noch man / süessern schiltknecht nie gewan / dann Ereck Filderoilach.
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brochenen Anschluss an höfisierende Kleidertopoi von einer schönheitssteigernden Wirkung der neuen Gewänder Enites aus – eine Meinung, die der Erzähler hier wohl nicht umsonst nur in der dritten Person referiert, ohne sich dabei selbst mit einzuschließen:²⁶⁷ also schon schain die maget in schwachen klaidern, so man saget, daz si in so reicher wat nu vil wol ze lobe stat. (V. 2579 – 2582/1586 – 1589)
Konsequent und rhetorisch geschickt wird sodann auch mit einem „gezielten Einsatz des Unfähigkeitstopos“ durch den Erzähler jegliche weitere Rühmung der neuen Kleider Enites umgangen:²⁶⁸ Vil gerne ich wollte loben, als ich solte. nu bin ich nicht so weiser man: mir gepreste daran, solher sin ist mir unkunt. […] doch beschaid ichs, so ich peste kann und als ich es vernomen han. so was ausser streite: es war die frau Eneite die aller schöneste magt,
Diese Art der Abgrenzung von den topischen Argumentationsweisen des höfischen Diskurses erinnert an einen früheren Kommentar des Hartmannschen Erzählers (V. 1325 – 1329/331– 335), in dem dieser sich ebenfalls durch die distanzierte Formulierung man sagt von der Sichtweise abgrenzt, eine gute Ehefrau müsse über Reichtümer und prächtige Kleider verfügen: man sagt, daz nie kind gewan / ein leib so gar dem wúnsche geleich. / und war si gewesen reich, / so gepräst nicht Irem leibe / Ze loblichem weibe. Mertens, Kommentar, S. 640; ähnlich auch Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 160. Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, S. 55, verweist darüber hinaus darauf, dass mit Iberne – dem Herkunftsort von Enites Gürtel (V. 1558f.) – nicht unbedingt (das in den meisten Übersetzungen angeführte) Irland gemeint sein müsse, sondern etwa auch „Hiberia an der Schwarzmeerküste“ in Frage komme, welches antike Autoren wie Servius als „[e]in Land, woher man nicht nur bunte Stoffe bezieht, sondern auch Drogen“, beschreiben. Als weitere Möglichkeiten zieht Okken (ebd., S. 56 f.) zudem einen intertextuellen Bezug Hartmanns auf den Anfang des „Alexanderroman[s] des Archipresbyters Leo“ oder Plinius Naturalis Historia in Betracht, die beide sehr pejorativ von einem antiken „Bergvolk im späteren Georgien“, den sog. Ibires, erzählen. Okken (ebd., S. 57 f.) hält dazu abschließend fest: „[G]ar nicht exotisch genug kann die Herkunft der Wertstücke sein, von fern her müssen sie kommen, vom Rande der Welt, von den Pforten der Hölle: So ließen sich Hartmanns ‚Erec‘-Verse 1558 – 1559 von belesenen Herren verstehen. […] Wem dieses Wissen abging, dem war aber mit der Allerweltsbedeutung des Ausdrucks von Iberne nicht schlecht geholfen. Enites Gürtel kam dann schlicht aus Irland, einer fernen Insel im nordwestlichen Ozeangürtel des Erdkreises. Der rieme kam aus der Ferne, das mochte genügen“. Die älteren Versangaben bei Okken entsprechen V. 2551 f. des Ambraser Ereck.
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die je, so man sagt, in des kuniges hof kam. (V. 2583 – 2603/1590 – 1610)
Vor diesem Hintergrund wäre die These von Andreas Kraß, dass die Beschreibung von Enites neuen Kleidern durch den Erzähler ohne jegliches „Naserümpfen“ erfolge, hier noch einmal zur Diskussion zu stellen.²⁶⁹ Denn vielmehr scheint mir ebendiese descriptio Ausgangspunkt für eine besonders umfassende Umsetzung hofkritischer Topoi in erzähltes Geschehen zu sein: Denn die schöne – und von nun an eben auch luxuriös und im französischen Stil gekleidete (V. 2540/1547) – Enite fungiert nur wenig später im Kontext des bei Hartmann besonders drastisch gestalteten verligens als Auslöser, ja Verkörperung von Wollust und sündhafter Trägheit.²⁷⁰ Dabei ist die Antwort auf die Frage, warum Enites Schönheit, die Ereck im Kampf gegen Yders noch das entscheidende Maß an Kraft verleihen konnte, nur wenig später ausgerechnet zu dessen Entmannung führt, m. E. eben gerade im Umstand ihrer Neueinkleidung zu suchen:²⁷¹ Konfrontiert mit der ‚neuen‘ Enite beginnt Erecks site sich ausgesprochen Kraß, Geschriebene Kleider, S. 173. Einer solchen Lesart stehen nicht zuletzt auch die z. T. wörtlichen Anlehnungen der Szene an den Eneasroman Heinrichs von Veldeke entgegen, wo sich die liebeskranke Dido durch das Anlegen ähnlicher Kleidung auf die Liebesjagd vorbereitet. Vgl. dazu zusammenfassend Ehrismann, Ehre und Mut, S. 75: „Hartmanns Liste: Untergewand, Obergewand, Gürtel, Mantel, Haarborte folgt dem ‚Modell Dido‘, nicht der Darstellung Chrétiens (vgl. ‚Erec et Enide‘ 1587– 1672) und ganz gegen seine Gewohnheit strafft er die weitausladende Passage seiner Quelle.“ So weiterhin auch Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, S. 52, und Mertens, Enites dunkle Seite, S. 184. Vgl. dazu im Einzelnen auch Heinrich von Veldeke: Eneide. Mit Einleitung und Anmerkungen hrsg. von Otto Behaghel. Heilbronn 1882, V. 1687– 1755. Zusammenfassend zur besonderen Drastik der verligens bei Hartmann siehe Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 35: „Noch mehr als Chrétien betont Hartmann, daß Erec durch sein Verhalten jegliche Achtung verlor, ‚als sei er nie ein Mann geworden‘ (2935), und daß er sich ganz dem gemach (2967) ergibt, dem verantwortungslosen Nichtstun […]. Nur bei Hartmann steht, daß der Hof dabei verödet, weil die Ritter wegziehen und weil es keine höfische vreude mehr gibt.“ Zudem seien Ereck und Enite in der deutschen Bearbeitung zu diesem Zeitpunkt schon König und Königin – ihr Vergehen wiege damit also schwerer; vgl. ebd., S. 36. Die älteren Versangaben entsprechen im Ambraser Ereck V. 3927/3959. Zu dem von Hartmann wiederholt verwendeten Begriff des gemachs (vgl. dazu etwa V. 3925/2933 o. 3959/2967) als mhd. Pendant zur Todsünde der acedia vgl. grundlegend außerdem Ranawake, Verligen und versitzen. Zu Hartmanns Ereck als einem Roman über die Mannwerdung des Protagonisten vgl. v. a. die gendertheoretische Arbeit Kleins, Geschlecht und Gewalt. Zur ambivalenten Darstellung des verligens bei Hartmann vgl. weiterhin prägnant Markus Stock: Figur: Zu einem Kernproblem historischer Narratologie. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in medieval philology. 19), S. 187– 203, hier S. 200: „Zum Verhalten Erecs gibt es explizite erklärende Textsignale, etwa die Äußerung Enites, dass sie den Ehrverlust als ihre Schuld begreift, die Aussage im Nachhinein, dass Erec seine Frau prüfen wollte, und eben auch die Aussage, dass die Behandlung Enites âne sache (V. 6775) war, also keine Begründung hatte. Diese Textsignale sind aber uneindeutig, und verstärken in ihrer Widersprüchlichkeit eher die Ambivalenz […] von Erecs Verhalten.“ Anders als Stock gehe ich im Folgenden allerdings nicht von einer konstitutiven „Unlesbarkeit“ (ebd.) der entsprechenden Verhaltensweisen des Protagonisten aus, da sich im Kontext der lateinischen Kleiderkritik diesbezüglich durchaus schlüssige Konturen ergeben.
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schnell zu wandeln, als ob Er nie warde der man (V. 3926f./2934f.). Hartmann arbeitet diesbezüglich also mit dem „Prinzip aufgeschobener Sinngebung“:²⁷² Die Folgen der Investitur Enites am Artushof werden erst mit einiger Verspätung im Umgang mit ihrem frisch angetrauten Ehemann verdeutlicht, auf den ihre verkleidete Schönheit von nun an ein christlich-moralisch wie auch gesellschaftlich ausgesprochen problematisches Verführungspotenzial ausübt: Ereck wante seinen leib grosses gemaches durch sein weib. die minnet Er so sere, daz Er aller ere durch Si aine verphlag untz daz Er sich so gar verlag, daz nieman dhain achte auf In gehaben machte. (V. 3958 – 3965/2966 – 2973)
Doch auch Enite scheint von der Wirkung ihrer neuen Prachtgewänder nicht ganz unbeeinflusst zu sein. Denn wie der Erzähler anmerkt, ist ihr heimliches Verlangen nach dem Geliebten demjenigen Erecks im unmittelbaren Vorfeld der Hochzeit gleich (V. 2845/1852): Beide begehren einander so sehr wie der habiche seine Beute (V. 2855 – 2858/1861– 1864).²⁷³ Der bis heute anhaltenden Forschungsdiskussion um die Schuld an der schweren Krise des Paars in Karnant wäre aus kleiderkritischer Perspektive somit hinzuzufügen, dass ein wichtiger vestimentärer Grundstein für das verligen offensichtlich schon im Rahmen der Investitur Enites am Artushof gelegt wird.²⁷⁴
Dieser Begriff stammt von Mertens, Enites dunkle Seite, S. 178. Vgl. dazu auch V. 2865 – 2868/1872– 1875 des Ereck: Ir baider gedanck stůnd also: / ‚Ja wirde ich nimmer fro, / Ich gelige dir noch bei / Zwo nacht oder drei.‘ Mertens, Enites dunkle Seite, S. 183, stellt in dieser Hinsicht eine Verbindung zur Chrétienschen Beschreibung der Hochzeitsnacht her: Hartmann habe demnach den dort ebenfalls zum Einsatz kommenden Habichtsvergleich erzählchronologisch nach vorn versetzt, um den sexuellen Aspekt stärker zu betonen: „Erecs durch Enites bezwingende Schönheit hervorgerufenes vorzeitiges Verlangen, das von ihr erwidert wird, sprengt die gesellschaftliche Ordnung des Begehrens; damit wird auf das verligen vorausgedeutet. Zudem erscheint Enite nicht nur als Beute, sondern auch als Jägerin.“ Die Ungewöhnlichkeit eines solchen Vergleichs betont weiterhin auch schon Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 30: „Ein so unverhüllter Ausdruck sexueller Begierde, auch von seiten der Frau, findet man nicht oft in einem Artusroman.“ Die Frage nach der Schuld bzw. Unschuld der Enitefigur am verligen bildet nach wie vor einen zentralen Aspekt der Ereck-Forschung. Neben v. a. an Hugo Kuhn: Dichtung und Welt im Mittelalter. 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 150, anknüpfenden Figurendeutungen („Wer sie, entgegen Hartmanns ausdrücklicher Versicherung [6775], auch nur einer Mitschuld zeiht, versündigt sich an einer der reinsten Frauengestalten in Mittelalter und Neuzeit“) wird, wie Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 88 f., zusammenfasst, „bereits seit den siebziger Jahren […] die Auffassung vertreten, daß Enite in Karnant hätte reden sollen, als sie erfuhr, daß Erec seinen guten Ruf in der Hofgesellschaft verloren hatte. […] Daß sie es nicht getan hat – Enite fürchtete, Erec ‚dadurch zu verlieren‘ (3012) –, darin liege ein Versagen, das Enite auf der âventiure-Fahrt dadurch wiedergutmachen müsse, indem sie zum Bewußtsein ihrer Mitverantwortung gelangt.“ Eine solche Position vertreten in der neueren Forschung etwa Quast, Getriuwiu wandelunge, und Britta Bussmann: Dô sprach diu edel künegîn. Sprache, Identität und Rang
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Hartmanns Ereck rückt insofern also nicht nur die materielle Weltlichkeit der höfischen Kleidermoden und ihre große Bedeutung für das weibliche Schönheitsideal in ein zwiespältiges Licht, sondern darüber hinaus auch deren von der lateinischen Hofkritik angeprangertes Potenzial, Unkeuschheit zu erregen.²⁷⁵ In dieser u. a. in die Kleiderdarstellung eingelassenen Inszenierung der Enitefigur als einer zur Sünde anstachelnden Verführerin bestätigt sich nicht zuletzt eine frühere Aussage des Erzählers, der sich nach Erecks Kampf gegen Yders einmal ganz allgemein „über das Wesen der Frauen“ auslässt.²⁷⁶ Diese gäben „sich in jungen Jahren“ zwar zunächst „schüchtern“, nützten dann „später aber ihre erotische Anziehungskraft auf Männer geschickt zu ihrem eigenen Vorteil“ aus:²⁷⁷ wann das ist Ir aller site, daz sie zu dem ersten schamig sindt und pleig sam die kind. darnach ergreifen si den list, daz si wol wissen, was In gút ist, und daz In lieb wäre, daz si nu dúncket schwäre, und daz si nämen, wo si sein recht bekämen, einen súessen kuss für einen schlag und zwo guete | nacht für einen üblen tag. (V. 2317– 2327/1323 – 1333)
in Hartmanns ‚Erec‘. In: ZfdA 134 (2005), S. 1– 29. Dieser Diskussion der Forschung wäre aus kleiderkritischer Perspektive hinzufügen, dass Enite zusätzlich auch durch die ihr von Ginover überreichten (d. h. nicht selbstgewählten) neuen Gewänder eine gewisse Form der Mitschuld am späteren verligen trägt. Diese subtile Inszenierung eines temporären Zustands der Gottesferne bei dem frisch verheirateten Paar drückt sich bereits in Hartmanns konsequenter Auslassung religiöser Motive bei der Ankunft in Karnant aus, die in der Vorlage hingegen ausführlich behandelt werden (d. h. die Begrüßung durch achtzig Geistliche, Erecs und Enites Gebete und Opfergaben im heimischen Münster); vgl. dazu im Einzelnen Erec et Enide, V. 2884 u. 2318 – 2380. Silvia Reuvekamp: Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext. Ein Beitrag zur Poetik des höfischen Romans. Berlin/New York 2007, S. 80. Ebd. Der in Rede stehende Erzählerkommentar wird, wie Reuvekamp (ebd.) hervorhebt, zudem mit einer „Anspielung auf ein Sprichwort ab[geschlossen], das vor allem in seiner altfranzösischen Verwendungstradition vor einer Heirat aus Liebe warnt (Qui se marie par amours, a bonnes nuits et mavais jours). Diese stelle dem Mann zwar ein erfülltes Sexualleben in Aussicht, führe aber wegen der Macht, die die Frau damit über ihn gewinne, im alltäglichen Leben zu Problemen“. Einen frühen Hinweis darauf, dass Enites neues Erscheinungsbild ein Problem darstellen könnte, liefert zudem auch die Reaktion der Ritter der tavelrunde (V. 2609/1616), denen Enite im unmittelbaren Anschluss an die Investitur vorgestellt wird. Wie der Erzähler berichtet, löst ihr Anblick hier nämlich Erschrecken und Momente der Selbstvergessenheit aus, eine Art der Reaktion, von der zuvor noch bei keinem ihrer männlichen Betrachter die Rede war, und die bereits eine ungute Wirkungsdimension der Kleidung impliziert: Von Ir schöne erschracken die / zu der tavelrunde sassen, / so daz Si Ir selber vergassen / und gaften die magt an (V. 2730 – 2733/1737– 1740); vgl. dazu auch schon Mertens, Enites dunkle Seite, S. 182 f.
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Mit dieser These knüpfe ich an den Kerngedanken der Dissertation Fabian Scheidels Evas Kinder. Mittelalterliche Diskurse von körperlicher Schönheit zwischen aisthesis und Ästhetik an, wonach die Effekte der Erbsündentheologie im Sinne einer Negativbewertung der Rolle der Frau im Hinblick auf das männliche ethische Subjekt grundsätzlich stärker zu veranschlagen sind, als es in der prägenden Forschung älterer Provenienz geschehen ist.²⁷⁸ Speziell mit Bezug auf den Ereck hat eine solche Ansicht in der jüngsten Forschung ansonsten lediglich Volker Mertens vertreten, der mit Bezug auf Hartmanns Umgestaltung der Enitefigur von einem „‚dunklen‘ Subtext“ spricht,²⁷⁹ der sich einerseits aus einer „andersweltliche[n] Dimension“ der Referenz auf keltische Feenmärchen, anderseits aber auch aus intertextuellen Verweisen auf die problematisierenden Verhandlungen der„Liebesjägerin“ Dido bei Heinrich von Veldeke speise.²⁸⁰ Im Kontext der lateinischen Hofkritik lässt sich eine solche Lesart nun zusätzlich auf den Bereich der Kleidung ausweiten, die hier, so meine These, in fataler Weise handlungsmotivierend wirkt.²⁸¹ Insofern wird Enites Ausstattung mit prunkvoller höfischer Kleidung wohl auch nicht zufällig durch die problematischste Frauenfigur des gesamten Artusstoffkreises initiiert:²⁸² Ginover, deren eigenes verligen mit Artus Hartmann wenige Jahrzehnte später quasi als Teil der Festschilderungen seines Iwein nachreicht (V. 78 – 85).²⁸³ Dass es sich bei dieser Problematisierung höfischer
Scheidel, Evas Kinder (bislang unveröffentlicht). Mertens, Enites dunkle Seite, S. 182 f. Ebd., S. 185. Zusammenfassend zur andersartigen Konzeption der weiblichen Hauptfigur bei Hartmann siehe auch ebd., S. 186 – 188. Auf die Spitze treibt eine solche Art der Kleiderdarstellung, etwa hundert Jahre später als Hartmann, dann Konrad von Würzburg in seiner Verserzählung Engelhard. Wie Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 15 – 17, hervorhebt, platziert Konrad hier „direkt vor der Liebesvereinigung“ des ritterlichen Titelhelden mit der Königstochter Engeltrud nämlich „eine ausführliche Körper- und Kleider-descriptio“ (V. 3034– 3097): „Konrad inszeniert Engeltrud nicht nur als Objekt erotischer männlicher Phantasien, sondern macht darüber hinaus kenntlich, dass sie als Subjekt dieses Begehrens agiert. Sie hat sich mit ihrem Hemd ausstaffiert, um Engelhards Lust zu stimulieren und ihre eigene Sehnsucht zu befriedigen.“ Wie Mertens, Kommentar, S. 639, hervorhebt, handelt es sich bei der Eigeninitiative Ginovers bei der Neueinkleidung Enites um eine auffallende Abweichung von der Chrétienschen Darstellung (V. 1559 – 1561), wo es Erec ist, der diese explizit darum bittet. Vgl. zu dieser Szene weiterhin auch Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 128. Auf eine insgesamt deutlich negativere Perspektivierung der Ginoverfigur in Hartmanns Ereck verweist – v. a. im Hinblick auf die zwischen ihr und Famurgan hergestellte Verbindung –weiterhin Mertens, Enites dunkle Seite, S. 179. Überblicksartig zur Ginoverfigur in der Literatur des Mittelalters vgl. weiterhin auch Rudolf Simek: Art. Ginover (I). In: Artus-Lexikon (2012), S. 139 f. Vgl. hierzu Hartmann von Aue: Iwein. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Rüdiger Krohn, Mireille Schnyder. Stuttgart 2012 (RUB. 19011),V. 78 – 85: Der kunech und diu kunegin / di hêten sich ouch under in / zehanden gevangen / und wâren ensamt gegangen / in eine chemenâten dâ / und heten sich slâfen sâ / mêr durch geselleschaft geleit / danne durch deheine trâchheit. Zum hofkritischen Subtext dieser Szene vgl. schon Walter Haug: Das Spiel mit der arthurischen Struktur in der Komödie von Yvain/Iwein. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel, Peter Ihring. Tübingen 1999, S. 99 – 118, hier S. 107: „Das ideale
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Kleidermoden erneut um eine wesentliche Neuerung Hartmanns handelt, zeigen einige markante Abweichungen von der altfranzösischen Vorlage: So trägt Enide bei Chrétien etwa zu keinem Zeitpunkt Lumpen, sondern tritt schon bei ihrer Einführung in das Werk in einem prächtigen Gewand auf, das lediglich an den Ärmeln einige kleine Löcher aufweist (Erec et Enide,V. 400 – 410). In der deutschsprachigen Fassung bedeutet ihre Neueinkleidung dagegen eine drastische äußerliche Veränderung. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang außerdem Hartmanns handlungschronologische Verschiebung der ersten „sinnliche[n] Momente“ des Paars:²⁸⁴ Denn während in Chrétiens Erec et Enide (V. 1466 – 1485) schon im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Heimritt vom Imain- zum Artushof von vorehelichen Küssen sowie der erotischen Wirkung von Enides Hüften und sonstigen Körperteilen auf Erec die Rede ist, wechseln die beiden frisch Verliebten bei Hartmann hier noch lediglich freuntliche[] plicke (V. 2484/1491) aus der Distanz.²⁸⁵ Vom Aufkommen eines starken sexuellen Begehrens ist dagegen erst unmittelbar vor der Hochzeit die Rede (das heißt, nachdem Enite ihr neues Kleid von Ginover bereits erhalten hat!): die frau Enite raitzt das, die dort als ein Engl sass mit schöne und auch mit güete, daz Eregk sein gemüete vil hertzlichen nach Ir rang. der tage daucht In ze lang, daz Er ze lengern zeiten Ir minne solte peiten, dann üntz an die nachsten nacht. (V. 2835 – 2843/1842– 1850)
Bei Chrétien heißt es an entsprechender Stelle dagegen nur ganz beiläufig, dass Erec die Hochzeit mit Enide kaum abwarten könne – warum genau, bleibt offen – und er daher Artus um die Erlaubnis bitte, das große Fest vorzuziehen und an dessen Hof Bild des arthurischen Festes zeigt irritierende Risse. Ist es typuskonform, wenn Artus und Guenievre sich gleich zu Beginn von der Gesellschaft zu einem Liebesständchen zurückziehen?“ Mertens, Kommentar, S. 639. Ähnlich auch schon Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 27. Diesen Aspekt der Darstellung Hartmanns hebt bereits Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Bd. 1, S. 121, hervor. Er erklärt dies allerdings strukturell damit, dass der erste Kuss bei Hartmann Artus überlassen werden solle, um Enite auf diese Weise erneut idealisierend als Schönste auszuzeichnen. In eine andere Richtung weisen hingegen schon die Ausführungen Bumkes, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 27– 35, hier v. a. S. 35, der hervorhebt, dass Hartmann bei der Ankunft der Verlobten am Artushof außerdem auch ein Gebet Enites am Marien-Altar sowie einen erneuten Schönheits- und Tugendpreis durch den Erzähler getilgt hat. Bezüglich der Hintergründe der Entstehung der Liebe zwischen Ereck und Enite nach dem Sperberkampf betont Quast, Getriuwiu wandelunge, S. 169, mit Recht, dass für den Protagonisten dabei nicht allein die Schönheit seiner Verlobten eine Rolle spiele, sondern vor allem deren (zunächst) positive Auswirkungen auf seine kämpferischen Leistungen. In dieser Unterstreichung des positiven Wirkungspotenzials weiblicher Schönheit auf die männliche Kampfleistung könnte aus meiner Sicht im Übrigen ein Grund für die Hartmannsche Auslassung des Erzählerkommentars zum persönlichen Interesse Erecks an der schönen Enite im Kontext ihrer ersten Begegnung liegen.
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veranstalten zu dürfen.²⁸⁶ So gesehen ließe sich die weiter oben zitierte Abschlussbemerkung des Erzählers zu Enites Investitur, dass ihr klaid nun reich, si selber gůt sei (V. 2571/1578), nicht nur, wie weiter oben vorgeschlagen, im Anschluss an die Tradition der Kalokagathia, sondern durchaus auch als subtil problematisierender Verweis auf den von nun an bestehenden Kontrast zwischen innerer Tugend und einer problematischen neuen Gewandung deuten.²⁸⁷ Wie sehr früh schon Thomas Cramer interpretiere also auch ich das verligen nicht als die „entsprechende Schuld schlechthin“ im Ereck, sondern vielmehr als „Symptom“, d. h. als „äußere Manifestation einer tiefer liegenden“ und bereits „zuvor angelegten Verfehlung“.²⁸⁸ Das grundlegende Problem sehe ich jedoch, anders als Cramer, nicht in einer gegen den göttlichen Ordo verstoßenden „Mésalliance“²⁸⁹ Erecks mit Enite, sondern in ihrer durch die prachtvolle Kleidung angespielten, ja
Vgl. Erec et Enide, V. 1864– 1871. Ähnlich deutet diesen Erzählerkommentar auch Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 158 f., nach der „die Parataxe nicht im Sinne einer Kongruenz, sondern einer Gegenüberstellung und Überbietung zu verstehen [wäre] – etwa so: Enites Kleidung war kostbar, aber noch wichtiger war, dass sie selbst edel war“ (Zitat ebd., S. 159). Insofern ließe sich die Stelle im Anschluss an Kraß, Geschriebene Kleider, S. 171, – der sie insgesamt allerdings anders liest – auch in Bezug zu einem früheren Kommentar des Erzählers setzen, der bei der Einführung der ärmlich gekleideten Enitefigur (V. 1317– 1329/323 – 335) „betont […], dass trotz des Mangels an adäquaten Kleidern die Integrität ihrer Person außer Frage steht“: der magde leib was loblich. / der Rock was grüener varbe / gezieret beigarbe, / abhar überal. / darunder was Ir hemede sal / und auch zebrochen etswo. / so schain die leiche do / durch weis als sam ein schwan. / man sagt, daz nie kind gewan / ein leib so gar dem wúnsche geleich. / und war si gewesen reich, / so gepräst nicht Irem leibe / ze loblichem weibe. Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik, S. 100. So aber ebd., S. 103. Vgl. zusammenfassend zu dieser These weiterhin auch ebd., S. 101: „Enite ist […] für den Königssohn Erec keine standesgemäße Partie. Armut ist nach dem mittelalterlichen ordoDenken kein beliebig und zufällig eintretendes Unglück, sondern ein von Gott verordneter Zustand, der damit zum unveränderlichen Attribut der Person wird. Bis heute gilt nach offizieller kirchlicher Lehre Armut als Sündenfolge.“ Gegen eine solche sozialkritische Grundierung des Geschehens bei Hartmann sprechen im Grunde jedoch schon die starke ständische Aufwertung Enites (von der Untervasallen- zur Grafentochter), der mitleidige Kommentar des Erzählers, Coralus sei durch eine kämpferische übercraft gänzlich unverschuldet in die Armut geraten (V. 1396 – 1401/402– 407: Er was ein grave reiche, / vil gar unlasterleiche / seines erbes verstossen / von seinen úbergenossen. / In het dhein sein poshait / in dies armůt geleit) – diesen Aspekt betont auch schon Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 24, – sowie die große Freude des Alten über Erecks großzügige Geschenke zur Verbesserung seiner wirtschaftlichen Lage (V. 2462– 2469/1469 – 1474). Und so räumt selbst Cramer, Soziale Motivation in der SchuldSühne-Problematik, S. 112, am Ende seines Beitrags ein, dass Hartmanns Roman durchaus auch Anhaltspunkte für eine umgekehrte Lesart biete, wie sie Erich Köhler: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung. Tübingen 1956 (Zeitschrift für romanische Philologie Beiheft. 97), dargelegt hat, – nämlich, dass „Armut im Erec überspielt und irrelevant [werde] durch einen überständischen Begriff ritterlicher Qualität“. Kritisch zu Cramer siehe weiterhin auch Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 160, die anknüpfend an Timothy R. Jackson: Typus und Poetik. Studien zur Bedeutungsvermittlung in der Literatur des deutschen Mittelalters. Heidelberg 2003 (Euphorion Beihefte. 45), S. 115, argumentiert, „dass die Armut von Koralus und seiner Familie ‚kontingent und daher eben veränderlich‘“ sei.
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gewissermaßen ‚aktivierten‘ sündhaften Weiblichkeit: Denn anders als zuvor noch am Imainhof vermag die neue, ‚verkleidete‘ Schönheit Enites Ereck nicht mehr zu kämpferischen Bestleistungen anzutreiben, sondern macht aus ihm vorübergehend einen otiosus, einen trägen Sünder.²⁹⁰ Die Ansicht, dass die Schuld am verligen bei Enite liegt, wird im Übrigen nicht nur von der Hofgesellschaft in Karnant geäußert, sondern auch Hartmanns Protagonistin selbst erkennt dies im Rahmen eines unmittelbar darauf folgenden inneren Monologs an:²⁹¹ Si sprachen all: ‚wee der stůnd, daz uns mein frau wurde kundt! des verdirbet unser herre!‘ dise red geschach so verre daz sie die Frauen ankam. […] also Si [Enite; J. S.-B.] den itwitz vernam, des ward vil reuig Ir můt, Wann Si was biderb und guet und gedachte an manigen enden, wie Si mochte erwenden also gemainen hasz. auch gerúchte Si erkennen das, daz es Ir schult wäre. (V. 3988 – 4000/2996 – 3008)
Demnach wäre also – unter zusätzlicher Betonung des kleiderkritischen Aspekts – auch noch einmal nachdrücklich Joachim Bumkes Interpretation dieser Verse zuzustimmen, denn in der Tat scheint hier „das alte Eva-Schema durchzuschlagen: Schuld ist immer die Frau; der Mann ist nur der Verführte.“²⁹² Doch geht es, wenn hier von Schuld die Rede ist, weniger um ein subjektiv-individuelles Fehlverhaltens der Enitefigur, sondern vielmehr um die aus christlicher Sicht bestehende Problematik der bloßen Existenz einer (von fremder Hand!) prachtvoll eingekleideten (und ohnehin
So die Hauptthese Ranawakes, Verligen und versitzen, zu den Auswirkungen des verligens auf Ereck, wobei Ranawake allerdings den Zusammenhang zwischen dem sündhaften Verhalten des Protagonisten und Hartmanns eigenen Akzentsetzungen im Bereich der Kleiderdarstellung nicht berücksichtigt. Zu den vielfältigen Deutungsansätzen der Forschung zu dieser Textstelle vgl. zusammenfassend den Überblick bei Mertens, Kommentar, S. 653 f. Zur darstellerischen Problematisierung von Enites Schönheit schon im Zusammenhang mit ihrem ersten Auftritt vor den Rittern der Tafelrunde siehe außerdem erneut Mertens, Enites dunkle Seite, S. 182 f. Dieser Auftritt Enites, so müsste man die Ausführungen Mertens’ ergänzen, findet aus kleiderkritischer Sicht wohl auch nicht zufällig im unmittelbaren Anschluss an ihre Neueinkleidung durch Ginover statt. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 37; etwas zurückhaltender stellt eine solche These außerdem auch Reuvekamp, Sprichwort und Sentenz im narrativen Kontext, S. 81, auf. Ganz anders dagegen Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, S. 104, welche die Hauptschuld am verligen bei Ereck sieht.
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geradezu übermenschlich schönen) Frau – und damit eine eher objektive Form der Schuld.²⁹³ Für eine solche Interpretation der Ereignisse des ersten Handlungsteils spricht schließlich auch die „Kleidungsbeschreibung, die Hartmann in der Brandigan-Episode der amîe Mabonagrims zuteil werden lässt“, wenn man diese mit Dietmar Peil als paradigmatische „Wiederaufnahme der Einkleidung Enites am Artushof“ auffasst.²⁹⁴ Es ist mittlerweile Forschungskonsens, dass die Darstellung der antisozialen Liebe des im Zaubergarten gefangenen Adelspaars als ein narrativer (Zerr‐)Spiegel der temporär fehlgeleiteten Minne Erecks und Enites fungiert.²⁹⁵ Insbesondere zwischen den beiden Frauen wird dabei, wie unlängst v. a. noch einmal Volker Mertens herausgearbeitet hat, durch eine in vielerlei Hinsicht analoge Figurenkonzeption ein enger Zusammenhang hergestellt, welcher der „rekursive[n] Sinnzuschreibung“ dient:²⁹⁶ So werden Enite und Mabonagrims Freundin neben dem bereits bei Chrétien vorgeprägten engen Verwandtschaftsverhältnis – die beiden sind Cousinen (V. 10698/9717) – und einer feenhaften Schönheit bei Hartmann zusätzlich mit dem keltischen Erzählmuster
Zu einem subjektiv-‚individuellen‘ Fehlverhalten der Enitefigur kommt es erst im Zusammenhang mit ihrem ‚falschen Schweigen‘ anlässlich des verligens, welches durch die anschließende temporäre Trennung von Tisch und Bett bei Hartmann markant als eine Form des Ehebruchs akzentuiert ist; vgl. dazu grundlegend Quast, Getriuwiu wandelunge, hier v. a. S. 170 f. Quast geht hier von einem Zusammenhang zwischen dem von Hartmann entworfenen Eheideal und den theologischen Schriften Hugos von St. Victor aus; vgl. dazu zusammenfassend ebd., S. 179 f. Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 138, welcher der Funktion dieses von Hartmann neu hinzugefügten Erzähldetails dann im Folgenden allerdings selbst nicht weiter nachgeht. Vgl. dazu an prominenter Stelle etwa Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 66: „Die verdeutschte Form des Namens (des hoves vreude 8006) enthält eine Anspielung auf das verligen in Karnant, wo es hieß, daß der Hof in Karnant durch Erecs Verhalten alle vreude einbüßte (der hof wart aller vreuden bar 2989). Erecs Verhalten am Anfang und Magonagrins Verhalten haben dieselbe fatale Wirkung. In beiden Fällen geht es um das Liebesverhalten eines Paares. […] Das Paar isoliert sich und vernachlässigt alle gesellschaftlichen Rücksichten und Verpflichtungen, was dazu führt, daß das Hofleben verkümmert.“ Ähnlich zuvor auch schon Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, S. 102, und Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik, S. 110, nach dem Ereck in Brandigan „seine Reintegration in die Gesellschaft dadurch bestätigt, daß er andere aus eben der Situation erlöst, aus der er selbst erlöst worden ist“. Auch im Ambraser Ereck ist an der entsprechenden Stelle von des hofes freude (V. 8987/8006) die Rede. Mertens, Enites dunkle Seite, S. 177. Allerdings werden bei Chrétien und Hartmann verschiedene Ursachen für die Zurückgezogenheit des Paares im Zaubergarten benannt; vgl. dazu zusammenfassend Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 63: „Mabonagrin berichtet [bei Hartmann; J. S.-B.], daß er seine Freundin bereits als Kind kennengelernt habe. Er habe sie entführt und habe ihr versprochen, sich ihrem Willen zu unterwerfen. Sie habe ihn verpflichtet, alleine mit ihr in dem Garten zu leben, bis er besiegt werde.“ Bei Chrétien sagt Mabonagrain hingegen nur, „seine Freundin habe ihn im Garten ‚im Gefängnis gehalten‘ (tenir en prison 6047)“ (ebd., S. 64). Die Ergänzung des Entführungsdetails dient bei Hartmann offensichtlich der noch stärkeren Betonung weiblicher Verführungsmacht. Vgl. hierzu im Einzelnen auch Ereck, V. 10424– 10530/9443 – 9549.
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der ‚Aithed‘ assoziiert und weisen nicht zuletzt eine auffallend ähnliche Kleidung auf:²⁹⁷ die frau [Mabonagrims Freundin; J. S.-B.], die nu hie sass, was vil schone geclait: an het si gelait einen Mantl harmlin, da het si sich gefangen In. das doch ein reicher samit was, var als ein praunes glas, vil wol gezobelt für die handt. ein wimpel Ir har zesamen pandt. (V. 9918 – 9926/8937– 8945)²⁹⁸
Es ist wohl kaum Zufall, dass es sich bei dieser descriptio der Gewänder von Enites „Spiegelfigur“²⁹⁹ – neben Enites Investitur und Erecks im Folgenden noch zu besprechender Ausstattung mit prächtigen Schutzwaffen durch Artus (V. 3245 – 3322/ 2254– 2331) – um die einzige detailliertere Textstelle dieser Art im gesamten Roman handelt. Chrétiens vierte und fünfte ausführliche Kleiderbeschreibungen – die neue Rüstung Erecs für die zweite Aventiurefahrt (V. 2625 – 2654) sowie sein von Feen hergestellter Krönungsmantel (V. 6674– 6747) am Romanende – hat Hartmann hingegen
Das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen Enite und der amîe ist allerdings, wie Mertens, Enites dunkle Seite, S. 177 f., herausarbeitet, bei Hartmann noch enger gestaltet: „Bei Chrétien sind beider Väter Brüder [….]. Die Änderung Hartmanns verstärkt die verwandtschaftliche Bindung von Enite und der Freundin Mabonagrins, denn der Mutterbruder gilt gegenüber dem Vaterbruder als der engere Verwandte.“ Eine zusätzliche Verbindung zwischen den beiden Frauenfiguren werde, so Mertens (ebd., S. 176 f.) weiter, in der deutschsprachigen Fassung außerdem auch gestiftet, wenn Hartmann Enite dem treulosen Burggrafen eine „Lügengeschichte“ erzählen lasse, die „nach der Biographie ihrer Verwandten“ entworfen sei. Durch den Gewinn des Sperberpreises und die Gestaltung des Zaubergartens von Brandigan werde in beiden Fassungen zudem ein Konnex zum bretonischen Feenmärchen etabliert: „An einem paradiesischen andersweltlichen Ort lebt in Zeitlosigkeit eine Frau von unvergleichlicher Schönheit, die von einem gefährlichen Kämpfer bewacht wird“; ebd., S. 180. Auf die im Kontext der vorliegenden Analyse wichtigste Analogie zwischen Enite und der amîe auf vestimentärer Ebene, die ebenfalls nur bei Hartmann besteht, verweist neben Mertens (ebd., S. 181 f.) auch schon Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 163. Beide äußern sich allerdings nicht weiter zu deren erzählerischer Funktion. So tragen beide Damen einen innen mit Hermelin und unten an den Ärmeln mit Zobel gefütterten Mantel. Einer noch ausführlicheren Beschreibung der Kleidung der amîe weicht der Erzähler zudem – ähnlich wie zuvor bei Enites Investitur – mit einem Topos der fehlenden Augenzeugenschaft aus: welch Ir rock ware, / des fraget Ir kämerare, / ich gesach In wais got nie, / Wann ich nit dick fúr si gie. / auch mocht es Ereck nit gesehen: / das múst davon geschehen, / daz da fúr all umbe hie / der mantl, da si sich in vie (V. 9927– 9934/8946 – 8953). Bei Chrétien gibt es dagegen keine Beschreibung der Kleidung der amíe; er konzentriert sich in seiner descriptio auf ihren schönen Körper und ihr Gesicht; vgl. Erec et Enide, V. 5829 – 5849. Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, S. 162. Masse nennt als weitere „Spiegelfiguren“ Enites – v. a. mit Blick auf die Episode in Limors sowie die anfänglichen Befürchtungen der Burgbewohner hinsichtlich Erecks Leben – außerdem auch die achtzig Witwen der Brandigan-Episode; vgl. ebd., S. 161 f., Anm. 27.
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komplett getilgt.³⁰⁰ Insofern erscheint höfischer Kleiderprunk in der deutschsprachigen Fassung als ein markant weiblich gegendertes Problem mit einem aus christlich-moralischer wie gesellschaftlicher Sicht gefährlichen Einfluss auf das männliche Geschlecht: Denn wo Ereck sein gesamtes Ansehen verliert, weil er aufgrund seiner geschmückten Gattin wochenlang kaum noch das Bett verlässt und sein Turnierrittertum vernachlässigt, nimmt der dank seiner aufgeputzten amîe in einem Zaubergarten isolierte Mabonagrim achtzig tapferen Rittern das Leben.³⁰¹ Durch Hartmanns vestimentäre Ausweitung der Analogien zwischen Enite- und amîe-Figur wird die Idealität der zuvor besprochenen Investiturszene also auch rückblickend noch einmal nachdrücklich in Frage gestellt – und deren vermeintlicher Widerspruch zu der von Ereck geäußerten Kleiderkritik des Anfangs auf diese Weise weitestgehend aufgehoben.³⁰²
3.2.3 Function over form: Erecks erste Rüstung Neben Enite und der amîe verdient allerdings auch Hartmanns Konzeption der männlichen Romanfiguren eine gründliche Revision im Kontext der lateinischen Gewandkritik. Denn aus einer solchen Perspektive erscheint es bereits augenfällig, dass am Imainhof ein altmodisch gerüsteter, aber barmherziger Ritter (Ereck) über einen luxuriös ausgestatteten, jedoch bereits durch seinen Zwerg als unzivilisiert markierten Ritter (Yders) siegt.³⁰³ Wie seinem kleingewachsenen Begleiter fehlt es
Daneben fehlen in der mhd. Fassung auch zahlreiche kürzere Kleiderbeschreibungen wie etwa die zu Erecs prachtvollem Mantel im Rahmen von Chrétiens Darstellung der Zwergenschande-Episode; vgl. dazu im Einzelnen Erec et Énide, V. 94– 104. Zur allgemeinen Reduktion der Kleidermotivik bei Hartmann im Vergleich mit der Vorlage siehe zusammenfassend außerdem erneut Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 136; weiterführend dazu außerdem Masse, Zu Lob und Beschreibung der Frauenschönheit im ‚Erec‘, die hier Hartmanns Umakzentuierungen des Verhältnisses von Schönheits- und Kleidungsbeschreibungen untersucht. Diese „Abgeschlossenheit von joie de la cort als Analogon zu Erecs und Enites gesellschaftlicher Isolierung“ betont auch schon Cramer, Soziale Motivation in der Schuld-Sühne-Problematik, S. 110. Zur Mabonagrin/Mabonagrim-Figur und ihrer Bedeutung für die ma. Literatur vgl. überblicksartig Rudolf Simek: Art. Mabonagrin. In: Artus-Lexikon (2012), S. 229. Zwischen Ereck und Mabonagrim wird auf vestimentärer Ebene hingegen ein Gegensatz konstruiert, denn Mabonagrims einfarbige rote Rüstung fungiert, wie bereits Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 458, hervorhebt, vor allem als ein Symbol seiner „tödliche[n] Aggression“ und Mordgier. Vgl. dazu auch den im Erzählerkommentar hergestellten Zusammenhang zwischen der roten Rüstungsfarbe und Mabonagrims hitzigem Gemüt in V. 9999 – 10004/9018 – 9023: sein wappenrock alsam was, / er selber rot, als Ich es lass, / gewaffent nach seinem můte. / Ich wäne, sein hertz plůte, / Wenn er nicht ze vechten vandt: / so mordig was sein handt. Vgl. dazu schon Mertens, Kommentar, S. 634: „Man kann einen Bezug zwischen Erecs unmodischer Rüstung und Enites ‚dürftiger‘ Kleidung sehen und daher eine Gleichstellung des Paares ansetzen.“ In diesem Zusammenhang erscheint auch ein früherer Kommentar des Erzählers interessant, der in V. 1411– 1414/417– 420 impliziert, dass zühte generell wichtiger als habe sei. Zur Pracht von Yders
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auch Yders, so betont schon Dorothea Klein, „an jener Affektkontrolle, die den höfischen Menschen auszeichnet; sein Verhalten ist vielmehr durch eine nur mühsam gebändigte Aggression bestimmt.“³⁰⁴ Doch während diese Ausführungen Kleins grundsätzlich auch auf die altfranzösische Quelle zutreffen, bringt Hartmanns kleiderkritische Umgestaltung der Tulmein-Episode nicht zuletzt eine deutlich negativere Konzeption der Ydersfigur mit sich:³⁰⁵ So findet sich nach Fabian Scheidel bei Chrétien bspw. noch „kein Indiz“ dafür, dass Erecs erster Gegner in den Jahren vor dem „Auftauchen Enides falsch gehandelt hat“: „Es heißt lediglich, dass er den Sperber, der der schönsten Dame gehören soll, bereits zwei mal beansprucht habe […] und zwar ohne Kampf und Widerspruch.“³⁰⁶ Dementsprechend werde Yders von den Bürgern der Stadt in der altfranzösischen Fassung auch sehr „festlich empfangen; Erec dagegen […] von niemandem begrüßt.“³⁰⁷ Des Weiteren stammen auch Yders Drohungen, dass er Ereck im Kampf „ohne Gnade töten werde“ sowie die entsprechenden abwertenden Erzählerkommentare allesamt aus Hartmanns Feder; bei Chrétien ist es hingegen der Protagonist, der sich kaum bremsen kann, seinem bereits am Boden liegenden Gegner spontan den Kopf abzuschlagen.³⁰⁸ Schließlich werden in der altfranzösischen Vorlage „beide Gegner im Lanzenkampf vom Pferd gestochen“, wäh-
prachtvoller Rüstung vgl. weiterhin V. 1010/16: Er was ze harnasch wol, sowie ausführlicher V. 1726 – 1737/732– 743. – Zwerge und Riesen fungieren im höfischen Roman allgemein als prototypische Vertreter des Wilden und Unhöfischen. Zum aggressiven Verhalten des Zwergs gegenüber Ginovers magedin und Ereck sowie seiner vulgären Sprechweise vgl. V. 1038 – 1088/44– 94, sowie insbesondere Erecks Wertung des ihm Widerfahrenen in V. 1060 – 1063/66 – 69: Eregk da achten began, / der Ritter wär nit ein frúm man, / daz Er es vor im vertrůg, / daz sein Getzwerg die magt schlůg. Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 438.Vgl. dazu weiter ebd.: „Die Aggressivität des Zwergs läßt sich […] als die auf ein inferiores Wesen ausgelagerte Aggressivität des Ritters deuten. Dies scheint mir denn auch eine wesentliche Funktion der Zwergenfigur zu sein: das Gewaltpotential des feudalen Subjekts anschaulich zu machen, jenes Gewaltpotential, das die höfische Welt durch höfische Verhaltensnormen zu regulieren bestrebt ist. Mit anderen Worten: Die Neigung zur Gewalttätigkeit und ihre Regulierung durch courtoisie, der Aggressionstrieb und seine kulturelle Überformung sind narrativ auf zwei Figuren verteilt, die überdies auf zwei verschiedenen sozialen Ebenen angesiedelt sind“. Damit einher geht eine konstante Hervorhebung von Erecks Erbarmen durch den Erzähler, ein Aspekt, der m. E im Hinblick auf den ersten Aventiureweg grundsätzlich stärker betont werden müsste, als es beispielsweise Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 19 – 29, oder Gottzmann, Die Artusepik der hochhöfischen Zeit, tun, deren Fokus diesbezüglich v. a. auf dem Fehlverhalten des jungen Protagonisten liegt. Zur häufigen Kontrastierung des „Nigra-Formosa-Typ[s]“ mit dem „Heuchler[]“ in der mhd. höfischen Literatur siehe grundlegend weiterhin Hahn, Zur Theorie der Personerkenntnis, S. 407 f., die in diesem Zusammenhang beiläufig auch auf den Kampf zwischen Ereck und Yders verweist. Hahn zustimmend weiterhin auch Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 203. Scheidel, Evas Kinder (bislang unveröffentlicht). Vgl. hierzu auch Erec et Énide, V. 547– 600. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 25. Ebd., S. 26, sowie Erec et Enide,V. 986 – 997. Bei Hartmann wird Ereck wird hingegen vom Erzähler und sogar von seinem Gegner Yders immer wieder als guete (V. 2050/1056) und edel (V. 1892/898) charakterisiert. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die weitaus konkreteren Beschreibungen der Kampfeswunden beider Ritter in Erec et Enide, V. 930 – 960.
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rend ein solcher technischer Fehler bei Hartmann bezeichnenderweise lediglich Yders passiert (V. 1816f./822f.).³⁰⁹ Wie schon zuvor bei der Einführung der wunderschönen, aber ärmlich gekleideten Enitefigur in die Erzählung, dekonstruiert Hartmann also auch noch einmal im Zusammenhang mit Erecks erstem ritterlichen Kräftemessen die für den höfischen Diskurs so grundlegende Vorstellung von einer „Harmonie zwischen Seele, Körper und Gewand“,³¹⁰ der Kalokagathia (Kongruenz von Innen und Außen). Deren Auflösung erfolgt im Fall von Yders nun konkret über eine Aktualisierung des argumentativ unmittelbar damit konkurrierenden kleiderkritischen Topos, nach dem der am prächtigsten gerüstete Ritter oftmals den schlechtesten Charakter habe (Inkongruenz von Innen und Außen).³¹¹ Dieser Topos hat sich im mittelhochdeutschen höfischen Roman übrigens nicht nur als prägend für Hartmanns Konzeption der Ydersfigur erwiesen, sondern u. a. auch Wirnts von Grafenberg Wigalois (um 1200/1210) beeinflusst. Bei dem rüstungssammelnden Burgherren, der Fremden nur dann eine Unterkunft gewährt, wenn er von diesen im Kampf besiegt wird, und ihnen ansonsten ohne jegliche Wahrung höfischer Gastgeberpflichten ihre Schutzwaffen abnimmt (V. 1884 – 2034), handelt es sich um eine übersteigerte Variante des Typus des un-
Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 26. Zur Rolle Gottes im Kampf zwischen Ereck und Yders vgl. auch die einhellig guten Wünsche von Imains Hofgesellschaft für den Protagonisten,V. 1747– 1749/ 752– 754: ‚got gebe dir hail heute‘ / sprach ein gemainer mund, sowie dessen eigene Gewissheit, im Kampf himmlische Unterstützung erfahren zu haben (V. 1967/973). Raudzus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 82. Für eine gewandkritische Lesart der Episode spricht darüber hinaus auch, dass der prächtig gerüstete Yders im Text wiederholt als hochmütig charakterisiert wird (z. B. in V. 1758/764: hochfertiger wan, V. 1964/970: grosser úbermůt, oder V. 1974/980: hochfart). In V. 1977– 1979/983 – 985 paraphrasiert Ereck, wie Mertens, Kommentar, S. 636, hervorhebt, diesbezüglich sogar „das Sprichwort ‚Hochmut kommt vor dem Fall‘“: ‚nu hat euch eur übermůt / heut hie gevellet / und den schaden gesellet.‘ Insofern knüpft Hartmanns Art der Darstellung hier nicht nur argumentativ, sondern auch terminologisch an die Ausdrucksweise der Theologie sowie der christlichen Kleiderkritik an (superbia). Dass die Wurzeln einer solchen, sich durch eine Differenz von Innen und Außen auszeichnenden Figurenzeichnung im christlichen Glauben und seiner „dichotomischen Vorstellung der formosa deformitas“ liegen, darauf hat sehr früh schon Ernst, Der Antagonismus von vita carnalis und vita spiritualis im Gregorius Hartmanns von Aue, S. 198 f., verwiesen: „Ansätze […] bieten bereits das Alte und Neue Testament. Der Prediger warnt vor der fallax gratia et vana pulchritudo (Prv 31,30) der Frau, die Braut des Hohenliedes bekennt: nigra sum sed formosa (Ct 1,4), Isaias prophezeit, daß der kommende Messias so entstellt sei, daß wir an ihm weder Gestalt (species) noch Schönheit (decor) sehen (Is 53,2) und Paulus spricht von der Herrlichkeit Gottes als Schatz in irdenen Gefäßen (II Cor 4,7). Vor allem geht die christliche Rechtfertigung des Häßlichen, die mit der antiken Identifikation des Schönen und Guten bricht, von der Vorstellung der entstellten Knechtsgestalt Christi am Kreuz aus. […] Richtungsweisend für die mittelalterliche Tradition, zeigt Augustin auf, daß die innere Schönheit, die auf der Gerechtigkeit der Seele basiert, nicht an eine adäquate körperliche Erscheinungsweise gebunden ist, vielmehr auch einem Menschen zuzusprechen ist, der einen verwachsenen und ungestalten Leib hat. Die aus der strengen Trennung von homo exterior und homo interior resultierende Unterscheidung von Seelen- und Körperschönheit exemplifiziert Augustin an den Figuren des Greises und des Märtyrers, deren geistige Schönheit mit ihrer somatischen Entstellung kontrastiert.“
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moralischen Prunkritters.³¹² Ein weiteres prominentes Beispiel wäre darüber hinaus Wolframs von Eschenbach Parzival, der aus Gier nach einer prächtigen roten Rüstung unwissentlich seinen Verwandten Ither (!)³¹³ erschlägt.³¹⁴ Eine invertierte Form der Inkongruenz von Außen (alte Rüstung) und Innen (ritterliche Vorbildlichkeit) besteht bei Hartmann darüber hinaus jedoch auch im Hinblick auf Ereck, der hier als gewandkritische Negativfolie zur Ydersfigur fungiert.³¹⁵ In erneuter Abgrenzung zur „zivilisationskritische[n] Kampfszene“ der altfranzösischen Vorlage gestaltet Hartmann die Episode so zu einem „Lehrstück für vorbildliches Rittertum“ um,³¹⁶ welches entgegen den topischen Argumentationsweisen des höfischen Diskurses eben nicht zwangsläufig an ein repräsentatives Erscheinungsbild gebunden ist. Dass es sich bei Erecks altem Eisengewand erneut um eine erzählerische Eigenzutat Hartmanns
Vgl. dazu Wigalois,V. 1884– 2034. Die in der lateinischen Hofkritik bemängelte Gier der Ritter nach prächtigen Rüstungen wird bei Wirnt weiterhin auch in den Kommentaren des Erzählers einer kritischen Reflexion unterzogen, der sich einige Verse weiter darüber beklagt, dass es unter den vielen unehrenhaften Rittern seiner Zeit üblich sei, dem Gegner nach dem Kampf den harnasch und alle sîne habe zu stehlen (V. 2322f.). Bei dieser Figur handelt es sich daher m. E. um eine intertextuelle Bezugnahme auf Hartmanns Ereck. Zwar stattet Wolfram seinen Ithêr von Gaheviez im Gegensatz zum Ambraser Ereck mit einer ausführlichen Biografie aus (er ist der von Uterpandragun erzogene Sohn von König Artus’ base bzw. der künege von Kukûmerlant; Parzival, 159,29). Dennoch spricht einiges für eine solche Einzeltextreferenz: 1. die offensichtliche Namensähnlichkeit der beiden Ritterfiguren, 2. die von beiden Figuren ausgefüllte Rolle im Handlungsgefüge/Erzählschema des Doppelwegs (erster ritterlicher Gegner des Protagonisten), 3. der eitle Fokus auf die Pracht ihrer Rüstungen bzw. ihre äußere Erscheinung im Allgemeinen, 4. die (zunächst) fehlende Bewaffnung des Protagonisten für den Kampf, 5. der Unwillen der übrigen anwesenden Ritter, gegen Yders bzw. Ither anzutreten. Zudem wählt Wolfram den Figurennamen Ithêr in Abgrenzung zu seiner Vorlage (in Chrétiens Conte du Graal ist der rote Ritter namenlos); vgl. zu Wolframs entsprechenden Umakzentuierungen ausführlich auch Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8. Aufl. Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler. 36), S. 172– 176. Simek, Yder, S. 369, geht dagegen von zwei unterschiedlichen Figuren bei Hartmann und Wolfram aus. In Chrétiens Erec et Énide gibt es interessanterweise gleich zwei Ritter mit einem solchen Namen, nämlich neben Erecs Gegner Ydiers, li filz Nut (V. 1043) auch noch einen beiläufig im Rahmen der Beratungsszene zur Jagd nach dem weißen Hirsch erwähnten Artusritter rois Ydiers (V. 313). Daran orientiert sich auch die bspw. noch in der Textausgabe von Mertens angeführte Konjektur, Yders sei der fil Niut (V. 465), während sich im Ambraser Ereck das Schimpfwort fihmuot (V. 1459) findet. Zu Wolframs kritischer Darstellung von Parzivals Mord an Ither vgl. Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: PBB 130 (2008), S. 459 – 482. Auf Analogien zwischen Petrus’ von Blois „Brief 94“ und Wolframs Parzival verweist darüber hinaus schon Jaeger, Courtliness and Social Change, S. 301. Vor diesem Hintergrund ließe sich außerdem argumentieren, dass es sich bei Coralus’ bescheidener Kleidung aus Schaffell (V. 1277/283f.) um eine christianisierende Anspielung auf die schlichte Gewandung Karls des Großen handelt. Zu dessen entsprechender Darstellung bei Einhard vgl. zusammenfassend Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 206 f. Eine übersetzte Fassung und ausführliche Kommentierung der entsprechenden lateinischen Textstellen zu Karl dem Großen findet sich weiterhin bei Kraß, Geschriebene Kleider, S. 3 – 6. Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 443.: „[D]er Jüngling Erec [ist] für die zeitgenössischen Leser Hartmanns zum Modell geworden.“
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handelt, muss an dieser Stelle fast nicht mehr erwähnt werden: Bei Chrétien erhält Erec von Licorant eine prachtvolle Rüstung nach aktuellsten Waffenstandards (armes boenes et beles, V. 613), an der sich, nach Einschätzung des Erzählers, sowohl in optischer als auch funktionaler Hinsicht nicht das Geringste aussetzen lässt. Und so muss selbst der prunkverliebte Yders, dessen eigene Ausrüstung im Kampf ironischerweise einige Blessuren davonträgt, bei Hartmann schließlich erkennen, wie gut gerüstet Ereck trotz seines unmodernen Erscheinungsbildes ist (V. 1774 f. u. 1793/780 u. 799) – und dass manchmal auch eine in Lumpen gekleidete Dame die schönste aller Frauen sein kann (V. 2249 – 2252/1255 – 1259).³¹⁷
3.2.4 Kleidung und êre: Erecks zweite Rüstung Nachdem auf diese Weise am Romananfang also der höfische Konnex von äußerer Schönheit/Pracht und innerer Tugend im Rückbezug auf antihöfische Topoi gleich dreifach auseinanderdividiert worden ist (Enite, Ereck, Yders), erhält Hartmanns Protagonist am Artushof schließlich auch selbst ein prächtiges Eisengewand. Den episodischen Rahmen für diese analog zur Investitur Enites gestaltete Szene, in der König Artus seinen Neffen nun höchstpersönlich nach modernsten Waffenstandards ausstattet, bilden die dort stattfindenden Hochzeitsfeierlichkeiten.³¹⁸ Da die Gäste von höfischer freude kaum genug bekommen können (V. 3211/2220), lässt Gawein zur Verlängerung der Festlichkeit spontan ein Turnei ausrufen (V. 3229 – 3232/2236 – 2239). Offenbar bedingt durch die Anwesenheit der gesamten Artusgesellschaft und den anlassbedingten Fokus auf seine Person sorgt sich Ereck, dem das Alter und der Zustand von Coralus’ Rüstung, wie sich hier zeigt, durchaus bewusst sind, plötzlich um seine êre (V. 3240 – 3259/2248 – 2267).³¹⁹ Weil das Königreich seines Vaters und die eigenen Besitztümer allerdings in weiter Ferne liegen, bittet Ereck König Artus, ihm für
Der expliziten Hervorhebung der guten Schutzfunktion von Erecks Rüstung dienen weiterhin auch die Verse 1792– 1794: Als Er das sper ze handt genam – / sein Schilt im wol ze halse gezam –, / er begunde ein weig reiten. Auch Mertens, Kommentar, S. 635, sieht als „Pointe des Kampfes, daß Erec aus einem Handicap einen Vorteil macht“; ähnlich auch Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 24. Zur analogen Gestaltung dieser beiden Szenen vgl. grundlegend Ernst Scheunemann: Artushof und Abenteuer. Zeichnung höfischen Daseins in Hartmanns ‚Erec‘. Breslau 1937 (Deutschkundliche Arbeiten A. 8), S. 34 f., sowie, dem zustimmend, Mertens, Kommentar, S. 648. Zur Archaik bzw. Modernität von Erecks alter und neuer Rüstung siehe weiterhin auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 218 f. Vgl. dazu ausführlich die entsprechende Innensicht in die Gedankenwelt Erecks in V. 3239 – 3259/ 2248 – 2268: Ereck vilderoilach / maniger gedancke phlag, / wie Er dar so käme, / als seinem namen gezäme, / wann Er vor der stúnde / Turnierens nie begunde. / vil dicke gedacht Er daran, / in welhem were ein Júnger man / in den Ersten Jaren stat, / daz Er das immer gerne hat. / Er vorchte den langen itewitz / dest grössern vliss / gaben seine rate, / wie Er es da wol getäte. / Da was Er nit so reiche, / daz Er vollikleiche / mochte mit dem gůte / voltziehen seinem můte. / was aber im des geprast, / Er mainet, daz er was da ein gast: / sein landt was im verre.
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die anstehenden Kampfspiele kurzfristig eine angemessene Rüstung zur Verfügung zu stellen. Trotz der vom Erzähler in diesem Zusammenhang lobend hervorgehobenen scham Erecks (V. 3266/2275), der die milte seines Onkels (V. 3264/2273) auf keinen Fall überstrapazieren möchte (und daher hier, im Unterschied zu Chrétiens Protagonist, bescheiden unter den ihm gebotenen Möglichkeiten bleibt: sein harnasch was nicht so gůt, / […] als ob er hette des gutes craft; V. 3272– 3274/2281– 2283), sind die neuen Rüstungsteile von beeindruckender Kostbarkeit.³²⁰ Die mehr als sechzig Verse umfassende descriptio der drei neuen Schilde Erecks, seines neuen Helms, Brustschutzes, der kostbaren Beinschienen und Lanzen bildet nach Enites Investitur die zweite (und vorletzte) ausführliche Beschreibung höfischer Kleider- und Rüstungspracht des Romans:³²¹ nu brúefte der junge man drei schilte geleich und dreu geraite alsameleich mit einem waffen garbe. doch schiet Si die varbe: der einem hurtlich genúg was, aussen ein liechtes spieglglas, vil verre glaste der schein. darauf mowe guldein zu der masse so si solte, innen gar von golte. der ander von Cinober rot, darauf er slahen gepot ein mowen von Silber weiss, die was geworcht in sölhem vleiss, daz man si so kurtzer stunden nicht bas ertzeugen kunden und nienen dem erenen geleich, der was genůg Ritterleich. also ward der dritte var von golde aussen und innen gar, darauf ein mowe zobelin, daz die nicht besser mochte sin, darúber ein Bugkel geleit, von Silber schon zerpreit, die risz ze preit noch ze schmal, Si bevieng das prete úberal. des bestund die mowe.
Zu dieser spezifischen Darstellungstendenz Hartmanns vgl. bereits Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 449: „Im Unterschied zum Erec Chrétiens tritt sein Erec, seinen materiellen Verhältnissen gemäß, bescheiden auf“. Siehe dazu im Einzelnen auch V. 3260 – 3266/2269 – 2275 bei Hartmann: Artus der herre / gab im, was Er vor sprach, / doch was Er im daran gemach, / daz es In icht bevilte. / er entwaich seiner milte / mit pete wo Er mochte, / als seiner scham tochte. Zur allgemeinen Reduktion der Kleidermotivik bei Hartmann im Vergleich zu Chrétien vgl. zusammenfassend erneut Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 136.
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innerhalb ein fraue an dem; vor dem orte der Schilt ein rieme porte mit gůtem gesteine. des was Er nicht eine: Si waren alle innen geleich die riemen all sameleich. nu brúefte Er | nach der achte, so Er behendiklichest machte, drei Panier samenlich, einem jeglichen schilte sein gelich. dartzů Ereck der Junge man mit Artus hilfe gewan (des künigs von Britanie) Fünf ross von Spanie, Helm von Portiers, Halsperge von Schamliers, Issercossen von glenis, der herre Júng und auch weis. zu einem jeglichen rosse fůrt Er von lofainge zehen sper, von Etelburg die schafte, gefärbet zu Ritterschafte. seinen Helm gezieret schone Ein Engl zu einer krone, von golde geworcht schon. wappenrock und Cowerture allain, baide genůg kintlich, grüener samit und phelle rich, zesamen geparrieret, mit porten wol gezieret. (V. 3276 – 3334/2285 – 2343)
Gemäß den Regeln des höfischen Diskurses liegt der Fokus der descriptiones von Erecks neuen Rüstungsgegenständen hier weniger auf deren militärischer Schutzfunktion als vielmehr auf den kostbaren Materialien, der Buntheit, dem Glanz und der kunstvollen Gestaltung bestimmter Details. So werden Erecks neue Schilde vom Erzähler nicht etwa nach technischen Einzelheiten, sondern vor allem nach ihrer varbe und dem unterschiedlichen Schmuck differenziert (V. 3280/2289): Der eine glänzt silbern wie liechtes spieglglas (V. 3282/2291), der zweite ist Cinober rot (V. 3287/2296) und der dritte ist golde aussen und innen gar (V. 3296/2305). „Als Wappenbild trägt der erste Schild einen goldenen Ärmel – ein Zeichen, daß der Ritter zu Ehren seiner Dame kämpft –, der zweite einen silbernen Ärmel, der dritte einen schwarzen.“³²² In erneuter Anspielung auf das höfische Konzept des „Minneritter[s]“³²³ enthält der schwarze Schild in seinem Inneren zudem das Bild einer nicht näher beschriebenen fraue
Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 31. Mertens, Kommentar, S. 648.
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(V. 3304/2313).³²⁴ Die Beschreibungen von Brustpanzer, Beinschienen, Lanzen und Schäften wiederum fokussieren vor allem deren exotische Herkunftsorte, die die besondere Kostbarkeit der Gegenstände begründen (V. 3315 – 3326/2324– 2335).³²⁵ In der wiederholten Hervorhebung der perfekt aufeinander abgestimmten Formen der einzelnen Rüstungsbestandteile drückt sich schließlich der für den höfischen Diskurs grundlegende Wert der mâze aus (V. 3284f./2293f.: darauf mowe guldein / zu der masse so si solte).³²⁶ Insofern wird Erecks Rüstung hier nicht zuletzt als visuell ansprechende äußere Ausdrucksform von disciplina und elegantia morum inszeniert (V. 3299 – 3301/ 2308 – 2310: darúber ein Bugkel geleit, / von Silber schon zerpreit, / die risz ze preit noch ze schmal).³²⁷ Wie schon im Fall von Enites Kleid nach karlischen siten (V. 2540/1547) wird vom Erzähler darüber hinaus beiläufig auch auf die ausgesprochen modische Gestaltung des aus grüene[m] samit und phelle rich gefertigten Waffenrocks sowie der zugehörigen Satteldecke verwiesen (V. 3331f./2340f.: baide genůg kintlich).³²⁸ Aus interdiskurstheoretischer Sicht interessant erscheint nun vor allem die unmittelbar an diese ungebrochen höfisierenden Rüstungsbeschreibungen anschließende Turnierepisode (V. 3346ff./2355ff.). Im Vergleich mit der Vorlage hat Hartmann diese, wie schon Dorothea Klein anmerkt, um „über 500 Verse erweitert“ und dabei auch „die Substanz des Erzählten entscheidend geändert“.³²⁹ Dabei lässt sich ein Großteil der entsprechenden Umakzentuierungen aus interdiskurstheoretischer Perspektive nun wie folgt beschreiben: Indem Hartmann seinen Erzähler wiederholt
Vgl. dazu bereits Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 219. Der Erecks Helm zierende Engl (V. 3328/ 2337) lässt sich allerdings nicht nur, wie Mertens, Kommentar, S. 648, vorschlägt, als (minnekritische) Vorausdeutung auf das verligen, sondern durchaus auch positiv im Hinblick auf Erecks herrscherliche Existenz als rex Christianus am Romanende interpretieren. Mertens (ebd.) setzt das Engelssymbol in diesem Zusammenhang zurück in Verbindung zu V. 2835 f./1842 f., wo Enite hinsichtlich ihrer Schönheit mit einem Engl verglichen wird: „Die Krone ist wohl eher auf die Liebe als auf die Herrschaft zu beziehen: die Liebe ‚krönt‘ mehr als das Kaisertum heißt es im Minnesang bei Kaiser Heinrich im Lied I (MF 5,23 ff.; vgl.Wapneswki). Erec setzt diese Hierarchisierung in das Leben des Regenten um und muß damit scheitern.“ Dieser Rückbezug erscheint mir allerdings nicht zwangsläufig. Interessant erscheinen im Kontext der lateinischen Kleiderkritik hier nicht zuletzt die bunten Lanzenschäfte aus Etelburg (V. 3325/2334); vgl. dazu ausführlich das Kap. 3.3, hier v. a. S. 283 – 299, der vorliegenden Arbeit. Zum engen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik im höfischen Diskurs vgl. erneut Schnell, Die höfische Kultur des Mittelalters zwischen Ekel und Ästhetik, S. 96. Zum Zusammenhang von Kleiderwahl und Selbstkontrolle im höfischen Diskurs vgl. nochmals Ehrismann, Ehre und Mut, S. 71. Vgl. zu dieser Übersetzung von kintlich auch Andreas Hammer, Victor Millet, Timo ReuvekampFelber: Kommentar. In: Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ‚Erek‘. Hrsg. von dens. Berlin/Boston 2017, S. 589 – 626, hier S. 607: „Das handschriftliche kintlich lässt sich ebenso wie das stets an seiner Statt eingesetzte kuntlich (‚fachmännisch gearbeitet‘) auf die Qualität des Waffenrocks beziehen und markiert dann dessen Modernität und modischen Chic. Eine weitere Möglichkeit der Übersetzung wäre, das Adjektiv kintlich mit seiner Grundbedeutung ‚jugendlich‘ auf den Status Erecks zu beziehen. In beiden Fällen ist kein Eingriff nötig.“ Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 449.
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gewandkritische Topoi anzitieren lässt, nur um sie anhand des Verhaltens des Protagonisten im Kampf sogleich mit ihrem positiven Gegenteil zu kontrastieren, wird hier das Bild eines asketisch-heroisch grundierten, vorbildlichen Turnierrittertums entworfen.³³⁰ Mit einem auffallenden Fokus auf den kämpferischen Aspekt grenzt sich die deutschsprachige Fassung dabei erneut sehr deutlich von der Chrétienschen Vorlage und deren mindestens ebenso intensiven Verhandlungen höfischen Minnerittertums ab.³³¹ Dass neben der Kleidung auch das Turnier ein beliebtes Ziel zeitgenössischer Hofkritik gewesen ist, wird dabei im vorliegenden Roman grundsätzlich ausgeblendet.³³² So betont der Erzähler eingangs nur scheinbar aus dem Zusammenhang gerissen, dass bei Erecks erster Tjost für den Protagonisten die Reittiere der Gegner keinerlei
Zum heroischen Männlichkeitsbild des Mittelalters vgl. prägnant David M. Halperin: Ein Wegweiser zur Geschichtsschreibung der männlichen Homosexualität. In: Queer Denken. Gegen die Ordnung der Homosexualität. Hrsg. von Andreas Kraß. Frankfurt a. M. 2003, S. 171– 220, hier S. 181 f., zitiert nach Kraß, Der effeminierte Mann, S. 35: „In der europäischen Kultur militärischer Eliten, zumindest von der Antike bis zur Renaissance, gehörten zur normativen Männlichkeit Härte, Zügelung des Appetits und Beherrschung des Lusttriebs. […] Ein Mann bewies seinen Wert im Krieg, so war das wenigstens gedacht, oder allgemeiner in mit anderen Männern geführten Kämpfen um Ehre […]“. Dass das von Ereck hier verkörperte Männlichkeitsbild auch stereotyp heldenepische Züge aufweist, darauf verweist beiläufig auch schon Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 450: „Die heroische Männlichkeit [Erecks; J. S.-B.] triumphiert, und die Frau ist’s zufrieden; sie billigt und unterstützt die heroische Tat, zumindest ideell, weil vom Ruhm des Helden auch etwas auf sie zurückfällt.“ Ersteres merkt beiläufig schon Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 32, an. Zum Chrétienschen Fokus auf den Minneaspekt vgl. v. a. den Anfang der Turnierbeschreibungen in Erec et Énide, wo an prominenter Stelle (V. 2084– 2088) die zahlreichen Minnepfänder der teilnehmenden Ritter erwähnt werden: La ot tante vermoille ansaigne, / et tante guinple et tante manche, / et tante bloe, et tante blanche , / qui par amors furent donees („Dort sah man viele rote Feldzeichen, viele Schleier und Ärmel, blau und weiß, die als Zeichen der Liebe geschenkt wurden“). Zur fortgesetzten Beschreibung ritterlicher Rüstungspracht in der altfranzösischen Vorlage, von der sich Hartmanns Fassung explizit abgrenzt, vgl. weiterhin ebd.,V. 2089 – 2106.Vgl. dazu außerdem auch die Beschreibung des blauseidenen Waffenrocks des Ritters Randuraz (V. 2128 – 2130) oder der prachtvollen neuen Waffen des roi de la Roge Cité bei Chrétien (V. 2138 – 2142). Zur geistlichen Turnierkritik vgl. zusammenfassend etwa Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 103 f.: „Wer gegen den Willen der Kirche turnierte, dem wurde die Strafe der Exkommunikation angedroht. Einem Ritter, der beim Turnier zu Tode kam, wurde das kirchliche Begräbnis verweigert. Auf Turnieren, wetterte Radulfus Niger, der sich bis 1183 am Hof Heinrichs II. von England aufhielt, ‚setzten die Ritter Leben und Seelenheil zugleich aufs Spiel und verkehrten eine ritterliche Übung in ein Laster, indem sie sich aus purer Langeweile und Ruhmsucht gegenseitig umbrächten‘. Die Einwände kirchlicher Moralisten gegen das ritterliche Turnierwesen sind Legion. Die ritterlichen Kampfspiele […] beurteilten sie als Spiele des Teufels. Ritterschaft, wie sie im Turnier geübt werde, widerspreche dem Ideal des christlichen Ritters; sie gefährde das Leben von Menschen, diene materieller Gewinnsucht (lucrum), entspringe dem Streben nach eitlem Ruhm (vana gloria) und sei nicht zuletzt verlorene Zeit, die dem Dienst am Gemeinwohl abgehe.“ Zum Turnier und seiner Kritik siehe weiterhin auch Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 48.
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Kampfesmotivation darstellen.³³³ Indem er im Anschluss dann außerdem detailliert beschreibt, wie Ereck sich unmittelbar nach seinem ersten Sieg sofort auf zum nächsten ritterlichen Kräftemessen macht (V. 3421– 3429/2430 – 2438), wird hier nämlich gleich in doppelter Weise der gewandkritische Topos entkräftet, nach dem einen prunkvoll gerüsteten Ritter am Kampf nur die materiellen Besitztümer der Gegner interessieren.³³⁴ Bei Chrétien hingegen erobern sowohl Erec als auch Gauvain zahlreiche Pferde ihrer ritterlichen Kontrahenten.³³⁵ Dass Hartmanns Ereckfigur trotz seiner prächtigen neuen Rüstung den Kampf eindeutig (noch) dem gemach vorzieht, drückt sich weiterhin auch in dem Umstand aus, dass der Protagonist, ganz im Gegensatz zu den anderen Teilnehmern, morgens vor Turnierbeginn nur auffallend wenig isst und trinkt (V. 3535 – 3540/2544– 2549).³³⁶ In dieselbe argumentative Stoßrichtung zielt schließlich auch die Bemerkung des Erzählers, dass Ereck das Feld an jedem Tage des Turniers bereits zu früher Morgenstund betritt, als die anderen Ritter noch ausgiebig ihre Rüstungen reinigen lassen (V. 3400 – 3433/2409 – 2442): Er war der erste dar / und der jungste von dan (V. 3462f./2471f.). Beide Kommentare fehlen in der altfranzösischen Vorlage. Neu hinzugedichtet ist bei Hartmann weiterhin auch, dass Erecks Gottvertrauen nach einem morgendlichen Gebet in der kirchen (V. 3481/2490) derartig groß ist, dass er es am zweiten Tag des Turniers einmal sogar wagt, ganz ohne Schutzwaffen in den Kampf zu ziehen.³³⁷ Der Erzähler merkt diesbezüglich lobend an:³³⁸
Zur narrativen Aktualisierung und unmittelbar darauffolgenden Entkräftigung dieses kleiderkritischen Arguments siehe im Detail V. 3605 – 3613/2614– 2622. Am Ende des Turniers verschenkt Ereck dann sogar noch eines seiner von Artus als Geschenk erhaltenen neuen Pferde: nu erpeisset von seinem Ross sa / der tugenthaft Ereck / und gab das enweg (V. 3774– 3776/2783 – 2785). Vgl. dazu exemplarisch erneut Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum, Sp. 296, sowie die Übersetzung der relevanten Passagen bei Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 432. Auf diese abweichende Art der Figurendarstellung bei Hartmann verweist bereits Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 449, die diese aber nicht in einen Zusammenhang mit der klerikalen Kleiderkritik bringt. Interessanterweise merkt auch Chrétiens Erzähler zunächst an, dass „Erec […] keine Zeit darauf verwenden [wolle], Pferde zu gewinnen und Ritter gefangenzunehmen, sondern […] nur kämpfen und sein Bestes geben, damit seine Vortrefflichkeit allen sichtbar würde“ (Erec ne voloit pas entandre / a cheval n’a chevalier prandre, / mes a joster et a bien feiere / por ce que sa proesce apeire); vgl. dazu Erec et Énite, V. 2159 – 2162, mit der entsprechenden Übersetzung Giers. Nur wenige Verse später hat Erec diesen Vorsatz bei Chrétien dann allerdings schon vergessen und setzt zahlreiche gegnerische Ritter gefangen, deren Pferde er sodann in seinen Besitz aufnimmt. Erecks „Mäßigkeit beim Essen und Trinken“ bemerkt bereits Mertens, Kommentar, S. 649. Zu Erecks schonungsloser kämpferischer Ausdauer im Turnier siehe im Einzelnen auch V. 3614– 3628/ 2623 – 2637: Ich wil auch euch zwar sagen: / sein leib ward da lützel gespart. / da der Turnei steende wardt, / do sach man In so dicke / nindert als in der dicke, / da er můste emphahen und geben. / man sahe In manlich leben. / Als Er gejustierte genúg / und mit dem schwerte geschlůg, / untz daz Er mueden began, / durch rů entweich Er von In dan. / als Er von dem rosse gesass, / ein scholdiers nam das / und saget Im es genade und danck. / sein rů het Er unlangk. An anderer Stelle (V. 3580 – 3589/2589 – 2598) wird die Schutzwirkung insbesondere von Erecks Schild hingegen vom Erzähler durchaus thematisiert.
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nú dauchte mich die gnedikait lobelich und gros, daz Er on waffen plos, daz Er ane und gesell los ze velde kam, wann daz Er fünf knaben zu Im nam, der jetzlicher fúrte dreu sper. dieselben vertet er ze rechter Just und par daz des niemand ward gewar von seinem taile. (V. 3494– 3503/2503 – 2512)
Diese narrative Marginalisierung von Rüstungsgegenständen fügt sich nahtlos in die bereits skizzierten Darstellungstendenzen der Episode ein und setzt sich wenig später in dem (vom Erzähler erneut gelobten) Eingreifen eines helmlosen Erecks in den finalen „Massenkampf“³³⁹ fort. Insofern wird im Kontext des Turniers am Artushof also nicht nur erzählerisch veranschaulicht, dass, entgegen den topischen Argumentationsweisen der christlichen Kleiderkritik, auch ein prächtig gerüsteter ein ausgesprochen vorbildlicher Ritter sein kann, sondern zugleich auch, dass Erecks überragende Erfolge eben nicht primär auf seine neue prachtvolle Rüstung zurückzuführen sind, sondern, wie der Erzähler betont, vor allem auf die grosse wirdikait, / die het got an In gelait (V. 3429f./2438f.).³⁴⁰
Diese und weitere lobende Kommentare des Erzählers zu Erecks Einsatz im Kampf ohne Rüstung übergeht Mertens, Kommentar, S. 648, wenn er subjektiv wertend in „Erecs Kampf ohne Helm“ ein „Defizit an Verantwortung für Enite, sich selbst und sein Land“ sieht. Dasselbe wäre gegen die Lesart Bumkes, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 33, einzuwenden, dass Erecks „Handlungsweise übertrieben und überzogen wirk[e]“ und er „ganz versessen darauf“ sei, „alle anderen zu übertreffen und in jeder Beziehung der erste und beste zu sein.“ Vielmehr scheint mir der von Bumke (ebd.) konstatierte „überzogene[..] Ehrgeiz“ Erecks sozusagen ein ‚Anreiten‘ gegen die topischen gemach-Vorwürfe der geistlichen Rüstungskritik zu sein. So auch Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 449: „Im Massenkampf wiederholt Erec, was er bereits in Tulmein im Einzelkampf bewiesen hat: er profiliert sich in jeder Hinsicht als der Beste.“ So beschließt Ereck, der seine schützende Kopfbedeckung während einer seiner spärlichen Ruhepausen abgelegt hat, als fast alle Mitglieder seiner Gruppe in der Massenschlacht vor der úbercraft (V. 3669/2678) der Gegenpartei geflohen sind, spontan zurück ins Gefecht zu reiten, um die einzigen vier dort Verbliebenen, Gawein, Vildon Gilules und Segremors, zu unterstützen; V. 3628 – 3678/2637– 2687. Erecks tapferem Vorbild folgt im Anschluss dann auch der zuvor geflohene Rest der Gruppe, wodurch ihr Sieg schließlich doch noch errungen werden kann (V. 3691– 3700/2700 – 2709). Als unpassend bewerten dieses Verhalten Erecks (im Gegensatz zum Erzähler) allerdings einige andere (ihm unterlegene) Turnierteilnehmer, deren Urteil allerdings aus Rezipientensicht nicht dieselbe Autorität besitzt: da dauchte von im Fulden gros, / daz er durch sein haupt blos / von ungewarhait nicht vermeid / daz Er schone inreit / und so gnediclichen / die veinde tet entwichen (V. 3705 – 3710/2714– 2719). So die Übersetzung von Hammer/Millet/Reuvekamp-Felber in der neuesten Ereck-Edition. Vgl. dazu etwa auch das entsprechende Erzählerlob in V. 3578f./2587f.: des můst In sein grosse tucht bewaren, / daz er unbekümbert da belaib. Wie der Erzähler erörtert, ist Ereck gar der einzige, der sich im Turnier jemals besser als Gawein geschlagen habe: Gawin tet es des tages da / güt wie auch anderswa / und nach seiner gewonhait, / da – was so man sait, / daz nimmer dhain man gesach – / wo es im zetůn
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Die zahlreichen im Kontext von Erecks erstem Turnier aktualisierten kleiderkritischen Topoi werden also von Hartmanns Erzähler nicht einfach abgebildet bzw. reproduziert, sondern er macht sich diese poetisch-kreativ zu Nutze: Indem er ausgewählte antihöfische Argumentationsweisen ihrem ursprünglichen diskursiven Kontext entreißt, lassen sich diese hier zweckentfremdend zur erzählerischen Profilierung des Protagonisten umfunktionalisieren. Denn im Ereck geht es an dieser Stelle gerade nicht um eine Bewerbung der militia Christi, sondern, ganz im Gegenteil, um eine erzählerische Legitimierung des (von geistlicher Seite oftmals kritisierten) Strebens nach weltlicher êre.³⁴¹ In fortgesetzter Abgrenzung von der altfranzösischen Vorlage fungieren die skizzierten kleiderkritischen Allusionen dabei als diskursive Negativfolie, vor deren Hintergrund der deutschsprachige Roman ein asketisch grundiertes Turnierritterideal entwirft. Vor diesem Hintergrund wird dann am Ende der festlichen Veranstaltung bei Hartmann in der Tat auch eine (vorübergehende) Rekonstruktion der Kalokagathia vorgenommen.³⁴² Denn, wie der Erzähler bemerkt, finden Erecks in diesem Kontext vielfach unter Beweis gestellte grosse tucht (V. 3578/ 2587), seine ere (V. 3797/2806), tugent (V. 3775/2784) und manhait (V. 3768/2777) hier nicht zuletzt einen angemessenen Ausdruck in seiner prächtigen Rüstung, deren Glanz die anderen Ritter – mit Recht, so möchte man beinahe ergänzen – bei weitem überstrahlt:³⁴³ Wappenrock und sein krone machte In aus schone und so, das da zehant dhain ritter was so verre erkant. (V. 3559 – 3562/2568 – 2571)
In erneuter Abgrenzung zur altfranzösischen Vorlage, deren Protagonist in Carnant zur Vorbereitung auf den zweiten Aventiureweg auf eine noch feiner gearbeitete geschach, / daz man Ritterschaft erpote. / er schain da je in dem worte, / daz es niemand fur In täte / des ist sein lob noch stete. / vil Ritterlichen stůnd sein můt, / an Im erschain nichts wann gůt. / Reiche und Edel was er genůg, / sein hertze niemand nichts entrůg. / Er was getreue / und milte on reu, / stät und wolgetzogen, / seine wort unbetrogen, / starch, schon und manhaft. / an Im was aller tugent craft. / mit schonen züchten waz er fro. / der wúst het In gemaistert | so, / Als wir es mit warhait haben vernomen, / daz niemant so volkomen / an des künig Artus hofe bekam. / wie wol Er im zu gesinde getzam. / auf ere legt er arbait, / vil grosse manhait / ertzaiget er den tag: / ān Eregken Vilderoilach / so bejaget er da niemand mere, / wann Er bejaget da gůt und ere (V. 3711– 3742/2720 – 2751). Zur geistlichen Kritik am Konzept weltlicher êre vgl. zusammenfassend etwa Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 428 f. Der nachfolgende diskursive Umschlag hin zur kleiderkritischen Darstellung des verligens deutet sich dabei allerdings schon am Ende des Turniers durch den doppelbödigen Vergleich Erecks mit diversen biblischen und antiken „Minnesklaven“ (Salomon, Absalom, Samson und Alexander) an; vgl. dazu mit einem entsprechenden Forschungsüberblick Mertens, Kommentar, S. 651 (Zitat ebd.), sowie im Einzelnen V. 3802– 3812/2811– 2821 des Ereck. Zur positiven Wertung weltlicher êre im vorliegenden Kontext vgl. auch den von Hartmann neu hinzugefügten inneren Monolog Enites am Ende des Turniers (V. 3817– 3842/2825 – 2850), nach dem ein mangelndes Streben nach dieser nur den zagen (V. 3839/2848) auszeichne.
3.2 Enites wât und Yders harnasche: Kleiderkritik in Hartmanns von Aue Ereck
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Rüstung aus eigenem Besitz zurückgreift (Erec et Enide, V. 2620 – 2654) und in Brandigan von König Ivrein sogar noch ein drittes Mal mit neuen Rüstungsgegenständen ausgestattet wird,³⁴⁴ bleiben die von Ereck hier getragenen Rüstungsgegenstände in der deutschsprachigen Fassung dann auch bis zum Romanende dauerhaft im Einsatz.³⁴⁵ Dabei wird der Todesmut des Helden im Rahmen der Joie de la curt-Episode schließlich sogar in heilsgeschichtliche Dimensionen ausgeweitet.³⁴⁶
Allgemein zu den Modifikationen und Umakzentuierungen Hartmanns im Rahmen der Joie de la curt-Episode vgl. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 63 f., sowie erneut auch Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 136. Chrétiens Beschreibung des Anlegens der neuen Rüstung durch Erec (V. 2620 – 2654) im Vorfeld des zweiten Aventiurewegs lautet in der Übersetzung Albert Giers (Erec et Énide, S. 151) wie folgt: „Erec seinerseits rief einen anderen Diener und hieß ihn seine Rüstung bringen, auf daß er sich wappnete. Dann stieg er zu einer Galerie auf und ließ vor sich auf der Erde einen Teppich aus Limoges ausbreiten; der Diener, dem er befohlen und gesagt hatte, die Waffen zu holen, machte sich eilig auf, brachte sie und legte sie auf dem Teppich ab. Erec ließ sich auf der anderen Seite nieder, auf dem Bild eines Leoparden, das auf den Teppich gemalt war. Er machte sich fertig und bereitete sich vor, seine Rüstung anzulegen. Zuerst ließ er sich Beinschienen von glänzendem Stahl umbinden, dann zog er einen so teuren und zuverlässigen Kettenpanzer über, daß man kein Glied herauslösen konnte. Der Panzer war so kostbar, daß sich daran weder vorn noch hinten auch nur so viel Eisen befand wie an einer Nadel, und niemals konnte er Rost ansetzen; denn er war ganz aus Silber, aus dünnen Ketten, dreifach übereinander; so fein war er gearbeitet – ich kann euch versichern, daß niemand, der ihn angelegt hätte, davon mehr ermüdet und gedrückt worden wäre, als hätte er über seinem Hemd einen Rock von Seide getragen. Die Krieger und Ritter wunderten sich alle, warum er sich wappnen ließ, aber niemand wagte, ihn danach zu fragen. Als sie ihm den Panzer angelegt hatten, band ihm ein Knappe einen Helm um, der mit einem goldenen Reif und mit Edelsteinen besetzt war und heller leuchtete als ein Spiegel; dann nahm Erec das Schwert und gürtete es um.“ Die dritte Neuausrüstung Erecs durch König Evrain (ebd., V. 5635 – 5644) wird bei Chrétien hingegen weniger detailliert beschrieben. Ich zitiere die Stelle aus Platzgründen erneut nur in der Übersetzung Giers (Erec et Énide, S. 319): „Der König schickte ihm [Erec; J. S.-B.] Waffen, um ihn auszurüsten, als er sich erhob; für diese Waffen fand er damit sehr gute Verwendung. Erec wies sie nicht zurück; seine eigenen waren ja abgenutzt, beschädigt und übel zugerichtet; er nahm die Waffen gern und legte sie im Saal an“. Bei Hartmann besucht Ereck vor dem Aufbruch zum Baumgarten stattdessen bezeichnenderweise die Messe; vgl. dazu im Einzelnen Ereck, V. 9616 – 9622/8635 – 8641. Wie zur Betonung, dass es sich bei den von Hartmanns Ereck für den zweiten Aventiureweg angelegten Rüstungsgegenstände um keine neuen handelt, werden von der Figur im Vorfeld explizit Schäden am Helm erwähnt, die offenbar noch vom Turnier am Artushof stammen. Vgl. dazu Ereck, V. 4056 – 4068/3064– 3076. Vgl. Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 460. Dass diese Art der Darstellung als religiöse Erweiterung (nicht aber als rückblickende Problematisierung) des im Rahmen des ersten Aventiurewegs präsentierten ritterlichen Männlichkeitskonzepts anzusehen ist, darauf verweisen sowohl die lobenden Erzählerkommentare im Kontext von Erecks erstem Turnier am Artushof als auch die positive Hervorhebung des weltweiten Ruhms des Protagonisten am Handlungsschluss (Ereck der wúndere; V. 11026/ 10045).
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3.2.5 Kleidung und hövescheit: Der zweite Aventiureweg Ein ausgesprochen erhellendes Licht werfen die topischen Argumentationsweisen des hofkritischen Diskurses allerdings nicht nur auf die erzählten Ereignisse des ersten, sondern darüber hinaus auch auf diejenigen des zweiten Aventiurewegs im Ereck. Dessen Beginn ist durch eine der rätselhaftesten Szenen des gesamten Romans markiert: Die Entscheidung des Protagonisten, sich im Anschluss an das verligen heimlich (und noch dazu gemeinsam mit seiner frisch angetrauten Ehefrau) noch ein weiteres Mal dem Unbekannten zu stellen. Bei diesem Entschluss handelt es sich um die unmittelbare Reaktion Erecks auf seinen Ehrverlust am Hof von Karnant, der seit der Verheiratung mit Enite nicht mehr nur von König Lac, sondern auch von ihm selbst mitregiert wird. Vom Erzähler wird diese Entscheidung des Protagonisten, die im Gegensatz zur Chrétienschen Fassung in aller Heimlichkeit erfolgt, recht lapidar abgehandelt: Zehant hiess Er si [Enite, J. S.-B.] aufstan, daz si sich wol klaite und an laite das peste gewate, daz si indert hatte. seinen knaben er sagte, daz man Im sein ross beraite und Ir phärd der frauen Eniten. Er sprach, er wolt riten aus kurtzweilen. des begunden Si doch eilen. (V. 4045 – 4055/3053 – 3063)
Von der Forschung wird diese Szene bis heute kontrovers diskutiert.³⁴⁷ Denn wie Markus Stock unlängst noch einmal mit Nachdruck hervorgehoben hat, besteht mit Bezug auf die Erecks Handeln zugrundeliegenden Motivationen gleich in zweifacher Hinsicht Unklarheit: einerseits auf der Ebene der „Informationsvergabe an die Rezipienten“, andererseits aber auch „für die Figuren auf der Ebene der Handlung“:³⁴⁸ da
Die bedeutendsten Unterschiede bilden dabei einerseits der Umstand, dass Chrétiens Erec nicht heimlich auf Aventiurefahrt geht – er verabschiedet sich ganz offiziell von seinem Vater und der gesamten Hofgesellschaft (V. 2712– 2760) – und dass in der altfranzösischen Vorlage vor dem Wechsel der Erzählperspektive zumindest noch ein kurzer Einblick in das Innenleben des Protagonisten gewährt wird: In V. 4103 f. wird durch einen Erzählerkommentar nämlich angedeutet, dass Erec in jenem Moment selber noch nicht genau weiß, wohin die nachfolgende Reise gehen soll. Zudem hat Hartmann, wie Mertens, Kommentar, S. 653, hervorhebt, „zur Steigerung von Erecs Versagen als Herrscher“ bereits im Vorfeld das Detail hinzugefügt, dass „die Ritter den Hof verlassen“ und auch „[d]ie Reaktion des Hofes“ darauf ist bei Hartmann „deutlich prägnanter und schärfer als bei Chrétien, wo Enide sie referiert“ (vgl. Erec et Enide, V. 2557– 2560). Prägnant zu den Schwierigkeiten der Deutung des Hartmannschen verligens vgl. auch ebd., S. 652. Stock, Figur, S. 198; so zuvor etwa auch schon Cormeau/Störmer, Hartmann von Aue, S. 183. Unter Berufung auf Martin Jones: Durch schœnen list er sprach. Empathy, Pretence, and Narrative Point of
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was aber nieman, / der sich des mochte verstan, / wie sein gemúete was getan (V. 4069 – 4071/3077– 3079). Umso plausibler erscheint daher die Eröffnung eines neuen Deutungsrahmens durch die topischen Argumentationsweisen des hofkritischen Diskurses. Denn während frühere Forschungsarbeiten Erecks Befehl, Enite solle sich für die anstehende Reise ihr prächtigstes Gewand anzulegen (V. 4045 – 4049/3053 – 3057), zumeist im Sinne einer Inszenierung als „Lockvogel“³⁴⁹ für zukünftige ritterliche Bewährungsproben beschrieben haben, ließe sich, anknüpfend an den gewandkritischen Topos, nach dem die weibliche Putzsucht beim männlichen Geschlecht Wollust bewirke, darüber hinaus auch argumentieren, dass sich Hartmanns Protagonist hier selbst ein moralisches abenteure auferlegt (V. 4103/3111).³⁵⁰ Denn die im Folgenden mit der „Trennung von Tisch und Bett“ eingeleitete Herstellung einer „größtmögliche[n] Distanz zu jener Lebensform, die seine kriegerische Männlichkeit in Frage stellte“,³⁵¹ wird aus gewandkritischer Sicht, so meine These, durch Enites äußeren Schmuck für Ereck noch einmal deutlich erschwert. Auf diese Weise stellt der Protagonist im Folgenden umso nachdrücklicher unter Beweis, dass es für einen vorbildlichen Ritter selbst im Angesicht einer wunderschönen und zusätzlich sehr prächtig geschmückten Dame möglich sein sollte, seine fleischlichen Gelüste zu beherrschen und sich stattdessen ausgiebig dem Kampf zu widmen. Dieses lehrhafte Moment wird bei Hartmann zusätzlich untermauert durch die scharfe Kontrastierung des kiuschen Verhalten Erecks mit dem starken Begehren, das seine Frau bei fast allen anderen männlichen Figuren auslöst, denen die beiden auf ihrer Reise begegnen (die Räuber, ‚Galoein‘, Oringles etc.).³⁵² Erecks Funktionalisierung des problematischen sexuellen Verlo-
View in Hartmann von Aue’s Erec. In: Blütezeit. Festschrift für Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Marc Chinca, Joachim Heinzle, Christopher Young. Tübingen 2000, S. 291– 307, und Norris J. Lacy: The Craft of Chrétien de Troyes. An Essay on Narrative Art. Leiden 1980 (Davis medieval texts and studies. 3), beschreibt Stock, Figur, S. 198 f., diese Unklarheit im Weiteren als einen erzählerisch kalkuierten Fokalisierungseffekt. Vgl. zu dieser Stelle auch den Forschungsüberblick bei Mertens, Kommentar, S. 655 f. Für diese Lesart spricht vor allem die spontane Reaktion des ersten Räubers, der in den herleich[en] Gewändern des Paars das Ende seiner armůt erblickt (V. 4191f./3200f.). Vgl. zu dieser seit Ruh, Höfische Epik des deutschen Mittelalters, verbreiteten These und dem entsprechenden Zusammenhang mit dem Schweigegebot den kurzen Forschungsüberblick bei Mertens, Kommentar, S. 656. Erecks entsprechende Anweisung an Enite ist bereits bei Chrétien vorgeprägt (V. 2576 f.: levez de ci, si vos vestez / de vostre robe la plus bele). Diese ist jedoch bei Hartmann, der im unmittelbaren Vorfeld des verligens eine Neueinkleidung der Enitefigur platziert, in einen anderen handlungslogischen Zusammenhang eingebettet: So steht bei Chrétien, dessen Erec-Figur sich für die Reise ebenfalls besonders prachtvoll mit einer dem Rezipienten bislang unbekannten Rüstung ausstattet (V. 2620 – 2657), vor allem der repräsentative Aspekt im Vordergrund. Ich schließe mich in diesem Zusammenhang der schlüssigen Vermutung von Mertens, Kommentar, S. 655, an, dass es sich bei dem von Enite hier angelegten Kleid wahrscheinlich um das Kleid aus der Investiturszene handelt, das Ginover ihr geschenkt hat. Anders liest diese Szene dagegen Raudszus, Die Zeichensprache der Kleidung, S. 86 f. Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 452. So will etwa der erste Räuber trotz seiner anfänglichen Bemerkungen zum materiellen Reichtum des Paars (V. 4191– 4193/3199 – 3201) nach späterer Aussage eigentlich nur das weib Enite für sich
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ckungspotenzials seiner Frau dient auf dem zweiten Aventiureweg insofern also nicht nur der Anlockung potenzieller Gegner, sondern darüber hinaus auch dem Training der eigenen Triebzügelung sowie der reumütigen Distanzierung von früheren fleischlichen Sünden. Im Anschluss an eine These Silvia Ranawakes lässt sich die zweite Aventiurefahrt also auch im Hinblick auf Erecks Umgang mit dem höfischem Kleiderprunk als ein Weg der půsse (V. 8001/7020) lesen:³⁵³ Denn der Held muss hier nämlich neben seiner „Identität als Mann“³⁵⁴ immer wieder auch eine besondere Widerstandsfähigkeit gegenüber weltlichen Versuchungen (gemach) unter Beweis stellen. So verkörpert Ereck nicht nur hinsichtlich seiner wiederholten Zurückweisungen höfischer Annehmlichkeiten (z. B. die Ablehnung der Einladung der Artusgesellschaft zur ‚Zwischeneinkehr‘ in V. 5962– 5965/4975 – 4978 sowie der Verzicht auf die Jagdvernügungen in Penefrenc in V. 8107– 8255/7126 – 7274), sondern auch der temporären Distanzierung von seiner verführerischen Ehefrau ein asketisch akzentuiertes Ritterideal.³⁵⁵
(V. 4205f./3213f.) Und auch bei dem bei Hartmann namenlosen, eigentlich piderb[en] und gůt[en] Burggrafen ‚Galoein‘ (V. 4679/3688) sowie dem Grafen Oringles löst Enites Schönheit bekanntlich ein fatales Begehren mit gewalttätigen Konsequenzen aus; vgl. hierzu im Einzelnen V. 4467– 5213/3475 – 4221, davon insbesondere V. 4669 – 4688/3677– 3696, sowie V. 7100 – 7794/6115 – 6813. Auch der Knappe des ersten Grafen weiß nach der ersten Begegnung mit dem Paar seinem Herrn ausschließlich von Enite und ihrer Schönheit zu berichten – und nichts über Ereck (V. 4607– 4617/3615 – 3625). Zu den vom Erzähler sowie teilweise auch von den Figuren des Romans kritisierten Reaktionen speziell des treulosen Burggrafen sowie von Oringles vgl. auch Mertens, Enites dunkle Seite, S. 183. Vgl. Ranawake, Verligen und versitzen, hier v. a. S. 29: „Die Apotheose des Helden, der seine verlegene müezekeit abgebüßt hat, vollzieht sich in der Hochstilisierung des Artusritters zum Antityp des trägen Sünders, zum unermüdlichen Soldaten Christi. […] Erek […] [lässt] es, vor allem gegen Ende des Romans, nicht daran fehlen, Gott sowohl mit Worten als auch mit Werken zu dienen.“ Seine Vorbildlichkeit bestehe dementsprechend darin, dass er gegen „jede Form der acedia – sündhafte Niedergeschlagenheit, Wankelmut, Kleinmut, unrechte Angst gefeit ist. Lächelnd, ein fröhliches Lied singend, begegnet Erec den Warnungen und Klagen der Bewohner Brandigans, die bereits seinen sicheren Tod voraussehen, eine Verkörperung der laetitia spiritualis und der fortituto, derjenigen Tugenden, die das Laster der Trägheit zu überwinden imstande sind.“ Ähnliches formuliert aus der gender-Perspektive auch Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 456 – 460. Der christlich konnotierte Begriff der puosse selbst taucht im Ereck allerdings nur drei Mal auf: einmal im Zusammenhang mit dem zweiten Guivreiz-Kampf (als Ereck sein ritterliches Agieren im Anschluss selbst als unvernünftige unmasse einstuft, wofür eben Buße getan werden müsse; V. 7995/7014), sowie zwei Mal im Zusammenhang mit Yders Entschuldigung gegenüber Ginover (V. 2240/1246 in der Figurenrede Yders, und V. 2273/1279 in derjenigen Ginovers). Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 452. Zusammenfassend zu dieser These Kleins vgl. v. a. ebd., S. 454. Vgl. hierzu im Einzelnen V. 5964f./4977f.: ich hab zu disen zeiten / mich gemaches bewegen gar, sowie V. 8221– 8237/7240 – 7256: wie gůt gemach da ware, / Im was da vil schwäre. / der tugendthafte man, / zwar er gedachte von dann / wol als balde, / als ob Er in einem walde / wäre ān obdach, / ainig on allen gemach, | / da den unvalschen Degen / baide wint und regen / vil ser müete. / daz kam von dem gemüete, / Daz im dhain weltsache / was von dem gemache, / da Er Ritterschaft vand / und da Er mit seiner handt / die sere můst erborn. Das einzige Mal, dass Ereck sich im Roman rückhaltslos der Bequemlichkeit hingibt, ist im Rahmen der berühmten verligen-Episode (V. 3920 – 4043/2928 – 3051).
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Dass der von Artus prunkvoll ausgestattete Ereck neben der Welt auch Gott gefallen kann, beweist er hier allerdings nicht nur durch ein maßvoll-beherrschtes Verhalten gegenüber Enite, sondern auch im wiederholten Durchlaufen eines neuen Typus von Aventiure. Denn während es für ihn insbesondere in den beiden Räuberepisoden (V. 4098ff./3104ff.) sowie dem ersten Guivreizkampf (V. 5255ff./4268ff.) primär um das Streben nach weltlicher êre geht,³⁵⁶ beweist sich Ereck in der Cadoc- und in der Joie de la curt-Episode (V. 6274ff. u. 8769ff./5288ff. u. 7788ff.) zusätzlich auch in Empathie, „christlicher Nächstenliebe“³⁵⁷ sowie der „ritterliche[n] Hilfeverpflichtung für Bedrängte“³⁵⁸ im Sinne eines miles Christianus. Am Romanende, das Ereck sowohl als ritterlichen „‚Superhelden‘“ als auch als christlichen „Erlöser“ profiliert,³⁵⁹ verschmelzen sein tugendhaftes Inneres und prunkvolles Äußeres daher schließlich zu einer unverbrüchlichen Einheit – und das, obwohl die von der geschmückten Enite ausgehende Verlockung, so muss man einen zentralen Erzählerkommentar des Epilogs mit Mertens wohl verstehen, nach wie vor ungebrochen ist:³⁶⁰
Im zweiten Guivreiz-Kampf geht es hingegen mehr um das maßvolle Abwägen zwischen den eigenen ritterlichen Kapazitäten und denjenigen des Gegners (im Sinne davon, dass ein Rückzug aus Gründen der deutlichen Unterlegenheit nicht als ein Hinweis auf Feigheit, sondern vielmehr als rational-vernünftiges Verhalten zu werten ist); vgl. dazu den entsprechenden Einblick in Erecks Gedanken in V. 7987– 8004/7006 – 7023. Der verletzte und völlig geschwächte Erec hatte sich für den Kampf gegen das ihm entgegenkommende und zahlenmäßig völlig überlegene Heer zuvor ausschließlich aus dem Grund entschieden, um nicht als Feigling dazustehen (zagelichen; V. 7863/6882) und wäre dabei fast gestorben. Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 455. Prägnant zu der entsprechenden Inszenierung Erecks als einem miles Christianus in der Cadoc-Episode vgl. weiterhin ebd., S. 455 f.: „Erec befreit den Ritter Cadoc, der von zwei Riesen entführt und arg mißhandelt worden ist, aus der Gewalt seiner Peiniger; die Männlichkeit des feudalen Subjektes bewährt sich so in der Umsetzung von Grundsätzen der kirchlichen Laienethik, die dem Adel den Schutz und die Hilfe für Bedürftige und Unterdrückte, für Witwen und Waisen sowie die Verteidigung der Kirche zur Verpflichtung machte. Erec rettet seinen Standesgenossen aus höchster Not; daß es sich um eine christliche Tat von beinahe heilsgeschichtlicher Dimension handelt, legt nicht nur die Präsentation des splitternackten gegeißelten Ritters nahe (V. 5397– 5428), die an den gegeißelten Christus denken läßt, sondern auch der Vergleich Erecs mit David, der den Sieg über den Riesen Goliath davontrug (V. 5561– 5569). Dazu passen auch die anderen christlichen Elemente, die der Erzähler hier verstärkt seinem Text inseriert hat: das lange Gebet und der Segen, den Cadocs Ehefrau über Erec spricht (in abstrahierender Erzählerrede: V. 5372– 5377), sowie die wiederholte Aussage des Erzählers, daß Gott auf der Seite Erecs sei (V 5516f., 5527, 5561– 5565).“ Cormeau/Störmer, Hartmann von Aue, S. 186. Siehe dazu weiter ebd.: „Aventiure hat hier eine offenkundige soziale Funktion.“ Klein, Geschlecht und Gewalt, S. 459. Zur entsprechenden Inszenierung Erecks als „Erlöser“ im Zusammenhang mit der Joie de la curt-Episode vgl. erneut ebd., S. 459 – 462. Auf die problematischen Implikationen dieses Erzählerkommentars verweist bereits Mertens, Enites dunkle Seite, S. 187 f.: „Dennoch bleibt die Irritation am Schluss: Im Epilog rumort mit der Bemerkung, Erec habe ihren Willen nur dann vollzogen, wenn es ihm recht dünkte, noch immer die Gefährlichkeit Enites [hinsichtlich ihrer Schönheit; J. S.-B.].“ Die entsprechende Bedeutung von Enites prachtvoller Kleidung wird von Mertens allerdings nicht in Betracht gezogen.
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der künig Ir selber nu hute Irem willen nach, wo er mochte, Und doch als im dochte, nicht sam Er phlag, do Er sich durch si verlag. (V. 11100 – 11104/10119 – 10123)
Alles in allem fungiert das Kleidermotiv in Hartmanns Ereck damit als ein ausgesprochen wichtiges Strukturelement, dessen ausführliche Problematisierung über den gesamten Romanverlauf dem Steigerungsprinzip des Doppelwegs folgt:³⁶¹ So muss Ereck, um sich in der Erzählung zum idealen König zu qualifizieren, unter – nicht zuletzt in vestimentärer Hinsicht – zunehmend erschwerten Bedingungen nicht nur militärisch-kämpferische, sondern immer wieder auch christlich-moralische Qualitäten unter Beweis stellen. Dies schließt neben dem lediglich bei Hartmann ausführlich verhandelten erparmen (V. 10772/9791)³⁶² sowie der damit zusammenhängenden Fähigkeit zur Empathie (V. 6416f./5430f.: Nu beweget des ritters schmertze / so sere sein hertze) nicht zuletzt auch eine gewisse Widerstandskraft gegenüber dem demoralisierenden Potenzial ritterlicher Rüstungspracht, geschmückten Frauen und sonstigen Verlockungen des gemachs (ausgiebige Mahlzeiten, die Jagd, bequeme Bettenlager etc.) ein. In diesem Zusammenhang findet im Roman zunächst eine intensive Arbeit am höfischen Schönheitsideal statt, in deren Rahmen sowohl die Ereckfigur als auch der Erzähler wiederholt die entsprechende diskursspezifische Bedeutung höfischer Kleidermoden nivellieren. Erecks scharfe Ablehnung der Neueinkleidung Enites durch Herzog Imain fungiert dabei als eine Art ‚Trigger‘, welcher schon sehr früh im Handlungsverlauf (modifizierend) den diskursiven Kontext der lateinischen Hofkritik aufruft. Auf diese Weise wird dem Rezipienten eine wichtige Interpretationsschablone für die Deutung der Ereignisse des zweiten Romanteils angeboten, der dann, wenn auch nurmehr implizit und basierend auf zahlreichen Leerstellen, am Beispiel der Figuren das sündhafte Verführungspotenzial weiblichen Kleiderputzes problematisiert. Thematisch knüpft der Roman damit unmittelbar an die „kritisch-skeptische Relationierung von Außen (Körper, Geste, Miene, sogar Worte) und Innen (Herz, intentio, affectus, Emotion)“ an,³⁶³ die so zentral für die lateinische Hofkritik ist. Mit Erecks durch das verligen ausgelösten Verhaltensänderungen wird im Zuge dessen die Perspektive auf einen möglichen Weg des Umgangs mit dem moralischen Problempotenzial höfischen Kleiderprunks eröffnet; durch die in vielerlei Hinsicht analoge Konzeption der Bewohner des Zaubergartens von Brandigan werden Zur Realisierung des Doppelwegs im Ereck vgl. zusammenfassend etwa Cormeau/Störmer, Hartmann von Aue, S. 177. Zur „sinntragende[n] Form“ des Doppelwegs siehe in der jüngeren Forschung weiterhin Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 114. Vgl. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 65. Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 104. Die Gründe hierfür sieht Schnell strukturell im höfischen Verhaltensideal selbst begründet, da dieses auf Affektkontrolle basiere und somit ein Gebaren befördere, das im Gegensatz zu inneren Befindlichkeiten stehe (affabilitas etc.); vgl. ebd., S. 115.
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andererseits aber auch die langfristigen Konsequenzen einer solchen männlichen Verfallenheit veranschaulicht. Dazu passt, dass Ereck im Kampf gegen sein Alter Ego Mabonagrim das entscheidende Maß an ritterlicher Stärke nicht länger aus der physischen Präsenz Enites beziehen muss, sondern stattdessen auf die Erinnerung an ihre – so ließe sich vermuten – natürlich-physische Schönheit zurückgreift (V. 10211f./ 9230 f.: der gedanck an sein schon weib, / der kreftigt im den leib). Die im hofkritischen Diskurs darüber hinaus behauptete demoralisierende Wirkung ritterlichen Rüstungsprunks findet in Hartmanns Ereck hingegen nur am Beispiel einer Nebenfigur (Yders) Bestätigung, während anhand des Protagonistenpaars verdeutlicht wird, dass sich innere Tugend und ein prachtvolles Äußeres eben nicht zwangsläufig ausschließen müssen. Vor diesem Hintergrund erscheint die interdiskursive Kleidungsdarstellung im Ereck als wesentlicher Bestandteil eines literarischen Entwurfs adliger Vollkommenheit, der „sowohl den Geboten der christlichen Religion als auch den Erwartungen der Gesellschaft“³⁶⁴ gerecht zu werden sucht. Mit dem Ziel der erzählerischen Konzeption eines solchen Programms – Gottfried von Straßburg etwa wird diesbezüglich einige Jahrzehnte später programmatisch vom got unde der werlde gevallen sprechen (Tristan, V. 8012) – reißt der Ereck immer wieder die Grenzen zwischen den konkurrierenden Wissensbeständen des höfischen und des hofkritischen Diskurses nieder und bringt diese in einen re-integrierenden, ja sogar harmonisierenden Zusammenhang.³⁶⁵ Im gezielten Umschlag der diskursiven Positionen wird die Kleidung dabei mal nach den Regeln des hofkritischen, mal nach denjenigen des höfischen Diskurses verhandelt, und diese diskursspezifischen Regeln – insbesondere in der Erzähler- und Figurenrede des ersten Handlungsteils – mitunter auch explizit gegeneinander abgewogen (Erecks Ablehnung der Kleidergeschenke Imains, die Beschreibungen des Erzählers von Enites Investitur und Erecks erstem Turnier). Doch auch im Kontext des zweiten Aventiurewegs werden die konkurrierenden Wissensbestände des höfischen
Vgl. dazu zusammenfassend Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 428 – 430. Ausführlich zu den Verhandlungen dieses „Äquivalenzmotivs“ in der moral-didaktischen und höfischen Literatur des 12. und 13. Jhs. siehe weiterhin auch Klaus Hofbauer: Gott und der Welt gefallen. Geschichte eines gnomischen Motivs im hohen Mittelalter. Frankfurt a. M. [u. a.] 1997 (Europäische Hochschulschriften. 1630), S. 225 – 369, speziell zu Hartmann hier v. a. S. 334– 340. Hartmanns interdiskursiver Kompromiss ähnelt an dieser Stelle auffallend der von Thomasin von Zerklære wenige Jahrzehnte später im Welschen Gast vermittelten Lehre zum Umgang des Adels mit materiellen Gütern. Vgl. dazu zusammenfassend Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 420: „Die Güter des utile waren für ihn [Thomasin; J. S.-B.] nicht einfach gut, sondern moralisch zwiegesichtig, zugleich ‚böse und gut‘, und was er über sie zu sagen hatte, stand der christlichen Morallehre näher als der antiken Philosophie: ‚Männer und Frauen besitzen fünf Dinge an ihrem Körper und fünf, die nicht an den Körper gebunden sind. Über diese muß die Seele regieren, sonst bewirken sie große Untugend bei Alten wie bei Jungen. Die fünf, die man am Körper trägt, sind Stärke, Behendigkeit, Gesundheit (Lebensfreude), Schönheit und Geschicklichkeit. Die fünf Güter außerhalb des Körpers sind: Adel, Macht, Reichtum, Ansehen und Herrschaft.Wer diese zehn nicht mit dem Verstand beherrschen kann, der soll nicht Mensch heißen.‘“
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und des hofkritischen Diskurses einer fortgesetzten narrativen Überprüfung unterzogen. Allerdings nimmt Hartmanns poetische Gewandkritik vom Zeitpunkt des verligens an, wie bereits erwähnt, nun zunehmend implizite Formen an, die auf Seiten des mit zahlreichen Leerstellen konfrontierten Rezipienten eine immer stärkere interpretatorische Eigenleistung voraussetzen (z. B. ein In-Bezug-Setzen des Fehlverhaltens der beiden Grafenfiguren und der Verfallenheit Mabonagrims mit dem äußeren Schmuck Enites bzw. der amîe).³⁶⁶ Zusammenfassend finden die konkurrierenden Wissensbestände des höfischen sowie des hofkritischen Diskurses in der Darstellung des deutschsprachigen EreckRomans also teilweise eine narrative Affirmation, teilweise wird ihr diskursiver Wahrheitsanspruch in der Erzählung allerdings auch unterlaufen oder sie werden partiell miteinander kombiniert. Zu den wichtigsten „diskursive[n] Innovationen“³⁶⁷ zählt dabei die Hierarchisierung von Körper vor Kleidung – bei einer insgesamt positiven Bewertung weiblicher Schönheit – sowie der Entwurf einer instabilen Kalokagathia, bei der ein prachtvolles äußeres Erscheinungsbild nicht zwangsläufig mit der inneren Tugend des Trägers einhergehen muss, dies aber – temporär bzw. im Einzelfall – durchaus der Fall sein kann.³⁶⁸ Das Ergebnis ist eine Art interdiskursiver Kompromiss: So wird der Kleidung im Ereck zwar einerseits ihre im höfischen Diskurs behauptete essentielle Wichtigkeit im Bezug auf das weibliche Schönheitsideal sowie der Stellenwert eines verlässlichen Hinweises auf innere Tugend abgesprochen; andererseits werden aber auch die generalisierenden Vorwürfe einer christlichen Hofkritik, nach der das Anlegen und Betrachten von prächtiger Kleidung stets einen Sittenverfall des Trägers bzw. der Trägerin zur Folge hat, am Beispiel von Ereck und Enite exemplarisch entkräftet.³⁶⁹ Trotz aller moralischer Gefahren wird der Kleidung „als visuelle[m] Code“³⁷⁰ dabei sowohl eine wesentliche Bedeutung für die Integration des Protagonistenpaars in die Artusgesellschaft (Enites Investitur, Erecks erstes Tur-
Das literaturtheoretische Konzept der Leerstelle geht ursprünglich auf Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, hier v. a. S. 284, zurück und bezeichnet, wie Axel Spree: Art. Leerstelle. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 2 (2007), S. 388 f., hier S. 388, zusammenfasst, „diejenigen Positionen literarischer Texte, an denen bestimmte erwartete Informationen ausgespart sind, so daß sich für den Leser die Notwendigkeit zur eigenen Hypothesenbildung ergibt“. Zur Produktion diskursiver Innovationen als grundlegender Eigenschaft von Interdiskursen sei an dieser Stelle erneut auf die Ausführungen Links, Subjektivitäten als (inter)diskursive Ereignisse, S. 66, verwiesen. Vgl. zu dieser allgemeinen Darstellungstendenz Hartmanns beiläufig und ausschließlich mit Bezug auf Enites Neueinkleidung durch Ginover am Artushof auch schon Kraß, Geschriebene Kleider, S. 171. Es bliebe am weiteren Korpus mhd. höfischer Literatur zu überprüfen, ob sich die skizzierten innovativen Wissensbestände bzw. Argumentationsstrukturen in späteren Texten als diskursiv wirksam erwiesen haben, insofern bspw. nicht wenige von Hartmanns späteren Dichterkollegen intertextuell auf die Investitur Enites zurückgegriffen haben; vgl. dazu erneut S. 173 f. der vorliegenden Arbeit. Sieber, Ladies on the Catwalk, S. 9.
3.2 Enites wât und Yders harnasche: Kleiderkritik in Hartmanns von Aue Ereck
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nier) zugewiesen;³⁷¹ sie behält zudem den Status eines (unzuverlässigen) Index’ für innere Tugend: Stellt Ereck doch auf dem zweiten Aventiureweg vielfach unter Beweis, dass ein Ritter mit prächtiger Rüstung sich durchaus durch ere (V. 6072/5086 etc.), manhait (z. B.V. 5923/4936), frúmbkait (z. B.V. 5507/4520) und erparmen (V. 10772/9791) auszeichnen kann, genau wie sich hinter einem verführerischen Kleiderputz mitunter durchaus ein weib unwandelbäre verbergen mag (V. 7772/6791).³⁷² Dass es sich bei der skizzierten narrativen Kleiderkritik um eine wesentliche Sinnschicht des Ereck handelt, ist übrigens zumindest einem Rezipienten des Romans nicht entgangen. Dabei handelt es sich um den anonymen Verfasser des MantelFragments, welches dem Ereck anstelle eines offenbar verloren gegangenen früheren Prologs im Ambraser Heldenbuch vorangestellt ist (V. 1– 994). Denn ausgehend von der These Bumkes, dass dieser Text womöglich nie „als selbstständige Verserzählung geplant war, sondern von vornherein im Hinblick auf den ‚Erec‘ gedichtet worden ist“,³⁷³ ist es augenfällig, dass die Problematisierung von äußerem weiblichem Schmuck und innerer (Un‐)Tugend auch im Mantel ein zentrales Thema ist. So wird hier nämlich nicht nur davon erzählt, wie durch den schönen und vor allem magischen Mantel eines mysteriösen Fremden die untriuwe fast aller Frauen am Artushof (außer derjenigen Enites) erwiesen wird, sondern vom Erzähler auch gleich am Textanfang auf das Problem einer einheitlich prachtvollen Kleidermode unter den adligen Damen verwiesen, was auch hier bezeichnenderweise durch eine freigebige Ginover ermöglicht wird. Ein solches gleichförmiges Äußeres biete nämlich, so der Zu einer solchen Inszenierung der Kleidung als einem adelsinternen „symbolische[n] System sozio-kultureller Differenzierung“ im Sinne Siebers, Ladies on the Catwalk, S. 9, vgl. etwa die Beschreibungen der Gäste zu Erecks und Enites Hochzeit durch den Erzähler. Hier wird über die Kleidung bspw. die gemeinsame Zugehörigkeit zu einem bestimmten Fürstenhof (Doleceste) oder der hohe Status bzw. das Alter der anwesenden Könige ausgedrückt (die jungen Könige tragen maßvoll geschnittene schwarze Gewänder, die alten braune weite). Siehe dazu im Einzelnen V. 2900 – 3009/1907– 2016 bei Hartmann. Allerdings werden der entscheidende Anteil und der aktive Part bei der Einhaltung des rechten Liebesmaßes, wie Mertens, Enites dunkle Seite, S. 189, mit Recht hervorhebt, am Romanende eindeutig Ereck zugeschrieben: „Hartmann verhält sich kritisch gegenüber Chrétien. Enide steht in einem eher simplen Schuld-Sühne-Zusammenhang. Enite ist aus ihm entlassen, der Funktionalität nicht unterworfen. Sie wird, anders als bei Chrétien, nicht gekrönt. Dafür bleibt ihre dunkle Seite bis zum Schluss präsent. Es wäre zu einfach, das lediglich als misogynen Nachschlag Hartmanns abzutun. Es ist vielmehr seine Kritik an einer zu simplen bele conjointure; seine Skepsis gegenüber widerspruchsfreien Lösungen bleibt hier (wie dann im ‚Iwein‘) deutlich. Enite besitzt eine Tiefendimension, die im französischen Text zwar angelegt, aber nicht konsequent entfaltet ist. Das hat Hartmann als letztlich vordergründig gezeigt. Enite faziniert, weil ihn ihr beides steckt, Griseldis und Helena, und weil sie sich nicht entwickelt, weder zum Besseren noch zum Schlechteren. Sie verkörpert Unveränderlichkeit in einer perfektiblen Welt, eben deshalb bewahrt sie ihre Ambivalenz.“ Vgl. dazu im Einzelnen auch erneut V. 11000 – 11116/10019 – 10035 sowie die kritische Reflexion Erecks auf das eigene frühere Verhalten und die Vorlieben der Frauen gegenüber Mabonagrim in V. 10395 – 10419/9414– 9438. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 12. Zur Handlung sowie dem aus heutiger Sicht nicht mehr zu klärenden Verhältnis zwischen Mantel-Fragment und Ereck-Roman vgl. zusammenfassend ebd., S. 10 – 13.
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Erzähler, unglücklicherweise keinerlei Anhaltspunkt im Hinblick auf die Moral bzw. Unmoral der Trägerinnen höfischer Mode: auch was der frauen da [beim Fest; J. S.-B.] so vil, daz ich die zal daran hil; hie kunden sie alle nicht getzeln. man möchte úbel auserwelen die bösen under In. Nu gie die künigin, der tugend ein voller nam, die sich davon nie genam, was schönen frauen tochte; Si kúnde noch mochte sich davon belaiten, Sie hiess Ir beraiten | klaider und klainat nach Irem site: da emphieng si Frauen mite. der bereite man vil beider in maniger weis klaider von púnt und von gra dhaine was so arm da, man klaidet sie, wie Si wolte. darnach trúg man von golde lauter geprant und rot vil manig gút klainot: Vingerlin, häftl und riemen. Ich wäne wol, daz jeman Ir je sovil gesahe, so reiche und so wahe, das si Si mit emphie. dise Cleinete můsten si, was si der wolten, nehmen darnach, und si Ir kunden gezämen. (V. 158 – 187)
Am Handlungsschluss des Ereck erscheint die maßvolle Partizipation an solchen Formen weltlicher Pracht (unter der Voraussetzung der richtigen ethischen Grundhaltung) dann jedoch zumindest im Hinblick auf das Protagonistenpaar durchaus annehmbar, wenn nicht sogar legitim: Immerhin empfängt Ereck hier nicht nur den größtmöglichen weltlichen Ruhm (Ereck der wúndere; V. 11026/10045) sondern gemeinsam mit seiner Frau von Gott auch das ewige Leben:³⁷⁴
Vgl. dazu die auf Erecks internationalen weltlichen Ruhm bezogene Passage des Epilogs V. 11013 – 11051/10032– 10070. Zu dem bei Hartmann gleichzeitig jedoch auch sehr viel größeren Einfluss Gottes auf das erzählte Geschehen und dessen legitimatorischer Funktion in der Erzählung vgl. zusammenfassend außerdem Chinca, Der Horizont der Transzendenz, S. 31 f.: „Eine […] signifikante Erweiterung Hartmanns betrifft die Hinweise auf die göttliche Vorsehung. Chrétiens Erzähler thematisiert das Eingreifen Gottes insgesamt dreimal. Bei Hartmann vermehren sich die Kommentare, sodass Gott nicht nur als okkasioneller Nothelfer, sondern auch als ständiger Begleiter und Schirmherr der Protago-
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Wann er nach eren lebte und so, daz im got gepete mit väterlichem lone nach der welt krone Im und seinem weibe mit dem ewigen leibe. (V. 11105 – 11110/10124– 10129)
Nichtsdestotrotz ist wahre hövescheit bei Hartmann kein materiell begründbares, sondern ein primär ethisches und zudem stark religiös geprägtes Konzept, welches seinen Ausdruck vor allem im ritterlichen Schutz von Bedürftigen findet.³⁷⁵ In der Tat fällt das entsprechende Adjektiv im gesamten Roman nur spärliche zwei Mal:³⁷⁶ So wird Ereck vom Erzähler einmal im Zusammenhang mit seiner Tötung der grausamen Riesen, die den Ritter Cadoc quälen, als der hofische bezeichnet (V. 6503/5517), das zweite und zugleich letzte Mal fällt der Begriff dann im Zuge seiner Integration der achtzig Witwen von Brandigan in die Artusgesellschaft (V. 10840 – 10843/9859 – 9862: nu schied der elende / mit disen frauen von dann. / da geschah im hofelichen an, daz er sie von danne nam). Durch äußerlichen Prunk allein kann hövescheit im Ereck also weder zuverlässig angezeigt noch begründet werden – er kann diese aber durchaus begleiten.
nisten erscheint. Erec verdankt seinen ritterlichen Erfolg am ersten Tag des Turniers der sælde und der werdekeit, mit denen ihn Gott begnadet hat (V. 2437– 2439); gotes hövescheit unterstützt Enite bei der schweren Aufgabe, acht Pferde zu pflegen (V. 3461– 3467); Gott, der David die Stärke gab, Goliath zu besiegen, steht Erec in seinem Kampf mit dem Riesen bei (V. 5559 – 5565); er vereitelt Enites Selbstmordversuch mit genædeclîchem liste (V. 6071: ‚mit einem Plan, den er in seiner gnadenvollen Vorsehung fasste‘): Während sie Erecs Schwert verflucht, kommt Graf Oringles herbeigeritten, den got dar gesande und dar zuo erkorn hâte / daz er si solde bewarn (V. 6117, 6123 f.: ‚den Gott dorthin gesandt [und] dazu ausgewählt hatte, sie zu retten‘); es ist gotes wille, dass der von Limors flüchtende Erec sein Ross wiederfindet (V. 6726); nachdem er die Not der Abenteuerfahrt überwunden hat, heißt es, got und sîn [d. h. Erecs] vrümekeit hätten ihn wie einen Schiffbrüchigen an der genâden sant / uz kumbers ünden gesant (V. 7070 – 7072: ‚aus den Wogen der Mühsal an das Ufer der Gnade geführt‘); am Ende des Romans schickt Gott Erec nach Hause (V. 10054), wo sein Ansehen bis zu seinem Tod ohne Makel bleibt, als ez der himelvoget gebôt (V. 10106: ‚nach dem Willen des Himmelskönigs‘); außerdem schickt er Enites Eltern ins Land, um ihr eine Freude zu machen (V. 10116 – 10118).“ Vgl. dazu speziell mit Blick auf Hartmanns Umgestaltung der Coralus’-Episode bereits Cormeau/ Störmer, Hartmann von Aue, S. 180: „Die Technik des Kontrastes [bezogen auf Coralus’ stärkere Armut; J. S.-B.] dient […] vor allem dazu, die höfische Gesinnung jenseits aller adligen Repräsentation zu unterstreichen.“ Bei Roy A. Boggs: Hartmann von Aue. Lemmatisierte Konkordanz zum Gesamtwerk. 2 Bände. Nendeln 1979 (Indices zur deutschen Literatur. 12– 13), S. 179, sind darüber hinaus noch einige weitere Belege für hövesch/hövescheit im Ereck aufgelistet; diese basieren allerdings auf Konjekturen der Herausgeber älterer Textausgaben.
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3.3 des reis ir schiltgesteine verhouwen in daz blut: Zum Untergang des Kleider- und Rüstungsprunks im Nibelungenlied Noch wesentlich lückenhafter als zu Hartmanns Ereck gestaltet sich der Forschungsstand zur Kleiderdarstellung im Nibelungenlied (um 1200).³⁷⁷ Denn nachdem die lange Zeit abfällig als ‚Schneiderstrophen‘ bezeichneten einschlägigen Passagen von der sozialhistorischen Forschung der 1980er Jahre (Jaeger 1983, Bumke 1986, Brüggen 1989) erstmals einige Aufmerksamkeit erhalten hatten,³⁷⁸ ebbte das germanistische Interesse daran auch schon wieder merklich ab. Auf eine besondere gewandkritische Perspektive des Epos hat in diesem Zusammenhang lediglich C. Stephen Jaeger verwiesen. In seinem grundlegenden Aufsatz „The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy“ (1983) stellt er diesbezüglich allerdings nur recht beiläufig gewisse Analogien zwischen dem Mord Volkers am ‚höfischen Hunnen‘ (31. Aventiure) und der Starcatherus-Episode in der Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (um 1200) fest.³⁷⁹ Im Sinne einer systematischen Ausweitung und Vertiefung
Das Titelzitat (2212,3) entstammt der 37. Aventiure des Nibelungenlieds. Es ist Teil der Beschreibungen des Kampfes der Burgunden gegen die Bechelaren durch den Erzähler. Ich zitiere das Nibelungenlied nach folgender Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrsg., übersetzt und mit einem Anhang versehen von Helmut Brackert. 2 Bände. 29. Aufl. Frankfurt a. M. 2004. Die Entscheidung für eine der Handschrift B folgende Ausgabe hängt mit der in der älteren A/B-Fassung des Textes für die vorliegende Arbeit interessanteren (da negativeren) Perspektivierung Kriemhilds, Etzels und der Hunnenritter zusammen. Zur komplizierten Überlieferungssituation des Nibelungenlieds und seiner Editionsgeschichte vgl. überblicksartig Schulze, Das Nibelungenlied, S. 33 – 59. Kritisch zur ablehnenden Haltung der älteren Forschung (‚Schneiderstrophen‘) gegenüber den ausführlichen Kleiderbeschreibungen v. a. des ersten Handlungsteils des Nibelungenlieds vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 9, sowie ausführlich auch Marjatta Wis: Zu den ‚Schneiderstrophen‘ des Nibelungenliedes. Ein Deutungsversuch. Neuphilologische Mitteilungen 84 (1983), S. 251– 260, sowie in der jüngeren Forschung Müller, Spielregeln, S. 391. Zur sozialhistorischen Forschung der 1980er Jahre vgl. im Hinblick auf den Aspekt der Kleidung exemplarisch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 181 f., 196 f. u. 205, Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 97 u. 121, sowie grundlegend zu den antihöfischen Tendenzen des Nibelungenlieds Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, hier v. a. S. 193. Vgl. Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 193: „[T]here are elements in his [der Nibelungendichter; J. S.-B.] poem in which an anti-courtly bias is distinctly present, imbedded in the events of the narrative. One such incident is the murder of the courtly hun by Volker in Aventiure 31. At the buhurt Volker and Hagen see a hun prating about like a man in love, dressed ‚like the bride of some noble knight‘ (st. 1885). The mere sight of the man makes Volker livid with rage. He itches to give this ‚trût der vrouwen‘ a good knock, and against the warning of Gunther he rides into the fray and spits the man on his blunted lance. Here the poet is translating into bloody deeds sentiments which he shares with anti-courtly polemicists: the hun prates like a dandy (‚weigerlîchen rîten‘), wears fine clothes (‚wol gekleidet‘), and is effeminized (‚sam eines edeln ritters brût‘).“ Die Beiläufigkeit dieser Beobachtungen ist vor allem dem aspektübergreifenden Blick der Studie Jaegers auf den Gesamttext geschuldet. So erkennt er darüber hinaus etwa auch in der Konzeption des Kü-
3.3 Zum Untergang des Kleider- und Rüstungsprunks im Nibelungenlied
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dieser aufschlussreichen Beobachtungen Jaegers soll im Folgenden nun erstmals die Kleiderdarstellung des Nibelungenlieds hinsichtlich ihrer spezifischen Referenzen auf den höfischen und den hofkritischen Diskurs untersucht werden. Dabei wird zu zeigen sein, wie im Zuge der Verhandlungen des Interdiskurselements Kleidung im mittelhochdeutschen Heldenepos die höfische Diskursposition zunehmend durch die hofkritische abgelöst und dabei das Feld des Sag- bzw. Erzählbaren immer weiter eingeschränkt wird.³⁸⁰ So schlägt im Fortschreiten der Handlung eine zu Beginn noch auffallend höfisierende Gewanddarstellung schrittweise in eine scharfe Kleiderkritik um, über die das Figurenattribut prachtvoller Bekleidung schließlich nicht nur als schöne Fassade von Betrug und alles vernichtender Gewalt entlarvt, sondern dessen erzählerischer Einsatz am Ende sogar auf den Bereich des Heidnischen begrenzt wird.
3.3.1 Der Anfang des Nibelungenlieds: Kleidung als hövescheit Der erste Teil des Nibelungenlieds erzählt von der Werbung des niederländischen Königssohns Siegfried um die burgundische Königstochter Kriemhild. Aus Liebe zu Kriemhild lässt sich Siegfried in die zweifelhaften Machenschaften von deren Bruder Gunther, dem König von Burgund, verwickeln. Denn dieser beabsichtigt, die isländische Königin Brünhild zu heiraten, welche jedoch über magische Kräfte verfügt und nur einen Recken als ihren Ehemann akzeptieren will, der sie in drei heroischen Wettkämpfen (Weitsprung, Stein- und Speerwurf) besiegen kann – eine Herausforderung, der nur der geradezu übermenschlich starke und über eine Tarnkappe verfügende Siegfried gewachsen ist. Im Gegenzug für seine Dienste erhält Siegfried von Gunther die Erlaubnis, die wunderschöne Kriemhild zu heiraten.³⁸¹ Das Minneglück scheint zunächst perfekt. Doch die Beteiligung am Betrug an Brünhild hat für den Niederländer noch Jahre später schwere Konsequenzen: Aufgrund seines gefährlichen
chenmeisters Rumold (ebd., S. 193 f.) oder in der spezifischen Akzentuierung höfischer Zucht im Vorfeld der Ermordung Siegfrieds (ebd., S. 195) antihöfische Tendenzen des Nibelungenlieds bzw. der Geisteshaltung seines Dichters. Eine solche Art der Bewegung im Nibelungenlied beschreibt, jenseits einer diskurstheoretischen Textlektüre, schon Müller, Spielregeln, S. 454, unter dem Stichwort der „Dekonstruktion der nibelungischen Welt“: „Nicht nur im großen wird erzählend eine Welt aufgebaut, um am Ende wieder niedergerissen zu werden, sondern wechselnde Konstruktionen mit nicht allzu vielen, untereinander verwandten Elementen lösen einander ab und relativieren sich gegenseitig. Es gibt einen anfangs unmerklichen, später immer rapideren Umbau dessen, was eben noch als gültig erzählt wurde. Da rücken Figuren aus dem Licht ins Dunkel und umgekehrt, da erweisen sich vorbildliche Handlungen als desaströs und fragwürdige Haltungen als ruhmwürdig, Hilfe ist Betrug, Verrat Leistung für den Herrschaftsverband, unbestrittene Werte pervertieren, und andere treten an ihre Stelle, die eine soziale Ordnung zerfällt, und die, die an ihre Stelle tritt, geht auch sogleich unter.“ Zur komplexen narrativen Zergliederung und Zerdehnung der Werbung Siegfrieds um Kriemhild vgl. zusammenfassend Schulze, Das Nibelungenlied, S. 141 f. Zum rechtlichen Vertragscharakter des „Frauentausch[s] zwischen Gunther und Sivrit“ siehe weiterhin auch Müller, Spielregeln, S. 358.
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Mitwissens und seiner heroischen Überlegenheit entschließt man sich in Burgund nämlich schließlich dazu, Siegfried zu ermorden. Die Ausführung der Tat übernimmt Hagen, Gunthers mächtigster Vasall. Im Zusammenhang mit der ausführlichen Vorstellung der zentralen Höfe des ersten Handlungsteils entfaltet der Dichter des mittelhochdeutschen Heldenepos ein beeindruckendes Panorama höfischer Zivilisation. Die Forschung hat diesbezüglich im Anschluss an eine gängige Terminologie zum zeitgenössischen Roman von „eine[r] Art adaptation courtoise“ gesprochen, in deren Zuge „für die Figuren und ihre Geschichte“ zunächst ein „Lebensraum“ entworfen werde, „in dem höfische Werte gelten“ und „Schönheit, Ehre, Minne […] als Leitbegriffe auf[tauchen]“.³⁸² Als Inbegriff des höfischen Menschenideals erscheinen dabei v. a. Siegfried und Kriemhild, die typushaft in die Handlung eingeführt und dadurch von Beginn an aufeinander zukomponiert werden.³⁸³ So konstatiert der Erzähler im Rahmen der ersten Aventiure zunächst mit Bezug auf die Kriemhildfigur eine ideale Kongruenz von Innen und Außen, wenn er diese als ein vil édel magedîn, / daz in allen landen niht schœners mohte sîn (2,1– 2) vorstellt, an deren tugende sich zudem jede andere Frau ein Vorbild nehmen könne (3,4).³⁸⁴ Als ausgesprochen höfisch werden im Folgenden dann auch die wichtigsten Mitglieder ihres Wormser Familienverbunds präsentiert: So sind Kriemhilds Brüder Gunther, Gernot und Giselher nach Aussage des Erzählers sowohl
Schulze, Das Nibelungenlied, S. 142. Zur „Höfisierung und Aktualisierung der Geschichte“ des Nibelungenlieds vgl. ausführlich das entsprechende Kapitel ebd., S. 142– 176. Schulze (ebd., S. 142) stellt hier allerdings keinen Zusammenhang zwischen den höfisierenden Tendenzen des ersten und den zunehmend antihöfischen des zweiten Handlungsteils her, sondern sieht darin lediglich ein Bemühen des Dichters, „die alte Geschichte von Mord und Rache dem Vorstellungshorizont und der Realitätserfahrung seiner Zeitgenossen anzupassen“. Den Begriff „adaptation courtoise“ verwendet in einer solchen Weise etwa auch Heike Sahm: Gold im Nibelungenlied. In: Die Farben imaginierter Welten: Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Monika Schausten. Berlin/New York 2012 (LTG. 1), S. 125 – 145, hier S. 125. Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 54, schreibt den Höfisierungstendenzen des Nibelungenlieds hingegen v. a. eine warnende Funktion für das adlige Publikum zu: „Die uralte Untergangsfabel wird gefüllt mit höfischen Versatzstücken und (teilweise) höfischem Personal. Die Welt, die zugrundegeht, ist eine beunruhigend nahe höfische Welt, keine ferne germanische, trotz einiger archaischer Elemente (Siegfrieds heroische Jugend, Brünhild in Island). […] Die Höfisierung zeigt an, dass die Gefährdung einer Kriegergesellschaft durch unkontrollierte Gewalt auch den hochmittelalterlichen Kriegeradel betrifft.“ Auf eine kritische Perspektivierung der höfischen Kultur im Nibelungenlied verweisen hingegen bereits Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, hier v. a. S. 198 – 200, Müller, Spielregeln, S. 435 – 456, und Walter Haug: Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Studienausgabe. Tübingen 1990, S. 293 – 307, hier v. a. S. 305 – 307, welcher die Handlungsstruktur des Nibelungenlieds hier als Antithese zum Artusroman beschreibt. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 142. Ähnlich außerdem auch Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 54, und Haug, Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied, S. 295. Vgl. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 143 f. Siehe dazu im Einzelnen auch das Nibelungenlied, Str. 3: Der minneclîchen meide triuten wol gezam. / ir muoten küene recken, niemen was ir gram. / âne mâzen schœne sô was ir edel lîp: / der júncfróuwen tugende zierten ándériu wîp.
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von arte hôch angesehen (6,3: lobelîchen êren), edel unde rîch (4,1) als auch milte, erborn und mit kraft unmâzen küene ausgestattet (5,1– 2).³⁸⁵ Diesem Duktus schließt sich in der nachfolgenden Aventiure weiterhin auch die Einführung der Siegfriedfigur an, welcher, so konstatiert erneut der Erzähler, nicht nur von hohem Adel (20,1: eins edelen küneges kint), stark (21,3: sînes lîbes sterke) und von tugendhafter Veranlagung sei (23,2: sîn selbes muote waz túgende), sondern darüber hinaus auch über ein großes gesellschaftliches Ansehen (22,3: êren) sowie eine physische Schönheit verfüge, die ihn bei den Frauen ausgesprochen beliebt mache (22,3: wie schœne was sîn lîp).³⁸⁶ Doch von allen vornehmen Damen gilt Siegfrieds Interesse, wie erwähnt, nur Kriemhild, für die er, im Anschluss an einen Kernbegriff der höfischen Lyrik französischer Provenienz, hôhe minne (47,1) empfindet. Zur skizzierten adaptation courtoise der ersten Aventiuren des Nibelungenlieds trägt neben der von Ursula Schulze (1997) und Elisabeth Lienert (2015) diesbezüglich fokussierten „Minnethematik“³⁸⁷ allerdings auch eine überaus höfisierende Kleiderdarstellung bei, die sich nun wiederum nicht auf die Figuren Siegfried und Kriemhild beschränkt, sondern auch deren Familienverbände mit einschließt.³⁸⁸ Dabei rücken die höfischen Kleidermoden erstmals im Zusammenhang mit Siegfrieds Schwertleite in den Fokus, welche sich im unmittelbaren Vorfeld seiner Werbungsfahrt nach Burgund abspielt und das Zentrum der 2. Aventiure bildet (29 – 42). Denn während die zeremonielle Schwertübergabe vom Erzähler hier überraschenderweise weitestgehend ausgeblendet bleibt, wird die feierliche „Aufnahme in den Ritterstand“ des niederländischen Königssohns (31,4: Sîfrit ritters namen gewan) v. a. über das Anlegen
Vgl. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 144 f. So weiterhin auch Haug, Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied, S. 298, der in diesem Zusammenhang mit Blick auf die 3. Aventiure außerdem den Triumph des durch die Diplomatie Gernots repräsentierten höfischen Handlungsprinzips gegenüber heroischen Mustern hervorhebt. Vgl. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 147 f. Vgl. dazu weiterhin auch Haug, Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied, S. 296. Zur höfisierenden Einführung der Siegfriedfigur siehe im Einzelnen auch Str. 21– 23 des Nibelungenlieds. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 145, und Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, hier v. a. S. 54. Überblicksartig zu den entsprechenden Referenzen der Anfangsaventiuren auf den zeitgenössischen Minnesang vgl. weiterhin auch Schulze, Das Nibelungenlied, S. 142– 151, hier v. a. S. 145: „Der Dichter führt dieses zentrale Thema der höfischen Literatur in doppelter literarischer Brechung ein: durch den Falkentraum und durch das Gespräch zwischen Mutter und Tochter über die Liebe, das sich an den berühmten Dialog zwischen Lavinia und ihrer Mutter aus dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke anlehnt. Im Nibelungenlied wie in Veldekes Roman weist die Tochter für sich den Gedanken an die Liebe zurück, und die Mutter erläutert deren existenzbestimmende Kraft. Der Dichter benutzt die Thematik dann weiterhin, um die Handlung in Gang zu bringen und um einzelne Schritte zu motivieren; er verbindet Brautwerbung und Minnedienst und nimmt sogar den Terminus hôhe minne auf, die er als Dienst-Lohn-Beziehung definiert. Diese literarischen Motivcollagen kennzeichnen die Signatur des Nibelungenlied-Dichters in den nächsten Aventiuren.“ Eine Analyse der Kleiderstrophen des Nibelungenlieds bietet Wis, Zu den ‚Schneiderstrophen‘ des Nibelungenlieds.
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eines neuen goldenen Gewands mit vil der edelen steine (30,4) visualisiert.³⁸⁹ Im Anschluss an die topischen Argumentationsweisen des höfischen Diskurses wird prachtvoller Kleidung im ersten Handlungsteil des Nibelungenlieds jedoch nicht nur die Funktion eines Symbols ritterlicher Wehrhaftigkeit zugeschrieben, sondern darüber hinaus auch diejenige eines äußeren Ehrzeichens.³⁹⁰ Auf diesen Topos referiert im Folgenden nämlich Siegfried, wenn er seine Mutter Sieglinde nachdrücklich darum bittet, für ihn und die zwölf anderen Mitglieder seines Reisetrupps Gewänder von solcher Pracht herzustellen, dass sie seinem weltlichen Ansehen zuträglich seien. Diskurstypisch wird die Anfertigung prachtvoller Kleidung dabei zudem als ein stereotyp weibliches Beschäftigungsfeld inszeniert, über das adlige Damen wie Sieglinde Anteil an der Politik der Männer haben:³⁹¹ Sîvrit der herre gie dâ er si sach. wider sîne muoter er güetlîchen sprach: ‚frouwe, ir sult niht weinen durch den willen mîn. jâ wil ich âne sorge vor allen wîganden sîn. Und helfet mir der reise in Burgonden lant, daz ich und mîne recken haben solch gewant, daz alsô stolze helde mit êren mugen tragen. des wil ich iu genâde mit triuwen wærlîchen sagen.‘ ‚Sît du niht wil erwinden‘, sprach frou Siglint, ‚sô hilfe ich dir der reise, mîn éinégez kint, mit der besten wæte, die ritter ie getruoc, dir und dînen gesellen: ir sult ir füerén genuoc.‘ Dô neic der küneginne Sîvrit der júnge man. er sprach: ‚ich wíl ze der vérte niemen mêre hân niwan zwelf recken: den sol man prüeven wât. ich wil daz sehen gerne wiez umbe Kriemhilde stât.‘ Dô sazen schœne frouwen náht únde tac, daz lützel ir deheiniu róuwé gepflac, unze man geworhte die Sívrides wât. er wolde sîner reise haben deheiner slahte rât. (61– 65)
Schulze, Das Nibelungenlied, S. 149. Erläuternd zur besonders höfisierenden Akzentuierung der Siegfriedfigur in dieser Szene im Vergleich mit der zeitgenössischen Historiographie vgl. weiterhin ebd., S. 148 – 150. Zur Kleidung als einem äußeren Ehrzeichen im Kontext des höfischen Diskurses vgl. erneut Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 207, sowie die analoge Argumentation Gunthers in Str. 345: Dô sprach der degen guoter: ‚sô wil ich selbe gân / zuo mîner lieben muoter, ob ich erbiten kan / daz uns ir schœnen mägede helfen prüeven kleit, / diu wir tragen mit êren für die hêrlîchen meit.‘ Vgl. dazu etwa Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 196, und ausführlicher Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 116 – 123.
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Die Verantwortung für die Anfertigung von prächtigen neuen (Schutz‐)Waffen übernimmt hingegen, ebenfalls genderbedingt, Siegfrieds Vater Siegmund, der sein Königreich in Burgund ebenfalls würdig repräsentiert sehen will: Sîn vater hiez im zieren sîn ritterlîch gewant, dâ mit er wolde rûmen daz Sigmundes lant, und ir vil liehten brünne die wurden ouch bereit und ir vesten helme, ir schilde schœne únde breit. (66)
Als Siegfried und seine Männer einige Tage später Burgund erreichen, erweisen sich die Bemühungen des Xantener Königspaars dann auch als ausgesprochen erfolgreich. Denn aufgrund der besonderen Schönheit und Pracht ihrer Rüstungen, die sie bereits auf den ersten Blick als herrliche Krieger akzentuiert, werden die Niederländer hier von allen Seiten angestarrt (74,3: kapfen):³⁹² Ir schilde wâren niuwe, líeht únde breit, und vil schœne ir helme, dâ ze hove reit Sîvrit der vil küene in Gúnthéres lant. man gesach an helden nie sô hêrlîch gewant. Diu ort ir swerte giengen nider ûf die sporn. ez fuorten scharpfe gêren die ritter ûz erkorn. Sîvrit der fúorte ir einen wol zweier spannen breit, der ze sînen ecken vil harte vreislîchen sneit. Die goltvarwen zoume fuortens an der hant, sídîniu fúrbüege: sus kômens in daz lant. daz volc si allenthalben kapfen an began. dô liefen in engegene vil der Gúnthéres man. (72– 74)
Und auch bei König Gunther weckt das im Zuge einer hochmittelalterlichen „Poetik der Visualität“³⁹³ vom Erzähler hier ausführlich beschriebene Äußere der Ankömmlinge sofort ein starkes Begehren danach, etwas über die Identität des sie anführenden Helden in Erfahrung zu bringen: Den künec des hete wunder, von wannen kœmen dar die hêrlîchen recken in wæte lieht gevar und mit sô guoten schilden, niuwe unde breit. daz im daz sagte niemen, daz was Gúnthére leit. (80)
Und selbst dem grimmen Hagen behagt der prachtvolle Anblick der Recken aus den Niederlanden, wie er sagt, ausgesprochen wol (84,3), denn er interpretiert ihre äußere Zier nicht nur als adliges Standessymbol (85,2), sondern, im Anschluss an die Tra-
Auf diesen Effekt der Rüstungspracht Siegfrieds und seines Gefolges auf die burgundische Bevölkerung verweist auch schon Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 140. Ebd.
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dition der Kalokagathia, auch als äußeres Abzeichen einer vornehmen Gesinnung.³⁹⁴ Diese wird von ihm hier mit der Tugendformel hôhe[s] gemuot zusammengefasst (85,4): Er [Hagen; J. S.-B.] sprach, von swannen kœmen die recken an den Rîn, ez möhten selbe fürsten oder fürsten boten sîn. ‚ir ross diu sint schœne, ir kleider harte guot.‘ von swannen daz sie füeren, ‚si sint hôhe gemuot.‘ (85)
Auf diese Weise wird prachtvolle Kleidung also schon früh im Handlungsverlauf des Nibelungenlieds als ein wesentlicher Bestandteil von hövescheit inszeniert. Im Kontext des höfischen Fests zu Ehren von Siegfrieds Sieg über die Dänen und Sachsen (5. Aventiure) – dem ersten großen Dienst, den er Gunther während seines Aufenthalts am burgundischen Hof erweist –,³⁹⁵ werden prächtige Gewänder dann weiterhin als visueller Anlass zur Freude (hilaritas) inszeniert.³⁹⁶ So lobt der Erzähler hier im erneuten Rückgriff auf höfisierende Topoi die Kleiderzier der Damen sowie insbesondere die Rüstungspracht der Ritter, insofern sich deren Anblick tröstlich auf die verwundeten Krieger auswirke, die das festliche Getümmel von den Fenstern der Burg aus betrachten. Auf diese Weise könne man zumindest temporär den Gedanken an den drohenden Tod vergessen (269,2) und sich stattdessen in eine dem Anlass angemessenere Gemütsverfassung begeben: In [den Festgästen; J. S.-B.] was ir gesidele allen wol bereit, den hœchsten und den besten, als uns daz ist geseit, zwein und drîzec fürsten dâ zer hôchgezît. dâ zierten sich engegene die schœnen frouwen wider strît. […] Vil goltrôter sätele si fuorten in daz lant, zierlîche schilde und hêrlîch gewant brâhten si ze Rîne zuo der hôchgezît. manegen ungesunden sach man vrœlîchen sît. Die inden beien lâgen und heten wunden nôt, die muosen des vergezzen, wie herte was der tôt. die siechen ungesunden muosen si verklagen. si freuten sich der mære gein der hôchgezîte tagen, Wie si leben wolden dâ zer wirtschaft. wunne âne mâze, mit freuden überkraft,
Zur großen Bedeutung der antiken Kalokagathia-Tradition für die höfische Kultur des Hochmittelalters vgl. erneut Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 204 f. Zum rechtlichen und narrativen Status dieser Dienstleistung Siegfrieds an Gunther und der daraus erwachsenden Bindung zwischen beiden vgl. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 152 f. Zur antiken Kategorie der hilaritas und ihrer grundlegenden Bedeutung für das höfische Verhaltensideal siehe nochmals Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 232– 238.
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heten al die liute, swaz man ir dâ vant. des huop sich michel freude über ál daz Gúnthéres lant. (266 – 270)
Eine ganz besondere Rolle spielen die höfischen Kleidermoden dann schließlich auch im Zusammenhang mit Gunthers Werbungsfahrt nach Isenstein (6. Aventiure), wobei sie nun außerdem erstmals eng mit Kriemhild assoziiert werden.³⁹⁷ So rät Siegfried seinem politischen Freund im Vorfeld der Reise mit Nachdruck dazu, bei der Ankunft in Isenstein so rîchiu kleider wie möglich zu tragen (344,3), denn nur auf diese Weise könne vermieden werden, dass Brünhild und ihre stets exquisit gekleidete Hofgesellschaft den Anblick der Burgunden als schande (344,4) wahrnähmen: ‚Diu mære wesse ich gerne‘, sprach der künec [Gunther; J. S.-B.] dô, ,ê daz wir hinnen füeren (des wære ich harte vrô), waz wir kleider solden vor Prünhilde tragen, diu uns dâ wol gezæmen: daz sult ir [Siegfried; J. S.-B.] Gunthere sagen.‘ ‚Wât die aller besten die ie man bevant, die treit man zallen zîten in Prünhilde lant. des sulen wir rîchiu kleider vor der frouwen tragen, daz wirs iht haben schande, sô man diu mære hœre sagen.‘ (343 f.)
Prächtige Kleidung erscheint hier in der Rede Siegfrieds also noch einmal diskurstypisch als äußerliches Merkmal, ja Garant der sozialen Akkumulation von êre.³⁹⁸ In den folgenden Strophen kommen dann noch weitere höfisierende Begrifflichkeiten ins Spiel, wenn etwa der Erzähler Hagens Rat an Gunther, mit dieser Aufgabe statt der alten Ute erstmals die außergewöhnlich talentierte Schwester zu betrauen, als einen Ausdruck von hêrlîchen siten (=elegantia morum) bewertet (346,1):³⁹⁹ Dô sprach der degen guoter [Gunther; J. S.-B.]: ‚sô wil ich selbe gân zuo mîner lieben muoter, ob ich erbiten kann daz uns ir schœnen mägede helfen prüeven kleit, diu wir tragen mit êren für die hêrlîchen meit.‘ Dô sprach von Tronege Hagene mit hêrlichen siten: ‚waz welt ir iuwer muoter solher dienste biten? lât iuwer swester hœren wes ir habet muot: sô wirdet iu ir dienest zuo dirre hovereise guot.‘ (345 f.)
Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 121. Vgl. dazu allgemein schon Brüggen, Kleidung und adliges Selbstverständnis, S. 207. Zum antiken Konzept der elegantia morum vgl. erneut Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 189 f. Der erste Beleg für dessen direkte Übersetzung ins Mittelhochdeutsche (schœne site) finde sich, so Jaeger (ebd., S. 198 f.), zwar erst in Gottfrieds Tristan (im Kontext der Entführung des Protagonisten durch die norwegischen Kaufleute; V. 2242). Zuvor verwenden allerdings schon Heinrich von Veldeke sowie Hartmann von Aue die verwandte Form schœne zühte. Die hier im Nibelungenlied eingesetzte Variante hêrliche[] site[] (346,1) rückt im Vergleich mit den anderen Formen m. E. deutlicher den Adelsstand (=Herrenstand) in den Vordergrund; vgl. dazu das semantische Spektrum von hêrlîch („1. vornehm, ausgezeichnet, schön, prächtig, herrlich […] 2. wie es einem herren geziemt“) im Mittelhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 668a.
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Zu diesem Gespräch erwarten Kriemhild und ihr Gefolge Gunther und Siegfried dann natürlich überaus prächtig gezieret (348,1), was vom Erzähler hier als wesentlicher Bestandteil einer vornehmen Begrüßung unter Adligen (beherrschte Gestik in Verbindung mit einer wohlgeordneten Kleidung) nun außerdem der diskursspezifischen Tugend der zühten (348,3=disciplina) zugeordnet wird:⁴⁰⁰ Dô enbot er sîner swester daz er si wolde sehen und ouch der degen Sîvrit. ê daz was geschehen, dô het sich diu schœne ze wunsche wol gekleit. daz komen der vil küenen daz was ir mæzlîche leit. Nu was ouch ir gesinde gezieret als im zam. die fürsten kômen beide, dô si daz vernam. dô stuont si von dem sedele, mit zühten si dô gie dâ si den gast vil edele und ouch ir bruodér enpfie. (347 f.)
In diesem Kontext werden die weltlichen Kleidermoden in der Rede Gunthers schließlich dann auch einmal explizit mit dem Zentralbegriff des höfischen Diskurses in Verbindung gebracht.⁴⁰¹ Denn zur Vermittlung eines höfschen ersten Eindrucks in
Zum engen Zusammenspiel von „Gestik“ und „Kleidung“ der höfischen Dame, in welchem sich nach den Argumentationsweisen des höfischen Diskurses „Harmonie, Ruhe und Selbstdisziplin“ ausdrücken, vgl. erneut Ehrismann, Ehre und Mut, S. 78 (Zitate ebd.); zur antiken Kategorie der disciplina weiterhin Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 183 – 188. Die mhd. Formen höfsch bzw. hövsch und hövescheit werden nach Franz H. Bäuml, Eva-Maria Fallone: A Concordance to the Nibelungenlied (Bartsch-De Boor Text). With a structural pattern index, frequency ranking list and reverse index. Leeds 1976 (Compendia. 7), S. 310, abgesehen von der hier zitierten Strophe (350,4), lediglich noch vier weitere Male im gesamten Nibelungenlied verwendet. Dabei lassen sich nun wiederum höchst interessante Verwendungstendenzen feststellen: So wird der Begriff hövescheit in Str. 131,4 erstmals zur näheren Beschreibung des Minnewerbens Siegfrieds und in enger Verknüpfung mit dem lyrischen Zentralbegriff der hôhe[n] minne verwendet: Swâ sô bî den frouwen durch ir hövescheit / kurzwîle pflâgen die riter vil gemeit, / dâ sah man ie vil gerne den helt von Niderlant. / er het ûf hôhe minne sîne sínné gewant (Str. 131). Eine ähnliche Verwendungsweise liegt im Weiteren dann in Str. 912 vor, wo Gunther im Zusammenhang mit der Ausfahrt der burgundischen Ritter zur Jagd die Option des männlichen Verbleibens am Hof mit den Frauen als (aus seiner Sicht offenbar akzeptables) ‚höfisches‘ Verhalten bezeichnet: ‚Allen mînen gesten sól mán daz sagen, / daz wir vil vrúo rîten. die wellen mit mir jagen, / daz si sich bereiten; die aber hie bestân / hövschen mit den frouwen, daz sî mir líebé getân.‘ In Str. 1342 wird das Adjektiv hövesch dann außerdem zur Beschreibung des äußeren Erscheinungsbilds von Etzels froh gestimmtem Gefolge bei der Begrüßung Kriemhilds in Tulln verwendet: Vor Étzéln dem künege ein ingesinde reit, / vrô únd vil rîche, hövesch unt gemeit, / wol vier und zweinzec fürsten, rîch unde hêr. / daz si ir frouwen sâhen, dâ von engerten si niht mêr. Das letzte Mal kommt das zentrale Adjektiv des höfischen Diskurses dann schließlich mit Bezug auf die hunnischen spileman Werbel und Swemmel zum Einsatz, als diese den Burgunden die fatale Einladung ihrer Herrin überbringen (1453): Gîselher si brâhte da er die frouwen [Ute; J. S.-B.] vant. / die boten sach si gerne von der Hiunen lant. / si gruoztes minneclîche durch ir tugende muot. / dô sagten ir diu mære die boten hövesch únde guot. Als wichtigstes äußeres Merkmal von Werbel und Swemmel werden dabei einige Strophen zuvor (1433 – 1435) ihre kostbaren reisekleider (1434,1) erwähnt. Aus dieser Zusammenschau ergibt sich der interessante Befund, dass der Zentralbegriff des höfischen Diskurses im Nibelungenlied bevorzugt im Zusammenhang mit dem ritterlichen Frauen-
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Isenstein (350,3) sei es, so Gunther hier, unbedingt von Nöten, dass Kriemhild entsprechend zierlîch gewant (350,4) für die Brautwerber herstelle: Dô sprach der künec Gunther: ‚frouwe, ich wilz iu sagen. wir müezen michel sorgen bî hôhem muote tragen. wir wellen höfschen rîten verre in vremdiu lant; wir solten zuo der reise haben zierlîch gewant.‘ (350)
Die Herstellung der insgesamt 48 neuen Gewänder – Gunther wünscht, dass jeder der vier Mitglieder seines Trupps an jedem der vier eingeplanten Reisetage die Kleidung ganze drei Mal wechseln kann (360,2– 3) – durch Kriemhild, die den Schnitt entwirft (362,4), sowie drîzec meide […] / ûz ir kemenâten (361,2– 3), die ihr beim Nähen helfen, dauert ganze siben wochen (366,3).⁴⁰² Dabei wird jedes einzelne Kleidungsstück nur aus den kostbarsten Materialien angefertigt: arabische, marokkanische und lybische sîden (358,2; 362,1; 364,1– 2), schildeweise gesteine (358,3) sowie pféllel […] swarz alsam ein kol, die noch kostbarer als hârmîne und daher dem Anlass genau angemessen seien (365,3). Nach Aussage des Erzählers, der den Herstellungsprozess in dreizehn Strophen ausführlich schildert, entstehen hier unter Kriemhilds Leitung jedenfalls die besten Gewänder, die je von Recken getragen wurden (370,4: von bezzer recken wæte kunde niemen niht gesagen): Sie sind weder ze kúrz noch ze lanc, sondern zeichnen sich in jeglicher Hinsicht durch eine perfekte höfische mâze aus (369,4). Gunther, Siegfried, Hagen und Dankwart freuen sich nach der ersten Ansicht daher auch schon sehr, die neuen Kleider bald ze hove in Isenstein zu tragen (370,3). Dort angelangt erzielen sie dann schließlich auch die beabsichtigte Signalwirkung: Durch das isländische gesinde werden die Burgunden Brünhild (aufgrund ihres prächtigen Äußeren) als ausgesprochen lobelîch[e] und hêrlîche Recken angekündigt (412,1– 4) und daher von dieser umgehend empfangen (416 – 419). Mit der Ankunft des burgundischen Trupps in Isenstein werden die auffallend höfisierenden Vorzeichen der Kleiderdarstellung der ersten fünf Aventiuren des Nibelungenlieds nun allerdings zunehmend aufgelöst und durch eine kritischere Strömung unterwandert. Den Beginn dieser Tendenz markiert die berühmte Standeslüge, die am Beginn der 7. Aventiure steht (397– 401).⁴⁰³ Denn wie schon Bruno Quast
dienst, der Kleidung und dem Heidnischen zum Einsatz kommt. Insofern drückt sich die im Folgenden noch zu erörternde kritische Perspektivierung der Wissensbestände des höfischen Diskurses im Nibelungenlied schon in der kalkuliert reduzierten Verwendungsweise seiner Zentralbegrifflichkeit aus. Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 121. Ein Gegensatz zwischen prachtvoller Bekleidung und einem unhöfischen (da heroischen) Figurenverhalten lässt sich darüber hinaus natürlich auch schon im Hinblick auf die Ankunft Siegfrieds in Burgund in der 3. Aventiure konstatieren. Allerdings kann sich hier, bedingt durch Gernots diplomatische Kompetenzen, noch einmal ein positiv konnotiertes Prinzip von hövescheit durchsetzen, das der Unterbindung von Gewalt dienlich ist; vgl. dazu Str. 123 – 127, hier v. a. 127,4: dô wart der herre Sîvrit ein lützel sánftér gemuot. Dies lässt sich mit Bezug auf die betrügerischen Handlungen der Brautwerber in Isenstein gerade nicht mehr konstatieren. Allerdings erscheint die Kleiderkritik des Nibelungenlieds im ersten Handlungsteil durchaus noch höfisierend gebrochen, insofern hier – bspw. im Zusammenhang
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hinsichtlich der visuellen Inszenierung des Stratordiensts Siegfrieds an Gunther hervorhebt, wird das auf diese Weise vor Brünhild suggerierte Ranggefälle durch die Gleichfarbigkeit der Kleidung der beiden Hauptbeteiligten latent unterlaufen: „Die Farben, die mit im Spiel sind, signalisieren gegenüber der Unterwerfungsgeste, wie sie von Siegfried ausgeübt wird, gesellschaftliche Gleichheit.“⁴⁰⁴ So sind die Gewänder (und Pferde) Siegfrieds und Gunthers gemäß ihres königlichen Standes von snêblanker varwe (399,2), während Hagen und Dankwart als Vasallen hier beide schwarze rîchiu kleit tragen (402,3): Er [Siegfried; J. S.-B.] habte im dâ bî zoume daz zierlîche marc, gúot únde schœne, vil michel unde starc, unz daz der künec Gunther in den satel gesaz. alsô diente im Sîfrit, des er doch sît vil gar vergaz. […] Rehte in einer mâze den helden vil gemeit von snêblanker varwe ir ros unt ouch ir kleit wâren vil gelîche. ir schilde wol getân die lûhten von den handen den vil wætlîchen man. […] Mit in kom dô Dancwart unt ouch Hagene. wir hœren sagen mære, wie die degene von rabenswarzer varwe truogen rîchiu kleit. ir schilde wâren schœne, michel, guot unde breit (397– 402)
Einerseits fungiert die vornehme Gewandung der Brautwerber hier also – bezogen auf die Isländerinnen – durchaus noch als äußeres Ehrzeichen sowie, zumindest in der Theorie, als visueller Code im Sinne des höfischen Diskurses (welcher, befände man sich nicht in fremdländisch-heroischen Gefilden, durchaus noch Orientierung innerhalb der adligen Hierarchien bieten könnte).⁴⁰⁵ Zugleich erscheinen die von Kriemhild
mit den Beschreibungen der Kleiderzier der burgundischen Hofdamen anlässlich des Empfangs der Brautwerber aus Isenstein (568 – 578) oder im Kontext der Ausstattung der Xantener Hofdamen durch Siegfried und Siegmund für das Fest am Burgundenhof (765f.) – immer wieder auch auf den höfischen Diskurs zurückgegriffen wird. Bruno Quast: Monochrome Ritter. Über Farbe und Ordnung in höfischen Erzähltexten des Mittelalters. In: Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hrsg. von Monika Schausten. Berlin 2012 (LTG. 1), S. 169 – 182, hier S. 169. Dabei ist hier mit den unterschiedlichen Farben der Gewänder der Brautwerber, wie Quast ausführt, allerdings neben dem ständischen kein wertungsbezogenes Gefälle verbunden: „Eine differenzierte Wertigkeit indes wird den Farben Weiß und Schwarz […] nicht unterstellt, sind sie in dieser Hinsicht kaum zu unterscheiden. Denn alle vier stehen stattlich im Burghof, ‚die in mîner bürge sô hêrlîche stân‘ (410,3), heißt es aus Brünhilds Mund.“ Die kalkulierte Gleichfarbigkeit der Kleidung bemerkt zuvor beiläufig auch schon Schulze, Das Nibelungenlied, S. 191 f. So hebt schon Quast, Monochrome Ritter, S. 170, hervor, dass sich hier „[f]ür Brünhild, die den Regeln heroischer Exorbitanz folgt und daher zunächst physische Stärke als Ausweis gesellschaftlicher
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hergestellten Gewänder nun jedoch auch als prächtige Fassade vierer Ritter, deren betrügerische Handlungen Jahre später den Tod zahlloser Helden zur Folge haben werden. Damit partizipiert von nun auch das Nibelungenlied an der „kritisch-skeptische[n] Relationierung von Außen […] und Innen“,⁴⁰⁶ die so zentral für die lateinische Hofkritik ist. Denn dass neben Kriemhild und Brünhild, deren Mitschuld am Untergang gleich in den ersten Strophen des Epos mehrfach hervorgehoben wird (2,3 – 4 u. 6,4), auch Gunthers Entscheidung, um eine für ihn unpassende Braut zu werben, dazu beitragen wird, darauf verweist der Erzähler gleich zu Beginn des Handlungsabschnitts:⁴⁰⁷ Den stein warf si [Brünhild; J. S.-B.] verre, dar nâch si wîten spranc. swer ir minne gerte, der muose âne wanc driu spil an gewinnen der frouwen wol geborn. gebrast im an dem einen, er hete daz houbet sîn verlorn. Des het diu juncfrouwe unmâzen vil getân. daz gehórte bî dem Rîne ein ritter wol getân. der wande sîne sinne an daz schœne wîp. dar umbe muosen helde sît verlíesén den lîp. (327 f.)
Zu dieser Tendenz der Kleiderkritik des Nibelungenlieds, welche das prachtvoll geschmückte Äußere der Figuren erzählchronologisch mit deren vom Erzähler nicht nur als übermüete (387,2) verurteilten,⁴⁰⁸ sondern auch aus erzählschematischer Sicht
Geltung im wahrsten Sinne des Wortes in den Blick nimmt, […] kein widersprüchliches Bild ein[stellt]“: „Die einheitliche Farbe der Kleidung von Siegfried und Gunther signalisiert nach höfischer Logik Statusgleichheit, der Steigbügeldienst, den Siegfried ausübt, demonstriert ostentativ ein klares Ranggefälle. Doch in der heroischen Welt Isensteins gelten die Regeln des Hofes nicht, die in ihrer widersprüchlichen Konfiguration – zumindest potentiell – für Verwirrung sorgen müssten.“ Schnell, Curialitas und dissimulatio im Mittelalter, S. 104. Zum Verhältnis von Schein und Sein speziell im Nibelungenlied vgl. weiterhin auch schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 593. Zum Zusammenhang von Betrug, sich daraus ergebender Gewalteskalation und dem Untergang im Nibelungenlied vgl. prägnant Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 54: „Gewalt lässt sich, anders als im höfischen Roman, der sie im Konzept der Ritterschaft kanalisiert, im ‚Nibelungenlied‘ nicht kontrollieren und nicht aufhalten. ‚Höfische‘ und ‚heroische‘ Normen sind dabei nicht trennscharf zu unterscheiden. Alle Herrschaftsbereiche im Text beruhen wesentlich auf den gleichen Prinzipien: auf der wechselseitigen triuwe im Personenverband, auf dem Gewaltpotential und der Gewaltbereitschaft der Krieger. Triuwe und gewaltgestützte Macht ziehen nicht automatisch den Untergang nach sich. In Gang gesetzt und gehalten wird die Untergangsdynamik auch durch Betrug und Verrat; durch die Missachtung von Regeln der Konfliktbeilegung; durch ein Auf-die-Spitze-Treiben der heroischen Spielregeln von Ehre und Ruhmstreben, die Gewaltverzicht und Gewaltkontrolle ausschließen. Triuwe, êre und Gewalt garantieren und zerstören Macht und Bestand dieser Welt. Gewalthandeln und Untergang gibt die Stoffgeschichte vor.“ Diese Verurteilung des Figurenverhaltens durch den Erzähler steht im Zusammenhang mit der Zustimmung Gunthers, Hagens und Dankwarts zu der von Siegfried vorgeschlagenen Inszenierung der Standeslüge; vgl. dazu im Einzelnen Str. 386 f. Zur Bedeutung dieser Stelle für die Textinterpretation siehe Schulze, Das Nibelungenlied, S. 193: „Das Wortfeld von Betrug entstammt der neuzeitlichen Motivbeschreibung […]. Doch in dem Verständniskontext, den das Nibelungenlied selbst herstellt und
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äußerst problematischen Verhaltensweisen kontrastiert – für das Brautwerbungsschema gilt, dass dem Besten die Schönste gebührt, und das ist hier offensichtlich nicht der physisch zu schwache Gunther, sondern Siegfried –,⁴⁰⁹ gesellt sich von der 15. Aventiure an allerdings noch eine zweite. Denn wie in der jüngeren Forschung schon Jan-Dirk Müller und Heike Sahm herausgestellt haben, fällt mit Bezug auf die Szene der Ermordung Siegfrieds eine überaus ungewöhnliche Platzierung der descriptio seiner prachtvollen Jagdausrüstung auf: Diese erfolgt nämlich, entgegen gängiger Erzählkonventionen der Zeit, nicht im Kontext des gemeinsamen Aufbruchs der Jagdgesellschaft in die Wildnis, sondern erst wenige Strophen vor dem Tod des Helden (980f.):⁴¹⁰ Von bezzerm pirsgewæte gehôrte ich nie gesagen. einen róc von swarzem pfellel sách mán in tragen. und einen huot von zobele, der rîche was genuoc. hei waz er rîcher porten an sînem kochære truoc! Vón éinem pantel was dar über gezogen ein hût durch die süeze. ouch fuorter ein bogen, den man mit ántwérke muose ziehen dan, der in spannen solde, ern hete ez sélbé getân. Von einer ludemes hiute was allez sîn gewant. von hóubet unz án daz ende gestréut man darûfe vant. ûz der liehten riuhe vil manec goldes zein ze beiden sînen sîten dem küenen jegermeister schein. Dô fuorte er Balmungen, ein ziere wâfen breit, daz was alsô scherpfe, daz ez nie vermeit
der mit dem Bewußtsein der zeitgenössischen Adelsgesellschaft korrespondierte, besaß die Standeshierarchie einen hohen Stellenwert, z. B. spielt sie im Begrüßungszeremoniell eine Rolle, in der 3. Aventiure weist Siegfried den Kampf mit einem Unebenbürtigen zurück, und der Frauenstreit entzündet sich an Rangfragen. Demgemäß dürfte die Nichtachtung der gegebenen Standesposition – wenn auch nur zum Schein behauptet – als Verletzung des ordo gewirkt haben – eine Verletzung, die Folgen haben mußte.“ Vgl. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 189 f. Vgl. dazu Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 141 (im Anschluss an Müller, Spielregeln, S. 248): „Nachdem der fingierte Sachsenkrieg abgesagt und stattdessen eine Jagd angesetzt ist, wird Sîfrits prachtvolles Jagdgewand beschrieben. Jan-Dirk Müller betont, dass die Sorgfalt, die dem Kleid gewidmet ist, die Fallhöhe exponieren soll. Der Tod des Helden erscheint umso schrecklicher, je glänzender dieser zuvor in Erscheinung getreten ist. Darüber hinaus aber ist auffallend, dass das Jagdgewand eben nicht nach dem Aufbruch beschrieben wird, sondern erst, als die Jagd im Grunde vorbei ist, nämlich beim Einreiten ins Jagdlager, also unmittelbar vor Sîfrits Ermordung. Damit ist die Fallhöhe noch in anderer Weise betont: Sîfrit trägt Gold.“ Eine solch ungewöhnliche Platzierung mit vergleichbarem rezeptionsästhetischen Effekt auf das Publikum konstatiert Sahm darüber hinaus auch für die Beschreibung der Rüstung Brünhilds, der im Text ebenfalls eine fatale übermüete als Eigenschaft zugeschrieben werde; vgl. ebd., S. 141 f. Auf die ungewöhnliche Platzierung der Beschreibung von Siegfrieds Jagdgewand verweist zuvor auch schon Wis, Zu den ‚Schneiderstrophen‘ des Nibelungenlieds, S. 258 f., die darin allerdings lediglich ein dichterisches Mittel der Spannungssteigerung im Kontext einer Poetik der Vorausdeutungen sieht.
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swâ man ez sluoc ûf helme. sîne ecke wâren guot. der hêrliche jegere wás hôhé gemuot. (952– 955)
Meines Erachtens wird durch die ungewöhnliche Platzierung der zitierten Passage unmittelbar vor Siegfrieds Tod allerdings nicht allein, wie Sahm ausführt, auf dessen „fatale Exorbitanz“ angespielt, „die in ihrer Siegesgewissheit für […] Gefahren blind ist“,⁴¹¹ sondern die beschriebene Kleiderpracht hier auch kalkuliert mit der Sterblichkeit ihres Trägers kontrastiert. Bei der Entlarvung der Nichtigkeit weltlichen Kleiderprunks „im Angesicht des Todes“⁴¹² handelt es sich nämlich um einen zwar weniger im lateinischen, dafür aber im Bereich der mhd. geistlich-didaktischen Literatur – man denke v. a. an Heinrichs ‚von Melk‘ Von des todes gehugde (um 1160) – umso verbreiteteren Topos christlicher Kleiderkritik. Ich werde darauf weiter unten noch ausführlicher eingehen. Durch die ungewöhnliche Positionierung der ausführlichen Beschreibungen von Siegfrieds Jagdgewand wird dessen äußere Pracht im Nibelungenlied jedenfalls nicht zuletzt im Hinblick auf die Vergänglichkeit alles Materiellen perspektiviert. Denn wenn der sterbende Held in einem letzten Aufbäumen heroischen Zorns mit seinem Schild auf Hagen einschlägt, schildert der Erzähler wohl nicht umsonst, wie daraus genuoc / des edelen gesteines herausbricht und schließlich der gesamte prachtvolle Rüstungsgegenstand vil gar zerbrast (985,2– 4). Beide der hier skizzierten Tendenzen poetischer Kleiderkritik werden sich für den weiteren Handlungsverlauf des Nibelungenlieds noch als prägend erweisen. Ihren beeindruckenden Höhepunkt erreichen sie allerdings erst im Kontext der finalen Aventiuren am Etzelhof, auf die im Folgenden daher auch der Fokus der Analyse gelegt wird.
3.3.2 er fuor sô wol gekleidet Männlichkeit
sam eines edeln ritters brût: Kleidung und
Als Kriemhild im Rahmen des Empfangs ihrer Verwandten in Etzelburg in der 28. Aventiure Hagen öffentlich den gruoze verweigert (1738,1),⁴¹³ konkretisiert sich darin erstmals eine von jenem schon vor Reisebeginn geäußerte Befürchtung (1458f.):⁴¹⁴ Bei
Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 142. Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 116. Zur Kleiderkritik bei Heinrich von Melk vgl. ausführlich auch ebd., S. 102– 124. Das Titelzitat ist Teil der Beschreibungen des von Volker ermordeten höfischen Hunnen durch den Erzähler des Nibelungenlieds (1885,4). Kriemhild behauptet bei der Begrüßung gegenüber Hagen zwar noch, sie handle so nur aus besonderer friuntschaft zu ihm (1739,2), doch der Rezipient ist aufgrund von diversen Innensichten bereits darüber informiert, dass die Hunnenkönigin auf Rache sinnt. Vgl. dazu exemplarisch etwa den inneren Monolog Kriemhilds im Zusammenhang mit Rüdigers Werbung in Str. 1259: Do gedáhte diu getriuwe: ‚sît ich friunde hân / alsô vil gewunnen, sô sol ich reden lân / die liute swaz si wellen, ich jâmerhaftez wîp. / waz ob noch wirt errochen des mînen lieben mannes lîp?‘ Ähnliche Hinweise finden sich weiterhin auch in Str. 1394– 1399 bzw. 1716f.
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dem Besuch der Burgunden im Hunnenland handelt es sich um kein fröhliches Fest des Wiedersehens und der Vergebung, sondern er dient der Umsetzung der Rachepläne der noch immer untröstlichen Witwe Siegfrieds. Die von Kriemhild im unmittelbaren Anschluss daran geäußerte Frage nach dem Verbleib ihres (einst von Hagen im Rhein versenkten) Horts (1741– 1744) führt dann auch sogleich zum ersten scharfen Wortgefecht zwischen den Erzfeinden.⁴¹⁵ Nur wenige Stunden später geht von Hagen dann eine analoge Folgeprovokation aus (29. Aventiure): So verweigert er, als er gemeinsam mit Volker gegenüber vom Saal der Hunnenkönigin ûf eine banc sitzt (1761,2), dieser nicht nur ebenfalls Gruß und êre (1780,3), sondern platziert zudem, sobald sie in Sichtweite ist, Siegfrieds Schwert Balmung demonstrativ über sîniu bein (1783,1).⁴¹⁶ Dieser Anblick lässt Kriemhild, wie von Hagen kalkuliert (1784,4), sofort verzweifelt in Tränen ausbrechen (1784,3).⁴¹⁷ Doch Hagen genügt dieser Triumph noch nicht: So weist er Kriemhild im unmittelbar darauf folgenden zweiten Streitgespräch, in welchem er sich ihr gegenüber erstmals als Mörder Siegfrieds zu erkennen gibt, darüber hinaus auch die eigentliche Schuld an dessen Tod zu: Schließlich habe sie einst vor versammelter Hofgesellschaft die schœnen Prünhilden beleidigt (1790,4). Als Reaktion auf diesen maßlosen Affront – selbst der Erzähler bezeichnet das Verhalten des Tronjers hier explizit als übermüete (1783,1) – befiehlt die rasende Hunnenkönigin ihrem Gefolge, die ihr angetane Schmach an Ort und Stelle zu rächen. Doch aus vorhte (1793,4) vor Hagen und Volker zeigen die Kriemhild begleitenden vier hundert snelle[n] recken (1769,2) ein aus heroischer Sicht ausgesprochen irritierendes Verhalten:⁴¹⁸ Sie verfallen in Starre und verweigern ihrer Herrin geschlossen den Dienst (1793,4).⁴¹⁹ Zur Rechtfertigung verweisen zwei der namenlosen Hunnenkrieger hier im Gespräch untereinander lediglich auf Volkers überaus angsteinflößenden Blick und Hagens
Zu dem sich hier im Verhalten Kriemhilds manifestierenden „Zusammenbruch höfischer Virtualisierung“ vgl. grundlegend Müller, Spielregeln, S. 414– 418, hier v. a. S. 416 f. Zur grundlegenden Bedeutung dieser Szene im Kontext der „Destruktion höfischer Form“ in den finalen Aventiuren des Nibelungenlieds vgl. erneut Müller, Spielregeln, S. 420 f. (Zitat ebd., S. 414). Zur Problematik dieser Szene vgl. ähnlich auch Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 48. Zur narrativen Doppelfunktion des Schwerts Balmung im Rahmen dieser Szene vgl. bereits Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 137: „Das Schwert erinnert nicht nur an ihren vriedel, sondern zugleich an den Sieg Hagens über Sîfrit, der mit dem Verlust von Kriemhilts herrschaftlicher Stellung einherging.“ Die ausgeprägte Angst der Hunnen insbesondere vor Volker wird durch den Erzähler dann auch noch einmal in Str. 1799,3 – 4 hervorgehoben. In Str. 1801 wird kriegerische Zurückhaltung durch den Erzähler weiterhin in einer generalisierenden Bemerkung als eine stets auch für das Gemeinwohl schädliche Untugend verurteilt: Wie dicke ein man durch vorhte manegiu dinc verlât! / swâ sô friunt bî friunde friuntlîchen stât, / und hât er guote sinne, daz erz niene tuot, / schade vil maneges mannes wirt von sinnen wol behuot. Die verbindliche Zusage der Hunnen, Kriemhild im Konflikt mit Hagen zu Diensten zu sein, wird in den Strophen 1766 u. 1769 in Form eines Erzählerberichts zur Darstellung gebracht; in Str. 1794,2 thematisiert zudem einer der Krieger explizit den Umstand der Eidbrüchigkeit gegenüber ihrer Herrin in der Figurenrede: ‚daz ich ê dâ lobte, des wil ich abe gân‘.
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langjährige Erfahrung im Kampf, die eine Konfrontation aus ihrer Sicht zu riskant erscheinen lassen:⁴²⁰ Dô sprach ein der recken: ‚wes sehet ir mich an? daz ich ê dâ lobte, des wil ich abe gân, durch niemannes gâbe verliesen mînen lîp. jâ wil uns verleiten des künec Étzélen wîp.‘ Dô sprach dâ bî ein ander: ‚des selben hân ich muot. der mir gæbe türme von rôtem golde guot, disen videlære wolde ich niht bestân, durch sîne swinde blicke, die ich an im gesehen hân. Ouch erkenne ich Hagenen von sînen jungen tagen: des mac man von dem recken lîhte mir gesagen. in zwein und zweinzec stürmen hân ich in gesehen, dâ vil maneger frouwen ist herze léidé geschehen.‘ (1794– 1796)
Voller Wut muss die nicht waffenfähige Kriemhild daher zunächst unverrichteter Dinge wieder von dannen ziehen (1799).⁴²¹ Hagen und Volker hingegen beschließen, trotz des hochhöfischen Empfangs durch einen noch ahnungslosen Etzel,⁴²² in der ersten Nacht Schildwache vor dem Schlafsaal der Burgunden zu halten (30. Aventiure). Dieser ist, wie der Erzähler hervorhebt, mit auffallend luxuriösen Textilien ausgestattet:⁴²³
Der hier zu Wort kommende namenlose Hunne kennt Hagen nach eigener Aussage noch von sînen jungen tagen, als er gemeinsam mit Walther von Aquitanien als Geisel an Etzels Hof aufwuchs (1797f.). Bei dieser Aussage handelt es sich um einen von mehreren intertextuellen Verweisen des Nibelungenlieds auf die zeitgenössische Waltherdichtung, wie sie schriftlich etwa in Form des lateinischen Waltharius überliefert ist. Vgl. dazu allgemein etwa Hans-Adolf Klein: Erzählabsicht im Heldenepos und im höfischen Epos. Studien zum Ethos im ‚Nibelungenlied‘ und in Konrad Flecks ‚Flore und Blanscheflur‘. Göppingen 1978 (GAG. 226), S. 158 f. Siehe dazu außerdem auch Str. 1756 u. 2344 des Nibelungenlieds mit weiteren Anspielungen auf die Walthertradition. Vgl. dazu etwa Nadine Hufnagel: Die Darstellung der Trauer König Etzels: Geschlecht und Emotion in der mittelhochdeutschen Nibelungenklage. In: Literarische Männlichkeiten und Emotionen. Hrsg. von Toni Tholen, Jennifer Clare. Heidelberg 2013 (Germanisch-romanische Monatsschrift Beiheft. 52), S. 57– 87, hier S. 76: „Ein wichtiges Element höfischer Ordnung ist […] geschlechtsspezifisches Verhalten. Dazu gehört, dass Frauen normalerweise keine Waffe tragen.“ Zu den im Vorfeld sogar noch deutlich höfisierender gestalteten Empfängen Kriemhilds durch Etzel in Tulln sowie in Etzelburg (1336 ff.) vgl. unlängst noch Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel: Des künic Etzelen man: The Huns and their King in Fritz Lang’s Classic Silent Film Die Nibelungen and in the Nibelungenlied. In: Barbarism revisited. New Perspectives on an Old Concept. Hrsg. von Maria Boletsi, Christian Moser. Leiden/Boston 2015, S. 223 – 253, hier v. a. S. 233 f. Zur skizzierten prunkvollen Begrüßung der Burgunden durch Dietrich bzw. Etzel vgl. weiterhin bereits Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 168, sowie Jennifer Williams: Etzel der rîche. Bern 1981 (German language and literature. 364), S. 180. Zur völlig anders akzentuierten Darstellung der Hunnen als schmutzige, in einem halb unterirdisch angelegten Höhlenpalast lebende Barbaren in Fritz Langs Die Nibelungen (1924) vgl. weiterführend auch Brüggen/Holznagel, Des künic Etzelen man, S. 224– 231.
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Vil manegen kolter spæhe von Arraz man dâ sach der vil liehten pfellel und manec bettedach von árâbîschen sîden, die beste mohten sîn. dar ûfe lâgen lîsten, die gâben hêrlîchen schîn. Diu declachen härmîn vil manegiu man dâ sach und von swarzem zobele, dar under si ir gemach des nahtes schaffen solden unz an den liehten tac. ein künec mit sînem gesinde nie sô hêrlîch gelac. (1852 f.)
Diese Vorsichtsmaßnahmen stellen sich im Folgenden dann auch als durchaus berechtigt heraus, denn tatsächlich bereiten die Hunnen sich zeitgleich erneut auf einen Angriff vor. Diesen brechen sie, als man Volker und Hagen wachend vor dem Schlafsaal bemerkt, allerdings auch beim zweiten Mal ab (1842,1). Nichtsdestotrotz wecken die offensichtlich heimtückischen Absichten der in der Dunkelheit herumlungernden Hunnen Volkers Zorn, der sie hier, lautstark in die Nacht hineinrufend, erstmals als Feiglinge abwertet:⁴²⁴ ‚pfî, ir zagen bœse!‘ sprach der helt guot, ‚wolt ir sláfénde uns ermordet hân? daz ist sô guoten helden noch vil selten her getân.‘ (1847,2– 4)
Das für die, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird, kalkuliert hierarchisierend angelegten Beschreibungen und Bewertungen der beiden Kollektive am Etzelhof noch ausgesprochen bedeutsame Kleidermotiv rückt dann erstmals im Kontext der christlichen messe (1850,3) in den Fokus, die Etzel für seine Gäste ausrichten lässt (31. Aventiure). Denn als die burgundischen Recken sich zu diesem Anlass am nächsten Morgen ihre besten Festgewänder anlegen wollen, ziehen sie unerwartet die Schelte Hagens auf sich. Dieser verweist hier noch einmal nachdrücklich auf die Gefährlichkeit ihrer Situation, aufgrund derer man den vielleicht letzten Messgang in diesem Leben statt zur Zurschaustellung von äußerlicher Pracht doch zum Beten und Bereuen vergangener Sünden nutzen solle: […] er sprach: ‚jâ sult ir helde
hie tragen ándériu kleit!
Jâ sint iu doch genuogen diu mære wol bekant. nu traget für die rôsen diu wâfen an der hant, für schapel wol gesteinet die liehten helme guot, sît daz wir wol erkennen der argen Kríemhílden muot. Wir müezen hiute strîten, daz wil ich iu sagen. ir sult für sîden hemde die halsperge tragen unt für die rîchen mentel die guoten schilde wît, ob iemen mit iu zurne, daz ir vil wérlîche sît. Míne vil lieben herren, dar zuo mâge und man, ir sult vil willeclîchen zuo der kirchen gân,
Diesen Umstand bemerkt bereits Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 156 f.
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und klaget got dem rîchen sorge und iuwer nôt, und wizzet sicherlîchen daz uns náhét der tôt! Irn sult ouch niht vergezzen, swaz ir habet getân, und sult vil vlîzeclîche dâ gein gote stân. des wil ich iuch warnen, réckén vil her. ez enwélle got von himele, ir vernémet messe nimmer mêr.‘ (1852,4– 1856)
Und tatsächlich ziehen die Burgunden wenig später dann auch, statt in höfischer Festkleidung, in voller Panzerung zum Münster, während das hunnische Königspaar samt seines Gefolges dort mit rîchém gewande gezieret eintrifft (1860,2). Den ob dieses Anblicks äußerst irritierten Etzel kann Hagen hier allerdings noch einmal mit der Behauptung beruhigen, dass es sich bei dem kriegsmäßigen Aufzug seiner Leute um ein besonderes burgundisches Brauchtum zu festlichen Anlässen handle (1863,2– 3: ez ist síte mîner herren, daz si gewâfent gân / ze allen hôchgezîten ze vollen drîen tagen).⁴²⁵ Die Wende von verbal-gestischer zu physischer Gewalt bringt dann schließlich der im unmittelbaren Anschluss stattfindende bûhurt (1872,2), wobei die unterschiedliche Bekleidung der beiden Parteien am Etzelhof erneut eine wichtige narrative Funktion erfüllt. Denn irritierenderweise reiten die Hunnen hier gleich nach der Messe in ihren höfischen Prachtgewändern, d. h. ohne zusätzliche Schutzwaffen, auf dem Turnierplatz ein.⁴²⁶ Volker mahnt angesichts dieses für die Burgunden ungewohnten Anblicks dann auch gleich zu Beginn der Veranstaltung lautstark an, man solle auch in Etzelburg nach heimischen (und nicht nach hunnischen) Sitten bûhurdieren (1871,3). Auf Seiten der Gastgeber ruft diese Forderung des Spielmanns nun allerdings ein derart großes Unbehagen hervor, dass sich sowohl Dietrich als auch Rüdiger in einer Befürchtung zu großer Verluste gegen die Teilnahme ihrer recken an den Ritterspielen aussprechen (1874– 1876). Stattdessen treten aus dem Kreise von Etzels Vasallen lediglich König Harwart von Dänemark und Irnfried von Thüringen mit ihren Männern
Mit dieser Lüge trägt Hagen unmittelbar zum finalen Untergangsszenario bei, welches sich, nach Aussage des Erzählers, bei anderer Informationslage durch Etzel durchaus hätte verhindern lassen: het íemen geságet Etzeln diu rehten mære, / er het wol understanden daz doch sît dâ geschach. / durch ir vil starken übermuot ir deheiner ims verjach (1865,2– 4). Dass die Hunnen vor dem Buhurt Schutzwaffen anlegen würden, ist im Text nirgends erwähnt. Die verhältnismäßig detaillierte Beschreibung des Übergangs vom Gottesdienst zum Turnier in Str. 1868 f. spricht vielmehr dagegen: Dô man dâ gote gediende unt daz si wolden dan, / vil balde kom zen rossen manec Hiunen man. / dô was bî Kriemhilde manec schœniu meit. / wol siben tûsent degene bî der küneginne reit. / Kriemhilt mit ir frouwne in diu vénstér gesaz / zuo Étzél dem rîchen. líep wás im daz. / si wolden schouwen rîten die helde vil gemeit. / hei waz vremder recken vor in ûf dem hove reit! Daher wird auch der von Volker wenig später ermordete ‚höfische Hunne‘ exemplarisch als sô wol gekleidet sam eines edeln ritters brût beschrieben (1885,4). Hunnenkrieger, die Rüstungen tragen, werden vom Erzähler dann erst wesentlich später, nämlich ab dem Zeitpunkt von Bloedels Angriff auf Dankwart, erwähnt (1921,1– 2: Blœdelînes recken die wâren alle gar. / mit tûsent halsbergen huoben si sich dar).
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gegen die Gäste an und liefern sich mit diesen manege tjoste (1878,3).⁴²⁷ Die darüber hinaus anwesenden dreitausend hunnischen Ritter verzichten nach ihrer Aufstellung unmittelbar gegenüber von den Burgunden auf dem Turnierplatz hingegen darauf, gegen diese in den (Schau‐)Kampf zu ziehen. Ihr Verhalten geht über ein drohendes Aufrichten der Lanzen (1880,4: die schefte dræten hôhe über des küneges sales want) in Verbindung mit einem lauten Kampfgebrüll (1881,1: niwan schal) nicht hinaus: Schrûtân unde Gibeche ûf den bûhurt riten, Râmunc und Hornboge nâch híuníschen siten. si hielten gegen den helden von Burgonden lant. die schefte dræten hôhe über des küneges sales want. Swes íemen dâ pflæge, […]
sô was ez niwan schal.
Dô sprach der küene recke Vólkêr der spílman: ‚ich wæne uns dise recken türren niht bestân. ich hôrte ie sagen mære, sie wæren uns gehaz. nune kúndez sich gefüegen zwâre níemêre baz.‘ (1880 – 1883)
Als die Burgunden sich in Ermangelung weiterer Gegner daher gerade aus dem Buhurt zurückziehen wollen (1884), kommt plötzlich ein hunnischer Markgraf auf den Platz geritten. Sein über alle Maßen modischer Aufzug und das damit einhergehende, Assoziationen an das literarische Ideal des höfischen Frauenritters hervorrufende Gebaren, wecken erneut vor allem Volkers Zorn: Dô sâhens einen rîten sô weigerlîchen hie, daz ez al der Hiunen getet deheiner nie jâ mohte er in den zîten wol haben herzen trût. er fuor sô wol gekleidet sam eines edeln ritters brût. Dô sprach aber Volkêr: ‚wie möhte ich daz verlân? jener trût der frouwen muoz ein gebiuze hân. ez kúnde níemen gescheiden; ez gât im an den lîp. jane rúoche ich ob es zürne des künec Étzélen wîp.‘ (1885f.)
Und so kann selbst Gunthers inniges Flehen, wenn überhaupt, die Gegenseite den ersten Schritt zum Angriff machen zu lassen, Volker nicht davon abhalten, den aufgeputzten Hunnenritter mit seiner Turnierlanze brutal zu durchbohren:⁴²⁸
Analog zu dieser Darstellung Harwarts von Dänemark und Irnfrieds von Thüringen, welche sich im Kontext des Turniers am Hunnenhof durch ihren Mut besonders hervortun, sind es auch während der finalen Kämpfe der Markgraf Iring (ein Gefolgsmann Harwarts, 2034,1), Harwart selbst und Irnfried, die sich als erste in den Einzelkampf gegen Hagen und Volker wagen und sich damit erneut positiv von den feigen Hunnen abheben (vgl. 2035, 2071 u. 2073). Neben Volker spricht sich im Vorfeld von Bloedels Angriff auf Dankwart aus der Gruppe der Burgunden nur Hagen explizit für einen Angriff auf die Hunnen aus, was zur besonders heroischen Darstellung dieser beiden Figuren im Schlussteil des Nibelungenlieds passt; vgl. dazu Str. 1888 sowie insbesondere die gesamte 30. Aventiure Wie Hagen unt Volkêr der schiltwacht pflâgen.
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Volkêr der vil snelle den bûhurt wider reit. daz wart sît maneger frouwen vil grœzlîche leit. er stach dem rîchen Hiunen daz sper durch sînen lîp. daz sach man sît beweinen beide maget und wîp. (1889)
Dem sogleich mit erhobenem Schwert auf das Feld reitenden Etzel gelingt es hier allerdings noch ein letztes Mal, die durch die Blutrachebestrebungen der hunnischen Verwandtschaft drohende Eskalation (1893,2– 3) der Situation zu verhindern.⁴²⁹ Zu diesem Zweck verweist der Hunnenkönig nachdrücklich auf seine Schutzpflichten als höfischer Gastherr und bemüht sich, Volkers hochgradig affektives Verhalten vor seiner aufgebrachten hunnischen Gefolgschaft damit zu entschuldigen, dass es sich lediglich um einen Unfall – verursacht durch das Straucheln von dessen Pferd (1896,4: strûché) – gehandelt habe. In der Zwischenzeit findet die zuvor mehrfach von ihren Untergebenen im Stich gelassene Kriemhild in Bloedel nun endlich einen Verbündeten zur Umsetzung ihrer Rachepläne.⁴³⁰ Trotz des grundsätzlichen „Angriffsverbot[s]“⁴³¹ seines Bruders und Königs Etzel lässt sich dieser hier mit Aussicht auf reiche Geschenke (Ländereien, Silber und Gold) und weltliches Liebesglück (in Form einer schönen Verlobten: Nudungs Witwe) verhältnismäßig schnell zum Angriff gegen die mächtigen Gäste bewegen.⁴³² Als zeitlichen Rahmen für die Attacke wählt der Hunne dabei das am Abend stattfindende zweite Festmahl: Denn hier teilt sich der von ihm auserwählte bur-
Zu Etzels noch bis unmittelbar vor dem Saalbrand intensiven Bemühungen um Frieden und die Wahrung des Gastrechts vgl. schon Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 166 – 169, und Brüggen/ Holznagel, Des künic Etzelen man, S. 236. In der C-Fassung des Nibelungenlieds tritt Etzel an dieser Stelle vor seinem Gefolge fassungstypisch sogar noch um einiges vehementer auf; vgl. hierzu zusammenfassend Williams, Etzel der rîche, S. 191: „[T]he extra verses dealing with Etzel in the C version expand on his positive features and combine to present him in a more favourable light.“ Siehe dazu exemplarisch etwa C 1314f., 1440, 1450, 1940, 1943f., 1961f. u. 1972. Zum rechtshistorischen Kontext von Kriemhilds grôze[m] mort (2086,1) als einer verspäteten Form der Blutrache sowie den wichtigsten Darstellungstendenzen der finalen Schlachtszenen (Ästhetisierung vs. Entglorifizierung vs. ironische Brechung der Gewalt etc.) vgl. ausführlich Schulze, Das Nibelungenlied, S. 235 – 253. Hans Müller: Etzel und seine Hunnen im Nibelungenlied und in Hebbels ‚Die Nibelungen‘.Worms 2014 [http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/03_beitrag/mueller/fs14_muel.html, Zugriff: 04.03. 2019]. Vgl. dazu im Einzelnen auch Kriemhilds Angebot an Bloedel in Str. 1906 f.: ‚Neinâ, herre Blœdelîn, ich bin dir immer holt. / jâ gibe ich dir ze miete silber unde golt, / und eine maget schœne, daz Nuodunges wîp: / sô maht du gerne triuten den ir vil minneclîchen lîp. / Daz lánt zúo den bürgen wil dir allez geben! / sô maht du, ritter edele, mit freuden immer leben, / gewinnestu die marke, dâ Nuodunc inne saz. / swaz ich dír gelobe hiute, mit triuwen léiste ích dir daz.‘ Bei Nudung handelte es sich um Rüdiger von Bechelarens Sohn, der im Krieg gefallen ist, und dessen Schild Hagen beim letzten Besuch in Bechelaren als Geschenk erhalten wird; vgl. hierzu im Einzelnen Str. 1699 f. Müller, Spielregeln, S. 423, stellt das Angebot Kriemhilds an Bloedel, ihm Nudungs Witwe zur Frau zu geben, in den größeren Kontext der Ambiguisierung höfischen Frauendiensts im Nibelungenlied: „Frauendienst ist im ‚Nibelungenlied‘ Stigma derer, die zu Helden nicht taugen.“
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gundische Gegner, der Marschall Dankwart, den Tisch in einem separaten Speisesaal lediglich mit seinen Knappen, und erscheint Bloedel daher offenbar als leichte Beute (32. Aventiure).⁴³³ Doch als es dann schließlich zum Kampf kommt, verliert der hunnische Aggressor, noch bevor er selbst auch nur einen einzigen Schwertstreich landen kann, schon an Dankwart seinen Kopf. Von einem vil getriuwe[n] hunnischen ‚Maulwurf‘ (1928,3) wurde Hagens Bruder nämlich bereits im Vorfeld über den hinterlistigen Angriffsplan informiert und ist daher nicht nur bewaffnet, sondern auch mental darauf vorbereitet.⁴³⁴ Rasend vor Wut über das „unrühmliche[] Ende“⁴³⁵ ihres Herrn gehen im Anschluss dann allerdings Blœdelînes man (1929,1) auf die unbewaffneten burgundischen Knappen los, die die ersten tausend hunnischen Angreifer zwar zunächst noch mithilfe ihrer Fußbänke (1931,2: schamel) vertreiben können, von den nachfolgenden zwei tûsent oder dannoch baz dann jedoch vollzählig erschlagen werden (1934,2). Die tödliche Spirale der Gewalt am Etzelhof ist damit unwiderruflich eröffnet.⁴³⁶ Wie meine Ausführungen bereits implizieren, dient ein Großteil der diskursiven Bezugnahmen des vorliegenden Handlungsabschnitts auf die lateinische Gewandkritik einer heldenepischen „Konstruktion des Heidnischen“.⁴³⁷ Denn auch wenn die 22. (Wie Kriemhilt von Etzel empfangen wart) und 28. Aventiure (Wie die Burgonden zuo
Als zusätzliche Motivation zum Kampf speziell gegen Dankwart erwähnt Bloedel hier dessen enge Verwandtschaft mit Hagen, dem Erzfeind Kriemhilds; vgl. Str. 1923 – 1925. Im Anschluss an Tomas Tomasek, Adolat Iskhakova: Die Hunnen im Nibelungenlied. In: Literatur – Geschichte – Literaturgeschichte. Festschrift für Volker Honemann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Nine Miedema, Rudolf Suntrup. Frankfurt a. M. 2003, S. 125 – 136, hier S. 136 (und gegen Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 164), interpretiere ich diesen Erzählerkommentar als ironischen Verweis auf die allgemeine untriuwe der Hunnen (und nicht als Lob eines sich auf die moralisch richtige Seite schlagenden Hunnenritters). Müller, Etzel und seine Hunnen. Nach Müller, Spielregeln, S. 443 f., lässt sich der Beginn der „Entfesselung eines Gewaltpotentials“ in der „scheinbar durchweg pazifizierten Welt“ des Nibelungenlieds allerdings schon weit zuvor ansetzen: So wachse durch den Mord an Siegfried, dem „Herr[n] der nibelungischen Macht“, diese Macht den Burgunden/Nibelungen im zweiten Handlungteil schließlich „über den Kopf“; ebd. Was die Ebene der Handlungsmotivation angeht, weist Müller (ebd., S. 446 f.), allerdings mit Recht darauf hin, dass sich „zweckgerichtetes Handeln mit der Eskalation des Konfliktes“ – und zwar insbesondere vom Zeitpunkt der Ermordung des jungen Hunnenkönigs durch Hagen an – „als immer nebensächlicher [erweise]“: „Den Untergang hält nichts auf, und Kriemhilt erreicht ihr Ziel nicht dank kühler Kalkulation, nicht einmal mit ihren eigenen Mitteln, sondern gewissermaßen nebenher, weil Dietrich durch eine unselige Verkettung von Umständen in den Kampf verwickelt wird. Eine ungeheuerliche aggressive Energie hat sich aufgestaut. Ortliep wirkt wie ein Katalysator, der bewirkt, daß die Energie sich entlädt. Das ist nicht mehr steuerbar, es ‚passiert‘.“ Uta Goerlitz: ,…Ob sye heiden synt ader cristen…‘. Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen Herzog Ernst-Fassungen des Hoch- und Spätmittelalters (HE B, C und F). In: Integration oder Desintegration? Heiden und Christen im Mittelalter. Hrsg. von ders., Wolfgang Haubrichs. Stuttgart 2009, S. 65 – 104, hier S. 71. Goerlitz untersucht in dieser Arbeit die literarische „Konstruktion des Heidnischen“ u. a. am Beispiel des Herzog Ernst B, wo diese, anders als im Nibelungenlied, v. a. über das Differenzmerkmal einer monströsen Physis erfolgt.
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den Hiunen kômen) mit ihrem Fokus auf die höfisch formvollendete Begrüßung Kriemhilds sowie später ihrer Verwandtschaft im Hunnenland zunächst eine gewisse kulturelle Schnittmenge zwischen Hunnen und Burgunden konstruieren (1341– 1352, 1719 – 1722, 1808 – 1812 u. 1816 f.),⁴³⁸ verschiebt sich der erzählerische Fokus danach zunehmend auf die Einführung entsprechender semantischer Relationen der Opposition.⁴³⁹ Als ein vom Zeitpunkt der 31. Aventiure an (Wie si ze kirchen giengen) vom Nibelungendichter nur noch im Hinblick auf die Figurengruppe der Hunnen verwendetes Attribut fungieren die höfischen Kleidermoden dabei als zentrales Differenzmerkmal einer religiös-ethischen wie (damit zusammenhängend) auch heroischkriegerischen Hierarchisierung der beiden streitenden Parteien am Etzelhof.⁴⁴⁰ Auf diese Weise wird im Nibelungenlied jedoch nicht nur vestimentär „das religiös Andere aus der christlichen Sphäre des Eigenen desintegrier[t]“,⁴⁴¹ sondern auch die höfische
Zur höfisch-kulturellen Schnittmenge zwischen Etzelburg und Burgund vgl. zuvor bereits Tomasek/Iskhakova, Die Hunnen im Nibelungenlied, hier v. a. S. 129 f. u. 133. Auch wenn der Eindruck einer höfisierenden Darstellung der Hunnen im Nibelungenlied, wie ihn Tomasek/Iskhakova (ebd.) zu Unrecht für das gesamte Epos veranschlagen, auf die bei ihnen im Fokus stehende 22. Aventiure (Wie Kriemhilt von Etzel empfangen wart) sicherlich noch zutreffend erscheint, werden doch vom Erzähler auch hier schon vereinzelt die Fremdheit der Gebräuche der Hunnen sowie die religiöse Differenz zwischen den Kollektiven hervorgehoben. Vgl. hierzu exemplarisch etwa Str. 1341: Ein stat bî Tuonouwe lît in Ôsterlant, / diu ist geheizen Tulne: dâ wart ir bekant / vil manec site vremede, den si ê nie gesach. / si empfiengen dâ genuoge, den sît leit von ir geschach, Str. 1344: Hornboge der snelle wol mit tûsent man / kêrte von dem künege gegen síner frouwen dan. / vil lûte wart geschallet nâch des landes siten. / von der Hiunen mâgen wart ouch dâ séré geriten, sowie Str. 1353: Al die wîle Etzel bî Kriemhilde stuont, / dô tâten dâ die tumben als noch die liute tuont. / vil manegen puneiz rîchen sach man dâ geriten. / daz tâten kristen helde und ouch die heiden nâch ir siten. Diese Art der Darstellung erinnert in entscheidenden Hinsichten an die Grippia-Episode des Herzog Ernst B, die, wie Goerlitz, Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen Herzog Ernst-Fassungen, S. 79, zusammenfasst, zwar anfangs ebenfalls „die topische, faszinierende Pracht der Residenzstadt und die höfisch-festliche Lebensform der Leute“ fokussiere, welche „jedoch in absolutem Gegensatz zu der wenig später zutage tretenden Aggressivität und Brutalität des Volkes [stehe], dessen König die Prinzessin von Indien geraubt hat und zur Hochzeit zwingen will“. Der religiöse Gegensatz zwischen Burgunden und Hunnen wird im Nibelungenlied zuvor vor allem im Hinblick auf das Problem der Neuverheiratung einer Christin (Kriemhild) mit einem Heiden (Etzel) thematisiert; vgl. hierzu etwa Etzels Bedenken im Vorfeld der Werbungsfahrt sowie Kriemhilds entsprechende Äußerungen gegenüber Rüdiger (1145, 1261 u. 1395). Zu der auch in zahlreichen theologischen Texten der Zeit geführten Diskussion um solche Formen der Ehe vgl. weiterhin auch Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 165 – 167, sowie ausführlich Michael Boehringer: Sex and Politics? Etzel’s Role in the Nibelungenlied – A Narratological Approach. In: ‚Waz sider da geschach‘. American-German Studies on the Nibelungenlied. Text and Reception. With Bibliography 1980 – 1990/91. Hrsg. von Werner Wunderlich, Ulrich Müller, Detlef Scholz. Göppingen 1992 (GAG. 564), S. 149 – 165. Diese Formulierung stammt von Stephanie Seidl: Narrative Ungleichheiten. Heiden und Christen, Helden und Heilige in der Chanson de Roland und im Rolandslied des Pfaffen Konrad. In: Integration oder Desintegration? Heiden und Christen im Mittelalter. Hrsg. von Uta Goerlitz, Wolfgang Haubrichs. Stuttgart 2009, S. 46 – 64, hier S. 47, die sich damit allerdings nicht auf das Nibelungenlied, sondern auf analoge Erzähltechniken in der Chanson de Roland bzw. im Rolandslied des Pfaffen Konrad bezieht.
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Mode, die im ersten Handlungsteil noch so kennzeichnend für das höfische Personal in Xanten und Burgund war, in den finalen Aventiuren schließlich mit Nachdruck als etwas Heidnisches semantisiert.⁴⁴² Meine Lektüre des vorliegenden Handlungsabschnitts unterscheidet sich damit grundlegend von derjenigen Tomas Tomaseks und Adolat Iskhakovas (2003), nach denen das „Hunnenbild der mittelhochdeutschen Nibelungendichtung […] der Sicht der modernen Hunnenforschung deutlich näher [kommt] als das Hunnenklischee der Nibelungenlied-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts“.⁴⁴³ Insbesondere im diskursiven Kontext der lateinischen Kleiderkritik erscheinen die Hunnen im Nibelungenlied nämlich gerade nicht als eine „differenzierte[], weder klischeehaft-idealisierende[] noch -verzerrende[] Darstellung“⁴⁴⁴ einer fremden Ethnie, sondern – ganz im Gegenteil – als (stereo‐)typisierte Projektionsfläche christlicher Vorstellungen von den ‚Ungläubigen‘. Diese basieren nun wiederum maßgeblich auf der typushaften Kontrastierung des miles Christianus mit dem Heidenkrieger,⁴⁴⁵ wie sie sich in der theologischen Literatur des 11. Jahrhunderts herausbildet und im 12. Jahrhundert dann u. a. auch von der christlichen Kleiderkritik rezipiert wird.⁴⁴⁶ Dabei wird im Zuge der folgenden Analysen durchaus dem Umstand Rechnung getragen, dass die im Kontext der Kreuzzüge des 11. bis 13. Jahrhunderts als ‚Heiden‘ herabgewürdigten Gegner Muslime waren. Doch wie schon Hans-Werner Goetz betont, spielen im Rahmen der christlichen Überlieferung des Mittelalters „Differenzierungen“ zwischen „verschiedenen heidnischen Kulten“ allgemein kaum eine „Rolle gegenüber dem Heidentum an sich, das gerade in seinen Gemeinsamkeiten undifferenziert wahrgenommen wird“.⁴⁴⁷ Der Heidenbegriff bezeichnet so zwar
Auch im zweiten Teil des Nibelungenlieds legen die Burgunden bis zum entscheidenden Wendepunkt des Messgangs in Etzelburg weiterhin noch großen Wert auf prächtige Kleidung. Vgl. diesbezüglich etwa die Str. 1474 f., in denen die Einkleidung des sich für die Reise ins Hunnenland vorbereitenden Trupps aus den eigenen Beständen der Burgunden sowie aus Dankwarts Kleidungsbeständen beschrieben ist. Daneben führen die Burgunden mehrere Schiffsladungen von Wechselkleidung mit sich (1514). Tomasek/Iskhakova, Die Hunnen im Nibelungenlied, S. 126. Ebd., S. 136. Im Vergleich mit den von Tomasek/Iskhakova analysierten Rezeptionsbeispielen der Moderne, welche die Hunnen durch offen rassistische Kommentare oder kalkulierte audiovisuelle Mittel als unzivilisierte Barbaren inszenieren (z. B. Friedrich Hebbels Drama Die Nibelungen von 1860, Fritz Langs expressionistische Verfilmung des Stoffs von 1924 und Auguste Lechners Jugendbuch Die Nibelungen von 1951), fällt beim Nibelungenlied also lediglich die Explizitheit (nicht aber die grundsätzliche Art) der hierarchisierenden Darstellung zwischen den Kollektiven moderater aus. Zur diskursgeschichtlichen Innovativität des theologischen Konzepts des miles Christianus im 11. Jh. vgl. immer noch grundlegend Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 399 – 415, hier v. a. S. 399. Zur Rezeption des miles Christianus in der lateinischen Kleiderkritik vgl. exemplarisch erneut Petrus’ von Blois Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum, Sp. 294– 296. Zur theologischen Bewertung von weltlichem Kleiderprunk als etwas Heidnischem vgl. weiterhin etwa auch die Bezeichnung der neuen Schuhformen am Hofe Fulcos IV. von Anjou (1043 – 1109) bei Ordericus Vitalis als barbaricum[] morem, die im Gegensatz zum Ritus heroum der Vorväter stünden; vgl. Historiae Ecclesiasticae, Bd. 3, S. 324. Hans-Werner Goetz: Die christlich-abendländische Wahrnehmung anderer Religionen im frühen und hohen Mittelalter. Methodische und vergleichende Aspekte. In: Wolfgang-Stammler-Gastprofessur
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stets eine ausgesprochen heterogene Menge ethnischer Gruppen, wobei für die literarische Darstellung allerdings ein relativ fest umrissenes Arsenal von Heidentopoi prägend ist, welches, wie noch zu zeigen sein wird, „von der Gegenwart bis ins heroic age“⁴⁴⁸ auch des Nibelungenlieds durchschlägt. Die entsprechenden gewandkritifür Germanische Philologie Vorträge 23 (2013), S. 11– 46, hier S. 26. Vgl. dazu ausführlicher und mit Textbeispielen vom frühen Mittelalter an ebd., S. 24– 26: „Die vorrangigen, immer wiederkehrenden Kennzeichen des Heidentums bleiben […] Götzendienst und Vielgötterei, aber auch deren Verehrung in Hainen, Opfer und Wahrsagungen (vor allem Losorakel), Magie und Aberglaube wie auch die fehlende Gotteskenntnis und der Mangel eines ‚Gesetzes‘ (so definiert schon Isidor von Sevilla) im Sinne eines Religionsgesetzes (wie des jüdischen). Das mag stereotyp erscheinen (und es ist stereotyp), aber es zeugt gerade deshalb von gängigen Vorstellungen. Sie zeigen sich nicht zuletzt in langen Aufzählungen dessen, was als heidnisch gilt. So gebieten das ‚Concilium Germanicum‘ zur Zeit des Bonifatius (und danach karolingische Kapitularien), ‚daß das Volk Gottes nichts Heidnisches mache, sondern allen Unflat des Heidentums entferne und von sich weise, seien es Totenopfer, Losorakel und Weissagungen, Amulette, Prophezeiungen, Zaubereien oder Schlachtopfer, wie sie törichte Menschen nach heidnischem Brauch an den Kirchen im Namen heiliger Märtyrer und Bekenner Gottes vornehmen und damit Gott und die Heiligen weit eher zum Zorn als zum Erbarmen reizen.‘ Der zweite Teil des Zitats verrät zugleich, dass es sich hier bereits um heidnische Relikte innerhalb der christianisierten Gesellschaft handelt; die stereotypen Kennzeichen des Heidentums sind aber dieselben. Wenn Missionare, die mit Heiden in unmittelbaren Kontakt kamen, differenziertere Vorstellungen entwickelten als Vitenschreiber fernab des Geschehens oder wenn Chronisten im 11. und 12. Jahrhundert detaillierte Beschreibungen heidnischer (skandinavischer oder slawischer) Kulte geben, so bleiben ihre Vorstellungen, was Heidentum denn ausmacht, doch weithin unverändert. Das erweckt den Anschein, als würden die christlichen Autoren nicht zwischen den verschiedenen heidnischen Kulten differenzieren, doch zeigen verschiedene Beschreibungen, dass den Autoren eine solche Differenzierung durchaus bewusst war. So weiß Adam von Bremen später von verschiedenen Göttern zu berichten, und Thietmar von Merseburg und Helmold von Bosau beschreiben detailliert bestimmte slawische Kulte; Helmold betont geradezu, dass es im Slawenland ‚eine Vielzahl irriger, abergläubischer Götzenkulte gab‘. Solche Differenzierungen spielen in den Augen der christlichen Autoren jedoch keine Rolle gegenüber dem Heidentum an sich, das gerade in seinen Gemeinsamkeiten undifferenziert wahrgenommen wird. Deshalb kann Gregor von Tours den Kult der heidnisch-germanischen Franken mit dem Goldenen Kalb der Israeliten am Berg Sinai vergleichen und die Königin Chrodechilde die Religion ihres Gatten Chlodwig mit römischen Götternamen beschreiben lassen (von denen Chlodwig vermutlich noch nicht einmal etwas gehört hatte). Es ist eben diese (gewollte) Stereotypie, die Heidentum an sich vom Christentum abgrenzt und Unterschiede dabei nicht völlig negiert, wohl aber als irrelevant betrachtet.“ Hervorhebung im Original. Andreas Hammer: ‚Kere und var zu Criste, / oder stirb in kurtzer vriste‘. Zum Zusammenhang von Gewalt und Heidenbekehrung in der Heldenepik. In: Integration oder Desintegration. Heiden und Christen im Mittelalter. Hrsg. von Uta Goerlitz, Wolfgang Haubrichs. Stuttgart 2009, S. 105 – 131, hier S. 110. Zu den grundlegenden Topoi zeitgenössischer heldenepischer Heidendarstellung vgl. zusammenfassend ebd.: „Bei der Darstellung der Heiden lassen sich zahlreiche Stereotypen in der mittelalterlichen Literatur feststellen, die sich insbesondere in der Heldenepik niederschlagen: Sie werden als hässlich und böse dargestellt, ebenso dumm wie intrigant, würdelos und feige. So erscheinen sie vielfach als unhöfisches Gegenbild des ritterlichen Kämpfers, als gesichtsloser wie gottloser Gegner des miles Christi. Zwar werden Rang und Kampfkraft einzelner vor allem in der Heldenepik bisweilen hervorgehoben, doch nur um den heroischen Protagonisten halbwegs ebenbürtige Gegner zu liefern; ansonsten erweist sich die heroische Kampfkraft hauptsächlich in der Überwindung der schieren Masse heidnischer Krieger. Religiöse Differenzierungen werden kaum ausgeführt, da jede nicht-
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schen Tendenzen müssen dabei im Übrigen als weitestgehend spezifisch für die ältere (und handschriftlich in den folgenden Jahrhunderten weniger verbreitete) Textfassung A/B gelten; in der Überarbeitung der Fassung C treten sie hingegen, wenn überhaupt, nur noch deutlich abgeschwächt auf.⁴⁴⁹ Stephanie Seidl hat das Begriffspaar krist und heide im Mittelhochdeutschen grundlegend als ein Beispiel für „asymmetrische[] Gegenbegriffe“ beschrieben,⁴⁵⁰ welche allgemein durch „nur einseitig verwendbare, auf ungleiche Weise konträre Zuordnungen“ charakterisiert sind:⁴⁵¹ „Positives wie Negatives“ wird dabei „innerhalb der beiden antithetischen Gegenbegriffe“ vereinseitigt, weshalb deren Verhältnis zueinander auch nie ein wertneutrales, sondern nur ein pejoratives sein kann: Sie sind „konträr bzw. auf strikte Negativierung des Anderen angelegt“.⁴⁵² Im Nibelungenlied wird eine solche Figurendarstellung schon lange angebahnt, bevor der glaubensbezogene Gegensatz zwischen Hunnen und Burgunden vom Erzähler überhaupt thematisiert wird bzw. sich diese schließlich im Kampf gegenüberstehen. So kontrastiert der anonyme Dichter bereits vom Zeitpunkt der 29. Aventiure an (Wie Kriemhilt Hagenen verweiz unt wie er niht gên ir ûf stuont) immer wieder die stetige Kampfbereitschaft und bedingungslose triuwe der Burgunden, welche ihre Überhöhung in der heroischen ‚Freundschaft‘ Hagens und Volkers findet, mit der effeminatio, Hinterlist und Illoyalität der als anonyme Masse präsentierten Hunnen:⁴⁵³ Gleich zwei Mal – das
christliche Religion kaum einer Erwähnung wert ist, auch wenn auffällt, dass eine Reihe von Andeutungen immer wieder eine Nähe zum Islam schafft bzw. die Heiden als Muslime zeichnet. Die Kreuzzüge und das daraus entstandene Bewusstsein einer Bedrohung des ‚Heiligen Landes‘ durch islamische Herrscher schlagen so von der Gegenwart bis ins heroic age der Heldenepik durch.“ Zu den fassungsabhängig abweichenden Darstellungstendenzen des Nibelungenlieds vgl. allgemein und ausführlich Schulze, Das Nibelungenlied, S. 43 – 50, sowie speziell zur Darstellung des Etzelhofs bereits Williams, Etzel der rîche, S. 188 – 200 u. 192 f. So werden die Hunnen in der jüngeren und handschriftlich stärker verbreiteten Fassung C bspw. als mutiger dargestellt und in ihrer Haltung und ihrem Gebaren auch ansonsten mehr den Christen angeglichen (vgl. dazu etwa C 1972 u. C 2439,2). Im Gegenzug wird Kriemhilds in A/B geradezu dämonisiertes Rachehandeln vom C-Erzähler stärker psychologisierend als Ausdruck mustergültiger Witwen-triuwe entschuldigt. An diese Art der Darstellung in C schließt sich später auch die anonyme Fortsetzungsdichtung Die Klage an. Seidl, Narrative Ungleichheiten, S. 48. Das Konzept ‚asymmetrischer Gegenbegriffe‘ stammt ursprünglich von Reinhard Koselleck: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe. In: Positionen der Negativität. Hrsg. von Harald Weinrich. München 1975 (Poetik und Hermeneutik. 6), S. 65 – 104, und wird von Seidl (ebd.) erstmals im Zusammenhang mit der Analyse der Heidendarstellung ma. Literatur kontextualisiert. Für die Fruchtbarkeit eines solchen Ansatzes spricht sich, daran anknüpfend, auch Goerlitz, Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen Herzog Ernst-Fassungen, S. 71, inkl. Anm. 29, aus. Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, S. 65, zitiert nach Seidl, Narrative Ungleichheiten, S. 48. Seidl, Narrative Ungleichheiten, S. 48 f. Zu Hagen als einer Figur, die „sich in erstaunlichem Maße der Gesetzlichkeit des heroischen Typus verpflichtet weiß“, vgl. bspw. Haug, Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied, S. 303; zu Hagens besonderer Beziehung zu Volker siehe weiterhin v. a. dessen Aussage in Str. 2005: ‚Mich riuwet âne mâze‘, sô sprach Hagene, / ‚daz ich ie gesaz in dem hûse vor dem degene. /
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erste Mal nach Hagens Geständnis des Mords an Siegfried gegenüber Kriemhild (1793 – 1797), das zweite Mal während der ersten Nachtruhe (1837– 1842) – wird bspw. davon erzählt, wie die ängstlichen Hunnen dem Kampf mit den Burgunden aus dem Weg gehen, und dabei zugleich einen ihrer Herrin zuvor geleisteten Treueeid (1765 – 1769) brechen.⁴⁵⁴ In diesem Zusammenhang stehen insbesondere ihre fragwürdigen Rechtfertigungsversuche – Volker schaue so grimmig (1795,4) und Hagen sei zu erfahren im ritterlichen Kampf (1796 f.) – der todesmutigen Heroik der Burgunden diametral gegenüber.⁴⁵⁵ Die hunnische Feigheit drückt sich weiterhin auch exemplarisch in Bloedels Entscheidung aus, ausgerechnet den sich während des Festmahls in Gesellschaft der unbewaffneten und minderjährigen Knappen befindlichen Dankwart als burgundischen Gegner zu erwählen.⁴⁵⁶ Außerdem handelt Bloedel hier gerade nicht aus triuwe zu seiner Herrin, sondern lediglich in Aussicht auf eine materielle Belohnung in Form von Macht, Reichtümern sowie einer schönen Frau, und verstößt
ich was sîn geselle unde ouch er der mîn, / und kome wir immer wider heim, daz suln wir noch mit triuwen sîn.‘ Allgemein umfassen die „heroische[n] Handlungsmuster“ des Nibelungenlieds nach Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 50 f., „in erster Linie das unbeirrbare um eigenes wie fremdes Leben unbekümmerte Streben nach Ehre und Nachruhm, bedingungslose Treue, Rache und Gewaltbereitschaft“. Bei der Feigheit, Hinterlist und Illoyalität der Hunnen sowie ihrer undifferenzierten Darstellung als namenlose Masse handelt es sich um verbreitete Topoi heldenepischer Heidendarstellung; vgl. dazu zusammenfassend erneut Hammer, Zum Zusammenhang von Gewalt und Heidenbekehrung in der Heldenepik, S. 110. Williams, Etzel der rîche, S. 183, identifiziert unter den mit Namen genannten Kriegern aus Etzels Truppen in der Tat nur drei (mögliche) hunnische Landsmänner: „Etzel’s retinue includes Ramunch of Walachia (1343,i–iii), Hawart and his vassal Irinc of Denmark (1345,i–ii), Irnfrit of Thuringia (1345,iii), Dietrich von Bern (1347,i), Gibeche (1343,iv), Hornboge (1344,9), Schrutan (1880,i) and Rüedeger (1147,iii). Ramunch, Hawart, Irinc, Irnfrit and Dietrich are clearly not Huns. Nor is Rüedeger a Hun by birth, for he describes himself as ‚ellende‘ (1676,iii). […] Gibeche, Hornboge and Schrutan, whose origins are not specified, might be Huns. The phenomenon of few named Hunnish warriors at Etzel’s court is accompanied by a number of unnamed individual Huns with significant roles to play: the Hunnish noble whom Volker kills during the tournament (1889,iii); the kinsman of the same noble, from whom Etzel snatches a weapon when he comes to settle the dispute arising out of the incident (1928,i); the Hun who tries to escape from the conflict in Etzel’s hall under cover of Dietrich’s protection (1999); the Hun who accuses Rüedeger of cowardice (2138 – 2142). The Hunnish warriors remain an anonymous mass.“ Hervorhebungen J. S.-B. Ähnlich weiterhin auch Müller, Etzel und seine Hunnen. Hierbei handelt es sich ebenfalls um verbreitete Heidentopoi der mhd. Heldenepik; vgl. dazu erneut Hammer, Zum Zusammenhang von Gewalt und Heidenbekehrung in der Heldenepik, S. 114: „[D]ie Heiden sind grundsätzlich Gestalten des Teufels, feige, hinterlistig usw., während den Christen alle möglichen ritterlichen und religiösen Tugenden zugesprochen werden.“ Anders deuten die Stelle erneut Tomasek/Iskhakova, Die Hunnen im Nibelungenlied, S. 135, nach deren Lesart das Gegenargument des zweiten Hunnen hier als Ergebnis eines bemerkenswerten „Analyseprozeß[es]“ zu deuten sei, der zum Ergebnis habe, dass man Hagen aufgrund seiner früheren „große[n] Verdienste für Etzel“ und seiner großen Verbundenheit zum Hunnenhof aus Loyalität nicht angreifen könne. Insbesondere im Kontext des Verweises des zweiten Hunnen auf Volkers furchterregende Augen (1795) wird hier m. E. jedoch vom Text eine andere Interpretation nahegelegt. Auf diesen Umstand verweist schon Müller, Etzel und seine Hunnen.
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im Zuge dessen explizit gegen den Befehl seines Königs und Bruders, der hier noch seinen Pflichten als Gastherr gerecht werden will.⁴⁵⁷ Gestützt wird der Eindruck einer sowohl heroisch-kriegerischen als auch religiös-moralischen Unterlegenheit der Hunnen gegenüber den Burgunden weiterhin durch die Unausgewogenheit der vom Erzähler immer wieder angeführten Zahlenverhältnisse.⁴⁵⁸ So spricht es sicherlich nicht für die Tapferkeit und Kampfestüchtigkeit von Kriemhilds Gefolgsleuten, dass vier hundert snelle[] recken (1769,2) es nicht wagen, gegen Volker und Hagen (d. h. zwei burgundische Krieger) anzutreten, oder dass sich wenig später beim Turnier drîn tûsent (1879,1) der Hunnen geschlossen weigern, gegen nur etwas mehr als tûsent küene[] man aus dem Burgundenland (1806,2– 3) zu buhurdieren. Umgekehrt ließe sich weiterhin argumentieren, dass sich die kämpferische Leistung der burgundischen Knappen, denen es mithilfe von hölzernen Fußschemeln gelingt, fünf hundert oder baz der tûsent Angreifer (1932,3; 1921,2) zu erschlagen, nicht nur als Verweis auf deren ‚frühreife‘ Stärke und Tapferkeit, sondern auch auf einen entsprechenden Mangel auf der Gegenseite lesen lässt. Schließlich wird es wohl auch einem zeitgenössischen Rezipienten schon merkwürdig erschienen sein, dass sich im Kontext fortgesetzter Idealisierungen der ungebrochenen triuwe der Burgunden im Angesicht des Todes gerade einmal vierhundert (1769,2) von mehr als zwanzigtausend (!) am Hof anwesenden hunnischen Kriegern (2083,4) ohne konkrete Gegenleistung dazu bereit erklären, die Ehre ihrer Königin zu rächen:⁴⁵⁹ Der Rest – darunter, wie erwähnt, auch
Zur negativen Darstellung der Bestechlichkeit der Hunnen im Nibelungenlied vgl. bereits Müller, Spielregeln, S. 359. Auf die Spitze getrieben wird dieses Darstellungsmuster, wie weiterhin auch Boehringer, Sex and Politics, S. 162, hervorhebt, dann in Aventiure 36, als Kriemhild am Morgen nach der Nacht in der brennenden Halle versucht, ihr Gefolge zum Einzelkampf gegen Hagen zu bewegen: „Kriemhild controls the events by actually buying her followers“. Sie benötigt dafür, wie Boehringer (ebd.) ausführt, derart große Mengen an rotem Gold, dass dieses in Schilden herbeigetragen werden muss.Vgl. dazu im Einzelnen auch Str. 2130 des Nibelungenlieds: Von gehéize und ouch von gâbe man mohte wunder sagen. / sie hiez golt daz rôte dar mit schilden tragen. / si gap ez swer sîn ruochte und ez wolde empfân. / jane wárt nie grœzer solden mêr ûf víendé getân. Ich möchte damit nicht andeuten, dass diese Zahlenangaben in irgendeiner Weise als realistisch angesehen werden sollten; mir geht es lediglich um das deutliche Missverhältnis zwischen Burgundenund Hunnenkriegern in allen angeführten Fällen. Eine ähnliche These formuliert, bezogen auf die vom Erzähler auch im Zusammenhang mit den späteren Kämpfen in der Halle immer wieder erwähnten schiefen Zahlenverhältnisse, bereits Müller, Etzel und seine Hunnen: „Man kann sich darüber streiten, ob hohe Zahlen wie 20.000 Mann wörtlich verstanden werden sollen oder nur die Bedeutung von ‚eine große Zahl‘ haben. Aber es bleibt der Eindruck bestehen, dass die zahlenmäßig weit überlegenen Hunnen im Gegensatz zu den Germanen dem Kampfesmut der Burgunder in keiner Weise gewachsen waren.“ Im Unterschied zu dem hier gabentechnisch sehr genau umrissenen Angebot Kriemhilds an Bloedel in Str. 1908 f. war im Vorfeld zunächst nur von der ewigen Gewogenheit der Hunnenkönigin für die Umsetzung ihrer Rachepläne die Rede.Vgl. dazu v. a. Str. 1765,1: ‚Daz wolde ich immer dienen, swer ræche mîniu leit‘.
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Kriemhilds Schwager – zieht dies nämlich erst mit Aussicht auf eine materielle Entlohnung überhaupt in Betracht (1908f.).⁴⁶⁰ Zur Begründung der skizzierten Erzählstrategie, welche sich in verschiedenen Abstufungen von der 29. bis zur 34. Aventiure nachweisen lässt, wird im Kontext der Festmesse am Etzelhof vom Erzähler dann schließlich einmal auch explizit der glaubensbezogene Gegensatz zwischen Gastgebern und Gästen thematisiert. Bei der im Folgenden zitierten Passage handelt es sich dabei um eine der ganz wenigen Stellen im Epos, in denen der „christliche[] Vorstellungshintergrund der zeitgenössischen Rezipienten“ als „Verständnisrahmen“ für das erzählte Geschehen ausdrücklich angesprochen wird.⁴⁶¹ Dies erfolgt hier konkret in Bezug auf die ungelîche[n] Gesänge der heiden (1851,1– 2), die am morgen in den sal der christlichen Gäste dringen (1850,1):⁴⁶² Do erschein der liehte morgen den gesten in den sal. Hágen begúnde wecken die ritter über al, ob si zuo dem münster zer messe wolden gân. nâch siten kristenlîchen man vil líutén began.
So auch Schulze, Das Nibelungenlied, S. 240: „Sie [Kriemhild; J. S.-B.] kauft Etzels Bruder Bloedel“. Ebd., S. 255. Als bedeutendste, wenn auch nur implizite Referenz auf zeitgenössische christlichtheologische Argumentationsmuster benennt Schulze, Das Nibelungenlied, S. 255, die poetologische Programmformel der vorletzten Strophe des Nibelungenlieds, nach der jegliche Art von weltlichen Freuden irgendwann zwangsläufig in Leid umschlagen müsse (2378,3 – 4: mit leide was verendet des küneges hôchgezît, / als ie diu liebe leide ze aller júngéste gît): „Für die Rezeption der Gesamtgeschichte hat der Dichter von Anfang an ein bestimmtes Verständnismodell mitgegeben: die Determination alles Geschehens zum Untergang, wie sie die Vorausdeutungen signalisieren […], jedenfalls soweit sie den Umschlag vom Positiven ins Negative, von liebe in leit, ankündigen. Dieses Modell erklärt die vorletzte Strophe (2375) zur Grundstruktur des Weltlaufs, und das Nibelungenlied soll als Beleg dieses Gesetzes verstanden werden. In der nôt-Fassung des Textes (Handschriften A und B) […] wird die Untergangsdetermination gleichsam als handlungsübergreifend konstatiert, aber nicht kommentierend erläutert oder aus dem dargestellten Geschehen abgeleitet. Doch auf dem christlichen Vorstellungshintergrund der zeitgenössischen Rezipienten, den der Dichter zwar nicht ausdrücklich angesprochen hat, der aber als Verständnisrahmen auch nicht ausgeschaltet werden konnte, mußte diese pessimistische Perspektive als Analogie zur Topik der Vergänglichkeit alles Irdischen erscheinen, wie sie biblisch vorgegeben und vielfältig auch literarisch repetiert worden war.“ Zu den unterschiedlichen Verhandlungen der Heidenthematik in den Textfassungen A/B und C des Nibelungenlieds vgl. zusammenfassend Williams, Etzel der rîche, S. 186 – 191. So findet sich in der tendenziell harmonisierenden Fassung C etwa eine Zusatzstrophe (C 1284), in der Rüdiger Kriemhild bei der Überbringung der Werbungsbotschaft seines Herrn davon erzählt, Etzel sei in der Vergangenheit schon einmal zum Christentum konvertiert, dann aber wieder vom Glauben abgefallen. In A/B stellt Rüdiger Kriemhild dagegen lediglich in Aussicht, dass viele Christen an Etzels Hof leben und er sich daher möglicherweise durch ihren Einfluss zur Taufe bewegen lassen werde (1261f.). Vgl. dazu erneut Williams, Etzel der rîche, S. 188: „Rüedeger’s words [in C; J. S.-B.] imply that the spiritual state of an apostate is decidedly superior to that of a heathen. […] The account of Etzel’s apostasy is certainly not without precedent. It originates in the Gallic ecclesiastical and ‚flagellum Dei‘ traditions and occurs first in the Vita Memorii. Attila the apostate also figures in the Servatius legends, notably in Veldeke’s Sente Servas“. Ähnlich zuvor auch schon Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 165 – 167.
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Si sungen ungelîche: daz dâ vil wol schein. kristen unde heiden, die wâren niht enein. dô wolden zuo der kirchen die Guntheres man. si wâren von den betten al gelíché gestân. (1850 f.)
Selbst wenn man am Hunnenhof, so lassen sich diese Verse im Sinne eines hierarchisierenden Erzählerkommentars lesen, also vordergründig über bestimmte höfische Sitten verfügt, und selbst wenn der historische König Attila im Nibelungenlied eine verhältnismäßig positive Darstellung erhält,⁴⁶³ bleibt die größte Kluft – der Glauben – zwischen den beiden Kollektiven doch immer bestehen und ist als Distinktionsmerkmal hier auch explizit beim Namen genannt: kristen unde heiden, die wâren niht enein (1851,2).⁴⁶⁴ Dadurch wird an dieser Stelle – ohne dass ich die Bedeutung dieses Verses überstrapazieren oder den Aspekt einer im Nibelungenlied v. a. auf den eigenen Nachruhm ausgerichteten Heroik in Zweifel ziehen möchte – als zusätzliche Sinnschicht auch andeutungsweise ein religiös-legitimatorischer Rahmen für die blutigen
Zur ma. Attilaüberlieferung vgl. immer noch grundlegend Helmut de Boor: Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung. Bern 1932 (Neujahrsblätter der Literarischen Gesellschaft Bern. 9). De Boor unterscheidet hier zwischen drei verschiedenen Attilabildern in der vormodernen Literatur: 1. einem ‚kirchlich-legendären‘, das den Hunnenkönig als Geißel Gottes und als heidnische Bedrohung für das Christentum präsentiere (z. B. in der Ursulalegende), 2. einem positiv-kontinentalen ‚germanisch-heroisch-passiven‘ Attilabild (z. B. im Nibelungenlied), das auf den westgotischen Chronisten Jordanes zurückgehe, und 3. einem negativ-nordischen ‚germanisch-heroisch-aktiven‘ Attilabild (z. B. in den altnordischen Atlidichtungen). Kritisch zu dieser vergröbernden Kategorisierung de Boors vgl. allerdings schon Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 155: So habe Attila „schon in der frühen Geschichtsschreibung verschiedene Rollen [übernommen], die sich oft widerspr[ä]chen“. Eine kürzere Übersichtsdarstellung zur historischen Attila-Überlieferung findet sich weiterhin auch bei Müller, Etzel und seine Hunnen; speziell zu den literarischen Quellen des Mittelalters vgl. diesbezüglich erneut auch Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 157– 161. Eine ähnliche Art der Hervorhebung des religiösen Gegensatzes zwischen Christen und Heiden findet sich (mit Bezug auf die am Etzelhof versammelten Religionen) schon im Kontext der insgesamt noch sehr höfisierenden Darstellungen der 22. Aventiure (Wie Kriemhilt von Etzel empfangen wart). So hebt der Erzähler hier in Str. 1353 mit folgenden Worten den unterschiedlichen Stil des Turnierens von Christen und Heiden hervor: Al die wîle Etzel bî Kriemhilde stuont, / dô tâten dâ die tumben als noch die liute tuont. / vil manegen puneiz rîchen sach man dâ geriten. / daz tâten kristen helde und ouch die heiden nâch ir siten. Eine solch spärliche Verwendung des Heidenbegriffs ist im Übrigen nicht nur für das Nibelungenlied, sondern auch für viele andere Texte der mhd. Heldenepik kennzeichnend, wie Goerlitz, Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen Herzog ErnstFassungen, S. 83, am Beispiel des Herzog Ernst B ausführt. Dies tue, so Goerlitz (ebd.) hier weiter, der Wirkungsmächtigkeit des Terminus jedoch keinen Abbruch: „Wo […] von ‚heiden‘ die Rede ist, ist mit dieser Zuschreibung von Seiten der Figuren ebenso wie des Erzählers ein unaufhebbarer Gegensatz formuliert, der die radikale Exklusion der Andersgläubigen impliziert, die im Kampf vernichtet oder in die Flucht geschlagen werden. In diesem Fall werden sie stereotyp als Anhänger einer falschen Religion an den Außenrändern der christlichen Welt wahrgenommen.“
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Kämpfe der 32. bis 34. Aventiure eröffnet, in denen sich christlich-heroische Burgunden und heidnisch-feige Hunnen gegenüberstehen.⁴⁶⁵ Im weiteren Handlungsverlauf wird die skizzierte Konstruktion eines asymmetrischen Verhältnisses zwischen Christen und Heiden im Nibelungenlied dann zusätzlich auf der Ebene ihres äußeren Erscheinungsbildes vertieft. Dabei kommt nun wiederum der Kleidung eine bedeutsame Funktion zu. Man könnte sagen, dass diese hier gewissermaßen als „stereotypisierende[s] Requisit[]“⁴⁶⁶ fungiert, über das die negative Akzentuierung der hunnischen Figuren auf vestimentärer Ebene fortgesetzt und erzählerisch visualisiert wird. Denn als kurze Zeit nach der Ankunft der Burgunden am Münster dort auch das hunnische Königspaar mit seinem Gefolge eintrifft, tragen diese, wie bereits erwähnt, allesamt höfische Prachtgewänder. Die Schleppen dieser Gewänder sind nach Aussage des Erzählers in der Tat so lang, dass sie beim Gehen hohen Staub aufwirbeln (1860,4: dô kôs man hôhe stouben von den Kriemhilde scharn).⁴⁶⁷ Dass ein solches modisches Gebaren aus Rezipientensicht (mittlerweile)
Wie Hammer, Zum Zusammenhang von Gewalt und Heidenbekehrung in der Heldenepik, S. 111, herausstellt, dienen die Heiden in der literarischen Darstellung des Mittelalters grundsätzlich als „Negativfolie zum Christentum“: „[E]s geht darum, sie zu bekämpfen und als Gefahr für die christliche Welt zu beseitigen. Dabei dürfen heidnische Krieger ohne Schonung und ohne jegliche ritterlich-höfische Konventionen niedergemetzelt werden: Die Tötung von Heiden ist grundsätzlich nicht nur erlaubt, sondern gottgewollt, eben weil sie dem Gefolge des Teufels zugerechnet werden.“ Allerdings forciert insbesondere die A/B-Fassung des Nibelungenlieds, trotz der weiter oben genannten punktuellen Herausstellungen einer religiösen Differenz zwischen Burgunden und Hunnen, in ihren finalen Aventiuren natürlich v. a. eine heroische memoria. Von göttlicher Vorsehung oder einem Eingreifen Gottes in die Handlung ist hier, im Gegensatz zu anderen Kreuzzugsdichtungen, an keiner Stelle die Rede. Der Tod der Burgunden wird dementsprechend auch in keinster Weise als Märtyrertod inszeniert. Eine christliche memoria im Sinne einer religiösen Bewältigung und Sinngebung der Gewalt wird dann erst ansatzweise in der C-Fassung bzw. v. a. mit der Klage nachgereicht, die dadurch bedingt auch eine Zukunftsperspektive eröffnen kann. Für diese Hinweise danke ich Andreas Hammer (Köln). Der Begriff des ‚stereotypisierenden Requisits‘ entstammt der modernen Filmanalyse. So fungieren als entsprechende filmische „Mittel zur Stereotypisierung durch bestimmte Kodierungen“ nach Maja Bächler: Inszenierte Bedrohung. Folter im US-amerikanischen Kriegsfilm 1979 – 2009. Frankfurt a. M./New York 2012, S. 124, neben der „Kleidung der Schauspieler/innen“ etwa auch deren „körperliche[] Merkmale[]“ oder die Art der „Einbindung der jeweiligen Figur in die Narration, das heißt ihre soziale Verortung und psychische Konstituierung“: „Es ist für einen Film […] unvermeidlich, auf gewisse stereotypisierende Requisiten zurückzugreifen, die die audiences sogleich erkennen (sollen). Ein Film kann nicht in epischer Breite die Geschichte einer jeden Filmfigur, deren Werdegang, Familienstrukturen, religiöse, politische und/oder soziale Verfasstheit erläutern, die notwendig wäre, um stereotypisierende Requisiten zu vermeiden“. Eine solche Art der Darstellung ist – innerhalb der Grenzen des abweichenden Mediums und des wesentlich früheren Zeitrahmens – m. E. auch schon für die topische Figurendarstellung hochmittelalterlicher Literatur prägend, weshalb sich der Begriff auf eine Analyse der mhd. höfischen Epik übertragen lässt. Auf die allgemeine Kleiderpracht der Hunnen wird auch in Str. 1885 im Zusammenhang mit der Beschreibung des höfischen Hunnen angespielt, mit dem sich diesbezüglich allerdings keiner seiner Landsleute messen kann: Dô sâhens einen rîten sô weigerlîchen hie, / daz es al der Hiunen getet deheiner nie (1885,1– 2). Wie Müller, Etzel und seine Hunnen, hervorhebt, berichtet der in der Geschichtswissenschaft als zuverlässigste antike Quelle geltende „Bericht von Priscus, dem einzigen
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negativ zu bewerten ist, erschließt sich rückblickend aus der Argumentation Hagens. Dieser spricht in seiner dem Messbesuch vorangehenden Mahnrede, in welcher er den Burgunden zum Ablegen ihrer Festtagsgewänder rät, nämlich eindeutig die Sprache der geistlichen Hofkritiker: So stellt Gunthers mächtigster Vasall hier durch die Gegenüberstellung verschiedener modisch-höfischer Kleidungsstücke und Accessoires mit den ihnen jeweils entsprechenden heroisch konnotierten Rüstungselementen – rôsen vs. wâfen, schapel vs. helme, sîden hemde vs. halsperge, mentel vs. schilde (1853 – 1856) – nicht nur (explizit) die Frage nach dem grundsätzlichen Nutzwert prachtvoller Kleidung für einen Krieger, sondern auch (implizit) die nach deren Status im Angesicht eines – stets und aktuell in ganz besonderem Maße – drohenden Todes.⁴⁶⁸ In dieser Hinsicht greift Hagens memento mori (1855,4: und wizzet sicherlîchen daz uns náhét der tôt!) den etwa auch von Vinzenz von Beauvais aktualisierten kleiderkritischen Topos auf, nach dem vor Gott eben nicht ein modisch-verkleidetes Äußeres, sondern das tugendhafte menschliche Innere zählt.⁴⁶⁹ Das anschließende Ablegen der prächtigen Festtagsgewänder durch die Burgunden (1852,1– 3: alsô guot gewant, / daz nie helde mêre in dehéines küneges lant / ie bezzer kleider brâhten) markiert im Anschluss dann die kollektive Übernahme der von Hagen referierten kleiderkritischen Positionen und zugleich den Beginn ihrer Akzentuierung als milites Christiani:⁴⁷⁰ So werden den gepanzerten christlichen Recken sowohl im Kontext des Messgangs als auch des nachfolgenden Turniers wiederholt allzu modisch gekleidete Hunnenritter gegenübergestellt, deren Gewandung nicht nur auf ihren defizitären Glaubenssta-
römischen Zeitzeugen, der Attila persönlich kennen lernte“, übrigens interessanterweise genau das Gegenteil über die hunnische Hofkultur: Denn Priscus „beeindruckte Attilas auffallende persönliche Bescheidenheit: einfache Kleidung, keine Krone, keine Leibwächter, aber seine Ehrfurcht und Respekt einflößende Persönlichkeit. Sein Herrschersitz – so Priscus – bestand aus hölzernen Palästen für sich und seine ranghohen Getreuen“. Müller, Spielregeln, S. 422, spricht mit Bezug auf die Inhalte der Mahnrede Hagens mit Recht von einer „Verkehrung höfischer“ in heroische „Symbole“, geht dabei allerdings nicht auf deren besondere kleiderkritische Grundierung ein. Vgl. dazu auch schon Hagens im Vorfeld der Reise formulierte Warnung an seine Reisegefährten, man solle vil gewérlîche, also in voller Waffenmontur, zu den Hunnen zu reisen (1471,4). Vgl. dazu erneut exemplarisch De Eruditione, S. 182, und Über die Erziehung, S. 199. Zur Vorrangstellung der Seele vor jeglicher Art der Bekleidung vgl. außerdem die Bergpredigt Jesu, in welcher dieser die berechtigte Sorge des Gläubigen um seine Seele mit der sündhaften Sorge um das Äußere und die Bekleidung kontrastiert (Matth. 6,25); die grundlegende Bedeutung dieser Bibelstelle für die christliche Kleiderkritik hebt auch schon Keupp, Die Wahl des Gewandes, S. 95, hervor. Zu dieser Form der heldenepischen Figurenkonzeption vgl. grundlegend Seidl, Narrative Ungleichheiten, S. 51, nach der die symmetrischen Gegenbegriffe der „Konzeptionen des ‚Helden‘ wie des ‚Heiligen‘“ grundsätzlich „überblendbar, in der Figur des miles Christi [sind], der heroisch für Gott kämpft, […] wenngleich das Ausmaß solcher Überblendungsleistungen doch für jeden Einzelfall neu zu beschreiben bleibt (es reicht in den Textwelten vom Heros, der sein Schlachtgemetzel wie zufällig als Dienst für Gott deklariert bis hin zum Heiligen, der in die Schlacht zieht, ohne aber dort zum Schwert zu greifen).“
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tus – der rüstungs- und daher schutzlose Heide ist ein heldenepischer Topos –,⁴⁷¹ sondern im Sinne der lateinischen Hofkritik auch auf ihre effeminatio verweist, welche sich auf der Handlungsebene ja zuvor schon häufig erwiesen hat (und sich hier auch immer wieder bestätigen wird). Durch den beiläufigen Erzählerkommentar zur übermäßigen Länge der Kleider werden hier zudem die Warnungen antihöfischer Geistlicher vor den Schmutz aufwirbelnden Schleppen modischer Hofdamen assoziiert, die in manchen Darstellungen zudem von kleinen Dämonen bevölkert sind.⁴⁷² Eine größere Dichte und v. a. ein höheres Maß an Explizitheit erreichen die diskursiven Bezugnahmen auf die lateinische Kleiderkritik im Folgenden dann im Zusammenhang mit Volkers Mord am höfischen Hunnen.⁴⁷³ Dieser Passus wird einge Als Differenzmerkmal zwischen Christen und Heiden spielt die Kleidung in der literarischen Darstellung des Mittelalters häufiger eine zentrale Rolle. So weist bereits Seidl, Narrative Ungleichheiten, S. 57, darauf hin, dass im mittelhochdeutschen Rolandslied die Rüstungen der andersgläubigen Gegner von Karls Heer „keineswegs schön oder bewundernswert [sind], sondern lediglich Ausdruck der Todsünde der superbia“. Vgl. dazu im Detail auch Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke. Stuttgart 2004 (RUB. 2745), hier V. 3353 – 3365: baidiu golt unt gestaine / scain von den haiden / sam die sternen unter den wolken. / […] / si fuorten grôz übermuot, / diu nist niemanne guot, / si geliget ie nidere. / der richtære dâ ze himele / haizet si selbe vallen; zitiert nach Seidl, Narrative Ungleichheiten, S. 57. Der Topos des rüstungslosen Heiden wiederum taucht neben dem Nibelungenlied bspw. auch im Herzog Ernst B auf: So tragen nämlich auch die Kranichmenschen von Grippia bei ihrer ersten Begegnung mit den christlichen Rittern keine Rüstungen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt gerade (mit Pfeil und Bogen bewaffnet) von einem Raubzug aus Indien zurückkehren. Vgl. dazu Herzog Ernst. Hrsg. von Bernhard Sowinski. Stuttgart 1998 (RUB. 8352), V. 2852– 2871. Im Gegensatz dazu hebt Ernst bei der Ankunft in Grippia explizit die Stabilität und Schutzfunktion der Rüstungen seines Trupps hervor; vgl. dazu ebd., V. 2338f.: ‚wir sîn ze strîte wol gar / in veste liehte ringe‘. Auf eine weitere Aktualisierung dieses Heidentopos in der späteren Morland-Episode, in welcher Ernst dann gegen die Babylonier antritt, macht Goerlitz, Figurationen von Kreuzzug und Heidenkampf in deutschen und lateinischen Herzog ErnstFassungen, S. 81 f., aufmerksam. Diesen kleiderkritischen Topos verwendet, wie Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 106 f., herausstellt, im Hinblick auf eine vestimentär gegen zeitgenössische Standesregeln verstoßende Bäuerin, etwa auch Heinrich von Melk in Von des todes gehugde, V. 319 – 325. Darüber hinaus lässt er sich, wie Wolter, Teufelshörner und Lustäpfel, S. 80 f., erwähnt, auch noch in der 2. Hälfte des 14. Jhs. bei Heinrich dem Teichner nachweisen: „Bezüglich der Schleppen schlägt [Heinrich] vor, diese abzuschneiden und mit ihnen die viel zu engen und kurzen Röcke der Männer nachzubessern. Was bei der Kleidung der Damen zu viel sei, sei bei der der Männer zu wenig, auf diese Weise würde die Kleidung beider Geschlechter wieder auf Normalmaß gebracht.“ Vgl. Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 191 f. Jaeger bringt die Darstellung des höfischen Hunnen hier mit einem weiteren Text der lateinischen Kleiderkritik in Verbindung, und zwar Saxo Grammaticus’ Gesta Danorum (um 1200). So schildert das 6. Buch der Gesta den Konflikt zwischen dem dänischen Heros Starcatherus und einem Goldschmied, der aufgrund seiner vornehmen Kleidung und seines höfisch anmutenden Minnegebarens völlig unstandesgemäß die Schwester des Königs Ingellus zur Frau erhält: „Starcatherus catches wind of the situation and decides to punish the smith’s arrogance. Wearing a cheap and tattered cloak, he sits down at the threshold of their house. The smith enters in an amorous mood and approaches his wife. […] The smith’s wife warns him of Starcatherus, but he ignores him, thinking that no one dressed rags [sic] could be a great warrior. Starcatherus throws back his cape and bares his sword. The smith ‚qui nil nisi
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leitet durch eine zynische Bemerkung des Erzählers, welcher als Ursache für die übermäßig stolze Selbst-Zurschaustellung des prächtig gekleideten Markgrafen (1885,1: sô weigerlîchen) eine starke Verliebtheit vermutet (1885,3: jâ mohte er in den zîten wol haben herzen trût).⁴⁷⁴ Der modische Aufzug des Hunnen wird hier also zunächst mit einer als unheroisch markierten Disposition zur Minne korreliert.⁴⁷⁵ Im Zuge einer aburteilenden Gendertransgression vergleicht der Erzähler das Gebaren des Markgrafen im Anschluss dann außerdem mit dem Habitus der „Geliebte[n] eines edlen Ritters“.⁴⁷⁶ In dieser Bemerkung scheint nun wiederum deutlich das neben Ordericus Vitalis auch bei Petrus von Blois nachzuweisende kleiderkritische Argumentationsmuster auf, nach dem eine allzu prächtige Gewandung adliger Männer (1885,4: sô wol gekleidet) geradezu zwangsläufig mit deren effeminatio einhergehen müsse (1885,4: sam eines edeln ritters brût).⁴⁷⁷ Diese durch den Erzähler bereits mit
lascivium noverat‘ panics and runs. Starcatherus deals him a blow in the buttocks, which leaves him half-dead. Here the wrath of the hero ist directed as much against the smith’s effeminized courting as against the perversion of the social order. The seduction scene is an overwrought parody of fashionable amatory behavior: the sidling, hip swinging gait, […] the erotic message sent through the eyes, the splendid clothing and colored ribbons in the man’s hair. It is a vivid portrait of an ‚effeminatus‘ practicing a ‚courtly‘ love stripped of all loftiness.“ Groteske Züge der Episode des Mords am höfischen Hunnen im Nibelungenlied erkennt zuvor auch schon Hans Naumann: Der wilde und der edle Heide. (Versuch über die höfische Toleranz.). In: Vom Werden deutschen Geistes. Festgabe Gustav Ehrismann zum 8. Oktober 1925 dargebracht von Freunden und Schülern. Hrsg. von Paul Merker, Wolfgang Stammler. Berlin 1925, S. 80 – 101, hier S. 93. Ganz anders (nämlich als höfisierende Darstellung eines „passionierte[n] Turnierreiter[s]“) deuten die Szene dagegen Tomasek/Iskhakova, Die Hunnen im Nibelungenlied, S. 134. Vgl. Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 193. Eine solche Korrelation von modischer Kleidung und (übermäßigem) Minnegebaren wird, wie Müller, Spielregeln, S. 419, hervorhebt, zuvor auch schon im Kontext von Rumolds Rat an die Burgunden, nicht ins gefährliche Hunnenland zu reisen, vorgenommen (1467f.). Zu dem sich auch an dieser Stelle exemplarisch ausdrückenden Zusammenhang von Komik und hövescheit im zweiten Handlungsteil des Nibelungenlieds vgl. überblicksartig Müller, Spielregeln, S. 440 f. Diese Übersetzung entstammt der von mir verwendeten Textausgabe von Helmut Brackert. Das mhd. brût ist allerdings – wie auch noch das neuhochdeutsche Wort ‚Geliebte‘ – semantisch ambivalent, und bezeichnet nicht nur die Ehefrau eines Mannes, sondern darüber hinaus auch eine außereheliche bzw. ausschließlich sexuelle Partnerin. Vgl. hierzu auch das Mittelhochdeutsche Wörterbuch, Bd. 1, Sp. 273a: „1. im allgemeinen bezeichnet dieses wort eine weibsperson, die einem manne unlängst beigelegen hat oder nächstens beiliegen soll; […] 2. daher heißt brût a. sowohl die rechtmäßige gemahlin kurz vor oder bald nach der vermählung, […] 3. und so auch im tropischen sinne a. die dem heilande geweihte seele [oder] b. ein dem teufel ergebenes, oder auch durch übernatürliche stärke ausgezeichnetes wesen“. Ähnlich zuvor auch schon Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 193. Dazu passt, dass der Tod des höfischen Hunnen spontan v. a. von den das Turnier verfolgenden maget unde wîp beweint wird (1889,4). Was an dieser Stelle des Nibelungenlieds konkret verlacht wird, ist zusammenfassend also der literarische Typus des höfischen Ritters, der, wie Kraß, Der effeminierte Mann, S. 39 f., ausführt, in der entscheidenden Hinsicht mit dem heldenepisch-heroischen Männlichkeitsbild konkurriert, dass sich seine Identität auch über die Relation zum weibli-
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einer besonderen Autorität versehene diskursive Position ist im Weiteren dann auch für die Akzentuierung der Volkerfigur im Rahmen der Szene prägend. So greift der burgundische Spielmann in seiner Ankündigung zum Angriff auf den Hunnen nämlich nicht nur inhaltlich-paraphrasierend, sondern teilweise sogar wörtlich auf die gewandkritische Argumentation des Erzählers zurück, bevor er dessen Position schließlich in ein radikales Figurenverhalten überführt:⁴⁷⁸ Ungeachtet der von ihm durchaus antizipierten fatalen Konsequenzen seiner Handlung (1886,3 – 4) verpasst er dem hunnischen trût der frouwen (1886,2) einen „Dämpfer“,⁴⁷⁹ von welchem sich dieser nicht mehr erholen wird. Es ist dabei eine Kombination von mehreren Faktoren, die hier zum „Verspielen der höfischen Alternative“⁴⁸⁰ führt: Da ist einerseits der besondere temporal-situative Kontext der Tat: So reitet der aus der Sichtweise Volkers und des Erzählers effeminierte Hunnenritter ausgerechnet und, wie es scheint, auch noch mit einiger Verspätung, in dem Moment auf das Feld, als die Burgunden dieses in Ermangelung weiterer Gegner schon wieder verlassen wollen. Zudem steht für die in voller Waffenmontur auftretenden Gäste beim Buhurt von Beginn an der kämpferischphysische Aspekt im Vordergrund, während die prachtvoll gekleideten Hunnen lediglich eine Art lautes Schaureiten veranstalten.⁴⁸¹ Ein solches, den wirklichen Kampf ersetzendes „prächtiges und leeres Lärmen“ von Rittern, das, wir erinnern uns, sehr früh auch schon Meinhard von Bamberg beklagt,⁴⁸² wird durch den besonders üppig geschmückten Hunnengrafen im Übermaß verkörpert.⁴⁸³ Es spricht insofern einiges
chen Geschlecht konstituiert. Kraß (ebd., S. 42) verweist im Folgenden dann auch exemplarisch auf Volkers Mord am höfischen Hunnen im Nibelungenlied: „Vor seiner Ermordung wird er ausdrücklich als ‚Liebling der Damen‘ (trût der vrouwen) diffamiert, der sich nicht wie ein Ritter, sondern wie die ‚Braut eines Ritters‘ (sam eines edeln ritters brût) kleide. Die Attribute, die ihn als effeminierten Ritter ausweisen, sind als Reimwörter aufeinander bezogen (trût, brût)“. Vgl. dazu erneut auch schon Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 193. Auch Müller, Spielregeln, S. 423, sieht im Anschluss an Jaeger (ebd.) in der negativen Darstellung des höfischen Hunnen eine erzählerische Anknüpfung an die lateinische Hofkritik. Darüber hinaus drücke sich in Volkers Tat aber auch die für den Schlussteil des Nibelungenlieds allgemein prägende „Destruktion höfischer Form“ aus (ebd). Diese Übersetzung stammt aus der dieser Arbeit zugrundegelegten Textausgabe von Brackert. Müller, Spielregeln, S. 389. Zusammenfassend zur ambivalent-gebrochenen Turnierdarstellung im gesamten Nibelungenlied siehe außerdem ebd., S. 393 f. Auf ebendiesen Umstand spielt offenbar auch Volker an, wenn er vom Buhurdieren nâch híuníschen siten spricht (1880,2). Dass die Hunnen schließlich Rüstungen anlegen, wird dann erstmals im Zusammenhang mit dem Angriff von Bloedel und dessen recken auf Dankwart und die burgundischen Knappen explizit erwähnt (1921,1– 2: Blœdelînes recken die wâren alle gar. / mit tûsent halsbergen huoben si sich dar). Vgl. dazu erneut Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV, S. 121, sowie die entsprechende Übersetzung bei Erdmann, Fabulae curiales, S. 91; beides bereits zitiert auf S. 11 f. der vorliegenden Arbeit. Vgl. Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 193: „He is guilty in Volker’s eyes of a betrayal of a warrior code.“ Ähnlich weiterhin auch Kraß, Der effeminierte Mann, S. 43: „Volker […] betrachtet den Mord, den er am hunnischen Ritter begeht, als Kavaliersdelikt, das man ihm nicht ankreiden dürfe. Aus seiner Perspektive hat sich der Hunne aufgrund seines effeminierten Erscheinungsbildes selbst um sein Lebensrecht gebracht.“ Wie schon in Hartmanns Ereck wird
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dafür, dass es sich beim merkwürdigen Kampfgebaren der Hunnen – der Text lässt dies, wie so vieles anderes, offen – gar nicht um eine der einschüchternden Präsenz der Burgunden geschuldete Ausnahme handelt, sondern schlicht um das im Vorfeld von Volker abgelehnte Buhurdieren nâch híuníschen siten (1880,2).⁴⁸⁴ Doch alle Zurückhaltung im Turniergeschehen kann letztlich nicht verhindern, dass der Verzicht auf Schutzwaffen zumindest einem Hunnen hier zum Verhängnis wird: Volkers Turnierlanze kann den hunnischen Markgrafen nämlich dadurch bedingt ganz besonders mühelos durchbohren. Insofern bewahrheitet sich auf der Handlungsebene nicht zuletzt auch Hagens frühere Aussage gegenüber den Burgunden, dass nicht sîden hemde, sondern halsperge (1854,2) die richtige Bekleidung für einen Krieger darstellen würden. Durch Volkers Tat werden am Etzelhof jedenfalls endgültig „die Barrieren zwischen simulierter und realer Gewalt niedergerissen“.⁴⁸⁵ Insofern sich dabei neben der Kleidung, wie schon Jan-Dirk Müller hervorhebt, auch das „Kampfspiel […] als bloße Fassade, die nicht standhalten wird“ erweist,⁴⁸⁶ erscheint die Gestaltung der Episode nicht zuletzt latent von der Turnierkritik des zeitgenössischen Klerus geprägt. Dieser verurteilte die ritterlichen Spiele nämlich insbesondere aufgrund der zahlreichen dabei auftretenden Unfälle „als Ausdruck der Hoffart, der Todsünde, der superbia, die neben der ira, dem unbeherrschten Zorn, als Standessünde des Adels galt.“⁴⁸⁷ Zusammenfassend dient ein Großteil der Referenzen auf die christliche Kleiderkritik in der 31. Aventiure des Nibelungenlieds also einer narrativen Konstruktion des Heidnischen.⁴⁸⁸ Indem die schwer gepanzerten Burgunden im Kontext des Messgangs sowie des Turniers den rüstungslosen, dafür aber besonders modisch gekleideten
hier neben der effeminatio des Hunnenritters allerdings m. E. (implizit und ex negativo) auch das pünktliche Erscheinen zum Kampf als ritterliche Tugend akzentuiert; vgl. dazu erneut S. 252 der vorliegenden Arbeit. Dass Christen und Heiden im Nibelungenlied unterschiedlich turnieren, darauf verweist der Erzähler im Übrigen schon beiläufig im Kontext der noch ausgesprochen höfisierenden Darstellungen der 22. Aventiure, die Kriemhilds Empfang am Etzelhof gewidmet ist (Wie Kriemhilt von Etzel empfangen wart). Vgl. dazu erneut Str. 1353 des Nibelungenlieds. Müller, Spielregeln, S. 396. Ebd. Paravicini, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, S. 48. Auf tödliche Unfälle als einen grundlegenden Aspekt geistlicher Turnierkritik verweisen weiterhin auch Mertens, Kommentar, S. 649 (mit Referenz auf W. H. Jackson: Das Turnier in der deutschen Dichtung des Mittelalters. In: Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1985 [VMPIG. 80], S. 257– 295), und Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 103 f. Eine solche Darstellungstendenz erkennt (ohne Berücksichtigung des Aspekts der unterschiedlichen Bekleidung von Christen und Heiden und zudem mit Fokus auf wesentlich spätere Episoden) bereits Müller, Etzel und seine Hunnen: „Der auffallende Kontrast in der Motivation für den Kampf und in der Kampfkraft zwischen Hunnen und Germanen erinnert an den gleichen Kontrast zwischen heidnischen und christlichen Kämpfern in der Kreuzzugsepik. […] Nur mit überwältigender zahlenmäßiger Übermacht und letztlich nur mit Hilfe der Germanen können sie die Burgunder besiegen.“
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Hunnen gegenübergestellt werden,⁴⁸⁹ wird schon im Vorfeld der finalen Schlachtszenen am Etzelhof immer wieder auf die im theologischen Diskurs behauptete Superiorität des christlichen Ritters angespielt. Diese Art der Darstellung markiert insofern den Beginn einer für das nachfolgende Blutbad noch ausgesprochen prägenden „Strategie einer Publikumsbeeinflussung“⁴⁹⁰ des Erzählers: Denn dieser legt auch im Kontext der 32. und 33. Aventiure (Wie Dancwart Blœdelîne sluoc / Wie die Burgonden mit den Hiunen striten) immer wieder einen „Überlegenheitsanspruch“ der Burgunden gegenüber den Hunnen nahe, indem er deren kämpferische „Teilerfolge“ sowie „ihre Kampfestugenden, ihre Loyalität und Tapferkeit“ positiv hervorhebt.⁴⁹¹ Dabei erscheint nicht zuletzt die wiederholte und (u. a. auch) religiös konnotierte Akzentuierung der burgundischen Kampferfolge als wunder bzw. michel wunder augenfällig (so etwa in 1940,3; 1950,4; 1970,4 u. 2073,2).⁴⁹² Insofern von der 32. Aventiure an nun allerdings eine vestimentäre Angleichung der streitenden Parteien erfolgt – neben den Burgunden treten jetzt auch die Hunnen in voller Panzerung auf (vgl. dazu etwa 1921,1– 2) – gerät der Aspekt der Bekleidung zunächst aus dem Blick. So beschränken sich die verhältnismäßig wenigen und beiläufigen Erwähnungen von Rüstungen und Waffen der kämpfenden Burgunden und Hunnen für eine ganze Weile auffallend auf deren Funktionen im Schlachtgeschehen sowie den davon ausgehenden Lärm.⁴⁹³ Diese Tendenz ist allerdings nicht für den gesamten Schlussteil des Nibelungenlieds bestimmend. Denn bekanntlich kann Etzels
Schon Szabó, Der mittelalterliche Hof zwischen Kritik und Idealisierung, S. 355, hebt hervor, dass im Rahmen der christlichen Kleiderkritik immer wieder „weibische Männer (effeminati)“ mit „wahren Männer[n] (heroes)“ kontrastiert werden. Monika Schausten: Der Körper des Helden und das ‚Leben‘ der Königin. Geschlechter- und Machtkonstellationen im ‚Nibelungenlied‘. In: ZfDPh 118 (1999), S. 27– 49, hier S. 48. Ebd.Vgl. dazu exemplarisch etwa Str. 1951,1 (der küene Dancwart), 1968,4 (er [Gunther; J. S.-B.] was ein helt zen handen), 1971,3 (er [Giselher; J. S.-B.] was ein helt guot), oder 2015,1 (Vólkêr, ein hélt gemeit). Demgegenüber werden die Hunnen, die aus Angst vor Dankwart schließlich nur noch mit Speeren aus der Ferne werfen (1944) sowie aus Volkers Sicht sam diu wîp um ihre Toten klagen (2015,3) und daher Etzels brôt nicht wert seien, da sie ihn in der Not im Stich ließen (2027,1), hier erneut als effeminierte Feiglinge inszeniert. Zur latenten Sympathisierung des Erzählers mit der burgundischen Heroik vgl. weiterhin auch Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 55 f. Vgl. dazu die entsprechenden Belegstellen im Mittelhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 3, Sp. 813a (unterhalb des zweiten semantischen Aspekts „gegenstand der verwunderung in gutem und bösem sinne“). Vgl. dazu exemplarisch etwa 1940,1– 2 (Alsô der strîtes müede [Dankwart; J. S.-B.] ûz dem hûse spranc, / waz iteniuwer swerte ûf sînem helm erklanc!), 1944,3 – 4 (dô schuzzen si [die Hunnen; J. S.-B.] der gêre sô vil in sînen rant / daz er in [Dankwart; J. S.-B.] durch die swære muose lâzen von der hant), 1948,1 (Trúhsæzen und schénken die hôrten swerte klanc), V. 1970,2 (sîn [Gernots; J. S.-B.] wâfen hêrlichen durch die helme erklanc), 1974,1– 2 (Des huop sich vor den türen vil stárkér gedranc / unde ouch von den swerten grôzer helmklanc), 1980,1– 2 (Dô von Tronege Hagene die tür sach sô behuot, / den schilt war dô ze rucke der mære degen guot), 1981,1– 2 (Dô der vogt von Berne rehte daz ersach, / daz Hagene der starke sô manegen helm brach). Entsprechend fokussiert zuvor auch schon Hagens Mahnrede statt Pracht und Kostbarkeit v. a. die wehrhafte Qualität der burgundischen Schutzwaffen (vgl. dazu 1853,3: liehten helme guot, 1854,3: guoten schilde wît, 1854,4: daz ir vil wérlîche sît).
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Sieg am Ende nicht von seinen eigenen Landsleuten, sondern nur von den ebenfalls dem Hunnenreich zugehörigen recken in kristenlîcher ê (1262,1) errungen werden.⁴⁹⁴ Diese übernehmen im Anschluss an die kollektive Weigerung der hunnischen Ritter, gegen Hagen im Einzelkampf anzutreten (2026 f.), von der 35. Aventiure an zunehmend das Feld.⁴⁹⁵ Von den Hunnen, die vor ihrer kollektiven Niederlage (2134,3: di bíderben stúrben alle dem rîchen künege hêr) nur noch ängstlich aus der Ferne mit Speeren auf die Burgunden werfen (1944; 2016 – 2018) – und nach Aussage Volkers sam diu wîp um ihre Verletzten klagen (2015,3) –,⁴⁹⁶ unterscheiden sich Etzels christliche Krieger, wie bereits Hans Müller hervorhebt, nicht nur „durch ihre außerordentliche Tapferkeit“, sondern auch durch ihre Motivation. Nicht materielle Güter, versprochener Reichtum, sondern ihre Verpflichtung, die sie Etzel und Kriemhild gegenüber empfinden, sowie ihre Ehre sind die Motive ihrer Kampfbereitschaft. Besonders eindrucksvoll ist in diesem Zusammenhang der sterbende Wolfhart, der Hildebrand aufträgt, überall zu verkünden, er habe etwa 100 Männer getötet und sei von einem König, nämlich von Giselher, tödlich verwundet worden (B 2301– 2303).⁴⁹⁷
In diesem Zusammenhang rückt nun temporär der für die Figurendarstellung des ersten Handlungsteils so prägende (und in der geistlichen Kleiderkritik mindestens ebenso heftig wie die höfische ‚Zivilbekleidung‘ kritisierte) Rüstungsprunk zurück in den Erzählfokus des Nibelungenlieds. Dies geschieht ausgerechnet an einem besonders dramatischen Punkt der Handlung: Es handelt sich um den Beginn der Kämpfe zwischen Burgunden und Bechelaren in der 37. Aventiure (Wie Rüedegêr erslagen wart). Hier stehen sich nun nämlich nicht länger Christen und Heiden, sondern
So gelingt es den – geschwächten und sich zudem völlig in der Unterzahl befindlichen – Burgunden am Morgen nach dem Saalbrand die Hunnenkrieger bis auf den letzten Mann zu töten (2134,3: die bíderben stúrben alle dem rîchen künege hêr). Zur deutlichen kämpferischen Unterlegenheit der Hunnen gegenüber den Burgunden vgl. auch schon Müller, Spielregeln, S. 444 f.: „Auf der einen Seite die gesichtslose Masse der Hiunen, an Anzahl offenbar unbegrenzt, die Kriemhilt und Etzel in immer neuen Angriffe zu tausenden, und immer vergeblich, gegen die Burgonden aufbieten; dazu – einzig wirksam – die Gruppen exilierter Helden, die zwar auf Etzels Seite stehen, doch nicht einfach seiner Verfügungsgewalt unterliegen und deshalb nur aus eigenem Impuls kämpfen. Das hiunische Herrschaftsgefüge tendiert zur Auflösung, weil es in einen anonymen Haufen zerfällt, der auf Etzels Befehl kämpft, um abgeschlachtet zu werden, und in die Ansammlung einzelner Helden, über die Etzels Befehl wenig vermag und die, mit Ausnahme Dietrichs und Hildebrants, gleichfalls den Nibelungen zum Opfer fallen.“ Der christliche Anteil von Etzels Truppen wird erstmals von Rüdiger im Rahmen des Werbungsgesprächs mit Kriemhild erwähnt; er stellt ihr diesbezüglich in Aussicht, sie könne Etzel womöglich zur Taufe bekehren; vgl. dazu im Einzelnen Str. 1261 f. In diesem Kontext bezeichnet Volker die hunnischen Ritter bereits zum zweiten Mal als Feiglinge. Vgl. dazu auch schon Str. 2026: ‚Nu enweiz ich wes si bîtent‘, sprach der spilman. / ‚ine gesách nie helde mêre sô zägelîchen stân, / dâ man hôrte bieten alsô hôhen solt. / jâne solde in Etzel dar umbe nimmer werden holt.‘ Der nicht-hunnische Teil von Etzels Heer kämpft hingegen (primär) mit dem Schwert gegen die Burgunden, vgl. dazu etwa die Beschreibungen der Kämpfe nach der freiwilligen Meldung Irings zum Duell gegen Hagen (2037– 2069). Müller, Etzel und seine Hunnen.
3.3 Zum Untergang des Kleider- und Rüstungsprunks im Nibelungenlied
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Christen und Christen, ja Freunde und angeheiratete Verwandte gegenüber, weshalb auch der vom Erzähler zuvor andeutungsweise eingeflochtene religiös-legitimatorische Zusammenhang nicht länger greifen kann. Ein ausgesprochen problematisches Licht auf das erzählte Geschehen wirft dabei neben den ausführlichen Verhandlungen des triuwe-Konflikts der Rüdigerfigur (2138 – 2166) auch die Kleiderdarstellung des Nibelungendichters: Denn wo prächtige Rüstungsdetails hier im Kontext eines immer bedrohlicheren Wucherns heroischer Verhaltensschemata noch beschrieben werden, geschieht dies, ganz im Gegensatz zu den höfisierenden ‚Schneiderstrophen‘ des ersten Handlungsteils, kalkuliert zu dem Zweck, ihr wortwörtliches Versinken im Blut zur Darstellung zur bringen. So beschreibt der Erzähler hier etwa mehrfach, wie die Helme beider Seiten vom Blut der Sterbenden verfärbt werden (2211,4: daz bluot durch helme nider ran), die strahlenden Ringpanzer dadurch an Glanz verlieren (2218,2: des muosen liehte ringe werden missevar; ähnlich auch 2210,3) und schließlich auch die Edelsteinzierden der kostbaren Schilde in großen Lachen des ausfließenden Blutes am Boden untertauchen (2212,3: des reis ir schiltgesteine verhouwen in daz blut; ⁴⁹⁸ ähnlich auch 2209,4). Auf diese Weise wird der ritterliche Rüstungsprunk hier also schließlich in dasselbe Licht der Vergänglichkeit gestellt, das Hagens Mahnrede zuvor schon auf die höfischen Prachtgewänder der Burgunden (und Hunnen) geworfen hatte.⁴⁹⁹ Die Gewanddarstellung des Nibelungenlieds verdichtet sich dabei – allerdings ohne, dass der Erzähler darauf jemals explizit-erörternd Bezug nehmen würde – zu einer subtilen Form christlicher Moraldidaxe, die erneut deutliche Assoziationen zu
In einem ähnlichen Wortlaut droht in der 38. Aventiure zudem auch Volker Wolfhart, dessen helmschîn mit seiner hant zu trüebe[n] (2270,2– 3). Vgl. dazu weiterhin auch Hagens Lob an Volker im Hinblick darauf, dass dieser die Helmzier zahlreicher Gegner zerschlagen habe in Str. 2006,4 (‚er brichet ûf den helmen diu liehte schínénden mâl‘). In völlig übersteigerter Form wird auf eine ähnliche Art der Bildlichkeit zuvor auch schon im Zusammenhang mit dem Umfunktionieren der burgundischen Helme zu Trinkgefäßen zurückgegriffen. Aus diesen trinken die Kämpfenden im brennenden Saal auf Vorschlag Hagens hin das Blut der Toten, um so der Hitze der Flammen besser standhalten zu können (2115 f.). Zu den insbesondere aus christlich-religiöser Sicht problematischen Implikationen dieser „Blutmesse“ vgl. Müller, Spielregeln, S. 433 f. Vgl. hierzu auch die bereits in eine ähnliche Richtung weisenden Beobachtungen Sahms, Gold im Nibelungenlied, S. 143 f., zur ungewöhnlichen Platzierung der descriptiones von Siegfrieds prächtigem Jagdgewand und Brünhilds goldener Rüstung unmittelbar vor der jeweils entscheidenden Niederlage der Figuren: „Prünhilts Aussehen wird nicht bei ihrem ersten Auftreten beschrieben, sondern unmittelbar vor dem Kampf, den sie verlieren wird. Sîfrits Jagdausrüstung wird nicht vor der Jagd beschrieben, sondern nachdem die Jagd beendet ist, also unmittelbar vor seiner Ermordung. Diese auffällig verzögerte Figurenbeschreibung rückt die Markierung mit Gold näher an die Niederlage heran. […] Das hier angewandte präfigurierende Verständnis lässt sich mit der Poetik der Vorausdeutungen in Einklang bringen. […] Misst man […] den Personenbeschreibungen des übermütigen und goldgerüsteten Sîfrit und der übermütigen und goldgerüsteten Prünhilt präfigurierende Bedeutung zu, dann ist die Kenntnis der kulturellen Erklärungsformel, dass Gold in den Untergang führt, die notwendige Bedingung für die Transparenz der Vorausdeutungen.“
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3 Von geschmückten Damen und effeminierten Rittern
Heinrichs von Melk Von des todes gehugde (um 1160) weckt.⁵⁰⁰ Denn auch Heinrichs Erzähler – ein namenloser tiefgläubiger Laie (V. 225: wir læien) – kontrastiert die Vergänglichkeit der höfischen Mode scharf mit der Sterblichkeit ihrer adligen Träger, wenn er an einer Stelle des Texts die Witwe eines verstorbenen Ritters mit dessen übelriechender Leiche konfrontiert.⁵⁰¹ Was nütze es schon, fragt der Erzähler hier die schockierte Dame, dass der tote Körper des Geliebten mit schœnen phellen bedechet sei (V. 571), wenn doch seine arme[] sele nicht in das Himmelreich einginge (V. 586):⁵⁰² Nv ginc dar, wip wolgetan vnt schowe deinen lieben man vnt nim vil vlæizchlichen war wie sein antlvtze sei gevar wie sein schæitel sei gerichtet, wie sein har sei geslichtet! schowe vil ernstleiche, ob er gebar icht vrœleichen, als er offenlichen vnt tovgen gegen dir spilte mit den ovgen. […] nv sich, wa ist daz chinne mit dem niwen barthare? nv sich, wi recht vndare ligen die arme mit den henden, da mit er dich in allen enden trovt vnt vmbe vie! wa sint die fvze, da mit er gie hœfslichen mit den frowen? dem mvse dv diche nach schowen, wie die hosen stunden an dem bæine; die brovchent sich nv læider chlæine! er ist dir nv vil fremde, dem dv e die seiden indaz hemde mvse in manigen enden weiten. nv schowe in an al enmitten:
Auf diese scharfe Kleiderkritik Heinrichs von Melk verweist bereits Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 586; eine ausführliche Analyse dieser findet sich bei Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 102– 123. Vgl. Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 151 f. Zum hochgradig asketischen Programm dieses Textes, dessen Kritik sich neben dem Adel (Treulosigkeit, Habsucht, Hochmut, Wollust, Mord) ständeübergreifend auch gegen die Sünden der hohen Geistlichkeit (Bestechlichkeit, Habgier, Wollust) sowie am Rande auch gegen diejenige der Bauern richtet (v. a. das modische Ausbrechen aus dem Stand) vgl. insbesondere Heinrichs Prolog in Von des todes gehugde, hier v. a.V. 1– 19: Mich læitet meines gelouben gelvbde, / daz ich von des todes gehvgde / eine rede fvr bringe. / dar an ist aller mein gedinge, / daz ich wertlichen livten / beschæidenlichen mvze bedivten / in aller vræise vnt ir not, / die ovf den tæglichen tot, / der allen livten ist gemæine, / sich beræitent læider sæine. / die mache vns der weissage chunt; / er sprichet: ‚omnes declinauerunt.‘ / daz sprichet: ‚si hant sich alle genæiget.‘ / er mæinet, die da habent gesæiget / von got zedem ewigem valle. / er mac wol sprechen ‚alle‘, wan vnder tovsent svndæren / mvg wir vil chovm einen bewæren, / der dvrnechtic mvge hæizzen. Vgl. Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 116 f.
3.3 Zum Untergang des Kleider- und Rüstungsprunks im Nibelungenlied
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da ist er geblæt als ein segel. der bœse smach vnt der nebel der vert vz dem vber donen vnt læt in vnlange wonen mit samt dir vf der erde. owe dirre chlægliche sterbe vnt der wirsist aller tode, der mant dich, mensch, deiner brœde. (V. 597– 638)
Im impliziten Anschluss an den antihöfischen Topos der Trivialisierung höfischen Kleiderprunks „im Angesicht des Todes“⁵⁰³ verdeutlichen also auch die grausamen Bilder der 37. Aventiure noch einmal nachdrücklich, dass sich – neben seidenen Hemden und Pelzmänteln – eben auch kein leuchtender Helm und kein juwelenverzierter Schild mit in den Tod nehmen lässt. Die Zerstörung ritterlicher Zier verweist hier jedoch nicht nur auf „die Sinnlosigkeit höfischen Lebens“⁵⁰⁴ in all seiner Vergänglichkeit, sondern entlarvt diese darüber hinaus auch endgültig als Teil einer nur zivilisiert anmutenden Fassade, hinter der sich eine heroische „Lust an der Gewalt“ verbirgt, „die durch alle Versuche der Friedensstiftung durchbricht“.⁵⁰⁵ Insofern die höfischen Kleidermoden etwa bei Heinrich von Melk explizit als hohverte eingestuft werden (V. 295), welche als Todsünde das menschliche Seelenheil in allerhöchstem Maß gefährde (V. 300 f.: ez sint die aller mæisten svnde, / die man wider gotes hulde mac getuon),⁵⁰⁶ wirft das Versinken der prächtigen Rüstungen im Blut allerdings nicht zuletzt ein ungutes Licht auf das, was die nach êre strebenden und dabei im Kampf zunehmend vertierenden Recken nach dem Tod erwarten könnte.⁵⁰⁷ Denn auch wenn die (von nun an weitestgehend unparteiisch ausfallenden) Kommentare des Erzählers bis zum finalen Untergang irritierend zwischen positiv-heroisierenden und negativ-
Ebd., S. 116. Ebd., S. 118. Müller, Spielregeln, S. 443. Eine ähnliche Form der Kleiderkritik wie bei Heinrich von Melk formuliert weiterhin auch die mhd. Rede vom Glauben des sog. ‚Armen Hartmann‘, wobei diese allerdings am Beispiel einer noch lebenden Ritterfigur vorgetragen wird. Vgl. dazu zusammenfassend Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 67: „Als äußerer Ausdruck für ein solches [weltliches; J. S.-B.] Leben erscheint die Gewandung bzw. hier die Rüstung. Dort, wo sie im Dienste des Diesseits steht, verkörpert sie die falsche Einstellung zur Welt – nämlich das Streben nach weltlichen Gütern – und den damit verbundenen Frevel an Gott. Die Rüstung wird so bei Hartmann zum Zeichen fehlender Demut, und wie bei der großen Hure [Babylon; J. S.-B.] verkörpert auch hier die äußere Ausstattung (kostbare Rüstung) die innere Verdorbenheit und die damit notwendig zu erwartende Strafe Gottes (GL V. 255 – 2564).“ Siehe dazu weiterhin auch Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 585 f. Zur Skandalösität der Gewaltexzesse im Schlussteil des Nibelungenlieds aus zeitgenössischer Sicht vgl. prägnant Müller, Spielregeln, S. 443. Zum Aspekt der Vertierung der Kämpfenden am Etzelhof und den ambivalenten Wertungen der Vorgänge durch den Erzähler vgl. weiterhin ausführlich das Unterkapitel „De-Humanisierung“ bei Müller (ebd., S. 447– 450, hier v. a. S. 447– 449).
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klagenden Wertungen changieren,⁵⁰⁸ bezieht dessen beiläufige Anmerkung, Rüdiger setze mit seiner Entscheidung zum Kampf nicht nur seinen lîp, sondern auch seine sêle aufs Spiel (2166,1), auch hier wenigstens an einer Stelle noch einmal explizit die christlich-moralische Perspektive ein.⁵⁰⁹ Augenfällig sind in diesem Zusammenhang auch die sich in den nachfolgenden Strophen plötzlich häufenden Anrufungen der verzweifelten Figuren an Gott (vgl. etwa 2177,1– 2; 2183,1; 2184,1– 2; 2187,1– 2; 2190,1– 2; 2192,1; 2199,1; 2200,2– 3; 2205,1– 2; 2226,4 u. 2245,1– 2), welcher dem Strudel heroischer Gewalt jedoch, wie das Fehlen jeglicher erzählerischer Bezugnahmen auf ein göttliches Eingreifen impliziert, ganz fern ist.⁵¹⁰ Und so konstatiert schließlich auch Diet-
So lobt der Erzähler auf Seiten der Burgunden etwa in formelhafter Weise Giselher als künec sô junger nimmer küenér gewesen (2295,4), Gernot als ritter küene únde guot (2219,4), Volker als vil zíerlîche[n] degen (2229,4; ähnlich 2272,2), bezeichnet Gunthers ellen als vil lobelîch (2357,2; ähnlich 2359,4: hêrlîchen muot) und Hagen sogar als den küenésten recken der ie swert getruoc (2353,3; etwas schwächer 2349,4). Ebenfalls positiv charakterisiert er jedoch auf der Gegenseite zugleich auch Rüdiger als einen recke […] vil küene unt ouch vil lobelîch (2213,4), Hildebrand als einen sturmküene[n] recke mit zühten (2248,1– 3) und Wolfhart sowie Dietrich jeweils als einen snelle[n] degen guot (2273,2 u. 2348,2). Diesen positiven Akzentuierungen gegenüber steht die explizite erzählerische Problematisierung der Tötung Rüdigers durch Gernots Hand (2221,1: Jane wárt nie wirs gelônet sô rîcher gâbe mêr) sowie die Bezeichnung von Wolfharts Ratschlag an Hildebrand, zur Eruierung der Umstände von Rüdigers Tod nur in voller Waffenmontur vor die Burgunden zu treten, als tumben rât an einen wîse[n] (2250,1). Ein problematisch-antiheroisches Licht auf das erzählte Geschehen werfen zudem die gegen Ende geradezu mantraartigen Hervorhebungen des durch die Kämpfe auf beiden Seiten verursachten leide[s] (etwa 2232,2– 4; 2234,3; 2291,2; 2369,4; 2374,4), der nôt (2237,1; 2379,4) und des [herzen] jâmer[s] (2233,4; 2234,1; 2235,1; 2241,4) sowie des Weinens und Klagens der Helden im Erzählerkommentar (vgl. etwa 2225,4; 2234,4; 2236,3; 2243,4; 2257,2; 2261,2). Entsprechend lautet dessen Urteil im letzten Vers der A/B-Fassung (2379,4) dann auch: hie hât daz mære ein ende: daz ist der Nibelunge nôt. Zum ritterlichen Rüstungsprunk als Erscheinungsform von superbia aus Sicht der christlichen Kleiderkritik vgl. schon Lehmann-Langholz, Kleiderkritik, S. 63 f. (zur Rede vom Glauben des ‚Armen Hartmann‘), sowie Kraß, Der effeminierte Mann, S. 37 f. (zu Bernhards von Clairvaux Lobrede auf das neue Rittertum). Auch die prächtig gerüsteten Burgunden werden vom Erzähler des Nibelungenlieds einige Male als hochmütig bezeichnet, wobei sich die entsprechenden Kommentare allerdings nicht konkret auf deren geschmücktes Äußeres, sondern v. a. auf bestimmte, zur gewalttätigen Eskalation beitragende Handlungen von ihnen beziehen. Vgl. dazu speziell im Hinblick auf den Schlussteil etwa den Erzählerkommentar zur Entscheidung Hagens, Kriemhild Balmung zu präsentieren (1783,1: Der übermüete Hagene) oder auch zur Entscheidung der Burgunden, Etzel vor dem Kirchgang nicht an ihrem Wissen über die Rachepläne teilhaben zu lassen, obwohl dieser dadurch der Gewalt hätte Einhalt gebieten können (1865,4: durch ir vil starken übermuot ir deheiner ims verjach). Das von geistlicher Seite oftmals kritisierte (und hier spezifisch heroisch akzentuierte) Motiv des Strebens nach weltlichem Ruhm bis über den Tod hinaus wird im Schlussteil des Nibelungenlieds oftmals explizit als Kampfmotivation der Figuren angesprochen; vgl. dazu etwa mit Bezug auf das Gefolge Rüdigers 2169,3 (die wolden prîs erwerben in des sturmes nôt), Wolfharts Aussage, dass er vor eines küneges handen einen hêrlîchen tôt gefunden habe (2302,4) oder Hagens Sorge um seinen Nachruhm (2341,2– 3: ‚von uns enzimt daz mære niht wol ze sagene, / daz sich iu ergæben zwêne álsô küene man‘). Vgl. dazu exemplarisch etwa Gunthers verzweifelten Ausruf, als Rüdiger ihn mit seiner Entscheidung zum Kampf konfrontiert (2177,1– 3: ‚Nune wélle got von himele‘, sprach Gúnthér der degen, / ‚daz ir iuch genâden sült an uns bewegen. / unt der vil grôzen triuwe, der wir doch heten muot‘), die von Rüdiger geäußerte Verzweiflung über die Situation (2183,1– 2: ‚Daz wolde got‘, sprach Rü-
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rich, als er vom Tod all seiner Männer im Kampf erfährt: ‚und sint erstorben man, / sô hât mîn got vergezzen, ich armer Dietrîch‘ (2319,2– 3).⁵¹¹
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alle mîne
3.3.3 Kriemhilds Schuld: Kleidung und Weiblichkeit Vor dem Hintergrund des markanten Genderings christlicher Kleiderkritik sowie einer heldenepischen Rezeptionsgeschichte, in deren Zuge „der rauhbeinige Wolfhart“ im Wormser Rosengarten Kriemhild, „wenn sie ihr Gefolge auffordert, sich prächtig herauszuputzen (zieret iuch diu baz, Ro A 178,2; vgl. 181)“, hôchvart vorwirft,⁵¹² wäre es allerdings verkürzt, die gewandkritische Darstellung des Nibelungenlieds unabhängig von dessen zentraler weiblicher Figur zu betrachten. Denn in der Tat scheint die typushafte Figurenkonzeption des Nibelungendichters sich auch dahingehend an den hofkritischen Diskurs anzulehnen, dass zehn Jahre vor dem finalen Blutbad ausgerechnet die kompetenteste Gewandschneiderin der mittelhochdeutschen höfischen Epik an den Hunnenhof gekommen ist.⁵¹³ Auf diese außergewöhnliche Dimension der Kriemhildfigur, die mit ihren modischen „Kompetenzen in der höfischen Epik […] praktisch konkurrenzlos“ ist, verweist mit Nachdruck schon Elke Brüggen – allerdings ohne auf deren gewandkritische Implikationen einzugehen.⁵¹⁴ Doch denkt man ins-
edegêr, ‚vil edel Gêrnôt, / daz ir ze Rîne wæret unde ích wære tôt‘) sowie dessen gegenüber Gernot geäußerter irrationaler Wunsch, alle mögen doch am Leben bleiben (2187,1– 3: ‚Daz wolde got, her Gêrnôt, und möchte daz ergân, / daz aller iuwer wille wære hie getân / unt daz genesen wære iuwer friunde lîp!‘ u. 2192,1: ‚Nu müeze uns got genâden‘). Siehe dazu außerdem auch Gernots entsprechende Antwort an Rüdiger (2184,1: ‚Nu lône iu got, her Rüedegêr‘, sprach aber Gêrnôt, ‚der vil rîchen gâbe‘), Hagens Reaktion auf Rüdigers letzte Gabe an ihn (2199,1– 2: ‚Nu lône iu got von himele, vil edel Rüedegêr! / ez wirt íuwer gelîche deheiner nimmer mêr‘ u. 2200,3: ‚sul wir mit friunden strîten, daz sî got gekleit‘), Giselhers resignierte Stellungnahme zum Fortgang der Kämpfe (2226,4: ‚jâ wæne uns got niht langer hier ze lebene engan‘) oder auch Dietrichs Verzweiflung aufgrund von Rüdigers Tod, hinter dem er eine Strafe Gottes vermutet (2245,1– 2: Dô sprach der helt von Berne: ‚daz ensól niht wellen got. / daz wære ein starkiu râche und ouch des tiuvels spot‘). Vgl. dazu schon Schulze, Das Nibelungenlied, S. 264: „Abgesehen davon, daß im Nibelungenlied nicht auf Gottes Gnade Bezug genommen wird, fallen hier […] positive Absicht und erzieltes Ergebnis immer wieder auseinander, und der Untergangsmechanismus läßt sich nicht aufhalten.“ Müller, Spielregeln, S. 392. Neben der Konzeption Kriemhilds nimmt weiterhin auch diejenige der hellsichtigen Wasserfrauen im Nibelungenlied Bezug auf den kleiderkritischen Topos der weiblichen Putzsucht. So stiehlt Hagen, um von diesen einen Blick in die Zukunft zu erpressen, in entsprechender Erwartungshaltung bezeichnenderweise nämlich ir gewæte (1534,4). Während das eine Meerweib, Hadeburg, daraufhin durch der wæte liebe (1539,3), Hagen mit einer unwahren Prophezeiung milde zu stimmen versucht (1537 f.), sagt ihm daz ander merwîp mit Namen Sieglint (1539,1) wahrheitsgemäß das schlimme Ende der Burgunden voraus: ‚Jâ soltu kêren widere! daz ist an der zît, / wan ir helde küene alsô geladet sît, / daz ir sterben müezet in Etzelen lant. / swelche dar gerîtent, die hábent den tót án der hant‘ (1540). Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 121. Im zweiten Teil der Handlung des Nibelungenlieds, in der Kriemhilds typushafte Darstellung sich nach dem Tode Siegfrieds in vielerlei Hinsicht ändert, werden ihr solche gewandschneiderischen Tätigkeiten übrigens nicht mehr zuge-
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besondere vor dem Hintergrund der 6. Aventiure noch einmal an die Klagen Siegfrieds von Gorze über den Sittenwandel zurück, den die Verheiratung Heinrichs III. mit Agnes von Poitou im Reich nach sich gezogen habe,⁵¹⁵ erscheint die Kleiderkritik des zweiten Teils des Nibelungenlieds in der Tat als narrativ von langer Hand vorbereitet. Denn auch Kriemhild agiert im zweiten Handlungsteil des mittelhochdeutschen Heldenepos in der Rolle einer zweifelhaften Kulturbringerin. Zwar verfügt man am Etzelhof auch schon vor ihrer Ankunft über luxuriöse Gewänder (vgl. 1152,3 u. 1361,3);⁵¹⁶ doch hebt der Erzähler im Zusammenhang mit Kriemhilds Vorbereitungen auf die Reise ins Hunnenland noch einmal deutlich hervor, dass die von ihr mitgeführte Ausstattung bewusst so gewählt ist, dass sie diesen an Pracht mindestens ebenbürtig ist (1269,3). Zu diesem Zweck lässt Kriemhild am Burgundenhof sogar erstmals spezielle kisten mit Gewändern öffnen, die zu früheren Anlässen stets verschlossen bleiben mussten: Ob si ê ie getruogen deheiniu rîchiu kleit, der wart zuo zir verte vil manegez nu bereit, wan in von dem künege sô vil gesaget wart. si sluzzen ûf die kisten, die ê stuonden wol bespart. (1269)
Die Menge an verfügbarer Kleidung ist hier also offenbar so groß, dass es für Kriemhild und ihre Jungfrauen mehrere Tage in Anspruch nimmt, nach Stücken zu suchen, die der Braut in spe prachtvoll genug für die Reise sowie das zukünftige Leben am Etzelhof erscheinen: Si wâren vil unmüezec wol fünftehalben tac, / si suochten ûz der valden des vil dar inne lac (1270,1– 2). Und so verlassen schließlich, zu ihrem Schutz von Rittern mit breiten Schilden umringt, eine luxuriös gekleidete Frauenschar und ein von dieser teils am eigenen Leib getragener Kleiderschatz den Hof von Burgund: dô fuorte diu küneginne vil manege méit wól getân, Hundert unde viere, die truogen rîchiu kleit von gemálet rîchen pfellen. vil der schilde breit fuorte man bî den frouwen nâhen ûf den wegen. (1293,4– 1294,3)
Die zitierten Beschreibungen von Kriemhilds Reisetrupp durch den Erzähler sind geprägt von zeitgenössischen Prinzipien des Gabentauschs. Denn in der Literatur des hohen Mittelalters können, wie unlängst noch Heike Sahm oder Monika Schausten
schrieben. So lässt Etzel etwa die prachtvollen Kleider für die Reise Werbels und Swemmels an den Burgundenhof nicht von seiner Gattin, sondern anderweitig herstellen (1409,1). Vgl. dazu erneut Abt Siegfried von Gorze an den Abt Poppo von Stablo, S. 684, und Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, S. 245 f. Etzel erwähnt dies explizit im Kontext der Vorbereitungen der Werbungsfahrt nach Burgund gegenüber Rüdiger: ,Ûz mîner kámerén sô heize ich dir geben / daz du unt dîne gesellen vróelîche múget leben. / von rossen und von kleidern allez daz du wil, / des heize ich iu bereiten zuo der bótschéfte vil‘ (1152).
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betont haben,⁵¹⁷ allgemein nicht nur „bewegliche und unbewegliche Dinge“ oder bestimmte Dienstleistungen und Privilegien, sondern darüber hinaus auch „Menschen […] als Gaben fungieren“ – und zwar insbesondere Frauen.⁵¹⁸ Dabei lasse sich, so Schausten, speziell im Hinblick auf das Nibelungenlied beobachten, dass sich der Wert der adeligen Damen als von vielen begehrte Objekte im Rahmen der adeligen Heiratspolitik nicht allein auf ihre Mitgift, und damit nicht allein im Hinblick auf die ihnen eigene bewegliche Habe bestimmt. Vielmehr wird ihnen auffallend konstant über die goldene Pracht ihres Erscheinungsbildes regelrecht ein Materialwert zugeschrieben.⁵¹⁹
Das Besondere an der vorliegenden Szene gestaltet sich nun allerdings darin, dass Kriemhild, die im ersten Handlungsteil lediglich passives „Tauschobjekt der Männer, Lohn für Siegfrieds Werbungshilfe“ war,⁵²⁰ hier nun selbst als Schenkende auftritt, und zwar als eine, die im Begriff ist, Etzel eine ganz besondere Gabe zu machen – sich selbst.⁵²¹ Doch der diesem Verhalten zugrundeliegende Ermöglichungszusammenhang, nämlich dass sie kurz zuvor von ihren Brüdern als „letzte Instanz der Entscheidung über die Werbungsannahme“ bestimmt worden ist, wird sich noch für alle Beteiligten als ausgesprochen folgenschwer erweisen.⁵²² Vor dem Hintergrund meiner
Vgl. Sahm, Gold im Nibelungenlied, hier v. a. S. 138 f. Schausten, Agonales Schenken, S. 91. Ebd, S. 90. Zu Kriemhilds Inszenierung als einer kostbaren Gabe vgl. grundlegend auch schon Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 138 f.: „[B]ei dem Rest an Schatz, den Kriemhilt auf ihre Reise zu Etzel mitnimmt, geht es nicht nur um die Befähigung zum milte-Handeln, sondern auch um die repräsentative Ausstattung von Herrscherin und Gefolge. Ihr Anspruch, eine Herrscherin zu sein, muss im neuen Land daran sichtbar sein, dass sie und ihre Mädchen ‚vil gezierde‘ (1280,4) tragen. […] Damit greift der Epiker offensichtlich einen Topos der heroischen Dichtersprache auf […]. Im Nibelungenlied wird dieser Zusammenhang von Goldschmuck der Frau und Fest zweimal für Kriemhilt hergestellt, bei der Hochzeit mit Etzel und […] bei dem Fest in Worms. […] Man kann sich fragen, ob in ihrer gattungstypischen Ausstattung mit Gold nicht geradezu eine Verdinglichung der Braut angedeutet wird. Sie tritt sozusagen als goldenes Objekt, als Gabe in die Herrschaftsgemeinschaft mit dem Mann ein. Und der goldene Glanz indiziert den immensen Wert der erworbenen Braut für den Herrschaftsanspruch des erfolgreichen Werbers. Aus der Sicht Etzels ist dann der goldene Glanz seiner Braut eine Verheißung, insofern er sich von ihrem Erwerb eine noch glanzvollere eigene Herrscherposition versprechen darf. Ohne die Erwartungen an die Tragfähigkeit des Topos überziehen zu wollen, ist in diesem Zusammenhang zudem die Belohnung Kriemhilts für die Bereitschaft zur Hochzeit von Interesse. Kriemhilts Rang als Herrscherin ist dann nicht zuletzt an den massenhaften Schätzen ablesbar, die sie von ihren Männern als Morgengabe erhält. Von Etzel erhält sie Schätze, die sie im Leben nicht aufbrauchen kann, von Sîfrit den Hort, für den das gleiche Prinzip der Unerschöpflichkeit gilt.“ Hervorhebung im Original. Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 55. Zu Kriemhilds Wandel von der passiven Gabe zur mächtigen Gebenden vgl. grundlegend Schausten, Agonales Schenken, S. 99: „Das Lied […] erzählt Kriemhild sowohl als Objekt feudaladeliger Heiratspolitik als auch zugleich als Subjekt derselben.“ Ebd., S. 97. Zu dieser Entscheidung der Burgundenkönige als grundlegendem Ermöglichungszusammenhang für das finale Untergangsgeschehen vgl. weiterhin auch ebd., S. 102: „Dass die Witwe Siegfrieds schließlich eigenmächtig die genauen Bedingungen ihres Verschenkt-Werdens aushandeln
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vorangegangenen Ausführungen markiert die Überführung von Kriemhilds Kleiderschatz an den Hunnenhof jedenfalls auch den Beginn der Eingrenzung des Figurenattributs prachtvoller Kleidung auf den Bereich des Heidnischen. Im Zuge des paradigmatischen Erzählens des Nibelungenlieds wird hier nämlich nun auch auf syntagmatischer Ebene räumlich-politisch genau das zusammengeführt, was aus Perspektive der christlichen Kleiderkritik topisch sowieso zusammengehört: höfische Kleidung, Frauen und (effeminierte) Heiden.⁵²³ Der reizvolle Anblick der reisenden Frauen weckt jedenfalls bereits bei ihrem ersten Zwischenstopp in Passau, wo Kriemhilds Onkel Pilgrim Bischof ist, große Aufmerksamkeit unter den hiesigen recken (1297,1): Diese verschlingen die prächtig gekleideten Burgundinnen geradezu mit ihren Augen: dâ trûte man mit ougen der edeln ritter kint (1297,3).⁵²⁴ Einen ähnlichen Effekt hat Kriemhilds geschmückte Erscheinung dann schließlich auch bei ihrer Ankunft in Etzelburg: Als sie dem Hunnenkönig und seinem Gefolge hier nämlich, bekleidet mit einem Gewand, dessen mächtige Schleppe von gleich [z]wêne fürsten rîche (1350,1) getragen werden muss, entgegentritt und ihr durch ein goldenes, gelockertes gebende in seiner Anmut noch
darf, ist ein, wenn nicht der wesentliche Faktor, den die Erzählung als Ursache des Untergangsgeschehens namhaft macht. Nicht allein birgt die spezifische Faktur der Gabe Kriemhild über die ihr anhaftende Geschichte einen potentiell für die am Tausch beteiligten Gesellschaften bedrohlichen Aspekt.Vielmehr wird die Gabe selbst Teil des agonal ausgetragenen Geschehens um das feudaladelige Geben.“ Zum paradigmatischen Erzählen im Nibelungenlied vgl. zusammenfassend Schulze, Das Nibelungenlied, S. 132– 136, hier v. a. S. 132: „Im Nibelungenlied wird ein besonderes Erzählverfahren angewandt, das die Kohärenz der Handlung nur begrenzt linear entfaltet und Sinn nicht stets fortschreitend und mit Hilfe eines Strukturschemas vermittelt, wie es weitgehend im höfischen Roman geschieht, sondern innerhalb des großbögigen Handlungsgerüsts […] stehen vielfach in sich geschlossene Episoden, und es werden durch Doppelung von Motivierungen, die aus verschiedenen Stoffschichten und Bezugsfeldern stammen, Bedeutungen auf mehreren Ebenen und unter verschiedenen Perspektiven nebeneinander gesetzt. Sie sind oft nicht miteinander verknüpft und nicht immer logisch aufeinander abgestimmt. […] Das Nibelungenlied verfährt paradigmatisch, indem es in einer Episode u. U. mehrere Begründungen sowie Beziehungen in zeitgenössischen Regelsystemen assoziiert, ohne daß alle Einzelheiten syntagmatisch mit dem komplexen Handlungsverlauf harmonisiert sind“. Die Übersetzung Brackerts in der verwendeten Textausgabe, nach der „[d]ie Recken des Bistums […] den edlen, ritterlichen Mädchen“ hier „verliebte Blicke [zuwerfen]“, ist zu schwach: Mhd. trûten hat nämlich eine starke sexuelle Konnotation. Vgl. hierzu exemplarisch etwa das berühmte verligen in Hartmanns Ereck,V. 3916 – 3931/2924– 2939: Eregk was biderb und guot, / Ritterlich stúnd sein muot, / Ee er weib gename / und hin haim kame. / nu so Er haim kumen ist, / da keret Er allein seinen list / an Frauen Eniten minne. / sich vilzzen seine sinne, / wie Er alle sein sache / wente ze gemache. / sein site Er wandeln began, / als Er nie warde der man, / also vertrib Er den tag: des morgens Er nider lag, / daz Er sein weib traute, untz daz man messe laute. Hervorhebung J. S.-B. Die durch die Kleiderzier verstärkte Schönheitswirkung Kriemhilds wird vom Erzähler des Nibelungenlieds übrigens erstmals schon im Zusammenhang mit dem Hoffest nach dem Dänen- und Sachsenkrieg angedeutet; vgl. dazu Str. 300: Dô gie si zuo dem münster, ir volgete manec wîp. / dô was ouch sô gezieret der küneginne lîp / daz dâ hôher wünsche vil maneger wart verlorn. / si was dâ ze ougenweide vil manegem réckén erkorn.
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einmal hervorgehobenes Gesicht präsentiert,⁵²⁵ ist man sich schnell einig: frou Helche niht schœner kunde sîn (1351,3). Diese Szene erinnert in manchen Hinsichten an die erste Begegnung Siegfrieds mit Kriemhild, in deren Kontext der Erzähler ebenfalls ausgiebig auf höfische Schönheitstopoi sowie ein minnelyrisches Bildarsenal zurückgreift, um das sich verstärkende Zusammenspiel von prachtvoller wæte (282,1) und weiblicher Schönheit zur Darstellung zu bringen: Kriemhild erstrahlt vor Siegfried wie das morgenrôt (281,1) und der mâne (283,1) zugleich.⁵²⁶ Vor Etzel hingegen, so hebt der Erzähler hervor, erstrahlt ihre Haut v. a. im Glanze des von ihr getragenen Goldschmucks, wodurch, so betont schon Heike Sahm, nicht zuletzt auch noch einmal der besondere Gabenwert der Braut unterstrichen wird (1351,1– 2: Ûf ruhte si ir gebende: ir varwe wol getân / diu lûhte ir ûz dem golde).⁵²⁷ Durch den weiteren Handlungsverlauf erschließt sich dann allerdings, dass die skizzierten höfisierend-materialisierenden Tendenzen der Kleiderdarstellung hier bereits latent durch den antihöfischen Topos überlagert sind, nach dem eine geschmückte Frau in besonderem Ausmaß dazu fähig ist, Wollust beim Mann auszulösen und dadurch sein Verhalten negativ zu beeinflussen.⁵²⁸ In ihrem Einfluss auf Etzel erweist sich Kriemhild nämlich gerade nicht als eine höfische Dame im Sinne des höfischen Diskurses, deren Anblick sich positiv auf die Sittlichkeit und den ritterlichen Mut des Mannes auswirken würde, sondern, ganz im Gegenteil, als unheil-, ja todbringende geschmückte Verführerin im
In diesem Zusammenhang erscheint der beiläufige Verweis Bumkes, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 205, auf eine Stelle in Wolframs Parzival (515,1ff.) interessant, wo „einer Dame, die ihr Gebende [lockert], […] lose Sitten“ nachgesagt werden, weil dieses als „das Abzeichen der verheirateten Frau“ gilt. Kriemhilds gebende fungiert hier insofern also möglicherweise auch als ein subtil-kritischer erzählerischer Verweis auf ihren Witwenstatus. Differenziert zu den Analogien dieser beiden Szenen vgl. auch schon Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 138 f. Zu den zahlreichen intertextuellen Systemreferenzen der ersten Begegnung zwischen Siegfried und Kriemhild auf den zeitgenössischen Minnesang vgl. weiterhin überblicksartig Schulze, Das Nibelungenlied, S. 156 – 160, sowie v. a. dessen Str. 281– 285. Vgl. Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 138 f. Den goldenen Glanz der Kleidung auf Kriemhilds Haut nimmt, wie Sahm (ebd., S. 133), betont, neben Etzel viele Aventiuren zuvor auch schon einmal Brünhild wahr: ir varwe gegen dem golde den glanz vil hêrlîchen truoc (799,4). Einen frühen Hinweis auf den (zu) sinnlichen Charakter der Minne Etzels bildet möglicherweise schon die auf den erotischen Eheaspekt fokussierte Formulierung seiner Aufforderung an Rüdiger, für ihn um Kriemhild zu werben: Er sprach: ‚sô wirp ez, Rüedegêr, als liep als ich dir sî. / und sol ich Kriemhilde immer geligen bî, / des wil ich dir lônen so ich áller beste kan, / sô hâstu mînen willen sô rehte vérré getân (1151). Dazu passt, dass auch die Hochzeitsbeschreibungen die rituell vorgesehene körperliche Vereinigung von Etzel und Kriemhild bereits in ihrem zweiten Vers besonders akzentuieren (1365,2: dâ der künec Etzel bî Kríemhílde lac). Dieses bedeutsame Detail kommt in der Übersetzung der Verse in der verwendeten Textausgabe Brackerts nicht zur Sprache („Das Fest, auf dem Etzel mit Kriemhild in der Stadt Wien Hochzeit hielt, war auf einen Pfingsttag gefallen“). Auf eine sündhafte wollüstige Veranlagung Etzels („sensual nature“) verweist auch schon Boehringer, Sex and Politics, S. 158 f. (Zitat ebd., S. 159).
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Sinne des hofkritischen Diskurses.⁵²⁹ In einem solchen diskursiven Kontext ist hier wohl einerseits die Erwähnung von Kriemhilds übermäßig langer Schleppe (1350) durch den Erzähler zu verorten,⁵³⁰ vor allen Dingen aber die irritierenden Bemühungen Rüdigers, Etzel physisch davon abzuhalten, Kriemhild unmittelbar nach ihrer ersten Begegnung unsittlich zu berühren:⁵³¹ Waz dô redete Etzel, daz ist mir umbekant. in der sînen zeswen lac ir wîziu hant. si gesâzen minneclîche dâ Rüedegêr der degen den künec niht wolde lâzen Kriemhilde héimlîche pflegen. (1358)
Im Rückbezug auf die topischen Argumentationsweisen der christlichen Kleiderkritik wird das Augenmerk des Rezipienten hier also schon sehr früh auf die erotische Anziehungskraft gelenkt, mit deren Hilfe Kriemhild fatalen Einfluss auf ihren zweiten Gemahl ausüben wird:⁵³² Denn nicht von ungefähr gibt Etzel ihr die Zustimmung zur Einladung der Burgunden, durch die der grôze mort (2086,1) am Etzelhof erst ermöglicht wird, während einer gemeinsamen „Liebesnacht“ (1400 f.).⁵³³ Der erst kurz zuvor von Hagen des Horts beraubten Kriemhild (1271– 1276)⁵³⁴ ist ihr Kleiderschatz allerdings nicht nur bei der initialen Verführung ihres zweiten Gatten,
Zu den positiven Verhandlungen von Minne, die beim Mann durch weibliche Schönheit ausgelöst wird, im Rahmen des höfischen Diskurses vgl. erneut Ehrismann, Ehre und Mut, S. 190, und Bumke, Höfische Kultur, Bd. 1, S. 78. Auf einen Zusammenhang dieser Szene mit der christlichen Kleiderkritik verweist sehr beiläufig – und im Rückbezug auf Brüggen, Kleidung und Mode in der höfischen Epik, S. 87– 89, – bereits Ehrismann, Ehre und Mut, S. 77: „Gelegentlich wurde die Schleppe (swanz) erwähnt, die besonders der stets modefeindlichen Kirche als ‚Symbol der Sünde schlechthin‘ […] galt (vgl. ‚Nibelungenlied‘ 1350).“ Allerdings weist die Darstellung der Minne und des Frauendienstes Etzels an Kriemhild, wie Müller, Spielregeln, S. 399, mit Recht betont, neben diesen kritischen Akzentuierungen auch einige höfisierende Tendenzen auf: Denn „[d]er Tod der vrouwe – Helche – zerstört die Freude des ganzen Landes und beschädigt Etzels Herrschaft. Wenn Kriemhilt Helche ersetzt, beginnen die Feste und Ritterspiele aufs neue: dâ wart vrouwen dienest mit grôzem vlîze getân (1310,4).“ Ähnlich auch schon Boehringer, Sex and Politics, S. 158 f. Boehringer analysiert in dieser Studie die Entwicklung der Beziehung zwischen Etzel und Kriemhild im Kontext von J. A. Greimas’ Aktantenmodell: So gehe die politische Macht des ursprünglichen Senders Etzel nach und nach auf seine sich zum neuen Sender (sowie Subjekt und Empfänger) der Erzählung entwickelnde und nach dem Objekt Rache strebende Gattin Kriemhild über. Vgl. dazu im Einzelnen auch Str. 1400 f. des Nibelungenlieds: Dô si eines nahtes bî dem künege lac, / (mit armen umbevangen het er si, als er pflac / die edeln frouwen triuten; si was im als sîn lîp), / dô gedâhte ir vîende daz vil hêrlîche wîp. / Si sprach zuo dem künege: ‚vil lieber herre mîn, / ich wolde iuch bitten gerne, möhte ez mit hulden sîn, / daz ir mich sehen liezet, ob ich daz het versolt, / ob ir den mînen friunden wæret inneclîchen holt.‘ Zwar lässt Gernot Kriemhild (offenbar aus Mitleid und entgegen den Anweisungen Hagens; Str. 1272 f.) neben der Kleidung zusätzlich auch noch zwelf schrîn / des aller besten goldes (Str. 1280,1– 2) aus ihrem Hort nach Etzelburg mitführen. Diese machen allerdings nach Erzähleraussage nur einen Bruchteil dessen aus, was eigentlich einmal ihr gehörte, und werden von Kriemhild hier zudem größtenteils für Siegfrieds Seelenheil gespendet (Str. 1281). Vgl. dazu weiterhin auch Str. 1323,3 des
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sondern auch im Kontext der nur wenige Tage später in Wien stattfindenden Hochzeitsfeierlichkeiten noch einmal ausgesprochen von Nutzen:⁵³⁵ Diu hôchzît was gevallen an einen pfinxtac, dâ der künec Etzel bî Kríemhilde lac in der stat ze Wiene. Si wæne sô manegen man bî ir êrsten manne nie ze díensté gewan. Si kunte sich mit gâbe dem der si nie gesach. vil maneger dar under zuo den gesten sprach: ‚wir wânden daz frou Kriemhilt niht guotes möhte hân: Nu ist hie mit ir gâbe vil manec wúndér getân.‘ Diu hôchzît diu werte sibenzehen tage. Ich wæne man von deheinem künege mêre sage, des hôchzît grœzer wære, daz ist uns gar verdeit. Alle die dâ wâren, die truogen iteniuwe kleit. […] Ouch gap nie deheiner zuo sîn sélbes hôchgezît sô manegen rîchen mantel, tief unde wît, noch sô guoter kleider, der si móhten víl hân, sô si durch Kriemhilde heten állé getân. (1365 – 1369)
Was die verhältnismäßige Kürze dieser Hochzeitsbeschreibungen durch den Erzähler anbelangt, sieht Julian McMahon darin – wie auch in der Abgelegenheit des Veranstaltungsorts Wien und dem Verzicht Bischof Pilgrims, an den in seiner eigenen Diözese abgehaltenen Festlichkeiten teilzunehmen (1330) – wohl mit Recht problematisierende Hinweise auf den Heidenstatus von Kriemhilds zweitem Ehemann.⁵³⁶
Nibelungenlieds, in der Kriemhilds Kleiderschatz als im Vergleich mit dem ursprünglichen Hort vom Erzähler marginalisierend als kleine[s] guote bezeichnet wird. Dass Kriemhild aufgrund des Verlusts des Horts an Hagen gabentechnisch von nun an v. a. auf ihren ‚Kleiderschatz‘ zurückgreifen muss, zeigt sich im Weiteren etwa auch an der entsprechenden Beschenkung des weiblichen gesindes der verstorbenen Helche (Str. 1380 – 1385). Allerdings überreicht Kriemhild den Edelfräulein neben gewant und gesteine durchaus auch etwas von den kleineren golt- und silber-Beständen (Str. 1384,2– 3), die ihr geblieben sind. Die Problematik der Kleidergeschenke Kriemhilds drückt sich etwas später auch noch einmal in ihrer Bestechung der Spielleute Werbel und Swemmel aus: So sollen diese im Gegenzug für neue prächtige Gewänder die Burgunden hinsichtlich Kriemhilds (für jeden am Hunnenhof offensichtlicher) Trauer belügen, da ein solcher Eindruck die Umsetzung ihrer Rachepläne gefährden würde (1414– 1421). Vgl. dazu grundlegend James V. McMahon: The Oddly Understated Marriage of Kriemhild and Etzel. In: ‚Waz sider da geschach‘. American-German Studies on the Nibelungenlied. Text and Reception. With Bibliography 1980 – 1990/91. Hrsg. von Werner Wunderlich, Ulrich Müller, Detlef Scholz. Göppingen 1992 (GAG. 564), S. 131– 147, hier S. 144: „In short, the Church would have preferred that Kriemhild not remarry, and especially that she not marry a pagan, but would have been unable to prevent such a marriage. In these circumstances the Church would probably have insisted that the marriage be celebrated in such a way as to minimize the danger of scandal. One way to accomplish this
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Meines Erachtens ist darüber hinaus aber auch die Art der Geschenke, die Kriemhild den fremden Gästen hier macht, bemerkenswert: alle die dâ wâren, die truogen iteniuwe kleit (1367,4).⁵³⁷ Denn in der literarischen Darstellung des Mittelalters schmieden Kleidergaben nach Kathryn Starkey stets auch „Bindungen und etablier[en] eine soziale Hierarchie“:⁵³⁸ Generell wird kostbare Kleidung in mittelhochdeutschen Erzählungen stets nur von Ranghöheren an Rangniedrigere verschenkt, zum Beispiel von einem Fürsten an einen Lehnsmann oder von einer Dame an ihren Minnediener. Wird das Kleidungsstück akzeptiert, so bedeutet dies eine implizite Anerkennung dieser sozialen Rangordnung, und wenn die geschenkte Kleidung getragen wird, wird diese Rangordnung öffentlich sichtbar.⁵³⁹
Das ausgiebige Verteilen von vestimentären gâbe[n] (1366,1) an die Hochzeitsgäste in Wien wirft insofern ein problematisches Licht auf die künftige Hunnenkönigin zurück:⁵⁴⁰ Denn mithilfe ihres Kleiderschatzes installiert Kriemhild hier eine neue would be to hold the wedding in Vienna, far away from the bride’s home and on the frontier of the groom’s country rather than in his capital, where more public display would have been expected. […] If Kriemhild and Etzel had been wed at Worms or in Etzel’s capital, the wedding would have drawn much more attention. This contention, that the wedding was played down because of the attitude of the church, is supported by the behavior of Kriemhilds uncle, Bishop Pilgrim, the bishop of Passau.“ Für eine Übersicht einschlägiger Passagen der theologischen Literatur zur ehelichen Verbindung von Christen und Heiden in Gratians Decretum, Petrus Lombardus’ Buch der Sentenzen und Thomas’ von Aquin Summa Theologiae vgl. weiterhin ebd., S. 131– 147. Das entsprechende Problem wird darüber hinaus auch einige Male im Nibelungenlied selbst angesprochen, so etwa in der Figurenrede Rüdigers und Kriemhilds; vgl. hierzu etwa die Str. 1145 (Etzels religionsbasierte Bedenken zum Gelingen seiner Werbung), 1248 (Kriemhilds religiöse Bedenken im Vorfeld der Hochzeit), 1388 (Ortliebs Taufe) oder 1395 (Kriemhilds religiöse Bedenken nach der Heirat). McMahon, The Oddly Understated Marriage of Kriemhild and Etzel, S. 138, bemerkt diesen Umstand ebenfalls, er versucht sich im Anschluss jedoch an keiner Deutung zum narrativen Stellenwert der Kleidung im Rahmen dieser Beschreibungen des Erzählers. Der Partikel ite- in iteniuwe (1367,4) wirkt nach dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch, Bd. 2, Sp. 390a, zusätzlich verstärkend im Sinne von „wieder neu, ganz neu, […] verstärktes niuwe.“ Dass die neuen Kleider der Gäste, wie in Str. 1367 bereits impliziert, von Kriemhild stammen, bestätigt die übernächste Strophe (1369): Ouch gap nie deheiner zuo sîn sélbes hôchgezît / sô manegen rîchen mantel, tief unde wît, / noch sô guoter kleider, der si móhten víl hân, / sô si durch Kriemhilde heten állé getân. Kathryn Starkey: Textilien als erzählerisches Mittel in der mittelhochdeutschen Literatur (Vortrag an der Universität zu Köln vom 12.07. 2018). Allgemein dazu auch schon Müller, Spielregeln, S. 348: „Schenken ist öffentlich und meist hierarchisch strukturiert: Wer schenkt, steht über dem Beschenkten.“ Starkey, Textilien als erzählerisches Mittel in der mittelhochdeutschen Literatur. Auf Kriemhilds „Exzesse des Schenkens“ am Etzelhof und deren problematische Implikationen verweist beiläufig schon Müller, Spielregeln, S. 351: „Insgeheim […] schlägt milte in etwas anderes um, ist immer weniger achtloses Wegschenken allein um der Ehre willen und wird immer mehr instrumentalisiert zur miete für die Rache an Hagen. So soll an Kriemhilt die Perversion eines Systems zutagetreten, in dem ungemessen-freiwillige Leistung ebenso ungemessen-freiwillige Gegenleistung herausfordert. Der Hof Etzels, dessen sprichwörtliche milte in der Heldensage – ‚Buch von Bern‘, ‚Rabenschlacht‘, ‚Biterolf‘ – Magnet für die besten Helden ist, wird damit zur tödlichen Falle, in der die Burgonden der größeren Konzentration von Machtmitteln zum Opfer fallen.“
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Rangordnung mit sich an der Spitze, die zehn Jahre später das machtpolitische Fundament für den grôzen mort (2086,1) am Etzelhof bilden wird.⁵⁴¹ Aufgrund von deren topisch-heidnischer Fixierung auf das Materielle wird sich Kriemhild die Dienstbarkeit der Hunnen später zwar immer wieder aufs Neue zurück erkaufen müssen; doch kann sie dabei zukünftig, im Anschluss an die hier skizzierte Phase der vestimentären Überbrückung, auf den unendlichen Reichtum ihres zweiten Gatten Etzel zurückgreifen.⁵⁴² Kriemhilds Geben gründet sich jedenfalls schon im Kontext der Hochzeit nicht auf der ungerichteten höfischen Tugend der milte,⁵⁴³ sondern Siegfrieds Witwe partizipiert hier vielmehr kalkuliert an der „agonale[n] Praxis einer feudaladeligen Kunst des Schenkens“, die, wie Monika Schausten jüngst schon mit Fokus auf die Rüdigerfigur gezeigt hat, „im Gang der Erzählung“ zunehmend deren „Niedergang plausibilisiert.“⁵⁴⁴ Für den nicht zuletzt durch zahlreiche Vorausdeutungen über den Geschehensfortgang bereits informierten Rezipienten präsentiert sich Kriemhild in dieser Szene aber nicht nur als agonal Schenkende, sondern darüber hinaus auch
Auf die wesentliche Bedeutung der Partizipation der Kriemhildfigur an der adligen Gabenpolitik für den Untergang der Burgunden verweist bereits Schausten, Agonales Schenken, S. 102: „Mit Kriemhild erwirbt Rüdiger dem Herrscher Etzel das Unheil, das ihre Geschichte bestimmt, und mehr noch, eine ebenbürtige Partnerin im agonalen Spiel feudaladeliger Gabenökonomie.“ Zum grundlegenden Zusammenhang von Reichtum/Schätzen und Macht in der Heldenepik, der auch für das Nibelungenlied prägend ist, sowie der sich darauf gründenden Sonderstellung Etzels im zweiten Handlungsteil vgl. schon Sahm, Gold im Nibelungenlied, S. 128 – 131: „Die Motivation, Gold zu besitzen, ist in der heldenepischen Überlieferung […] eingelassen in die übergeordnete thematische Konfiguration, dass der Status einer Herrscherfigur am mit Gold betriebenen Gaben- und Schmuckaufwand abzulesen sei. […] Im Nibelungenlied wird die Rolle des Reichsten mit Nachdruck für Sîfrit reklamiert […]. Diese Rolle wird Sîfrit von der narrativen Stimme im zweiten Teil des Nibelungenlieds wieder abgesprochen, denn Etzel tritt als Bewerber um Kriemhilts Hand an seine Stelle. Dessen Möglichkeiten, aus seinem Schatz zu verteilen, werden zunächst mit einem vergleichbaren Superlativ versehen wie zuvor der Schatz Sîfrits, nämlich dass er so viel Gold zu geben hat, dass man es zeitlebens nicht aufbrauchen könne. Und nach Kriemhilts Ankunft präzisiert der Erzähler: Auch wenn Sîfrit ‚rîch des guotes‘ (1368,3) gewesen wäre, so hätte er nicht so viele Gefolgsleute wie Etzel gehabt. Strukturell gesehen tritt Etzel nun in die Rolle des Besten ein, wenn er Kriemhilt heiraten soll, aber der Beste ist er, weil er über zwölf Kronen herrscht und viel zu verteilen hat. Der Beste ist auch im Nibelungenlied zugleich der mit dem größten Schatz.“ Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu unlängst Schausten, Agonales Schenken, S. 89, sowie zuvor bereits Müller, Spielregeln, S. 348: „Milte ist Fürstentugend. […] Gaben stellen befriedete Beziehungen zwischen fremden Gruppen her. Exzessive Verschwendung von Geschenken spiegelt den Glanz einer Herrschaft. Geschenkt wird scheinbar absichtslos und ohne Ansehen der Person.“ Schausten, Agonales Schenken, S. 87 (Hervorhebungen im Original), die sich mit diesen Ausführungen allerdings nicht auf die hier untersuchte Hochzeitsepisode bzw. auf Kriemhild, sondern auf das – teilweise analog gestaltete, nämlich sich ebenfalls in fataler Weise verausgabende – Schenkverhalten der Rüdigerfigur bezieht. Vgl. zusammenfassend zu dieser These v. a. ebd., S. 109. Zur gabenkritischen Akzentuierung des Geschehens im Nibelungenlied vgl. zuvor auch schon beiläufig Frakes, Brides and Doom, S. 182 f.: „[T]he Nibelungenlied is about what happens when men steal women’s property; Kudrun is about what happens when men steal men’s property, that is, women.“
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selber als „‚giftige Gabe‘“,⁵⁴⁵ deren hohen Preis ihr zweiter Gemahl noch nicht erahnen kann. Im Weiteren wird dieses irritierende Darstellungsmoment durch die geradezu grotesk anmutenden Entwicklungen der Feierlichkeiten in eine Art Kleidertauschspektakel zusätzlich verstärkt: Denn nur wenig später beginnen die von Kriemhild gerade erst reich Beschenkten zur Demonstration von eigener milte (1370,4), die neuen rîchen mantel und guote[n] kleider (1369,2– 3) so lange unter sich weiter herumzureichen, bis schließlich, nach Aussage des Erzählers, viele Recken ganz ohne dastehen (1370,4: dâ gestúont dâ vil der degene von milte blôz âne kleit).⁵⁴⁶ Durch diesen nicht nur komisch, sondern auch latent aggressiv anmutenden Wettstreit des Gebens,⁵⁴⁷ auf den sich, wie im letzten Kapitel bereits ausgeführt, in diesem Sinne intertextuell später auch der Kudrun-Autor bezieht (Kudrun 1675,4: si begunden mit der milte strîten),⁵⁴⁸ wird bereits zum Zeitpunkt der Hochzeit in Wien auf das finale Blutvergießen am Hunnenhof vorausgedeutet. Denn dass es, bei allen anfänglichen Rückschlägen, Jahre später Kriemhild sein wird, die hier über die entscheidende Macht verfügt, lässt sich bereits an dem von ihr initiierten Angriff Bloedels auf Dankwart ablesen (1903 – 1908), der damit eindeutig gegen die Vorgaben Etzels handelt.⁵⁴⁹ Die vom Erzähler zum Ende hin daher auch immer häufiger als Kriemhilde
Schausten, Agonales Schenken, S. 100, die sich mit diesem Begriff auf „Kriemhilds vollständige[] Geschichte als problematische[s] Implikat der Gabe“, also v. a. das Unrecht, „das ihr durch den Mord an Siegfried durch ihre Verwandten, vor allem aber durch Hagen widerfahren ist“, bezieht. Allgemein zum „Zwang der Gegengabe“ vgl. weiterhin auch ebd., S. 85. Vgl. dazu im Einzelnen erneut 1369 f.: Ouch gap nie deheiner zuo sîn sélbes hôchgezît / sô manegen rîchen mantel, tief unde wît, / noch sô guoter kleider, der si móhten víl hân, / sô si durch Kriemhilde heten állé getân. / Ir friunde unt ouch die geste die heten einen muot, / daz si dâ niht ensparten deheiner slahte guot. / swes iemen an si gerte, daz gâben si bereit. / des gestúont dâ vil der degene von milte blóz áne kleit. Vgl. allgemein zu einer solchen Art der Darstellung schon Müller, Spielregeln, S. 348: „Wo Geschenke Freundschaftsbindungen zwischen Gleichen herstellen oder befestigen sollen, müssen sie durch gleichwertige Gegengeschenke beantwortet werden. Umgekehrt kann Schenken als Mittel des Wettkampfes aggressiv eingesetzt werden; man sucht sich an Geschenken zu überbieten, bis dem anderen die Gegengabe unmöglich wird.“ Vgl. dazu erneut S. 162 f. der vorliegenden Arbeit. Darüber hinaus geht auch der Befehl zum Anzünden des Saals, in dem sich die Burgunden befinden, allein von Kriemhild aus (2111). Vgl. dazu auch den früheren Kommentar des Erzählers in Str. 2086, der Kriemhild hier explizit den aktiven Part an der Beförderung des Untergangsgeschehens zuweist, während Etzel sozusagen als unglückliches Opfer äußerer Umstände inszeniert wird: Ze einen sunewenden der grôze mort geschach / daz diu frouwe Kriemhilt ir herzen leit errach / an ir næhsten mâgen und ander manegem man, / dâ von der künec Etzel vreude nimmer mêr gewan. Zwar greift auch Etzel mit seiner Befehlsgewalt vereinzelt in das spätere Kampfgeschehen ein, dies geschieht allerdings erst nach der Ermordung Ortliebs durch Hagen, die nach Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 54, jegliche Bemühungen zur Unterbindung der Gewalt schließlich hinfällig macht. So führt denn auch Etzel als Motivation für seine erstmalige Weigerung, mit den Burgunden vride unde suone zu schließen (2090,4), den Tod seines Sohns und zahlreicher Verwandter an (2089 f.). Zu den Auswirkungen von Etzels Befehlen auf das nachfolgende Kampfgeschehen vgl. weiterhin etwa auch Str. 2129, 2137, 2152, 2165 u. 2230 f.
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helde bzw. Kriemhilde degenen (z. B. 1822,4 u. 1958,4) bezeichneten Hunnen erscheinen dabei immer mehr als der sprichwörtlich verlängerte Arm einer schon seit ihrer Jugend zu sehr mit luxuriöser Mode assoziierten fremdländischen Königin.⁵⁵⁰ Mit der Kriemhildfigur verbindet die hunnischen Ritter dabei auf paradigmatischer Ebene nicht zuletzt ihre spezifisch als ‚Verweiblichung‘ kodierte kriegerische Schwäche (effeminatio) sowie ihre Unehrlichkeit und Hinterlist. Zusammenfassend lässt sich die Gestaltung der Kriemhildfigur in den finalen Aventiuren der A/B-Fassung des Nibelungenlieds, welcher eine spezifisch kleiderkritisch akzentuierte Variante des „Eva-Schema[s]“⁵⁵¹ zugrundeliegt, also als Teil einer allgemeinen Strategie der Sympathielenkung beschreiben: Denn diese ist v. a. im zweiten Handlungsteil darum bemüht, der Witwe Siegfrieds den Hauptanteil der Schuld am Untergang anzulasten.⁵⁵² Eine solche Tendenz setzt allerdings schon mit der ersten Strophe des Epos ein, in welcher der Erzähler gemäß der „Programm-Formel der Troja-Geschichte“⁵⁵³ die Schönheit der burgundischen Königstochter als Ur-
Schon Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 163, merkt an, dass die Handlungen der Hunnenkrieger im Schlussteil des Nibelungenlieds immer wieder kausal-logisch „auf Kriemhild zurückgeführt werden“. Im Gegensatz zu Klein (ebd.) gehe ich dabei allerdings nicht davon aus, dass „[d]er Schwerpunkt der Kritik des Erzählers […] auf dem Handeln Kriemhilds [liegt]“ und die Hunnen davon insofern weitestgehend ausgespart bleiben würden. M. E. ist das eine hier (allein schon vom hofkritischen Vorwurf der effeminatio gedacht) gar nicht vom anderen zu trennen. Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 37. Zu dieser deutlich gegenderten Strategie der Sympathielenkung des Erzählers im Nibelungenlied vgl. erneut Schausten, Der Körper des Helden und das ‚Leben‘ der Königin, S. 47 f., sowie Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 37 u. 55 f. Joachim Heinzle: Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma des Interpreten. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von Fritz Peter Knapp. Heidelberg 1987, S. 257– 276, hier S. 269. Vgl. dazu ausführlicher ebd., S. 269 f.: „Die Schönheit einer Frau führt zum Tod vieler Helden: das ist der Gedanke, den der Nibelungendichter programmatisch an den Beginn seines Werkes gestellt hat. In der alten Tradition des Nibelungenstoffes hat er diesen Gedanken schwerlich gefunden. Er dürfte aus jener literarischen Sphäre stammen, in die er den Stoff zu transponieren hatte – es ist die Programm-Formel der Troja-Geschichte, der man in der gelehrt-literarischen Tradition des Mittelalters auf Schritt und Tritt begegnen konnte, in besonders prägnanter Zuspitzung z. B. in den Anfangsversen von Carmen Buranum 99: Superbi Paridis leve iudicium, / Helene species amata nimium / fit casus Troïe deponens Ilium, oder, mit z. T. ganz ähnlichen Wendungen wie in der Nibelungenlied-Strophe, im Eingang von Konrads von Würzburg Trojanerkrieg: ich sag iu von den dingen, / wie daz vil keiserlîche wîp / Helêne manigen werden lîp / biz ûf den tôt versêrte, / und waz man bluotes rêrte, / daz durch sie wart vergozzen. / ir clârheit waz geflozzen / für alle frouwen ûz erkorn. / des wart vil manic lîp verlorn, / der von ir minne tôt gelac. Wenn nicht alles täuscht, dann hat der Nibelungendichter also versucht, seinen Stoff mit Hilfe der Troja-Formel literarisch zu deuten, d. h. eine Verständnisperspektive für ihn zu öffnen, die ihn in der Welt der Literatur kommensurabel machte.“ Neben Heinzle zieht auch Schulze, Das Nibelungenlied, S. 143, eine solche „Motivanalogie zum Trojanischen Krieg“ in Betracht, wonach der finale Untergang „ursächlich aus der Schönheit“ Kriemhilds resultiere und die Figur also „mit einem problematischen Aspekt verbunden sein könnte“. Die auf Kriemhilds Schuld fokussierte erste Strophe der Handschrift B erscheint in der von mir verwendeten Ausgabe Brackerts erst als zweite Strophe; ihr vorgeschaltet ist – im Zuge einer verbreiteten Konjektur – die berühmte Eingangsstrophe der jüngeren
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sache für den Tod vieler Recken hervorhebt (2,3 – 4). Und auch im weiteren Handlungsverlauf wird Kriemhild, wie schon Elisabeth Lienert betont, immer wieder und „[v]ielfach gegen das, was wirklich erzählt wird, […] zur Schuldigen an der Katastrophe erklärt“.⁵⁵⁴ Zwar wird die Frage nach der Schuld gerade in der älteren Textfassung A/B vom Erzähler nicht einsinnig geklärt, denn insgesamt betrachtet stehen [w]eibliche Schönheit und die Feindschaft der beiden Frauen Kriemhild und Brünhild […] als Motive für das schreckliche Ende neben der übermüete der Werber auf Isenstein sowie der untriuwe Hagens und Gunthers bei der Planung und Ausführung des Mordes an Siegfried. Gut und Böse sind nicht auf bestimmte Personen fixiert. Zwar läßt sich der Werbungsbetrug als die Tat begreifen, die fortzeugend Böses gebiert; doch die Verantwortlichen, Gunther und Siegfried, fungieren im folgenden eher als Objekte, nicht als Subjekte des Handelns. Der Text gibt keine klare Antwort auf die Frage: Ist Hagen als Mörder der Hauptschuldige für den weiteren Verlauf des Geschehens, oder ist es Kriemhild als gnadenlose Rächerin, die für den Tod aller beteiligten männlichen Mitglieder ihrer Familie und deren Gefolge sorgt, oder sind es beide? Die Mordhandlung des ersten Epenteils weist auf Hagens Schuld, aber im zweiten Teil geht die Eindeutigkeit verloren. Hagens Bild wird durch positive Züge aufgehellt. Der Erzähler nennt ihn den Nibelungen ein helflicher trôst (1523,2). Hagen will die Reise ins Hunnenland vermeiden, die Burgunden schützen. Er wird im Widerspruch von Handeln und Bewußtsein gezeigt: Obwohl er um die Todesbestimmung weiß, rüstet er zur Gegenwehr, er provoziert feindliche Zusammenstöße und entwickelt Strategien zum Überlegen. Durch eine Versöhnungsgeste zieht er sich sogar zeitweise aus dem Kampf mit Rüdiger zurück.⁵⁵⁵
Mit dieser partiellen Entlastung Hagens im zweiten Handlungsteil geht nun wiederum eine zwar stets nur punktuell erfolgende, doch immer empfindlichere Aburteilung der Kriemhildfigur einher.⁵⁵⁶ So wird vom Erzähler nicht nur deren lediglich zum Schein mit den Brüdern geschlossene Sühne explizit auf einen Rat des übel vâlant (1394,1) zurückgeführt und die blutige Rache am Etzelhof als grôze[r] mort (2086,1) geächtet,⁵⁵⁷ sondern es apostrophiert, wie Ursula Schulze herausstellt, auch Hagen die Hunnenkönigin gegen Ende noch einmal als vâlandinne (2368,4), wie er Brünhild bei ihren unweiblichen Kampfauftritten des tîvels wîp (483,4) genannt hatte. Beide Bezeichnungen alludieren, auch wenn sie nur punktuell eingesetzt
Textfassung C Uns ist in alten mæren wunders vil geseit (NL C 1,1), die darüber hinaus auch in der Handschrift A enthalten ist; vgl. dazu überblicksartig etwa Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 37. Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 53. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 256 f. Zu dem im Rahmen der Erzählerkommentare v. a. im Schlussteil der Fassung A/B auffallend ausgeblendeten Anteil der männlichen Figuren am Untergang vgl. außerdem auch Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 56: „Die triuwe der Burgunden, die Hagens Auslieferung verhindert, wird vom Erzähler gerühmt – und ist doch klar eine Ursache der Katastrophe. Vergleichbares gilt für die um die fatalen Folgen unbekümmerte heroische Gewalt Wolfharts oder Volkers: Der Erzähler zeigt die Konsequenzen, übt jedoch keine Kritik.“ Vgl. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 257. Zusammenfassend zur nahezu kontinuierlichen „Überlagerung mehrerer Darstellungsschichten“ im Nibelungenlied vgl. außerdem ebd., S. 262 f. (Zitat S. 263). Vgl. Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 53, und Schulze, Das Nibelungenlied, S. 238 f.
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sind, Wirkungszusammenhänge, die man in einem klerikalen Erklärungsmodell weiterdenken konnte: Wesen und Handeln der Frauen seien vom Teufel bestimmt und Kriemhild die Inkarnation des Bösen.⁵⁵⁸
Eine solche Beurteilung der Figur, so ließe sich vor dem Hintergrund meiner vorangegangenen Ausführungen ergänzen, wird aus Rezipientensicht darüber hinaus aber auch durch die Kleiderdarstellung des Nibelungendichters befördert. Denn bei der in unguter Weise schönheitsverstärkenden Wirkung und der machtpolitisch-agonalen Funktionalisierbarkeit kostbarer Kleidung handelt es sich um markante Symptome für die typushafte Wandlung der Kriemhildfigur von der höfischen Dame zur sündhaft geschmückten Verführerin, ja Mörderin im Sinne des hofkritischen Diskurses, wie er etwa bei Vinzenz von Beauvais seinen Niederschlag gefunden hat.⁵⁵⁹ Diese Argumentation ließe sich im Anschluss an eine Bemerkung Jan-Dirk Müllers sogar bis zu einem Punkt weitertreiben, an dem Kriemhild nicht nur für den Untergang der Burgunden, sondern auch schon für denjenigen Siegfrieds verantwortlich ist, „indem sie ihn veranlaßt, seine verhängnisvolle Rolle beim Betrug Prünhilts zu spielen“.⁵⁶⁰ Zwar bekennt sich Siegfried schon weit vor seinem ersten Treffen mit der burgundischen Königstochter dazu, hôhe minne für diese zu empfinden (47,1); doch wird sein Verlangen nach der ersten Begegnung mit einer geschmückten Kriemhild, wie weiter oben Schulze, Das Nibelungenlied, S. 257. Dafür, dass „eine solche Deutung nicht nur eine neuzeitliche hypothetische Erwägung darstellt, sondern daß Kriemhild von mittelalterlichen Rezipienten z. T. derart beurteilt wurde,“ sprechen nach Schulze (ebd., S. 257 f.) bereits diejenigen zeitgenössischen Rezeptionszeugnisse des Nibelungenlieds, die explizit darum bemüht sind, Kriemhild von Schuld freizusprechen (z. B. „ein korrigierendes Diktum Bertholds von Regensburg: ‚Man sagt, daß Kriemhild ganz und gar böse gewesen sei, aber das stimmt nicht‘“, die jüngere Fassung C des Nibelungenlieds sowie v. a. die Fortsetzungsdichtung der Klage, die Kriemhilds Handeln aus christlicher Perspektive als triuwe zu Siegfried entschuldigt und stattdessen Hagen dämonisiert, vgl. ebd.). Dem zustimmend weiterhin auch So Shitanda: Formen der Epik in der deutschen und japanischen Literatur des Mittelalters. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 ‚Germanistik im Konflikt der Kulturen‘. Hrsg. von Jean-Marie Valentin, Ronald Perlwitz. Frankfurt a. M. [u. a.] 2008, Bd. 7, S. 147– 156, hier S. 154. Vgl. dazu etwa erneut die von Vinzenz von Beauvais in Bezug auf geschmückte Frauen verwendete drastische Metaphorik (Giftmischerin, personifizierter Tod) in De Eruditione, S. 185 f., und Über die Erziehung, S. 203. Zur typushaften Figurenkonzeption Kriemhilds vgl. außerdem zusammenfassend Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 52: „Kriemhild wird, indem sie ihre Rache gegen den eigenen Personenverband richtet, von der angepassten höfischen Dame zur Außenseiterin ihrer sozialen Ordnung. Als innere Entwicklung ist dies nicht inszeniert. Verschiedene Rollen stehen nacheinander, wie sie sich aus dem Handlungsverlauf ergeben: das naive Mädchen, das der Liebe absagt, die Liebende und machtbewusste Königin, die Leidende und fromme Witwe, erst als sich von außen die Gelegenheit dazu ergibt, die Rächerin. Als trauernde Witwe verschwendet Kriemhild keinen (erzählten) Gedanken an Rache.“ Müller, Spielregeln, S. 399. Zur Kritik am Konzept weltlich-erfüllter Liebe durch die Negativbesetzung des Minnediensts durch Siegfrieds Mitwirkung am Betrug an Brünhild vgl. weiterhin die (mitunter etwas anachronistische) Lesart Jason P. Agers: The shift from ambiguous love: from ‚Treue‘ to ‚Minne‘ in ‚Das Nibelungenlied‘. In: Intertextuality, reception, and performance. Kalamazoo papers 2007– 2009. Hrsg. von Sibylla Jefferis. Göppingen 2010 (GAG. 758), S. 267– 278.
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bereits ausführt, noch einmal wesentlich befeuert. Zudem gesteht Siegfried im Vorfeld des Betrugs an Brünhild gegenüber Gunther explizit ein, dass für seine Entscheidung zur Teilnahme an der Unternehmung weniger die liebe zu seinem Freund, sondern das Verlangen danach, dessen swester zu heiraten, maßgeblich gewesen sei (388,1– 2).⁵⁶¹ Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass neben Kriemhild konsequenterweise auch die Konzeption des heidnischen Hunnenkönigs Etzel, der am Ende die entscheidende Befehlsgewalt an seine verführerische und sich zu eigenen Zwecken aus seinem Schatz bedienende Ehefrau verliert, gewandkritisch grundiert ist. Denn ähnlich wie beispielsweise Ordericus Vitalis’ berühmte Charakterisierung des Robert Courteheuse (um 1054– 1134) Modebegeisterung topisch mit einem effeminierten Regierungsstil verknüpft, der schließlich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Normandie führt,⁵⁶² weist auch das Profil des prachtvoll gekleideten Etzel (1860) Anklänge an den Topos des schwachen Königs auf.⁵⁶³ Hans-Adolf Klein hebt in diesem Zusammenhang insbesondere Etzels durchgängige Nichtteilnahme an den Kämpfen gegen die Burgunden hervor.⁵⁶⁴ Als Ursache für diese merkwürdig anmutende Pas Vgl. dazu im Detail Str. 388: ‚Jane lóbe ichz [Siegfried; J. S.-B.] niht sô verre durch die liebe dîn [Gunthers; J. S.-B.] / sô durch dîne swester, daz schœne magedîn. / diu ist mir sam mîn sêle und sô mîn selbes lîp. / ich wil daz gerne dienen, daz si wérdé mîn wîp.‘ Die entsprechende Charakterisierung wird bei Ordericus kalkuliert einem Geistlichen (Serlo, Bischof von Séez) in den Mund gelegt. Dieser lässt sich hier vor dem als vorbildlich akzentuierten Heinrich I. von England (1068 – 1135) negativ über dessen Bruder, Robert Courteheuse, aus. Vgl. dazu erneut Historiae Ecclesiasticae, Bd. 4, S. 205 f. (mit deutscher Übersetzung bereits zitiert auf S. 202 f. der vorliegenden Arbeit). Vgl. Str. 1860: Dô kom der wirt des landes und ouch sîn schœne wîp. / mit ríchém gewande gezieret was ir lîp, / der vil snellen recken, die man sach mit ir varn. / dô kôs man hôhe stouben von den Kriemhilde scharn. Ich interpretiere diese Verse insofern gegen die in der Ausgabe Brackerts gewählte (nachträgliche) Interpunktion mit einem Komma nach 1860,2 sowie Brackerts entsprechende Übersetzung, die das Personalpronomen ir (1860,2) nur auf die Kriemhilde scharn (1860,4) und nicht auf den wirt des landes und sîn schœne wîp (1860,1) bezieht. Für einen solchen attributiven Rückbezug der Kleiderbeschreibung auch auf Etzel und Kriemhild spricht m. E. nicht zuletzt die reimbedingt engere Verbindung zwischen den ersten beiden Versen der Strophe. Ein mit langer Schleppe ausgestattetes Kleid Kriemhilds wird zudem bereits im Zusammenhang mit ihrer Ankunft am Etzelhof erwähnt (1350). Vgl. dazu im Einzelnen auch die online verfügbaren Transkriptionen der St. Galler Handschrift B, https://www.hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/12Jh/Nibelungen/nib_b_00.html [Zugriff: 09.03. 2019] sowie der Hohemems-Münchener Handschrift A des Nibelungenlieds, https://www. hs-augsburg.de/~harsch/germanica/Chronologie/12Jh/Nibelungen/nib_a_00.html [Zugriff: 09.03. 2019] (beide nach Hermann Reichert). Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 171. Diese kämpferische Passivität macht Hagen Etzel an einer späteren Stelle dann auch einmal explizit zum Vorwurf. Vgl. dazu Str. 2020,1– 2: ‚Ez zæme‘, sô sprach Hagene, ‚vil wol volkes trôst, / daz die herren væhten ze aller vorderôst‘. Etzel greift daraufhin zwar (gegen den Willen seiner Frau und begleitet von einem Lob des Erzählers) kurz zum Schwert, wird von seinem Gefolge dann allerdings physisch zurückgehalten, sich tatsächlich in die Kämpfe einzumischen (Str. 2021 f.). Klein (ebd., S. 169) weist allerdings mit Recht darauf hin, dass Passivität keine konstante Eigenschaft der Etzelfigur des Nibelungenlieds sei, da es die hunnischen Recken bspw. aus Furcht und Respekt vor seiner Strafe vor dem gemeinsamen Kirchgang nicht wagen, das Schwert gegen die drängelnden Burgunden zu erheben (Str. 1867). Auch Bloedel äußert Bedenken zu einer möglichen
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sivität des Hunnenkönigs, die insbesondere nach Hagens Ermordung des jungen Ortliebs irritierend wirkt, wird vom Erzähler in der Tat auch einmal explizit dessen Ängstlichkeit angeführt (1982,4: er saz vil angestlîchen waz half in daz er künec ⁵⁶⁵ was?). Was nun noch bleibt, ist die Frage, wie sich die poetische Kleiderkritik des Nibelungenlieds zusammenfassend beschreiben lässt. Der entsprechenden These Jaegers, nach welcher das mittelhochdeutsche Heldenepos im Zuge einer antihöfischen Erzählstrategie der „heroic pedagogy“ die Engführung höfischer und heroischer Handlungsprinzipien schlussendlich zum (leichten) Nachteil ersterer präsentiere, ist mit Jan-Dirk Müller nämlich kritisch zu begegnen:⁵⁶⁶ Denn anders als die lateinische Hofkritik, die ihre Rezipienten topisch zum Verlassen des Hofes bzw. zu einer Absage an dessen Kultur auffordert, bietet das Nibelungenlied für den Umgang mit der höfischen Kleidung gerade keine konkreten Lösungsvorschläge an. Vielmehr verweigert das Epos, wie Müller prägnant formuliert, in mehr als einer Hinsicht eine Antwort darauf, ob sich seine „Ambiguisierung höfischer Ordnung“ im zweiten Handlungsteil als „Kritik“ zugunsten von heroischen Verhaltensmustern verstehen lässt:⁵⁶⁷ Denn diese münden bekanntlich geradewegs „im blutigen Chaos“.⁵⁶⁸ Zwar werde im Nibe-
Bestrafung durch seinen Bruder, als Kriemhild ihn um Hilfe bei ihren Racheplänen bittet (Str. 1905). Williams, Etzel der rîche, S. 184, erklärt das irritierende Verhalten der Hunnen, die ihren König nicht in den Kampf ziehen lassen (2021 f.), hingegen noch aus typologisch-psychologisierender Sicht mit Etzels hohem Alter. De Boor, Das Attilabild in Geschichte, Legende und heroischer Dichtung, S. 11 f., wiederum verweist als bedenkenswerten Gesichtspunkt auf die stoffgeschichtliche Entwicklung der mhd. Heldenepik des 13. Jhs., in der Etzel allgemein als „Typus des ruhenden Herrschers“ erscheine, der – ähnlich wie König Artus im höfischen Roman und Karl der Große in den altfranzösischen chansons de geste – das inaktive Zentrum der Handlung bilde (Zitat ebd., S. 11). Zur (partiellen) Darstellung Etzels als „Schwächling“ im Nibelungenlied vgl. außerdem auch schon Gerhard Schmidt: Die Darstellung des Herrschers im Nibelungenlied. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig 4.5 (1954/55), S. 485 – 499, hier v. a. S. 486 f. (Zitat S. 487). Brüche in der Darstellung der Etzelfigur konstatiert in der jüngeren Forschung weiterhin auch Schulze, Das Nibelungenlied, S. 246. Vgl. zu diesem Aspekt der Figurenzeichnung auch schon Schmidt, Die Darstellung des Herrschers im Nibelungenlied, S. 487, Klein, Erzählabsicht im Heldenepos, S. 171, und Müller, Etzel und seine Hunnen. Siehe dazu weiterführend auch die Ausführungen Hufnagels, Die Darstellung der Trauer König Etzels, S. 84 f., zur Darstellung Etzels in der Nibelungenklage, wo dieser aufgrund seines übermäßigen, schließlich die Grenze zum Wahnsinn überschreitenden Trauerverhaltens von Dietrich explizit als unmanlîche gerügt wird (V. 1025). Allerdings richte sich Dietrichs Kritik hier, so Hufnagel (ebd.), weniger auf den Trauervorgang an sich, sondern vor allem auf die damit einhergehende Passivität Etzels und seine Vernachlässigung der herrscherlichen Pflichten. Zur Kritik an dieser These Jaegers, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 198 – 200 (Zitat ebd., S. 199), sowie zum Verhältnis von Höfisierung und Hofkritik im Nibelungenlied vgl. ausführlich Müller, Spielregeln, S. 436 – 439. Müller, Spielregeln, S. 438. Ebd. Zur erzählerischen „Distanzierung“ des Nibelungenlieds auch von „heroische[n] Muster[n]“ und deren Fortführung in späteren mhd. Heldenepen vgl. weiterhin auch ebd., S. 440 – 443.
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lungenlied, so Müller weiter, durchaus erzählt, „wie das eine ins andere umschlägt, doch ohne daß daraus eine erbauliche Perspektive sich ergäbe“:⁵⁶⁹ Der Burgondenuntergang erscheint […] nicht als der ethische Sieg, der die politische Niederlage im kollektiven Gedächtnis überstrahlen soll. Es gibt keinen Sieger: Gunther verschwindet sprachlos. Hagen triumphiert nicht moralisch […], sondern indem er sich auf seinen Rechtsbruch und die Unmöglichkeit, ihn zu sühnen, versteift; auch tritt der aller beste degen, / der ie kom zu sturme oder ie schilt getruoc (2374,2 f.) […] als wehrloses Opfer einer Frau [ab]; er muß seiner Gegnerin das letzte Wort überlassen und ist auf die Rache seiner zuvor verhöhnten Feinde angewiesen. Etzel behält zwar militärisch zuletzt die Oberhand, doch um den Preis der Zerstörung seiner Macht und dank einer Tat, die er verurteilt (2374). Dietrich, der die Ehre des letzten Sieges hat, ist bloß noch weinender Zuschauer. Kriemhilt, die höfische vrouwe des ersten Teils, hat keine Zeit, ihre Rache zu genießen; sie wird in einem spontanen Gewaltakt zerstückelt. Nichts stimmt. So bleibt der definitive Schluß des Epos ambivalent, sein Versuch einer Sinngebung brüchig, die Frage nach einer Fortsetzung offen.⁵⁷⁰
Ganz im Gegensatz zur lateinischen „Hofkritik, die das Problem einer neuen höfischen Kultur – einseitig zwar, doch immerhin – diskursiv bewältig[e]“, habe das Nibelungenlied, so Müller weiter, insofern eben gerade „keine ‚Botschaft‘“, sondern spiele lediglich „die konträren Positionen durch, offen, was letztgültige Bewertungen betrifft, zielstrebig nur auf das absolute Ende hin steuernd.“⁵⁷¹ Dementsprechend sei aber das „Heros-Werden“ des zweiten Handlungsteils auch nicht, wie Jaeger ausführt, als Lösung für die Probleme des ersten anzusehen, sondern in seiner Art der Darstellung mindestens ebenso ambivalent wie das zu Anfang entworfene Konzept von hövescheit: „[E]s bedeutet unvergängliche Ehre, doch führt es geradewegs in den Untergang; es begründet Gemeinschaft zwischen einzelnen Kriegern, doch löst es jede entwickeltere Sozialität auf; es läßt sich nicht konsistent ethisch begründen, sondern nur als schlüssig erzählen.“⁵⁷² Statt im Kontext einer „heroic pedagogy“⁵⁷³ im Sinne Jaegers wäre die interdiskursive Kleiderkritik des Nibelungenlieds also eher im größeren Zusammenhang jener Erzählstrategien zu verorten, die Müller als die „Dekonstruktion der nibelungischen Welt“ bezeichnet hat:⁵⁷⁴
Ebd., S. 439. Zu dieser These einer konstitutiven Ambivalenz der Darstellung insbesondere der A/ B-Fassung des Nibelungenlieds vgl. weiterhin auch ebd., S. 453 – 455, sowie Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 54– 56. Müller, Spielregeln, S. 439. Partiell kann den Befund der widersprüchlichen Wertungen des Erzählers im Hinblick auf die Figuren des Nibelungenlieds auch Schulze, Das Nibelungenlied, S. 143 f., erklären. Müller, Spielregeln, S. 438. Ebd., S. 440. Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 199. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 435 – 456, hier v. a. S. 435.
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eine im sich Text vollziehende Bewegung […], in der die Voraussetzungen, auf denen der Text aufbaut, die Welt, die er erzählend entwirft, und die Werte und Normen, die er propagiert, in unaufhebbare Aporien geführt, subvertiert und der Zerstörung preisgegeben werden.⁵⁷⁵
Allerdings ist das Ziel und Ergebnis dieser „Bewegung“ speziell mit Blick auf die diskursive Ebene der Kleiderdarstellung des Nibelungenlieds gerade nicht die totale „Auflösung“ bzw. ein kompletter „Zusammenbruch“ aller Diskurspositionen.⁵⁷⁶ Ein solcher Befund lässt sich nämlich lediglich im Hinblick auf die für den ersten Handlungsteil so prägende höfisierende Diskursposition formulieren. Der diskursive Wahrheitsanspruch der Argumentationsweisen der lateinischen Hofkritik hingegen, auf deren Regeln dann v. a. der zweite Handlungsteil aufbaut, wird in der Erzählung nämlich ausdrücklich bestätigt: So erweist sich der Einfluss von Kriemhilds geschmücktem Äußeren auf Etzel hier als ebenso fatal, die hunnischen Prunkritter als ebenso effeminiert und die prachtvollen Rüstungen der Burgunden als ebenso vergänglich, wie es die geistlichen Hofkritiker schon seit dem 12. Jahrhundert behaupten. Man könnte daher mitunter fast sagen, dass die genannten Figuren im zweiten Handlungsteil des Nibelungenlieds als poetische exempla für bestimmte Argumentationsweisen der geistlichen Kleiderkritik fungieren. Ähnlich wie schon in der Kudrun dienen die zunächst ausgiebigen Aktualisierungen höfischer Kleidertopoi also auch im Nibelungenlied in erster Linie der Vorbereitung ihrer eigenen „Demontage“:⁵⁷⁷ Dabei wird im zweiten Handlungsteil das Feld des Sag- bzw. Erzählbaren immer mehr auf die hofkritischen Wissensbestände verengt. Auf diese Weise inszeniert das Nibelungenlied in impliziter „Analogie zur Topik der Vergänglichkeit alles Irdischen“⁵⁷⁸ die Determination einer höfischen (Gewand‐) Kultur zum Untergang: Kleiderpracht erscheint dabei am Ende nicht mehr als eine zentrale Ausdrucksform von idealer hövescheit, sondern als ein so vergängliches wie sündhaftes und in seinen Grundzügen stets heidnisch konnotiertes Element hoch-
Ebd., S. 436. So aber generalisierend ebd., S. 435 f: „Das ‚Nibelungenlied‘ dekonstruiert seine eigenen Setzungen, und erst die ‚Klage‘ sucht einige von ihnen wieder zu retten. […] Dies ist jedoch nicht als ein ästhetisches Defizit zu verstehen, das nur noch den ratlosen Rückzug auf die Sagengeschichte offenläßt, sondern als besondere ästhetische Verfaßtheit des Textes zu erkennen. Es sind die Dissonanzen und Ambiguitäten, die den Zusammenhang stiften und die zugleich das prekäre Verhältnis des ‚Nibelungenliedes‘ innerhalb der zeitgenössischen, vom höfischen Weltentwurf geprägten Kultur bestimmen. Die Ordnungsgarantien der entworfenen Welt, nicht-problematisierte Verhaltensstereotype und Interaktionsmuster werden fortschreitend ambiguisiert bis hin zu ihrer Perversion. Im Durchspielen des Ähnlichen und in seiner oft kaum merklichen Transformation lösen sie sich auf. Der Zusammenbruch ist total, läßt sich daher nicht auf einzelne Aspekte dieser Welt, ihre Dekonstruktion nicht auf die Kritik einzelner gesellschaftlicher Gruppen reduzieren.“ Diesen Begriff verwendet bereits Bauschke, Strategien des Erzählens, S. 358, mit Bezug auf die Interdiskursivität des Liets von Troye Herborts von Fritzlar. Schulze, Das Nibelungenlied, S. 255.
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mittelalterlicher Hofkultur, was rückblickend nicht zuletzt das modische Gebaren der Figuren des ersten Handlungsteils in Frage stellt. ⁵⁷⁹
3.4 Zwischenfazit Zusammenfassend lässt sich also mehreres festhalten. Betrachtet man die literarischen Verhandlungen höfischer Kleidermoden in Hartmanns Ereck und im Nibelungenlied einmal im direkten Vergleich, so lassen sich zunächst gewisse Parallelen im Hinblick auf deren interdiskursive Funktionsweisen erkennen: Denn gemeinsam haben die beiden mittelhochdeutschen Primärtexte eine sich aus dem Spannungsverhältnis konkurrierender Wissensordnungen speisende Art der Kleiderdarstellung, die ihren Gegenstand zugleich kritisch hinterfragt. Dies geschieht nun wiederum im Rückgriff auf ganz verschiedene Arten von interdiskursiven Elementen – diskursübergreifend auftretende Figurentypen (der Prunkritter, die vornehm gekleidete Hofdame), Kollektivsymbole (Seidenhemd oder Pelzmantel als Inbegriff von Vornehmheit/Stand bzw. Gottesferne) oder auch Situationstypen/Motive (z. B. die diskursspezifisch mit unterschiedlichen Konsequenzen verbundene Begegnung von adligem Mann und geschmückter Frau).⁵⁸⁰ Diese werden im gezielten Wechsel der „diskursiven Positionen“⁵⁸¹ mal nach den Regeln des hofkritischen, mal nach denjenigen des höfischen Diskurses (und dadurch bedingt mit jeweils unterschiedlichen Wertsetzungen) verwendet. Allerdings fällt der konkrete Umgang mit den interdiskursiven Elementen textspezifisch sehr unterschiedlich aus: Denn während die im Ereck zunächst v. a. im Hinblick auf ihr moralisches Gefährdungspotenzial problematisierten weltlichen Kleidermoden sich – auf Basis der beherrschten zuht des Protagonisten – schließlich in das am Handlungsende präsentierte Konzept von höfischer Idealität integrieren lassen, wird ihre attributive Verwendung im Handlungsverlauf des Nibelungenlieds immer mehr auf den Bereich des Heidnischen eingeschränkt.⁵⁸² Das heißt: Obwohl die
Allgemein zu einer solchen Art der Bewegung im Nibelungenlied vgl. (jenseits einer diskurshistorischen Textlektüre und ohne speziellen Bezug auf die Kleidung) schon Müller, Spielregeln, S. 389 f.: „Es gibt Elemente [im Nibelungenlied; J. S.-B.], die eher in den einen oder den anderen [d. h. den höfischen oder den heroischen; J. S.-B.] Zusammenhang verweisen, die sich gegenseitig kommentieren, in Frage stellen, unterlaufen. Entscheidend ist, daß auf dem Weg von der ersten zur letzten Aventiure allmählich die Beleuchtung wechselt, in der sie erscheinen.“ Hervorhebungen J. S.-B. Zu den verschiedenen Typen interdiskursiver Elemente in der Literatur vgl. erneut Klawitter, Diskurstopologie, S. 60, sowie grundlegend Link, Einfluß des Fliegens, S. 149 f., Anm. 3. Zum Begriff der „diskursiven Position“ vgl. erneut Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 290, der darunter „die (positiv oder negativ) wertende Verwendung“ eines interdiskursiven Elements versteht. Hervorhebung J. S.-B. Zu den sich demnach u. a. auch in der Art und Weise ihrer Rezeption hofkritischer Topoi ausdrückenden unterschiedlichen Perspektiven von Heldenepos und Artusroman vgl. allgemein schon Schulze, Das Nibelungenlied, S. 264: „Die pessimistische Weltsicht des Nibelungenliedes widerspricht
3.4 Zwischenfazit
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im Vergleich mit Chrétiens Erec et Enide deutlich reduzierte Kleiderdarstellung in Hartmanns Ereck rein quantitativ in einem sehr viel geringeren Ausmaß auf den höfischen Diskurs zurückgreift als das im ersten Handlungsteil geradezu vor höfisierenden ‚Schneiderstrophen‘ strotzende Nibelungenlied,⁵⁸³ fällt dessen Gewandkritik insgesamt sehr viel schärfer und weniger kompromissbereit aus: So kann prunkvolle Kleidung im Ereck höfische Vorbildlichkeit zwar nicht aus sich heraus begründen, aber – unter der Voraussetzung der richtigen ethischen Grundhaltung (mâze, schame, kiusche etc.) – durchaus begleiten, wodurch die ideale Kongruenz von Innen und Außen im Sinne des höfischen Diskurses schließlich zurück in einen Einklang gebracht werden kann.⁵⁸⁴ Im Nibelungenlied führt das sich (unter anderem) im Anlegen von äußerem Schmuck ausdrückende Streben nach Ehre und weltlicher Freude dagegen gerade nicht zur erfolgreichen Fortführung von Genealogie:⁵⁸⁵ Wo Ereck in der verführerischen Welt des Artusromans die Chance erhält, das maßvolle Lieben zu lernen (wofür Gott ihn und seine Frau schließlich nach der welt krone / […] mit dem ewigen leibe belohnt; 11108 – 11110), muss liebe vor dem fatalistisch-finalen Sinnhorizont des Nibelungenlieds mit unendlichem leide bezahlt werden (2378,4: als ie diu liebe leide ze aller júngéste gît) – und doch geschieht beides vor dem Hintergrund einer spezifisch weiblich codierten Schuld. Doch selbst die scharfe Kleiderkritik des Nibelungenlieds nimmt, wie meine vorangegangenen Ausführungen gezeigt haben, in der Rede Hagens, Volkers und des Erzählers nur vereinzelt explizit-kommentierende Formen an. Insofern bleiben die Verhandlungen der christlichen Kleiderkritik in den volkssprachlichen Texten im Hinblick auf ihre Direktheit und polemische Explizitheit erneut weit hinter den lateinischen Prätexten zurück. Zugleich verbindet die volkssprachliche mit der lateinischen Kleiderkritik jedoch ein markantes Gendering, das vor allem im evaförmigen Typus der geschmückten Verführerin sowie dem Topos des effeminierten und/oder moralisch korrupten Prunkritters greifbar wird: Mode ist sowohl in der lateinischen Hofkritik als auch in den volkssprachlichen höfischen Texten weiblich konnotiert, zumindest ihr erotisches Potenzial und das Begehren nach modischen Neuerungen werden immer wieder in kritischer Weise mit dem weiblichen Geschlecht relationiert. Denn für die sich zersetzende Hofgesellschaft in Karnant steht nach dem Müßiggang ihres Königs mit der schönen, geschmückten Enite schließlich nicht umsonst schnell dem Leistungsoptimismus des Artusromans, der die Lehre propagiert, wer die richtigen Normen befolge und reflektierend verinnerliche, könne den Gang seines Lebens auch über Ab- und Umwege positiv steuern und beständige Anerkennung in der Gesellschaft und vor Gott erlangen“. Zu Hartmanns beachtlicher Reduzierung der Kleidermotivik im Vergleich mit Chrétien vgl. erneut Peil, Beobachtungen zur Kleidung in der Dichtung Hartmanns, S. 136. Vgl. dazu beiläufig auch schon Kraß, Geschriebene Kleider, S. 171. Vgl. dazu eindrücklich die vorletzte Strophe (2378) des Nibelungenlieds, in welcher der Erzähler unter expliziter Hervorhebung des höfischen Fests (!), d. h. dem hier zum Untergangssetting umfunktionalisierten Inbegriff kollektiv-adligen Strebens nach höfischer Freude, resümierend festhält: Diu vil michel êre was dâ gelegen tôt. / die liute heten alle jâmer unde nôt. / mit leide was verendet des küneges hôchgezît, / als ie diu liebe leide ze aller júngéste gît.
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3 Von geschmückten Damen und effeminierten Rittern
die Schuldige am verligen fest, und auch das „völkervernichtende[] Gemetzel“⁵⁸⁶ in Etzelburg, so legt es die Darstellung des Nibelungenlieds zumindest nahe, kann sich nur vor dem Hintergrund der Heirat des Königs mit einer modeaffinen Königin aus weit entfernten Landen abspielen.
Schulze, Das Nibelungenlied, S. 255.
4 Fazit: Höfische Literatur als Hofkritik? Als ein grundlegender Befund der vorliegenden Arbeit lässt sich abschließend festhalten, dass die ausführlichen Verhandlungen der höfischen Musik- und Kleidermoden in Gottfrieds Tristan, der Kudrun, Hartmanns Ereck und dem Nibelungenlied geradezu programmatisch höfisierend-normierende mit hofkritisch-subversiven Akzentuierungen verschränken. Neben diversen Spielarten der intertextuellen Referenz, v. a. auf thematisch verwandte Werke und Gattungen der höfischen Literatur, speist sich diese subtil ambiguisierende bis mitunter auch offen kritisierende Art der Darstellung, wie eingangs bereits vermutet, maßgeblich aus (inter‐)diskursiven Bezugnahmen auf die konkurrierenden Wissensordnungen des höfischen und des hofkritischen Diskurses. Dieser Befund stimmt einerseits mit den Ergebnissen der ebenfalls aspektorientiert vorgehenden Studien Waltenbergers, Bauschkes und Wagners zur Interdiskursivität auch schon der mittelhochdeutschen höfischen Dichtung als einer Literaturform der Vormoderne überein.¹ Zugleich steht er jedoch im Widerspruch zu einem noch immer gängigen Topos mediävistischer Forschung, nach welchem die Verhandlungen der materiellen und literarisch-musikalischen Hofkultur insbesondere im höfischen Roman ausschließlich (oder zumindest in erster Linie) repräsentativen Charakters seien.² Denn im Spiegel des hofkritischen Diskurses treten weitere Funktionen hervor, welche, neben der Steigerung des Rezeptionsgenusses durch ein an Perspektiven reiches Werk (delectare),³ auch eine bislang nur wenig beachtete prodesse-Dimension der mittelhochdeutschen Erzähltexte umfassen, die weit über eine schlicht affirmative Selbstbespiegelung der höfischen Gesellschaft im Medium ihrer Literatur hinausweist. Vor diesem Hintergrund lässt sich die grundlegende These Jaegers zur mittelhochdeutschen Heldenepik als einem didaktischen Medium der Vermittlung von (unter anderem auch) hofkritischen Wissensbeständen
Vgl. dazu erneut speziell zur Interdiskursivität des mhd. Prosa-Lancelots Waltenberger, Das große Herz der Erzählung, zu Herborts von Fritzlar Liet von Troye Bauschke, Strategien des Erzählens, sowie Wagner, Erzählen im Raum, mit entsprechenden Befunden zur interdiskursiven Musik- und memoriaDarstellung in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, Hartmanns von Aue Ereck, Gottfrieds von Straßburg Tristan, im Rolandslied, Mauricius von Craûn sowie dem Prosa-Lancelot. Diese Ansicht findet als wirkmächtiges ‚Basiswissen‘ noch immer Eingang in Einführungsbücher zur mhd. höfischen Literatur bzw. ihren Gattungen; vgl. dazu exemplarisch erneut Klein, Mittelalter, S. 155, oder Mertens, Der deutsche Artusroman, S. 13; zur kritischeren Perspektive der Heldenepik auf die höfische Kultur siehe hingegen schon Müller, Spielregeln, S. 440, sowie neutraler Schulze, Das Nibelungenlied, S. 142– 176, und Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 14. Zur grundlegenden „Tendenz“ speziell des frühen Artusromans, „weltliche Dinge in sakrale Bezüge zu stellen“, um dem Rezipienten durch einen solchen „Bedeutungszuwachs […] einen gesteigerten intellektuellen Genuss des als reich an Aspekten erlebten ästhetischen Objekts [zu bereiten]“, siehe unlängst Chinca, Der Horizont der Transzendenz, S. 22 f.; zu dem vor allem seit dem 13. Jh. hoch entwickelten „ästhetische[n] Sensorium“ des höfischen Publikums und dem „Paradox einer schriftlich konzipierten Literatur für eine weitgehend schriftlos lebende Adelsgesellschaft“, siehe weiterhin prägnant Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 486. https://doi.org/10.1515/9783110673258-004
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4 Fazit: Höfische Literatur als Hofkritik?
mit gewissen Einschränkungen, auf die ich weiter unten noch eingehen werde, zusätzlich auch auf die Gattung des höfischen Romans ausweiten.⁴ Hugo Kuhn hat schon vor langer Zeit mit Recht konstatiert, dass „[j]eder deutsche Schrifttext des Mittelalters […] schon vom Schreiben her ein Vermittlungsprodukt zwischen mündlich volkssprachlicher Laien- und schriftlich lateinischer Klerikerkultur“ sei und damit stets eine „vermittelnde Zwischenstellung […] zwischen beiden Kulturwelten“ einnehme.⁵ Die Integration lateinisch-hofkritischer Wissensbestände in die mittelhochdeutsche Literatur der Höfe steht insofern in einer langen Tradition, die bereits seit dem 8. Jahrhundert darum bemüht ist, Inhalte der geistlichen Bildungstradition auch in der Volkssprache verfügbar zu machen, und dabei nicht zuletzt die Grundlagen für deren Schriftlichkeit legt.⁶ Diese reißt, wie die jüngere Forschung nicht zuletzt im Anschluss an Jaegers Studien zu den Origins of Courtliness (1985) wieder mehr betont hat, auch mit der Entstehung der höfischen Literatur als einer von adligen Mäzenen und Mäzenatinnen geförderten Auftragsdichtung nicht ab.⁷ Grundlage
Zu dieser These vgl. grundlegend Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 198 – 200, sowie die entsprechende Überblicksdarstellung auf S. 37 f. der vorliegenden Arbeit. Jaeger hat zum höfischen Roman, welchem er die Funktion eines grundlegenden Vermittlungsmediums (ursprünglich ebenfalls klerikal vermittelter) Vorstellungen von hövescheit zuschreibt, eine komplementäre These formuliert; siehe dazu ders., Die Entstehung höfischer Kultur, hier v. a. S. 304 f. Zweifel an einer möglicherweise auch „normativ[en]“ Funktion mhd. Heldenepik äußert hingegen Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 178. Kritisch zu der die darstellerische Komplexität der überlieferten Texte teils übergehenden Perspektive Jaegers auf die höfische Epik als einem primär geistlich-didaktischen Medium von hövescheit (höfischer Roman) bzw. Hofkritik (Heldenepik) vgl. außerdem schon Reuvekamp-Felber, Volkssprache zwischen Stift und Hof, S. 96 f. Hugo Kuhn: Aspekte des dreizehnten Jahrhunderts in der deutschen Literatur. In: Zum mittelalterlichen Literaturbegriff. Hrsg. von Barbara Haupt. Darmstadt 1985 (Wege der Forschung. 557), S. 247– 268, hier S. 251 (zuerst erschienen als ders.: Aspekte des dreizehnten Jahrhunderts in der deutschen Literatur. München 1967 [Bayerische Akademie der Wissenschaften Phil.-hist. Klasse Sitzungsberichte. 5]). Auf diese Ausführungen Kuhns verweist an prominenter Stelle schon Hilkert Weddige: Mittelhochdeutsch. Eine Einführung. 7. Aufl. München 2007, S. 6. Von einer grundsätzlichen und gattungsübergreifenden „Aufgabe“ des „Wissens- und Bildungstransfers“ volkssprachlicher Hofkritik geht bereits Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 351, aus: So müsse diese „schriftlich tradiertes moralisches Wissen in mündlicher Form an Laien vermitteln“, während die lateinische Hofkritik lediglich „bekanntes Wissen und rhetorisches Können“ demonstriere. Zu den klerikalen Grundlagen volkssprachlicher Schriftlichkeit vgl. unlängst etwa Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 24– 27, in der jüngeren Forschung weiterhin Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 19 – 23, sowie etwa auch Weddige, Mittelhochdeutsch, S. 6. Zur intensiven geistlichen Durchformung der höfischen Literatur nicht nur in formalen, sondern auch in begrifflich-inhaltlichen Hinsichten vgl. grundlegend Jaeger, Die Entstehung höfischer Kultur, hier v. a. S. 180 – 241, sowie prägnant in der neueren Forschung Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 27: „Die Durchformung betrifft nicht nur bestimmte ideologische Gehalte, etwa die Amalgamierung einer laikalen Kriegerkultur mit einer christlichen Ethik, sondern weit elementarer [sic] Verfahren der Wahrnehmung und Versprachlichung von Welt. […] Angesichts der Überlegenheit der lateinischen Klerikerkultur liegt es nahe, aus ihr Errungenschaften in die volkssprachige Literatur zu übernehmen. […] Insofern wird Erzählen in der Volkssprache von Anfang an von der Schrifttradition infiziert. […] Aus der Perspektive der Schriftkultur waren laikal-orale Traditionen grundsätzlich und von vorneherein un-
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für eine entsprechende geistliche „Durchformung“⁸ auch der Musik- und Kleiderdarstellung sind dabei, wie bereits ausgeführt, die höfischen Dichter, welche als clerici/litterati im Sinne Bumkes auch Anteil an der gelehrt-lateinischen Tradition haben.⁹ Allerdings wird sich im Einzelfall kaum mehr sagen lassen, mit welchen Texten der lateinischen Hofkritik die volkssprachlichen Dichter vertraut waren (oder warum),¹⁰ bzw. ob sich in ihren Adaptationen antihöfischer Topoi nun persönliche Versuche der Rechtfertigung des klerikalen Dienstes in der Welt,¹¹ Bemühungen der Anknüpfung an ein umfassenderes poetologisch-didaktisches Programm oder auch bildungsbedingte „starke geistige Spannungen“¹² ausdrücken. Nur eingeschränkt lässt sich darüber hinaus auch die Frage beantworten, ob die latente kulturkritische
terlegen, und es bestand keinerlei Interesse an ihrer Bewahrung als solcher, sondern allenfalls ein Interesse an ihrer Vermittlungsleistung in eine des Latein, und das heißt fast immer auch der Schrift, nicht kundige Laiengesellschaft.“ Ähnlich in der jüngeren Forschung weiterhin auch Chinca, Der Horizont der Transzendenz, S. 22 f. Speziell zur formalen Anknüpfung der höfischen Literatur an die lateinische Tradition, die sich etwa in der Verwendung von entsprechenden „Methoden und Techniken der Sinnvermittlung“ wie „der gelehrten Form des Prologs, der Einfügung von Kommentaren und Exkursen in den Erzählzusammenhang und der Anwendung der allegorischen Auslegungsmethode“ ausdrückt, siehe weiterhin auch Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 490 f. (Zitate ebd., S. 491). Zu der in der älteren Forschung dagegen noch verbreiteten Annahme von einer ‚Autonomie‘ der hochmittelalterlich-höfischen Literatur vgl. exemplarisch Helmut de Boor: Die höfische Literatur. Vorbereitung, Blüte, Ausklang 1170 – 1250. München 1953, S. 1: „Zum erstenmal wird deutsches Schreiben und Dichten autonom, gelöst von Zwecken und Aufgaben, die ihnen von außen her gestellt werden; d. h. zum erstenmal wird deutsche Dichtung Kunst.“ Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 27. Vgl. Wagner, Erzählen im Raum, S. 67. Zur lateinisch-geistlichen Bildung der höfischen Dichter als grundlegender Voraussetzung für die spezifische Gestalt hochmittelalterlicher Hofliteratur vgl. erneut Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 677– 685, Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 43 f., Müller, ‚Episches‘ Erzählen, S. 24– 26, oder Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 24. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang neben einer schulisch vermittelten oder ‚privaten‘ Lektüre mitunter auch die indirekte Vermittlung einschlägiger Topoi durch Werke der deutschsprachigen geistlich-didaktischen Literatur oder den mündlichen Austausch mit anderen clerici. Zu zweitgenannter Möglichkeit vgl. etwa exemplarisch meine Ausführungen zur Verwandtschaft (von Teilen) der Kleiderkritik des Nibelungenlieds mit derjenigen Heinrichs von Melk auf S. 278 f. u. 303 – 306 der vorliegenden Arbeit; speziell zu Gottfrieds wahrscheinlicher Kenntnis des Policraticus S. 103, Anm. 183. Vgl. dazu erneut Jaeger, The Nibelungen Poet and the Clerical Rebellion against Courtesy, S. 198 – 200; überblicksartig zu dem sich in zahlreichen Texten der zeitgenössischen Ständelehre ausdrückenden Selbstverständnis des Klerus als Glaubenslehrer auch des Adels vgl. unlängst noch Klein, Mittelalter, S. 190 f., die hier insbesondere auf Frauenlobs Sangspruch VII,22, V. 1– 10, verweist. Ehrismann, Ehre und Mut, S. 241: „[D]ie [höfischen; J. S.-B.] Dichter [sahen sich] in starke geistige Spannungen gestellt, sofern sie an dem von der Geistlichkeit bestimmten intellektuellen Leben ebenso teilnahmen wie an dem der Höfe, an dem die adligen Laien und die clerici in einen besonders engen Kontakt kamen“. Zum interdiskursiven Potenzial hochmittelalterlicher Höfe vgl. erneut auch Fleckenstein, Miles und clericus am Fürstenhof, S. 321, sowie Schnell, Kirche, Hof und Liebe, S. 103, mit Fokus auf das eindrückliche Beispiel des Grafen Balduin von Guines (gest. 1206), der sich laut der zeitgenössischen Chronistik mit seiner Hofgeistlichkeit über Theologie und weltliche Literatur austauschte.
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Sinnschicht der volkssprachlichen Texte den Interessen des höfischen Publikums entgegenkam – oder nicht:¹³ Denn in dieser Hinsicht stehen dem von Schnell hervorgehobenen historischen Umstand, dass hochmittelalterliche Mäzene und Mäzenatinnen neben „weltlich-höfische[n] Dichtungen auch religiöse oder naturkundliche Werke in Auftrag gaben“,¹⁴ die von Bumke beschriebenen rezeptionsgeschichtlichen „Fälle von Entaktualisierung, Entschärfung und Verharmlosung“ in der höfischen Literatur gegenüber.¹⁵
Eine solche Vermutung stellt bereits – beiläufig und ausschließlich bezogen auf die Kleiderkritik des vermutlich vom Passauer Bischof Wolfger von Erla (1191– 1204) in Auftrag gegebenen Nibelungenlieds (Volkers Mord am höfischen Hunnen) – schon Kraß, Der effeminierte Mann, S. 43, an. Zu dieser auch jenseits der spezifischen Anverwandlungsformen von Hofkritik durch die höfische Literatur durchaus begründeten Annahme vgl. prägnant Schnell, Kirche, Hof und Liebe, S. 100 – 103, hier v. a. S. 101 f.: „Insgesamt sollte man das Verhältnis von kirchlicher und höfischer Kultur mit den Augen des 12. Jhs sehen lernen: etwaige religiöse Elemente des höfischen Romans sollten nicht allein mit dem Hinweis auf die klerikalen Autoren erklärt werden, denn sie spiegeln genauso den Erwartungshorizont des gar nicht so einseitig weltlichen ‚höfischen‘ Publikums. Erst dann wird auch verständlich, warum Chrétien als gemeinsames Publikum seiner Dichtungen clergie et chevalerie ins Auge fassen konnte. Damit sind wir bei der Frage nach den literarischen Interessen eines fürstlichen Mäzens und der ‚höfischen‘ (d. h. der an einem Hof lebenden) Gesellschaft angelangt. Zu oft wird übersehen, daß die Förderer weltlich-höfischer Dichtungen auch religiöse oder naturkundliche Werke in Auftrag gaben und/oder sich vorlesen ließen. So hat z. B. der Kleriker Peter von Blois für den englischen König Heinrich II., dessen Hof heute oft als Zentrum ‚höfischer‘ Kultur gerühmt wird, ein Compendium in Iob, einen kurzgefaßten Kommentar zum alttestamentlichen Buch Hiob geschrieben (PL 207, 795 ff.). Dessen Prolog gibt uns Aufschluß über Entstehung und Funktion dieses Traktats: Heinrich II. würde sich gerne mit Werken beschäftigen, die zum ewigen Heil führten; er würde gerne, wenn er den Geschäften des Hofes einmal entrinnen könne, über das Gesetz des Herren meditieren und sich von den täglichen Mühen bei der Lektüre religiöser Schriften erholen. […] Am Hofe Maries de Champagne (1145 – 1198) war Raum für ganz unterschiedliche literarische Interessen: Marie selbst förderte Chrétien des Troyes und Gautier d’Arras, gab eine Versübersetzung (ca. 20000 Verse) der ‚Genesis‘ in Auftrag (erst 1192), überdies wird ihr eine dichterische Paraphrase des 44. Psalms (‚Eructavit‘) gewidmet (vor 1187). Ihr Gatte Henri le Libéral (1127– 1181) zeigte eine Vorliebe für das antike Schrifttum, für biblische und dogmatische Fragen. Höfische Liebesdichtung und kirchlich-christliche Einstellung brauchten sich also nicht zu negieren. Für beides war am fürstlichen Hof Platz. Dies gilt auch für die Herzogin Mathilde von Sachsen (seit 1168 Gemahlin Heinrichs des Löwen), von der so unterschiedliche Werke wie das deutsche Rolandslied, der erste deutsche Tristanroman (?) und provenzalische Minnelieder angeregt wurden.“ Ein vermehrtes Interesse der höfischen Gesellschaft an religiöser Unterweisung könnte nicht zuletzt in einem Zusammenhang mit den im 12. Jh. entstandenen neuen Konzepten von Laienfrömmigkeit stehen, welche nach Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 27, „immer weiter um sich greifende Bedürfnisse nach religiöser Belehrung, religiöser Erfahrung und religiöser Lebensweise“ nach sich zogen und insofern entsprechende Tendenzen in der höfischen Literatur begünstigt haben könnten. Wie intensiv die kulturkritische Sinnschicht der höfischen Erzähltexte vom adligen Publikum wahrgenommen wurde, lässt sich aber natürlich nicht beweisen. Bumke, Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme, S. 491, Anm. 267, für den dieser Befund zumindest den Anschein erweckt, dass die „kritischen Momente“ der höfischen Literatur „von den fürstlichen Auftraggebern und dem Hofpublikum nur undeutlich und ungerne wahrgenommen wurden.“ Als Beispiele für eine solche Entschärfung antihöfischer Darstellungstendenzen im Zuge des Rezeptionsprozesses nennt Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 594, die Texte der beiden Gottfried-
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Weil es sich bei den Topoi der lateinischen Hofkritik aus Sicht der höfischen Gesellschaft aber doch zumindest um problematische Wissensbestände gehandelt haben muss, insofern diese eine kritische Perspektive auf das Leben am Hof repräsentieren, vermag es kaum zu verwundern, dass ihre Adaptation in die Volkssprache nur selektiv und zudem in verschiedenerlei Hinsicht gebrochen erfolgt.¹⁶ In diesem Kontext ist zunächst eine deutliche Zurückhaltung der auktorial angelegten Erzählinstanzen bei der Kommentierung, Erläuterung und Bewertung der von ihnen vermittelten musikalischen und vestimentären Problematiken augenfällig.¹⁷ Über weite Strecken der relevanten Handlungsabschnitte mutet die „Erzählhaltung“¹⁸ der un-
Fortsetzer Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg, außerdem auch die Nibelungenklage sowie die Fortsetzung zu Wolframs Willehalm. Dem ließe sich partiell entgegenhalten, dass bspw. die in den zahlreichen intertextuellen Referenzen des Kudrun-Dichters zum Ausdruck kommende musikkritische Lektüre des Tristan bzw. der kleiderkritische Zusammenhang zwischen Mantel-Fragment und dem Ambraser Ereck zumindest in Klerikerkreisen durchaus auf die Möglichkeit eines recht umfassenden Verständnisses der poetischen Kulturkritik in den höfischen Erzähltexten deuten; vgl. dazu erneut S.159 f. u. 263 f. der vorliegenden Arbeit. Zudem äußern selbst einige lateinische Hofkritiker die Hoffnung, dass die Inhalte ihrer Schriften auch das adlige Laienpublikum erreichen könnten, vgl. dazu speziell mit Bezug auf Johannes von Salisbury und Petrus von Blois schon Schreiner, ‚Hof‘ (curia) und ‚höfische Lebensführung‘ (vita curialis) als Herausforderung, S. 127: „Johannes von Salisbury gab seiner Hoffnung Ausdruck, ‚der ‚Policraticus‘ werde seinen ‚Augustus‘, Heinrich II., erreichen‘. Thomas Becket […] bezeichnete er als ‚Beschützer‘ seines Werkes gegen höfische Kritiker. Um sicherzugehen, übersandte er den Fürstenspiegel zuvor Petrus von Celle, einem engen Freund, der anstößige, beim König und seinen Höflingen möglicherweise Kritik hervorrufende Stellen beseitigen sollte. […] Unbekümmerter verfuhr Peter von Blois. Als er von König Heinrich II. aufgefordert wurde, die Briefe, die er an verschiedene Personen geschrieben hatte, zu sammeln, zu einem ‚Faszikel‘ zu bündeln und ihm zu übersenden, bemerkte er in dem einleitenden Widmungsbrief: Hätte er gewußt, daß seinen Briefe die Ehre königlicher Aufmerksamkeit zuteil werden würde, hätte er all das, was in diesen den König verletzen könnte, sorgfältig getilgt und geglättet.“ Allgemein zur Selektivität des Interdiskurses hochmittelalterlich-höfischer Literatur vgl. bereits Wagner, Erzählen im Raum, S. 158 f. Ich verwende den Begriff ‚auktorial‘ in einem weiten Sinne gemäß seiner kritischen Revision bei Jürgen H. Petersen: Erzählsysteme. Eine Poetik epischer Texte. Stuttgart/Weimar 1993, S. 68, der damit eine sich im Zuge der Vermittlung einer Geschichte kommentierend-erörternd verhaltende Erzählinstanz beschreibt: „Verhält sich der Narrator auktorial, so bringt er sich selbst ins Spiel, indem er das erzählte Geschehen keineswegs auf sich beruhen läßt, sondern eigene Meinungen, zusätzliche Überlegungen, Kommentare, also eine Subjektivität wirksam werden läßt. Welcher Art diese Stellungnahmen sind, bleibt dabei offen; dergleichen erfaßt die Kategorie der Erzählhaltung.“ Das Konzept der ‚Erzählhaltung‘ stammt ebenfalls von Petersen, Erzählsysteme, S. 78, der darunter die je spezifische „wertende Einstellung des Erzählers zum erzählten Geschehen bzw. zu den Figuren“ versteht, welche sich „in dem jeweiligen Erzählverhalten, auch in bestimmten Darbietungsarten zum Ausdruck [bringt]“. Diese könne „affirmativ oder ablehnend, kritisch, skeptisch, schwankend sein, sich plakativ oder differenziert, eindeutig oder modifiziert artikulieren und dabei sehr unterschiedliche epische Mittel benutzen“. In ähnlicher Weise benennt auch schon Gerard Genette: Die Erzählung. 3. Aufl. Übersetzt von Andreas Knop mit einem Nachwort von Jochen Vogt, überprüft und berichtigt von Isabel Kranz. Paderborn 2010 (UTB. 8083), S. 167, als eine der fünf „Funktionen des Erzählers“ auch eine „ideologische Funktion“, die sich in seinen „direkten oder indirekten Einmischungen […] in die Geschichte“ ausdrücke, und dabei „auch die didaktischere Form eines autorisierten Kommentars der
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tersuchten Texte in der Tat geradezu neutral an: So wird beispielsweise in Gottfrieds Tristan der hofkritische Topos zur moralisch-problematischen Wirkung höfischer Musik zwar eingangs noch durch einen negativ wertenden Erzählerkommentar vermittelt (V. 3593 – 3595),¹⁹ doch kommen die übermäßige Beschenkung von Spielleuten sowie der damit einhergehende adlige ‚Dienstgestus‘ im Folgenden nur noch im Modus der direkten Figurenrede Markes zur Darstellung (V. 3735 – 3739 u. 3652– 3655), hinter die der Erzähler hier gänzlich zurücktritt.²⁰ Einer ähnlich distanzierten Strategie der „Erzählung von Worten“²¹ bedient sich weiterhin auch Hartmanns gleichnamiger (und daher aus Rezipientensicht in besonderer Weise mit dem Dichter as-
Handlung annehmen“ könne. Allerdings lässt sich diese erzählerische Funktion, wie Hartmut Bleumer: Historische Narratologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin 2015, S. 213 – 274, hier S. 231, kritisch anmerkt, mit den bewusst neutral gehaltenen Genetteschen Konzepten der ‚Nullfokalisierung‘ (der Erzähler weiß mehr als die Figuren) und ‚Stimme‘ (Grad der Beteiligung des Erzählers am Geschehen) nicht immer in Gänze erfassen: „[D]er Erzähler weiß am Ende nicht einfach nur mehr, er weiß es besser. Narratives Wissen ergibt sich nicht aus einer bloßen Sammeltätigkeit in einer schon vorgefundenen Wirklichkeit.“ Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu grundlegend erneut Genette, Die Erzählung, S. 121– 124 u. 137– 150. Zum wertenden Kommentar als einer grundlegenden Funktionsdimension insbesondere ma. Erzählinstanzen vgl. schließlich auch Paul Herbert Arndt: Der Erzähler bei Hartmann von Aue. Formen und Funktionen seines Hervortretens und seine Äußerungen. Göppingen 1980 (GAG. 299), S. 86: „Für eine Literatur, die unter dem Leitsatz des ‚delectare et prodesse‘ steht, ist es selbstverständlich, daß das Erzählen mit der Bewertung des Erzählten Hand in Hand geht.“ Zu der im Vergleich mit der altfranzösischen Vorlage noch einmal deutlich profilierteren Rolle der Erzählerfigur bei Gottfried vgl. überblicksartig Tomasek, Gottfried von Straßburg, S. 118 – 123. Unter ausgiebiger Berufung v. a. auf Sentenzen rufe dieser, so Tomasek (ebd., S. 120) insbesondere „im Prolog und in den Exkursen […] konsensfähiges Erfahrungs- und Orientierungswissen zur Bewertung und Diskussion vielfältiger Aspekte […] wie Krieg, Freundschaft, Tod oder Liebe auf“. Siehe dazu exemplarisch etwa die kritischen Stellungnahmen des Erzählers zu Isoldes Mordanschlag auf Brangäne (V. 12709 – 12712), zu dem aus Argwohn und Zweifel resultierenden missetân Markes gegenüber Isolde (V. 13797– 13805) oder zu Tristans schult am musikalischen Betrug der Isolde Weißhand. Eine auffallend dialogisch gestaltete Partie (V. 7772– 7780) bildet im Tristan darüber hinaus auch den erzählerischen Rahmen zur Inszenierung des übermäßigen Musikverlangens der alten Isolde, das hier allerdings, trotz allgemeiner Zurückhaltung des Erzählers, durch die Ergänzung eines neuen szenischen Details (der Gestank von Tristans Wunde) zusätzlich akzentuiert wird; vgl. dazu erneut S. 117– 125 der vorliegenden Arbeit. Zu den unterschiedlichen Graden von narrativer Mittelbarkeit/Distanz sowie den begrifflichen Vorläufern der literaturtheoretischen Konzepte der ‚Erzählung von Ereignissen‘ bzw. ‚von Worten‘ siehe überblicksartig mit zahlreichen Beispielen von der Antike bis zur Moderne Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München 2009, S. 47– 49. Zur rezeptionsästhetischen Illusion des Verschwindens der Erzählerinstanz hinter der von ihr vermittelten Figurenrede vgl. an prominenter Stelle weiterhin auch Genette, Die Erzählung, S. 106 – 110, hier v. a. S. 106: „‚Zeigen‘ kann am Ende nur eine Weise des Erzählers sein, und diese Weise besteht darin, möglichst wenig zu sprechen und doch zugleich möglichst viel zu sagen: ‚Man muß so tun‘, sagt Platon, ‚als sei es nicht der Dichter, der redet‘ – d. h. man muss darüber hinwegtäuschen, dass es der Erzähler ist, der erzählt. […] Wer vorgibt zu zeigen, gibt vor zu schweigen“. Hervorhebungen im Original.
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soziierbarer) Erzähler,²² wenn er die interdiskursive Kritik an der Bedeutung prächtiger Kleidung für das höfische Schönheitsideal der zumindest mit weniger Autorität ausgestatteten Ereckfigur in den Mund legt (V. 1635 – 1650/641– 656), und dessen Argumentation dann wenig später durch einen im Kampf geläuterten Yders bestätigen lässt (V. 2249 – 2252/1255 – 1259).²³ In nochmaliger Verschärfung dieser Tendenz wird die über eine veränderte Konzeption der Enitefigur in den Roman eingeflochtene antihöfische Diskussion um den weiblichen Kleiderputz als Auslöser von Wollust sogar von gar keiner der narrativen Sprechinstanzen explizit-erörternd aus dem Geschehen abgeleitet. Mehr oder weniger gattungstypisch wird weiterhin auch in der Kudrun die Frage danach,²⁴ warum Wate die Gesänge seines Neffen Horant mehrfach
Auf solche Tendenzen der Hartmannschen Erzählinstanzen verweist bereits Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 106 – 108. Zu vergleichbaren Erzählstrategien in der modernen Literatur siehe weiterhin auch Genette, Die Erzählung, S. 168. Zu der bei Hartmann im Vergleich mit Chrétien stärker ausgebauten Rolle der Erzählerfigur, der mitunter sogar in fingierte Dialoge mit dem Publikum eintritt, vgl. zusammenfassend Bumke, Der ‚Erec‘ Hartmanns von Aue, S. 130, sowie ausführlich zu den entsprechenden „[w]ertenden Stellungnahmen“ zu Figuren, Objekten und Vorgängen Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 86 – 110, hier v. a. S. 86: „[E]s gibt kaum eine längere Passage in Hartmanns Romanen, in der völlig ‚wertfrei‘ erzählt wird.“ Als typische „Formtypen“ (ebd., S. 87) nennt Arndt (ebd., S. 86 – 110) dabei den „wertende[n] Namensersatz“ (ebd., S. 87; besonders häufig: der/diu guote), entsprechende Handlungsbezeichnungen (z. B. missetât vs. woltât), Epitheta, den attributiven Einsatz wertender Adjektive (z. B. guot, tugenthaft/tugendrîch, biderbe, bœse, unritterlîch), Vergleiche (z. B. als man sol) und Hyperbeln. Je nach Beiläufigkeit sei dabei ein ‚kommentierendes Erzählen‘ von ‚wirklichen‘ Erzählerkommentaren abzugrenzen (vgl., ebd., S. 93 – 95). Exemplarisch zu den bei Hartmann im Vergleich mit positiven Wertungen insgesamt weniger häufig auftretenden negativen Stellungnahmen des Erzählers siehe etwa dessen Kommentar zur Entmannung Erecks durch das verligen (V. 3920 – 3927), der untreu des namenlosen Burggrafen, die ausgelöst wird durch Enites Schönheit (V. 4666 – 4692), dem erbarmungslosen Verhalten der unguoten Riesen gegenüber Cadoc (V. 6394– 6402) oder zum Mangel an zucht in der Gesellschaft des Oringleshofs (V. 7606f.). Zu der in der Heldenepik allgemein weniger ausgeprägten Erzählerrolle, deren Funktion sich zwar im Wesentlichen nicht von der des höfischen Romans unterscheidet, dabei jedoch insbesondere kommentierende Stellungnahmen zum erzählten Geschehen wesentlich seltener einschließt, vgl. zusammenfassend etwa Lienert, Mittelhochdeutsche Heldenepik, S. 169. Ausführlicher und speziell zu den mitunter auch (kritisch) wertenden Stellungnahmen des Kudrun-Erzählers siehe weiterhin Ingeborg Fluss: Das Hervortreten der Erzählerpersönlichkeit und ihre Beziehung zum Publikum in mittelhochdeutscher strophischer Heldendichtung. Eine Untersuchung über Anlaß, Absicht und Formen ihrer sprachlichen Verwirklichung. Hamburg 1971 (Hamburger philologische Studien. 9), S. 179 – 181, hier v. a. S. 180 f.: „Die wenigen als Tadel zu verstehenden Kommentare des Erzählers beziehen sich auf die Behandlung Kudruns am Normannenhof. Das persönliche Engagement des Erzählers, das sich in diesem Zusammenhang latent auch in den stark affektbestimmten Umschreibungen Gerlinds als tiuvelinne, vâlentinne, wülpinne kundtut, läßt ihn mit seiner sonstigen Zurückhaltung brechen […]. Außerhalb dieses Zusammenhangs wird das Werfen der Gefallenen ins Meer negativ kommentiert, das von Wate nach Beendigung des zweiten Entscheidungskampfes um Kudrun veranlaßt wird und sich mit höfischen Auffassungen nicht verträgt: 1539,2 daz was ein ungenâde.“ Vgl. dazu weiterhin exemplarisch etwa auch den Erzählerkommentar zur mangelnden Weitsicht Kudruns in ihrem gutgläubigen Verhalten den Normannen gegenüber (1046,4) sowie die wiederholten attributiven Kontrastierungen
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lapidar als ungefüege bezeichnet (382,3 – 4), nicht etwa durch eine musikkritische Stellungnahme des Erzählers aufgelöst, sondern für den Rezipienten erst aus den Reaktionen der irländischen Hofgesellschaft auf besagte Musik ersichtlich.²⁵ Der Erzähler des Nibelungenlieds hingegen äußert an einer Stelle zwar durchaus eine negative Meinung zur effeminatio höfischer Kleidermoden (1885), doch die auf figurenkonzeptioneller und handlungschronologischer Ebene mehrfach implizierte Verbindung zwischen Kriemhilds Kleiderschatz und ihrer fatalen Machtposition am Etzelhof bleibt auf einer solchen Ebene gänzlich unkommentiert.²⁶ Anstelle im großen Stil explizit zu moralisieren, werden die im hofkritischen Diskurs konstruierten Problemzusammenhänge zwischen Musik, Kleidung, Sünde und ritterlicher Demoralisierung also in der mittelhochdeutschen höfischen Epik in erster Linie am Verhalten der Figuren und den sich daraus ergebenden Konsequenzen aufgezeigt. Indem die volkssprachlichen Texte auf diese Weise einerseits lehrhafte Sinnangebote schaffen,
der Titelheldin (Kûdrûn diu arme) mit der Königin Gerlint (diu übele, 1051,1, 1054,1 etc.; [d]ie alte wülpinne, 1052,1). Dazu passt, dass das besonders skandalöse erotische Verlangen der jungen Hilde in der Kudrun erzählerisch auch nur symbolisch bzw. intertextuell gebrochen über ihre Gaben (Ring und Gürtel, 398,3 – 400,2) vermittelt wird; vgl. dazu erneut S. 136 – 148 der vorliegenden Arbeit. Siehe dazu weiterhin auch meine früheren Ausführungen zu Markes musikkritisch konnotierten Gaben (swert, sporn, armbrust) an Tristan (V. 3734– 3741) bei Gottfried (S. 108 – 111). Zu den gattungsbedingt ebenfalls weniger gehäuft als im höfischen Roman auftretenden, jedoch nicht selten „gewichtigen Kommentierungen“ durch den allwissenden Erzähler des Nibelungenlieds vgl. überblicksartig Schulze, Das Nibelungenlied, S. 113 – 120 (Zitat ebd., S. 118). Im Detail zu den verschiedenen Arten von Wertungen weiterhin Fluss, Das Hervortreten der Erzählerpersönlichkeit, S. 93 – 98, hier v. a. S. 94– 98: „Mit mehr oder weniger verhülltem Tadel und negativer Bewertung exponiert sich der Erzähler auch bei den unpersönlich gehaltenen Bemerkungen nur an entscheidenden Stellen seiner Erzählung. Dabei stehen im Brennpunkt der kritischen Beurteilung Verrat und Mord an Siegfried. Als der Hauptverantwortliche wird Hagen, der Urheber und Ausführende des Plans verurteilt […]. Aber auch Gunther, der labile Zustimmer des Anschlags, wird vom Erzähler mit Tadel belegt […]. In mittelbarem Zusammenhang mit dem Mord wird schließlich auch Kriemhild wegen ihrer gutgläubigen Leichtsinnigkeit kritisiert, da sie den Mord […] erst ermöglicht […]. Über die Hälfte aller Verurteilungen steht in der Jagd-Aventiure (964,3 f. 970,4. 971,4. 978,4. 981,4. 983,3.) auf engstem Raum zusammengedrängt. […] Als zweiten Angelpunkt für abschätziges Urteil wählt der Erzähler Kriemhilds unerhörten Verstoß gegen das […] Gastrecht. Nachdem er mit dem ichbetonten Tadel (1394,1 ff.) diese Linie eröffnet hat, verfolgt er sie in unpersönlicher Form weiter […]. Nach der pauschalen Ankündigung von Kriemhilds verurteilungswürdigem Verhalten (1754,2 f.) begleitet der Erzähler einzelne Stufen ihrer Racheverwirklichung: den geplanten hinterhältigen Anschlag auf Hagen und Volker (1766,4), den Überfall auf einen Teil der Burgunder durch Bloedel (1911,4) vor der offenen Kampfansage und die mit der Ausräucherung der Burgunder begonnene kompromißlose Endphase. Außerhalb dieser aufgezeigten Zusammenhänge kommentiert der Erzähler selten negativ wertend […]. Der Bearbeiter hingegen schwächt in der Fassung +C diese Tendenz durch Vermeidung einiger tadelnder Kommentare ab.“ Das Geschehen in kritischer Weise erläuternde erzählerische Schuldzuweisungen an Kriemhild (und Brünhild) finden sich darüber hinaus etwa in Str. 1,3 – 4, 6,4, 898,4 u. 1912,4. Zu Hagens vom Erzähler mehrfach als untriuwe und missewende verurteiltem Mord an Siegfried vgl. weiterhin exemplarisch Str. 876,2, 915,4 u. 981,4; zu Gunthers als übel und bœse bezeichneter Zustimmung zum Anschlag Str. 876,1 u. 978,4.
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die Bewertung der erzählten Vorgänge dabei aber oftmals dem Rezipienten überlassen, wird der für den lateinischen Diskurs so charakteristische „imperativische[] Aspekt“²⁷ in der Volkssprache weitestgehend vermieden:²⁸ Im Kontext eines solchen höfisch-literarischen Probehandelns erfolgt die Belehrung des Publikums mehr über die Erzählung als über deren Erzähler.²⁹ Dessen ungeachtet kommen allerdings auch in der Volkssprache gewisse Darstellungstechniken zum Einsatz, die der poetischen Musik- und Kleiderkritik recht unaufdringlich zusätzliche Allgemeinheit und Nachdrücklichkeit verleihen. Dabei handelt es sich vor allem um gezielte Analogien im Bereich der Figurenzeichnung:³⁰ So löst Tristans Harfenspiel bei der irischen Hofgesellschaft vergleichbare Reaktionen wie zuvor am Markehof aus, so reagieren die wilden Tiere in der Kudrun auf Horants Gesang ähnlich wie der irländische Adel, so ist die Wirkung der geschmückten Enite auf Ereck mit derjenigen der amîe auf Mabonagrim verwandt, und so verhält sich der prachtvoll gekleidete Etzel in den finalen Kämpfen streckenweise ebenso feige wie seine Hunnenkrieger. In diese Reihe von Befunden fügt sich weiterhin nahtlos ein, dass keiner der untersuchten Erzähltexte die im lateinischen antihöfischen Diskurs topischen Forderungen, den Hof zu verlassen bzw. auf eine Partizipation an Formen seiner Kultur zu verzichten, vor dem Hintergrund seiner poetischen Musik- bzw. Kleiderkritik als anzustrebenden Idealzustand präsentiert. Mit einer solchen „Generalabrechnung mit der Institution“ Hof bzw. seiner Kultur ist, wie schon Schnell betont, in der höfischen Literatur aber auch grundsätzlich nicht zu rechnen.³¹ Zwar lässt sich in der Inszenierung der Burgunden als milites Christiani im Nibelungenlied durchaus ein subtiles erzählerisches Bemühen erkennen, das archaisch-brutale Blutvergießen am Etzelhof (streckenweise auch) im Lichte der Restitution einer göttlichen Ordnung erscheinen zu lassen. Doch zugleich führt das Ablegen der höfischen Prachtgewänder hier nur zum Anlegen von nicht minder prunkvollen Rüstungen, die am Ende wortwörtlich im Blut versinken und dabei nachdrücklich ihre eigene Vergänglichkeit ausstellen. Dass es Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 157. Zum engen Zusammenhang von erzählerischer Wertung und Didaxe in der höfischen Epik vgl. erneut Arndt, Der Erzähler bei Hartmann von Aue, S. 98. Zu den unterschiedlichen Dimensionen der Didaxe der ma. Literatur vgl. erneut etwa Wagner, Literarische Didaxe als Arbeit am Glauben der Anderen, S. 41– 43. Zu der auch im Kontext christlicher Allegorese grundlegenden Vorstellung einer moralischen Dimension des Handelns von biblischen Gestalten vgl. weiterhin Hübner, Ältere deutsche Literatur, S. 298: „Einen moralischen Sinn (sensus moralis oder tropologicus von griech. tropos in der Bedeutung ‚Lebensweise‘) können Erzählungen des Alten wie des Neuen Testaments haben. Der Kausalzusammenhang zwischen dem Handeln und dem Ergehen biblischer Figuren ist dann ein Beispiel für die Gesetzmäßigkeiten der von Gott geschaffenen Ordnung der Praxis. So geben etwa die alttestamentlichen Erzählungen über König Saul zu erkennen, dass der Herrscher ein Erwählter Gottes ist, den Gott jedoch verwirft, wenn er nicht rechtmäßig handelt. Einen sensus moralis im Sinn der Offenbarungswahrheit schrieben die Theologen allein der Bibel zu; das Prinzip der Sinnkonstruktion ist jedoch dasselbe wie bei den exemplarischen Erzählungen von Geschichtsschreibern und Dichtern“. Hervorhebungen J. S.-B. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 340.
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sich bei den höfischen Gewandmoden ohnehin um niemals mehr als eine äußerliche Fassade gehandelt hat, erweist im Übrigen schon der erste Handlungsteil, dessen luxuriös gekleidete Figuren im Ernstfall, statt ihre Affekte zu kontrollieren, Betrug, Neid und Mord den Vorzug geben. Ganz im Gegensatz dazu entwickelt Hartmanns Ereck in intensiver Auseinandersetzung mit der christlichen Kleiderkritik ein höfisierendes „Verdienst-Lohn-Modell“³², das unter der Voraussetzung der richtigen ethischen Grundhaltung (mâze, schame, kiusche etc.) durchaus auch eine prächtige Gewandung einschließen kann. Gottfried von Straßburg wiederum zitiert den hofkritischen Topos einer Abkehr vom Hofe zwar sogar einige Male in seiner Darstellung an (Tristans Reaktion auf die Intrige der cornischen Barone, das Leben in der Minnegrotte), doch erscheint ein Leben in sozialer Isolation hier selbst im Angesicht der Schrecken höfischen Lebens nie als akzeptable Alternative.³³ Zugleich fehlt es dem Tristan jedoch auch an einem durchweg positiven Gegenentwurf: Denn obwohl der formvollendeten Schönheit höfischer Musik im Roman mindestens ebenso viel darstellerischer Raum wie ihren moralischen und politischen Gefahren gewidmet wird, ist sie etwa bei Markes idealtypisch präsentierten Hoffest lediglich gebrochen im vœgelgedœne präsent (V. 575 – 586), während es sich bei Tristans und Isoldes Zusammenspiel in der Minnegrotte nur um eine „beschädigte Utopie“³⁴ handelt, die schmerzlich der êre der höfischen Gesellschaft entbehrt (V. 17698). Ähnliches lässt sich weiterhin auch mit Blick auf die Kudrun feststellen, die die höfische Musik mit jeder Figurengeneration genau einmal in den Fokus rückt (Hagens Entführung, der Brautraub Hildes, die Großhochzeit am Handlungsschluss), und zwar nur, um dabei immer wieder von einer problematischen Publikumswirkung zu erzählen, die sich zwar hinsichtlich ihres Ausmaßes, nicht aber in Bezug auf ihre grundsätzliche Beschaffenheit unterscheidet. Vor diesem Hintergrund ist die von Rüdiger Schnell am Beispiel der mittelhochdeutschen geistlich-didaktischen Literatur entwickelte These, dass die volkssprachliche Hofkritik grundsätzlich „an die Möglichkeit eines tugendhaften Lebens am Hof […] (ob generell in der Vergangenheit oder vereinzelt in der Gegenwart)“ glaube,³⁵ also zumindest, wenn man den Blick auf die Musik- und Kleiderdarstellung der höfischen Epik verengt, diskutabel. Gewisse Schwierigkeiten treten darüber hinaus auch beim Versuch der Eingliederung der skizzierten poetischen Kulturkritik in die Terminologie Konersmanns auf. Denn während die lateinische Hofkritik sich mit ihren Forderungen nach einem Leben jenseits des Hofs und der „wieder herzustellende[n] Ausrichtung
Dieser Begriff stammt von Schulze, Das Nibelungenlied, S. 259, die diesen hier allerdings mit Bezug auf die Fortsetzungsdichtung der Klage verwendet. Zur hofkritischen Grundierung der Darstellung von Tristans Fluchtwunsch vom Markehof als Reaktion auf die Intrige der cornischen Landbarone vgl. erneut Jaeger, The Barons’ Intrigue in Gottfried’s Tristan, hier v. a. S. 54 f. u. 62 f., zur Minnegrotte als diskursiver Innovation weiterhin S. 127– 129 der vorliegenden Arbeit. Karl Bertau: Deutsche Literatur im europäischen Mittelalter. München 1972/73, Bd. 2, S. 957. Schnell, Hofliteratur und Hofkritik in Deutschland, S. 350.
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der Adressaten auf christliche Tugenden“ durchaus als typisch vormodern-restitutiv beschreiben lässt,³⁶ sperrt sich die Musik- und Kleiderkritik der höfischen Erzähltexte größtenteils gegen eine solche Zuordnung. Bei allen gegenläufigen Darstellungstendenzen lässt sich wohl am ehesten noch das Nibelungenlied als restitutiv beschreiben, wenn es in seinen finalen Aventiuren davon erzählt, wie die Burgunden sich, vom Erzähler (zumindest temporär legitimierend) als milites Christiani akzentuiert, todesmutig dem Kampf gegen die Heiden stellen, bevor sie im Kampf gegen Vertreter ihres eigenen Glaubens dann allerdings auch selbst der Untergang erwartet. Zumindest partiell trifft ein solcher Befund weiterhin auch auf Hartmanns Ereck zu, dessen Erzähler dem Publikum mehrfach explizit-belehrend die Rückbesinnung auf christliche Tugenden nahelegt (z. B. V. 3480 – 3488/2489 – 2497 u. 11105 – 11115/10024– 10034),³⁷ allerdings ohne, dass den weltlichen Kleidermoden als wesentlichen Erscheinungsformen einer modernen höfischen Kultur dabei eine grundsätzliche Absage erteilt würde: Beides lässt sich hier stattdessen recht harmonisch miteinander verbinden. Gottfrieds Tristan und die Kudrun dagegen verzichten gänzlich auf die erzählerische Ausfaltung eines „richtige[n] Weg[s]“³⁸ im Sinne Konersmanns: Ihr Weg besteht vielmehr in einer fortgesetzten Ambiguisierung bzw. Problematisierung höfischer Musik, wobei der Umstand, dass diese Kulturkritik jedes Mal aufs Neue beim Befund des Problems stehenbleibt, ohne dafür schon eine entsprechende Lösung bereitzuhalten, sie trotz ihres eindeutig religiösen Fundaments fast schon modern erscheinen lässt. Bei allen grundlegenden Gemeinsamkeiten weist die Musik- und Kleiderkritik der mittelhochdeutschen Texte jedoch auch einige markante Unterschiede auf. Deren Art und Vorkommen lassen nun wiederum, wie Bumke schon früh vermutet hatte, in der Tat auf eine zumindest partielle Gattungsspezifik poetisch-volkssprachlicher Kritik an der höfischen Kultur schließen.³⁹ So zeigt sich nämlich zunächst mit Blick auf die beiden untersuchten Heldenepen, dass die topischen Argumentationsweisen des hofkritischen Diskurses hier in erster Linie mit ihren konkurrierenden höfischen Pendants enggeführt werden, um letzteren erzählerisch den diskursiven Wahrheitsanspruch zu entziehen.⁴⁰ So entwerfen beide mittelhochdeutsche Texte im Anschluss an den höfischen Diskurs zwar zunächst eindrucksvolle Szenarien musikalischer bzw. vestimentärer Pracht, die in der Folge dann allerdings durch einen Handlungsverlauf, der zunehmend nach den Regeln des hofkritischen Diskurses gestaltet ist, als vor-
Schausten, Höfische Jagdkunst im Spiegel klerikaler Kritik, S. 142, Anm. 17. Vgl. dazu bereits Chinca, Der Horizont der Transzendenz, S. 32 f. Konersmann, Kulturkritik, S. 54. Vgl. dazu schon Bumke, Höfische Kultur, Bd. 2, S. 592. Bumkes These zur allgemein weniger hofkritischen Gattung des Artusromans kann vor dem Hintergrund der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit allerdings nur eingeschränkt zugestimmt werden: Die Kritik kommt im höfischen Roman nicht weniger vor, sondern sie ist schlicht eine andere als in der Heldenepik. Vgl. dazu erneut auch die entsprechenden Ergebnisse Bauschkes, Strategien des Erzählens, S. 358, zu Formen der Interdiskursivität in Herborts von Fritzlar Liet von Troye.
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dergründig entlarvt werden. Dabei gewinnt eine an Intensität immer weiter zunehmende Musik- bzw. Kleiderkritik schließlich (wie im Nibelungenlied) bzw. immer wieder aufs Neue (wie in der Kudrun) die Überhand über den anfänglichen Musikbzw. Kleidungspreis. Oder, um es noch einmal in anderen Worten zu sagen: Im Kontext der heldenepischen Verhandlungen des Interdiskurselements Musik bzw. Kleidung wird die höfisierende Diskursposition schließlich durch die hofkritische abgelöst. So bewirkt beispielsweise Horants Gesang in der Kudrun vom Zeitpunkt seines zweiten Auftritts an keine höfische Freude mehr, sondern wird von nun an in handlungslogische Zusammenhänge mit der Ablenkung vom christlichen Glauben, der sexuellen Frivolität einer Königstochter und grausamen Schlachtszenen gestellt. In ähnlicher Weise wird der Einsatz des Figurenattributs prachtvoller Kleidung im Nibelungenlied zunehmend auf den Bereich des Heidnischen verengt, wo es zumindest von Hagen und Volker auch nicht länger als äußeres Ehr- und Standeszeichen, sondern nurmehr als Inbegriff von kriegerischer Verweichlichung und religiöser Unterlegenheit wahrgenommen wird. Im Rahmen der Musik- und Kleiderdarstellung der mittelhochdeutschen Heldenepik findet also nicht bloß eine Reintegration von eigentlich separaten kulturellen Wissensbereichen statt, wie sie Link/Link-Heer als wesentliches Merkmal des literarischen Interdiskurses benennen, sondern die Texte eröffnen darüber hinaus auch eine wertend-hierarchisierende Distanz zu den von ihnen aktualisierten Diskursen. Diese drückt sich einerseits in einer affirmativen Funktion aus, mit der die mittelhochdeutschen Heldenepen die von ihnen eingespielten hofkritischen Diskurselemente versehen. Diese affirmative Funktion geht auf der anderen Seite wiederum einher mit einer kritisch-desintegrierenden Perspektivierung des höfischen Diskurses: Das Feld des Sagbaren bzw. ‚Erzählbaren‘ wird auf diese Weise zumindest im Bereich der Musik- und Kleiderdarstellung immer weiter auf die Wissensbestände der lateinischen Hofkritik eingeengt. Die Musik- und Kleiderdarstellung des höfischen Romans hingegen nimmt durchgängig auf beide Diskurse Bezug, und auch der Umgang mit den konkurrierenden Wissensbeständen fällt hier deutlich differenzierter aus. So ist einerseits Hartmanns Ereck sichtlich um eine Harmonisierung höfisierender und hofkritischer Argumentationsweisen bemüht, wenn er das positive Modell einer auf der Verinnerlichung christlicher Tugenden basierenden, beherrscht-reflektierten Partizipation an der höfischen Kleiderkultur entwirft – ein Gott und der Welt gefälliger interdiskursiver Kompromiss. Doch auch Gottfrieds ambivalentes Tristan-Fragment erfüllt aus interdiskurstheoretischer Sicht durchaus integrativ-vermittelnde Zwecke. Denn seine Musikdarstellung fungiert gewissermaßen als ein literarischer Raum, in dem die Musiktopoi des höfischen und hofkritischen Diskurses unmittelbar in Bezug zueinander gesetzt werden können, und zwar ohne, dass, wie in der Heldenepik, eine der kulturell verfügbaren Diskurspositionen die andere jemals eindeutig dominieren würde. Stattdessen werden die topischen Argumentationsweisen beider Diskurse in der konstitutiven Ambivalenz der Darstellung zugleich bestätigt und subversiv unterlaufen. Dieser weniger voreingenommene Umgang mit den genannten Wissensbeständen hat im höfischen Roman nicht zuletzt vereinzelte diskursive Innovationen zum Er-
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gebnis, in denen die literarische Konstruktion einer vormodernen „Intersubjektivität“⁴¹ ihren besonders markanten Ausdruck findet. Diese vermag mit den konkurrierenden Wissensbeständen hier nämlich nicht nur auf gattungsspezifische Weise kritisch-reflektierend umzugehen, sondern deren „bestehenden Rahmen“⁴² dabei mitunter auch zu überschreiten. Dies betrifft im Tristan v. a. die Einschränkung einer besonders drastischen Musikwirkung auf bestimmte Stilrichtungen (das Saitenspiel in britûnische[r] und franzoiser wîse; V. 3590 u. 8061) sowie die räumliche Auslagerung des zweckfrei-freudenspendenden Saitenspiels im Sinne des höfischen Diskurses an einen zivilisationsfernen Liebesort: die Minnegrotte. Hartmanns Ereck wiederum arbeitet im fusionierenden Rückgriff auf höfisierende und hofkritische Kleidertopoi aktiv am weiblichen Schönheitsideal und entwirft dabei nicht zuletzt das innovative Modell einer instabilen Kalokagathia, in deren Rahmen äußerlicher Luxus nur noch den Status eines unzuverlässigen Index’ für innere Tugend innehat. Die vorliegende Untersuchung hat, so hoffe ich, gezeigt, wie stark die Darstellungen des Hofs, der höfischen Gesellschaft und der höfischen Kultur in der mittelhochdeutschen Epik von der lateinischen Hofkritik geprägt sind. Ihre topischen Argumentationsweisen sind grundlegend für die Bedeutungserzeugung in den beiden untersuchten volkssprachlich-erzählenden Literaturgattungen. Ohne ihre Kenntnis kann eine umfassende Beschreibung der diskursiven Ausrichtung des mittelhochdeutschen Romans oder der Heldenepik ebenso wenig erfolgen, wie sich ein zeitgenössisches Verständnis des Profils, der Verhaltensweisen und -motive ihrer Figuren als fiktionaler Träger von höfischer Kultur in der Tiefe rekonstruieren lässt. Die höfische Literatur ist von Beginn ihrer Entstehung an weit mehr als ein affirmatives Medium adliger Repräsentation, Gemeinschaftsbildung und Herrschaftslegitimation: Sie ist nicht nur ein Produkt höfischer Kultur, sondern auch eines der wichtigsten Medien ihrer Selbstkritik; sie ist der Spiegel, in dem der höfischen Gesellschaft nicht nur das Idealbild eines verfeinerten Lebens im Diesseits, sondern auch ihr christliches Gewissen entgegenblickt.
Zu der im Anschluss an das Habermas’sche Konzept von ‚Intersubjektivität‘ formulierten Annahme der Interdiskurstheorie, dass der literarische Interdiskurs sich gegenüber zeitgenössischen Diskurspositionen oftmals spielerisch, verfremdend oder sogar oppositionell verhalte, vgl. erneut Link, Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 297– 300, Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 89 u. 97, sowie die grundlegenden Ausführungen Foucaults zur Literatur als ‚Gegendiskurs‘ in Die Ordnung der Dinge, S. 76. Link/Link-Heer, Diskurs/Interdiskurs und Literaturanalyse, S. 97.
5 Literaturverzeichnis 5.1 Abkürzungsverzeichnis ATB DU FMSt
Altdeutsche Textbibliothek Der Deutschunterricht Frühmittelalterliche Studien. Jahrbuch des Instituts für Frühmittelalterforschung der Universität Münster Göppinger Arbeiten zur Germanistik GAG Germanisch-Romanische Monatsschrift GRM JEGP Journal of English and Germanic Philology LexMA Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Robert-Henri Bautier [u. a.]. 10 Bände. München [u. a.] 1977 – 1999. LiLi Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik LTG Literatur – Theorie – Geschichte MDU Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur MGH Monumenta Germaniae Historica PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur RUB Reclams Universal-Bibliothek UTB Uni-Taschenbücher VL Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. Zweite, völlig neu bearbeitete Aufl. unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter hrsg. von Kurt Ruh. 14 Bände. Berlin/New York 1978 – 2008. VMPIG Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfDPh Zeitschrift für deutsche Philologie
5.2 Primärliteratur Abt Siegfried von Gorze an den Abt Poppo von Stablo. Spätsommer 1043. In: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Hrsg. von Wilhelm von Giesebrecht. 5. Aufl. Bd. 2. Leipzig 1885, S. 679 – 684. Apollonius von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. Griechisch/Deutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Paul Dräger. Stuttgart 2002 (RUB. 18231). Arnold von Lübeck: Chronica. Hrsg. von Johann Martin Lappenberg. In: Historici Germaniae saec. XII. Hrsg. von Georg Heinrich Pertz. Hannover 1869, S. 100 – 250. Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, hrsg. und kommentiert von Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch. Stuttgart 2009 (RUB. 18676). Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Übersetzt und hrsg. von Martin Lehnert. Stuttgart 2004 (RUB. 18303). Briefsammlungen der Zeit Heinrichs IV. Hrsg. von Carl Erdmann, Norbert Fickermann. Weimar 1950 (MGH Briefe. 5). Bruder Robert: Tristrams Saga ok Ìsondar. Mit einer literaturhistorischen Einleitung, deutscher Übersetzung und Anmerkungen. Hrsg. von Eugen Kölbing. Hildesheim/New York 1978 (Die nordische und die englische Version der Tristan-Sage. 1). Chrétien de Troyes: Erec et Enide/Erec und Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 2007 (RUB. 8360). https://doi.org/10.1515/9783110673258-005
5.2 Primärliteratur
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360
5 Literaturverzeichnis
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6
Personen- und Werkregister
Adam (AT) 67, 151, 199, 219 Agnes von Poitou 198, 306 Ahitofel (AT) 20 Alexanderroman 71 Argos 86, 88, 111 f., 121 – 123, 153 Aristoteles 75 Arnold von Lübeck 173 Augustinus 11, 28, 104 f., 196 Augustus 81, 83, 88, 329 Belšazar von Babylon (AT) 20, 87 f., 155 Beowulf 154 f. Bernhard von Clairvaux 204, 304 Bernhard von der Geist 7, 22 Brief 94 87, 166, 185, 204 – 206, 244, 250, 286 Bruder Robert 91 f., 97, 101, 112, 118 f. Chrétien de Troyes 210 – 215, 222 – 224, 226 f., 229 f., 232 f., 235 f., 239 – 242, 244 – 246, 249 f., 253 – 255, 261 f., 323, 328, 331 Christina von Stöben (Saale) 187 Chusi (AT) 20 Cicero 25 f., 28 – 32 Cyprian von Karthago 171, 187, 193, 195 David (AT) 20, 71, 74, 84, 111, 257, 263 De confessione sacramentali 141 f. De eruditione filiorum nobilium 143, 166, 185 f., 190 – 197, 219, 294, 317 De nugis curialium 1, 39, 48 De officiis 4, 25, 31 Der ‚Arme Hartmann‘ 40, 170, 190, 303 f. Der Welsche Gast 5, 40, 42 f., 134, 148 f., 152, 259 Deusdedit 10, 12 f. Diu Crône 105 Donaueschinger Passionsspiel 100 Dukus Horant 131, 133, 140 f., 144, 146 f., 150 – 152, 158 f., 165 Eneasroman 29, 58, 171, 232, 267, 325 Enzio von Sardinien 73 Epistola XCIV. ad I. Archidiaconum 87, 166, 185, 204 – 206, 244, 250, 286
https://doi.org/10.1515/9783110673258-006
Erec et Enide 210 – 215, 222 – 224, 226 f., 229 f., 232 f., 235 f., 239 – 242, 244 – 246, 249 f., 253 – 255, 261 f., 323, 328, 331 Ereck 34 f., 38, 52, 58, 62, 65, 166, 170, 175, 185, 206 – 263, 297 f., 322 f., 329 – 337 Eva (AT) 67, 151, 199, 219, 238, 315, 323 Friedrich I. (HRR) 72 f., 173, 184 Friedrich II. (HRR) 73 Fulco IV. (Anjou) 199 f., 286 Gislebert von Mons 72 f., 173 f. Gottfried von Straßburg 38 – 41, 49, 88 – 129, 150, 153, 158 f., 163 – 165, 179, 327 – 336 Gregor von Tours 188, 287 Gunther von Bamberg 11 f. Hartmann von Aue 29, 34 f., 38, 42, 52, 65, 71, 149, 206 – 263, 297 f., 322 f., 330 – 337 Heinrich der Teichner 295 Heinrich I. (England) 201, 318 Heinrich II. (England) 80 – 82, 109, 203, 328 f. Heinrich III. (HRR) 198 Heinrich von dem Tuerlin 105 Heinrich von Melk 3, 40, 170, 190, 221, 277, 295, 301 – 304, 327 Heinrich von Veldeke 29, 171 f., 179, 232, 235, 267, 271, 325 Helmbrecht 168, 170, 173 Herzog Ernst 284 f., 292, 295 Hieronymus (Kirchenvater) 171, 193 f. Hilarius von Poitiers 225 Historia Ecclesiastica 13 f., 37, 185 f., 188 – 190, 199 – 202, 219, 286, 318 Hugo von Trimberg 40, 42 f., 76 f., 86 Iwein
38, 42, 71, 149, 207, 235
Johannes von Grocheo 77 Johannes von Salisbury 2, 7 f., 14, 20, 39 f., 43, 79 – 88, 99 f., 102, 105, 109 – 111, 113, 121, 141 f., 148, 153, 155, 193, 203, 329 Joseph (AT) 20 Juvenal 8, 22, 147
362
6 Personen- und Werkregister
König Rother 3, 71, 131, 158 Kudrun 52, 66 f., 70, 88, 129 – 165, 313 f., 321, 329 – 336
Robert II. ‚Courteheuse‘ (Normandie) 201 f., 318 Rolandslied 58, 71, 172, 285, 295, 325, 328
Lanzelet 172 Libellus contra invasores et symoniacos et reliquos scismaticos 10, 13 Lucan 8, 22, 39, 81, 127 f. Ludwig IX. (Frankreich) 191, 197
Salimbene von Parma 73 f., 174 Salman und Morolf 71, 133 Seneca 15, 26, 29 Serlo von Séez 201, 318 Siegfried von Gorze 198 f., 306 Sirene 102 – 104, 150 f., 164 f.
Meinhard von Bamberg Moses (AT) 20
10 – 13, 67, 202, 297
Nebukadnezar (AT) 87, 112 Nehemia (AT) 20 Neidhart 40, 42, 140, 170, 172 f. Nero 81, 83, 88 Nibelungenlied 7, 29, 37 – 39, 41, 51 f., 62, 98, 131 f., 136, 144 f., 161, 264 – 324, 327 – 337 Nimrod (AT) 20 Österreichische Reimchronik 73 f. Ordericus Vitalis 13 f., 37, 185 f., 188 – 190, 199 – 202, 219, 286, 318 Orpheus 87, 111, 137 f., 139, 151, 164 Ottokar aus der Gaal 73 f. Palpanista 7, 22 Parzival 35, 38, 71, 170 f., 244, 309 Petrus von Blois 87, 166, 185, 204 – 206, 244, 250, 286 Pfaffe Lamprecht 71 Policraticus 2, 7 f., 14, 20, 39 f., 43, 79 – 88, 99 f., 102, 105, 109 – 111, 113, 121, 141 f., 148, 153, 155, 193, 203, 329 Poppo von Stablo 198 f., 306 Quintilian
26, 29
Rede vom Glouven 40, 170, 190, 303 f. Robert de Conteville 189
Tertullian 171, 185, 187 f., 196, 199 Thietmar von Merseburg 186 f., 287 Thomas Becket 80 f., 329 Thomas von Britannien 91 f., 97, 101, 106, 109, 112, 114 f., 119 Thomasin von Zerklære 5, 40, 42 f., 134, 148 f., 152, 259 Tristan 38 – 41, 49, 88 – 129, 150, 153, 158 f., 163 – 165, 179, 327 – 336 Tristrams Saga ok Ìsondar 91 f., 97, 101, 112, 118 f. Ulrich von Zatzikhoven
172
Vinzenz von Beauvais 143, 166, 185 f., 190 – 197, 219, 294, 317 Vitalis von Savigny 189 Von des todes gehugde 3, 40, 170, 190, 221, 277, 295, 301 – 304, 327 Walter Map 1, 39, 48 Walther von der Vogelweide 24, 40, 42, 50, 139 f., 170 Wernher der Gärtner 168, 170, 173 Wernher von Elmendorf 40, 44 Wigalois 172, 223, 243 f. Wilhelm I. (England) 189, 201 Wilhelm von Malmesbury 14, 37, 189 Wirnt von Grafenberg 172, 223, 243 f. Wolfram von Eschenbach 35, 38, 41, 71, 170 f., 244, 309, 329