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German Pages [325] Year 2018
Lisa Pychlau-Ezli
Essen und Trinken im Mittelalter Der alimentäre Code in der mittelhochdeutschen Epik
B ÖH L AU V E R L AG W I E N KÖL N W E I M A R
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: https://www.welt.de/img/kultur/mobile145114591/9232502167-ci102lw1024/Wolfram-Parzival-Buchmalerei-13Jh-Wolfram-Percival-Illumination-C13-Wolf.jpg Korrektorat: Philipp Rissel, Wien Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51198-2
Inhalt
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.2. Forschungsstand und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . .12 2. Kulturtheoretische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .22 2.2. Kulturanthropologische Aspekte des Verzehrs . . . . . . . . . . . . 31 2.3. Soziologische Aspekte des Essens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .36 3. Kulturgeschichtliche Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .43 3.2. Monastische Speisegemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . .54 3.3. Realhistorische Feste und Speisegemeinschaften . . . . . . . . . . 60 3.4. Die höfische Esskultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .72
Alleine essen – Codierung höfischer Identität . . . . . . . . . . . . 85 1. Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1.1. Parzivals Appetit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 1.2. Rennewarts Essgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 2. Desintegration und Reintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2.1. Höfische Speisen: Erecs Aventiurefahrt . . . . . . . . . . . . . . . 125 2.2. Kulturelle Speisen: Iweins Nahrungstausch mit dem Eremiten . . 135 2.3. Fastenspeisen: Parzivals Aufenthalt beim Einsiedler Trevrizent . 145 2.4. Nahrungsaskese: Gregorius’ Eremitentum . . . . . . . . . . . . . 152
Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität . . . . . . . . . . 169
1. Essen als Akt der Intimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1.1. Die Gemeinschaft von Tisch und Bett . . . . . . . . . . . . . . . 170 1.2. Die Gemeinschaft von Tisch und Bett in der Ehe: Erec . . . . . . 178 1.3. Die Tischgemeinschaft in der Freundschaft: Iwein . . . . . . . . . 186 1.4. Fasten als Akt der Intimität: Willehalm . . . . . . . . . . . . . . . 190 2. Essen als Metapher der Intimität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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Inhalt
2.1. Jagd und Erotik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2.2. Liebe als Speise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.3. Süßes Herz: Herzmäre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2.4. Apfel und Ei: Engelhard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität . . . . . . . . . 223
1. Festmähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1.1. Hoffeste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1.2. Antifest: Nibelungenlied . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1.3. Essen als Übergangsritus: Königskrönung, Schwertleite und Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 2. Gastmähler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2.1. Gastfreundschaft als Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.2. Gastfreundschaft als Bündnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 2.3. Gastfreundschaft als rechtliche Verpflichtung . . . . . . . . . . . 287
Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Ausgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Einführung
1. Fragestellung und Methode 1.1. Hinführung: Das Rittermahl Rittermähler als kulinarische Events der Gegenwart Rittermähler und Rittergelage, die als Erlebnis für Singles, Paare und Familien oder als Team-Building-Maßnahme für Firmen verkauft werden, sind sehr beliebt. Der Anspruch dieser Rittermähler besteht darin, man könne das Mittelalter „hautnah“ erleben1 und genauso speisen „wie zu König Artus’ Zeiten“2. Dazu gehören meist ein historisches Gebäude als Veranstaltungsort, eine Giftprobe zu Beginn der Mahlzeit, das Essen mit den Händen und das Trinken aus einem Trinkhorn, die Bedienung durch Knappen, ein Unterhaltungsprogramm mit Spielleuten und Hofgauklern sowie der Ritterschlag zum Schluss. Die Texte, die für die verschiedenen Formen von Rittermählern werben, suggerieren Authentizität. Authentisch sollen nicht nur die Atmosphäre und der Ablauf der Mahlzeit sein, sondern auch das Essen selbst. Als typisch mittelalterlich gelten deftige und fette Speisen, die in großen Mengen angeboten werden: Bei solch einem Fest können Sie sich einmal so richtig auslassen, auf rustikale Art schlemmen und historische Unterhaltung erleben. […] Hier kann man sich kulinarisch verwöhnen lassen […] Schließlich ging es in vergangenen Jahrhunderten zu Hofe auch immer wieder feuchtfröhlich zu. […] Bei diesem Festschmaus werden nicht nur drei oder vier Gänge serviert. Es können […] bis zu acht Gänge auf den Tisch kommen. Ein Begrüßungsgetränk ist in der Regel auch noch dabei. […] Doch um was für Speisen handelt sich genau? Es ging im Mittelalter zünftig zu: Es erwar1 2
http://www.mydays.de/geschenkidee/ritter-essen-brueggen. Letzter Zugriff am 05.09.2016. Vgl. www.ritteressen.cc. Letzter Zugriff am 05.09.2016.
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Einführung
ten Sie deftige Suppen, würzige Brote mit Schmalz und Kräuterbutter, Schweinshaxe, Wildgulasch und andere Leckereien.3
Der Werbetext evoziert das Bild einer üppig gedeckten Tafel, auf die mit jedem der zahlreichen Gänge neue und reichhaltige Speisen aufgetragen werden. Zudem fordert er die potenziellen Kunden explizit dazu auf, beim Essen ordentlich zuzulangen, da sich dies für ein mittelalterliches Mahl so gehörte. Auch der Werbetext des niederrheinischen Ritterguts Brüggen begründet die Aufforderung, viel zu essen, mit der Gewährleistung der Authentizität des Ereignisses: Schon im Mittelalter wurde geschlemmt, auf dass sich der Leibriemen spannte. Also lockern Sie nun Ihren Gürtel, damit Sie die nächsten Leckerbissen genießen können. […] Weiter geht die Schlemmerei – mit Spießbraten vom Buchenfeuer, Sauerkraut und Semmelknödeln. Zum süßen Abschluss passt nun auch noch ein rustikaler Obstsalat aus dem Garten des Pfaffen hinein – oder nicht? 4
Neben der Betonung der Menge und Vielfalt an Speisen und der Aufforderung zum mittelalterlich-ungehemmten Verzehr berufen sich viele Werbetexte für Rittermähler auf berühmte Charaktere des Mittelalters. So bietet beispielsweise das hessische Schloss Auerbach ein „Nibelungenrittermahl“ an5. Beliebt sind jedoch vor allem Verweise auf König Artus und seine Tafelrunde: Mit einem Ritteressen bzw. Rittermahl können Sie in geselliger Runde erleben, wie zu König Artus’ Zeiten gelebt und gespeist wurde. 6
Das entsprechende Rahmenprogramm und die einzelnen Elemente des Rittermahls, ein reichhaltiges Angebot an Speisen, der Verzehr mit den Händen und die ungehemmte Schlemmerei, sollen den Besucher möglichst nahe an die Lebenswirklichkeit von König Artus und seinen Rittern der Tafelrunde heranführen. Diese Authentizität, die von den Texten immer wieder in den Vordergrund gerückt wird, beruht jedoch meist nicht auf gut recherchierten historischen Erkennt-
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www.ritteressen.cc. Letzter Zugriff am 05.06.2016. Vgl. http://www.mydays.de/geschenkidee/ritter-essen-brueggen. Letzter Zugriff am 05.09.2016. Vgl. http://rittermahle.eu/index.cfm/kat_Id/185/pkkat_Id/452. Zugriff am 05.09.2016. www.ritteressen.cc. Letzter Zugriff am 05.09.2016.
1. Fragestellung und Methode
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nissen, sondern umfasst vor allem moderne Klischees7. So entsprechen die bei Mittelalteressen angebotenen Speisen in der Regel nicht den damals verzehrten Gerichten8. Auch die Verweise auf König Artus oder die Nibelungen decken auf, dass es bei Rittermahl-Veranstaltungen nicht um historische Genauigkeit geht, sondern um das Ausleben einer Fantasie. Bei König Artus und seinen Rittern handelt es sich ebenso wie bei den Nibelungen nicht um historische, sondern um literarische Figuren. Die Werbetexte schaffen somit keinen Bezug zur historischen Realität, sondern zur mittelhochdeutschen Literatur, die auf diese Weise praktisch zur Referenz für die im Internet angepriesenen kulinarischen Veranstaltungen wird.
Rittermähler in der höfischen Literatur des Mittelalters In der höfischen Epik des Hochmittelalters (ca. 1150 bis 1250), zu der auch das Nibelungenlied und die deutschsprachige Artusliteratur zählen, spielt das Essen immer wieder eine zentrale Rolle. Häufig und ausführlich beschreiben die höfischen Dichter Feste und Festmähler am Hof von König Artus. Vergleicht man jedoch die in den Werbetexten angepriesenen Rittermähler mit den Darstellungen von Festessen in der höfischen Literatur um 1200, so lässt sich eine deutliche Diskrepanz feststellen. Das Bild, das die mittelhochdeutschen Dichter von dem Verhalten vorbildlicher Ritter bei höfischen Festen entwerfen, kontrastiert mit der oben beschriebenen modernen Vorstellung von mittelalterlichen Essgelagen. Hartmann von Aue schildert im Erec (um 1180) zwei festliche Situationen9. Bei Erecs Hochzeitsmahl werden Speisen im Überfluss und in großer Vielfalt aufgetragen. Hartmann betont allerdings, dass die höfischen Ritter sich bei Tisch zu betragen wissen und nur so viel essen, wie es die Höflichkeit erlaubt. Bei einem Mahl in der Burg Brandigan wiederum, wo Erec zu Gast ist, erweist sich der Burgherr als großzügiger Gastgeber und lässt eine große Menge an Speisen auftragen. Erec meidet die üppige Bewirtung jedoch und beißt nur dreimal von einem Huhn 7
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Auch Christian Rohr realisiert und kritisiert die inflationäre Verwendung des Begriffs „Authentizität“ in Bezug auf Mittelalter-Feste. Vgl. Ders.: Mittelalter-Festivals. Erlebte Geschichte oder greller Kommerz? S. 274. In: Lothar Kolmer/Christian Rohr (Hgg.): Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Beiträge des internationalen Symposiums in Salzburg 29. April bis 1. Mai 1999, 2000, S. 263–274. Vgl. Rohr, Mittelalter-Festivals, S. 263. Vgl. Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung herausgegeben von Thomas Cramer, Frankfurt, 2005.
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Einführung
ab, das erscheint ihm genug. Bei beiden im Erec beschriebenen Festen werden also übermäßige Mengen an Gerichten angeboten. Während Hartmann kaum erwähnt, was es bei den Festmählern zu essen gibt, betont er jedoch in beiden Szenen, dass sich die Ritter trotz des Übermaßes an Speisen nicht dem vrâze hingeben. Somit zeichnet sich in der höfischen Dichtung erstaunlicherweise das Gegenteil dessen ab, was heute unter ritterlichem Essverhalten verstanden wird. Hartmann von Aue propagiert im Erec entgegen den modernen Vorstellungen äußerste Zurückhaltung im Umgang mit dem Essen. Zutreffender ist jedoch die heutige Vorstellung in Bezug auf den Überfluss an Speisen auf der ritterlichen Tafel. So gilt es auch in der höfischen Literatur als ritterlich-vornehm, möglichst viele Gerichte anzubieten. Während die Gründe, bei einem umfangreichen modernen Rittermahl viel zu essen, durchaus nachvollziehbar sind (gezahlt wird schließlich in erster Linie für den kulinarischen Genuss), stellt sich die Frage nach der Ursache für das zurückhaltende Essverhalten der Ritter in der höfischen Literatur. Anhand der zahlreichen und ausführlichen Beschreibungen von Mählern lässt sich schlussfolgern, dass die Nahrung in der mittelhochdeutschen Epik von größter Bedeutung ist. Diese kann jedoch nicht darin bestehen, dass die höfischen Protagonisten ernährt werden. Neben der Beobachtung, dass die Ritter in der höfischen Literatur dazu neigen, bei Festmählern nur sehr wenig zu verzehren, ist evident, dass sich literarische Protagonisten überhaupt nicht ernähren müssen, da sie fiktionale Figuren sind. Das Essen in der höfischen Epik besitzt demnach eine hohe Signifikanz, erfüllt aber offensichtlich eine andere Funktion als die der Ernährung. Wenn Ernährung nicht der Zweck einer Mahlzeit ist, so kann das Essen in der Literatur des hohen Mittelalters dennoch dazu dienen, bestimmte Eindrücke zu vermitteln und Botschaften zu transportieren. Die gemeinsame Mahlzeit kann beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe demonstrieren. In der höfischen Dichtung existiert die Vorstellung, dass sich Adelige beim Essen vornehm zurückhalten, während Bauern gierig sind und viel verzehren. So codiert das zurückhaltende Essverhalten der Artusritter bei Hartmanns Schilderung von Erecs Hochzeitsmahl den Adelsstand, dem die Ritter angehören. Essen ist Teil des sozialen Habitus und die Einheitlichkeit des Verhaltenscodex für den Umgang mit der Nahrung fungiert als Ausdruck der kollektiven Identität, während der Einzelne gleichzeitig durch die Partizipation an diesem Verhaltenscodex seine Zugehörigkeit beweist. Nahrung kann somit Aufschluss über die Identität literarischer Protagonisten geben. Die Mahlzeit dient dabei sowohl der Konstituierung sozialer Gruppen nach innen als auch der Demonstration nach außen. Das Mahl stärkt jedoch nicht nur den gesellschaftlichen
1. Fragestellung und Methode
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Zusammenhalt im Inneren und bildet diesen nach außen hin ab, es markiert auch die soziale Abgrenzung. Während Hartmann darauf eingeht, durch welches Essverhalten sich die Artusritter auszeichnen, hebt Wolfram von Eschenbach in seinem ParzivalRoman (um 1210) die soziale Exklusivität der Tafelrunde hervor10. Die Tischgemeinschaft der Tafelrunde sei nur verdienten Artusrittern zugänglich, betont Wolfram; wenn ein Unedler gemeinsam mit den edlen Rittern essen würde, so wäre dies eine sünde. Die bloße Erwähnung der Teilnahme eines höfischen Protagonisten an der Tischgemeinschaft der Artusritter ist somit ein deutliches Zeichen für seine hohe soziale Position, die Partizipation am Ehrenkodex der Tafelritter und die ritterliche Vorbildhaftigkeit. Hohe soziale Abkunft und besondere ritterliche Leistungen sind die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Gemeinschaft der Tafelrunde. Die Teilnahme an der Tischgemeinschaft der Artusritter schließt dabei das von Hartmann beschriebene zurückhaltende Essverhalten mit ein. Daher fällt es umso deutlicher auf, wenn ein Protagonist, der zum Artusrittertum bestimmt ist, sich bei Tisch abweichend verhält. Dies ist beispielsweise im Parzival der Fall. Obwohl Parzival königlicher Herkunft ist, sich durch ein besonderes ritterliches Talent auszeichnet und von König Artus, wenn auch nicht in einem formellen Akt, als Artusritter bestätigt wird, entspricht sein Essverhalten nicht im Mindesten den höfischen Verhaltensregeln. Nachdem Parzival den Artushof in dem Glauben verlassen hat, er sei nun ein Ritter, trifft er auf den Edelmann Gurnemanz, der ihn zum Essen einlädt. Bei diesem Mahl verhält sich Parzival maßlos, er fällt ausgehungert über die Speisen her, sodass sie im Nu verschwinden. Die Tatsache, dass sich Parzival, im Gegensatz zu Erec, beim Essen gierig verhält, ist ein deutliches Zeichen, dass er trotz seiner Anlagen noch nicht für die Aufnahme in die Artusgesellschaft bereit ist. Parzivals Essverhalten drückt somit seine defizitäre Identität aus und grenzt ihn sozial vom Artusrittertum ab. Nahrung und Essverhalten fungieren auf diese Weise als Code, der Bedeutungen vermittelt. Die Art der Speisen, der Umgang mit der Nahrung und die Gesellschaft bei der Mahlzeit geben auf nonverbaler zeichenhafter Ebene Hinweise auf verschiedene Parameter wie die kulturelle Zugehörigkeit, den sozialen Stand und die individuelle Situation.Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass die Nahrung zwei Funktionen besitzt: eine ernährungsphysiologische Funktion, der beispielsweise die modernen Rittermähler gerecht werden, und eine Bezeichnungsfunktion. Während reale Mähler immer beide Funktionen gleichzeitig erfüllen, ist 10
Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok. Stuttgart, 1981.
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Einführung
dies in der Literatur nicht der Fall. Literarische Figuren können sich, wie gesagt, durch Nahrung nicht ernähren. In der Literatur dient die Nahrung ausschließlich der Konstruktion von Zeichen, indem die literarischen Protagonisten bestimmte Speisen wählen und diese auf eine bestimmte Art und unter bestimmten Umständen verzehren. Der ernährende und lebenserhaltende Aspekt der Nahrung tritt dabei hinter ihrer semiotischen Funktion als Bedeutungsträger zurück. Somit erfüllt die Nahrung in der Literatur einzig den Zweck der Bezeichnung.
1.2. Forschungsstand und Fragestellung Forschungsstand Die Nahrung stellt einen interdisziplinären Forschungsgegenstand dar, der nicht nur von den Naturwissenschaften, sondern auch von den Forschungsrichtungen Ethnologie, Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kulturgeschichte, Religionswissenschaft, Völkerkunde, Film- und Literaturwissenschaft untersucht wird. Die Erkenntnisse dieser verschiedenen Fachrichtungen werden in der vorliegenden Untersuchung berücksichtigt. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich insbesondere soziologische, aber auch psychologische, anthropologische, theologische und kulturgeschichtliche Forschungserkenntnisse gewinnbringend auf die Literatur des Mittelalters beziehen lassen11. Richtungsweisend zur Untersuchung des Forschungsgegenstands „Nahrung“ sind insbesondere die Arbeiten von Norbert Elias, Georg Simmel, Pierre Bourdieu und Roland Barthes12. Keines dieser Werke behandelt jedoch ausschließlich die Nahrung; diese bildet meist nur den Teil einer größeren Untersuchung. Erst in den 1980er-Jahren erfolgte die Begründung einer eigenständigen Kulturforschung des Essens. Diese setzt es sich zum Ziel, die Komplexität des Kul11
Vgl. Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Bibliotheca Germanica Bd. 50, Tübingen/Basel, 2006, S. 22. 12 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. I: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlands, Frankfurt, 1978, Bd. II: Wandlungen der Gesellschaft, Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, Frankfurt, 1997; Simmel, Georg: Soziologie der Mahlzeit. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays der Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart, 1957; Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt, 2000; Barthes, Roland: Elemente der Semiologie. Frankfurt, 1983.
1. Fragestellung und Methode
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turphänomens Essen zu erfassen, und integriert sowohl naturwissenschaftliche und technische Betrachtungsweisen als auch soziale und kommunikative Funktionen. Im Rahmen dieser „Entdeckung“ der Nahrung als Kulturthema kam es zu einer Reihe interdisziplinärer Veröffentlichungen zum Thema Essen. Hierzu zählen in erster Linie die von Gerhard Neumann, Alois Wierlacher u. a. herausgegebenen drei Bände zum „Kulturthema Essen“, die Studie von Eva Barlösius zur „Soziologie des Essens“ sowie die Untersuchung „Warum sind wir so unersättlich“ von Thomas Kleinspehn13. Zu nennen sind außerdem die Publikationen von Hans Jürgen Teuteberg14, der Sammelband von Utz Thimm und Karl-Heinz Wellmann „Essen ist menschlich“, der die Nahrungskultur der Gegenwart behandelt, und neuerdings die Untersuchung Simon Reitmeiers „Warum wir mögen, was wir essen“15. Mit der Kulturgeschichte der Nahrung in Europa beschäftigen sich beispielsweise Massimo Montanari in „Der Hunger und der Überfluss“ und Stephen Mennell in „Die Kultivierung des Appetits“. Marvin Harris setzt sich in seiner Untersuchung zu „Wohlgeschmack und Widerwillen“ mit kulturspezifischen Nahrungsvorlieben und -tabus auseinander16. Zudem existieren Untersuchungen mit spezifischen Fragestellungen, z. B. zum Zusammenhang von Essen und Eucharistie oder kulturwissenschaftliche Studien zur Anthropophagie17. Insgesamt kann ein stark gestiegenes Interesse am Thema Nahrung in den letzten zwei Jahrzehnten konstatiert werden, das sich in einer Vielzahl an kulturwissenschaftlichen Publikationen niederschlägt. 13
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Gerhard Neumann, Alois Wierlacher u. a. (Hgg.): Kulturthema Essen, Bd. 1: Ansichten und Problemfelder, 1993; Bd. 2: Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, 1997; Bd. 3: Essen und Lebensqualität, 2001; Barlösius, Eva: Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. München, 1999; Kleinspehn Thomas: Warum sind wir so unersättlich? Über den Bedeutungswandel des Essens. Frankfurt, 1987. Vgl. auch Setzwein, Monika: Zur Soziologie des Essens. Tabu, Verbot, Meidung. Opladen, 1997. Vgl. beispielsweise Teuteberg, Hans Jürgen: Die Ernährung als psychosoziales Phänomen. Überlegungen zu einem verhaltenstheoretischen Bezugsrahmen. In: Hamburger-Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 14, 1979, S. 263–282. Vgl. Utz Thimm/Karl-Heinz Wellmann (Hgg.): Essen ist menschlich. Zur Nahrungskultur der Gegenwart. Frankfurt, 2003; Reitmeier, Simon: „Warum wir mögen, was wir essen“, Bielefeld, 2013. Vgl. Harris, Marvin: Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus. Vom Kannibalismus bis zum Hamburger – menschliche Essgewohnheiten. München, 1995. Vgl. z. B. Bachl, Gottfried: Eucharistie. Macht und Lust des Verzehrs. St. Ottilien, 2008. Fulda, Daniel/Pape, Walter (Hgg.): Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur. Freiburg, 2001.
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Einführung
Auch die Fachdisziplinen der Philologie haben sich bereits mit dem Gegenstand Nahrung befasst. In der romanistischen Literaturwissenschaft setzt sich Christine Ott in ihrer 2011 erschienenen Monografie „Feinschmecker und Bücherfresser“ mit dem Zusammenhang von Essen und Lesen auseinander und analysiert diesen anhand von französischen Romanen des 19. und 20. Jahrhunderts18. Für die germanistische Literaturwissenschaft ist insbesondere Gerhard Neumann zu nennen, der auf den Bezug zwischen Literatur und Essen verwiesen hat und diesen in zahlreichen Beiträgen untersucht19. Zudem sind Sammelbände zu verzeichnen, die sich mit Mählern in der Literatur beschäftigen20. In der germanistischen Mediävistik finden sich ebenfalls einige Untersuchungen zur Nahrung. Zu nennen sind die Arbeiten Trude Ehlerts, die neben der Darstellung spätmittelalterlicher Rezeptliteratur ausführliche Analysen einzelner Nahrungsszenen beispielsweise im Iwein Hartmanns von Aue geleistet hat und gemeinsam mit Irmgard Bitsch und Xenja von Ertzdorff den Sammelband zu „Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit“ herausgegeben hat21. Mit Einzelanalysen von Essszenen in der mittelhochdeutschen Literatur beschäftigt sich zudem Jan-Dirk Müller, beispielsweise in seinen Untersuchungen zum Nibelungenlied und den Werken Konrads von Würzburg22. Die 2011 erschienene Monografie „Essen 18 19
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Vgl. Ott, Christine: Feinschmecker und Bücherfresser. Esskultur und literarische Einverleibung als Mythen der Moderne. München, 2011. Vgl. z. B. Louis Malle/Jean-Claude Carrière: Milou en mai – Nahrungskette und narrative Struktur. In: Iris Därmann, Harald Lemke (Hgg.): Die Tischgesellschaft. Philosophische und kulturwissenschaftliche Annäherungen, Bielefeld 2008, S. 171–199; Das gute Essen bei Heinrich Heine. In: Cotta’s kulinarischer Almanach No 10, hrsg. von Erwin Seitz, Stuttgart 2002, S. 170–182; Das Ritual der Mahlzeit und die realistische Literatur. Ein Beitrag zu Fontanes Romankunst. In: Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr und Roger Paulin (Hgg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1998, Tübingen, 2000, S. 301–317. Vgl. z. B. Claudia Lillge/Anne-Rose Meyer (Hgg.): Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur. Bielefeld, 2008. Vgl. Ehlert, Trude: Das Rohe und das Gebackene. Zur sozialisierenden Funktion des Teilens von Nahrung im Yvain Chrétiens de Troyes, im Iwein Hartmanns von Aue und im Parzival Wolframs von Eschenbach In: Lothar Kolmer (Hg.): Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Beiträge des internationalen Symposions in Salzburg, 29. April bis 1. Mai 1999. Paderborn, 2000, S. 23–40 sowie Irmgard Bitsch/Trude Ehlert (Hgg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit: Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 10.–13. Juni 1987 an der Justus-LiebigUniversität, Giessen. Sigmaringen, 1990. Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen, 1998; Müller, Jan-Dirk: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulie-
1. Fragestellung und Methode
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nd Trinken im Mittelalter“ von Anne Schulz bezieht zwar auch die literaturwisu senschaftliche Analyse höfischer Romane mit ein, hauptsächlich des Erec Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue sowie des Eneasromans Heinrichs von Veldeke, setzt den Schwerpunkt jedoch auf die kulturwissenschaftliche Gesamterfassung des Phänomens Nahrung im Mittelalter mittels eines kunstgeschichtlichen, eines religionsgeschichtlichen und eines archäologischen Analyseteils23. Nur wenige Untersuchungen zum Thema Essen im Mittelalter24 sind also genuin literaturwissenschaftlich ausgerichtet. Umso wichtiger ist daher die 2016 erschienene Monografie „Essen – Trinken – Liebe. Kultursemiotische Untersuchung zur Poetik des Alimentären in Wolframs „Parzival“ von Anna Kathrin Bleuler, die sich mit dem Zusammenhang von Nahrung und Liebe im Parzival Wolframs von Eschenbach befasst. Bleuler bietet eine umfassende Analyse des Werkes unter diesem besonderen Gesichtspunkt, den sie in fünf Aspekte unterteilt: (1) kulinarische Objekte als Liebesgaben, (2) Mahl und Minne, (3) Nahrungsaufnahme und Minne, (4) Nahrungsmittel und Minne, (5) Jagd und Minne. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht das Potenzial alimentärer Handlungen und Objekte, als erotische „Bildspender“ zu fungieren, „die an der Semantisierung des dargestellten Minnegeschehens mitwirken“25.
Fragestellung Trotz dieser bedeutenden Einzelstudie ist die Nahrung als Gegenstand der mediävistischen Literaturwissenschaft noch nicht hinreichend erforscht. Die bisher vorliegenden mediävistischen Untersuchungen von Nahrungsszenen sind stets auf bestimmte Texte und Textpassagen bezogen und zielen somit nicht auf übergreirung in Ps.-Konrads „Halber Birne“. In: Ders. (Hg.): Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien. Berlin, 2010, S. 205–227. 23 Vgl. Schulz, Anne: Essen und Trinken im Mittelalter (1000–1300). Literarische, kunsthistorische und archäologische Quellen. Berlin, 2011. 24 Vgl. z. B. van Winter, Johanna Maria: Kochen und Essen im Mittelalter. In: Herrmann, Bernd (Hg.): Mensch und Umwelt im Mittelalter. Wiesbaden, 1996, S. 88–100; Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter. Darmstadt, 2006. Ausführliche Beschreibungen der Esskultur des Mittelalters finden sich zudem bei Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München, 2002 und Vogt-Lüerssen, Maike: Der Alltag im Mittelalter. Norderstedt, 2006 sowie Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt, 2005. 25 Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, S. 175.
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Einführung
fende Erkenntnisse ab26. Bisher gibt es eine Anzahl von Einzelanalysen, die sich mit der Bedeutung von Nahrung in der mittelhochdeutschen Epik beschäftigen27. Eine systematische Analyse der hochmittelalterlichen Esskultur und der Zeichen ebene der Nahrung in der Literatur dieses Zeitraums steht allerdings noch aus28. Diese Lücke möchte die vorliegende Untersuchung schließen. Die Beschreibung und Analyse der höfischen Esskultur des Hochmittelalters, die Rolle der Nahrung in der mittelalterlichen Dichtung und der Zusammenhang zwischen der Nahrung und Identität der Protagonisten stehen in ihrem Mittelpunkt. Die Studie bietet eine literaturwissenschaftliche Analyse der mittelhochdeutschen Epik, zieht aber aus komparatistischem Interesse immer wieder auch die altfranzösischen Vorlagen mit ein, da es sich bei der mittelhochdeutschen Dichtung vielfach um deutschsprachige Bearbeitungen altfranzösischer Texte handelt. Freilich setzen die deutschen Bearbeiter eigene Akzente und gestalten die Vorlagen in vielen Punkten mehr oder weniger stark um. Die Untersuchung behandelt ein breites Spektrum der höfischen Literatur zwischen 1170 und 1270, sodass sich das Textkorpus über eine Spanne von etwa 100 Jahren erstreckt. Alle berücksichtigten Texte entstammen der höfischen Epik. So gehören der Erec und der Iwein Hartmanns von Aue und der Parzival Wolframs von Eschenbach der Gattung des Artusromans an. Der Eneasroman29 Heinrichs von Veldeke vertritt die Gattung des Antikenromans. Hartmanns Gregorius30, eine höfische Novelle, wird dem legendenhaften Erzählen
26 Vgl. z. B. LeGoff, Jacques: Kleidungs- und Nahrungskode und höfischer Kodex in Erec et Enide. In: Ders.: Phantasie und Realität des Mittelalters, Stuttgart, 1990, S. 201–217; Feistner, Kulinarische Begegnungen; Nitsche, Barabara: Die literarische Signifikanz des Essens und Trinkens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Historisch-anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. In: Euphorion Bd. 94, Heft 3, 2000, S. 245–271. 27 Vgl. Feistner, Kulinarische Begegnungen: Konrad von Würzburg und „Die halbe Birne“, S. 291. In: Dorothea Klein (Hg.): Vom Mittelalter zur Neuzeit. Festschrift für Horst Brunner. Wiesbaden, Reichert, 2000, S. 291–304. 28 Bumke stellt die hochmittelalterliche Esskultur präzise dar; diese Darstellung umfasst jedoch nur ein Kapitel. Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. München, 1986, S. 240–275. 29 Vgl. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart, 2010. 30 Vgl. Hartmann von Aue: Gregorius. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Friedrich Neumann, Übertragung von Burkhard Kippenberg, Nachwort von Hugo Kuhn. Stuttgart, 2005.
1. Fragestellung und Methode
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zugeordnet. Das Nibelungenlied31 und der Willehalm32 Wolframs werden der Heldenepik zugerechnet. Das Herzmäre33 Konrads von Würzburg repräsentiert eine spezifische mittelalterliche Gattung von Kurzerzählungen, nämlich das Märe. Die Vorlagennähe dieser Werke stellt sich unterschiedlich dar. So stimmen der mittelhochdeutsche Erec und der altfranzösische Text Erec et Enide34 vergleichsweise eng überein, während der Eneasroman und der Willehalm erhebliche Umakzentuierungen aufweisen. Zudem unterscheiden sich die Werke in text- und überlieferungsgeschichtlicher Hinsicht. Während von dem Nibelungenlied verschiedene Fassungen mit teils alternativen Szenarien bekannt sind, sind Epen wie der Willehalm Wolframs von Eschenbach oder der Tristan35 Gottfrieds von Straßburg fragmentarisch überliefert und nachträglich ergänzt worden; so der Tristan durch Ulrich von Türheim und Heinrich von Freiberg sowie der Willehalm ebenfalls durch Ulrich von Türheim. Zu beobachten sind zudem intertextuelle Verweise innerhalb des behandelten Textkorpus, wie z. B. zwischen dem Erec und dem Iwein oder dem Parzival und dem Willehalm, sowie Referenzen auf realhistorische Ereignisse, wie auf das Mainzer Hoffest von 1184 im Eneasroman. In Bezug auf die Darstellung von Nahrung und Essverhalten gibt es sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen den behandelten Werken. Gemeinsam ist den meisten Texten die zeichenhafte Abbildung der gesellschaftlichen Ordnung während des Vollzugs der Mähler. Sehr häufig finden sich zudem Stilisierungen idealtypischen höfischen Essverhaltens, wie z. B. im Erec oder auch im Tristan. So hebt Hartmann von Aue den idealen Umgang mit der Nahrung, der kennzeichnend für die höfische Gesellschaft ist, stark hervor. Wolfram von Eschenbach hingegen spielt mit der Nahrungsthematik und variiert diese stärker, indem 31 Vgl. Das Nibelungenlied. Nach dem Text von Karl Bartsch und Helmut de Boor ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart, 2003. 32 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. Berlin, 2003. 33 Vgl. Konrad von Würzburg: Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1968. 34 Vgl. Chrétien de Troyes: Erec et Enide. Altfranzösisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Albert Gier. Stuttgart, 2007. 35 Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn. Stuttgart, 1993.
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er sich beispielsweise durch einen ausgeprägten „Küchenhumor“ auszeichnet. Während Hartmann insbesondere im Iwein einen Zusammenhang zwischen Identität und Essen schafft, geht Wolfram stärker auf die Identitätsbildung und -darstellung anhand der Ernährung ein. Wolfram thematisiert zudem die leibliche Seite der Ernährung, was sich unter anderem in seinen Erzählerkommentaren im Parzival spiegelt, die stets auf den Hunger und die Essgier des Erzählers abzielen. Jedoch behandelt auch Hartmann die Thematik des Essens auf leiblicher Ebene, indem er im Gregorius anschaulich die Auswirkungen von höfischer Ernährung einerseits und Fasten andererseits auf den Körper des Protagonisten beschreibt. Während einige Werke im Kontext der Nahrung vor allem Identitätsproblematiken behandeln, machen sich andere stärker den Zeichencharakter bestimmter Speisen zunutze, die im Text immer wieder auftauchen. Hierzu zählen beispielsweise die Werke Konrads von Würzburg, insbesondere der Engelhard36 und das Herzmäre. In diesen Texten geht es weniger darum, wie sich die Identitätsentwicklung der Protagonisten anhand der Nahrung nachvollziehen lässt, als vielmehr um die Zeichenhaftigkeit bestimmter Speisen, die immer wieder auftauchen und so paradigmatische Bezüge schaffen.
Argumentationslinien In der folgenden Untersuchung des alimentären Codes soll geklärt werden, welche Bedeutungen Nahrung und Essverhalten in hochmittelalterlichen deutschen Erzählungen einnehmen und inwieweit Essen als Zeichen fungiert. Um das Phänomen Nahrung umfassend zu analysieren, werden alle Modi des Umgangs mit den Speisen beleuchtet. Dies beinhaltet zunächst die Untersuchung kultur- und zeitübergreifender Aspekte des Essens sowie hochmittelalterlicher Spezifika des Umgangs mit der Nahrung. Um der Frage nach dem Zeichencharakter der Nahrung nachzugehen, werden zunächst in einem kulturtheoretischen Analyseteil die Semiologie und Performativität von Nahrung geklärt. Anschließend wird auf die Doppelbedeutung der Nahrung als Ernährung und als Zeichen eingegangen und diese kulturanthropo36
Vgl. Konrad von Würzburg: Engelhard. Nach dem Text von Ingo Reiffenstein ins Neuhochdeutsche übertragen, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort versehen von Klaus Jörg Schmitz. Göppingen, 1989; Konrad von Würzburg: Das Herzmaere. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Edward Schröder. Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Heinz Rölleke. Stuttgart, 1968.
1. Fragestellung und Methode
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logisch hergeleitet. Des Weiteren sind die soziologischen, psychologischen und religiösen Implikationen der Nahrung in der westlichen mittelalterlichen sowie in der modernen Gesellschaft zu klären. Ein weiterer kulturgeschichtlicher Analyseteil untersucht anschließend die hochmittelalterlichen Konventionen im Umgang mit der Nahrung, die unterschiedliche Verteilung von Nahrung auf die verschiedenen gesellschaftlichen Stände, die damit verbundenen Essgebräuche, die verschiedenen Formen der Mahlgemeinschaften und die Kontexte des Verzehrs. Nach der umfassenden Klärung der kulturtheoretischen und kulturgeschichtlichen Aspekte des Essens geht der literaturanalytische Hauptteil der Untersuchung schließlich auf die unterschiedlichen Situationen, in denen Nahrung in der höfischen Epik verzehrt wird, ein. Dabei erscheint eine Strukturierung gemäß von drei Grundsituationen sinnvoll: alleine essen, zu zweit essen und mit vielen essen. Das Kapitel „Alleine essen – Codierung höfischer Identität“ untersucht den Bezug zwischen Nahrung und der Genese höfischer Identität und die damit verbundenen Mechanismen von Integration, Desintegration und Reintegration in ein höfisches Kollektiv. Das Kapitel „Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität“ widmet sich der Bedeutung von Nahrung im Zusammenhang mit Freundschaft, Liebe und Sexualität. Hier geht es zum einen um das gemeinsame Essen als Akt der Intimität, der beispielsweise in Form der Gemeinschaft von Tisch und Bett vollzogen wird, und zum anderen um die Funktion von Nahrung als Metapher der Intimität. Das Kapitel „Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität“ beleuchtet schließlich die Mähler im Kontext höfischer Feste wie Hoftage, Hochzeiten, Schwertleiten und Krönungen. Unterschieden wird dabei zwischen Tischgemeinschaften, die das Gelingen und Misslingen höfischer Ordnung widerspiegeln und beeinflussen, und der Funktion von Festmählern im Rahmen von Übergangsriten und Gastfreundschaften. Für eine systematische Analyse der Nahrung in der mittelhochdeutschen Epik hinsichtlich ihrer Bedeutungen werden folgende grundlegende Untersuchungskriterien herangezogen. Wichtig sind zunächst das Was und das Wer des Verzehrs, die Frage nach der Auswahl der Lebensmittel durch bestimmte Gruppen oder Personen. Die Wahl der Speisen erfolgt nach kulturellen Kriterien und dient dem Ausdruck von sozialen Differenzierungen. Gerade für das Mittelalter sind besondere Armen- und Herrenspeisen bekannt, da sich die sozialen Stände in hohem Maße über die Ernährung definiert haben. Nahrung diente im Mittelalter der
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Repräsentation37, daher konnte die Ernährung innerhalb eines Landes stark differenzieren, während die Ernährung innerhalb eines Standes über die Ländergrenzen hinweg Ähnlichkeit besaß38. Durch eine Untersuchung der mittelalterlichen Esskultur soll geklärt werden, welche Lebensmittel für welchen Stand bestimmt waren und warum. Die Zuordnung eines Lebensmittels zu einer bestimmten Gruppe von Personen setzt voraus, dass diesem Lebensmittel besondere Eigenschaften zugesprochen werden. Diese Besetzung der Lebensmittel mit Eigenschaften gilt es zu analysieren. Eine Rolle spielt zudem das Wie des Verzehrs, die Zubereitung der Speisen. Viele Speisen können auf sehr unterschiedliche Weise zubereitet werden. Mögliche Variationen sind z. B. rohe oder gekochte, gewürzte, frische oder konservierte, warme oder kalte Speisen. Die mittelalterlichen Formen der Zubereitung von Speisen beruhten nicht auf Zufall und auch nicht auf Geschmack, sondern auf gesellschaftlichen Vorstellungen. So galt beispielsweise der Verzehr roher Speisen als ungesund und selbst Obst wurde häufig gekocht. Es soll herausgearbeitet werden, welche gesellschaftlichen Vorstellungen mit den unterschiedlichen Formen der Nahrungszubereitung verbunden sind. Des Weiteren ist die Art und Weise des Verzehrs von Bedeutung. Hierzu zählt die Präsentation der Speisen. Den einsamen Esser kannte das Mittelalter nicht, Essen und Trinken standen vielmehr im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens39. Die Oberschicht entwickelte einen außerordentlichen Tafelluxus und für die Mahlzeit bildete sich ein aufwendiges Zeremoniell heraus40. Häufig wurden zu besonderen Anlässen die Speisen gelb, blau, rot oder grün gefärbt, um die Gäste zu überraschen und zu erstaunen41. Das Hochmittelalter zeichnet sich somit durch eine hohe Ästhetisierung der Nahrung aus, die mit Geschmack oder Gesundheit in keinem Zusammenhang steht. Die Mahlzeit erweist sich vor allem als soziale und kulturelle Institution. Wie keine andere soziale Situation symbolisiert sie Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Nahrung stiftet kulturelle Identität, indem durch die Kontinuität der Ernährung ein Zugehörigkeitsbewusstsein zu einer bestimmten Gruppe geschaffen wird. Auf diese Weise werden bestimmte Speisen, Zubereitungsformen und Verhaltensweisen
37 Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur, S. 242. 38 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Bd. I, Frankfurt, 19, S. 158. 39 Vgl. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. I, S. 76. 40 Vgl. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. I, S. 86. 41 Vgl. Vogt-Lüerssen, Der Alltag im Mittelalter, S. 112.
1. Fragestellung und Methode
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zu typisch erachteten Formen42. Insbesondere das höfische mittelalterliche Mahl besitzt allerdings auch rechtliche Aspekte. Gleichzeitig stellt die Mahlzeit eine individuelle Situation dar. Der Vorgang des Essens ist immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Während die Gesellschaft Speisen als essbar oder nicht essbar bewertet, trifft das Individuum innerhalb dieser Auswahl noch eine persönliche Auswahl. Obwohl der Einzelne am Klassenhabitus (kollektive Identität) partizipiert, beweist er individuelle Identität durch sein Verhalten bei Tisch: durch die Menge an verzehrten Speisen, durch die Art und Weise des Verzehrs, durch die angenommene Rolle (Gast oder Gastgeber, Dame oder Ritter, höfisch oder nicht-höfisch). Schließlich gilt es noch, Nahrung und Mahl im religiösen Kontext zu untersuchen. Grundsätzlich kann zwischen profanen und sakralen Situationen des Verzehrs unterschieden werden. Eine in der höfischen Epik häufig erwähnte sakrale Mahlgemeinschaft stellt die christliche Eucharistie dar. Auch wenn christliche Zeremonien in der Regel nicht ausführlich beschrieben werden, so wird jedoch häufiger auf die Eucharistie angespielt oder profane Situationen christlich konnotiert.
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Vgl. Sandgruber, Roman: Österreichische Nationalspeisen: Mythos und Realität, S. 180. In: Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hgg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, S. 179–203.
2. Kulturtheoretische Perspektiven 2.1. Nahrung als Zeichen Nahrung als semiologisches System Essen dient nicht nur der Ernährung, sondern besitzt zudem einen Zeichencharakter. Nahrung erfüllt somit zwei Funktionen: eine physiologische Funktion und eine Bezeichnungsfunktion. Was, wo, wann, wie und mit wem gegessen und getrunken wird, ist von Bedeutung, da sich mittels dieser Parameter Rückschlüsse auf die kulturelle, soziale, individuelle und religiöse Identität ziehen lassen. Nahrung ist somit ein Kommunikationssystem, „ein Vorrat an Bildern, ein Regelwerk des Gebrauchs, des Reagierens und des Sich-Verhaltens“43. Sobald das Bedürfnis nach Nahrung Produktions- und Verbrauchsnormen unterworfen ist, wird es zur kulturellen Institution und unterliegt einer Strukturierung. Substanzen, Techniken und Gebräuche bringen ein System bedeutungserzeugender Differenzen hervor und begründen damit die alimentäre Kommunikation. Auf diese Weise fungiert jede Nahrung als Zeichen zwischen den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe44. Das Zeichen besteht Roland Barthes zufolge aus zwei Bestandteilen: dem Signifikat, d. h. dem Bezeichneten, und dem Signifikanten, d. h. dem Bezeichnenden45. Die Ebene des Signifikanten bildet die Ausdrucksebene und die Ebene des Signifikats die Inhaltsebene46. Der Signifikant ist ein Vermittler, der der Materie, wie beispielsweise der Nahrung, bedarf, um sich zu manifestieren. Signifikante, wie die Nahrung, verweisen auf etwas, das nur durch sie hindurch „sagbar“ ist47. Das Signifikat hingegen ist kein „Ding“, sondern dessen psychische Darstellung, also etwas Imaginäres48. Das Signifikat kann nur durch seinen Signifikanten erfasst werden. Die Bedeutung ist schließlich der Prozess, der Signifikant und Signifikat miteinander vereint und dessen Produkt das Zeichen ist49. Gesellschaftliche Bedeu43 Barthes, Roland: Für eine Psycho-Soziologie der zeitgenössischen Ernährung, S. 67. In: Freiburger Universitätsblätter 75, 1982, S. 65–73. 44 Vgl. Barthes, Für eine Psycho-Soziologie der zeitgenössischen Ernährung, S. 67. 45 Vgl. Barthes, Elemente der Semiologie, S. 31. 46 Vgl. Barthes, Elemente der Semiologie, S. 34. 47 Vgl. Barthes, Elemente der Semiologie, S. 37. 48 Vgl. Barthes, Elemente der Semiologie, S. 37. 49 Vgl. Barthes, Elemente der Semiologie, S. 41.
2. Kulturtheoretische Perspektiven
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tungen sind somit immer auf ein natürliches Substrat, wie die Nahrung, angewiesen: Die höfische Speise (Signifikant) bezeichnet die höfische Kultur (Signifikat). Jedes Zeichen impliziert insgesamt drei Beziehungen. Neben der beschriebenen inneren Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant existieren noch zwei äußere Beziehungen50. Die erste äußere Beziehung ist virtuell und äußert sich auf paradigmatischer Ebene; sie besteht zwischen dem Zeichen und einem spezifischen Vorrat anderer Zeichen, aus dem es herausgelöst wird, um in den Diskurs eingefügt zu werden. Hierfür ist das Vorhandensein eines Gedächtnisses von Formen notwendig. So darf beispielsweise an bestimmten christlichen Feiertagen kein Fleisch gegessen werden; „Fleisch essen“ steht systematisch im Gegensatz zu „kein Fleisch essen“. Die zweite äußere Beziehung ist aktuell und äußert sich auf syntagmatischer Ebene; sie besteht zwischen dem Zeichen und den anderen, ihm vorausgegangenen und folgenden Zeichen dieser Aussage. So gehören bestimmte Speisen zueinander und folgen in einer Menüordnung aufeinander, während andere Speisen nicht miteinander kombiniert werden können51. Besonders deutlich lässt sich das Funktionieren von Nahrung als semiologisches System bei der christlichen Abendmahlfeier beobachten. Bei der Eucharistie dienen der Messwein und die Hostie als Signifikanten. Durch das Sprechen der Einsetzungsworte vollzieht der Priester während der eucharistischen Liturgie den Vorgang der Transsubstantiation und wandelt damit den Wein in das Blut und das Brot in den Leib Christi. Die Bedeutung von Wein und Brot wechselt somit von einem Moment auf den anderen. Dabei bleibt die äußerliche Materie, der Signifikant, erhalten, aber die Substanz, das Signifikat, ändert sich. Vor der Konsekration besitzen Wein und Brot demnach eine andere Bedeutung und auch eine andere Funktion als hinterher. Im Rahmen der christlichen Eucharistiefeier sind Blut und Wein, Leib und Brot somit austauschbar, wobei sich nur das Signifikat, aber nicht der Signifikant ändert. Ebenso von Bedeutung sind die beiden äußeren Beziehungen des Zeichens, die syntagmatische und paradigmatische Ebene: So ist die Abfolge der eucharistischen Handlungen genau vorgeschrieben und jede Eucharistiefeier steht in der Tradition des Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern und verweist auf dieses zurück. Nahrung gehört wie Kleidung zu jener Gruppe semiologischer Systeme, die Roland Barthes „Funktions-Zeichen“ nennt, da sie utilitären, funktionalen 50 Vgl. Barthes, Literatur oder Geschichte. Frankfurt, 1981, S. 36. 51 Dasselbe trifft auf die einzelnen Teile einer Kleidungsart zu, die nach bestimmten Regeln miteinander verbunden werden müssen. Vgl. Barthes, Literatur oder Geschichte, S. 37.
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Ursprungs sind. Obwohl sie der Bezeichnung dienen, haben Nahrung und Kleidung eine Ausdruckssubstanz, deren Wesen nicht in der Bedeutung liegt52. Eine bestimmte Speise dient demnach dazu, eine Situation zu bezeichnen, aber sie dient auch der Ernährung. Funktions-Zeichen erzeugen demnach eine doppelte Bewegung, die es zu analysieren gilt. Die Ernährungsfunktion stellt dabei die denotative Ebene der Nahrung dar, während die Bezeichnungsfunktion ihre konnotative Ebene bildet. Die Konnotation ist laut Barthes ein zweiter Sinngehalt, dessen Signifikant durch die Denotation konstituiert wird. Diese Sinne (Konnotationen) sind jedoch weder im Wörterbuch noch in der Grammatik der Sprache zu finden53. Semiologisch gesehen sind die Konnotationen der Nahrung der Ausgangspunkt des alimentären Codes. Sie stellen einen Doppelsinn her und verändern damit die Reinheit der Kommunikation54. Barthes verweist allerdings auf die Polysemie der Nahrung55. Bestimmte Speisen sind ebenso wie Kleidungsstücke56 in unterschiedlichen historischen Epochen und in verschiedenen Gesellschaften mit verschiedenen oder sogar gegensätzlichen Bedeutungen belegt worden. So macht Hans Jürgen Teuteberg darauf aufmerksam, dass das Weißbrot im Mittelalter als Kennzeichen einer gehobenen Lebensführung galt, während der Verzehr von dunklem Brot und Brei auf einen niedrigen Stand schließen ließ. Im 21. Jahrhundert verhält es sich umgekehrt und das dunkle Roggenbrot stellt nun eine begehrenswerte Speise dar, da es als gesund gilt. Auch der Verzehr von Zucker, der erst zur Zeit der Kreuzzüge durch den Orienthandel nach Westeuropa gelangte, diente fortan als Statussymbol der sozialen Elite, während der Honig, mit dem bislang gesüßt wurde, zur Armenspeise verkam und als vulgär galt57. Seitdem der Zucker jedoch veralltäglicht ist und als Verursacher von Karies und Adipositas gilt, ist der Honig, der als „Biokost“ verzehrt wird, in der Popularität gestiegen58. 52 53 54 55 56 57
Vgl. Barthes, Elemente der Semiologie, S. 35. Vgl. Barthes, S/Z. Frankfurt, 1976, S. 11f. Vgl. Barthes, S/Z, S. 13. Vgl. Barthes, Für eine Psycho-Soziologie der zeitgenössischen Ernährung, S. 72. Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 8. Vgl. van Winter, Johanna Maria: Kochen und Essen im Mittelalter, S. 89. In: Bernd Herrmann (Hg.): Mensch und Umwelt im Mittelalter, S. 88–100. 58 Vgl. Teuteberg, Hans Jürgen: Die Ernährung als psychosoziales Phänomen. Überlegungen zu einem verhaltenstheoretischen Bezugsrahmen, S. 271. In: Hamburger-Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik 14, 1979, S. 263–282. Vgl. auch Ders.: Kulturpsychologie des Geschmacks, S. 44f. In: Utz Thimm/Karl-Heinz Wellmann (Hgg.): Essen ist menschlich. Zur Nahrungskultur
2. Kulturtheoretische Perspektiven
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Die Austauschbarkeit und Widersprüchlichkeit dieser verschiedenen gesellschaftlichen Bedeutungen macht sichtbar, dass bestimmte Sinngehalte einem Gegenstand nicht von Natur aus zugeordnet sind, sondern dass sie vielmehr imaginäre Besetzungen darstellen, die aus semiotischen Operationen resultieren59. Im Folgenden wird die doppelte Bewegung des semiologischen Systems der Nahrung zu analysieren sein, wobei der Frage nachgegangen wird, inwiefern Nahrung und Nahrungsverhalten (Wahl der Speisen, Tischsitten, Zubereitung und Umgang mit der Nahrung, Tischgesellschaft etc.) als Signifikanten dienen. Barthes weist bei der Beurteilung von Nahrung und den Situationen der Zubereitung und des Verzehrs darauf hin, dass die Bezeichnungsfunktion der Nahrung, die auch protokollarischer Wert genannt werden kann, der physiologischen Funktion, dem ernährenden Wert, immer mehr vorangeht. Die Nahrung verliert dabei stetig an Substanz und gewinnt an Funktion60. Bei der Analyse der Bedeutungen von Nahrung in der Literatur ist zudem immer zu beachten, dass die durch Nahrung o. Ä. behauptete oder prätendierte (literarische) Identität ein fiktionales Konstrukt darstellt61, welches gerade durch die als Signifikanten fungierende Nahrung geschaffen wird. Diese konnotative Erzeugung einer Vorstellung kann als rhetorisches System bezeichnet werden62, da die Nahrung in der Literatur nicht gegenständlich ist, sondern nur beschrieben wird. Die Identität einer literarischen Figur basiert demnach auf der Zusammenfügung verschiedener Codes (u. a. dem alimentären und dem vestimentären) zu einem semiotischen Ensemble63. Die Nahrung in der Literatur lässt sich somit als semiologisches System beschreiben, in dem die konnotative Ebene von Speisen ihre denotative Ebene überlagert.
Essen als performativer Akt, Ritual und rite de passage Nahrung besitzt in der Literatur Zeichencharakter und übernimmt im Prozess der Bezeichnung die Funktion des Signifikanten. Dabei ist es relevant, in welchen Situder Gegenwart, S. 42–50. 59 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 8. 60 Vgl. Barthes, Für eine Psycho-Soziologie der zeitgenössischen Ernährung, S. 73. 61 Vgl. Barlösius, Eva/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen: Leitgedanken über die Zusammenhänge von Identität und kulinarischer Kultur im Europa der Regionen, S. 18. In: Wierlacher, Alois/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Kulturthema Essen. Essen und kulturelle Identität: europäische Perspektiven. Berlin, 1997, S. 13–23. 62 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 11. 63 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 36.
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ationen Nahrung eingesetzt wird und welchen Zweck sie erfüllt, wenn sie nicht der Befriedigung des Hungerbedürfnisses dient. Um den Verzehr von Speisen gerade im öffentlichen Rahmen zu beurteilen, können John L. Austins Erkenntnisse zur Sprechakttheorie herangezogen werden. Austin widerlegt die Annahme, sprachliche Äußerungen besäßen eine rein deskriptive Funktion und weist darauf hin, dass einen Satz zu sagen in vielen Fällen bedeutet, etwas nicht nur zu äußern, sondern es zugleich auch schon zu tun64. Umgekehrt ist es häufig sogar unerlässlich, etwas zu sagen, um etwas zu tun65. Eine besondere Bedeutung nehmen Austin zufolge formelle Sprechakte im rituellen Kontext an, beispielsweise die Äußerung „Ich taufe“ im Rahmen der Taufhandlung, „Ja, ich will“ im Rahmen der Eheschließung oder „Ich spreche den Angeklagten schuldig“ im Rahmen des Gerichtsprozesses. Derartige sprachliche Äußerungen bezeichnet Austin als „performativ“, da das Tätigen der Äußerung mit dem Vollzug der Handlung gleichzusetzten ist. Ohne die sprachliche Äußerung kann die Handlung nicht vollzogen werden. Zur Gruppe der performativen Äußerungen zählt Austin vor allem vertragliche und deklaratorische Äußerungen. Damit die durch die Äußerung getätigte Handlung vollzogen ist, müssen allerdings die Umstände stimmen, der Sprechende muss beispielsweise zum Vollzug der Handlung ermächtigt sein. Austin nennt dies ein „übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmten konventionalen Ergebnis“66, bei dem das Äußern bestimmter Worte Teil des Verfahrens ist. Der performative Sprechakt ist somit nur ein Kriterium für eine erfolgreich vollzogene Handlung, in konventionalen Verfahren allerdings ein entscheidendes. So weist Austin darauf hin, dass viele performative Äußerungen dem rechtlichen Kontext angehören. Des Weiteren unterscheidet Austin zwischen „illokutionären“ und „perlokutionären“ Sprechakten. Während illokutionäre Sprechakte durch die sprachliche Äußerung eine Handlung vollziehen, kennzeichnen sich perlokutionäre Sprechakte dadurch, dass sie Folgeerscheinungen, Effekte und Wirkungen hervorrufen. Der illokutionäre Sprechakt ist die Tat, der perlokutionäre Sprechakt führt zu bestimmten Auswirkungen, die jedoch zeitlich nicht mit dem Sprechakt zusammenfallen67. 64 Vgl. Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words). Stuttgart, 2002, S. 29. 65 Vgl. Austin, Sprechakte, S. 35. 66 Vgl. Austin, Sprechakte, S. 37. 67 Vgl. Austin, Sprechakte, S. 117 ff. Vgl. auch Bulter, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt, 2006, S. 11.
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Austins Erkenntnisse zum Sprechen lassen sich gewinnbringend auf das Essen übertragen. Ebenso wie Sprechen kann Essen eine performative Handlung sein. Gerade bei offiziellen und rituellen Anlässen ist es ebenso Teil des Rituals, etwas zu essen, wie etwas zu sagen. Im frühen und hohen Mittelalter erfolgte ein großer Teil der Kommunikation mittels eines Repertoires an Zeichen68. Insbesondere im öffentlichen Raum, beispielsweise im Rahmen von Übergangs- und Schwellenriten69, dominierten laut Gerd Althoff rituelle Interaktionen, „in denen Zeichen aller Art Botschaften transportierten“70. Althoff bemerkt, dass sich diese Zeichenkommunikation besonders gut in fiktionalen Erzählungen der mittelalterlichen Literatur beobachten lässt, da sie dort eindringlich und ausführlich dargestellt wird71. Ebenso wie für Austins Sprechakte gelten auch für rituelle Kommunikationsformen im Mittelalter „Spielregeln“, die eingehalten werden mussten, damit die Kommunikation gelingen konnte72. Die rituelle Kommunikation unterteilt sich Althoff zufolge in Sprechakte und nonverbale Zeichen. Als immer wiederkehrendes Beispiel für ein nonverbales Zeichen wählt Althoff in seiner Untersuchung das Mahl, das nicht nur ein sehr altes, sondern auch ein kulturenübergreifendes Ritual darstellt. Mähler können beispielsweise zeichenhaft die Zugehörigkeit zum Kollektiv demonstrieren und vertiefen oder Versprechen, Bündnisse und Absprachen besiegeln73. Dabei eignet sich das gemeinsame Speisen für gemeinschaftskonstitutive und politische Zwecke, da es eine Atmosphäre des Friedens und Vertrauens erzeugt, nach innen ebenso wie nach außen74. So besiegelten Mähler, convivia, im frühen Mittelalter die Abschlüsse von politischen Bündnissen, die meist auf Frieden, Gemeinschaft und gegenseitige Verpflichtung ausgerichtet waren75. Das gemeinsame Essen diente dabei als öffentli68 Vgl. Althoff, Gerd: Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt, 2003, S. 19. 69 Zu Übergangs- und Schwellenriten allgemein siehe Ausführung unten zu den rites de passages, bezogen auf das Hochmittelalter siehe Kapitel zu Initiationsfesten. 70 Althoff, Die Macht der Rituale, S. 19. 71 Vgl. Althoff, Die Macht der Rituale, S. 20. 72 Vgl. Althoff, Die Macht der Rituale, S. 23. 73 Vgl. Althoff, Die Macht der Rituale, S. 23. Vgl. auch Ders.: Der Frieden-, Bündnis- und Gemeinschaftsstiftende Charakter des Mahles im frühen Mittelalter. In: Irmgard Bitsch, Trude Ehlert (Hgg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit: Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 10.–13. Juni 1987 an der Justus-Liebig-Universität, Giessen. Sigmaringen, 1990, S. 13–25. 74 Vgl. Althoff, Fest und Bündnis, S. 29. In: Detlef Altenburg (Hg.): Feste und Feiern im Mittelalter. Sigmaringen, 1991, S. 29–38. 75 Vgl. Althoff, Fest und Bündnis, S. 13, 30.
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che Demonstration von gegenseitiger Loyalität und Übereinstimmung. Der Bischof und Geschichtsschreiber Gregor von Tours († 594) schildert den Abschluss sogenannter merowingischer Schwurfreundschaften, bei denen dem Mahl eine vertragsbestätigende Funktion zukommt. So berichtet Gregor von einer Auseinandersetzung mit dem fränkischen König Chilperich I., bei der dieser ihm Speisen und Wein anbot, ohne zuvor geschworen zu haben. Gregor jedoch aß erst von den Speisen und trank von dem Wein, nachdem Chilperich den Schwur geleistet hatte, da das gemeinsame Essen den Abschluss der Verhandlungen bezeichnete76. Diese Mähler stellten rechtsrituelle Handlungen dar, die die Tischgenossen für die Zukunft verpflichten77. Rituelles Essverhalten im frühen und hohen Mittelalter war somit nicht nur für die Gegenwart, sondern, vergleichbar mit perlokutionären Sprechakten, auch für die Zukunft von Bedeutung. Genauso bedeutsam, wie etwas zu essen, kann es im öffentlichen Raum sein, etwas nicht zu essen. So ist überliefert, dass Heinrich IV. nach seinem Gang nach Canossa 1077 seinen Unmut nonverbal kundtat, indem er beim Mahl mit Papst Gregor VII. weder sprach noch aß78. Althoff hebt hervor, dass das Verhalten Heinrichs nicht etwa als schlechte Manieren zu deuten sei, sondern dass vielmehr daraus geschlossen werden könne, dass Heinrich den Frieden und das Bündnis mit Gregor nicht ernsthaft gewollt habe79. Auch im hohen Mittelalter besaß das Mahl eine rechtliche und sozialkommunikative Bedeutung. So war die Sitzordnung bei Tisch während der Mahlzeit streng reglementiert, da sie die soziale Hierarchie spiegelte und somit zeichenhaft abbildete80. Der adelige Gastherr saß entweder am Kopf des Tisches oder in der Mitte von dessen Längsseite. Je wichtiger der Gast war, umso näher saß er dem Gastherrn. In der Realgeschichte führte diese Regelung vermehrt zu Rangstreitigkeiten 76
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Vgl. Gregorii Turonensis Opera. Teil 1: Libri historiarum X, S. 220, Liber V, 18. In: Monumenta Germaniae Historica Scriptores rerum Merovingicarum (MGH SS rer. Mero.), hrsg. von Bruno Krutsch 1951. Vgl. Althoff, Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahls, S. 14. Die Darstellung findet sich in der Vita metrica S. Anselmi Lucensis episcopi auctore Rangerio Lucenci, S. 1224, V. 3205ff. In: Monumenta Germaniae Historica Scriptores in Folio (MGH SS) 30,2 hrsg. von Ernst Sackur u.a. 1934, S. 1152–1307: Quem vero lateat, qui spiritus intima vexat, /Cum neque letetur nec bona verba ferat, /Stet fixis occulis tacitus meditansque cibumque /Horreat in mensam pronus et ungue notans? Vgl. Althoff, Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahls im frühen Mittelalter, S. 13. Vgl. Althoff, Die Macht der Rituale, S. 22. Vgl. auch Bumke, Joachim: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, S. 248f.
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unter den Gästen81. In der Artusdichtung hingegen, in der alle Ritter gleichermaßen vortrefflich sind, wird dieses Problem durch die Einführung der Tafelrunde gelöst, an der die besten Ritter des Artushofs den gleichen Rang einnehmen82. Auch der rituelle Tischdienst hochrangiger Fürsten, die zu besonderen Anlässen die Aufgaben der Truchsessen und Mundschenken übernommen haben, diente dazu, die sozialen Positionen und die Hierarchie zu markieren. So berichtet der Chronist Arnold von Lübeck über das Festmahl beim Mainzer Hoffest von 1184, dass nur Könige, Herzöge und Markgrafen die Hofämter verwalten durften83. Dieser rituelle Tischdienst ist Althoff zufolge nicht nur als zeichenhafte Unterordnung zu verstehen, sondern auch als Ehrung84. Zum Spätmittelalter büßte das Mahl seine rechtsrituelle und zeichenhafte Bedeutung allmählich ein, was darauf zurückzuführen ist, dass das Recht immer stärker kodifiziert wurde85. Als weitere Gelegenheiten, neben solchen politischen Mählern mit Vertragscharakter, rituelles (Ess-)Verhalten auszuüben, bezeichnet Althoff in Anlehnung an den Ethnologen Arnold van Gennep die rites de passages, d. h. Übergangsund Schwellenriten, die individuelle Übergänge in ein überindividuelles Ordnungsmuster regeln86. Van Gennep weist in seiner Untersuchung der Übergangsriten darauf hin, dass in jeder Gesellschaft das Leben des Einzelnen darin besteht, „von einer Altersstufe zur nächsten und von einer Tätigkeit zur anderen überzuwechseln“87. Dieser Wechsel von einer sozialen Gruppe in die andere „nimmt den Charakter des speziellen Übergangs an, der […] durch bestimmte Riten […] gekennzeichnet ist“88. Innerhalb der Übergangsriten unterscheidet van Gennep drei rituelle Phasen des Übergangs: die Ablösungsphase, die sich durch Trennungsriten auszeichnet, die Schwellen- bzw. Übergangsphase, die den liminalen Zustand beschreibt, und die Angliederungs- bzw. Integrationsphase, 81 Bumke, Höfische Kultur, S. 250f. 82 Ebd., S. 251. Vgl. auch Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. Frankfurt, 1990, S. 182. 83 Officium dapiferi sive pincerne, camerarii vel marscali, non nisi reges vel duces aut marchiones amministrabant. Arnoldi chronica Slavorum, S. 152. In: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores 7, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum seperatim editi. Hrsg. Georg Heinrich Petz, 1868. 84 Vgl. Althoff, Die Macht der Rituale, S. 132. 85 Vgl. Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt, 2005, S. 110. 86 Vgl. Althoff, Die Macht der Rituale, S. 22. 87 Van Gennep, Arnold: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt, 1999, S. 15. 88 Van Gennep, Übergangsriten, S. 14.
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die die Wiedereingliederung in die Gesellschaft auf einem höheren sozialen Niveau darstellt89. Sowohl die mittelalterliche Königskrönung als auch die Schwertleite sind Übergangsriten90, die mit einem Festmahl abschließen. Dieses dient dazu, die gesellschaftlichen Veränderungen zu feiern und zu bestätigen91. Schwertleite und Königskrönung weisen die einzelnen Elemente aller drei Phasen des Übergangs auf. In der Ablösungsphase trennen sich der junge Fürst und der zukünftige König von ihrem bisherigen sozialen Status, indem sie ein Bad nehmen oder die Kleider wechseln92. Van Gennep zufolge fungieren Reinigungsriten wie Waschen oder Baden als Trennungsriten, die die Ablösung von der alten Welt bezwecken93. Am Abend vor der Schwertleite fastet und betet der Initiand94, häufig in Verbindung mit Nachtwachen in der Kirche95. Van Gennep hebt hervor, dass die Riten während der Schwellenphase häufig Nahrungstabus umfassen96. Mit der Umgürtung mit dem Schwert97 bzw. der Salbung und der Verleihung der Insignien ist der Übergangsritus vollzogen. Dem Fasten vor der Initiation steht das gemeinschaftliche Festmahl nach der vollzogenen Initiation gegenüber, mit dem die Schwertleite und die Königskrönung abschließen. Mittels des Festmahls wird der junge Fürst in die ritterliche Gemeinschaft aufgenommen bzw. der Vollzug der Königskrönung bestätigt und gefeiert. Der Ritus des gemeinsamen Essens und Trinkens ist laut van Gennep eindeutig ein Angliederungs- oder Binderitus98. Wie Schwertleiten und Krönungen markieren auch Hochzeiten einen bedeutenden gesellschaftlichen Sta89 Vgl. hierzu auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 342f. 90 Van Gennep zählt auch die Inthronisation des Königs zu den Initiationszeremonien und somit zu den Übergangsriten hinzu. Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 71. 91 Zum Krönungszeremoniell vgl. Marquardt, Rosemarie: Das höfische Fest im Spiegel der mittelhochdeutschen Dichtung. Göppingen, 1985, S. 36–52. 92 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 323. Insbesondere die Königskrönung ist mit zahlreichen Kleiderwechseln verbunden. Vgl. hierzu Kraß, Geschriebene Kleider, S. 93–109. 93 Vgl. Van Gennep, Übergangsriten, S. 29. 94 Vgl. Rösener, Werner: Schwertleite. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, Sp. 1646f. 95 Vgl. Orth, Elsbet: Formen und Funktionen der höfischen Rittererhebung, S. 163. In: Josef Fleckenstein (Hg.): Curialitas. Studien zu Grundfragen der höfisch-ritterlichen Kultur. Göttingen, 1990, S. 128–170. 96 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 78, 94. 97 Gebräuchliche zeitgenössische Termini für die rituelle Umgürtung mit dem Schwert sind ze man werden und ritter werden, vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 318. Diese Begriffe weisen auf den Initiationscharakter des Zeremoniells hin. Laut Marc Bloch handelt es sich bei der Schwertleite ganz klar um einen Initiationsritus. Vgl. Bloch, Marc: Die Feudalgesellschaft. Frankfurt, 1982, S. 375. 98 Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 37.
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tuswechsel. Van Gennep bezeichnet die Heirat als den wichtigsten Übergang von einer sozialen Kategorie zur anderen, da sie mit einem räumlichen Wechsel verbunden ist99. Neben Schenkungen, Tanz und Besuch fungieren Festessen als zentrale Riten der kollektiven Zeremonie100. Beim Festmahl im Rahmen der Hochzeitsfeier geht es laut van Gennep um zweierlei Formen der Essgemeinschaft. Zum einen dient das Hochzeitsmahl dazu, eine Gemeinschaft aller Anwesenden herzustellen, die die Eheschließung öffentlich anerkennt und feiert. Zum anderen bietet das Hochzeitsmahl den Ehepartnern die Gelegenheit, ihre Nahrung miteinander zu teilen, indem sie von derselben Speise oder demselben Geschirr essen101, um so ihre Zusammengehörigkeit performativ und vor Zeugen zu demonstrieren102.
2.2. Kulturanthropologische Aspekte des Verzehrs Die natürliche Künstlichkeit und das kulinarische Dreieck Die Nahrung ist das erste Primärbedürfnis des Menschen, sie dient der Reproduktion des Individuums, während die Sexualität die Reproduktion der Gattung gewährleistet103. Im Gegensatz zu anderen Primärbedürfnissen wie Kleidung und Wohnung nimmt die Nahrung eine Sonderstellung ein, da sie zwischen Natur und Kultur angesiedelt ist. Während auf Kleidung und Wohnung unter gewissen Umständen verzichtet werden kann, bleibt der Mensch auf Nahrung immer angewiesen. Eva Barlösius spricht von der doppelten Zugehörigkeit des Menschen, die sich idealtypisch in der Ernährung verkörpere, da diese eine „Tätigkeit auf der Grenzlinie von Natur und Kultur“ darstelle104. Über das Bedürfnis oder den Trieb nach Nahrung bleibe der Mensch stets mit der Natur verbunden. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie bezeichnet die doppelte Zugehörigkeit des
99 100 101 102
Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 114f. Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 122, 124, 127, 129. Vgl. van Gennep, Übergangsriten, S. 129. Grundsätzlich deutet eine von Mann und Frau geteilte Mahlzeit immer eine Hochzeit oder zumindest eine erotische Begegnung voraus, vgl. Kapitel zur Gemeinschaft von Tisch und Bett. 103 Nahrung und Sexualität werden auffällig oft miteinander in Bezug gesetzt. 104 Barlösius, Soziologie des Essens, S. 36.
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Menschen zu Natur und Kultur als „natürliche Künstlichkeit“105, die es dem Menschen ermögliche, sein Leben selbst zu bestimmen, da er im Gegensatz zum Tier nicht für eine bestimmte Lebensweise determiniert sei. Ebenso sei er nicht auf eine bestimmte Ernährungsweise festgelegt, sondern könne sich bis auf wenige Ausnahmen (giftige und unverdauliche Nahrung) seine Speisen selbst wählen. Menschen zählen zu den sogenannten Omnivoren, sie können also praktisch alles essen. Plessner betont jedoch, dass der Mensch, gerade weil er über keine natürliche vorbestimmte Lebensweise verfüge, von der Kultur abhängig sei und „ohne Sitte und Bindung an irreale Normen […] nicht existieren“ könne106. Zwischen das menschliche Bedürfnis nach Nahrung und dessen Befriedigung tritt das kulturelle System der Küche107. So kann der Übergang zwischen Natur und Kultur auf den Vorgang des Kochens der Nahrung zurückgeführt werden. Dem Verhältnis von Natur und Kultur und der sich daraus ergebenden Bedeutsamkeit der Zubereitung von Speisen widmet sich die strukturelle Anthropologie von Claude Lévi-Strauss. Lévi-Strauss geht davon aus, dass Gesellschaften sich Natur erst kulturell erschaffen, um sie als Zeichensystem zu nutzen. Er unterscheidet in seinem kulinarischen Dreieck zwischen roher, gekochter und verwester Nahrung. Für LéviStrauss besteht die wichtigste kulturelle Errungenschaft im Besitz des Feuers, das in erster Linie der Zubereitung der Nahrung dient. Das Kochen der Nahrung stellt die kulturelle Transformation des Rohen dar (im Gegensatz zur natürlichen Transformation, der Verwesung) und bildet die Basis der Kultur108. Im Kochen oder Braten der Nahrung sieht Claude Lévi-Strauss den entscheidenden Übergang zur Kultur. Er differenziert bei der kulturellen Verarbeitung der Nahrung jedoch zwischen dem Gebratenen und dem Gesottenen. Während das Gebratene unmittelbar mit dem Feuer in Berührung steht, unterliegt das Gesottene einem doppelten Vermittlungsprozess: einerseits durch das Wasser, in dem es liegt, und andererseits durch den Behälter, der beides enthält109. Das Gebratene besitzt demnach im Gegensatz zum Gesottenen eine höhere Affinität zum Rohen, vor allem, wenn es nicht ganz 105 Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin, 1975, S. 309. 106 Plessner, Die Stufen des Organischen, S. 316 107 Vgl. Neumann, Gerhard: „Jede Nahrung ist ein Symbol“, S. 387. In: Wierlacher, Alois/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen (Hgg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, S. 385–444. 108 Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Mythologica III. Der Ursprung der Tischsitten. Frankfurt, 1973, S. 511. 109 Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 513.
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durchgegart ist110. Zudem verkörpert das Gebratene die Ambiguität des Rohen und des Gekochten, der Natur und der Kultur111. Lévi-Strauss rechnet daher das Gebratene der Seite der Natur und das Gesottene der Seite der Kultur zu112. Allerdings weist Lévi-Strauss auch darauf hin, dass das Kochen mit Wasser das Fleisch erhält und somit Sparsamkeit evoziert, während das Braten mit Zerstörung und Verlust einhergeht. Er bezeichnet das Kochen daher als plebejisch und das Braten als aristokratisch. Dieser Aspekt von Verlust und Erhalt spielt Lévi-Strauss zufolge besonders in Gesellschaften eine Rolle, die Standesunterschiede betonen113. Der Zustand der Nahrung (roh, gekocht, verwest, gebraten, gesotten) ist somit von grundlegender Bedeutung für die gesellschaftliche Ordnung.
Tabu, Ekel und das radikale Imaginäre Gesellschaften zeichnen sich jedoch nicht nur dadurch aus, dass sie Speisen durch den Vorgang der Zubereitung kulturell überarbeiten, sondern auch dadurch, dass sie bestimmte Speisen wählen und andere verschmähen. In jeder Kultur dient nur ein kleiner Teil dessen, was für den Menschen potenziell essbar ist, auch als Nahrung. Die Nahrhaftigkeit ist somit nicht das einzige und auch nicht das wichtigste Kriterium für die Wahl einer Speise114. Der politische Philosoph Cornelius Castoriadis untersucht die Rolle, die das „radikale Imaginäre“115 bei der Bildung von Gesellschaften spielt. Laut Castoriadis müssen Gesellschaften immer die Produktion ihres materiellen Lebens und ihre Reproduktion als Gesellschaft organisieren. Die Organisation einer Gesellschaft stützt sich dabei nur in geringem Maße auf die Materialität der Dinge und entzieht sich Naturgesetzen und rationalen Überlegungen116. Zwar ist eine Gesellschaft auf die Erfüllung einer Reihe menschlicher Bedürfnisse (Nahrung, Kleidung, Sexualität) angewiesen; sie kann jedoch nicht darauf reduziert werden. Menschliche Gesellschaften zeichnen sich gemäß Castoriadis nicht nur dadurch 110 111 112 113 114
Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 516. Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 524. Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 514. Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 519. Vgl. Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt, 1990, S. 257f. 115 Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 218. 116 Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 250.
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aus, dass ihnen unzählige Möglichkeiten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse offenstehen, sondern auch dadurch, dass sie neue Bedürfnisse erfinden117. Diese Bedürfnisse sind an keinen bestimmten Gegenstand zu ihrer Befriedigung gebunden. Der Mensch kann somit nur existieren, „wenn er sich jeweils als ein Ensemble von Bedürfnissen und entsprechenden Gegenständen definiert, aber diese Definition stets wieder überschreitet“118. Menschliche Bedürfnisse basieren also nicht auf biologischen, sondern auf gesellschaftlichen Realitäten und werden erst von den Gesellschaften geschaffen. Erst durch die kulturelle Überarbeitung werden natürliche Bedürfnisse zum gesellschaftlichen Bedürfnis119. Auf diese Weise kann erklärt werden, warum Gesellschaften bei der Wahl ihrer Nahrung (und Kleidung) nicht den Kriterien der Nützlichkeit oder Rationalität folgen. Objekte werden von Gesellschaften mit einem Wert belegt, mit einer imaginären Bedeutung, die „realer [ist] als alles Reale“120. Das gesellschaftliche Imaginäre hat jedoch „kein eigenes Fleisch“121 und ist daher auf die Substanz von Bedeutungsträgern, also Signifikanten wie beispielsweise die Nahrung, angewiesen. Daher denotieren die imaginären gesellschaftlichen Bedeutungen nichts, sie konnotieren jedoch fast alles122. Die von einer Gesellschaft erzeugten imaginären Bedeutungen sind für das Funktionieren der Gesellschaft notwendig123, da sie Antworten auf essenzielle gesellschaftliche Fragen liefern, die Realität und Rationalität zu beantworten nicht in der Lage sind124. Auf diese Weise konstituiert das radikale Imaginäre die Identität einer Gesellschaft. Das Bedürfnis nach Nahrung wird also kulturell überarbeitet, um zum gesellschaftlichen Bedürfnis zu werden. Das physiologische Bedürfnis nach Nahrung wandelt sich zum gesellschaftlichen Bedürfnis nach der (prestigeträchtigen) Mahlzeit, genauso wie aus dem physiologischen Bedürfnis der Kleidung das gesellschaftliche Bedürfnis nach Mode wird. Demnach werden Speisen nicht vorrangig nach dem Kriterium der Nützlichkeit ausgewählt, sondern mit einem bestimmten Wert belegt und in eine hierarchische Ordnung gebracht125. Diese unterliegt jedoch 117 118 119 120 121 122 123 124 125
Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 199. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 233. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 257. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 351. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 273f. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 246. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 220. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 252. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 257f. Vgl. hierzu auch Neumann, Ger-
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nicht dem subjektiven Geschmack, sondern der kulturellen Bewertung126. In jeder Gesellschaft sind sowohl begehrte als auch minderwertige Lebensmittel bekannt127. So hat in jeder Kultur nur ein kleiner Teil dessen, was für den Menschen verfügbar, essbar und bekömmlich ist, auch tatsächlich als Nahrung gedient128. Dabei geht es Castoriadis zufolge nicht nur um das Kriterium der Verfügbarkeit: Erst das gesellschaftliche Bedürfnis macht das Knappe zum Erlesenen und nicht umgekehrt129. Was jeweils als schmackhaft, prestigeträchtig oder ekelhaft eingestuft wird, ist abhängig von kulturspezifischen Codierungen130: Weder Verfügbarkeit noch Seltenheit können erklären, warum in zwei vergleichbaren, räumlich und zeitlich benachbarten Kulturen Schnecken und Frösche hier auf der Tafel des Feinschmeckers, dort als zuverlässiges Brechmittel erscheinen.131
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Verfügbarkeit von Lebensmitteln keine Rolle spielt. So weist Wolfgang Schivelbusch darauf hin, dass Gewürze im Mittelalter nicht aufgrund ihrer Nahrhaftigkeit besonders begehrt waren, sondern vor allem deshalb, da sie aus dem Orient importiert wurden und daher schwer zu beschaffen und somit teuer waren132. Der Anthropologe Marvin Harris weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Kausalität bei der Wahl der Speisen in beide Richtungen verlaufen kann133. So können kulturelle und religiöse Nahrungstabus zwar ökologischen Faktoren zugrunde liegen, sie können aber auch selber Einfluss auf diese Faktoren nehmen. So führt Harris beispielsweise den Ekel vor der Milch,
126 127 128 129 130
131 132
133
hard: Einleitung. In: Neumann, Gerhard/Wierlacher, Alois/Wild, Rainer (Hg.): Kulturthema Essen. Essen und Lebensqualität. Natur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Frankfurt, 2001, S. 9–14, hier S. 10ff. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 258. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 257. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 258. Vgl. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 258. Vgl. Lillge, Claudia/Meyer, Anne-Rose: Interkulturelle Dimensionen von Mahlzeiten, S. 16. In: Ders. (Hgg.): Interkulturelle Mahlzeiten. Kulinarische Begegnungen und Kommunikation in der Literatur. Bielefeld, 2008, S. 11–20. Vgl. auch Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits, S. 17. Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 258. Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Die Gewürze oder Der Beginn der Neuzeit, S. 54. In: Utz Thimm/ Karl-Heinz Wellmann (Hgg.): Essen ist menschlich. Zur Nahrungskultur der Gegenwart. Frankfurt, 2003, S. 51–63. Vgl. Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 86.
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den viele kulturelle Gruppen in Asien, Afrika und Südamerika empfinden, nicht auf eine Laktoseunverträglichkeit zurück, sondern umgekehrt die Unverträglichkeit der Milch auf den Ekel134. Die Tatsache, dass Insekten in der westlichen Gesellschaft nicht verzehrt werden, weil sie schmutzig und ekelerregend sind, erklärt Harris wiederum mit der Tatsache, dass sie schmutzig und ekelerregend sind, weil sie nicht gegessen werden135. Das Festsetzen solcher Nahrungstabus erfüllt die Funktion, die soziale Ordnung zu stabilisieren, wobei die Tabus als Medien oder Träger normativer Regelungen fungieren136. Indem Speisen gewählt und auf eine bestimmte Art zubereitet und verzehrt werden, wird das Essen somit zu einem „verschachtelten Bedeutungssystem […], das zwischenmenschliche Beziehungen ausdrückt und normiert“137.
2.3. Soziologische Aspekte des Essens Soziologie der Mahlzeit Georg Simmel weist auf das Paradoxon hin, dass die Nahrung das „Gemeinsamste“ aller Menschen und der Verzehr von Speisen gleichzeitig das „Egoistischste“ des Individuums ist, denn „was der einzelne isst, kann unter keinen Umständen ein anderer essen“ und „auf das, was der eine haben soll, [muss] der andere unbedingt verzichten“138. Trotzdem, so argumentiert Simmel, kennzeichnet sich der Akt des Essens in der Regel nicht durch die „exklusive Selbstsucht“, sondern durch den Moment der Gemeinsamkeit. Gerade die physiologische Primitivität des Essens, die Notwendigkeit der Ernährung, die sich über alle Menschen erstreckt, ermöglicht die soziologische Bedeutsamkeit der Mahlzeit139. Die Partizipation vieler an derselben Speise besitzt eine gemeinschaftsstiftende Wirkung, indem jeder ein Stück des Ganzen zu sich nimmt und so das egoistisch Ausschließende jedes Essens 134 Vgl. Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 158. Vgl. auch Barlösius, Soziologie des Essens, S. 92. 135 Vgl. Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen, S. 164. 136 Vgl. Barlösius, Soziologie des Essens, S. 100. 137 Vgl. Vgl. Teuteberg, Die Ernährung als psychosoziales Phänomen, S. 270. 138 Simmel, Georg: Soziologie der Mahlzeit, S. 243. In: Ders.: Brücke und Tür. Essays der Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Stuttgart, 1957, S. 243–250. 139 Vgl. Simmel, Soziologie der Mahlzeit, S. 244.
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am vollständigsten überwunden wird. Dieses Prinzip liegt Simmel zufolge antiken Opfermählern, aber auch der christlichen Eucharistie zugrunde. Durch das kollektive Teilen der Nahrung konstituiert sich eine soziale Gruppe und die Mahlzeit wird zur Institution, die universelle Bedeutung und Gültigkeit besitzt. Keine andere soziale Institution besitzt das Potenzial, in ähnlicher Weise Gleichheit, Gemeinschaft und Zugehörigkeit zu bezeichnen140. Als Freund, als copain, bezeichnet man denjenigen, mit dem man das Brot teilt141. Da die gemeinschaftsbildende Wirkung der Mahlzeit so hoch ist, ist die Wahl der Tischgenossen umso bedeutsamer, wenn man sich mit ihnen sozialisieren oder eben gerade nicht verbrüdern will. Bei der Bildung von Mahlgemeinschaften ist schließlich zu beobachten, dass der Aspekt der Nahrungsversorgung in den Hintergrund tritt und der soziale Aspekt an Bedeutung gewinnt142. Das Teilen der Nahrung, die geschmacklichen Vorlieben, die Nahrungstabus und die Konventionen von Zubereitung und Verzehr bilden jedoch weiterhin die Basis der Gemeinschaftlichkeit. Jan Assmann zufolge ist kulturelle Identität das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich deren Mitglieder identifizieren143. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Kontinuität. Das Bewusstsein sozialer Zugehörigkeit beruht auf der Teilhabe am gemeinsamen Wissen und am gemeinsamen Gedächtnis144. So weist Roman Sandgruber darauf hin, dass nationale Identität vor allem durch solche Dinge und Handlungen hergestellt wird, die sich regelmäßig wiederholen, wie Sprache, Kleidung, Musik und Sport. Als besonders identitätsbildend hebt Sandgruber jedoch das Essen hervor. Gerade indem bestimmte Speisen, bestimmte Zubereitungsformen und bestimmte Verhaltensweisen zur Gewohnheit werden, schafft Essen Identität und Kontinuität145. Claudia Lillge und Anne-Rose Meyer machen in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass die Identifikation bestimmter Speisen mit bestimmten Nationalitäten so weit geht, dass Ethnien herabwürdigend mit den für sie typischen Speisen bezeichnet werden: „Krauts“, „Spaghettifresser“, „Kümmeltürken“. Auch die Verwendung des Kollektivsingulars im heutigen Sprachgebrauch, 140 141 142 143
Vgl. Barlösius, Soziologie des Essens, S. 166. Vgl. Barlösius, Soziologie des Essens, S. 15. Vgl. Barlösius, Soziologie des Essens, S. 171. Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München, 1999, S. 132f. 144 Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, S. 139. 145 Vgl. Sandgruber, Roman: Österreichische Nationalspeisen: Mythos und Realität, S. 180. In: Wierlacher, Alois/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Berlin, 1997, S. 179–203.
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die nicht beleidigend gemeint ist, verdeutlicht diese Identifizierung: Man isst „beim Italiener“, „beim Chinesen“, „beim Spanier“ etc.146 Speisen und Getränke signalisieren aber nicht nur die Zugehörigkeit zu bestimmten kulturellen Gruppen, sondern auch zu den verschiedenen Geschlechtern, Altersgruppen, religiösen Gruppen, Berufen und Schichten147. Neben der gemeinschaftsstiftenden Wirkung hebt Simmel noch eine weitere wichtige Funktion der standardisierten und reglementierten Mahlzeit hervor: die Verschleierung des primitiven Nahrungstriebs. Der Naturalismus des Essens wird Simmel zufolge durch die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten und die Regeln für die Form der Konsumierung überspielt148. Die Ästhetisierung der Mahlzeit ist somit darauf ausgerichtet, den Sättigungszweck zu verschleiern, eine Aufgabe, die die Gesellschaft besser erfüllen kann als der Einzelne149.
Zivilisationsprozess, Habitus und Distinktion Mit den Aspekten der Ästhetisierung des Essens und der Bildung von sozialen Gruppen, die sich durch bestimmte geschmackliche Vorlieben und einen bestimmten Umgang mit der Nahrung auszeichnen, beschäftigen sich die Studien von Norbert Elias und Pierre Bourdieu. In seinen soziogenetischen und psychogenetischen Untersuchungen zum Prozess der Zivilisation beschreibt Norbert Elias die Entstehung moderner westlicher Essgebräuche. Der Zivilisationsprozess beruht Elias zufolge auf der sozialen Distinktion der Oberschicht, die sich seit dem frühen Mittelalter durch eine progressive Verfeinerung der (Ess-)Sitten von unteren Schichten abgrenzt. Dabei hängen ständische Distinktion, Affektbeherrschung und die Verfeinerung der Sitten unmittelbar zusammen. Indem aufstrebende soziale Schichten das (Ess-)Verhalten der oberen Schichten imitieren, veranlassen sie diese zur fortwährenden Verschiebung ihrer Normen. Dabei bilden sich Peinlichkeits- und Schamschwellen heraus, die immer weiter vorrücken, während gleichzeitig eine kontinuierliche Zurückdrängung der Triebe und Affekte zu beobachten ist. Der Fremdzwang der Affektbeherrschung, der im frühen Mittelalter an den Höfen entstand, wird dabei vom
146 147 148 149
Vgl. Lillge/Meyer, Interkulturelle Dimensionen von Mahlzeiten, S. 13. Vgl. Sandgruber, Österreichische Nationalspeisen, S. 185. Vgl. Simmel, Soziologie der Mahlzeit, S. 245. Vgl. Simmel, Soziologie der Mahlzeit, S. 246.
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Individuum zum Selbstzwang umgeformt150. An den großritterlichen Feudalhöfen bildeten sich festere Konventionen der Umgangsformen durch eine Mäßigung der Affekte und eine Regelung der Manieren151. Durch die Art der Nahrung, des SichKleidens und des Sprechens formte die höfische Gesellschaft nicht nur ihre eigene Identität, sondern grenzte sich gleichzeitig nach unten ab. Die Ausbildung eines höfischen Habitus wird somit zum sozialen Distinktionsmittel. Insbesondere die Art der Nahrung und das Verhalten bei Tisch dienten als Mittel zur Ausprägung einer höfischen Identität, die sich gerade durch ihre Abgrenzung vom bäuerlichen Verhalten definiert. Während den Bauern unterstellt wurde, dass sie ihren Affekten und Trieben unmittelbar nachgäben, zeichnete sich die höfische Oberschicht durch zunehmende Mäßigung und Disziplinierung, vor allem beim Essen, aus. Die strengere Regelung des Verhaltens bildete für die Oberschicht ein wichtiges Instrument ihrer Überlegenheit, sie diente als Unterscheidungsmerkmal und als Prestige gebendes Kennzeichen152. Verstöße gegen diese Regelungen wurden daher von der Gesellschaft geahndet und eine Missachtung beispielsweise der Tischsitten konnte zu einem Ausschluss aus der Gesellschaft führen, die sich schließlich auch über diese Tischsitten definierte. Zumindest bewirkte sie eine Minderung des eigenen Prestiges; eine Verringerung des Ansehens in den Augen der anderen. Die Furcht vor einer solchen Sanktionierung wirkte daher als Triebkraft zur Aufrechterhaltung des Verhaltenscodes153 und hatte die Umwandlung der Fremdzwänge in Selbstzwänge zur Folge. Allerdings waren die höfischen Vorschriften, gerade in Bezug auf das Essen, nie so selbstverständlich, dass von ihnen gar nicht erst gesprochen werden musste154. Aus diesem Sachverhalt erklären sich das Vorhandensein und die Beliebtheit von Lehrdichtung und Tischsitten. Elias geht bei seiner Untersuchung auf die Verschiebung der Peinlichkeitsschwelle ein, die sich besonders deutlich im Umgang mit dem Essen nachweisen lässt. So galt der Anblick eines unzerstückelten toten Tieres auf dem Tisch im hohen Mittelalter als lustvoll, während er heute als unangenehm empfunden und daher vermieden wird155. Was damals allgemein als prestigeträchtig galt, wird heute als eklig und unästhetisch empfunden. Als Grund für die veränderte Wahrneh150 151 152 153 154 155
Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation II, S. 352. Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation II, S. 124. Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation II, S. 357. Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation II, S. 357. Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation II, S. 367. Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation I, S. 161.
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mung gibt Elias die Tatsache an, dass die Menschen im Lauf der Zivilisationsbewegung all jene Dinge zurückzudrängen suchen, die sie an sich selbst als „tierische Charaktere“ empfinden156. Dies wirkt sich auch auf die Verwendung von Essbesteck aus; während das Messer im Mittelalter als wichtigstes Essgerät galt, ist es heute mit negativen Werten und Tabus belegt: Angst, Peinlichkeit, Schuld. Im Zuge der Verfeinerung der Sitten wurde das Messer immer stärker vom Gebrauch bei Tisch zurückgedrängt. Unter diesen Gesichtspunkt fällt überhaupt die Benutzung des Essbestecks: Durch die Verwendung von Messer und Gabel, die nicht unbedingt notwendig sind, um den Verzehr einer Speise zu ermöglichen, soll eine Distanz zur Speise geschaffen werden157. Das Essen aus der Hand verknüpft den Essenden unmittelbar mit der Materie und gilt damit als Äußerung der ungezügelten Begierde158. Die Zerlegung und Zubereitung der Speisen werden hinter die gesellschaftlichen Kulissen, in die Küche, verlegt159. Mit der Zeit entwickelt sich ein immer stärkeres Peinlichkeitsgefühl, das sich in Bezug auf das Essen in einer Reihe von Verboten und Geboten niederschlägt, die darauf abzielen, die Notwendigkeit der Ernährung durch die Ästhetisierung des Prozesses der Nahrungsaufnahme zu verschleiern. Auf diese Weise entsteht eine paradoxe Situation, in der sich der Mensch symbolisch von der Speise abgrenzt, die er sich gerade einverleibt; allerdings ist gerade dieses Paradoxon erforderlich, um aus der Nahrung eine Speise zu machen160. Als täglich wiederkehrende Handlung löst die Mahlzeit zahlreiche Institutionalisierungen aus. Aus losen Moden, Gepflogenheiten und Konventionen entwickeln sich durch kontinuierliche Nachahmung zunächst Bräuche und Sitten und schließlich Rechts- und Wertesysteme161. Essgewohnheiten werden so zu gesellschaftlichen Institutionen und gehören zu denjenigen Eigenarten von Menschen und Kulturen, die sich ungeachtet technischer Neuerungen und Moden im kulturellen Wandel als Letztes ändern162. Elias verweist auf die höhere Wichtigkeit der ständischen gegenüber der territorialen Zugehörigkeit: So herrschte während der 156 157 158 159 160
Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation I, S. 162. Vgl. Lévi-Strauss, Claude: Das Rohe und das Gekochte, S. 431. Vgl. Simmel, Soziologie der Mahlzeit, S. 246. Vgl. Elias, Prozess der Zivilisation I, S. 163. Vgl. Fellmann, Ferdinand: Kulturelle und personale Identität, S. 35. In: Wierlacher, Alois/Neumann, Gerhard/Teuteberg, Hans Jürgen (Hgg.): Essen und kulturelle Identität. Berlin, 1997, S. 27–36. 161 Vgl. Teuteberg, Hans Jürgen: Die Ernährung als psychosoziales Phänomen, S. 277. 162 Vgl. Wierlacher, Alois: Einleitung, S. 2.
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Mahlzeit in jeder sozialen Schicht ein bestimmter Verhaltenscodex, der sich oft über das ganze Abendland erstreckte und der sich vom Verhalten anderer Stände deutlich unterschied. Daher waren die Unterschiede im Verhalten zwischen verschiedenen Ständen oft größer als zwischen regional getrennten Vertretern der gleichen sozialen Schicht163. Auch Pierre Bourdieus Untersuchung zu den feinen Unterschieden beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Verhaltensweisen der verschiedenen Stände. Anknüpfend an Elias prägte Bourdieu den Begriff des Habitus, der die charakteristischen Dispositionssysteme der verschiedenen Klassen bezeichnet164. Laut Bourdieu bildet sich innerhalb einer sozialen Klasse ein Verhalten heraus, das sich von dem anderer Klassen unterscheidet und das Bourdieu „Klassenhabitus“ nennt. Die Analyse der modernen französischen Esskultur steht in Bourdieus Studie an zentraler Stelle. Nahrung hat für Bourdieu zwei Seiten: die Substanz, die die materielle, nahrhafte Seite der Nahrung darstellt, und den Schein, die symbolische Seite der Nahrung165. Zusammen mit Kultur (Bücher, Theater, Musik etc.) und Repräsentation (Kleidung, Kosmetik, Körperpflege etc.) konstituiert Nahrung den Habitus166. Die Nahrung, die jemand zu sich nimmt, gibt somit einen sicheren Hinweis auf seine soziale Position. Der Geschmack ist wichtiges Mittel der Distinktion, er ist „inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse“167. Der Adel grenzt sich nicht nur durch die Auswahl der Lebensmittel und die damit verbundenen Kosten nach unten hin ab, sondern auch gerade dadurch, dass er in besonderem Maße dazu in der Lage ist, vulgäre Gegenstände (Kleidung, Küche, Wohnung) zu ästhetisieren168. 163 Vgl. Elias, Norbert: Über den Prozess der Zivilisation, S. 249. Auch unterscheiden sich die verschiedenen Stände durch die während der Mahlzeit verzehrten Speisen, während sich der Speiseplan von regional getrennten Vertretern derselben sozialen Schicht ähnelt. Vgl. Stephen Mennell: Die Kultivierung des Appetits. Geschichte des Essens vom Mittelalter bis heute. Frankfurt, 1988, S. 66. 164 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt, 2000, S. 25. 165 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 321. Dabei handelt es sich um dieselbe Unterscheidung, die Roland Barthes mit der Differenzierung zwischen ernährender und protokollarischer Funktion der Nahrung trifft und Hans Jürgen Teuteberg mit den Bezeichnungen ernährungsphysiologische Relevanz und kommunikativem Symbolgehalt der Nahrung. Vgl. Ders.: Die Ernährung als psychosoziales Phänomen, S. 269. 166 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 299. 167 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 307. 168 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 25, 80. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die unteren sozialen Klassen durch ein instrumentelles Verhältnis zum eigenen Körper aus, das seinen Aus-
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Während Kleidung und Wohnung modischen Schwankungen unterworfen sind, zeichnet sich der kulinarische Geschmack durch Kontinuität aus169. Der (kulinarische) Geschmack einer Klasse bildet den praktischen Operator für die Umwandlung der Dinge in ein Zeichensystem; die Unterschiede aus der physischen Ordnung der Dinge geraten durch ihn in die symbolische Ordnung signifikanter Unterscheidungen170. Nahrung wird somit zum Zeichen, an dem sich der soziale Stand zuverlässiger als an anderen Merkmalen ablesen lässt, da der kulinarische Geschmack einer bestimmten Schicht traditionell verankert ist. Obere und untere soziale Schichten unterscheiden sich somit in hohem Maße durch ihre Esskultur voneinander. Hierbei fungiert die Esskultur der Unterschicht als Negativfolie für jedweden Versuch der distinktiven Abgrenzung und Abhebung171. Durch die Wahl der Speisen unterscheiden sich jedoch nicht nur die sozialen Schichten voneinander, sondern auch die Individuen innerhalb einer Schicht. Indem eine bestimmte Nahrung verzehrt wird, kommt es zu einer Aneignung der Eigenschaften, die dieser Nahrung von der Gesellschaft zugesprochen werden172. Der Körper des Essenden wird auf diese Weise nicht nur zum Träger, sondern auch zum Produzenten von Zeichen173.
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druck im Ess- und Trinkverhalten, in der Körperpflege und Verhältnis zu Krankheit oder Gesundheitspflege findet. Vgl. ebd., S. 339. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 141. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 284. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 292. Bourdieu bezieht dies in erster Linie auf die soziale Unterscheidung von Mann und Frau, aber auch auf den angeblichen Einfluss einer bestimmten Speise auf die Physis jedes Menschen. Vgl. ebd., S. 308f. So zeichnet sich der Mann durch seine natürliche Vorliebe für Fleisch aus, während er beim Verzehr von Fisch der Gefahr läuft seine Männlichkeit einzubüßen. Die Frau dagegen wird schon in früher Kindheit zur alimentären Selbstbeschränkung erzogen, da sie angeblich nicht der selben Menge an Nahrung bedarf wie der Mann. Vgl. ebd., S. 313. Vgl. hierzu auch: Wirz, Albert: „Schwaches zwingt Starkes“: Ernährungsreform und Geschlechterordnung. In: Hans Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hg.): Essen und kulturelle Identität. Europäische Perspektiven, S. 438–455. Wirz legt dar, dass die kulinarische Geschlechterordnung der Verankerung der patriarchalen Grundordnung im Alltag dient. Geschlechtsidentität wird durch Nahrung gestiftet, bestätigt und nach außen demonstriert.; Sandgruber, Roman: Das Geschlecht der Esser. In: Ders.: Frauensachen, Männerdinge. Eine „sächliche“ Geschichte der zwei Geschlechter. Wien, 2006, S. 25–46.; Mellinger, Nan: Fleisch. Ursprung und Wandel einer Lust. Eine kulturanthropologische Studie. Frankfurt, 2000. Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 310.
3. Kulturgeschichtliche Perspektiven 3.1. Urszenen Sündenfall: Verlust göttlicher Gnade Im Alten und im Neuen Testament gibt es jeweils eine Schlüsselszene, bei der eine Nahrung im Fokus steht. Der Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis bildet den Mittelpunkt im alttestamentlichen Sündenfallmythos, während der Verzehr von Brot und Wein als Leib und Blut Christi das Zentrum der neutestamentlichen Abendmahlszene darstellt. Sündenfall und Abendmahl sind typologisch aufeinander bezogen: Bedingt die Ursünde, das Essen vom Baum der Erkenntnis, aus christlicher Perspektive den Verlust göttlicher Gnade, so stellt die Opferung Christi für die Sünden der Menschen die Erlösung dar und bewirkt die Wiedererlangung göttlicher Gnade. In der christlichen Mythologie ist das Schicksal der Menschen auf eine einzige Tat zurückzuführen: das Essen der verbotenen Frucht. Gleichzeitig begründet der Mythos vom Sündenfall den Beginn der Kultur im christlichen Weltverständnis: Hier wird der Übertritt vom Unbewussten der Kreatur ins Bewusstsein des Menschen als Kulturwesen im Essakt vollzogen174. Genesis 2 und 3 verhandeln drei entscheidende Themenbereiche menschlichen Lebens: Ernährung, Sexualität und Tod. Diese drei Bereiche werden immer wieder aufeinander bezogen und bedingen sich gegenseitig. Durch das Essen der verbotenen Frucht geraten Körper und Geist in ein widersprüchliches Verhältnis zueinander. Die Harmonie, in der der Mensch lebte, und der Einklang, in dem er mit Gott stand, werden zerstört. Im Mittelpunkt des Geschehens steht die Verletzung des Nahrungstabus. Nachdem Gott Adam erschaffen hat, mahnt er ihn, nicht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, da er davon sterben müsse: „Dann gebot Gott, der Herr, dem Menschen: Von allen Bäumen des Gartens darfst du essen, / doch vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse darfst du nicht essen; denn sobald du davon isst, wirst du sterben“ (Gen 2,16-17).175 Um Eva dennoch zum Essen der Frucht zu überreden, führt die Schlange als Argument 174 Vgl. Neumann, Gerhard: Das Gastmahl als Inszenierung kultureller Identität: europäische Perspektiven, S. 43. In: Hans-Jürgen Teuteberg/Gerhard Neumann/Alois Wierlacher (Hgg.): Essen und kulturelle Identität. Euroopäische Perspektiven, Berlin, 1997, S. 37–68. 175 Hier und im Folgenden zitiert nach der Einheitsübersetzung.
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die Erlangung von Wissen auf: „Darauf sagte die Schlange zur Frau: Nein, ihr werdet nicht sterben. / Gott weiß vielmehr: Sobald ihr davon esst, gehen euch die Augen auf; ihr werdet wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,4-5). Obwohl Eva sich dadurch überzeugen lässt, beruht ihre Entscheidung vom Baum der Erkenntnis zu essen auch auf dem alimentären Begehren nach der Frucht, die ihren Appetit auslöst (Gen 3,6: „Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden. Sie nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß“). Die Erkenntnis, die mit dem Verzehr verbunden ist, besteht zunächst im Bewusstsein der Sexualität. Augenblicklich nach dem Verzehr der Frucht registrieren Adam und Eva den Zustand der Nacktheit, was mit Erschrecken und Scham verbunden ist (Gen 3,7). In dieser Scham ist das Wissen um Geschlechtlichkeit und Sexualität enthalten. Zuvor empfand das paradiesische Paar die Nacktheit nicht als unsittlich, da es noch keine Begierde kannte. Sexualität und Scham sind nicht nur die unmittelbaren Folgen des Sündenfalls, sie sind zudem Bestandteil der göttlichen Bestrafung der Frau, die sexuelles Begehren und Reproduktion umfasst (Gen 3,16: „Zur Frau sprach er: Viel Mühsal bereite ich dir, sooft du schwanger wirst. / Unter Schmerzen gebierst du Kinder. / Du hast Verlangen nach deinem Mann; / er aber wird über dich herrschen“). Durch den verbotenen Essakt und die göttliche Bestrafung entsteht ein kausaler Zusammenhang zwischen Essen, Sexualität und Tod. Sexualität und Begehren dienen der Gewährleistung von Schwangerschaft und Geburt und somit der Reproduktion, die jedoch ihrerseits nur angesichts der Existenz des Todes notwendig wird. Essen führt hier zwangsläufig zum Gedanken an Sexualität; beide Formen der Reproduktion, die individuelle und die gesellschaftliche, werden in ihrer Entstehung und Bedeutung miteinander verbunden. Zuvor war es den Menschen möglich nackt zu sein, ohne sich begehren zu müssen, und die Früchte des Gartens zu genießen, ohne sich ernähren zu müssen bzw. ohne auf die Nahrung zum Erhalt des Lebens angewiesen zu sein. Dem sexuellen Begehren, das durch den Verzehr der Frucht erst ausgelöst wird, geht das alimentäre Begehren nach der Frucht voraus. In dem Moment, in dem der Mensch in die verbotene Frucht beißt, durchläuft er eine Metamorphose. Wie Eugen Drewermann darlegt, ändert sich nichts an der herrschenden Wirklichkeit; es ist dieselbe Realität wie zuvor, aber nun nicht mehr zum Heil des Menschen, sondern zu seinem Unheil176. Die Erkenntnis von Gut 176 Vgl. Drewermann, Eugen: Strukturen des Bösen, Bd. I. Die jahwistische Urgeschichte in exegetischer Sicht. Paderborn, 1988, S. 47.
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und Böse ist als das Wissen um die verschiedenen Bedeutungen eines Zustands zu verstehen. Zuvor war den Menschen nur das Gute bewusst. Die Arbeit im Garten wurde nicht als beschwerlich wahrgenommen, der Zustand der Nacktheit nicht als unangenehm (Gen 2,25). Nach dem Vergehen geht die göttliche Ordnung in ihr qualitatives Gegenteil über177. Die Fähigkeit der Erkenntnis von Gut und Böse bedeutet das Erkennen der schlechten Seite eines Zustands, indem die Nacktheit sofort als schlecht erkannt wird. Der Zustand der Nacktheit hat sich hierbei nicht verändert, nur seine Bedeutung ist mit einem Mal eine andere. Gleichzeitig löst der Mensch aber durch die Sünde, das göttliche Verbot zu überschreiten, das Entstehen des Bösen erst aus. Wie ihm zuvor der göttliche Atem durch die Nase eingehaucht worden war, der ihn belebt und ihm die Existenz in Unschuld und Unwissen verschafft hat, so führt sich der Mensch nun seine neue Form der Existenz durch den Mund selbst zu. Der Mensch ist aus dem Ackerboden geschaffen, der eine Art Ursubstanz für Menschen, Tiere und Pflanzen gleichermaßen darstellt. Doch erst durch die Aufnahme des göttlichen Atems erlangt der Mensch die göttlich gewollte Form der Existenz. Für eine Veränderung der Daseinsform ist ebenfalls eine Art der Aufnahme, dieses Mal durch den Mund, erforderlich. Durch die Einverleibung einer luftigen oder fruchtigen Substanz eignet sich der Mensch also gewisse grundlegende Qualitäten an, die er im Mythos nicht auf andere Weise erwerben kann. Um unschuldiges Nicht-Wissen oder schuldiges Wissen zu erlangen, muss der Mensch mit der mythischen Substanz vereinigt werden. Hierbei könnte die Luft, der Atem Gottes, auf eine himmlische Existenz verweisen, während die Frucht, vor der Gott warnt und die somit in einer Opposition zu Gott steht, schon auf die Notwendigkeit hindeutet, sich in der irdischen Existenz ernähren zu müssen. Das Motiv der durch die Schlange verführten Eva für den Biss in die Frucht besteht in der Erlangung der Gottgleichheit. Diese Erkenntnis soll durch den Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse erreicht werden. Nach dem Verzehr hat der Mensch diese Erkenntnis tatsächlich erlangt (Gen 3,22). Im Paradiesgarten steht jedoch noch ein zweiter Baum, der Baum des Lebens, den Gott sogleich für die Menschen unzugänglich macht. Gottgleichheit und Unsterblichkeit können somit nur durch das Essen von beiden Bäumen erreicht werden. Im Besitz ewigen Lebens war der Mensch vor dem Biss in die Frucht des Baums der Erkenntnis bereits gewesen. Durch den Verzehr der Frucht verwirkt der Mensch 177 Vgl. Drewermann, Strukturen des Bösen, S. 23.
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seine Unsterblichkeit; Wissen, Essen und Tod werden mythologisch miteinander verbunden. Paradoxerweise sollte durch den Verzehr der Frucht ein gegenteiliger Effekt erreicht werden. Dieter Froebe macht darauf aufmerksam, dass Evas Entscheidung von Lebenslust getragen ist: von Neugierde, von Hunger auf das Leben und auf die unbekannte Frucht und von Lust178. Das Leben der Menschen sollte durch den Verzehr bereichert und erweitert und nicht etwa beschränkt werden. So manifestiert sich in dieser Frucht das qualitative Gegenteil der göttlichen Schöpfung. Mit einem Mal sind die Menschen sterblich, was sich nach außen durch das Bedürfnis nach Nahrung und durch die Sexualität zeigt. Menschliches Vergehen und göttliche Strafe korrelieren miteinander: Der Griff nach der verbotenen Nahrung führt dazu, dass der Mensch von nun an gezwungen ist, sich zu ernähren; und das Wissen, das der Mensch so dringend erlangen wollte, führt zum Erkennen der eigenen Nacktheit und zum sexuellen Begehren. Somit bezieht sich die Konsequenz inhaltlich direkt auf das Vergehen und wird aufgeteilt zwischen Mann und Frau. Dem Leben im Paradiesgarten wird der Tod außerhalb des Gartens gegenübergestellt und die Existenz des Todes macht die Reproduktion notwendig. Während die Frau durch die Sexualität gestraft wird, durch Schwangerschaft, Geburt und das Verlangen nach dem Mann, wird der Mann durch die Mühsal bei der Beschaffung von Nahrung gestraft (Gen 3,17: „Zu Adam sprach er: Weil du auf deine Frau gehört und von dem Baum gegessen hast, von dem zu essen ich dir verboten hatte: So ist verflucht der Ackerboden deinetwegen. / Unter Mühsal wirst du von ihm essen / alle Tage deines Lebens“). Die Einheit zwischen Mensch und Ackerboden ist nicht mehr lebensspendend und ursprünglich, sondern bedrohlich und wird zum Zeichen für die Vergänglichkeit des Menschen. Der Mensch ist dazu verdammt, unter Mühen den ganzen Tag den Acker zu bearbeiten, um sich ernähren zu können, in dem Wissen, eines Tages zu genau diesem Acker wieder zurückzukehren (Gen 3,19: „Im Schweiße deines Angesichts / sollst du dein Brot essen, / bis du zurückkehrst zum Ackerboden; / von ihm bist du ja genommen. / Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück“). So hat er immer, während er versucht sich durch Nahrung am Leben zu halten, gleichzeitig den Tod vor Augen. Der verfluchte Ackerboden bringt keine Bäume mit süßen Früchten hervor, wie der Garten des 178 Vgl. Froebe, Dieter: Der Sonderfall des Menschen und der Sündenfall der Theologie. Eine literarische Auslegung der Vorgeschichte Israels (Gen 2, 4b-11,32) im Zusammenhang der hebräischen Bibel. Münster, 2004, S. 61.
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Paradieses, sondern ungenießbare Dornen und Disteln. Somit ist die zu verrichtende Arbeit nicht mehr nur die Pflege der Pflanzen, sondern Mühsal und Kampf ums Überleben. Der Ackerboden verkehrt sich in sein qualitatives Gegenteil: War er zuvor feucht und lebensspendend, so ist er nun staubig und erscheint als Zeichen für die Vergänglichkeit des Menschen. Der Mensch ist nicht mehr Teil des feuchten, lebendigen Ackerbodens, sondern des staubigen (Gen 3,19). Die Kreaturen der Schöpfung konstituieren sich vor und auch nach dem Sündenfall über ihre Nahrung, wobei Nahrung als Stiftung und Ausdruck von Identität fungiert. Vor dem Sündenfall stehen Adam und Eva eine Vielfalt köstlicher Früchte zur Verfügung, aus der sie frei auswählen können. Denn das Verbot, von einem bestimmten Baum zu essen, impliziert gleichzeitig die Erlaubnis, sich bei allen anderen Bäumen zu bedienen179. Durch den Biss in die verbotene Frucht ändert der Mensch nicht nur seine Identität, sondern seine gesamte Lebensform. Sein Leben wird er in Zukunft damit verbringen, Nahrung zu beschaffen, wobei er den Acker bearbeitet, dem er selbst entstammt. Er ernährt sich jetzt nicht mehr von den Früchten des Paradieses, sondern von dem Brot, das er durch die Kultivierung des Ackerbodens unter Schweiß und Mühsal herstellen muss. Die Schlange dagegen ist dazu verurteilt, am Boden zu kriechen und sich von Staub zu ernähren (Gen 3,14), was als Ausdruck ihrer niederen Existenzform zu verstehen ist, da sie weder Früchte noch Brot noch irgendeine Pflanze essen darf. Der Staub steht am untersten Ende der Nahrungshierarchie der Genesis, während die Paradiesfrüchte das erstrebenswerteste Lebensmittel darstellen. Alle drei am Sündenfall Beteiligten werden somit alimentär gestraft. Während Adam und Eva aus dem Paradies ausgeschlossen werden und sich statt von den paradiesischen Früchten vom Ertrag des Ackerbodens ernähren müssen, ist die Schlange dazu verdammt, Staub zu essen. Der christliche Ursprungsmythos basiert hauptsächlich auf alimentärem Geschehen. Der Vorgang des Essens ist in der Paradiesgeschichte entscheidend für die Erhaltung oder die Steigerung der Lebenspotenzen180, aber auch für den Verlust des Lebens. Das Leben der Menschen ist abhängig von ihrem Nahrungshandeln und umgekehrt ist das Essverhalten der Menschen Indikator für ihren Zustand. Die frei zugänglichen Paradiesfrüchte, die verzehrt werden können, ohne vorher schwere Arbeit zu leisten, und der Besitz ewigen Lebens kennzeichnen den Zustand im Para179 Vgl. Drewermann, Strukturen des Bösen, S. 56. 180 Vgl. Haag, Ernst: Der Mensch am Anfang. Die alttestamentarische Paradiesvorstellung nach Gen 2-3. Trier, 1970, S. 63.
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dies. Der Verzehr der verbotenen Frucht hat Sexualität und Tod zur Folge, obwohl sich die Menschen von dem Biss in die Frucht eine weitere Verbesserung ihres Zustandes erhofften. Jenseits des Paradieses ernährt sich der Mensch mühselig, von Paradiesfrüchten ist keine Rede mehr. Auch hier wird der Zustand der Menschen durch ihr Nahrungsverhalten ausgedrückt. Der Sündenfall stellt einen entscheidenden Einschnitt in die Form der menschlichen Existenz dar; indem die Daseinsform der Unschuld beendet wird, beginnt gleichzeitig eine neue Lebensform des Wissens, aber auch der Sünde und der Sterblichkeit. Da der Mensch sein Vergehen selbst verschuldet hat, bleibt ihm nur noch die Hoffnung auf die Gnade Gottes. Im hohen Mittelalter wurde der Apfelbiss als Erklärung für die Beschwerlichkeiten und Schlechtigkeiten des Lebens angesehen: für die hierarchische Gesellschaftsordnung, für die soziale Ungleichheit von Mann und Frau, für Krankheit und Tod, für Mühsal und Anstrengung, für das unfriedliche Verhältnis von Mensch und Tier, für die Schmerzen beim Gebären, das Schamgefühl und das sündhafte Begehren181. Dieses eine Vergehen ist so verheerend, dass es nicht nur als Ursache für die Trennung der Einheit von Mensch und Gott und für das Entstehen des Schlechten in der Welt fungiert. Darüber hinaus wird der Makel der Sünde, den Adam sich eingehandelt hat, beständig weitervererbt. Der hohe Stellenwert dieses Mythos in der hochmittelalterlichen Gesellschaft führt insbesondere zu einer Reihe von Vorurteilen gegenüber Frauen: Diese seien gefräßig, hätten immer Appetit und äßen am liebsten heimlich und alleine, wobei sie sich maßlos verhielten. Mittelalterliche Autoren plädieren dafür, dass die Sünde der Völlerei, begangen von der Urmutter Eva, auf alle ihre Töchter weitervererbt worden sei182.
Abendmahl: Wiedererlangung göttlicher Gnade Doch nicht nur bei dem Verlust der göttlichen Gnade, sondern auch bei deren Wiedererlangung stehen Speisen im Mittelpunkt des Geschehens. Kennzeichnet sich die Sündenfallszene durch einen verbotenen heimlichen Essakt, so ist die 181 Vgl. Klaus Schreiner: Si homo non pecasset. Der Sündenfall Adams und Evas in seiner Bedeutung für die soziale, seelische und körperliche Verfaßtheit des Menschen, S. 41f. In: Klaus Schreiner/Norbert Schnitzler (Hgg.): Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. München, 1992, S. 41–84. 182 Vgl. z. B. Andreas Capellanus: De Amore/Über die Liebe. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Florian Neumann. Mainz, 2003. Liber tertius: De vitiis mulierum (Über die Laster der Frau), S. 272f.
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Versöhnung zwischen Gott und den Menschen durch eine Mahlgemeinschaft geprägt, bei der Christus die Anwesenden ausdrücklich zum Verzehr von Brot und Wein auffordert. Mahlgemeinschaften fungieren in den Evangelien als Ausdruck von Verbundenheit und Zusammengehörigkeit. Die Mahlgemeinschaften Jesu haben eine lange Tradition; das Abendmahl ist das letzte Glied einer langen Kette von gemeinschaftlichen Mahlzeiten183. Die Tischgemeinschaften mit Jesus heben sich von den familiären Tischgemeinschaften ab, sie kündigen den Anbruch der Heilszeit an. Aus diesem Grund werden auch die Mahlgemeinschaften Jesu mit den Zöllnern und Sündern scharf verurteilt (vgl. Mt 11,18f; Lk 15,2). Die Mahlgemeinschaft ist eine Zeichenhandlung, die von allen verstanden wird. Das gemeinschaftsstiftende Mahl impliziert auch eine Verbundenheit mit Gott184. Das Brotbrechen zur Vermittlung des Segens vor Beginn der Mahlzeit und das Dankgebet, bei dem der Segensbecher herumgereicht wurde, waren fester Bestandteil der jüdischen Tischgemeinschaft185. Somit hat das alltägliche gemeinsame Essen eine religiöse Perspektive: Es ist rituell verbunden mit Lobspruch, Dankesgebet und Anamnese186. Auf diese Weise wird jede Mahlzeit aus dem Bereich des Profanen in den des Religiösen erhoben. Eine besondere Stellung kommt dem religiösen Opfermahl zu; hier werden Mahl, Opfer und Gedächtnis miteinander verbunden. Das letzte Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern findet zur Zeit des wichtigsten jüdischen Opferfestes, des Passa-Festes statt. An diesem Tag werden auf den Plätzen der Synagogen die Lämmer geopfert und die ungesäuerten Brote verzehrt. Das Fest erinnert an die Befreiung der Juden aus Ägypten, wobei die ungesäuerten Brote zum Symbol für die Befreiung werden (Ex 12,17). Die Synoptiker erwähnen diese ungesäuerten Brote explizit; der Tag des Passa-Festes ist der Tag der ungesäuerten Brote (Mk, 14,12; Lk 22,7; Mt 26,17). Bei diesem Fest stehen also die Befreiung, verkörpert durch die Brote, und das Opfer, verkörpert durch die Lämmer, im Vordergrund. Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob das Mahl mit den Jüngern am Abend des Passa-Festes stattfindet oder am Abend zuvor, sodass die Kreuzigung Jesu in dieselbe Stunde fällt wie die Schlachtung der Lämmer187. Paulus bezeichnet 183 Vgl. Jeremias, Joachim: „Das ist mein Leib...“. Calwer Hefte zur Förderung biblischen Glaubens und christlichen Lebens, Heft 122. Stuttgart, 1972, S. 7. 184 Vgl. Nocke, Franz-Josef: Sakramenten Theologie. Düsseldorf, 1997, S. 141. 185 Vgl. Jeremias, „Das ist mein Leib...“, S. 9. 186 Vgl. Nocke, Sakramenten Theologie, S. 142. 187 Bei Matthäus, Markus und Lukas ist das Abendmahl das Passa-Mahl, bei Johannes findet das
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Christus ausdrücklich als geopfertes Passa-Lamm (1. Kor 5,7). Die Exegeten weisen übereinstimmend auf die Verwendung einer Opfer-Terminologie zur Umschreibung der Vorgänge des Abendmahls hin. Während des gesamten Abendmahls ist Jesu Nahrungshandeln zeichenhaft. So deutet er zu Beginn des Essens den Verrat des Judas Iskariot voraus, indem er darauf hinweist, dass der Verräter gleichzeitig mit ihm die Hand in die Schüssel tauchen wird: Qui intingit mecum manum in paropside, hic me tradet (Mt 26,23). Im Verlauf des Abendmahls reicht Jesus den Jüngern Brot und Wein als seinen Leib und sein Blut: „Während des Mahls nahm Jesus das Brot und sprach den Lobpreis; dann brach er das Brot, reichte es den Jüngern und sagte: Nehmt und esst; das ist mein Leib. / Dann nahm er den Kelch, sprach das Dankgebet und reichte ihn den Jüngern mit den Worten: Trinkt alle daraus; / das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,26-28). Der Leib Jesu steht für die Person, das Blut hingegen für das Leben und das vergossene Blut für die Lebenshingabe188. Während die Synoptiker vom „Leib“ Jesu sprechen, ist bei Johannes explizit vom „Fleisch“ die Rede (Joh 6,53: „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht esst“). Mehr noch als „Leib“ veranschaulicht „Fleisch“ die Vorstellung von Jesus als Opferlamm. Die Speisen des Passa-Festes und ihre Bedeutungen (Erlösung und Opfer) werden aufgegriffen und thematisch auf die Handlungen Jesu bezogen. In der Brot- und Becherhandlung deutet Jesus Erlösung und Opfer voraus. Außerdem verweist das Blut durch die Bezeichnung „Blut des Bundes“ (Mt 26,28; Mk 14,24) auf die neue Diatheke189. Der Bund zwischen Gott und den Menschen kommt durch die Opferung der Lämmer und das Vergießen ihres Blutes zustande (Ex 24,8). Anschließend werden die Opferlämmer verspeist. Indem Jesus betont, dass sein Blut für die Menschheit vergossen wird, und indem die Jünger von Jesu Leib essen, wird der Opfercharakter der Mahlhandlung deutlich. Resultat dieser Handlung ist die Schaffung des neuen Bundes und die Vergebung der Sünden. Das Brechen und Austeilen des Brotes und das Trinken des Weins verbindet Jesus mit dem Wiederholungsbefehl zu seinem Gedächtnis (1 Kor 11, 24-25). Der Wiederholungsbefehl bezieht sich allerdings nicht auf die Deuteworte, wie häufig angenommen wird, sondern auf die Wieder-
Abendmahl einen Tag früher statt. 188 Vgl. Nocke, Sakramenten Theologie, S. 147. 189 Vgl. Betz, Johannes: Eucharistie in der Schrift und Patristik. Freiburg, 1979. Reihe: Handbuch der Dogmengeschichte Bd. IV, hrsg. von Michael Schmaus, S. 11.
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holung der Tischgemeinschaft als Messiasgemeinde190. Indem das Brot als Fleisch gebrochen und der Wein als Blut getrunken wird, wird das Opfer vergegenwärtigt, das Jesus als Erlöser bringt und durch das die Menschen von ihren Sünden befreit werden. Gleichzeitig verweist Jesus durch die Ankündigung, von nun an nicht mehr zu essen und zu trinken, auf seinen baldigen Tod. Jedoch kündigt er auch das Kommen des Reiches Gottes zu jenem Zeitpunkt an, wenn ihm die Nahrungsaufnahme wieder möglich sein wird: „Denn ich sage euch: Ich werde es nicht mehr essen, bis das Mahl seine Erfüllung findet im Reich Gottes / […] / Denn ich sage euch: Von nun an werde ich nicht mehr von der Frucht des Weinstocks trinken, bis das Reich Gottes kommt“ (Lk 22,16.18). Jesu Nahrungshandlungen sind somit Zeichen, die auf zukünftiges Geschehen verweisen. Neben der Schaffung des neuen Bundes und der Sündenerlösung eröffnet Christus einen eschatologischen Ausblick (Mt 26,29; Mk 14,25; Lk 22,16-18) und verbindet den Genuss seines Leibes und seines Blutes über den Glauben mit dem Leben (Joh 6,35; 6,51; 6,53-55; 6,56). Jesus bezeichnet sich selbst als „Brot des Lebens“, das Hunger stillt und Durst löscht, und verspricht das ewige Leben durch den Genuss seines Fleisches und Blutes. Paulus warnt allerdings davor, unwürdig von Jesu Leib zu essen und aus seinem Kelch zu trinken (1. Kor 11,27). Das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern begründet das christliche Sakrament der Eucharistie. Die Eucharistiefeier, die des Abendmahls gedenkt und den Bund erneuert, ist eine von zwei möglichen religiösen Mahlgemeinschaften. Die theologische Terminologie unterscheidet zwischen Konvivium und Kommunio191. Im Konvivium wird die Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen gestiftet, indem Gott ein Teil des Opfers oder der Mahlzeit übergeben wird. In der Kommunio dagegen wird der Gläubige im Mahl des Gottes selbst teilhaft. Der Mensch verleibt sich das göttliche Wesen ein, um mit ihm eins zu werden192. In der katholischen Kirche gilt der Verzehr des Leibes und des Blutes Christi als intimste Vereinigung und Kommunikation mit ihm. Das Abendmahl Christi mit seinen Jüngern stellte ursprünglich ein Sättigungsmahl dar, an dessen Beginn und Ende die Brot- und Weinhandlung steht. In der katholischen Kirche wurde dieses Mahl zu einer Mahlfeier stilisiert, bei der alle profanen Aspekte der Mahlzeit weggefallen sind. So unterscheidet sich auch die heilige oder kultische von der profanen Mahl190 Vgl. Jeremias, „Das ist mein Leib...“, S. 13. 191 Vgl. Ström, Ake V.: Typen sakralen Mahles. In: TRE, Bd. I, S. 44. 192 Vgl. Ström, Typen sakralen Mahles, S. 44.
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zeit dadurch, dass die kultische Mahlzeit nicht im physiologischen Sinne nahrhaft sein soll193. An der heiligen Kommunion erinnert nichts mehr an eine Mahlzeit, die Hostie ist nicht gekocht und zubereitet, sie wird nicht mit Messer und Gabel verzehrt. Der Verzehr von Leib und Blut ist aufgrund des Kannibalismus-Tabus ein viel diskutiertes Sakrament. So ruft die Selbstbezeichnung Jesu als lebendiges Brot und die Aufforderung zum Verzehr dieses Brotes bei den Juden Unverständnis und Kritik hervor (Joh 6,52). Auch im Mittelalter wurde über die Frage der Realpräsenz Christi diskutiert. Während Ambrosius von Mailand († 397) die These vertrat, dass Brot und Wein durch die Konsekration zum wahren Leib und wahren Blut Christi werden, war Augustinus († 430) der Auffassung, dass sich das Wesen von Brot und Wein durch die Konsekration ändere. Augustinus betonte somit den Zeichencharakter des Sakraments. Diese gegensätzlichen Thesen wurden im 9. und 11. Jahrhundert im Rahmen des ersten und des zweiten Abendmahlsstreits verhandelt, wobei sich die Differenzen hinsichtlich der Realpräsenz zuspitzten. Berengar von Tours († 1088), der Brot und Wein als Zeichen für die Gegenwart Christi verstand und dafür auf mehreren Synoden verurteilt wurde, musste 1059 schließlich ein extrem realistisches Glaubensbekenntnis unterschreiben, in dem er anerkannte, dass Jesus Christus nicht nur symbolisch, sondern in Wahrheit von den Händen der Priester angefasst und gebrochen und von den Zähnen der Gläubigen zerrieben wird194. Erst 1215 erkannte das vierte Laterankonzil unter Papst Innozenz III. die Realpräsenz Christi an und begründete somit die Transsubstantiationslehre195. Diese besagt, dass das Wesen der Hostie sich wandelt, während die äußere Form dieselbe bleibt196. Gerade durch die Stärkung der Realpräsenz-These wird die christliche Eucharistie zum ambivalenten Akt. Neben der Vereinigung mit Gott, der Erlösung der Sünden und der Stiftung des neuen Bundes impliziert der Verzehr von Leib und Blut auch Zerstörung und Aggression. Gottfried Bachl weist darauf hin, dass jede Nahrung, die verzehrt werden soll, immer zuerst getötet werden muss197. Nahrung, 193 Vgl. Josuttis, Manfred: Das heilige Essen: Kulturwissenschaftliche Beiträge zum Verständnis des Abendmahls. Stuttgart, 1980, S. 123. 194 Vgl. Nocke, Sakramenten Theologie, S. 163. 195 Vgl. Nocke, Sakramenten Theologie, S. 163f. 196 Vgl. Iserloh, Erwin: Das Abendmahlsverständnis in der Geschichte der christlichen Kirchen, S. 92. In: TRE Bd. I, hrsg. von Gerhard Müller u.a., Berlin, 1977, S. 58–131. 197 Vgl. Bachl, Gottfried: Eucharistie – Essen als Symbol? Zürich, 1983, S. 11.
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Tiere wie Pflanzen, wird zerkleinert und gekocht, ihre äußere Gestalt wird zerstört, vernichtet und getötet. Durch diesen Prozess der Zubereitung erst wird eine Substanz zur Nahrung. Der Vorgang der Nahrungsaufnahme ist damit zugleich vital und letal, Leben schaffend und Leben vernichtend. Wenn die Zubereitung und die Einverleibung der Nahrung abgeschlossen sind, ist von der ursprünglichen Substanz nichts mehr übrig; sie ist vollkommen im Essenden aufgegangen198. Somit ist es dem Essenden möglich, etwas Fremdes zu etwas Eigenem zu machen, es zu annektieren und es gleichzeitig auszulöschen. Durch die Aufnahme des fremden Stoffes gewinnt der Essende jedoch hinzu. Essen ist die innigste Form der Aneignung und bedingt gleichzeitig die völlige Zerstörung der anderen Substanz199. Bachl hält das Vorhandensein eines aggressiven Moments in der christlichen Eucharistie, im Verzehr von Jesu Leib und Blut, nicht für abwegig200. Aggressivität gegenüber Christus, Neid und der Wunsch der Tötung sind in der mediävistischen Forschung bereits im Zusammenhang mit den mittelalterlichen Passionsspielen diskutiert worden201. Es gilt allerdings zu berücksichtigen, dass die Passion Christi ein sehr emotionales Geschehen darstellt, während die Eucharistie einen ruhigen und feierlichen Charakter besitzt, der schwerlich Aggressionen aufkommen lässt. Auch Sigmund Freud betont die Ambivalenz der Einverleibung, die er als ursprünglich narzisstische „Art der Liebe“ bezeichnet, die jedoch die Aufhebung der Sonderexistenz des Objekts beinhaltet202. Freud zufolge geht es bei der Eucharistie, die er als Form des Totemmahls versteht, ebenso um die Identifikation mit dem Gottvater, wie um seine Tötung203. Die Inkorporierung in der Eucharistie 198 Vgl. Bachl, Eucharistie, S. 12f. 199 Die Angst davor, selbst gegessen zu werden, ist in der christlichen Tradition versinnbildlicht in der Vorstellung des Höllenschlunds, der alles in sich aufnimmt und verkleinert und verdaut. Vgl. Bachl, Eucharistie, S. 27. Das AT kennt allerdings auch nicht-zerstörerische Formen der Einverleibung, z. B. bringt die Einverleibung Jonas in den Bauch des Walfisches nicht Zerstörung, sondern Geborgenheit. 200 Vgl. Bachl, Eucharistie, S. 60. 201 Vgl. dazu Jutta Eming: Gewalt im Geistlichen Spiel: Das Donaueschinger und das Frankfurter Passionsspiel. In: The German Quarterly 78 (2005), S. 1–22. Eming betont, dass die Quälereien, denen Christus ausgesetzt ist, durch das Motiv der compassio nicht hinreichend erklärt werden können. Die Darstellung der Passion Christi ziele vielmehr auf ein breites Spektrum der Rezeptionspositionen ab, zu denen auch ambivalente Emotionen gehören wie Gefühle des Hasses und der Feindseligkeit. 202 Vgl. Freud, Sigmund: Triebe und Triebschicksale, S. 99. In: Ders.: Das Ich und das Es. Metapsychologische Schriften. Frankfurt, 2009. 203 Vgl. Freud, Totem und Tabu. Frankfurt, 2007, S. 209.
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stellt somit einen performativen Akt der Identifikation dar, wobei durch die Einverleibung des Gottes die Trennung zwischen Gott und Mensch aufgehoben werden kann204. Der Verzehr ist immer auch ein Machtakt205, der Mensch bemächtigt sich durch das Essen der Hostie des Gottes, der vernichtet wird. Somit sieht sich das christliche Abendmahl auch immer wieder mit dem Vorwurf der Anthropophagie konfrontiert, bei der sich der Essende ebenfalls mittels Identifikation die Kraft des Opfers aneignet206. Wie dem gläubigen Christen geht es auch dem Kannibalen beim Verzehr seines Opfers nicht um Sättigung, sondern um die höchste Form der Bemächtigung, um die zeichenhafte Assimilation der verzehrten Substanz und somit aller ihrer inhärenten Eigenschaften und Fähigkeiten.
3.2. Monastische Speisegemeinschaften Fasten und Askese in der Theologie der Kirchenväter Neben zeichenhaften Essakten bildet das Fasten ein wichtiges Element des spirituellen Lebens. Im Fokus der christlichen Askese steht meist die Mäßigung der Essgier, die besonders geeignet erscheint, die Bedürfnisse des Leibes zu unterdrücken und ihnen bewusst entgegenzuwirken. Grundsätzlich stellt die Askese immer eine Form von selbstgewählter Enthaltsamkeit dar und kann vom Verzicht auf gewisse Bequemlichkeiten bis hin zur Selbstquälerei reichen. In extremen Fällen wird die körperliche Abstinenz so weit betrieben, dass es nur zur Befriedigung der Grundbedürfnisse (Nahrung, Kleidung) kommt, wodurch der Körper malträtiert wird207. Für die Kirchenväter dient die Askese insbesondere der Bekämpfung von leiblichen Begierden und der Buße für begangene Sünden. In der Regel weisen die Kirchenlehrer jedoch darauf hin, die Askese nur so weit zu betreiben, wie es der Gesundheit zuträglich ist. In der Ordensregel des Basilius von Caesarea (330–379) sind Askese und Enthaltsamkeit fest verankert. Die Askese umfasst Mühe, Nachtwachen, Fasten und Keuschheit und dient der Abtötung von Wollust208. Basilius bezeichnet die Ursün204 205 206 207
Vgl. Lillge/Meyer, Interkulturelle Dimensionen von Mahlzeiten, S. 19. Vgl. Freud, Triebe und Triebschicksale, S. 231. Vgl. Fellmann, Kulturelle und personale Identität, S. 27. Vgl. Peyer, Hans Conrad: Gasthaus, Sp. 1132f. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. IV, Stuttgart, 1999, Sp. 1132–1134. 208 Vgl. von Balthasar, Hans Urs: Basilius, S. 88f. In: Ders. (Hg.): Die großen Ordensregeln. Einsiedeln, 1980.
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de als Folge der Unenthaltsamkeit und führt als Vorbilder der Enthaltsamkeit Moses, Elias und Johannes den Täufer an. Er weist jedoch darauf hin, dass er das Fasten nicht als vollständige Abstinenz von Speisen versteht, da diese den Körper zerstört, sondern als Verzicht auf Annehmlichkeiten. Es kommt darauf an, bei Tisch die Grenzen des notwendigen Bedarfs nicht zu überschreiten. Basilius legt Wert auf ein ausgeglichenes Verhältnis von Körper und Geist: Der Bauch soll nicht den Geist beherrschen, aber der Ehrgeiz darf auch nicht Überhand nehmen. Wem es gelingt, auf diese Weise wahrhaft enthaltsam zu leben, der ist frei von Sünden. Auch in der Klosterlehre des Augustinus von Hippo (354–430) bilden neben Gemeinschaft und Gehorsam Armut und Askese die Fundamente des klösterlichen Lebensideals209. Augustinus zeichnet sich jedoch nicht durch Leibesfeindlichkeit aus; er ist vielmehr der Ansicht, dass der Leib ebenso wie die Seele von Gott geschaffen und daher gut ist210. Augustinus vertritt die Überzeugung, dass sich Leib und Seele beim Paradiesmenschen noch in einem Zustand der Harmonie befanden, die durch den Sündenfall zerstört worden ist. Resultat dieser Zerstörung der gottgewollten Ordnung durch die Schwachheit des Fleisches, die inoboedientia carnis, ist die Hemmung geistiger Funktionen durch den Gebrauch des Sinnlichen, das die Sexualität und die Nahrung umfasst211. Augustinus fordert daher nicht die Bekämpfung des Leibes, sondern die Bekämpfung der Verderbtheit des Leibes. Armut und Askese zielen darauf ab, den Sinn von irdischen Gütern zu lösen und so eine uneingeschränkte Hingabe an Gott zu ermöglichen. Augustinus betont die Notwendigkeit, um der Gesundheit willen zu essen und zu trinken; die Nahrung dient ihm daher als Arznei, um den Leib gesund zu halten: Nam fames et sitis quidam dolores sunt, urunt et sicut febris necant, nisi alimentorum medicina succurrat... Hoc me docuisti, ut quemadmodum medicamenta sic alimenta sumpturus accedam.212 (Denn Hunger und Durst sind wie Schmerzen, sie brennen, und sie töten wie Fieber, wenn nicht die Arznei der Nahrung hilft... Du hast mich gelehrt, ich solle Speisen einnehmen wie Arzneien.)
209 Vgl. Zumkeller, Adolar: Augustinus, S. 153. In: Hans Urs von Balthasar (Hg.): Die großen Ordensregeln. Einsiedeln, 1974, S. 135–171. 210 Vgl. Zumkeller, Adolar: Das Mönchtum des heiligen Augustinus. Würzburg, 1968, S. 256f. 211 Vgl. Zumkeller, Das Mönchtum des heiligen Augustinus, S. 258. 212 Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Stuttgart, 2009, S. 522.
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Das Angewiesensein auf Nahrung empfindet er jedoch als lästiges Bedürfnis, welches zudem die Gefahr birgt, dass sich zur Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme die Begierde nach der Speise gesellt: Et cum salus sit causa edendi ac bibendi, adiungit se tamquam pedisequa periculosa iucunditas et plerumque praeire conatur, ut eius causa fiat, quod salutis causa me facere vel dico vel volo.213 (Auch wenn wir um der Gesundheit willen essen und trinken, mischt sich als gefährlicher Begleiter das Vergnügen ein. Oft will es die Führung übernehmen, damit um seinetwillen geschehe, was ich um der Gesundheit willen zu tun behaupte oder tatsächlich will.)
Askese ist für Augustinus kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Befreiung von unnötiger Ablenkung und zur Bekämpfung gefährlicher Begierden. Sie soll daher als freudiger Verzicht freiwillig geleistet werden. Augustinus’ asketischer Ansatz spiegelt sich in seinen Ordensregeln wider. Die Mönche sollen dem Körper nur so viel Nahrung zuführen, wie er zum Leben braucht, und sich, so weit es die Gesundheit erlaubt, in Fasten und Enthaltsamkeit üben. Armut und Askese sind somit nicht gleichbedeutend mit Not und Entbehrung, da sich die allzu große Sorge um das tägliche Brot belastend auf das religiöse Leben auswirkt. Die Mahlzeit ist darüber hinaus nicht auf die Aufnahme von Nahrung beschränkt, sondern dient durch die Lesung auch der Aufnahme des Wortes Gottes214. Johannes Cassianus (360–435) empfiehlt das Fasten als Mittel zur Bekämpfung der Gefräßigkeit, der Gastrimargie, die er zu den acht Hauptsünden rechnet215. Er weist darauf hin, dass nicht alle in der Lage sind, gleichermaßen Verzicht zu üben, insbesondere die Kranken und Alten sind gesundheitlich auf ein gewisses Maß an Speise angewiesen. Daher kann es keine einheitlichen Fastenvorschriften geben. Es gilt jedoch den Magen nicht zu übersättigen, denn jede Art von Speise kann zur verwerflichen Schwelgerei führen, sogar einfaches Brot216. 213 Augustinus, Confessiones, S. 522. 214 Vgl. Zumkeller, Augustinus, S. 163. 215 Vgl. Johannes Cassianus: Von den Einrichtungen der Klöster. Buch V,1: Vom Geiste der Unmäßigkeit, S. 95. In: BKV 25, S. 15–271. 216 Vgl. Johannes Cassianus: Von den Einrichtungen der Klöster. Buch V, 6: Nicht nur vom Wein wird der Geist berauscht, S. 101.
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Auch Johannes warnt davor, dass der übermäßige Speisegenuss eine Art Rausch erzeugt, der die Vernunft hemmt. Zu langes und strenges Fasten ist aber auch gefährlich, da es zur Völlerei führen kann, weshalb eine tägliche mäßige Ernährung vorzuziehen ist. Für den Erwerb wahrhaft guter Tugenden ist es notwendig, den Leib durch Hunger zu peinigen217 und schmerzvolle Enthaltsamkeit zu praktizieren. Johannes führt als Beispiel die Apostel an, die durch Fasten und Enthaltsamkeit die Abtötung des Leibes und die Unsterblichkeit des Geistes errungen haben218. Johannes nennt drei Formen von Gaumenlust, aus denen sich die Regeln für die Mönche ergeben. An erster Stellt steht die Esslust, daher dürfen die Mönche nur zu festgelegten Zeiten essen und nicht zwischendurch. Zweitens dürfen sie nicht zu viel essen, um nicht der Völlerei zu erliegen, und drittens kein Vergnügen an schmackhaften Mahlzeiten haben, daher muss die Kost der Mönche einfach und zweckmäßig sein, um die Begierde nach der Speise zu dämpfen219. Unter den Kirchenvätern und mittelalterlichen Theologen herrscht Einigkeit darüber, dass die Nahrung an sich keine schädliche Wirkung auf den Menschen ausübt. Dem Übermaß an Speisen und der Begierde nach der Nahrung schreiben sie jedoch eine Gefahr für Leib und Seele zu. Die Auswirkungen des übermäßigen Speisegenusses bestehen für den Körper in Krankheit und Verfall; gleichzeitig beschwert die Essgier die Gedanken und macht die Seele zum Gefangenen des Leibes220. Schädlich für die Seele ist demnach die Begierde nach der Speise, die den Bauch zum neuen Gott erhebt221. Das Fasten hingegen hat einen wohltätigen Einfluss sowohl auf den Körper als auch auf die Seele. Enthaltsamkeit bedeutet die Beherrschung des Leibes und die Zugehörigkeit zu Gott222. Das Fasten gilt als Speise der Seele und stärkt diese, so wie körperliche Speise den Leib stärkt223. Es kommt jedoch darauf an, richtig zu fasten. Echtes Fasten umfasst die Enthaltsamkeit von 217 Vgl. Johannes Cassianus: Unterredungen mit den Vätern 21, 14–16. In: Texte der Kirchenväter: eine Auswahl nach Themen geordnet. Zsgest. von Alfons Heilmann. München, 1964, Bd. I, S. 284. 218 Vgl. Johannes Cassianus: Von den Einrichtungen der Klöster. Buch V, 18: Durch wie viele Kämpfe und Siege die Apostel die Siegeskrone im höchsten Kampf errungen haben, S. 112f. 219 Vgl. Johannes Cassianus: Von den Einrichtungen der Klöster. Buch V, 23: Wie die Kost eines Mönches beschaffen sein soll, S. 118. 220 Vgl. Johannes Chrysostomus: Homilien zur Genesis I. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 293. 221 Vgl. Johannes Chrysostomus: Homilien zum Philipperbrief 14,2. In: Texte der Kirchenväter, Bd. III, S. 546. 222 Vgl. Basilius der Große: Brief an den Mönch Urbicius. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 286. 223 Vgl. Johannes Chrysostomus: Homilien zur Genesis I. In: Texte der Kirchenväter, Bd. III, S. 293.
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jeder Art von sinnlicher Lust und von allem, wonach das Herz unerlaubt begehrt224. Der Fastende darf dabei nicht eitel werden und sein Fasten öffentlich zeigen, um so nach Heiligkeit zu streben oder den Ruf eines Asketen zu erlangen225. Er soll auch nicht aufgrund des Hungers mutlos oder traurig sein, sondern sich in dem Bewusstsein fröhlich zeigen, dass das Fasten der Seele Gewinn bringt226. Das Fasten zielt darauf ab, sich vom weltlichen Leben zu lösen und den Sinn auf geistige Dinge zu richten227. Aus Sicht der Kirchenlehrer ist die Peinigung des Leibes durch den Verzicht auf Nahrung nur für die Sühne einer begangenen Sünde erforderlich. Diese Form der Buße ist jedoch auf eine bestimmte Anzahl von Fastentagen beschränkt. Ansonsten ist es nicht ratsam, sich zu quälen, sondern so viel Speise zu sich zu nehmen, wie der Körper benötigt. Verwerflich ist nur die übermäßige Nahrungsaufnahme. Das Essen soll den Leib ernähren und ihm sogar Vergnügen bereiten, damit er tüchtig, stark und tauglich für die Tätigkeiten der Seele wird228. Die vollständige Nahrungsaskese für einen längeren Zeitraum ist dagegen biblischen Vorbildern wie Jesus, Johannes dem Täufer und Moses vorbehalten, die durch ihr anhaltendes Fasten die Überwindung des Fleisches demonstrierten.
Die Regula Benedicti An der Klosterlehre des Augustinus von Hippo und der Ordensregel des Basilius von Caesarea orientiert sich die im 6. Jahrhundert vom Ordensgründer Benedikt von Nursia verfasste Benediktinerregel229. Ursprünglich nur für die Mitglieder des Benediktinerordens vorgesehen, erlangte die Regula Benedicti im frühen Mittelalter im Zuge der Vereinheitlichung des Mönchswesens auf der Synode von Aachen (816–819) allgemeine Gültigkeit. Die Benediktinerregel war somit im hohen Mittelalter die allein gültige Mönchsregel.
224 Vgl. Basilius der Große: Brief an den Mönch Urbicius. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 286. 225 Vgl. Johannes Cassianus: Unterredungen mit den Vätern 21, 14–16. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 285. 226 Vgl. Basilius der Große: Predigt über das Fasten I. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 286. 227 Vgl. Johannes Chrysostomus: Homilien zur Genesis I0. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 281. 228 Vgl. Johannes Chrysostomus: Homilien zum Hebräerbrief 29,3. In: Texte der Kirchenväter, Bd. III, S. 552. 229 Vgl. Benedictus de Nursia: Die Benediktus-Regel. Lateinisch-Deutsch, hrsg. von Basilius Steidle, Beuron, 1975, S. 15.
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Unter anderem legt die Benediktinerregel sehr präzise fest, was, wann und wie viel und auf welche Weise gegessen werden soll. Insgesamt ist die Regula Benedicti von Askese und Maßhalten geprägt. Montag und Mittwoch sind Fastentage, ebenso der Monat vor Ostern. An Nichtfastentagen sind zwei Mahlzeiten und an Fastentagen eine vorgeschrieben. Von den zwei Mahlzeiten ist jedoch nur eine die Hauptmahlzeit, die zweite umfasst nur etwa ein Drittel der ersten. Bei jedem Mahl stehen zwei verschiedene gekochte Gerichte mit Obst oder Gemüse zur Verfügung230. Auf das Fleisch von Tieren mit vier Füßen muss grundsätzlich verzichtet werden. Eine Ausnahme stellen jedoch Kranke dar, da angenommen wird, dass der Fleischverzehr Kraft verleiht („Die ganz schwachen Kranken dürfen außerdem zur Wiederherstellung ihrer Gesundheit Fleisch essen. Doch sobald es ihnen besser geht, sollen sie alle nach allgemeinem Brauch auf Fleisch verzichten“231). Doch auch den Kranken steht kein Fleisch mehr zu, sobald sie genesen. Ältere sollen zudem mehr Speisen erhalten als Jüngere. Grundsätzlich gilt es, das Übermaß zu vermeiden und niemals den Zustand der Übersättigung zu erreichen, da die Unmäßigkeit als unchristlich angesehen wird („Doch muss vor allem Unmäßigkeit vermieden werden; und nie darf sich bei den Mönchen Übersättigung einschleichen. / Denn nichts steht so im Gegensatz zu einem Christen wie Unmäßigkeit, / sagt doch unser Herr: ‚Nehmt euch in Acht, dass nicht Unmäßigkeit euer Herz belaste.‘“232). Während in der Regula bei der Verteilung der Speisen Unterscheidungen zwischen alt und jung, gesund und krank getroffen werden, vereinheitlicht sie jedoch das Maß an Wein. So steht jedem Mönch etwa ein Viertelliter pro Tag zu, es wird aber empfohlen, auf diesen nach Möglichkeit ganz zu verzichten. Wegen der Lesung muss während des Mahls immer geschwiegen werden, die Speisen werden dabei stumm herumgereicht, sodass keiner um etwas bitten muss233. Da das Tischgebet gemeinsam gesprochen werden soll, müssen die Mahlzeiten pünktlich gemeinsam begonnen werden. Unpünktlichkeit beim Mahl wird mit dem Ausschluss aus der klösterlichen Mahlgemeinschaft und dem Entzug des täglichen Maßes an Wein bestraft234.
230 231 232 233 234
Vgl. Regula Benedicti, Caput XXXIX: De mensura cibus, 1–4. Regula Benedicti, Caput XXXVI: De infirmis fratribus, 9. Regula Benedicti, Caput XXXIX: De mensura cibus, 7–9. Vgl. Regula Benedicti, Caput XXXVIII: De ebdomadario lectore, 5–7. Vgl. Regula Benedicti, Caput XLIII: De his qui ad Opus die vel ad mensam tarde occurrent, 13–16.
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3.3. Realhistorische Feste und Speisegemeinschaften Das Mainzer Hoffest von 1184 Während im hohen Mittelalter im christlich-klösterlichen Umfeld Mäßigung und Askese eine bedeutende Rolle spielten, galt für das adelig-höfische Leben das genaue Gegenteil. Gerade bei öffentlichen Anlässen, wie Festen und Hoftagen, wurden Speisen im Überfluss angeboten. Während die Einfachheit der Kost und der Verzicht im monastischen Kontext darauf abzielten, sich von dem Verlangen nach Nahrung zu befreien, diente das Übermaß an Speisen bei höfischen Festen dazu, Macht und Reichtum zu demonstrieren. Feste hatten im Mittelalter eine politische und eine repräsentative Bedeutung. Sie dienten der Versammlung der Herrschenden an unterschiedlichen Orten, da der König keine feste Residenz besaß, auf Absprachen mit den Fürsten aber angewiesen war235. Gleichzeitig boten Feste die Möglichkeit, Macht, höfisches Protokoll und höfische Gesinnung zu demonstrieren. Von exemplarischer Bedeutung für das hohe Mittelalter ist das Mainzer Hoffest von 1184, das bei den Zeitgenossen großes Interesse hervorrief und durch Chronisten gut dokumentiert ist. Der Mainzer Hoftag fand zu Pfingsten (20.–22.5.1184) anlässlich der Schwertleite der Söhne des staufischen Kaisers Friedrich I. (Barbarossa) statt und verband auf diese Weise politisches Handeln und kirchliche Feiertage zu einem großen, drei Tage währenden Fest. Bei diesem Hoftag verlagerte sich der Fokus erstmals auf die höfisch-festlichen Aspekte, wobei die politischen Fragen im Hintergrund aber präsent blieben236. Die politische Bedeutung dieses Pfingstfestes ist daran abzulesen, dass alle Reichsfürsten und viele Fürsten und Mächtige aus dem Reich und den benachbarten Ländern angereist kamen237. Die hohe Zahl an Gästen mit bedeutenden Namen verweist auf das Ansehen des Gastgebers, auf seine Macht und seinen materiellen Reichtum, der es ihm ermöglicht, seine Gäste über längere Zeit gut zu versorgen. Zum Mainzer Hoffest kamen dermaßen viele Fürsten mit ihrem Gefolge, dass außerhalb der Stadt auf einer Ebene am rechten Rheinufer eigens 235 Vgl. Bumke, Joachim: Höfische Kultur, S. 276. 236 Vgl. Linder, Michael: Fest und Herrschaft unter Kaiser Friedrich Barbarossa, S. 157. In: Evamaria Engel/Bernhard Töpfer (Hgg.): Kaiser Friedrich Barbarossa. Weimar, 1994, S. 151–170. 237 Vgl. Otto von St. Blasien, Ottonis de Sancto Blasio Chronica. In: Die Chronik Ottos von St. Blasien und die Marbacher Annalen. Hrsg. und übers. von Franz-Josef Schmale, Darmstadt, 1998, S. 77.
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eine komplette Feststadt aus Holzhäusern und bunten Zelten errichtet werden musste, um alle Gäste gut unterzubringen. Diese neue Stadt zeichnet sich u. a. durch den Überfluss an Nahrung aus: nichilque hic ad ostendendam mundane miserie gloriam habundancia victualium, varietate vestium, faleramentis equorum, delectatione spectaculorum.238 (Und nichts fehlte hier, um dem Elend der Welt den Ruhm des Überflusses zu zeigen, an Speisen, an der Verschiedenheit der Kleider, dem Schmuck der Pferde und den Freuden der Schauspiele.)
Das Fest begann am Pfingstsonntag nach der Messe mit der Festkrönung des Kaisers und der Kaiserin und ihres Sohnes, des bereits 1169 geweihten Königs Heinrich VI. Anschließend folgte das Festmahl, bei dem Herzöge und Fürsten die Hofämter der Truchsesse, Kämmerer, Schenken und Marschalle versahen239. Von diesem Festmahl berichtet Otto von St. Blasien, dass es mit größtem Aufwand glorreich abgehalten wurde (exquisitisque conviviis sumptuosisissime exhibitis240). Arnold von Lübeck erwähnt vor allem den unbeschreiblichen Tafelluxus, der ein Übermaß an Speisen aus vielen Ländern umfasste (Quid de habundantia, immo de supereffluentia victualium dixerim, que illic de omnibus terris congesta erat, que sicut erat inestimabilis, ita cuilibet linguarum manet inedicibilis241). Die Weinvorräte, die vom aufsteigenden und absteigenden Rhein herbeigeschafft worden sind, vergleicht Arnold mit dem Festmahl des Ahasver242. Sie seien dermaßen groß gewesen, dass jeder ohne Maß und so viel er vertrug, davon genießen konnte (sicut convivio Assueri, sine mensura pro uniuscuiusque possibilitate vel voluntate hauriebatur243). Außerdem berichtet Arnold von zwei eigens für das Fest errichteten Hühnerhäusern, die bis oben mit Geflügel angefüllt sind und die Vorbeigehenden zu Staunen und Bewunderung veranlassen, da sie kaum glauben können, dass es auf der Welt so viele Hühner gibt (ut nullus eas suspectus penetrare potuerit, non 238 Otto von St. Blasien, S. 76. 239 Vgl. von Giesebrecht, Wilhelm: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 6: Die letzten großen Erfolge Kaiser Friedrich Rotbarts und sein Ende. 1178–1190. Ausblick. Meersburg, 1930, S. 103. 240 Otto von St. Blasien, S. 78. 241 Arnold von Lübeck, Arnoldi chronica Slavorum. In: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores 7, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum seperatim editi. Hrsg. Georg Heinrich Petz, 1868, S. 87f. 242 Vgl. Das Buch Ester, 1,1-9. 243 Arnold von Lübeck, S. 88.
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sine ammiratione multorum, qui tot gallinas in omnibus finibus illis vix esse credebant244). Wilhelm von Giesebrecht gibt an, dass Kaiser Friedrich neben den Hühnern und dem Wein weitere ungeheure Vorräte an Lebensmitteln für das Fest herbeischaffen ließ, insbesondere Brot und Schlachtvieh245. Am Pfingstmontag wurden die Kaisersöhne König Heinrich und Herzog Friedrich nach der Frühmesse zu Rittern geschlagen, anschließend fand die großzügige Beschenkung statt. Fürsten und Adelige verteilten Pferde, wertvolle Kleider, Gold und Silber246 an Ritter, Gefangene und Kreuzfahrer247. Dadurch wollten sie nicht nur dem Kaiser und seinen Söhnen Ehre erweisen, sondern auch ihren eigenen Ruhm vermehren248. Gislebert von Mons berichtet noch von Ritterspielen249, die am zweiten und am dritten Tag nach dem Frühstück abgehalten wurden. An diesem Schauspiel ohne Waffen beteiligten sich selbst Friedrich und seine Söhne. Am letzten Festtag behandelte der Kaiser schließlich verschiedene politische Angelegenheiten des Reiches250. In der Nacht zuvor bzw. am späten Nachmittag hatte ein starker Wind viele Gebäude zerstört, unter anderem Nebengebäude des kaiserlichen Palastes, Zelte umgestürzt und auch die aus Holz errichtete Kapelle zum Einbruch gebracht. Otto von St. Blasien deutet dieses Unwetter als göttliches Zeichen251. Tatsächlich gab es neben der insgesamt sehr positiven Resonanz auf das Hoffest auch Kritik an dessen Aufwand. Vor allem kirchliche Kritiker wollten in dem Unwetter eine Strafe Gottes für das hochmütig-weltliche Treiben erkennen252, das sich u. a. durch das Übermaß an Nahrung äußerte. Josef Fleckenstein sieht die epochale Bedeutung des Mainzer Hoffestes vor allem in der neugeschaffenen Verbindung von „Hoftag und Hoffest, von Politik und Repräsentation, von Macht und höfischem Glanz […] von Kaisertum und 244 Arnold von Lübeck, S. 88. 245 Vgl. Giesebrecht: deutsche Kaiserzeit, Bd. 6, S. 99. 246 Vgl. Gislebert von Mons, Gisleberti Chronicon Hanoniense. In: Monumenta Germaniae Historica: Scriptores 7, Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum seperatim editi. Bearb. Wilhelm Arndt/Georg Heinrich Petz, 1869, S. 143. 247 Vgl. Gislebert von Mons, S. 143. 248 Vgl. Gislebert von Mons, S. 143. 249 Vgl. Gislebert von Mons, S. 143. 250 Vgl. Otto von St. Blasien, S. 78. 251 Vgl. Otto von St. Blasien, S. 78. 252 Vgl. Fleckenstein, Josef: Friedrich Barbarossa und das Rittertum. Zur Bedeutung der großen Mainzer Hoftage von 1184 und 1188, S. 395f. In: Arno Borst (Hg.): Das Rittertum im Mittelalter. Darmstadt, 1989, S. 392–418.
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Rittertum“253, wodurch sich die ritterliche Gesellschaft zugleich als höfische Gesellschaft konstituiert254. Karl Hampe bezeichnet das Pfingstfest von 1184 als „sichtbaren Durchbruchspunkt einer neuen Kulturströmung“, bei dem sich das Reichsgebiet für die feine höfische Art Frankreichs öffnete255. Diese neue ritterlich-höfische Kultur bezieht die Dichtung mit ein. Für das Mainzer Hoffest ist ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Literatur und Realität nachzuweisen. Die Dichtkunst bildete einen zentralen Aspekt der Hofkultur um 1200 und diente der Unterhaltung bei Festen. Friedrich Barbarossa stand nachweislich in guter Beziehung zu den Dichtern256 und mehrere Dichter sollen mit ihren Werken auch beim Mainzer Hoffest anwesend gewesen sein257. Während sich Heinrich von Veldeke im Eneasroman bei der Beschreibung des Hochzeitsfestes von Eneas und Lavinia am Mainzer Hoffest orientiert, von dem er angibt, es selbst miterlebt zu haben258, betont Guiot von Provins, dass Friedrich Barbarossa das Mainzer Hoffest nach dem Vorbild der Feste in den Artusromanen gestaltet habe259, was durchaus vorstellbar ist260. Die literarischen Festschilderungen unterscheiden sich von den historischen Berichten darin, dass sie die festlichen Details ausführlicher schildern261. Gemeinsam ist den Chronisten und den Dichtern jedoch die Absicht, eine ideale Vorstellung der höfischen Gesellschaft zu schaffen und somit zu ihrer „symbolischen Instituierung“ beizutragen262. So wie das Mainzer Hoffest fanden die meisten höfischen Feste im hohen Mittelalter an hohen christlichen Feiertagen wie Pfingsten statt263. Auf diese Weise wurden höfische Kultur, Herrschaft und Religion miteinander verbunden. Der Zeitpunkt im Frühjahr war klimatisch günstig für die Anreise, Verköstigung und
253 Fleckenstein, Friedrich Barbarossa, S. 395. 254 Vgl. Fleckenstein, Friedrich Barbarossa, S. 403. 255 Vgl. Hampe, Karl: Das Hochmittelalter. Geschichte des Abendlandes von 900 bis 1250. Köln, 1977, S. 285f. 256 Vgl. Fleckenstein, Friedrich Barbarossa, S. 414. 257 Vgl. Linder, Fest und Herrschaft, S. 168. 258 Heinrich von Veldeke: Eneasroman, V. 347, 14–348, 3. 259 Guiot von Provins: ,Das Buch Guiot‘, V. 272–281. Wie Arnold von Lübeck vergleicht auch Guiot das Mainzer Hoffest außerdem mit dem Fest von Ahasver (Quel cort tint ore Asuerus!, V. 276) und spielt somit auf die reichliche Bewirtung an. 260 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 20. 261 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 281. 262 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 19. 263 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 282.
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Unterbringung der Gäste264. Anlass für ein höfisches Fest bildeten Ereignisse wie Hoftage, Krönungsfeiern, Hochzeiten, Schwertleiten, Friedensschlüsse und kirchliche Feiertage. Höfische Feste folgten einem festgelegten Schema, das teils wochenlange festliche Vorbereitungen, Ankunft und Empfang, Begrüßungszeremoniell, Bewirtung der Gäste, Unterhaltung und Geselligkeit, Beschenkung und Abschied umfasste265. Besonders bedeutenden Gästen reisten der Gastgeber oder sein Gefolge mehrere Tagesreisen entgegen. Das Begrüßungszeremoniell stellte eine rechtliche Handlung dar, die entweder Freundschaft und Frieden signalisierte, oder, im Fall der Verweigerung der Begrüßung, als Zeichen für Feindschaft zu werten war266. Im Mittelpunkt der Feierlichkeiten stand immer das Festmahl267. Während der Mahlzeit spiegelte die Tischordnung die soziale Hierarchie der Teilnehmer der Essgemeinschaft, indem jedem Gast sein Platz aufgrund seines gesellschaftlichen Ranges zugewiesen wurde. Der Ablauf der Mahlzeit folgte einem festen Zeremoniell, das die Handwaschung, das Auftragen der Speisen und das Vorschneiden beinhaltete268. In der mittelhochdeutschen Dichtung sind solche Feste ein beliebtes Motiv, das sich quer durch die epischen Gattungen behauptet und dem die Dichter in den einzelnen Texten häufig viel Aufmerksamkeit und Platz widmen. Aus der Fülle an Festbeschreibungen in der höfischen Epik kann geschlossen werden, dass dem Fest in der Literatur ein hohes Maß an Bedeutung zukommt269. Als ein Ort ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit bildet das Mahl sowohl bei realhistorischen Festen als auch in der höfischen Literatur den Mittelpunkt der Veranstaltung. Durch die Teilnahme an einer höfischen Mahlzeit haben die Essenden materiell und performativ Anteil an der höfischen Kultur, die durch die im Überfluss vorhandenen auserlesenen und teuren Speisen verkörpert wird. Indem die Teilnehmer des höfischen Festmahls typisch höfische Speisen verzehren, findet eine buchstäbliche Einverleibung höfischer Kultur statt. Das Festmahl dient somit der Konstituierung und Vergewisserung der personalen und kulturellen Identität eines höfischen Individuums. Durch das Teilen der Nahrung mit den anderen Mitgliedern des Hofes 264 265 266 267 268 269
Vgl. Linder, Fest und Herrschaft, S. 166. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 290. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 299. Vgl. Haupt, Das Fest, S. 282. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 254f. Vgl. Haupt, Barabara: Das Fest in der Dichtung. Untersuchungen zur historischen Semantik eines literarischen Motivs in der mittelhochdeutschen Epik. Düsseldorf, 1989, S. 10f.
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wird zudem die Zusammengehörigkeit der Gruppe und somit die kollektive Identität bestätigt und gefestigt. Durch die gesteigerte Aufmerksamkeit für die äußeren Formen, den Festschmuck und das höfische Protokoll und durch die Einbindung des höfischen Fests in einen Komplex höfischer Verhaltensweisen, wie vreude, kurzwile und milte, und Aktivitäten, wie Messe, Frauendienst, Turnier, Jagd und Festmahl, wirkt sich das Fest identitätsstiftend auf die höfischen Akteure aus. Gleichzeitig gibt es den Mitgliedern des Hofes die Möglichkeit, adeliges Selbstbewusstsein und Selbstverständnis zu demonstrieren. Indem das Fest die Praktizierung des höfischen Habitus erfordert, dient es sowohl der Selbstvergewisserung des höfischen Individuums als auch der Präsentation höfischer Ordnung und Kultur und des höfischen Protokolls nach außen270. Das Fest stellt somit eine einzigartige Möglichkeit für die adelige Gesellschaft dar, materiellen Reichtum, Herrschaftsmacht und feine Umgangsformen zur Schau zu stellen. Zudem haben das Fest und das Festmahl eine rechtliche und politische Funktion, indem sie rechtsrituelle Handlungen darstellen und Vertragscharakter besitzen, der auf die Sicherung und Bewahrung von Frieden abzielt271. Fest und Festmahl sind per definitionem eine Zeit des Friedens272. So war auch für das Mainzer Hoffest der Friede unter den Herrschenden eine wichtige Voraussetzung, die vor und nach diesem Zeitpunkt nicht gegeben war, was das Zustandekommen ähnlicher Veranstaltungen verhinderte273. Angesichts der Bedeutung, die dem Mahl für die Herstellung und den Erhalt von Frieden und Eintracht zugeschrieben wurde, galten Heimtücke, Hinterlist und Gewalt im Zusammenhang von Mählern als besonders verwerflich.
Initiationsfeste: Krönung, Schwertleite und Hochzeit Festmähler besitzen somit integratives und pazifizierendes Potenzial. Im Rahmen einer Initiation können sie zudem die Funktion eines Übergangsritus einnehmen. Neben gesellschaftlichen Anlässen, wie Hoftagen oder kirchlichen Feiertagen, 270 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 276. 271 Die rechtlichen Aspekte von Fest und Mahlzeit leiten sich von der Bedeutung des convivium im Frühmittelalter ab. Diese frühmittelalterlichen Bräuche erstarren im Hochmittelalter zu Ritualen, die die höfische Festkultur prägen. Vgl. Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter. Darmstadt, 1990, S. 205f. 272 Vgl. Haupt, Das Fest, S. 16. 273 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 280.
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waren das Individuum betreffende Formen des Statuswechsels, wie Krönungen, Schwertleiten und Hochzeiten, häufige Anlässe für höfische Feste. Diese Feste besiegelten zeremoniell den Übergang von einer Lebenssituation in eine andere. Für die Bestätigung des vollzogenen Übergangs haben sich rechtlich bedeutsame Brauchformeln entwickelt. Einen dieser Bräuche bildete das Festmahl274. Im Rahmen von Einsetzungen waren Festmähler rechtliche Handlungen, die die vorangegangene festliche Zeremonie formal abschlossen275. Das Festmahl diente sowohl der Besiegelung des Statuswechsels als auch der Aufnahme in die neue soziale Gemeinschaft. Der von der päpstlichen Kurie in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entworfene Ordo Censius II legt den Ablauf der Königskrönung detailliert fest276. Die Krönung umfasst Empfang, Krönungsakt, Krönungsmesse, Krönungszug, Eid und Krönungsmahl. Das Zeremoniell beinhaltet sakrale und profane Elemente und ist darauf ausgerichtet, die geistlichen und weltlichen Ansprüche von Papst und König auszubalancieren277. Dem König wird im Verlauf der Zeremonie sowohl ein sakrales als auch ein profanes Mahl zuteil. Beide Mähler definieren zeichenhaft die soziale Position und die Machtbefugnisse des Königs. Das Mahl fungiert somit als Form der rituellen Kommunikation, die einen hohen Grad an Verbindlichkeit besitzt278. Während der Krönungsmesse unterwirft sich der König der geistlichen Macht der Kirche und dient dem Papst bei der Eucharistiefeier als Ministrant, indem er ihm Brot und Wein anreicht. Anschließend empfängt er die Kommunion aus den Händen des Papstes279. Während des Krönungsmahls im Anschluss an die Messfeier speisen König und Papst nebeneinander. Traditionell demonstriert der König dabei seine weltliche Herrschaftsstellung, indem er sich bei Tisch von hochrangigen Fürsten bedienen lässt, die die Aufgaben der Truchsessen, Mundschenken und Kämme274 Vgl. Schempf, Herbert: Arbeitsantritt und -abschluss. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band I. Berlin, 2009, Sp. 276f. 275 Vgl. Brand, Jürgen: Einstand. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band I. Berlin, 2009, Sp. 1304f. 276 Die Darstellung findet sich bei Eichmann, Eduard: Die Kaiserkrönung im Abendland. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des Mittelalters, mit besonderer Berücksichtigung des kirchlichen Rechts, der Liturgie und der Kirchenpolitik. Bd. I: Gesamtbild. Würzburg, 1942, S. 150–222. 277 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 106. 278 Vgl. Althoff, Gerd: Wer verantwortete die „artistische“ Zeichensetzung in Ritualen des Mittelalters? S. 95. In: Marion Steinicke und Stefan Weinfurter (Hgg.): Investitur- und Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln, 2005, S. 93–104. 279 Vgl. Eichmann, Kaiserkrönung, S. 215f.
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rer übernehmen280. Wie zuvor der König dem Papst, bringen nun die Fürsten dem König ihre Dienstbereitschaft zum Ausdruck, indem sie bei der Mahlzeit assistieren281. Die Eucharistie im Rahmen der Krönungsmesse und das abschließende Krönungsmahl besitzen somit die Funktion, in aller Öffentlichkeit performativ die kirchliche und weltliche Anerkennung des neuen Herrschers zu demonstrieren282. Deutliche strukturelle Ähnlichkeiten mit der Königskrönung weist das Zeremoniell der Schwertleite auf. Elemente der Königskrönung, wie rituelles Bad, feierliche Einkleidung, Schwertsegnung283 und Umgürtung mit dem Schwert, sind gleichermaßen Teil der Ritterpromotion. Die Schwertleite war vermutlich anfänglich ein Königsbrauch, der sich im Laufe der Zeit auf den gesamten Adel ausgedehnt hat284. Die Ausbildung des Zeremoniells der Schwertleite findet etwa zeitgleich mit der Einführung des Wortes „Ritter“ in das höfische Vokabular in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts statt285. Der Begriff „Ritter“, der ursprünglich den milites, den berittenen Krieger, bezeichnete, hat spätestens im 12. Jahrhundert eine Aufwertung erfahren, als sich militärische mit christlichen Motiven verbanden und das Idealbild des miles christianus, des christlichen Ritters, entstand286. Fortan wollten auch Ade280 Überliefert ist dies beispielsweise für die Königserhebung Ottos des Großen 936. Vgl. Widukind: Res gestae Saxonicae. In: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, Bd. II, S. 88–90. Rechtlich sind die Tischdienste, die auch bei Hof- und Reichtstagen zu leisten waren, 1356 in der Goldenen Bulle verankert worden. Vgl. Erkens, Franz-Reiner: Erzämter. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Band I. Berlin, 2009, Sp. 1420–1425. 281 Vgl. Althoff, Zeichensetzung, S. 98. 282 Vgl. Schubert, Ernst: Essen und Trinken im Mittelalter. Darmstadt, 2006, S. 265. 283 Die Schwertsegnung ist Bestandteil der liturgischen Handlung bei der Schwertleite und der Königskrönung. Die Weihformeln, die über Ritter und Waffen gesprochen werden, belegen den Zusammenhang zwischen beiden Zeremonien. Vgl. Keen, Maurice Hugh: Das Rittertum. München, 1987, S. 112. So werden der angehende Ritter und der zukünftige König mit denselben Worten dazu aufgefordert, mittels des gesegneten Schwerts Kirche, Witwen und Waisen vor den Heiden zu schützen. 284 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 334. Auch Maurice Keen vertritt die Auffassung, dass die Schwert umgürtung als zentrales Element der Schwertleite aus dem Zeremoniell des Krönungsritus übernommen wurde. Vgl. Keen, Rittertum, S. 113. Ursprünglich symbolisierte die Schwertumgürtung, die während der Königskrönung durch den Geistlichen vorgenommen wurde, die Amtsgewalt, die direkt von Gott verliehen wird. Während es der Kirche gelang, bei der Königskrönung eine Schlüsselrolle einzunehmen, hat die christliche Liturgie jedoch nie eine vergleichbar wichtige Funktion bei der Schwertleite besessen. Vgl. Keen, Rittertum, S. 115. 285 Vgl. Bumke: Höfische Kultur, S. 322f. 286 Vgl. Fleckenstein, Josef: Rittertum und höfische Kultur. Entstehung – Bedeutung – Nachwirkung, S. 425. In: Ders.: Ordnungen und formende Kräfte des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge. Göttingen, 1991, S. 421–436.
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lige diesen Terminus mit ihrer Person in Bezug setzen und von seinem Ansehen profitieren287. Dieser Bedeutungswechsel von militärisch zu höfisch-christlich steht in Zusammenhang mit der neuen Verbindung des germanischen Initiationsritus der Waffenverleihung mit christlichen Vorstellungen und Zeremonien, die vor allem in der Schwertleite ihren Ausdruck findet288. Die Schwertleite bezeichnet die feierliche Umgürtung mit dem Schwert, die den jungen Adeligen in den Ritterstand erhebt. Sie findet zwischen dem 14. und 18. Lebensjahr statt, wenn der angehende Ritter die Volljährigkeit erreicht. Erst der Empfang der Schwertleite ermächtigt den Ritter zu selbstständigem Handeln und verleiht ihm die Berechtigung, am Turnier teilzunehmen, zu heiraten, sein Erbe anzutreten oder die Herrschaft zu übernehmen289. Sie ist somit „Ziel und Abschluss“290 der Phase der Kindheit. Sobald ihm das Schwert umgegürtet worden ist, wird der junge Fürst als erwachsener und wehrhafter Mann betrachtet291. Die Schwertleite stellt somit die rituelle Einführung in den Ritterstand dar und markiert den Übergang von der Kindheit zu Erwachsenenalter und Mündigkeit. Im Mittelpunkt der Zeremonie steht die Umgürtung mit dem Schwert, die meist mit weiteren rituellen Akten verbunden ist. Das Schwertleiteritual umfasst die Abfolge Bad, Ausstattung mit Kleidern, Pferden und Waffen, Besuch der Messe und Schwertsegnung, Umgürtung mit dem Schwert und Belehrung über die Ritterpflichten, Festmahl und Turnier. Wie bei der Königskrönung umfasst auch die Zeremonie der Schwertleite zwei Mähler. Der Priester segnet das Schwert des Initianden und gemahnt ihn im Anschluss an seine mit der Schwertleite verbundenen religiösen Pflichten; den Schutz von Kirche, Witwen und Waisen vor den Heiden292. Die Eucharistiefeier während der Messe stellt eine sakrale Form der Mahlgemeinschaft dar. Nach der Messe wird der angehende Ritter durch seinen Lehnsherren oder den Vater mit dem Schwert umgürtet und über den ritterlichen Ehrencodex belehrt. Die Feier schließt mit einem profanen Mahl ab. Der junge Ritter hat somit im Verlauf der Feierlichkeiten an einer sakralen und einer profanen Mahlgemeinschaft teil, die jeweils seinen neuen sozialen Status bestätigen. Als miles christianus ist er gleichermaßen der Kirche und der Gemeinschaft der Ritter verpflichtet und beide Institutionen integrieren ihn mittels eines Mahls. 287 288 289 290 291 292
Vgl. Marquardt: Das höfische Fest, S. 60. Vgl. Keen, Rittertum, S. 101. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S, 319. Orth, Formen und Funktionen, S. 154. Vgl. van Winter, Johanna Maria: Rittertum, Ideal und Wirklichkeit. München, 1969, S. 43. Vgl. Keen, Rittertum, S. 112.
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Ebenso wie Schwertleiten und Krönungen sind auch Hochzeiten Initiationsfeste, die sakrale und profane Elemente beinhalten. Bis in das Frühmittelalter existierten zwei konkurrierende Formen der Eheschließung: die Muntehe, bei der die Frau aus der Obhut des Vaters in die des Ehemanns übergeben wurde, und die Friedelehe, die zwar ein gleichberechtigtes Verhältnis der Partner umfasste, jedoch auch die Möglichkeit der Polygynie nicht ausschloss. Ebenso uneinheitlich wie die Form der Ehe war zunächst der Anteil der Kirche an der Zeremonie. Bereits der Corrector des Burchard von Worms († 1025) forderte, dass die Ehe von der Kirche gesegnet werden müsse293. Mit dem Decretum Gratiani von 1140, das sich teilweise an den Decretorum Libri XX des Burchard von Worms orientiert, begann die Kodifizierung eines kirchlichen Eherechts294. Gratians Dekret legt auch erstmals die in der höfischen Literatur dargestellte auf Minne basierende Konsensehe als kirchliches Eherecht fest295. Das zweite Laterankonzil von 1139 und das Konzil zu Verona 1184 benennen erstmals die Ehe als kirchliches Sakrament296. 1227 untersagte die Trierer Kirchensynode schließlich die Eheschließung durch Laien297. Das Ritual der Eheschließung beinhaltete in der Regel kirchliche Trauung, Fest, Beilager und Messe am nächsten Morgen. Das Mahl stand im Zentrum des Hochzeitsfests und stellte einen rechtlich bedeutsamen Bestandteil der Eheschließung dar298. Die Ehe umfasste die Gemeinschaft von Tisch und Bett, die während der Hochzeit in Form von Hochzeitsmahl und Brautnacht vollzogen wurde299. Während die Tischgemeinschaft der Eheleute im Rahmen des Hochzeitsfests eine ehebestätigende Bedeutung ausübt300, da sie das Genossenschaftsverhältnis der Ehegatten öffentlich sichtbar macht301, herrscht in der hochmittelalterlichen Kirchenlehre jedoch Uneinigkeit darüber, ob die Gültigkeit der Ehe auch vom Vollzug der Bettgemeinschaft abhängt. So plädiert Gratian ebenso wie Hinkmar von Reims dafür, dass die Ehe erst mit dem Beischlaf vollzogen ist, während Pet293 294 295 296 297 298 299 300 301
Vgl. Deneke, Bernward: Hochzeit. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Sp. 60–62. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 544. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 544. Vgl. Brink, Leendert: Ehe/Eherecht/Ehescheidung. In: Theologische Realenzyklopädie („TRE“). Bd. 9, Berlin, 2009, S. 309–362. Vgl. Faber, Birgitta Maria: Eheschließung in mittelalterlicher Dichtung vom Ende des 12. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts. Bonn, 1974, S. 132f. Vgl. Faber, Eheschließung, S. 244. Vgl. Faber, Eheschließung, S. 242. Vgl. Faber, Eheschließung, S. 244. Vgl. Faber, Eheschließung, S. 242.
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rus Lombardus und Hugo von St. Viktor das Gegenteil propagierten302. In diesem Fall kommt der öffentlichen Mahlgemeinschaft eine umso größere Bedeutung zu.
Gastfreundschaft Neben Festen bieten auch Gastfreundschaften die Gelegenheit zum gemeinsamen Mahl. Das Gastmahl besitzt ebenso wie das Festmahl eine repräsentative und eine rechtliche Funktion. Aron Gurevic leitet die mittelalterliche Gastfreundschaft von vor- und frühmittelalterlichen Traditionen her, bei denen Gastmähler regelrechten Potlatsch-Charakter aufwiesen und mit dem zeremoniellen und übermäßigen Austausch von Gaben verbundenen waren303. Gurevic zufolge ging es bei diesen Gastmählern nicht darum, den Gästen etwas Gutes zu tun, sondern vielmehr darum, die eigene Überlegenheit zu demonstrieren304. Mit der Festigung der Königsmacht in Europa wurde die Gastfreundschaft schließlich zur rechtlichen Verpflichtung und gleichzeitig der Friede zum obersten Gebot erhoben. Auch nach der Christianisierung bildeten das Mahl und die Beschenkung wichtige Bestandteile der Gastfreundschaft. Beides, Mahl und Geschenke, verpflichtete für die Zukunft. Im hohen Mittelalter, vor der Zeit der kommerziellen Gastlichkeit, die sich erst ab dem 14. Jahrhundert entwickelte, herrschten zwei Formen der Gastfreundschaft vor: die Beherbergung von Herrschern, Adeligen305 und Bischöfen sowie Grundund Lehnsherren und die mildtätige christliche Gastlichkeit, die vornehmlich in Klöstern ausgeübt wurde, und schriftlich auch in der Regula Benedicti verankert ist306. 302 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 546. Vgl. hierzu auch Brink, Ehe/Eherecht/Ehescheidung, S. 308–362. 303 Zum Potlatsch-Fest vgl. Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften. 304 Vgl. Gurevic, Aron: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. München, 1989, S. 262. 305 Zur Königsgastung vgl. Brühl, Carlrichard: Fodrum, Gistum, Servitium Regis. Studien zu den wirtschaftlichen Grundlagen des Königtums im Frankenreich und in den fränkischen Nachfolgestaaten Deutschland, Frankreich und Italien vom 6. bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts. Köln/Graz, 1968. 306 Vgl. Peyer, Hans Conrad: Einführung, S. VII. In: Ders. (Hg.): Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter. München, 1983. Zur christlichen Gastlichkeit vgl. ebd. Schuler, Thomas: Gastlichkeit in karolingischen Benediktinerklöstern. Anspruch und Wirklichkeit, S. 21–36. Zur Gastlichkeit in der Regula Benedicti vgl. RB, Caput LIII: De hospitibus suscipiendis. Die Regula schreibt nicht nur die Aufnahme von Gästen, sondern auch ihre Bewirtung vor. Gästen soll eine Ausnahmebehandlung zukommen, sie speisen gemeinsam mit dem Abt und sind nicht den Fastentagen verpflichtet (8-19).
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Auch im hohen Mittelalter wurde die Gastfreundschaft als rechtliche Verpflichtung mit einer Mahlzeit verbunden. Die Aufnahme eines Gastes, meist eines Reisenden, war gesetzlich geregelt. Bis zur Entwicklung kommerzieller Gasthöfe waren die Aufnahme und Bewirtung eines Fremden die Pflicht des Hausherrn und die Ablehnung eines Gastes wurde strafrechtlich geahndet. Dem Gast standen Dach, Feuer und Versorgung seines Pferdes zu. Zur leiblichen Verpflegung seines Gastes war der Hausherr zwar nicht verpflichtet, sie wurde dem Gast jedoch meist trotzdem zuteil. Gerade in den höheren Schichten war die Gastfreundschaft Ehrensache des Hausherrn; Ungastlichkeit galt als Frevel. Allerdings durfte der Gast die Gastfreundschaft nicht überstrapazieren; nach spätestens drei Tagen musste er weiterreisen. Im Haus des Gastgebers stand der Gast unter dessen Schutz und war sogar dann vor Rache sicher, wenn er den Bruder des Gastgebers getötet hatte307. Der Gastgeber war seinerseits für das Handeln seines Gastes gegenüber der Gemeinde und der Gerichtsbarkeit verantwortlich. Verstarb der Gast während des Aufenthalts, so hatte der Gastgeber Anrecht auf dessen Besitz. Gleichzeitig war der Hausherr seinem Gast auch zur Blutrache verpflichtet. Vornehme und reiche Gastgeber gewährten dem Gast großzügige und verschwenderische Gastfreundschaft, die Verpflegung, Geschenke und weibliche Gesellschaft mit einschloss308. Einen wichtigen Aspekt der Gastfreundschaft stellte die Uneigennützigkeit dar; ein Gastherr konnte zwar Geschenke vom Gast annehmen, den Gast auszunutzen stellte jedoch einen Tabubruch dar. Vor allem war der Gastgeber verpflichtet, Frieden zu halten und seinen Gast nicht anzugreifen oder gegen ihn zu agitieren. Gerade in der höfischen Gesellschaft um 1200 stellten die Freigiebigkeit und Großzügigkeit bei der Gastaufnahme wichtige Werte dar und boten dem Gastgeber die Gelegenheit, Besitz, Reichtum und Macht zu demonstrieren und sich durch Freigebigkeit Ehre, Ruhm und Ansehen zu verschaffen309. Eine weitere Motivation zur Gastaufnahme bildete der Wunsch, dem christlichen Gebot der Nächstenliebe zu entsprechen, und somit auch das eigene Seelenheil zu gewährleisten310.
307 Vgl. Sievers, Kai Detlev: Gastfreundschaft, Sp. 1937ff. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Bd. I, hrsg. von Albrecht Cordes, Heiner Lück, Dieter Werkmüller u.a. Berlin, 2008, Sp. 1937–1939. 308 Vgl. Peyer, Gasthaus. In: Lexikon des Mittelalters, Sp. 1132f. 309 Vgl. Jänecke, Ulrich: Gastaufnahme in der mittelhochdeutschen Dichtung um 1200. Bochum, 1982, S. 74f. 310 Vgl. Jänecke, Gastaufnahme, S. 76f.
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3.4. Die höfische Esskultur Das höfische Ideal von Übermaß und Mäßigung Bereits im frühen Mittelalter bildete sich ein Zusammenhang zwischen der Ernährungsweise und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe heraus, der sich durch eindeutige Zeichen manifestierte311. Dieser Zusammenhang festigte sich im 9. und 10. Jahrhundert mit der Herausbildung der drei Stände (Adel, Klerus, Bauerntum), sodass die Ernährung Teil des sozialen Codes wurde, der die soziale Stellung ausdrückte und Standesunterschiede vermittelte. Für die adelige Gesellschaft des hohen Mittelalters stellten höfische Speisen ein wichtiges Standes- und Herrschaftsattribut dar312. Typische höfische Lebensmittel waren helles Brot, Fleisch und Wein. An der Spitze der Lebensmittelhierarchie stand das Fleisch. Neben Haustieren verzehrte der Adel bevorzugt Wild. Das Wildbret war den Angehörigen der höfischen Gesellschaft vorbehalten und auch die Jagd nach Wild war adeliges Privileg313. Neben dem Fleisch großer Tiere verzehrte der Adel Geflügel, Gänse, Hühner, Wachteln und Rebhühner, aber auch Schwäne und Pfauen, sowie Fisch, Hechte, Karpfen und Forellen314. Nicht nur das Wild war dem Adel vorbehalten, sondern auch eine Getreidesorte, der Weizen, aus dem das helle Weizenbrot gebacken wurde. Höfische Getränke waren Wein und Met. Außerdem hatte allein der Adel Zugang zu den teuren Gewürzen, die durch den Orienthandel ins christliche Abendland gelangten, wie Pfeffer, Safran, Ingwer, Muskat, Zucker und Zimt sowie zu den Lebensmitteln, aus denen Desserts angefertigt wurden, wie Nüsse, Mandeln, Rosinen, Datteln und Feigen. Die orientalischen Gewürze verfeinerten neben den Speisen auch die heimischen Weine315. Obst und Gemüse aß der Adel weniger und nur in gekochter Form, da der Verzehr
311 Vgl. Montanari, Massimo: Die Dreiständeordnung des Mittelalters im Spiegel der Ernährung, S. 53. In: Lothar Kolmer (Hg.): Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Beiträge des internationalen Symposions in Salzburg, 29. April bis 1. Mai 1999. Paderborn, 2000, S. 53–61. 312 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 242. 313 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 242. 314 Vgl. Hirschfelder, Gunther: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt, 2005, S. 100f. 315 Vgl. Schivelbusch, Wolfgang: Die Gewürze oder Der Beginn der Neuzeit, S. 53. In: Utz Thimm/ Karl-Heinz Wellmann (Hgg.): Essen ist menschlich. Zur Nahrungskultur der Gegenwart. Frankfurt, 2003, S. 51–63.
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von Rohem für giftig gehalten wurde316. Wesentlich war jedoch nicht nur die Auswahl, sondern vor allem auch die Quantität der Speisen317. Diese wuchs mit der Position in der sozialen Hierarchie318. Je bedeutender die Tischgesellschaft und der Anlass waren, umso mehr Speisen und Gänge wurden serviert319. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der hochmittelalterliche Adel auch viel von den aufgetischten Speisen verzehrte. Während viel zu essen im Frühmittelalter noch als Teil der Adelskultur galt, änderte sich dies im Hochmittelalter320. Es wurde zwar nach wie vor viel serviert, aber nicht mehr viel verzehrt. Im Gegensatz zum Adel aßen die bäuerlichen Schichten wenig Fleisch und nur dunkles Brot. Die bäuerlichen Speisen umfassten in erster Linie Getreide (Roggen, Gerste, Hirse, Hafer und Dinkel) und Gemüse (Kraut, Kohl, Rüben und Zwiebeln) in Form von Getreidebreis und Suppen321. Typische bäuerliche Getränke waren Wasser und Bier. Fleisch gab es vorwiegend in konservierter Form. Wegen des Futtermangels im Winter wurde das Vieh geschlachtet und anschließend geräuchert, getrocknet oder gepökelt. Auch Fische wurden durch Trocknung oder Salzen haltbar gemacht322. So zeichnete sich der Bauernstand durch den Verzehr von Konserviertem aus, während der Adel Frisches essen konnte und Gebratenes vorzog323. Der Klerus nahm eine Position zwischen Adel und Bauerntum ein. Da die Ideale des Fastens und der Askese bereits in frühchristlicher Zeit und somit auch im hohen Mittelalter eine bedeutende Rolle spielten, glich sich die klösterliche Ernährungsweise derjenigen der Bauern an, allerdings nicht aus Gründen der Armut, sondern der Demut. In den Klöstern herrschte Askese, Essen wurde aus ideellen Gründen geringgeschätzt und auf Fleisch teilweise ganz verzichtet, da dieses als Zeichen für Gewalt, Tod und Sexualität angesehen wurde324. Die christliche Ent316 317 318 319 320 321 322 323 324
Vgl. Vogt-Lüerssen, Maike: Der Alltag im Mittelalter, S. 97f. Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 100. Vgl. Montanari, Die Dreiständeordnung des Mittelalters, S. 60. Vgl. Hundsbichler, Helmut: Tischsitten, Tischzuchten, Sp. 807. In: Lexikon des Mittelalters, Band. VIII, hrsg. von Norbert Angermann. München, 1997, Sp. 806f. Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 105, vgl. auch Montanari, Die Dreiständeordnung des Mittelalters, S. 60. Vgl. Behre, Karl-Ernst: Die Ernährung im Mittelalter, S. 75f. In: Bernd Herrmann (Hg.): Mensch und Umwelt im Mittelalter, S. 74–87. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 243. Vgl. Montanari, Die Dreiständeordnung des Mittelalters, S. 54. Vgl. Montanari, Die Dreiständeordnung des Mittelalters, S. 59. Vgl. hierzu auch Elias: Über den Prozess der Zivilisation, S. 250.
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haltsamkeit äußerte sich zudem in ein bis zwei wöchentlichen Fastentagen325. Einen Sonderfall bildeten diejenigen Gläubigen, die als Anachoreten innerhalb der klösterlichen Gemeinschaft oder als Eremiten außerhalb der klösterlichen Gemeinschaft lebten. Anachoreten und Eremiten ernährten sich noch einfacher als der restliche Klerus und verzichteten nicht nur auf Fleisch, sondern generell auf kulturell überarbeitete Nahrung und aßen somit vor allem ungekochte wilde Pflanzen. Diese von Verzicht geprägte Ernährungsweise bildete einen wichtigen Bestandteil der mönchischen Spiritualität. Es ist jedoch zu beachten, dass der mittelalterliche Klerus eine heterogene Gemeinschaft war. Da die Enthaltsamkeit von den Angehörigen des Klerus nicht aus Not, sondern freiwillig geleistet wurde, bildete sich im Lauf der Zeit eine Speisekultur heraus, die sich zwar am Bauerntum orientierte, aber dennoch dem Adel annäherte. Während vor allem der niedere Klerus Verzicht leistete, wurden vom höheren Klerus auch feines Weißbrot, Fleisch und Wein und besondere Speisen beispielsweise mit Mandelmilch als Ersatz für Fleisch verzehrt326. Zudem wurden Fisch und Geflügel häufig nicht als Fleisch angesehen, da die Regula Benedicti explizit nur den Verzicht auf das Fleisch von Tieren mit vier Beinen vorschreibt. Dennoch grenzte sich die monastische Kultur ideologisch von der Speisekultur des Adels ab und verurteilte diese. So beschwerte sich beispielsweise der Zisterzienser-Abt Bernhard von Clairvaux 1124 in einer Anklageschrift über die „Fastenspeisen“ des Klosters Cluny, die sich zwar formell an die Speisegesetze hielten, aber dennoch zu üppig und zu höfisch ausfielen327. Doch nicht nur Abtrünnige aus dem Stand des Klerus wurden angeprangert, sondern auch der Adel selbst wurde für seinen Tafelluxus kritisiert328. Vor allem verurteilte der Klerus die Sünde der Völlerei, die gula. Für zwei der drei Stände, den Adel und den Klerus, existieren schriftlich fixierte Anweisungen für den richtigen Umgang mit den Speisen. Nur für den dritten Stand, das Bauerntum, sind solche Regeln nicht bekannt. Stattdessen verweisen sowohl die christlichen als auch die höfischen Tischsitten auf das Bauerntum als negatives Beispiel.
325 Vgl. Hirschfelder, Europäische Esskultur, S. 124. 326 Vgl. Vogt-Lüerssen, Der Alltag im Mittelalter, S. 108. 327 Vgl. S. Bernardi abbatis Claravallensis, Apologia ad Guillelmum Sancti-Theoderici Abbatem, Kapitel IX: Eorumdem intemperantiam comparat cum antiquorum monachorum parcimonia, 19-21. In: Patrologia Latina (PL), Sp. 909D-911B. 328 Vgl. Elias, Über den Prozess der Zivilisation I, S. 158.
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Tischsitten Neben den klösterlichen Speisevorschriften des Benedikt von Nursia existiert auch ein christlich-höfisches Reglement für den Umgang mit dem Essen. In der höfischen Literatur ist der Gedanke fest verankert, dass sich gerade derjenige, der alles im Überfluss hat, durch Mäßigung beim Essen und Trinken auszeichnen sollte329. Die höfischen Dichter konzipieren somit ein Ideal der feinen Lebensweise, das sich ebenfalls bei den zeitgenössischen Didaktikern in Form von Anstandsregeln findet. Diese Regeln für das Verhalten bei Tisch und den Umgang mit der Nahrung wurden meist von gebildeten Klerikern wie Hugo von St. Viktor († 1141), Petrus Alfonsi († nach 1143) und Thomasin von Zerklaere († 1238) verfasst. Die dem christlichen Kontext entstammenden Regeln für den Umgang mit der Nahrung stimmen weitgehend mit den Regeln für den höfischen Umgang mit der Nahrung überein. Höfische und christliche Werte und Lebensweisen stehen dabei in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander und beeinflussen sich gegenseitig. Obwohl christliche Motive in der höfischen Epik in der Regel nicht explizit in den Vordergrund treten, verkörpern die höfischen Protagonisten jedoch immer christliche Werte. So bereitet sich Erec in Hartmanns von Aue gleichnamigem Roman auf seinen letzten Kampf, die joie de la curt, vor, indem er die Messe hört, das Abendmahl empfängt, während des darauffolgenden Mahls fastet und das Mahl mit dem Trinken des Johannessegens beendet (V. 8646-8652): dô was der imbîz bereit, grôz wirtschaft die er alle meit. deheines vrâzes er sich envleiz: abe einem huone er gebeiz drîstunt, des dûhte in genuoc. ein trunc man im dar truoc und tranc sant Jôhannes segen.
Vor dem Kampf zeichnet sich Erec durch heitere Gelassenheit aus, die er mit seinem Gottvertrauen begründet (V. 8147–8153). Angesichts seiner größten ritterlichen Herausforderung setzt Erec nicht auf seine Kampfeskraft, sondern auf Gottes Beistand. Erecs Zurückhaltung bei der dem Kampf vorausgehenden Mahlzeit 329 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 246.
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ist somit nicht höfisch, sondern christlich motiviert. Erecs karges Mahl ist in christliche Handlungen eingebunden und sein überaus asketisches Essverhalten mutet schon beinahe leibesfeindlich an und erinnert an ein christliches Fastenopfer. Während höfische Dichter das Essverhalten ihrer Protagonisten mitunter christlich konnotieren, begründen umgekehrt die christlichen Didaktiker ihre Vorschriften für den Umgang mit der Nahrung häufig mit der ständischen Abgrenzung vom Bauerntum. Petrus Alfonsi widmet ein Kapitel in seinem Werk Disciplina clericalis (ca. 1115) dem richtigen Verhalten bei Tisch. Zunächst weist Petrus darauf hin, dass seine Empfehlungen für den Umgang mit der Nahrung allgemeingültig sind und sich nicht auf einen bestimmten Stand oder eine Situation beschränken. Petrus mahnt insbesondere, nicht zu viel zu essen und zu gierig zu erscheinen. Außerdem hebt er die Sorgfalt im Umgang mit dem Essen hervor: Nach dem Händewaschen sollen nur noch die eigenen Speisen berührt werden, es darf nicht in zu großen Bissen gegessen oder zu hastig getrunken werden, nicht mit vollem Mund gesprochen. Auf gar keinen Fall darf man sich von der Schüssel des Tischnachbarn bedienen. Als Begründung nennt Petrus den Aspekt der ständischen Distinktion: Et si videris bolum quod tibi placeat in parapside coram sodali, ne sumas, ne dicatur tibi prava rusticitas.330 (Und wenn du eine Speise, die dir gefällt, in der Schüssel siehst, die vor deinem Tischnachbarn steht, nimm sie dir nicht, damit man dir nicht schlechtes bäuerisches Verhalten vorwirft.)
Das Verhalten bei Tisch codiert den Stand. Die Zurückhaltung beim Essen zeugt von höfischer Gesinnung und schafft eine Abgrenzung zum Stand der Bauern, von denen erwartet wird, dass sie sich durch Gier und Maßlosigkeit auszeichnen. Außerdem spricht Petrus den gesundheitlichen Aspekt an und warnt davor, durch zu schnelles Essen und Trinken zu ersticken. Schlussendlich rät Petrus dazu, auch nach dem Essen die Hände noch einmal zu waschen. Auch Hugo von St. Viktor plädiert in seiner Schrift zur Erziehung der Klosterschüler, De institutione novitiorum (ca. 1120), für die Mäßigung des Verhaltens bei Tisch, begründet dies aber im direkten Gegensatz zu Petrus mit der Ablehnung des adeligen Tafelluxus. Unter Mäßigung versteht Hugo zum einen, ruhig zu sit330 Petrus Alfonsi, Disciplina Clericalis, S. 201.
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zen, nicht zu sprechen, und nicht über den ganzen Tisch und auf fremde Teller zu blicken. Zum anderen bezieht sich Hugo auch auf das Maßhalten in Bezug auf die Speisen und spricht sich vehement gegen ein Übermaß an Nahrung aus, wobei er anschaulich auf die Folgen der Völlerei bei übermäßigen Essern eingeht: Anhelant, et suspirant prae augustia, ita ut existimes eos alium rugienti ventri patentiorem aditum quaerere, quasi angustia faucium non possit esurienti stomacho satis sufficientem abundantiam ministrare.331 (Sie keuchen, und atmen tief auf vor Angst, sodass man glauben könnte, dass sie einen weiteren offeneren Zugang für ihren rülpsenden Magen suchen, als ob die Enge des Rachens dem hungernden Magen nicht damit dienen könnte, ausreichend Platz zu liefern.)
Des Weiteren beschäftigt sich Hugo mit den Fragen, was gegessen werden soll, wie viel davon und wie mit der Nahrung umzugehen ist. Bezüglich der Auswahl der Nahrung rät Hugo von zu feinen und teuren Speisen und außergewöhnlichen und seltenen Gerichten ab. Dabei klagt Hugo vor allem den verschwenderischen Tafelluxus an, der die Mägen derartig verwöhnt, dass sie keine einfache Kost mehr vertragen. In misogyner Manier vergleicht Hugo solche hohen Ansprüche an eine aufwendige und abwechslungsreiche Küche mit der Genusssucht schwangerer Frauen, die nicht nur Tadel, sondern auch Spott verdient: Alii superstitiosum nimis in praeparandis cibis studium adhibent, infinita decoctionum et frixurarum et condimentorum genera excogitantes, modo mollia, modo dura, modo frigida, modo calida, modo elixa, modo assa, modo pipere, modo allio, modo cumino, modo sale condita, secundum consuetudinem praegnantium mulierum desiderantes.332 (Andere widmen sich allzu sehr der überflüssigen und exzessiven Zubereitung der Nahrung, unendlichen Arten von Abkochung, von Frittieren, von Würzen, nach der Angewohnheit von schwangeren Frauen, die alles einmal erst weich, hart, kalt, heiß, gekocht, gebraten, gewürzt, mit Pfeffer, mit Knoblauch, mit Kreuzkümmel oder mit Salz begehren.)
331 Hugo von St. Viktor: De institutione novitiorum, Kapitel XVIII. De disciplina in mensa servanda, et primo in habitu et gesta. In: PL 176, Sp. 949C, D. 332 Hugo von St. Viktor: De institutione novitiorum, Kapitel XIX. De triclici observatione disciplinae in cibo, et primo quid comedendum. In: PL, Sp. 950C.
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Bezüglich der Menge an Speisen mahnt Hugo erneut, nicht zu viel zu essen, weist aber auch darauf hin, dass nicht jeder denselben Appetit hat und der eine bereits von kleinen Mengen gesättigt ist, während der andere größerer Mengen bedarf. Wichtig ist dabei nur, dass der Zustand der Überfüllung nicht erreicht wird. Bezüglich des Umgangs mit den Speisen hebt Hugo insbesondere die Sauberkeit hervor und nennt einige Beispiele, wie nicht mit der Nahrung verfahren werden sollte: Quidam inter comedendum dum scutellas exonerare volunt, quadrata ferculorum frusta adipem sive saginam superroratam distillantia mensalibus involvunt aut super injiciunt, donec iterum evisceratis interioribus ea quae remanserant, in pristinum locum reponant. Alii bibentes, digitos mediotenus poculis immergunt. Alii unctas manus ad vestimenta sua detergentes, rursus ad cibaria tractanda redeunt. Alii nudis articulis coclearis vice olera sua piscantur, ita ut in eodem jure et manus ablutionem et venter refectionem quaerere videatur. Alii semicorrosas crustas et praemorsas collyridas cibariis iterando infigunt, et reliquias dentium suorum offas facturi in poculis demergunt.333 (Manche lassen während des Mahls, wenn sie die Schüssel leeren wollen, auf den Tisch Brocken von Speise, Fetttropfen oder Schmalz fallen, so lange bis sie die Schüssel an ihren alten Platz stellen, mit allem, was noch drauf ist, von dem, was vorher darauf war. Andere tauchen während sie trinken ihre Finger zur Hälfte in die Becher. Andere wischen sich ihre fettigen Hände an ihrer Kleidung ab und fangen dann wieder an, ihre Speisen zu bearbeiten. Andere fischen statt mit Löffeln mit bloßen Händen ihr Gemüse, man könnte meinen, sie versuchen gleichzeitig sich die Hände zu waschen und den Bauch zu füllen. Andere schmeißen auf ihre Teller halbgegessene Krusten und angebissene Braten und das, was ihre Zähne übrig gelassen haben, tauchen sie in ihre Schalen, bevor es erneut zurück in den Mund geht.)
Dieser Aufzählung lässt sich entnehmen, dass der Aspekt der Abgrenzung der Nahrung von Bedeutung ist. Die Speisen sollen auf dem Teller bleiben und nicht auf den Tisch fallen, die Hände sollen nur die Speisen berühren und nicht in die Becher getaucht oder an der Kleidung abgewischt werden. Wenn es unvermeidlich ist, nach etwas zu greifen, soll der Löffel als Hilfsmittel benutzt werden. Schließlich weist Hugo darauf hin, langsam und ohne Hast zu essen und dabei 333 Hugo von St. Viktor: De institutione novitiorum, Kapitel XXI. Tertio, quomodo comedendum. In: PL, Sp. 951 A, B, 952A.
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auf Genügsamkeit und Maß zu achten und insgesamt nicht zu anspruchsvoll zu sein. Ähnliche Regeln für den richtigen Umgang mit der Nahrung, jedoch wieder stärker in Hinblick auf höfisches als auf christliches Verhalten, stellt Thomasin von Zerklaere in seiner Lehrdichtung Der welsche Gast (1216) auf334. Auch Thomasin weist darauf hin, sich die Hände zu waschen und anschließend nur die eigenen Speisen zu berühren, nicht ungeduldig auf das Auftragen der Gerichte zu warten, nicht gleichzeitig zu essen und zu sprechen, dem Tischnachbarn nicht die Speisen wegzuschnappen und nicht zu hastig in die Schüsseln zu langen. Zudem empfiehlt Thomasin, aus Rücksicht auf den Tischnachbarn diskret zu essen und den Vorgang des Verzehrs so gut wie möglich vom Nachbarn abzuwenden. Dafür kann es sogar erforderlich sein, die Hand zu wechseln (V. 502-504): man sol ezzen zaller virst mit der hand, diu engegen ist. sitzet dîn gesell ze der rehten hant, mit der andern iz zehant.
Im Gegensatz zu Petrus und Hugo nimmt Thomasin außerdem ausdrücklich Bezug auf die höfische Dichtung. Obwohl Thomasin fiktionale Dichtung grundsätzlich ablehnt, da er sie als Lügen versteht, bestätigt er dennoch ihren erzieherischen Wert und betont die Vorbildfunktion höfischer Protagonisten (V. 1107–1148). Obwohl die Autoren der klerikalen Lehrdichtungen die Notwendigkeit zur Mäßigung unterschiedlich begründen, stimmen sie in Hinblick auf die Wichtigkeit der Zurückhaltung miteinander und mit den höfischen Dichtern überein. Sowohl der höfische als auch der christliche Umgang mit der Nahrung resultiert aus einer inneren Einstellung, die gleichermaßen christliche und höfische Werte spiegelt und in der fiktionalen Literatur wie in den Tischzuchten propagiert wird: Mäßigung, Zurückhaltung, Rücksichtnahme, Ehrerbietung335.
334 Vgl. Thomasin von Zerklaere: Der welsche Gast. Ausgewählt, eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eva Wilms. Berlin, 2004, V. 1041-1080. 335 Vgl. Brüggen, Elke: Von der Kunst, miteinander zu speisen, S. 248. In: Kurt Gärtner/ Ingrid Kasten/ Frank Shaw (Hgg.): Spannungen und Konflikte menschlichen Zusammenlebens in der deutschen Literatur des Mittelalters. Bristoler Colloqium 1993, Tübingen, 1996, S. 235–249.
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Die Gattung selbstständiger Tischzuchten begann erst mit Tannhäusers „Hofzucht“ aus der Mitte des 13. Jahrhunderts336. Auch Tannhäuser legt den Schwerpunkt auf die ständische Distinktion und unterscheidet immer wieder zwischen adeligem und bäuerlichem Verhalten beim Essen. Insgesamt geht es darum, sich von den Speisen zu distanzieren und den Vorgang des Essens zu ästhetisieren. So soll man sich nicht zu tief über die Schüssel beugen, nach einzelnen Bissen schnappen, beim Kauen schmatzen (V. 41-44) oder andere Essgeräusche machen (V. 61-64) oder mit den Fingern direkt in die Sauce greifen (V. 53-56). Man soll nicht zu gierig erscheinen, indem man trinkt, wenn der Mund noch voll ist (V. 79-82). Adelig ist, wer einen Löffel alleine benutzt (V. 33-36): Kein edeler man selbander sol mit einem leffel sufen niht; daz zimet hübschen liuten wol, den dicke unedellich geschiht.
Bäuerisch hingegen ist es, einen angebissenen Rest wieder in die Schüssel zu werfen (V. 45-48): Sümliche bizent ab der sniten und stozents in die schüzzel wider nach geburischen siten; sülh unzuht legent die hübschen nider.
Doch auch Tannhäusers Lehrgedicht ist christlich beeinflusst. Religiöse Motive bilden den Rahmen und die Essgebote spiegeln jene christlichen Gebote wider, die auch Hugo von St. Viktor propagiert: das Redeverbot während der Mahlzeit (V. 65–68), die Rücksichtnahme auf den Tischnachbarn (V. 131–160), die Mahnung zum Maßhalten. Wie die klerikalen Dichter hebt Tannhäuser den gesundheitlichen Aspekt der Zurückhaltung beim Essen hervor (V. 165–168). Während Joachim Bumke und Elke Brüggen die höfischen und christlichen Anweisungen für das Verhalten bei Tisch mit der Verbesserung der Hygiene erklären337, weist Norbert Elias nachdrücklich darauf hin, dass ein Großteil der Vor336 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 268. 337 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 269.
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schriften für das Essverhalten „mit Hygiene nicht das Mindeste zu tun“338 habe. Vielmehr zeichnet sich gerade in der Lehrdichtung und den Tischzuchten jene Verschiebung der Peinlichkeitsschwelle ab, die für die zunehmende soziale Distinktion und somit für das Voranschreiten des Zivilisationsprozesses verantwortlich ist. So können viele Regeln, wie beispielsweise der Hinweis, beim Kauen nicht zu schmatzen, sich nicht zu tief über den Teller zu beugen und nicht nach den Speisen des Tischnachbarn zu schielen, nicht mit der Sorge um Hygiene und Gesundheit erklärt werden. Was zunächst als rationaler Grund für eine bestimmte Verhaltensweise erscheint, ist oftmals eine Änderung des Empfindlichkeitsgrades339. Der Prozess der Ästhetisierung des Nahrungsverzehrs und die Disziplinierung der Essgier gehen daher mit Höflichkeit, Zuvorkommenheit und Rücksichtnahme gegenüber den Tischgenossen einher340.
Mähler in der höfischen Epik In der mittelhochdeutschen Literatur spielt Essen eine wichtige Rolle. Sowohl Festmähler als auch individuelle Esssituationen werden immer wieder beschrieben. Doch obwohl die teuren höfischen Speisen im Übermaß auch in der Literatur ein wichtiges Kennzeichen für den höfischen Stand sind, werden Bedeutungen nicht kulinarisch, sondern alimentär codiert. So beschränkt sich die Beschreibung von Mählern meist auf die kurze Erwähnung der typisch höfischen Speisen, Brot, Fleisch, Wein. In der höfischen Gesellschaft wurde es also offenbar als unfein empfunden, allzu detailliert vom Essen zu sprechen341. Die kulinarischen Einzelheiten eines festlichen Mahls werden in der höfischen Epik nicht mit derselben Ausführlichkeit wie beispielsweise die Kleidung und die Waffen beschrieben342. Stattdessen konzentrieren sich die Dichter meist auf die festliche Pracht und das höfische Zeremoniell und rücken die Materialität des Essens und die Umstände des Verzehrs in den Blick: die Speisen und Getränke, das Tafelgeschirr, die Tischwäsche, die kostbaren und bequemen Sitzkissen, die Ausschmückung des Raumes343. In Bezug auf das Essen belassen es die höfischen Dichter jedoch bestenfalls bei einer 338 339 340 341 342 343
Elias, Über den Prozess der Zivilisation, S. 155. Vgl. Elias, Über den Prozess der Zivilisation, S. 155f. Vgl. Brüggen, Von der Kunst, miteinander zu speisen, S. 246. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 245. Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 245. Vgl. Brüggen, Von der Kunst, miteinander zu speisen, S. 240.
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summarischen Auflistung, da bereits die Nennung einiger typisch höfischer Speisen auf deren Zeichencharakter verweist und die Präsentation adeliger Identität sowie die Demonstration adeligen Selbstbewusstseins und Selbstverständnisses gewährleistet344. Elke Brüggen attestiert den mittelhochdeutschen Dichtern daher eine gewisse Essensfeindlichkeit und macht darauf aufmerksam, dass in Bezug auf das Essen Mäßigung erwartet wird, nicht jedoch in Bezug auf Kleidung, Rüstung etc.345 Des Öfteren lehnen es die höfischen Dichter sogar explizit ab, Auskunft über die Speisen zu geben. So weist Chrétien de Troyes, der Dichter des altfranzösischen Erec et Enide, bei der Schilderung von Erecs Krönungsmahl zwar auf die typisch höfischen Speisen Brot und Wein hin, geht aber nicht auf die tausend verschiedenen Gerichte ein, die außerdem noch serviert werden (V. 6872–6879): Mil chevalier de pein servoient, Et mil de vin, et mil de mes, Vestuz d‘ ermins peliçons fres. Des mes divers don sont servi, Ne por quant se ge nel vos di, Vos savroie bien reison randre; Mes il m‘ estuet a el antendre. (Tausend Ritter, alle in neue Hermelinpelze gekleidet, servierten Brot, tausend Wein und tausend die verschiedenen Gerichte. Von den vielartigen Speisen, die gereicht wurden, wüsste ich euch wohl Rechenschaft zu geben, obwohl ich euch nichts davon mitteile; aber ich muss meinen Sinn auf anderes richten.)
Chrétien betont somit nur den Überfluss der Speisen, der bereits ein deutliches Zeichen für die höfische Pracht des Festmahls ist, und deutet an, dass es sich nicht schickt, mehr über die einzelnen Speisen zu berichten. Chrétien stellt die Quantität der Gerichte (tausend verschiedene) sogar überzogen dar, übergeht dabei jedoch die Qualität der Speisen. Während Chrétien eingesteht, über die Speisen, die er nicht nennen möchte, Kenntnis zu besitzen, gibt Wolfram von Eschenbach hingegen Unwissenheit als Grund an, nicht auf die Speisen einzugehen, die im Parzival bei dem großen Festmahl in Clinschors Zauberburg aufgetischt werden. Im Gegensatz zu Chrétien distanziert Wolfram sich explizit von der Küchenmeisterei (637,1–4): 344 Vgl. Brüggen, Von der Kunst, miteinander zu speisen, S. 241. 345 Vgl. Brüggen, Von der Kunst, miteinander zu speisen, S. 240.
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Mîn kunst mir des niht halbes giht, ine bin solh küchenmeister niht, daz ich die spîse künne sagen, diu dâ mit zuht wart vür getragen.
Sowohl Chrétien de Troyes als auch Wolfram von Eschenbach schildern wie viele andere Dichter mittelhochdeutscher Epik gerne und ausführlich Prunk und Fülle der höfischen Mahlzeiten, da diese ein wesentliches Merkmal des höfischen Lebensstils darstellen. Die Beschreibung ist jedoch meist auf die Nennung der typischen Herrenspeisen reduziert und der Fokus liegt nicht auf den einzelnen Gerichten, sondern auf deren Exklusivität und Vielfalt, wodurch eine materielle Versorgung erreicht wird, die keine Wünsche offenlässt. Auf diese Weise gelingt es den Dichtern, den Glanz der höfischen Speisekultur zu offenbaren und dabei die als unfein empfundenen detailreichen Beschreibungen zu vermeiden. Die Nahrung wird somit gleichzeitig exponiert und marginalisiert. Doch nicht nur die höfischen Dichter, sondern auch deren adelige Protagonisten demonstrieren vornehme Zurückhaltung im Umgang mit der Nahrung. Die Nahrung in der mittelhochdeutschen Epik erweist sich somit als paradoxes Phänomen. Obwohl die höfischen Speisen aufgrund ihrer zeichenhaften Aussagekraft von hoher Bedeutung sind, unterliegt die Nahrung einer doppelten Marginalisierung: Während die Dichter es vermeiden, allzu genau von ihr zu berichten, vermeiden es die Protagonisten, allzu viel von ihr zu verspeisen. Trotz oder gerade wegen der Fülle an Speisen an der adeligen Tafel besitzt die vornehme Zurückhaltung während der Mahlzeit einen hohen Stellenwert. Dieser kann mit dem höfischen Bestreben, sich von der von Norbert Elias beschriebenen vulgären, direkten Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse zu distanzieren, erklärt werden. Somit wird in Bezug auf Nahrung die Mäßigung zum Ideal. Hartmann von Aue, der mittelhochdeutsche Bearbeiter des Erec, beschreibt kunstvoll, wie ideales ritterliches Betragen bei Tisch auszusehen hat (V. 2129–2141): dâ was sô manec ritter guot daz ich iu zeiner mâze wil sagen vin ir vrâze: wan si ahten mêre ûf ander êre danne si vræzen vil.
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dâ von ich iu kurze wil gesagen von der wirtschaft. dâ was alles des diu kraft des liute und ros solden leben: des wart in âne mâze gegeben, wan daz man des næme
Hartmann hebt insbesondere den Gegensatz zwischen dem maßvollen Essverhalten der Ritter und dem maßlosen Überfluss an Speisen hervor. Auffällig ist bei der Schilderung von Erecs Hochzeitsmahl zudem, dass Hartmann mit keinem Wort darauf eingeht, was es zu essen gibt. Obwohl die Schilderung der Mahlzeit 19 Verse umfasst, wird keine einzige Speise genannt. Für Hartmann sind die Quantität der Speisen und das zurückhaltende Verhalten der Hochzeitsgäste also von größerer Bedeutung und Aussagekraft als die Aufzählung der einzelnen Gerichte.
Alleine essen – Codierung höfischer Identität
Die Art der Speisen und das Verhalten eines Protagonisten bei Tisch sind in der höfischen Epik von Bedeutung und besitzen Zeichencharakter, der beispielsweise auf den gesellschaftlichen Stand, aber auch auf die individuelle Situation schließen lässt und somit höfische Identität codiert. Die Verhandlung höfischer Identität anhand der Nahrung in der mittelhochdeutschen Epik zielt immer auf inkludierende bzw. exkludierende Prozesse ab. Jan Assmann weist darauf hin, dass sich die Identität eines Individuums durch das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Kollektiv oder einer Gesellschaft konstituiert346. Aron Gurevic betont zudem, dass dem Mittelalter die Vorstellung fremd war, dass jede Persönlichkeit einmalig ist und individuellen Ausdruck sucht347. Rainer Warning zufolge zielt gerade die höfische Epik des hohen Mittelalters daher nicht darauf ab, dass sich die Protagonisten entwickeln und eine individuelle Identität ausbilden, sondern darauf, dass sie innerhalb eines höfisch-ritterlichen Kollektivs Zugehörigkeit erlangen und dessen Ideale verkörpern, bzw. darauf, diesen Prozess zu problematisieren. Höfisch-ritterliche Identität kann somit als die „fortschreitende Ausbildung von Erwartungshaltungen, als Interiorisierung […] der gesetzten Normen“ definiert werden348. Figuren unterscheiden sich also vor allem dadurch, wie gut sie den höfischen Idealen gerecht werden. Um das Bestehen eines Ritters innerhalb der höfischen Welt zu beurteilen, lohnt sich eine Analyse des Essverhaltens, das ihm in der höfischen Epik zugeschrieben wird. Ob ein höfischer Protagonist alleine oder in Gesellschaft speist, was er verzehrt und wie er sich bei Tisch verhält, lässt deutliche Rückschlüsse auf seinen Identitätsstatus zu. Während die Gesellschaft zwar über die Essbarkeit und die Präferenz einzelner Speisen entscheidet, treffen die Protagonisten innerhalb dieser Auswahl noch eine persönliche Auswahl. Protagonisten können also durch ihr Verhalten bei Tisch individuelle Unterschiede umsetzen, die stets in Bezug zu ihrer Identität stehen: durch die Menge an verzehrten Speisen, durch die Art und Wei346 Vgl. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. 347 Gurevic, Aron: Das Weltbild des mittelalterlichen Menschen. 348 Warning, Rainer: Formen narrativer Identitätskonstruktion im Höfischen Roman, S. 568. In: Odo Marquard/Karlheinz Stierle (Hgg.): Identität. München, 1996, S. 553–589.
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Alleine essen – Codierung höfischer Identität
se des Verzehrs und durch die angenommene Rolle (wie z. B. Gast oder Gastgeber, Dame oder Ritter, höfisch oder nicht-höfisch). Die mittelhochdeutschen Dichter schildern die höfische (Tisch-)Gemeinschaft als eine exklusive Gesellschaft, die ebenso Mitglieder aufnehmen wie ausschließen kann. Die Erlangung einer höfischen Identität hängt von der Zugehörigkeit zum höfischen Kollektiv ab, welche wiederum die Teilnahme am höfischen Mahl und am höfischen Verhaltenscodex erfordert. Gelingt die Umsetzung des höfischen Habitus bei Tisch, so besitzt das Mahl das Potenzial, die höfische Identität eines Protagonisten zu stärken und nach außen widerzuspiegeln. Umgekehrt hat die Abweichung einer literarischen Figur vom höfischen Verhaltenscodex bei Tisch deren Ausschluss aus der Hofgesellschaft zur Folge und lässt gleichzeitig auf eine Verunsicherung ihrer höfischen Identität schließen. Ein Protagonist, dessen höfische Identität erschüttert ist, kann nicht an einer höfischen Mahlzeit teilnehmen oder fällt zumindest durch sein Verhalten auf. Alleine eingenommene Mähler, die eine höfische Ausnahmesituation darstellen, sind somit immer die Folge einer Exklusion aus der höfischen Tischgemeinschaft, die wiederum aus einer Identitätskrise des Protagonisten resultiert. Einsam verzehrte Mahlzeiten kennzeichnen höfische Defizite und gehen zudem häufig mit dem Verzehr unhöfischer Speisen bzw. einem unhöfischen Essverhalten einher. Diese einsamen Mähler dienen aber auch als Voraussetzung der Akkulturation oder der Rekultivierung und Resozialisierung sowie der Selbstvergewisserung und Selbstpositionierung höfischer Protagonisten349. Auf die Desintegration eines höfischen Protagonisten aus der Tischgemeinschaft folgt somit in der Regel seine Reintegration. Die mittelhochdeutschen Dichter schildern dabei zum einen solche Fälle, bei denen ein von Geburt an zum Rittertum bestimmter Protagonist wie Parzival im gleichnamigen Roman Wolframs von Eschenbach erst mittels eines Individuationsprozesses in die höfische Gesellschaft eingeführt werden muss, und zum anderen solche Fälle, bei denen ein der höfischen Gesellschaft zugehöriger Protagonist aufgrund eines Vergehens wieder von ihr ausgeschlossen wird und sich rehabilitieren muss. Es lassen sich somit die drei Fälle Integration, Desintegration und Reintegration unterscheiden. Der höfische Protagonist speist entweder alleine, da er noch nicht in das höfische Kollektiv aufgenommen, also integriert, 349 Vgl. Ehlert, Trude: Das Rohe und das Gebackene. Zur sozialisierenden Funktion des Teilen von Nahrung im Yvain Chrétiens de Troyes, im Iwein Hartmanns von Aue und im Parzival Wolframs von Eschenbach, S. 24. In: Lothar Kolmer (Hg.): Mahl und Repräsentation, S. 23–40.
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ist oder da er aus diesem wieder ausgeschlossen, also desintegriert, ist oder aber da er noch nicht wiederaufgenommen, also reintegriert, ist. Bei der Integration geht es darum, die höfischen Verhaltensweisen grundlegend zu erlernen und sich bei der anschließenden Umsetzung zu bewähren. Die Teilnahme an der höfischen Tischgemeinschaft und das Essverhalten sind somit zuverlässige Indikatoren für den Grad der Integration in die höfische Gesellschaft. Umgekehrt kennzeichnet die Nichtteilnahme am höfischen Mahl den Ausschluss aus der höfischen Gesellschaft, wobei verschiedene Abstufungen und Variationen möglich sind. So verdeutlicht sich Erecs liminaler Zustand im gleichnamigen Roman Hartmanns von Aue durch den Verzehr höfischer Speisen abseits der höfischen Gesellschaft, während er in der altfranzösischen Vorlage Chrétiens de Troyes sowohl rohe als auch gekochte Speisen bei einem Artusmahl verzehrt. Im IweinRoman Hartmanns hingegen verliert der Titelprotagonist seine höfische Identität vollständig, was sich sowohl durch die Einsamkeit seiner Mahlzeiten als auch durch deren Qualität und durch Iweins Essverhalten ausdrückt. All diese Parameter entsprechen dem exakten Gegenteil des höfischen Ideals, wodurch der Dichter eine maximale Erschütterung von Iweins höfischer Identität zum Ausdruck bringt. Auch im Fall der Reintegration in die höfische Tischgemeinschaft sind verschiedene Variationen möglich. So kann sich Erec nach der Versorgung mit Krankenkost in die höfische Tischgemeinschaft reintegrieren, während Iwein den kulturellen Umgang mit der Nahrung vollkommen neu erlernen muss. Die Gesellschaft bei der Mahlzeit, das Essverhalten eines Protagonisten und die Qualität seiner Nahrung geben somit immer Aufschluss über seine Identität.
1. Integration Der Parzival und der Willehalm Wolframs von Eschenbach schildern zwei integrative und identitätsbildende Prozesse, bei denen sich die Protagonisten, Parzival und Rennewart, mittels einer Reihe teils formloser oder sogar einsamer Esssituationen in das höfische Kollektiv eingliedern. Sowohl Parzival als auch Rennewart sind zunächst bei höfischen Mählern aufgrund ihrer unhöfischen Tischmanieren und ihres Essverhaltens inmitten der höfischen Gemeinschaft isoliert. Die höfischen Fortschritte, die beide Protagonisten durchlaufen, sind ebenfalls anhand ihres Umgangs mit der Nahrung erkennbar. Wolfram dokumentiert detailreich Parzivals und Rennewarts Essverhalten vor der höfischen Unterweisung sowie während der einzelnen Entwicklungsstadien. Insbesondere auf Parzivals alimentäre Sozialisation geht Wolfram ausführlich ein. Indem er Rennewart jedoch mit dem jungen Parzival vergleicht, knüpft Wolfram an im Parzival errichtete Deutungsmuster und Motive an und ruft diese im Willehalm wieder auf.
1.1. Parzivals Appetit Parzival durchläuft einen langen Individuationsprozess, in dessen Verlauf er eine zweifache Integration, in die Artusgesellschaft und in die Gralsgemeinschaft, bewältigen muss und sich dabei vom unkultivierten Tor zum höfischen Ritter und schließlich zum Gralsritter wandelt. Insbesondere Parzivals Essverhalten kennzeichnet prägnant seine verschiedenen Identitätsstadien. Jede Station von Parzivals Entwicklung ist nicht nur mit einer Einkleidung350, sondern auch mit einer Mahlzeit verbunden351. Parzival wird fernab der Zivilisation, und somit auch jenseits der höfischen Esskultur, in der Einöde von Soltane geboren und unmittelbar nach seiner Geburt von seiner Mutter Herzeloyde gestillt. Durch das Trinken der Muttermilch kommt es zu einer Verbindung von Parzivals Nahrungstrieb mit seinem Sexualtrieb. Diese Verknüpfung beider Triebe bleibt bestehen, als Parzival Soltane verlässt, und 350 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider 351 Vgl. Fritsch-Rößler, Waltraud: Ritardando: Parzivals Weg zu den Wurzeln und die Sinnschicht des Essens in Wolframs Roman, S. 300. In: Christa Grewe-Volpp/Werner Reinhart (Hgg.): Erlesenes Essen. Literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge zu Hunger, Sattheit und Genuss. Tübingen, 2003, S. 289–313. Vgl. auch Roos, Renate: Begrüßung, Abschied, Mahlzeit. Studien zur Darstellung höfischer Lebensweise in Werken der zeit von 1150–1320. Bonn, 1975, S. 366.
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zeigt sich besonders deutlich bei seiner Begegnung mit Jeschute. Erst während seines Aufenthalts bei dem Edelmann Gurnemanz erlernt Parzival höfisches Verhalten und Tischmanieren und übt insbesondere die richtige Form des gemeinsamen Speisens von Ritter und Dame. In Pelrapeire vervollkommnet Parzival schließlich sowohl seinen höfisch-herrscherlichen Umgang mit der Nahrung als auch mit der Sexualität. Parzival wird vorübergehend in die Tischgemeinschaft der Gralsgesellschaft integriert, in der er jedoch scheitert. Parzivals Aufnahme in die Tischgemeinschaft der Tafelrunde wiederum wird durch die Anklage der Gralsbotin Cundrie verhindert.
Sexuelle Speisen Nahrung begleitet Parzivals höfisch-ritterliche, seine sexuelle, religiöse und herrscherliche Sozialisation. Essen spielt für Parzival von Beginn seines Lebens an eine hervorgehobene Rolle. Parzivals alimentäre Sozialisation setzt unmittelbar nach seiner Geburt ein. Herzeloyde stillt Parzival trotz ihrer königlichen Stellung selbst (113,5–12): Diu küngîn nam dô sunder twâl diu rôten välwelohten mâl: ich meine ir tüttels gränsel: daz schoup si im in sîn vlänsel. Selbe was sîn amme diu in truoc in ir wamme: an ir brüste si in zôch die wîbes missewende vlôch.
Das Stillen besitzt einerseits eine sexuelle und andererseits eine religiöse Konnotation. Das Trinken an der Mutterbrust ist Parzivals erste sexuelle Erfahrung; wie sich später bei der Begegnung mit Jeschute zeigen wird, ist Parzival nicht in der Lage, zwischen sexueller und alimentärer Befriedigung zu differenzieren. Auch für Herzeloyde bedeutet das Stillen mehr als nur Ernährung, da sie in Parzival seinen toten Vater Gahmuret wiedererkennt (113,12f): si dûht, si hete Gahmureten/ wider an ir arm erbeten. Gleichzeitig besitzt das Stillen auch eine religiöse Konnotation, da Herzeloyde sich selbst zur Maria lactans stilisiert (113,17–22):
Alleine essen – Codierung höfischer Identität
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(vrou) Herzeloyde sprach mit sinne: „die hoehste küneginne Jêsus ir brüste bôt, der sit durch uns vil scharpfen tot ame criuze mennischlîche enpfienc und sîne triuwe an uns begienc.
Bereits Julius Schwietering verweist auf die Parallele der Parzival-Episode mit der ikonografischen Darstellung der stillenden Mutter Gottes, die er als Profanisierung und Entgöttlichung bezeichnet352. Karl Bertau weist darauf hin, dass in dieser Szene eine Wechselwirkung zwischen weltlicher und geistlicher Sphäre stattfindet, womit sich nicht eindeutig festlegen lässt, dass Wolfram Herzeloyde sakralisiert oder Maria säkularisiert353. Gleiches trifft auf den jungen Parzival zu, der dementsprechend mit dem Jesuskind parallelisiert wird, ein Vergleich, der auf sein späteres Gralskönigtum hindeutet. Ebenso wie Gott Vater und Sohn in einer Person vereint, drückt auch die stillende Herzeloyde mit Parzival Vater und Sohn an sich354. Durch das Stillen wird Parzivals Ernährung zum einen sakral konnotiert und zum anderen die Verbindung zwischen Nahrungsaufnahme und Sexualbefriedigung geknüpft. Diese Verknüpfung trennt sich bei Parzival jedoch vorerst nicht in zwei Triebe auf, sondern bleibt bestehen. Als Kind ist Parzival eine hybride Gestalt, deren äußere Schönheit in ihrem Benehmen keine Entsprechung findet. Wolfram beschreibt Parzival als einen knappen tump und wert (126,19), dessen Schönheit und Jagdgeschick auf seine vornehme Abstammung verweisen, der aber in der waste von Soltane nicht die ihm von Geburt an zustehende adelige Erziehung erhält. Der Wald als locus terriblis gilt in der höfischen Literatur als Gegenstück des Hofes; er verkörpert als Ort der undomestizierten Natur maximale Kultur- und Zivilisationsferne. Die Natur ist nicht nur der Bereich des Kreatürlichen und Bäuerlichen, des Undisziplinierten und Nichthöfischen, den der Adel zu überwinden sich bemüht, sie ist auch der Ort der 352 Vgl. Schwietering, Julius: Mittelalterliche Dichtung und bildende Kunst, S. 115f. In: ZfdA 60, 1923, S. 113–127. 353 Vgl. Bertau, Karl: Wolfram von Eschenbach: Neun Versuche über Subjektivität und Ursprünglichkeit in der Geschichte. München, 1983, S. 274. 354 Ruth Sassenhausen hebt hervor, dass Herzeloyde Parzival mit Gahmuret identifiziert. Vgl. ders.: Wolframs von Eschenbach „Parzival“ als Entwicklungsroman. Gattungstheoretischer Ansatz und literaturpsychologische Deutung. Köln, 2007, S. 95.
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physischen und animalischen Bedürfnisse wie Hunger und Durst, die den Menschen auf seine Leiblichkeit reduzieren355. Das Leben im Wald ist somit tendenziell defizitär und erfordert umso mehr die Einübung des aristokratischen Lebensstils356. Herzeloyde erzieht ihren Sohn jedoch nicht höfisch357; sie schirmt ihn vielmehr von der Außenwelt ab und hält ihn absichtlich von der höfischen Lebensform und insbesondere vom Rittertum fern, sodass Parzival ohne Vorstellung von höfischer Kultur in der Isolation aufwächst. Resultat von Parzivals Kindheit in der Wildnis ist seine tumpheit, ein künstlich erzeugter Zustand des Nicht-Wissens und NichtVerstehens358, der auf mangelnder Bildung beruht und die Unkenntnis über kulturelle Errungenschaften wie Mode und Tischsitten und die damit einhergehende Selbstdisziplinierung umfasst. Parzival gibt seinen natürlichen Trieben, wie dem Hunger, schnell nach. Insbesondere Chrétien de Troyes hebt Percevals starken Hunger in der altfranzösischen Vorlage hervor, der mit einem Mangel an Selbstreflexion und Empathiefähigkeit einhergeht. Während Percevals Mutter ihn mit seiner Familiengeschichte vertraut macht, ist Perceval nicht in der Lage, den Bericht über seine Genealogie aufzunehmen oder sogar darauf einzugehen, sondern lässt sich von einem plötzlichen Hungergefühl völlig vereinnahmen (V. 489–492): Li vallés entent molt petit A che que sa mere li dist. „A mengier, fait il, me donez; Ne sai de coi m‘ araisonnez.“ (Der Junge hört gar nicht richtig hin auf ihre Worte. „Gebt mir zu essen!“ fordert er sie auf. „Ich verstehe nicht, worüber Ihr mir hier Vorträge haltet.“)
355 Vgl. Wenzel, Horst: Ze hove und ze holze – offenlich und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied, S. 282. In: Gert Kaiser/Jan-Dirk Müller (Hgg.): Höfische Literatur, Hofgesellschaft, Höfische Lebensformen um 1200. Kolloquium am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 3. bis 5. November 1983. Düsseldorf, 1986, S. 277–300. 356 Vgl. Wenzel, Ze hove und ze holze, S. 279. 357 Herzeloydes Ratschläge können nicht als Einführung in den höfischen Umgang angesehen werden, zumal der im Wald groß gewordene Parzival nicht fähig ist, diese praktischen Anweisungen, die nur im Rahmen der höfischen Welt Sinn machen, in den richtigen Kontext einzuordnen. Vgl. Schnyder, Mireille: Topographie des Schweigens. Untersuchungen zum deutschen höfischen Roman um 1200. Göttingen, 2003, S. 296. 358 Vgl. Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart, Metzler, 2004, S. 56.
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Da Parzival weder in Bezug auf das Essen noch in Bezug auf die Liebe höfisch erzogen wird, bleiben seine natürlichen Triebe undiszipliniert und dominieren sein Handeln. Parzivals Lieblingsbeschäftigung während seiner Kindheit ist die Jagd. Beatrice Trinca weist darauf hin, dass zwischen Jagd und Liebe in einer bis in die Antike zurückreichenden literarischen Tradition ein enger Bezug besteht359. Insbesondere im Werk Wolframs von Eschenbach stellt die Jagd meistens eine Metapher für das erotische Begehren dar360. Auch wenn Parzival in Soltane keine sexuellen Handlungen ausführt, übt er dennoch eine Beschäftigung aus, die vordergründig der Nahrungsbeschaffung dient (120, 2-6) und mit Sexualität assoziiert wird. Parzival beweist bei der Jagd außergewöhnliches Geschick und große Stärke. Indem er seine Jagdbeute jedoch unzerlegt auf seinen Schultern heim trägt (120, 8-10), wird, verglichen mit der bast im Tristan, deutlich, dass Parzivals Begabung als Jäger zwar von seiner hohen Abkunft zeugt, seine Form der Ausführung der Jagd aber unkultiviert ist. Erst nachdem er seine Mutter, mit dem Ziel sich von König Artus zum Ritter schlagen zu lassen, verlassen hat, durchläuft Parzival eine zunehmende Kultivierung, die Voraussetzung für seine Identitätsbildung ist. Als Parzival Soltane verlässt, sind sein alimentärer und sein sexueller Trieb nach wie vor unkultiviert und miteinander verbunden. Diese Verbindung offenbart sich bei seiner ersten Begegnung mit einer höfischen Dame. Nachdem Parzival den Wald von Briziljan durchquert hat, trifft er auf Jeschute, die auf einer Wiese in einem kostbaren Zelt schläft. Bevor er das Zelt betritt, das er für eine Kirche hält, äußert Perceval bei Chrétien seinen großen Hunger (V. 664-666): „Je li irai priier par foi Qu‘ il me doinst anqui a mengier, Que j‘ en aroie grant mestier.“ („Gewiss will ich ihn nun bitten, mir heute Speise zu schenken, denn ich bräuchte sie dringend.“)
Die schöne, halbnackte Jeschute stellt insbesondere bei Wolfram, der sie ausführlich beschreibt, den Inbegriff sexueller Verlockung dar. In dem Glauben, die Lehren seiner Mutter zu befolgen, springt der tumbe Parzival zu Jeschute ins Bett, 359 Vgl. Heinrich von Veldeke, Eneasroman und Andreas Capellanus, De amore. 360 Vgl. Trinca, Beatrice: Parrieren und undersniden. Wolframs Poetik des Heterogenen. Heidelberg, 2008, S. 157. Vgl. auch das Kapitel zu Essen als Metapher der Intimität.
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küsst sie auf den Mund, nimmt ihr mit Gewalt Ring und Brosche und verkündet anschließend seinen Hunger. Während Perceval bereits über Hunger klagt, bevor er Jeschute sieht, wird Parzival erst in dem Moment hungrig, als er mit ihr ringt. Wolfram hat Parzivals Hunger also in diese Szene verlegt. Der Überfall auf Jeschute zeugt von der Überschneidung von Parzivals Hungertrieb mit seinem Sexualtrieb. Der mittelhochdeutsche Begriff ringen (131, 21), der sowohl kämpfen als auch umarmen bedeutet, und der Raub von Ring und Brosche, ein Motiv, das in der mittelhochdeutschen Literatur auch als Metapher der Defloration fungiert361, deuten den sexuellen Charakter von Parzivals Übergriff an. Waltraud FritschRößler bezeichnet Parzivals Begegnung mit Jeschute daher als ironisierte sexuelle Initiation362 und Barbara Nitsche weist zudem darauf hin, dass das in dieser Episode von Wolfram verwendete Vokabular dem der Schilderung sexueller Gewalt entspricht363. Die quasi-sexuellen Handlungen, die Parzival an Jeschute vollzieht, rufen bei ihm einen Trieb hervor, den er als Hunger identifiziert. Das Mahl, das Parzival daraufhin einnimmt, erhält dadurch die Funktion eines Substituts für den Sexualakt364. Sigmund Freud zufolge ist die erste prägenitale Sexualorganisation die orale oder kannibalische. Die Sexualtätigkeit ist hier noch nicht von der Nahrungsaufnahme getrennt und „das Objekt der einen Tätigkeit ist auch das der anderen“365. Das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objekts des Begehrens, die eine Vorstufe der Identifizierung darstellt. Indem Parzival das Essen verschlingt, befriedigt er somit gleichzeitig seinen alimentären und seinen sexuellen Trieb. Wolfram und Chrétien setzen bei Parzivals Mahlzeit unterschiedliche Akzente: Während das Mahl bei Wolfram aus zwei jungen Rebhühnern besteht, die, wie Jeschute betont, für sie und Orilus, aber nicht für Parzival vorgesehen waren, plant 361 Hans Naumann sieht in dieser Szene eine Parallele zum Spiegelraub in der Neidhart-Dichtung. Die gegen eine Frau gerichtete unrechtmäßige sexuelle Gewalt äußert sich in der Wegnahme eines höfischen Requisits, wobei die Art des Requisits, Spiegel, Ring oder Brosche, von nachgeordneter Bedeutung ist. Vgl. Ders.: „Frideruns Spiegel“, S. 298. In: ZfdA 69, 1932, S. 297–299. Eine weitere Parallelszene stellt das Ringen Siegfrieds mit Brünhild im Nibelungenlied dar. Während des zweiten Betrugs an Brünhild bringt Siegfried ihr weißes Hemd in Unordnung, zieht ihr den Ring vom Finger und stiehlt ihr den Gürtel. Vgl. auch Trinca, Parrieren und undersniden, S. 91f. 362 Fritsch-Rößler, Parzivals Weg zu den Wurzeln, S. 300. 363 Vgl. Nitsche, Barbara: Die literarische Signifikanz des Essens und Trinkens im Parzival Wolframs von Eschenbach. Historisch-anthropologische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur, S. 256. In: Euphorion Bd. 94, Heft 3, 2000, S. 245–271. 364 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 179. 365 Freud, Sigmund: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Hamburg, 2010, S. 80.
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Chrétien Perceval in das Mahl, bestehend aus drei Rehpasteten, mit ein366. Ohne auf die Klagen des Fräuleins zu achten, fällt Perceval ausgehungert über die Pasteten und den Wein her (745-755): Por le fain qui forment l‘ angoisse, Un de pastez devant lui froisse Et mengüe par grant talent, Et verse en la colpe d‘ argent Del vin qui n‘ estoit mie lais, S‘ en boit sovent et a grans trais, Et dis: „Pucele, cist pasté N‘ estroint hui par moi gasté. Venez mengier, qu‘ il sont molt buen, Assez avra chascuns del suen, S‘ en i remandra uns entiers.“ (Vor lauter Hunger zerpflückt er eine der Pasteten vor ihm und isst mit großem Appetit. Auch gießt er von dem wahrlich nicht schlechten Wein etwas in den Silberpokal und trinkt oft und in großen Schlucken davon. „Fräulein“, sagt er, „ich kann heute wohl kaum alle diese Pasteten verzehren. Kommt auch essen, sie sind sehr gut. Jeder von uns wird mit der seinen satt werden, und dann bleibt noch eine ganze übrig.“)
Perceval lässt sich nicht erst auf die vorhandenen Speisen hinweisen, sondern bedient sich an Wein und Rehpasteten, während das Fräulein noch den Verlust ihres Ringes beweint. Auf diese Weise wirkt Percevals Mahl mehr als das von Parzival wie ein Raub. Allerdings hat Perceval das Zelt zuvor auch in der Hoffnung betreten, Nahrung zu finden (665f). Deutlicher als Wolfram schildert Chrétien den Mangel an Tischmanieren: Perceval zerpflückt sein Essen, trinkt in großen Schlucken und lobt den Geschmack der Speisen. In einer Gesellschaft, in der maßvolle Zurückhaltung beim Essen das Ideal verkörpert, kennzeichnet das Verschlingen der Speisen Perceval als antihöfisch. Sein übergroßer Appetit und seine unfeinen Manieren kontrastieren mit den höfischen Speisen und sein Versuch, eine Essgemeinschaft mit dem Fräulein herzustellen, scheitert. Während Chrétien vor allem das unhöfische Verhalten Percevals betont, stellt Wolfram die sexuellen Implikationen stärker in den Vordergrund. Bei Wolfram 366 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 180.
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ist es Jeschute, die Parzival auf die Speisen aufmerksam macht, um sein alimentärsexuelles Interesse von sich selbst abzulenken. Indem Jeschute Parzival darum bittet, nicht selbst von ihm gegessen zu werden, betitelt sie sich als „sexuelle Speise“367 (131, 24–132, 3): si sprach „ir solt mîn ezzen niht. Waert ir ze vrumen wîse, ir naemt iu ander spîse. dort stêt brôt unde wîn, und ouch zwei pradrîsekîn, als si ein juncvrouwe brâhte, diu es wênec iu gedâhte.“ Ern ruochte wâ diu wirtin saz: einen guoten cropf er az, dar nâch er swaere trünke tranc.
Jeschutes Bitte, sie nicht zu essen, weist darauf hin, dass Parzival nicht zwischen Ernährung und Sexualität differenziert und seine alimentären wie sexuellen Triebe dadurch zu befriedigen versucht, dass er sich das Objekt seines Begehrens durch Verzehr einverleibt. Jeschute lenkt Parzivals Interesse auf ein anderes Objekt um. Parzivals „gewalttätige“ Art zu essen, das gierige Verschlingen der Nahrung, ersetzt die vom Rezipienten erwartete sexuelle Handlung. Indem Parzival nicht Jeschute „isst“, sondern stattdessen die für sie bestimmte Mahlzeit vertilgt, erscheint er als „kulinarischer Vergewaltiger“368. Implizit spielt Wolfram dabei auf das erotische Jagdmotiv an: Parzival verzehrt die Rebhühner und füllt sich dabei wie ein Jagdvogel, der zur Rebhuhnjagd eingesetzt wird, den Kropf369. Orilus, der nach Parzivals Verschwinden erscheint, vermutet statt eines alimentären einen sexuellen Übergriff und bestraft Jeschute dementsprechend auf alimentärer und sexueller Ebene durch die Aufkündigung der ehelichen Gemeinschaft von Tisch und Bett. Zudem erlegt er Jeschutes Pferd eine Nahrungsstrafe auf. Während Orgueilleux bei Chrétien dem Pferd keinen Hafer mehr zu fressen gibt (822f), lässt Orilius es hungern (137, 2). Bei Chrétien beschuldigt Orgueilleux Perceval, nicht nur seine 367 Vgl. Nitsche, literarische Signifikanz, S. 256. 368 Vgl. Nitsche, literarische Signifikanz, S. 256. 369 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 179.
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Frau vergewaltigt zu haben, sondern auch, seine Pasteten gegessen zu haben (V. 3880-3884), was darauf hindeutet, dass für ihn Ehebruch bzw. Vergewaltigung und Nahrungsraub in einem korrelierenden Verhältnis stehen. Wolfram spinnt das Motiv der erotisierten Jagd weiter aus. Nach ihrer Versöhnung essen Orilus und Jeschute in ihrem Bett sitzend mit vröuden gebratene Vögel, die mit der Falle gefangen wurden, und tauschen zärtliche Küsse aus (273, 26–30). Insbesondere bei Wolfram findet somit ein Changieren zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung statt. Parzival reagiert auf den sexuellen Reiz, der von Jeschute ausgeht, mit Hunger, die Erfüllung seines Hungerbedürfnisses beinhaltet jedoch sexuelle Implikationen370. Wolfram und Chrétien inszenieren zudem bei der Begegnung von Parzival und Jeschute ein groteskes Gast-Gastgeber-Verhältnis: Parzival fällt uneingeladen über Jeschute und ihr Essen her, trotz ihres Hinweises, die Speisen seien nicht für ihn bestimmt. Er verhält sich ihr gegenüber rücksichtslos und ignoriert sie während der Mahlzeit. Perceval dagegen bietet dem Fräulein zwar von seinem Essen an, stört sich aber während der Mahlzeit nicht an ihrem fortwährenden Weinen. Sowohl Parzival als auch Perceval zeichnen sich durch kreatürliche Triebhaftigkeit aus, indem sie den völligen Mangel an Tischmanieren demonstrieren. Gleichzeitig besitzen sie keine Empathie und sind unfähig ihr Verhalten zu reflektieren. Die höfische Tischgemeinschaft von Ritter und Dame wird sowohl von Wolfram als auch von Chrétien karnevalisiert, indem die Dichter die Kreatürlichkeit des Helden in den Mittelpunkt des Geschehens stellen, was komische Effekte zur Folge hat371. Resultat von Parzivals Verhaltens ist, dass Jeschute ihn nicht nur für unhöfisch hält, sondern denkt, er habe den Verstand verloren. Während Jeschute sich für diese Begegnung schämt, freut sich Parzival über den erbeuteten Ring und die Brosche. Der Kontrast zwischen Scham und Freude hebt hervor, dass sich Parzival seines Handelns nicht im mindesten bewusst ist. Die Jeschute-Episode ist somit darauf ausgelegt, Parzivals Mängel aufzuzeigen und macht deutlich, dass Parzival soziale Interaktionsstrukturen erst noch erlernen muss. Er ist sich nicht nur des gesellschaftlichen Verhaltenscodex unbewusst und kann weder die Bedeutung noch die Konsequenzen seines Handelns ermessen, sondern empfindet auch kein Mitleid und kann sein eigenes Verhalten nicht reflektieren372. 370 Vgl. Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, S. 126. 371 Zur Komik im ,Parzival‘ vgl. Coxon, Sebastian: Der Ritter und die Fährmannstochter. Zum schwankhaften Erzählen in Wolframs ,Parzival‘. In: Wolfram-Studien 17 (2002), S. 114–135. 372 Vgl. auch Sosna, Anette: Fiktionale Identität im höfischen Roman um 1200: Erec, Iwein, Parzival,
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Höfische Speisen Einige Zeit nach seiner Begegnung mit Jeschute gelangt Parzival zum Schloss des Edelmanns Gurnemanz. Dieser erahnt Parzivals adelige Abstammung und lädt ihn zum Abendessen ein. Ebenso wie bei Jeschute legt Parzival ein unzivilisiertes Essverhalten an den Tag und verzehrt innerhalb kurzer Zeit eine große Menge an Speisen, wobei er so ziemlich alle Regeln der höfischen Etikette verletzt. Bei Parzivals zweiter Mahlzeit in Gurnemanz’ Burg am nächsten Mittag verhält sich Parzival immer noch gierig. Dem Mahl geht dieses Mal allerdings ein Besuch in der Messe voraus und während des Essens unterhält sich Gurnemanz mit Parzival. Anschließend erhält Parzival von Gurnemanz eine standesgemäße Erziehung, wodurch sich auch sein Verhalten bei Tisch sukzessiv verbessert. Gurnemanz rät Parzival insbesondere zur Mäßigung (171, 13–16). Am Abend lässt Gurnemanz Parzival mit seiner Tochter Liaze speisen und gestattet Liaze, Parzival den Willkommenskuss zu geben. Während der Mahlzeit schneidet Liaze ihm vor, ein Verhalten, das eine besondere Aufmerksamkeit darstellt. Somit demonstriert das gemeinsame Mahl nicht nur Parzivals gelungene höfische Sozialisation, sondern fungiert auch als erotische Situation, da Gurnemanz plant, Liaze mit Parzival zu verbinden und das Mahl als Ort der Begegnung wählt. Das gemeinsame Speisen mit Liaze kontrastiert mit Parzivals Begegnung mit Jeschute; Parzivals Sozialisation im Umgang mit der Nahrung korreliert mit seiner Sozialisation im Umgang mit Frauen. Von seiner Begegnung mit Jeschute bis zum gemeinsamen Speisen mit Liaze hat Parzival eine Entwicklung durchlaufen und ist höfisch und alimentär sozialisiert. Der Aufenthalt Parzivals bei Gurnemanz besitzt sowohl bei Wolfram als auch bei Chrétien den Charakter eines rituellen Übergangs, bei dem insbesondere die Mähler eine hervorgehobene Rolle spielen373. Parzivals Nahrungstrieb bleibt mit seinem Sexualtrieb jedoch nach wie vor verbunden, durch die höfische Erziehung wird er allerdings kultiviert. Die Verknüpfung von Nahrung und Sexualität, die bei Herzeloyde durch das Stillen auf leiblicher Ebene entstanden ist, wird durch Gurnemanz’ Erziehung auf eine höfische Ebene verlagert. Nachdem Parzival Gurnemanz und Liaze verlassen hat, gelangt er zur Burg Pelrapeire. Chrétien zählt die Speisen auf, die es in der belagerten Burg nicht gibt (V. 1771–1773): Wein, Fladen, Brot, Teig, Cidre und Bier. Trotzdem erscheint die Tristan. Stuttgart, 2003, S. 170. 373 Vgl. Kapitel zu Initiation als Identitätsbildung.
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Königin, die bei Chrétien Blancheflor heißt, elegant und munter, um Perceval zu begrüßen. Chrétien spielt bei der Begegnung Percevals mit Blancheflor wieder auf die Thematik der Jagd im sexuellen Kontext an. Er vergleicht Blancheflors Schönheit mit der des Sperbers, eines Jagdvogels (V. 1797), und lässt sie Perceval mit fünf Broten und einem bei der Jagd erlegten Rehbock bewirten. Das Mahl dauert zwar nur kurz, doch Perceval und Blancheflor essen mit großem Verlangen (V. 1921f). Chrétien stilisiert Blancheflor zur Männerjägerin, die versucht, Perceval mit erotisch konnotierten Speisen zu verführen374. Perceval und Blancheflor küssen sich bereits in ihrer ersten Nacht, die sie mit den Lippen aneinanderliegend verbringen. Auch Wolfram zählt auf, an welchen Speisen es in der belagerten Burg mangelt: Käse, Fleisch, Brot. Wolfram verschärft den Nahrungsmangel und die Hungersnot zusätzlich durch den Hinweis, dass die Burgbewohner keine Möglichkeit haben, sich bei Tisch schlecht zu benehmen (184, 9-11): si liezen zenstüren sîn, und smalzten ouch deheinen wîn mit ir munde, sô si trunken.
Im Gegensatz zum Perceval-Roman, in dem Blancheflor Perceval gleich mit dem Essen versorgen kann, müssen Condwiramurs’ Onkel bei Wolfram erst Brote, Schulterstücke vom Schwein, Schinken, Käse und Wein in die Stadt senden, damit Condwiramurs den Gast überhaupt bewirten kann. Im Unterschied zu den Speisen im Perceval handelt es sich hier auch nicht um bei der Jagd erlegte Tiere, sondern um Tiere, die gezüchtet wurden und somit dem Bereich der Kultur angehören375. Parzival beweist nun, dass er in der Lage ist, klug mit der Nahrung umzugehen und verteilt die Speisen an die hungernde Bevölkerung, sodass für ihn selbst und Condwiramurs nur eine einzige Brotscheibe übrig bleibt, die sich beide teilen. Im Vergleich zu Perceval, der seine Speisen nicht mit der hungernden Bevölkerung teilt, gestaltet Wolfram die Episode aus und demonstriert Parzivals zunehmend vorbildliches höfisches und herrscherliches Handeln anhand seines reflektierten Umgangs mit der Nahrung. Zum ersten Mal erwähnt Wolfram nicht Parzivals Hunger, sondern nur den Hunger der Burgbewohner. Parzivals Erschei374 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 174. 375 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 174.
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nen lindert die Hungersnot vorübergehend, da erst seine Anwesenheit zum Grund wird, die Bewohner der Burg mit Essen zu versorgen376. Parzival selbst hat seinen unbeherrschten Nahrungstrieb überwunden und zeigt durch sein Verhalten, dass er in der Lage ist, die Verantwortung eines Herrschers für andere zu übernehmen. Im Gegensatz zum Perceval ist Parzivals Mahlzeit mit Condwiramurs nicht erotisch konnotiert und spiegelt damit die Beziehung zwischen Parzival und Condwiramurs, die sich in der Nacht beide kiusche verhalten (192, 3) und keine Kenntnis über die körperliche Liebe besitzen (193, 3-14). Der Mangel an Nahrung korrespondiert also bei Wolfram mit dem Mangel an Wissen über Sexualität. Dementsprechend vergleicht Wolfram den Zustand der Einwohner von Pelrapeire mit dem von Jagdvögeln bei einer misslungenen Jagd, die nicht übercrüpfet sind (191, 12-14): waeren die burgaer vederspil, sine waeren übercrüpfet niht, des noch ir tischgerihte giht.
Nachdem Parzival Kingrun besiegt hat, bittet Condwiramurs ihn, sie zu heiraten und lässt ihm wieder ein karges Mahl servieren. Kurz darauf treibt der Wind durch göttliche Fügung zwei mit Lebensmitteln beladene Schiffe in den Hafen von Pelrapeire, wodurch die Not der Stadtbewohner behoben ist. Parzival handelt wiederum wie ein kluger Herrscher und teilt den ausgehungerten Bewohnern zunächst kleine Rationen an Speisen zu, damit sie ihre leeren Mägen nicht übercrüpfen (201, 14). Erst am Abend gestattet er ihnen eine zweite Mahlzeit (201, 9-18). Die Essgier der Hofleute wird durch den wiederholten Vergleich mit den Jagdvögeln zum Hinweis auf den Sexualtrieb, den die Bevölkerung von Pelrapeire aus dynastischen Gründen gerne auf Parzival und Condwiramurs übertragen würde. Die Handlungsrolle der Männerjägerin Blancheflor verschiebt sich somit bei Wolfram auf die Hofleute377. Da sie in Parzival ihren zukünftigen König sehen, reichen die Hofleute ihm nach seiner Ankunft einen nach Wild riechenden Mantel (186, 10), um sein erotisches Begehren zu wecken378. Verständlich werden diese Anspielungen nur, weil die Jagd aufgrund bestehender literarischer Muster erotisch konnotiert 376 Vgl. Fritsch-Rößler, Parzivals Weg zu den Wurzeln, S. 305. 377 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 176. 378 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 116.
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ist379. Von der Gastfreundschafts- und der Schifflandungs-Episode ist zudem eine sakral konnotierte Leseweise möglich: Parzival erscheint der Stadt gewissermaßen als Heilsbringer, der die Bevölkerung wiederholt vor dem Hunger rettet. Die zweifache Speisung der Stadtbewohner kann als laikale Anspielung auf die Speisung der Dreitausend bzw. der Fünftausend betrachtet werden380 und stellt somit eine weitere Station Parzivals auf dem Weg zum Gralskönigtum dar. Beide Speisungen sind sakral konnotiert: Die erste Speisung der Bewohner ist zwar noch zur Geste der Gastfreundschaft seitens Condwiramurs Onkel Kyot und Manphilyot rationalisiert, die sich jedoch zugunsten des Dienstes an Gott gegen das Rittertum entschieden haben. Die zweite Versorgung der gesamten Stadt beruht auf einem Gotteszeichen. Parzivals Leistung besteht in dieser Situation insbesondere darin, die Stadtbewohner langsam erst wieder an die Nahrung zu gewöhnen. Er hat nicht nur seinen eigenen Hungertrieb überwunden, er kontrolliert zudem auch den Nahrungstrieb der Einwohner von Pelrapeire, indem er sie daran hindert, sich zu übercrüpfen. Parzival hat sich von einem maßlosen Vielfraß zu einem bescheidenen Herrscher entwickelt, der zuerst an sein Volk denkt. Im selben Maße, wie sich Parzivals Umgang mit der Nahrung verbessert, entwickelt sich auch seine sexuelle Beziehung zu Condwiramurs. Nachdem er drei Nächte des mâze ie sich bewarte (202, 2) und neben seiner magetbaeriu brût (202, 27) gelegen hat, vollzieht er mit Condwiramurs die Ehe. Anna Kathrin Bleuler zufolge ist diese Szene komplementär zur Jeschute-Szene konzipiert, indem die sexuelle Handlung erzähltechnisch in die Position der Esshandlung rückt, die nicht geschildert wird381. Auch Chrétien stellt in dieser Episode den Bezug zwischen Nahrung und Sexualität her. Im Gegensatz zu Wolfram legt er den Akzent jedoch nicht auf Parzivals Lernfortschritte, sondern parallelisiert den Nahrungsüberfluss nach der Schiffslandung mit der Liebesleidenschaft: Während sich das Begehren der Burgbewohner auf das Essen richtet und die Köche mit der Zubereitung der Speisen beschäftigt sind, richtet sich Percevals Begehren auf Blancheflor (V. 2575-2577). Um Parzivals nunmehr außergewöhnlich reflektierten Umgang mit dem Essen zu unterstreichen, fügt Wolfram der Episode in Pelrapeire eine weitere Szene hinzu, die nicht bei Chrétien vorkommt. Parzival setzt 20 gegnerische Kämpfer in der Burg gefangen, die er drei Tage lang bestens bewirten lässt, bevor er sie zu Clami379 Vgl. Trinca, Parrieren und undersniden, S. 176. 380 Vgl. Anna Kathrin Bleuler, Vortrag in Frankfurt am 01.02.2011. Mt 14, 13-21. Wie Christus speist auch Parzival die Bevölkerung zweimal. 381 Vgl. Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, S. 127f.
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des Heer zurückschickt. Clamides Ritter, die immer noch davon ausgehen, dass in der Burg Hungersnot herrscht, übersehen zunächst die deutlichen Anzeichen für den übermäßigen Weingenuss in den Gesichtern der gefangenen Ritter (209, 2-10): Swie si waern von trünken rôt, die ûzeren sprâchen „hungers nôt habt ir gedolt, ir armen.“ „lat iuch uns niht erbarmen“ sprach diu gevangene ritterschaft. „dort inne ist spîse alsölhiu craft, wolt ir hie liegen noch ein jâr, si behielten iuch mit in vür wâr.“
Als Clamide jedoch seine überfütterten Kämpfer mit ihren vom Wein geröteten Gesichtern sieht und vom großen Lebensmittelvorrat der Stadt erfährt, ist er entmutigt und fordert Parzival zum Zweikampf auf. Parzival hat somit nicht nur gelernt, selber vernünftig mit der Nahrung umzugehen und darüber hinaus Verantwortung für die Ernährung anderer zu übernehmen, er setzt die Nahrung zudem mit List als Mittel ein, um Clamide dazu zu veranlassen, seine Belagerung aufzugeben. Die Verbindung von Nahrung und Sexualität bildet in der Pelrapeire-Episode ein zentrales Element: Nach Parzivals Ankunft in der Burg herrscht alimentärer Notstand, der sich im Mangel an Erotik spiegelt. Sexuelle und alimentäre Enthaltsamkeit sind miteinander verknüpft. Gleichzeitig mit dem zunehmend verantwortungsbewussten und klugen Umgang mit der Nahrung erlangt Parzival Erfahrung in der Liebe und heiratet Condwiramurs. Dem richtigen Umgang mit Sexualität geht dabei der richtige Umgang mit der Nahrung voraus. Nachdem er schließlich eine körperliche Beziehung zu Condwiramurs aufgenommen hat, wird sein Umgang mit der Nahrung nochmals raffinierter. Parzival avanciert zum regelrechten „Essensexperten“, indem er Clamides gefangene Kämpfer mästet. Ebenso wie der Belagerer Clamide setzt Parzival Nahrung als Kriegswaffe ein. Während Clamide versucht Condwiramurs’ Liebe durch Aushungern zu erzwingen, gewinnt Parzival sie durch die Versorgung mit Nahrung.
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Gralsspeisen Als Parzival schließlich auch Clamide besiegt hat, verlässt er Pelrapeire und gelangt nach Munsalwäsche. Der Aufenthalt in Munsalwäsche gestaltet sich in Parzivals alimentärer Sozialisation als komplementäre Episode zu seinem Aufenthalt in Pelrapeire: Nachdem Parzival in Pelrapeire Hunger und Nahrungsknappheit erfahren hat, wird er in Munsalwäsche mit dem Überfluss an Speisen konfrontiert. Während er in Pelrapeire die Gelegenheit hatte, den Umgang mit Nahrung und Sexualität zu erlernen, gerät er nun an eine Gesellschaft, in der diese beiden Bereiche vom alltäglichen Leben ausgeschlossen werden, indem sie dem Gral vorbehalten sind. Der Gral konstituiert die Gralsgesellschaft auf leiblicher Ebene, indem er sie ernährt und reproduziert. Auch in Munsalwäsche sind Nahrung und Sexualität aufeinander bezogen. Die Mitglieder der Gralsgesellschaft müssen sich nicht wie beispielsweise die Bewohner von Pelrapeire um ihre Nahrung kümmern, sie müssen keine Landwirtschaft praktizieren und auch keine Speisen zubereiten382. Sie dürfen aber auch nicht heiraten, in Munsalwäsche herrscht ein Minneverbot, von dem allein der König befreit ist. Da den Bewohnern der Gralsburg Liebe verboten ist, obliegt die Sorge um die Nachkommenschaft dem Gral, der die Kinder auswählt. Der Gral übernimmt somit beide Formen der Reproduktion, die individuelle und die gesellschaftliche: Er spendet Nahrung und er benennt die zum Gralsdienst Berufenen, indem er eine Inschrift erscheinen lässt. Die Erfahrung in Munsalwäsche stellt eine weitere Station auf Parzivals Weg zum Gralskönigtum dar. Dass Parzival die Gralsburg überhaupt findet, belegt seine Stellung als Auserwählter (250, 24–30), auch sein Kommen ist den Burgbewohnern durch eine Inschrift angekündigt worden (483, 2023). Parzival verbringt nur eine Nacht in der Gralsburg. Am Abend seiner Ankunft nimmt er teil an einer Mahlzeit, wodurch er zumindest vorübergehend in die Gralsgemeinschaft integriert wird. Der Burgherr gewährt Parzival eine besondere Ehre, indem er ihn bittet, an seiner Seite zu speisen. Auffällig bei dem Mahl ist vor allem der fortwährende Kontrast zwischen Zeremoniell und Freudlosigkeit. Die Beschreibung der Gralsprozession, das Auftragen von Tischplatte, Silber, Kerzen und Gral, nimmt den meisten Platz in der Episode ein. Die Bedeutung des Grals bleibt dabei zunächst 382 Vgl. Bumke, Joachim: Die Utopie des Grals. Eine Gesellschaft ohne Liebe?, S. 73. In: Hiltrud Gnüg (Hg.): Literarische Utopie-Entwürfe. Frankfurt, 1982, S. 70–79.
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offen; während Chrétien die Szene in der Gralsburg „in der Schwebe zwischen Weltlichem und Christlichem, zwischen Hofzeremoniell und Liturgie“ hält383, vermeidet Wolfram jedoch eindeutige sakrale Bezüge. Bereits etwas weniger ausführlich als auf das Gralszeremoniell geht Wolfram auf das Speisewunder des Grals ein, der beliebig viel von jeder verlangten Speise zur Verfügung stellt. Während Chrétien die erlesenen Speisen nicht explizit in Zusammenhang mit dem Gral bringt, erwähnt Wolfram ausdrücklich die Fähigkeit des Grals, jede erdenkliche Speise zur Verfügung stellen zu können (238, 8–17):
man sagte mir, diz sage ouch ich ûf iuwer ieslîches eit, daz von dem grâle waere bereit (sol ich des iemen triegen, sô müezt ir mit mir liegen) swâ nâch jener bôt die hant, daz er al bereite vant spîse warm, spîse kalt, spîse niuwe unt dar zuo alt, daz zam unt daz wilde.
Im Gegensatz zu der Darstellung bei Chrétien sind Pracht und Aufwand der Gralsszene deutlich gesteigert. Die Beschreibung der Mahlzeit erschöpft sich jedoch in der Aufzählung der vom Gral gespendeten Speisen und der eigentliche Vorgang des Essens ist marginalisiert und wird nicht geschildert. Auf diese Weise wirkt das Mahl leblos formell und ist somit darauf ausgerichtet, die in der Gemeinschaft herrschende Trauer zu unterstreichen und Parzivals Mitleid zu provozieren384. Von einem höfischen Festmahl unterscheidet sich das Mahl in Munsalwäsche nicht nur durch die Abwesenheit der höfischen Freude, sondern auch durch die fehlende Unterhaltung, Musik, Tanz, Turnier. Parzival reagiert auf diese Situation jedoch mit den von Gurnemanz erlernten höfischen Verhaltensregeln und wagt nicht zu fragen. Nachdem das Mahl beendet 383 Vgl. Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters II: „Reinhart Fuchs“, „Lanzelet“, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin, 1980, S. 65. 384 Vgl. Nitsche, literarische Signifikanz, S. 255.
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ist und die Prozession ein zweites Mal in umgekehrter Reihenfolge stattgefunden hat, wird Parzival in ein prunkvolles Schlafzimmer gebracht, von Knappen entkleidet und von vier schönen Jungfrauen umsorgt, die sich am Anblick von Parzivals nacktem Körper und seinem bartlosen roten Mund erfreuen. Sie tragen ihm eine zweite, kleinere Mahlzeit auf: verschiedene Sorten Wein und obez der art von pardîs (244, 16). Diese Mahlzeit ist sowohl erotisch als auch religiös konnotiert und kommentiert gleichzeitig die versäumte Mitleidsfrage ironisch. Parzival bittet eine der Jungfrauen, sich zu ihm zu setzen, während er das Obst verzehrt. Die Jungfrau lehnt die Bitte jedoch ab, da Parzivals Schönheit sie von ihrer Aufgabe ablenkt. Der Hinweis auf das Paradies und das sexuelle Begehren der Jungfrauen spielen auf den Sündenfall an. Der Verzehr des paradiesischen Obstes, das in christlicher Tradition mit der Erlangung von Wissen verbunden ist, löst bei Parzival jedoch überhaupt keine Erkenntnis aus. Parzival realisiert weder sein Versäumnis während der Mahlzeit noch bemerkt er das erotische Interesse der Jungfrauen an ihm385. Parzivals sexuelle Ahnungslosigkeit erscheint dabei als ironischer Kommentar zur versäumten Mitleidsfrage. Er schämt sich jedoch beim Erscheinen der Jungfrauen seiner Nacktheit, die er rasch unter einer Decke verbirgt. Auch dieser Zusammenhang von Nacktheit und Scham kann wieder als Anspielung auf die Sündenfallgeschichte gesehen werden386. Nach Parzivals nur vorübergehender Aufnahme in die Gralsgemeinschaft und seinem Frageversäumnis erfolgt seine anschließende Integration in die Artusgesellschaft auch nur ansatzweise. Nachdem Parzival am nächsten Morgen die Gralsgesellschaft verlassen hat, stößt er auf König Artus und sein Gefolge. Froh darüber, Parzival endlich gefunden zu haben, heißen Artus und seine besten Ritter ihn willkommen und machen Anstalten, sich mit ihm zum Essen zu setzen. Ausführlich beschreibt Wolfram die Tafelrunde, an der sich die Ritter der Sitte nach nur im Anschluss an eine bestandene Aventiure niederlassen (309,18–30): ein pfelle von Acratôn, ûz heidenschefte verre brâht, wart ze eime zil aldâ gedâht. niht breit, sinewel gesniten, 385 Vgl. Fritsch-Rößler, Parzivals Weg zu den Wurzeln, S. 307. 386 Vgl. Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, S. 143.
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al nâch tavelrunder siten (wand in ir zuht des verjach): nâch gegenstuol dâ niemen sprach, diu gesitz wârn al gelîche hêr. der künec Artûs gebôt in mêr daz man werde ritter und werde vrouwen an dem ringe müese schouwen. die man dâ gein prîse maz, magt wîb und man zu hove dô az.
Wolfram geht vor allem auf das mit der Tafelrunde verbundene Ideal der Artusgesellschaft ein: die gleichberechtigte Versammlung der besten Jungfrauen, Frauen und Männer an einem runden Tisch, an dem niemandem ein Ehrenplatz zukommt. Parzival erhält den Begrüßungskuss von Ginover und die Ritter und Frauen setzen sich zum Essen. Bevor das Mahl jedoch beginnen kann, wird es von der Ankunft der Gralsbotin Cundrie unterbrochen, die Parzival wegen seines Versäumnisses in Munsalwäsche anklagt. Obwohl die Artusgesellschaft also gewillt ist, Parzival im ihren Kreis aufzunehmen, kann die Integration, die mit dem Mahl beschlossen wäre, nicht vollzogen werden. Die Idealität der Tafelrunde kontrastiert dabei mit Parzivals defizitärem Zustand und Parzival verlässt die Artusgesellschaft wieder. Bis zu seiner Krönung als Gralskönig erfährt Parzival eine doppelte Integration. Mittels einer Folge von Mählern wird er sowohl in die Artusgesellschaft als auch in die Gralsgesellschaft aufgenommen. Die höfisch-alimentäre Sozialisation, die er von Gurnemanz erhält, lässt ihn in der Gralsburg zunächst scheitern. Folge der verpassten Mitleidsfrage ist die Verhinderung seiner Aufnahme in die Artusgesellschaft. Erst nachdem Parzival bei Trevrizent den religiösen Umgang mit der Nahrung erlernt hat, wird er in die Artusgesellschaft und schließlich auch in die Gralsgesellschaft aufgenommen387. Wolfram schildert ausführlich Parzivals Individuationsprozess und insbesondere seine alimentäre Sozialisation. In deren Verlauf durchlebt Parzival maßlose Triebhaftigkeit und maßvolle Zurückhaltung, er wird mit Überfluss und Hungersnot konfrontiert und isst profane und sakrale, natürliche und kulturell überarbeitete Speisen. Parzival erlernt nicht nur die höfischen Regeln für den Umgang mit der Nahrung von Grund auf; anhand seines 387 Vgl. die entsprechenden Kapitel zu Parzivals Aufenthalt bei Trevrizent sowie zur Initiation als Identitätsbildung.
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Essverhaltens, seines Appetits und der Art von Nahrung, die er verzehrt, lässt sich stets sein Entwicklungsstand ablesen. Auf diese Weise stellt Wolfram einen Zusammenhang von der Genese höfischer Identität mit dem Essverhalten her. Hierbei geht Wolfram nicht nur auf den idealen höfisch-ritterlichem Umgang mit dem Essen ein, sondern widmet der Darstellung des Natürlichen, Kreatürlichen und Unhöfischen ebenso viel Aufmerksamkeit.
1.2. Rennewarts Essgewalt Auch im Willehalm thematisiert Wolfram den Zusammenhang von höfischer Identitätsbildung und dem Umgang mit der Nahrung. Das altfranzösische Heldenepos Aliscans und seine mittelhochdeutsche Fassung Willehalm von Wolfram von Eschenbach berichten nicht nur von dem in zwei Schlachten auf Alischanz ausgetragenen Konflikt zwischen Christen und Heiden, der durch die Beziehung des französischen Markgrafen Willehalm mit der arabischen Königin Gyburc entsteht. Insbesondere die zweite Hälfte des Epos widmet sich zudem der Figur des jungen Heiden Rennewart. Während der erste Teil der Erzählung die erste Schlacht der Heiden gegen die Christen sowie Willehalms Bemühen um Unterstützung für die in der Burg von Orange belagerte Gyburc behandelt, gewinnt im zweiten Teil der Dichtung die Rennewart-Figur an Bedeutung, die die zweite Schlacht von Alischanz entscheidend beeinflusst. Rennewart ist Gyburcs unerkannter jüngerer Bruder, der als Kind von Kaufleuten vom Hof seines Vaters entführt wurde und an den Hof des französischen Königs Ludwig gelangt, wo er trotz seiner adeligen Herkunft als Küchenjunge lebt. Die Rennewart-Figur ist in der altfranzösischen und mittelhochdeutschen Fassung unterschiedlich angelegt und akzentuiert. Obwohl der altfranzösische Renoart und der mittelhochdeutsche Rennewart viele Parallelen, wie die geheimgehaltene adelige Herkunft und die Liebe zur französischen Königstochter, aufweisen und grundlegende Charakteristika, wie Schönheit, Stärke, Aggressivität, Kampfeslust und einen ungehemmten Appetit, teilen, zeichnen sich beide Figuren auch durch erhebliche Gegensätze aus. Sowohl Renoart als auch Rennewart müssen zwar am Hof des Königs Küchendienst leisten, dieser wird in beiden Fällen jedoch gegensätzlich begründet: So hat Renoart am französischen Hof längst den christlichen Glauben angenommen; König Loois verweigert ihm jedoch die Taufe und verpflichtet ihn zu entwürdigender Arbeit in Küche, da er ihn aufgrund seiner
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außergewöhnlichen Körpergröße nicht mag. Rennewart hingegen hängt noch immer dem heidnischen Glauben an. Er wächst gemeinsam mit der Königstochter Alyze auf und wird von König Ludwig wie ein eigener Sohn behandelt. Da er sich jedoch nicht taufen lassen will, wird er zur Strafe schließlich durch die Verbannung in die Küche sozial degradiert. Wie Parzival, mit dem Wolfram ihn vergleicht, durchläuft Rennewart eine alimentäre Sozialisation, in deren Verlauf er in das höfische Kollektiv, von dem er zuvor aufgrund seiner sozialen Stellung als Küchenjunge ausgeschlossen war, integriert wird. Im Unterschied zu Parzival zeichnet sich Rennewart jedoch durch eine fortwährend ambige Identität aus, die er niemals vollständig überwinden kann und die sich durch seine Affinität zur Küche und seinen gewaltigen Appetit kennzeichnet. Rennewarts Essgewalt, die Verbindung von Aggressivität und Küche, zeugt somit von seiner verhinderten Entwicklung, während die Esslust des altfranzösischen Renoart in seinem disparaten Charakter angelegt ist.
Die Küche als Gefährdung In der altfranzösischen Fassung wirkt sich der permanente Aufenthalt in der Küche negativ auf Renoarts adelige Identität aus. Die Folgen können sowohl an Renoarts Äußerem als auch an seinem Charakter beobachtet werden. Das Dasein als Küchenjunge schadet Renoarts Schönheit: Als Guillelme ihn zum ersten Mal erblickt, wurden ihm vom Küchenmeister die Haare abgeschoren und das Gesicht mit Ruß schwarz gefärbt, seine Füße sind nackt und seine Kleidung ist verdreckt und zerrissen (V. 3588-3592)388. Doch auch für Renoarts höfische Gesinnung hat das Leben in der Küche Konsequenzen: Bereits bevor sich Renoart an Guillelme wendet, wird dieser von Loois gewarnt: En la cuisine l‘a on tot asoté./ […] Autant mengüe com dui vilain barbé. (In meiner Küche hat man ihn ganz stumpfsinnig gemacht./ […] Soviel isst er wie zwei bärtige Bauern, V. 3650-3653). Essen ist ein körperliches Bedürfnis, das im Verlauf des Zivilisationsprozesses mithilfe von Distanzierungsmechanismen verschleiert wird, durch deren Beherrschung sich der höfische Habitus ausdrückt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Küche als Ort der Zubereitung der Nahrung und dem Maß an höfischem Verhalten. Der permanente Umgang mit dem Essen hat zur Folge, dass Renoart trotz adeliger Anlagen keine Distanz zur Nahrung 388 Aliscans. Paris/Genève: Champion (Honoré), 1990 (Première édition 1854). Elektronische Ressource, verfügbar bei Corpus de la littérature médiévale, Classiques Garnier Numérique.
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einhalten kann, zu viel isst und zum vilain degeneriert. Als Renoart Guillelmes gewahr wird, wirft er sich zwar vor ihm auf die Knie und bittet ihn, ihn als seinen Knappen aufzunehmen. Renoart ist sich seiner adeligen Herkunft also immer noch bewusst und strebt danach, sich aus der Küche zu befreien und sich als Knappe seiner ursprünglichen Identität wieder anzunähern. Um Guillelme von sich zu überzeugen, wirbt Renoart jedoch mit seinen Qualitäten als Koch (V. 3707-3713): „Sire Guillelmes, gentis, nobles et ber, Por amor Deu lei moi o toi aler, Si aiderai le hernois a garder; Mout savrai bien un mengier conreer, Frire un poisson et un oisel torner, En tote France nen a mie mon per. Je ne criem home d‘une char escumer.“ („Guillelme, edler, vornehmer Herr und Ritter, um der Liebe Gottes willen, lass mich mit Dir gehen. Ich werde auch dabei helfen, die Ausrüstung zu bewachen, mich gut darauf verstehen, Essen zu bereiten, wenn es darum geht, einen Fisch zu braten und einen Vogel am Spieß zu drehen, gibt es in ganz Frankreich nicht meinesgleichen. Ich stehe hinter keinem zurück beim Abschäumen des Fleisches.“)
Guillelme befürchtet, dass Renoarts höfische Identität durch den Aufenthalt in der Küche irreversible Schäden erlitten hat und dieser nun zu schwach und bequem geworden ist, um das Leben eines Ritters zu bewältigen (V. 3717–3726): Et dist Guillelmes: „Amis, lessiez ester. Ne porrïez les granz fés endurer, La nuit veillier et le jor traveillier. En la cuisine as apris a chaufer, Sovant mengier et tes mustiax toster, Le pain repondre et le vin engloter, Et tote jor dormir et reposer.“ (Und Guillelme sagte: „Freund, lasst es gut sein! Ihr könntet die großen Entbehrungen bei den Schlachten nicht ertragen, in der Nacht zu wachen und dich tagsüber zu plagen. In der Küche hast du gelernt, dich zu wärmen, oft zu essen und deine Waden zu rösten, das Brot hineinzustopfen und den Wein herunterzuschütten, und den ganzen Tag zu schlafen und zu ruhen.“)
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Erst nachdem Renoart verspricht, seine übermäßigen Kräfte in der Schlacht gegen die Sarazenen einzusetzen, willigt Guillelme ein, ihn in sein Heer aufzunehmen. Im mittelhochdeutschen Willehalm arbeitet Wolfram die Begegnungsszene zwischen Willehalm und Rennewart um und legt Rennewarts Charakter völlig anders an. Wolfram weist ebenfalls auf Rennewarts durch die Küche geschädigtes Äußeres hin: ouch gap nach küchen varwe schien/sin swach gewant und ouch sin har. (188,16f). Gleichzeitig hebt Wolfram aber auch sehr viel stärker Rennewarts adelige Anlagen hervor, die unter dem verrußten Äußeren noch zu erkennen sind (188,18-189,1). Wolfram wertet Rennewart insgesamt positiv auf, indem er ihn mit dem jungen Parzival vor dessen höfischer Unterweisung vergleicht, und führt Rennewarts tumpheit somit auf den Mangel an standesgemäßer Ausbildung zurück (V. 271, 17-26). Das Fehlen standesgemäßer Erziehung drückt sich sowohl bei Parzival als auch bei Rennewart durch die Unfähigkeit zur Affektkontrolle aus389. Beide Figuren zeigen sich im Kampf und beim Essen unbeherrscht. Während Wolfram Parallelen zwischen Rennewart und Parzival zeichnet, grenzt er Rennewart deutlich von Renoart ab. Rennewart teilt mit Renoart den übermäßigen Appetit, doch hat Wolfram Rennewarts Rolle und Situation in der Küche gegenüber der altfranzösischen Vorlage abgeändert. Rennewarts Aufgaben als Küchenjunge weichen von denen Renoarts ab. So kommt Rennewart nicht wie Renoart direkt mit den Speisen in Kontakt, sondern ist aufgrund seiner Kraft für das Wassertragen zuständig (188,8-11). Rennewart verrichtet in der Küche demnach ausschließlich harte körperliche Arbeit, im Gegensatz zu Renoart, der dort vor allem isst, sich wärmt und ausruht. Davon ist im Willehalm keine Rede mehr. Wolfram baut somit Rennewarts Defizite weniger stark aus. Sowohl Renoarts als auch Rennewarts Schwächen stehen in Bezug zu dem erzwungenen Aufenthalt in der Küche, der ihrer hohen Abkunft widerspricht. Während Renoarts Disparatheit, seine adelige Herkunft und sein unhöfisches Gebaren, in seinem Charakter angelegt zu sein scheint, resultiert Rennewarts ambivalentes Verhalten aus der Inkongruenz von Herkunft und Lebensumständen. So ist Renoart bei Loois und dessen Hof unbeliebt, er erweckt Furcht (V. 3771– 3773) und ist häufig in Auseinandersetzungen verwickelt. Seine ständigen Gegner sind Angehörige des Hofes, nämlich die Knappen, die ihn provozieren und ärgern. Auch Rennewart besitzt Aggressionspotenzial, seine unkontrollierte Gewalttätig389 Vgl. Czerwinski, Peter: Der Glanz der Abstraktion. Frühe Formen der Reflexivität im Mittelalter. Frankfurt, 1989, S. 64.
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keit richtet sich jedoch meist nicht gegen Standesgenossen, sondern gegen die Köche390. Obwohl auch er von den Knappen provoziert wird und einen von ihnen tötet, verfügt er im Vergleich zu Renoart über ein wesentlich höheres Maß an Gutmütigkeit. Während Renoart von den Angehörigen des Hofes trotz seines christlichen Glaubens fortwährend als Teufel (deables) oder Dämon (malfez) bezeichnet wird, nennt Wolfram Rennewart eine kiuschiu maget (190,1) und betont sein höfisches Potenzial. Während Renoart eher statisch angelegt ist391, schildert der Willehalm Rennewarts Entwicklung vom höfischen Küchenjungen zum unhöfischen Knappen. Im Gegensatz zu Renoarts Aufnahme in die höfische Gesellschaft, die mit Taufe und Schwertleite abgeschlossen ist, bleibt Rennewarts höfische Ausbildung immer unvollendet. Symptom dafür ist die Küche. Obwohl Rennewart unter Willehalms Obhut höfisch sozialisiert wird und nicht mehr zum Küchendienst verpflichtet ist, bleibt er stets der Küche verhaftet. Dies zeigt sich an Rennewarts gewaltigem Appetit, der Wahl seines Schlafplatzes in der Küche, seinen Gegnern, den Köchen, und auch an seinem Kampfverhalten. Bis zur zweiten Schlacht auf Alischanz sind Rennewarts Übergriffe stets mit Essen und Küche verbunden und seine Gewalttätigkeit ist kausal auf die Küche bezogen. Sowohl die Verletzungen, die Rennewart selbst erleidet, als auch seine Aggressionen stehen in Bezug zu Speisen, Koch und Küche.
Töten als Kochen Rennewarts Entwicklung setzt nach seiner Begegnung mit Willehalm ein, der ihn aus der Küche erlöst und in seine Dienste nimmt und ihm somit die Gelegenheit bietet, seine adeligen Anlagen auszubilden. Willehalm erblickt Rennewart zum ersten Mal, als er vom Palas in Laon aus die Kampfspiele der Knappen beobachtet. Rennewart trägt einen Zuber voll Wasser, wobei offenkundig wird, dass er die Kraft von sechs Männern besitzt (187,30–188,7). Nachdem die kämpfenden Knappen Rennewart zweimal provoziert haben, tötet er einen von ihnen, woraufhin alle anderen fliehen. Rennewart packt scheinbar willkürlich einen der Knappen und schleudert ihn mit einem Wurf gegen eine Steinsäule, so (190,16f) 390 Vgl. auch Knapp, Fritz Peter: Rennewart. Studien zu Gehalt und Gestalt des „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach. Wien, 1970, S. 84. 391 Vgl. auch Kielpinski, Andrea: Der Heide Rennewart als Heilswerkzeug Gottes. Die laientheologischen Implikationen im „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach. Berlin, 1991, S. 81.
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daz der knappe, als ob er wære vul von dem wurfe gar zerspranc.
Wolfram wählt für die Schilderung des Angriffs eine Formulierung, die die Assoziation mit faulem Obst weckt und somit einen Hinweis auf Rennewarts Verbundenheit mit der Küche beinhaltet. Der Kampf findet zudem während Rennewarts Küchenarbeit statt, bei der die Knappen ihn unterbrechen. Gewalt und Küche sind bei Rennewart aufeinander bezogen. Dieses Motiv wiederholt sich im Folgenden mehrfach. Nachdem Ludwig Willehalm über Rennewarts Biografie in Kenntnis gesetzt hat, bittet Willehalm Ludwig mit Alyzes Unterstützung, ihm Rennewart als Knappen zu überlassen. Im Gespräch mit Willehalm gibt Rennewart zu, nach Rittertum und Minne zu streben. Willehalm lässt Rennewart neu einkleiden, dieser weigert sich jedoch, sich mit den ritterlichen Attributen, adäquaten Waffen, Rüstung und Pferd, ausstatten zu lassen und wählt als Waffe stattdessen eine schwere Eisenstange. Obwohl er nun Knappe ist, hält er sich weiterhin in der Küche auf. Unmittelbar nach seiner Ausstattung durch Willehalm werden Rennewart in der Küche seine Haare und das Gewand versengt. Aus Wut verwüstet Rennewart die Küche, durchsticht mit seiner Stange Kessel und Töpfe und vertreibt den Küchenmeister (198, 18–27): nu vant der marchgrave mit klage sinen jungen starken sarjant. dem was sin har unt sin gewant in der küchen besenget. ez enwart do niht gelenget, den selben schimph mit schimph er rach. mit der stangen er durh die kezzel stach; dehein haven was da so erin, er müese ouch zerbrochen sin. der küchenmeister kume entran.
Diese Szene macht deutlich, dass Rennewart weiterhin eine Bindung an die Küche besitzt, obwohl er sich als Knappe dort nicht mehr aufhalten müsste, und dass er seine Affekte nicht kontrollieren kann. Wieder stehen Küche und Gewalt in engem Zusammenhang. Die Küche ist der Ort, an dem Rennewart nicht nur seine Aggressionen auslebt, sondern auch selbst durch Verletzungen gefährdet ist. Obwohl die Küche für ihn einen Ort potenzieller Gefahr darstellt, kann er sich nicht von ihr
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lösen. Rennewart hält sich nach wie vor bevorzugt in der Küche auf und schläft auch dort, gegen den Willen der Köche, die ihn fürchten. Um ihn zu ärgern, verstecken sie in der nächsten Nacht seine Stange. Als Willehalm und die Seinen nach Orange aufbrechen wollen, bemerkt Rennewart das Fehlen der Stange und eilt zurück, um sie zu suchen. Aus Zorn über den Streich der Köche verwüstet er die Küche, tritt alle Türen ein und tötet den Küchenmeister, woraufhin alle anderen Köche fliehen (201,24–28). Erneut bricht Rennewarts unkontrollierter Zorn in der Küche aus und seine Opfer gehören dem Küchenpersonal an. Auch in der altfranzösischen Vorlage tötet Renoart den Küchenmeister, nachdem ihm seine Stange entwendet wurde. Hier sind allerdings die Knappen, Renoarts permanente Gegenspieler, für den Diebstahl verantwortlich. Nachdem Renoart seine Stange wiedergefunden hat, stellt sich ihm der Küchenmeister in den Weg und versucht ihn daran zu hindern, zu Guillelmes Truppen zurückzukehren, die sich bereits auf dem Weg nach Orange befinden. Der Küchenmeister weist Renoart darauf hin, dass sein Platz in der Küche ist und erinnert ihn an seine Gewohnheit, sich dort aufzuhalten, zu essen und zu arbeiten (V. 3958-3963): „Musart“, dist il, „ou devez vos aler? Mielz vos venist les hastes a torner, Et le broet des chaudieres humer; Quant voulïez, bien poïez disner! Mielz vos venist encore ci ester Qu‘en autres terres mesaises endurer.“ („Maulaffe“, sagte er, „wo wollt ihr hin? Es würde sich für Euch besser schicken, die Bratspieße zu drehen, und die Brühe aus den Kochkesseln zu schlürfen; wenn ihr wolltet, könnt ihr gut speisen! Es wäre besser für Euch, wenn Ihr noch hier bliebet, statt in fremdem Land Strapazen durchzumachen.“)
Aus Zorn darüber, dass der Küchenmeister ihn an seine alten Gewohnheiten und Aufgaben erinnert, erschlägt Renoart ihn mit seiner Stange. Während der Konflikt mit den Köchen im Willehalm daraus resultiert, dass sich Rennewart in der Küche aufhält, obwohl er dort nicht hingehört, gerät Renoart mit den Knappen in Konflikt, während ihn der Koch für seinesgleichen hält. Während Renoart also zumindest aus der Perspektive des Küchenmeisters zur Küche gehört, ist der Aufenthalt Rennewarts in der Küche lediglich äußeres Symptom für seine defizitäre Identität. Rennewart gehört der Küche nicht mehr an, weshalb die Köche auch nicht damit
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einverstanden sind, wenn er dort schlafen will. Der Aufenthalt in der Küche widerspricht Rennewarts adeliger Herkunft, dennoch fügt er sich auch nicht in die höfische Tischgesellschaft ein. In Orange lädt Willehalm Rennewart erstmals zum gemeinsamen Mahl ein und weist ihm einen Platz direkt neben Gyburc zu. Der Platz an der Tafel neben der Königin stellt eine Auszeichnung für Rennewart dar, der diese bevorzugte Behandlung nicht gewohnt ist. Gyburc breitet das Tischtuch über seine Beine und er wird reichlich mit Speisen und Getränken versorgt (274, 27–275, 6). Rennewarts Gier und seine Esslust kontrastieren mit dem Verhalten von Gyburc und Heimrich, die aus Sorge kaum etwas essen (275,7–11): si bede wenic azen, diez im da heten lazen uf der tavelen gestanden. si waren mit sorgen banden verstricket.
Während Rennewart noch isst, versuchen die Knappen seine Stange hochzuheben. Rennewart fühlt sich von seiner Mahlzeit abgelenkt und warnt die Knappen, er wolle beim Essen ungestört sein, damit er möglichst viel zu sich nehmen könne (275,29-276,2): „ja zert ich dirre spise mer danne ein kleiniu zise, möht ich vor iuwerem schimphe. Nu hüetet iuch vor ungelimphe.“
Rennewart verhält sich während des Essens nicht nur maßlos, er verbalisiert sein Verlangen nach den Speisen zudem, da ihm nicht bewusst ist, dass sein Verhalten bei Tisch den höfischen Normen widerspricht. Zudem ist hier wieder der Bezug zwischen Essen und Gewalt in Form einer Drohung vorhanden. Da der übermäßig Genießende aufgrund des Mangels an höfischer Bildung die Wirkung des Alkohols nicht kennt, trinkt er zu viel (276,6–14): siropel mit pigmente, claret und dar zuo moraz,
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die starken wine im gevielen baz danne in der küchen daz wazzer. die spise ungesmæhet azer. Doch lert in ungewonheit, daz starke trinken überstreit sine kiusche zuht und leret in zorn, den edelen hohen wol geborn.
Wolfram hebt den Gegensatz zwischen dem höfischen Wein und dem Wasser, das Rennewart gewohnt ist, hervor und stellt der adeligen Herkunft Rennewarts seinen ungebremsten Appetit gegenüber. Dieses Mal ist Rennewarts Zorn kausal mit seinem Weingenuss verbunden. Da die Knappen sich immer noch um Rennewarts Stange drängen, springt er verärgert vom Tisch auf, schlägt mit der Stange nach ihnen und verjagt sie. Dass er keinen von ihnen tötet, hängt wohl mit seinem angetrunkenen Zustand zusammen. Als das Mahl beendet ist, bringt niemand die Tischtücher weg, da die Knappen, deren Aufgabe dies ist, aus dem Saal geflohen sind und sich nicht mehr hineintrauen (277,5–10). Rennewart verstößt somit unwissentlich in jeder erdenklichen Hinsicht gegen das höfische Protokoll: Er isst und trinkt zu viel, er springt vom Tisch auf und er verhindert das Zeremoniell des Abtragens. Obwohl Rennewart durch sein unhöfisches Verhalten auffällt, hat Wolfram ihn im Vergleich mit Renoart stärker an die höfische Tischgesellschaft angenähert. Renoart wird zwar auch an den Tisch der Franzosen geladen, er befriedigt seinen Hunger jedoch bereits vorher, indem er in der Küche über die Speisen herfällt. Ihm wird auch kein Ehrenplatz am Tisch zugewiesen, sondern er setzt sich auf den Boden zu Guillelmes Füßen. Dort wird er von den Franzosen verspottet, die ihn zum Trinken animieren (V. 4828-4845): En la cuisine fu tot seul Renoart; Assez i trove et grües et mallarz Et venoisons, poissons, saumons et barz. Il en a pris a mengier des plus cras Et si huma de savor plain un vas; Le col d‘un cisne a pris, qui estoit fars. Quant ot mengié des poissons et des chars, Son tinel prist desor son destre braz;
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De la cuisine s‘en ist plus que le pas, Por la savor se deleche com chaz, Plus estoit fiers que lïons ne liepars. Vint a la table, ne fu mie coars: Devant Guillelme s‘asist a terre bas. François le voient, s‘en demainent lor gas, De .XV. parz li tendent lor henas, Boivre le font a foison et a tas. Enmi la sale, qui est fete a compas, Mist son tinel quant de boivre fu las. (In der Küche war Renoart ganz alleine; und fand dort eine Menge Kraniche und Wildenten und Wild und Fische, Lachs und Barsche. Er nahm davon die fettesten zum Essen und schlürfte ganze Schüsseln voll scharfer Sauce; er nahm einen gefüllten Schwanenhals. Als er Fisch und Fleisch zum Teil gegessen hatte, nahm er seine Stange unter den rechten Arm; aus der Küche ging er eiligen Schritts, wegen der Sauce leckte er sich wie die Katze, stolzer war er als der Löwe oder Leopard. Er kam zu Tisch und war keineswegs scheu: und setzte sich vor Guillelme auf den Boden nieder. Die Franzosen sehen ihn und machen über ihn ihre Späße. Von fünfzehn Seiten strecken sie ihm ihren Napf entgegen. Zu trinken geben sie ihm reichlich und übermäßig. Mitten in dem nach rund gebauten Saal legte er seine Stange ab, da er vom Trinken müde war.)
Renoart isst nicht nur alleine, er verschlingt zudem große Mengen und ist sich seines schlechten Benehmens nicht im Mindesten bewusst. Die Attribute Gefräßigkeit und Gefährlichkeit, die Renoart verkörpert, führen zu dem Vergleich mit Katzen bzw. Raubkatzen. Renoart scheint auch über kein Standesbewusstsein zu verfügen, er setzt sich selbstverständlich zu Guillelmes Füßen. Die Franzosen behandeln ihn dementsprechend nicht wie ihresgleichen, sondern nutzen seine Unmäßigkeit im Umgang mit Nahrung dazu aus, ihn betrunken zu machen und sich über ihn zu amüsieren. Die Szene endet damit, dass die Franzosen versuchen, Renoarts Stange aufzuheben. Als ihnen das nicht gelingt, beschimpfen sie ihn aufgrund seiner Stärke als Satanas (V. 4852). Im Willehalm begeben sich die Franzosen nach dem Essen zu Bett. Nur Rennewart sucht zum Schlafen die Küche auf, obwohl dieser Schlafplatz seiner adeligen Herkunft nicht angemessen ist (282,1215):
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do twanc in diu müede groz, sin edelkeit des geruohte daz er in küchen suohte: da leit er sich slafen hin.
Wie schon in Laon bekommt ihm der Aufenthalt in der Küche nicht gut, erneut versengt ihm ein Koch aus losheit (286,10) mit einem Holzscheit den Bart und die Lippen. Wolfram bemerkt, dass der Koch, der Rennewart am nächsten Morgen an einer Wand schlafend vorfindet, eigentlich keinen Grund hätte, ihn von einer so geringen Ruhestätte zu vertreiben (286,4-7). Damit betont Wolfram noch einmal, in welch armseliger Umgebung Rennewart sich aufhält. Auf so unsanfte Weise geweckt, rächt sich Rennewart sofort (286,11–22): dem er sus storte sinen slaf, den bant im, sam er waer ein schaf, elliu vieriu an ein bant, und warf in al zehant under einen kezzel in grozen rost: sus wart ers lebens da erlost. er enhiez uf in niht salzes holn, er rach üver in brende und koln. her Vogelweide von braten sanc: dirre brate was dicke und lanc; ez hete sin vrouwe dran genuoc, der er so holdez herze ie truoc.
Die Tötung des Kochs stellt eine neue Variante und zugleich eine Steigerung des Bezugs von Küche und Gewalt dar, der für Rennewart charakteristisch ist. Ähnlich wie bei dem Knappen, der einer faulen Frucht gleich an der Säule, gegen die Rennewart ihn schleudert, zerplatzt, wird auch der Koch durch den Tötungsakt zur Speise, zum Schafsbraten392. Diese Form der Tötung degradiert nicht nur den Getöteten, sie ist in höchstem Maße unhöfisch und lässt Rennewarts ritterliche 392 Zu Wolframs Referenz auf Walther von der Vogelweide vgl. Scholz, Manfred Günter: Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach. Literarische Beziehungen und persönliches Verhältnis, S. 34–41. Scholz versteht den intertextuellen Verweis als Verspottung Walthers.
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Defizite erkennen. Obwohl er adelig, stark und schön ist, kämpft und tötet Rennewart nicht wie ein Ritter, sondern wie ein Koch. Auch der Koch verwandelt etwas Lebendiges in etwas Totes, damit es verzehrt werden kann. Ähnlich agiert Rennewart, auch wenn seine Opfer nicht gegessen werden und es bei der Zubereitung des Kochs zum schmackhaften Mahl noch an Salz mangelt. Fritz Peter Knapp weist darauf hin, dass die Tötung des Kochs besonders charakteristisch für Rennwarts tumpheit ist, die sich durch den makabren Küchenhumor ausdrückt393. Die Komik resultiert dabei aus dem Zusammenfallen des Banalen, der Küche, mit dem Ernsthaften, dem Tod des Kochs, der wie ein Braten gegrillt wird. Auch in Aliscans tötet Renoart einen Küchenmeister, der seinen Schnurrbart ansengt. Der Küchenmeister weckt Renoart, der in der Küche seinen Rausch ausschläft, indem er dessen Bart anzündet. Zornig und erschrocken wirft Renoart den Koch kurzerhand ins Küchenfeuer, wo dieser zu Asche verbrennt (V. 4519– 4537). Die Strafe entspricht somit in der altfranzösischen Fassung dem Vergehen, im Vergleich zu Wolframs Bearbeitung fehlt diesen Szenen jedoch die besondere kulinarische Konnotation, die Wolframs grotesken Küchenhumor auszeichnet. Ebenso wie Rennewart bedauert Renoart, dass ihm eine unstandesgemäße Behandlung widerfährt. Im Gegensatz zu Rennewart legt sich Renoart im Anschluss an seinen Klagemonolog jedoch behaglich neben das Feuer, in dem der Koch verbrannt ist, um sich zu wärmen (V. 4562f). Die Tötung des Kochs bildet im Willehalm eine Wiederholung und Steigerung des Vorfalls in Laon. Rennewarts Aufenthalt in der Küche hat jeweils eine Verletzung zur Folge: Die erste Verbrennung betrifft Haare und Gewand, die zweite Lippen und Bart. Während die Haare und das Gewand Attribute für Schönheit und kostbare Ausstattung des höfischen Ritters sind, ist der Bart Zeichen der Liebe zu Alyze, deren Kuss ihn zum Wachsen gebracht hat. Der Aufenthalt in der Küche ist somit potenziell gefährlich für die Ausbildung von Rennewarts höfischer Identität, da dort deren äußere Attribute vernichtet werden. Solange Rennewart mit der Küche verbunden bleibt, wird seine vollständige höfische Ausbildung verhindert. Rennewarts morgendlicher Übergriff auf den Koch hat das Küchenpersonal vertrieben, sodass Willehalm vergeblich auf das Frühstück wartet (289,6–10):
393 Vgl. Knapp, Rennewart, S. 318.
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der marhcrave sante hin, ob daz ezzen dannoch wære bereit. die totlichen arbeit vluhen die vür koche waren benant: dane schürte niemen viuwer noch brant.
Rennewarts ständige Auseinandersetzungen mit den Köchen haben somit Konsequenzen für den Hof. Wie am Abend zuvor stört Rennewart erneut die Ausübung des höfischen Zeremoniells. Gyburcs anschließender Besuch verdeutlicht den defizitären Zustand von Rennewarts Identität. Die Hofleute wissen bereits teilweise von seiner hohen Abkunft, wodurch sein Verweilen noch unangebrachter erscheint. Rennewarts Gebaren kontrastiert zudem mit Gyburcs Verhalten, die seine Schwester ist, und die nie zuvor eine Küche betreten hat (289,21). Gyburc gelingt es, ihn zu beruhigen und neu einzukleiden. Beim anschließenden Mahl nimmt Rennewart mit versengtem Bart, aber in glänzender Rüstung auf Heimrichs Gesuch neben Gyburc Platz. Auch dieses Mal erregt seine Stange Aufsehen. Rennewart gestattet es jedoch, dass sich die Ritter vor dem Mahl mit der Stange beschäftigen, sodass die Mahlzeit nicht gestört wird. Rennewart fällt bei Tisch durch sein Äußeres aus der Reihe. Er ist voll gerüstet, was von Wolfram mit einem Verweis auf Neidharts dörper ironisch kommentiert wird. Willehalm jedoch stört Rennewarts Aufmachung nicht und dieser fällt dieses Mal nicht durch sein unmäßiges Essverhalten auf (312,1-26). Das höfische Mahl hat die Auswirkung, dass Rennewart nach dem Essen seine Stange vergisst und nur noch über das Schwert verfügt, das ihm umgegürtet ist. Das wiederholte Vergessen der Stange kann als Zeichen für Rennewarts allmähliche Fortschritte betrachtet werden394. Die völlige Integration in die höfische Tischgemeinschaft misslingt jedoch, Rennewarts Andersartigkeit sorgt bei jeder Mahlzeit für Aufsehen395. Rennewarts Kampfeslust setzt sich schließlich gegenüber seiner Esslust durch: Rennewart verlässt das Mahl, als die Trompeten zum Kampf erklingen (314,28f). Das Nachlassen von Rennewarts unbändigem Appetit, das kennzeichnend für seine höfische Entwicklung ist, fällt noch einmal besonders deutlich bei seiner Begeg394 Vgl. hierzu Przybilski, Martin: Die Selbstvergessenheit des Kriegers. Rennewart in Wolframs „Willehalm“. In: Ulrich Ernst/Klaus Ridder (Hgg.): Kunst und Erinnerung. Memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Köln, 2003, S. 201–222. 395 Vgl. auch Greenfield, John/Miklautsch, Lydia: Der „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach. Berlin, 1998, S. 206.
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nung mit den französischen Deserteuren während der zweiten Schlacht von Alischanz auf. Nun kehren sich die Rollen um: Rennewart besteht auf die Einhaltung der höfischen Werte, Mut und Treue, die mit dem Rückzug von den Kampfeshandlungen unvereinbar sind, während einer der Deserteure die Vorzüge des höfischen Festmahls ausmalt und damit seine Genusssucht preisgibt und diese auch bei Rennewart, der sich beim Essen unmäßig gezeigt hat, vermutet (326,15-25). Auch hier sind Essen und Gewalt aufeinander bezogen, die Erwähnung des Mahls erweckt Rennewarts Aggression. Beim großen Festmahl nach dem Sieg der Christen wird Rennewart bezeichnenderweise nicht mehr erwähnt (447,11-448,16). Der altfranzösische Renoart hingegen, der zu eben diesem Siegesmahl nicht explizit von Guillelme eingeladen wird, sieht diese Missachtung als Anlass, vorübergehend seinen alten Glauben wieder anzunehmen und seine Aggressionen gegen die Franzosen zu richten (V. 7542–7544): „Li quens Guillelmes nel deüst pas penser, Qui ne me deigne ensemble o lui mener Ne a sa table n‘a son mengier mander.“ („Graf Guillelme hätte nicht auf den Gedanken kommen dürfen, dass er mich nicht für wert erachtete, mich mit sich zu führen und zum Essen an seine Tafel zu laden.“)
Die Integration in die höfische Tischgemeinschaft entscheidet über die Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Die fehlende Einladung durch Guillelme bewirkt, dass Renoart bereit ist, seine Sympathien für die Franzosen abzulegen und seine Glaubenszugehörigkeit zu wechseln. Nachdem Renoart die Franzosen bedroht, lädt Guillelme Renoart schließlich zum Essen und Guiborc setzt sich während des Mahls zu ihm (V. 7830f). Renoart erlangt die Zugehörigkeit zur höfischen Tischgemeinschaft somit nicht über die Ausübung des höfischen Habitus, sondern über die Androhung von Gewalt. Während Rennewart eine höfische Entwicklung durchläuft, dann aber aus dem Handlungstableau verschwindet, ohne seine Defizite jemals vollständig zu überwinden, gelingt Renoart am Schluss die offizielle Integration mittels Taufe und Schwertleite, bei gleichzeitiger Betonung seines ambivalenten Charakters. So beklagt sich Guillelme vor der Schlacht gegenüber seinem Vater Aymeri, dass Renoart nach wie vor die Küche aufsucht, um sich zu wärmen, und Aufgaben der Köche übernimmt (V. 4442-4444):
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„Mes trop desire en cuisine a chafer, Le feu a fere et la char escumer. Cil queu le gabent, sel volent assoter.“ („Aber allzu sehr schätzt er es, sich in der Küche zu wärmen, Feuer zu machen und das Fleisch abzuschäumen. Diese Köche machen sich über ihn lustig und lassen ihn verdummen.“)
Zudem verfügt das altfranzösische Epos über eine abschließende Episode, die in Wolframs Fassung fehlt: Nach verlorener Schlacht fällt eine Gruppe von Sarazenen in das Bohnenfeld eines Bauern ein, verzehrt die gesamte Ernte und schlägt ihr Nachtlager auf. Der beraubte Bauer wendet sich Hilfe suchend an Renoart. Dieser vertreibt mit Guillelmes Erlaubnis die Heiden und entschädigt den Bauern. Renoarts letzter großer Kampf dreht sich somit um den Raub von Bohnen. Während Guillelme Vivien bestattet, hört sich Renoart die Klagen des Bauern an, der vom Erlös seiner Bohnen Brot kaufen wollte, beschimpft die Sarazenen für ihre Gefräßigkeit und diskutiert mit ihnen, ob der Verzehr der Bohnen als Diebstahl zu werten ist (V. 7510f). Zum Ende des Epos treten somit Renoarts burleske Züge noch einmal hervor. Im Gegensatz zu Rennewart, der sich gegen Ende des Willehalm langsam von der Küche löst, wird in Aliscans immer wieder auf Renoarts Verbundenheit zu Küche und Essen angespielt. Während das Essen für Rennewart immer weniger wichtig wird, misst Renoart am Ende dem Bohnenfeld dieselbe Bedeutung zu wie dem vorausgegangenen Kampf. Wolfram hat sich zwar bei der Konzeption seiner Rennewart-Figur am altfranzösischen Renoart orientiert und dessen charakteristische Züge übernommen. Rennewart ist jedoch komplexer und somit ambivalenter gestaltet, indem sich seine Disparatheit durch seine Geschichte erklärt. Daher ist Rennewarts übermäßiger Appetit anders konnotiert als Renoarts. Während Renoarts Gefräßigkeit und sein Hang zu Küchendingen auf Komik angelegt sind, ist Rennewarts Unbeherrschtheit beim Essen Ausdruck seiner defizitären Identität. Rennewarts Verhalten stimmt nicht mit seiner höfischen Abkunft überein, wodurch sein Charakter gestört ist. Diese Störung äußert sich im Mangel an Mäßigkeit. Seine Ausbrüche gegenüber den Küchenjungen und dem Koch sind zudem durch die schlechte Behandlung, die ihm widerfährt, motiviert396. Seine Gier beim Mahl ist dadurch begründet, dass er den Umgang mit den höfischen Speisen und die Teilnahme an der feinen Tisch396 Vgl. Knapp, Rennewart, S. 320.
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gesellschaft nicht gewohnt ist397. Wolfram übernimmt also teilweise die negativen Charakterzüge Renoarts, leitet sie jedoch immer von den Umständen ab, in denen Rennewart sich befindet. Er erklärt Rennewarts Intentionen und macht seine Handlungen somit nachvollziehbarer. Wolfram wertet die Figur somit auf, stellt Rennwarts hohe Abkunft in den Vordergrund und deutet seine Stärke um. Andrea Kielpinski weist darauf hin, dass diese Entwicklung, die Rennewart durchläuft, als Prozess der Enthüllung seiner verdeckten adeligen Natur zu verstehen ist398. Wolfram wertet Rennewart im Vergleich zu Renoart auf, drängt zugleich aber auch seinen Handlungsanteil zugunsten von Willehalm insbesondere im zweiten Teil zurück. Die Vermutung liegt nahe, dass Rennewart seine defizitäre Identität nicht überwinden kann, ohne sich taufen zu lassen. Da die christliche Religion Teil der Kultur des französischen Hofes ist, wird Rennewart ungetauft zwar toleriert, er ist aber nicht vollends integriert und kann auch Alyze nicht heiraten.
Eucharistie als Erlösung Die hohe Bedeutung, die der christliche Glaube im Epos einnimmt, offenbart sich sowohl in Aliscans als auch im Willehalm unter anderem durch die ausführliche Schilderung von Vivianz’ Sterben in der ersten Schlacht gegen die Heiden. Sowohl der altfranzösische Dichter als auch Wolfram von Eschenbach gehen detailliert auf die Eucharistie ein, die Vivianz unmittelbar vor seinem Tod durch Willehalm empfängt, und messen diesem Sakrament eine hohe Bedeutung bei. Als Vivianz den nahen Tod spürt, bittet er Willehalm um gesegnetes Brot, das dieser in seiner Tasche bei sich trägt (68,23–69,11): „doch gebt mir sinen lichnamen her, des mennischeit vonds blinden sper starp, da diu gotheit genas. […] diu sele wil hinnen gahen: 397 Vgl. Knapp, Rennewart, S. 320. 398 Vgl. Kielpinski, Rennewart, S. 83 ebenso Greenfield/Miklautsch, Der „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach, S. 205. Vgl. auch Tsukamoto, Nobuko Ohashi: Rennewart: Eine Untersuchung der Charakterisierungs- und Erzähltechnik im Willehalm Wolframs von Eschenbach. Washington, 1975, S. 13.
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nu laz mich balde enpfahen ob du ir ze helfe iht wellest geben.“ do erz enpfienc, sin jungez leben erstarp: sin bihte ergienc doch e.
Noch deutlicher bezieht der altfranzösische Dichter den Verzehr, das Hinunterschlucken des gesegneten Brotes, unmittelbar auf das Heil, das Vivien dadurch gewährleistet ist (V. 995–997): „Niés“, dist Guillelmes, „ne vos estuet douter.“ A icest mot li fist le pein user A l‘anor Deu et le col avaler. („Neffe“, sagte Guillelme, „Ihr braucht keine Sorge zu haben.“ Mit diesen Worten ließ er ihn sein Brot essen, zur Ehre Gottes und in den Hals hinab schlucken.)
Der erste im Epos geschilderte Essakt ist somit ein christlicher. Da Rennewart als Willehalms Knappe Vivianz’ Platz einnimmt, fällt die Diskrepanz zwischen dem christlichen Vivianz und dem ungetauften Rennewart auf. Renoart tritt Viviens Nachfolge an, indem er diesen rächt und sowohl die Schwertleite als auch die Taufe empfängt. In Aliscans wird jedoch auch der Kontrast zwischen Vivien und Renoart unterstrichen und somit werden Renoarts höfische Defizite betont. Im Willehalm hingegen wird Rennewart vor allem durch Willehalms und Gyburcs Fürsorge mit Vivianz parallelisiert. Rennewart und Renoart essen viel. Beiden bleibt jedoch immer eine bestimmte Speise, das gesegnete Brot, und somit die Eucharistie verwehrt. Während Renoart zwar das Sakrament der Taufe empfängt, ist auffällig, dass ihm trotz des christlichen Glaubens nicht das Sakrament der Eucharistie zuteil wird. Da Rennewart im Gegensatz zu Renoart ungetauft bleibt, räumt Wolfram ihm ein stärkeres Entwicklungspotenzial ein. Rennewarts Essgewalt, das äußere Zeichen für seine defizitäre Identität, könnte somit durch die fehlende Taufe und Eucharistie begründet und auch durch sie zu beheben sein. Essen und Essverhalten sowie die Nähe oder Distanz zur Küche dienen im Willehalm und in Aliscans der Codierung sozialer Identität und der Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit zum höfischen Kollektiv. Obwohl Rennewart und Renoart in dieses aufgenommen werden, grenzen sie sich durch ihr Essverhalten von der höfischen Gemeinschaft ab. Bezeichnend sind nicht nur die Menge an Speisen,
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die Rennewart und Renoart verzehren, und ihre Tischmanieren, sondern auch die Art der Speisen. Sowohl Rennewart als auch Renoart essen höfische Speisen. Diese tragen jedoch nicht zur Konstitution höfischer Identität bei, sondern unterstreichen vielmehr die Außenseiterposition, die die edlen Küchenjungen am französischen Hof einnehmen. Obwohl beide Protagonisten viel verzehren und Zugang zu teuren höfischen Speisen haben, bleibt ihnen dennoch eine bestimmte Speise, das gesegnete Brot, bis zuletzt verwehrt. Parzival und Rennewart sind zunächst gleichermaßen Figuren, die dem höfischen Kollektiv nicht angehören. Die Abweichung von der höfischen Norm äußert sich in beiden Fällen durch ein gieriges und ungehemmtes Essverhalten. Dementsprechend erfolgt die Integration in die höfische Gemeinschaft bei beiden Protagonisten über die Integration in die höfische Tischgemeinschaft und über die Mäßigung beim Essen. Während die Integration bei Parzival gelingt und dieser die höfische Norm sogar übertrifft, bleibt Rennewarts Integration unvollendet, da er den entscheidenden christlichen Essakt nicht vollzieht.
2. Desintegration und Reintegration Nicht nur die Integration eines Protagonisten aus der höfischen Essgemeinschaft, sondern auch seine Desintegration ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in der mittelhochdeutschen Epik. Der Ausschluss aus der höfischen Tischgemeinschaft kann verschiedene Ursachen haben und unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die Konsequenz einer Desintegration aus der höfischen Gesellschaft besteht wiederum in einer einsamen Esssituation. Im Erec Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue fungiert Erecs vorübergehende freiwillige Desintegration aus der Artusgesellschaft und ihrer Tischgemeinschaft als Zeichen für Erecs defizitären Identitätsstatus und bildet gleichzeitig die Voraussetzung für seine Reintegration. Obwohl Erec nicht am Hofleben teilnimmt, verzehrt er durchgängig höfische Speisen. Seine Nähe oder Distanz zum Hof äußert sich jedoch in seinem Essverhalten und durch die Teilnahme oder Abwesenheit bei höfischen Mählern. Im Iwein Hartmanns von Aue gerät Iwein infolge einer Fristüberschreitung in eine Identitätskrise, durch die er das Bewusstsein seiner Selbst verliert, die höfische Kultur vergisst und in die niedrigste Ebene menschlichen Daseins zurückfällt. Iweins Ernährung im Wald kennzeichnet sich dabei nicht nur durch seine Einsamkeit, sondern auch durch seinen gewaltigen Hunger und durch den Verzehr kulturell unbearbeiteter Speisen. Der Parzival Wolframs von Eschenbach und der Gregorius Hartmanns schildern hingegen jeweils eine Situation, in der der Protagonist im Anschluss an eine Gefährdung seiner Identität und die Desintegration aus der höfischen Gesellschaft einsame asketische Mähler verzehrt. Gemein haben Iweins Nahrungstausch mit dem Eremiten, Parzivals Aufenthalt beim Einsiedler Trevrizent und Gregorius’ Eremitentum nicht nur den Ausschluss aus der höfischen Gesellschaft, sondern auch die religiöse Dimension. Während die religiösen Bezüge im Iwein durch die Profanisierung der geistlichen Modelle von Eucharistie und Auferstehung nur implizit vorhanden sind und auch der Eremit nicht als Geistlicher in Erscheinung tritt, erhält Parzival hingegen von Trevrizent, der eine geistliche Funktion ausübt, explizit eine religiöse Unterweisung und Perceval empfängt bei Chrétien sogar die heilige Kommunion. Gregorius seinerseits erhält nicht wie Iwein und Parzival Nahrung von einem Eremiten; er wird selbst zum Eremiten, den ein göttliches Speisewunder am Leben erhält. Während Iwein viel isst und sich seine natürliche rohe Nahrung zunehmend wieder dem höfischen Niveau annähert, verzehrt Par-
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zival Fastenspeisen, die das qualitative Gegenteil der höfischen Speisen darstellen. Gregorius hingegen wird von Gott ernährt und verzehrt bis auf ein paar Schluck Wasser überhaupt keine irdischen Speisen mehr. In allen drei Fällen jedoch bildet die Ernährung der Protagonisten die Voraussetzung für ihren Identitätswandel und ihre Reintegration in die höfische Gesellschaft.
2.1. Höfische Speisen: Erecs Aventiurefahrt Der Erec et Enide-Roman Chrétiens de Troyes und der Erec-Roman Hartmanns von Aue gliedern sich in einen ersten und einen zweiten Kursus, in deren Verlauf der höfische Protagonist jeweils durch ein Missgeschick oder eigene Schuld sein Ansehen verliert, seine höfische Identität gefährdet und infolge dessen die höfische Gesellschaft verlässt. Erecs gesellschaftliche Desintegration ist in beiden Fällen nicht durch eine öffentliche Anschuldigung motiviert; Erec zieht sich vielmehr freiwillig aus der Artusgesellschaft zurück in dem Bestreben, sich zu rehabilitieren. Im Verlauf des ersten Kursus’ verbessert sich Erecs sozialer Status kontinuierlich. Diese Entwicklung spiegelt sich in Erecs Mählern, die sich zunehmend höfisch verfeinern. Während sich Erec bei Koralus dem höfischen Lebensstil zwar wieder annähern kann, dabei aber keinerlei Speisen teilhaft wird, erlebt er vom Sperberkampf bis zu seiner Hochzeit eine Reihe von Festmählern, bei denen sich sein Ansehen sukzessiv steigert. Nach dem verligen verlassen Erec und Enite das höfische Umfeld. Im Verlauf der anschließenden Aventiurefahrt verzehrt Erec vorwiegend höfische Nahrung. Seine Mahlzeiten oszillieren jedoch zwischen genuin höfischen Speisen, die in nicht-höfischer Umgebung verzehrt werden, und nichthöfischen Speisen, die in höfischer Umgebung verzehrt werden. So enthält das Picknick am ersten Morgen seiner Aventiurefahrt zwar ausschließlich höfische Speisen, findet aber im Freien statt. Während seines Zwischenaufenthalts bei König Artus wird Erec zwar in die ritterliche Essgemeinschaft aufgenommen, bei Chrétien werden aber neben kultivierten auch natürliche Lebensmittel aufgetragen, deren Verzehr Erecs instabilen Identitätsstatus bezeichnet, während sich Erec bei Hartmann nicht in die Tischgemeinschaft integrieren kann. Auch während seines Aufenthalts bei König Guivreiz verzehrt Erec keine höfische Nahrung, obwohl er sich in höfischer Umgebung befindet. Im Anschluss an eine Reihe erfolgreich bestandener Aventiuren erfolgt schließlich Erecs gesellschaftliche Reintegration, wobei Erec seine höfische Identität nicht nur wiedererlangt, sondern diese zudem
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auf einem höheren Niveau ansiedeln kann und somit schließlich den Zustand ritterlich-höfischer Idealität erreicht. Sowohl im ersten als auch im zweiten Kursus dienen Erecs Essverhalten und die Art seiner Nahrung als Indikatoren für seinen Identitätsstatus und somit als Zeichen für seine Nähe oder Distanz zur höfischen Gesellschaft und zur höfischen Speisegemeinschaft.
Essen als (Wieder)Erlangung höfischer Identität Zu Beginn des ersten Kursus’ wird Erec durch den Zwerg Maliclisier gedemütigt, dessen Schläge er erdulden muss, da er unbewaffnet ist und sich nicht verteidigen kann. Erec verlässt den Artushof und folgt dem Zwerg und seiner Herrin nach Tulmein, mit der Absicht, sich für die erlittene Schande zu rächen. Bei seiner Ankunft in der Stadt ist Erec ungerüstet und verfügt weder über Geld noch über Bekannte, die ihn gastlich aufnehmen könnten. Erec ist somit an einem Tiefpunkt angelangt und seine Reintegration und Rehabilitation erfolgen stufenweise unter anderem anhand der Mähler. Die Gastfreundschaft des verarmten Edelmanns Koralus erfüllt die Funktion, Erec wieder dem höfischen Lebensstil, inklusive höfischer Nahrung, Rüstung und Waffen, anzunähern, allerdings auf einem niedrigeren Niveau als Erec es von der Artusgesellschaft gewöhnt ist. Während Erec bei Chrétien im Haus des Edelmanns erstmals seit dem Verlassen des Artushofs wieder teil an einer höfischen Speisegemeinschaft hat, verschärft Hartmann die Notlage von Erecs Gastgeber und betont, dass die Einladung Erecs zu einem höfischen Mahl Koralus’ adeliger Identität zwar angemessen wäre, dieser aber aufgrund seiner Armut nicht in der Lage ist, eines auftragen zu lassen399. Die als Negation formulierte Descriptio der höfischen Mahlzeit bei Koralus erfüllt jedoch eine ähnliche Funktion wie das in der altfranzösischen Vorlage tatsächliche verzehrte Mahl: Sie bindet Erec wieder in die höfische (Ess-)Gesellschaft ein. Nachdem Erec sich am nächsten Tag zum Kampf gegen den Ritter Iders entschlossen hat, besuchen Erec und Enite die Messe und nehmen anschließend an einem Festmahl teil, das Imain, der Herzog von Tulmein, anlässlich eines höfischen Turniers, des Sperberwettbewerbs, ausrichtet. Bei dieser Mahlzeit handelt es sich um ein formelles höfisches Mahl, das Erec in Gesellschaft anderer Ritter außerhalb von Koralus’ Haus einnimmt. Dieses Mahl, das den Charakter eines 399 Vgl. das Kapitel zur Gastfreundschaft.
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höfischen Festmahls besitzt, ist auch bei Hartmann real vorhanden und stellt eine Steigerung der Mahlzeit bei seinem verarmten Gastgeber dar (V. 662-671): mit dirre rede si kâmen dâ si messe vernâmen von dem heiligen geiste: des phlegent si aller meiste die ze ritterschefte sinnent und turnieren minnent. dô was bereit der imbîz. man dienete in in allen vlîz. alsô der dô ergie, menneclîch ze vreuden vie.
Erec ist nun nicht mehr hilf- und orientierungslos, er hat Anteil am höfischen Leben. Durch seinen Sieg über Iders gleicht Erec die erlittene Schande wieder aus und gewinnt zudem Enite, der als Schönheitspreis der Sperber zugesprochen wird. Während Erec sich als der Stärkste erweist, ist Enite die Schönste; beide haben ihre Vorbildlichkeit unter Beweis gestellt und sind somit nach höfischen Maßstäben füreinander bestimmt. Als Zeichen für Erecs wiedererlangte höfische Identität fungieren drei im Folgenden für ihn ausgerichtete höfische Feste, in deren Mittelpunkt jeweils ein Festmahl steht: das Fest von Tulmein, das Hochzeitsfest und das Fest zum Ritterturnier im Anschluss an die Hochzeit. Nach dem Sperberwettkampf wird zu Ehren von Erec und Enite ein Fest veranstaltet, bei dem reichlich Speisen aufgetragen werden und das die Überwindung der Krise im ersten Kursus markiert. Hartmann erwähnt die hohen Kosten, die Enites Vater nicht hätte bestreiten können, weshalb Herzog Imain das Fest ausrichtet (V. 1388–1399). Es findet somit in einem höfischen Umfeld statt, die hohen Kosten und die vielen Gäste verweisen auf eine prachtvolle höfische Veranstaltung. Das Hochzeitsfest, das insbesondere bei Hartmann sehr prunkvoll ausfällt, stellt wiederum eine Steigerung des Festes von Tulmein dar. Ausführlich geht Hartmann auf die Anzahl der Gäste, die höfischen Speisen und die feinen Tischmanieren aller Anwesenden ein400. Das Hochzeitsfest dauert über 14 Tage und wird bei Hart400 Vgl. Kapitel zu Hochzeitsfesten.
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mann aufgrund von Artus’ Liebe zu Erec noch einmal um dieselbe Dauer verlängert. Im Anschluss an die Hochzeitsfeierlichkeiten richtet Artus ein Ritterturnier aus, bei dem sich der junge Erec erstmals öffentlich als Ritter bewähren soll. Erec wird diesen Anforderungen mehr als gerecht und erweist sich auch bei diesem Turnier als bester Kämpfer. Erecs vorbildliches Kampfverhalten geht mit einem besonders zurückhaltenden Essverhalten einher (V. 2539-2546): wan als schiere er wider in kam, dô wâren si alle ûz komen und hâten messe vernomen, als sis beginnen solden die turnieren wolden. ein lützel âz er unde tranc: vil enliez in der gedanc den er hin wider hâte.
Erecs Verhalten bei Tisch stimmt genau mit dem höfischen Ideal der Mäßigung überein. Erec beweist somit seine Vorbildhaftigkeit sowohl auf dem Kampffeld als auch bei Tisch. Am Ende des ersten Kursus’ hat Erec nicht nur seine höfische Identität wiedererlangt, er hat sich zudem selbst übertroffen und wird als besonders vorbildlicher Ritter gefeiert. Während sich die Instabilität von Erecs höfischer Identität zu Beginn des ersten Kursus’ über den Ausschluss aus höfischen Speisegemeinschaften ausdrückt, kennzeichnet sich Erecs Vorbildhaftigkeit zum Ende des ersten Kursus’ durch die Teilnahme an höfischen Mählern, die um seinetwillen ausgerichtet werden, sowie durch sein zurückhaltendes Essverhalten.
Essen als Zeichen der Liminalität Wie der erste so beginnt auch der zweite Kursus mit einer Schädigung von Erecs Ansehen und seiner Identität. Erecs Vergehen, das dieses Mal in höherem Maße als zuvor selbstverschuldet ist, umfasst eine sexuelle und eine alimentäre Komponente. Nach seiner Hochzeit und der ritterlichen Bewährung richtet sich Erec mit Enite ein
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bequemes Leben ein, das sich zwischen Tisch und Bett abspielt401. Zeichnete sich Erec zuvor durch alimentäre Zurückhaltung verbunden mit ritterlicher Kampfeslust aus, so verzichtet er nach der Eheschließung auf weitere Turnierkämpfe und verlässt das Bett nur noch, um zum Essen zu gehen. Somit scheint gleichzeitig mit Erecs Verlangen, selber zu kämpfen, auch seine alimentäre Zurückhaltung verschwunden zu sein. Von Enite unabsichtlich auf sein verligen aufmerksam gemacht, beschließt Erec, gemeinsam mit ihr den Hof zu verlassen. Nach zwei Räuberbegegnungen im Wald reiten Erec und Enite die erste Nacht ohne Nahrung durch (V. 3481f). Am nächsten Tag treffen sie an einem Marktflecken auf einen Knappen, der ein höfisches Mahl bei sich trägt und Erec und Enite zum Essen einlädt (V. 3532–3540): „mich dunket daz ir habet geriten und grôze arbeit erlitten: und twinge iuch dehein hungernôt, ich vüere hie schultern unde brôt unde vil guoten wîn. nû lâtz in iuwern hulden sîn und heizet die vrouwen bîten unde wider rîten, und enbîzet hie an dirre stat.“
Obwohl der Knappe Erec und Enite sofort als höfisch identifiziert, sieht er ihnen auch die erlittene Mühsal an und spricht sie auf ihren Hunger an. Der Hunger als körperliches Bedürfnis ist ein Anzeichen für Erecs defizitäre Identität. Sein höfisches Aussehen und der Hunger weisen somit auf Erecs liminalen Zustand hin: Erec befindet sich auf der Schwelle zwischen Hof und Wildnis. Er fühlt sich dem Hof zwar nicht mehr zugehörig, aber er verliert seine höfische Identität nicht in dem Maße, wie es bei Iwein der Fall ist. Auch das Mahl selbst, eine als Picknick improvisierte höfische Mahlzeit, die Erec und Enite auf halber Strecke zwischen Wald und Hof auf einer Wiese einnehmen, unterstreicht gleichzeitig ihre Nähe und Distanz zur Hofgesellschaft (V. 3548–3555): sînen huot nam er in die hant und gienc dâ er wazzer vant. 401 Vgl. Kapitel zu Essen als Akt der Intimität.
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in beiden er sô vil truoc daz man die hende getwuoc. die tweheln leite er ûf daz gras, dar ûf die spîse diu dâ was, vleisch brôt unde wîn: es enmohte nie mêre sîn.
Erec und Enite verzehren zwar höfische Speisen und halten dabei das höfische Protokoll ein: Sie waschen sich vor dem Essen die Hände, werden während des Mahls von dem Knappen bedient und speisen von einer weißen Decke. Doch der Mangel an höfischer Gesellschaft und der Ort, an dem sie sich zum Essen niederlassen, in der freien Natur, widersprechen den Rahmenbedingungen einer formellen höfischen Mahlzeit. Das Angebot des von dem Knappen herbeigeholten Grafen, als Gäste in sein Schloss einzukehren, wo Erec und Enite zweifellos eine richtige höfische Mahlzeit erhalten würden, lehnt Erec jedoch ab, mit der Begründung, unhovebære zu sein (V. 3636). Stattdessen nehmen Erec und Enite ihr nächstes Mahl in einem Gasthaus ein und Erec setzt zum ersten Mal die Trennung der Speisegemeinschaft mit Enite um. Die Auflösung der Tischgemeinschaft spiegelt die ungeklärte Beziehung zwischen Erec und Enite. Da die eheliche Tischgemeinschaft in der höfischen Literatur die Norm darstellt, erregt das getrennte Speisen von Erec und Enite die Verwunderung des Grafen und ermöglicht ihm die Annäherung an Enite402. Nach dem Kampf gegen den ersten Grafen und den ersten Kampf gegen Guivreiz, bei dem Erec als äußere Manifestation seiner unsicheren Identität eine Wunde empfängt, gelangen Erec und Enite in die Nähe des Lagers von König Artus und seinem Gefolge, die sich auf einem Jagdausflug befinden. Die Artusritter Gawein und Keie führen Erec und Enite auf Befehl von Artus, aber entgegen Erecs Wunsch, listig in das Königslager. Erec sperrt sich gegen eine Begegnung mit dem Artushof mit dem Hinweis, dass weder er noch der Hof einen Vorteil von seiner Anwesenheit hätten. Erec ist nach wie vor nicht hoffähig (V. 5056-5066), er kann dem Gebot der höfischen Freude nicht entsprechen und ist zudem bestrebt, die Bequemlichkeit, die mit dem Hof verbunden ist, zu meiden; ein Hinweis, der in der Forschung oft auf Erecs Vergehen bezogen wird, da dieses mit einem Übermaß an Bequemlichkeit verbunden ist. Trotzdem richtet es Gawein geschickt ein, 402 Vgl. Kapitel zur Gemeinschaft von Tisch und Bett in der Ehe.
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dass Erec und Enite direkt auf Artus und sein Gefolge treffen. Ginover versorgt Erecs Wunde mit einem Wunderpflaster, sodass es Erec möglich ist, Artus bereits am nächsten Morgen wieder zu verlassen. Erec und Enite werden abends vorzüglich bewirtet; Erec ist jedoch nicht bereit, sich in die Artusgesellschaft zu integrieren (V. 5256–5262): doch handelten si die naht volleclîche nâch ir maht die werden geste und sô si kunden beste, und heten des gerne vil getân, wolde ins Êrec gehenget hân: des er doch niht entete.
Am Morgen will Erec derart früh aufbrechen, dass Artus die Mahlzeit seinetwegen vorverlegt (V. 5274). Anhand dieser beiden Mahlzeiten, die Erec mit dem Hof einnimmt, wird deutlich, dass er sich noch nicht wieder als Teil dieser Gesellschaft fühlt. Detailreicher als Hartmann schildert Chrétien die Zwischeneinkehr am Artushof. Erec lehnt Artus’ Angebot, 14 Tage zu bleiben, entschieden ab und bittet darum, das Abendessen zu servieren. Diese Mahlzeit besteht aus Fischen und Früchten (V. 4237–4240): ce fu un samdi a nuit qu‘ il mangierent poissons et fruit, luz et perches, saumons et truites, et ouis poires crües et cuites. (Es war ein Samstagabend als sie Fische und Früchte aßen, Hechte und Barsche, Lachse und Forellen, dann rohe und gekochte Birnen.)
Die Früchte werden als Nachtisch gegessen, es gibt rohe und gekochte Birnen. Jacques LeGoff hat als Erster einen Bezug zwischen dieser Textstelle und dem kulinarischen Dreieck von Claude Lévi-Strauss hergestellt403. Der Verzehr sowohl von roher als auch von gekochter Nahrung weist auf die Ambiguität von Erecs Identität hin, der zwar dem kulturellen Artushof angehört, sich aber trotzdem in der 403 Vgl. LeGoff, Jacques: Phantasie und Realität des Mittelalters. Stuttgart, 1990, S. 214.
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unkultivierten Natur aufhält. Anhand der Nahrung lässt sich auf Erecs Identitätsentwicklung schließen; seine höfische Identität ist so stark erschüttert, dass ihm ein Aufenthalt am Hof nicht möglich ist. Erec ist keine unhöfische Figur und seine Identität als Ritter wird nicht infrage gestellt, aber er kann seine Persönlichkeit noch nicht wieder mit den höfischen Werten in Übereinstimmung bringen. Gleich nach der Mahlzeit will Erec schlafen und es wird rasch abgeräumt. Ein wichtiges Element der Mahlzeit wird dadurch unterschlagen: die Kommunikation, die gepflegte höfische Unterhaltung, die ebenso Teil der feinen Sitten ist wie die kostbaren Speisen und das höfische Betragen bei der Mahlzeit.
Fasten als Vervollkommnung höfischer Identität Seine nächste Mahlzeit erhält Erec erst nach der zweiten Grafenbegegnung und dem zweiten Kampf gegen Guivreiz. Nachdem Guivreiz und Erec sich mit Enites Hilfe erkannt haben, machen sie sich auf den Weg zu Guivreiz’ Schloss Penefrec, wo Erec seine Verwundung endgültig auskuriert. Hartmann geht bei der Schilderung von Erecs und Enites Aufenthalt bei Guivreiz ausführlich auf die besonders gute Verpflegung ein, die in Penefrec zur Verfügung steht. Ein großer See und ein Jagdgebiet gewährleisten die Versorgung mit höfischen Speisen, vor allem mit Fisch und Wild (V. 7191–7194): vische unde wiltbrât, beide semeln unde wîn. swaz dâ mêre solde sîn, vil lützel des dâ gebrast. dar umbe hete den werden gast der wirt ze ruowe dar brâht.
Obwohl Hartmann Erecs Genesung nicht explizit auf den Genuss höfischer Speisen zurückführt, kann darauf doch indirekt geschlossen werden, da die Schilderung des Aufenthalts in Guivreiz’ Burg sich auf die Darstellung der Ernährungssituation konzentriert. Die höfische Nahrung trägt somit implizit zu Erecs Erholung bei. Einen etwas anderen, dafür expliziten Zusammenhang zwischen Erecs Genesung und der Nahrung stellt Chrétien her. Um Erecs Gesundung voranzutreiben, drängt Givret Erec zum Essen. Er lässt ihm kalte Pastete und mit Wasser vermischten Wein auftragen (V. 5106-5113):
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„Amis, fet il, or an tastez un petit de ces pastez frois. Vin a eve meslé bevroiz; j‘en ai de boen set barrilz plains, mes li purs ne vos est pas sains, car bleciez estes et plaiez. Biax dolz amis, or essaiez a mangier, que bien vos fera“ („Freund“, bat er, „kostet jetzt ein wenig von dieser kalten Pastete! Trinkt auch Wein mit Wasser gemischt! Ich habe guten dabei, sieben Fässer voll; aber ungemischt ist er nicht gesund für Euch, Ihr seid ja verletzt und mit Wunden bedeckt. Lieber, guter Freund, versucht jetzt zu essen!“)
Während Erec bei Hartmann mit höfischen Speisen versorgt wird, erhält er bei Chrétien eine Krankenkost, die den Übergangszustand markiert, den Erec bei Givret durchlebt. Dabei besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Nahrung und dem Gesundungsprozess. Erecs Gesundung vollzieht sich schrittweise und weist alle Merkmale eines rite de passage auf: Erec ist anfangs nicht in der Lage, viel zu essen und zu trinken und schläft stattdessen (V. 5126-5130). Dabei erhält er solche Nahrung, die eine heilende Wirkung ausüben soll. Aufgrund seiner körperlichen Schwächung verzehrt Erec die Speisen eines Kranken. Um ihn zu kräftigen, geben ihm Givrets Schwestern mindestens viermal am Tag zu essen. Erec trinkt den Wein mit Wasser verdünnt und enthält sich scharfer Gewürze wie Knoblauch und Pfeffer (V. 5166). Nachdem die Heilung fortgeschritten ist, nimmt Erec ein Bad und erhält von Givret kostbare Kleidung geschenkt. Der Gesundungsprozess ist somit abgeschlossen und Erec und Enide verlassen Givret. Bei Hartmann hat Erec am Ende seines Gesundungsprozesses auch die ritterliche Gesinnung, die ihn zuvor auszeichnete, die Verbindung von ritterlicher Kampfeslust und maßvoller Zurückhaltung beim Essen, wiedererlangt. Nun ist ihm die Ritterschaft Schlaf und Speise (V. 7251-7259): daz kam von dem muote daz im dehein werltsache enwas vor dem gemache dâ er ritterschaft vant und dâ er mit sîner hant
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die sêre muoste urborn. diz leben hâte er erkorn. im was da mite lîhte baz: ez was sîn slâf und sîn maz.
Diese Einstellung zeigt sich besonders deutlich bei Erecs letzter Bewährungsprobe, der joie de la curt. Nach ihrem Aufenthalt bei Guivreiz gelangen Erec und Enite zur Burg Brandigan, wo sie vom Burgherrn König Ivreins großzügig bewirtet werden. Dieser kann das Geheimnis der Burg vor Erec nicht verbergen und Erec entschließt sich zur joie de la curt-Aventiure. Auf diesen letzten und schwersten Kampf bereitet sich Erec vor, indem er die Messe besucht, das Abendmahl feiert und bei der darauf folgenden höfischen Mahlzeit fastet und den Johannessegen trinkt (V. 8636-8650): mit vrouwen Ênîten er kam dâ er messe vernam in des heilegen geistes êre, und vlêhete got vil sêre daz er im behielte den lîp. des selben bat ouch sîn wîp. ze vlîze begunde er sich bewarn, alsam ein ritter der sol varn kemphen einen vrumen man. nâch der messe schiet er dan. dô was der imbîz bereit, grôz wirtschaft die er alle meit. deheines vrâzes er sich envleiz: abe einem huone er gebeiz drîstunt, des dûhte in genuoc. ein trunc man im dar truoc und tranc sant Jôhannes segen.
Erec erweist sich nun als idealer miles christianus, der sich durch den Gottesdienst auf die Ritterschaft vorbereitet und aus dem christlichen Abendmahl mehr Kraft schöpft als aus der weltlichen Mahlzeit, bei der er kaum etwas zu sich nimmt. Das höfische Mahl erhält zudem durch den Johannessegen eine christliche Konnota-
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tion. Der Johannessegen hat sich seit dem 11. Jahrhundert zum christlichen Brauch entwickelt, der im monastischen Umfeld oder bei Abschiedssituationen, beispielsweise vor Pilgerfahrten, ausgeübt wurde404. Auf diese Weise erscheint die höfische Mahlzeit durch Erecs Fasten, das an ein religiöses Fasten erinnert, und durch den Johannessegen als eine Verlängerung der Messe. Nicht nur bei Hartmann, sondern auch bei Chrétien ist Erecs letzte geschilderte Mahlzeit christlich konnotiert. Der altfranzösische Erec endet mit Erecs Krönungsmahl, das wie das Mahl in Brandigan an eine Messe, die Krönungsmesse, anschließt und bei dem insbesondere Wein und Brot, als Wiederholung und Vertiefung der Eucharistie, aufgetragen werden405. Im Verlauf der gesamten Handlung spiegelt Erecs Umgang mit der Nahrung seine Identität. Erecs defizitäre Identität zeigt sich dabei entweder durch unhöfische oder überhaupt keine Speisen, durch eine unhöfische Umgebung beim Essen, durch ein Zuviel an Speisen oder den Verzicht auf bestimmte höfische Speisen, wie Gewürze. Seine vorbildliche höfische Identität hingegen korreliert mit der Teilnahme an einer höfischen Speisegemeinschaft verbunden mit einem besonderen Maß an Zurückhaltung beim Essen. Die Vervollkommnung seiner höfischen Identität drückt sich bei Hartmann schließlich über seinen alimentären Verzicht aus.
2.2. Kulturelle Speisen: Iweins Nahrungstausch mit dem Eremiten Im Gegensatz zu Erec, bei dem sich Nähe und Distanz zum Hof weniger über die Art der Speisen, die vorwiegend höfisch sind, ausdrücken, sondern eher über die Umstände des Verzehrs, codieren im Iwein die kulturelle Überarbeitung bzw. die natürliche Belassenheit der von Iwein verzehrten Nahrung seinen Identitätsstatus. Im Yvain Chrétiens de Troyes und im Iwein Hartmanns von Aue fungiert die durch den Waldwahnsinn bedingte primitive Ernährung des höfischen Protagonisten nicht allein als Gegenbild höfischer Kultur, sondern auch als konstitutive Bedingung und integrativer Faktor. Iwein wird an die niedrigste Form menschlicher Existenz geführt, um von dort aus durch den Nahrungstausch mit dem Eremiten die Kultur neu zu erlernen und im Verlauf des Romans die höchste Daseinsform 404 Vgl. Mattejiet, Ulrich: Minnetrinken. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6, Sp. 651. 405 Vgl. Kapitel zu Königskrönung, Schwertleite und Hochzeit.
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zu erlangen. Wildheit und Selbstverlust stellen dabei eine Voraussetzung für die Reintegration in die höfische Kultur und den Prozess der Akkulturation dar406.
Rohes Nach seiner Hochzeit mit der Königin Laudine überschreitet Iwein die von ihr gesetzte Frist für Aventiurefahrten und wird von der Hofdame Lunete für diese Verfehlung öffentlich angeklagt. Überwältigt von Schuldgefühlen, Scham und Zorn gegen sich selbst, verlässt Iwein die Artusgesellschaft und verliert site und zuht (V. 3234). Er läuft über die Felder Richtung Wildnis und reißt sich dabei die Kleider vom Leib. Nackt rennt Iwein in den Wald hinein und besitzt gerade noch genug Verstand, um einem Knappen, auf den er trifft, Bogen und Pfeile abzunehmen. Auf diese Weise geht Iwein den Weg der Zivilisierung rückwärts407: Er legt seine höfischen Attribute nach und nach ab und lässt die Kultur als organisiertes soziales System hinter sich408. Der Wald, in den Iwein sich nun begibt, verkörpert den Gegensatz zum Hof, die höfischen Regeln besitzen nun keine Gültigkeit mehr. Im undomestizierten Wald ist der Mensch seinen physischen Bedürfnissen wie Hunger und Durst unterworfen, die ihn zum Objekt seiner Leiblichkeit degradieren409. Ohne Kleidung und Nahrung, ohne menschliches Bewusstsein und Sprache ist Iwein an einem absoluten Tiefpunkt angelangt, der maximale Hofferne und Kulturlosigkeit beinhaltet. Während Chrétien Yvain einen Irren (ome forsené) nennt, bezeichnet Hartmann Iweins Zustand als torheit (V. 3260) und bedauert ihn vor allem deshalb, weil sich Iwein einst durch Vorbildlichkeit auszeichnete (V. 32573260). Die Torheit ist das qualitative Gegenteil der ritterlich-höfischen Daseinsform. Dem Hof stellen Chrétien und Hartmann den Wald entgegen, der Kleidung die Nacktheit, der feinen Gesinnung den Verlust des Bewusstseins und der Artusgesellschaft die Einsamkeit. Den besonderen Akzent legen beide Dichter jedoch auf die Schilderung von Iweins Ernährung im Wald, die fast den gesamten Raum in dieser Episode einnimmt. Dabei verweist die Nahrung, die Iwein im Wald ver406 Vgl. Quast, Bruno: Das Höfische und das Wilde. Zur Repräsentation kultureller Differenz in Hartmanns Iwein, S. 121f. In: Beate Kellner/Ludger Lieb/Peter Strohschneider (Hgg.): Literarische Kommunikation und soziale Integration. Studien zur Institutionalität mittelalterlicher Literatur. Frankfurt, 2001, S. 111–128. 407 Vgl. LeGoff, Phantasie und Realität, S. 175. 408 Vgl. LeGoff, Phantasie und Realität, S. 181. 409 Vgl. Wenzel, Ze hove und ze holze, S. 282.
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zehrt, nicht nur auf den Wahnsinn; auch Iweins Reintegration in die Zivilisation erfolgt über die Speisen. Indem er mit einem im Wald lebenden Eremiten Nahrung tauscht, findet eine nonverbale Kommunikation statt und Iwein erlangt wieder Anschluss an gesellschaftliche Systeme. Zudem nähert er sich durch die allmähliche Änderung seiner Ernährungsgewohnheiten der höfischen Kultur auf einer personell-leiblichen Ebene an. Iweins Torheit zeichnet sich durch den Verlust von Bewusstsein und Reflexionsfähigkeit aus. Im Gegenzug ist er mit tierähnlichen Instinkten und Trieben ausgestattet. Sein stärkster Trieb ist der Hunger. Dieser Hunger steht im Gegensatz zur höfischen Lebensweise, bei der Zurückhaltung beim Essen als Ideal gilt. Die Tatsache, dass Chrétien und Hartmann Iweins Hunger erwähnen, ist daher als Indiz für Iweins hofferne Daseinsform anzusehen. Nachdem Yvain die Artusgesellschaft verlassen und den Wald erreicht hat, geht Chrétien sofort auf Yvains Ernährung ein. Dieser erlegt Waldtiere, die er roh verzehrt (V. 2824-2826): Les bestes par le bois agueite, Si les ocit ez si manjue La veneison trestote crue. (Er stellt den Waldtieren nach und tötet sie und verzehrt das Fleisch roh.)
Yvains einziges Anliegen im Wald ist somit die Befriedigung seines Hungerbedürfnisses und seinen Speisen fehlt dabei jede Form der kulturellen Überarbeitung. Yvain trifft schließlich auf die Hütte des Eremiten, der ihm aus Mitleid Brot und Wasser vor das Fenster seiner Hütte stellt. Für Yvain, der lange kein Brot mehr verzehrt hat, stellt dieses kulturelle Lebensmittel eine begehrenswerte Speise dar (V. 2842f): Et cil vient la, qui mout covoite Le pain, si le prant et s̕ i mort. (Und jener, den es sehr nach dem Brot verlangt, kommt heran und nimmt es und macht sich darüber her.)
Umfangreich und eloquent beschreibt Chrétien die schlechte Qualität des Brotes. Es ist derb und grobkörnig, da der Scheffel Korn, aus dem es gebacken ist, keine fünf Pfennige gekostet hatte. Daher ist dieses Brot bitterer als Hefe, in die Gerste
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ist Stroh eingeknetet und obendrein ist es verschimmelt und trocken wie Baumrinde (V. 2843-2851). Ein größerer Kontrast zum höfischen Weißbrot ist somit kaum denkbar. Trotzdem isst es Yvain, und es schmeckt ihm. Chrétien begründet Yvains Handeln mit seinem Hunger (V. 2852-2858): Mes li fains l´angoisse et esforce, Tant que le pout li sot li pains; Qu´a toz mangiers est sausse fains Bien destanpree et bien confite. Tot manja le pain a l‘ ermite Mes sire Yvains, que buen li sot, Et but de l‘ eve froide au pot. (Aber der Hunger treibt und quält ihn so sehr, dass das Brot ihm so gut schmeckte wie Brei, denn Hunger ist für alles Essen eine gut abgestimmte und zubereitete Würze. Das ganze Brot des Einsiedlers verzehrte Herr Yvain, da es ihm gut schmeckte, und trank dazu von dem kalten Wasser aus dem Krug.)
Obwohl das Mahl des Einsiedlers im Gegensatz zu Yvains Ernährung im Wald nicht mehr ausschließlich rohe Speisen beinhaltet, stellt es einen deutlichen Kontrast zur höfischen Mahlzeit dar. Auch Yvains Umgang mit dem Essen ist unhöfisch: Yvain zeichnet sich nicht nur durch den Hunger aus, der ihn zum Verzehr minderwertiger Speisen veranlasst, sondern auch durch mangelnde Zurückhaltung: Yvain isst viel und trinkt direkt aus dem Krug, statt aus einem Becher. Somit fehlt Yvain die Distanz zu den Speisen, die laut Norbert Elias den höfischen Umgang mit der Nahrung auszeichnet.
Gekochtes Nach Yvains Mahl setzt der Tauschhandel ein. Yvain verschwindet im Wald, um Hirsche zu erlegen, die er dem Eremiten vor die Tür legt (V. 2872–2878): Iceste vie mena puis, Et li buens hon s‘ antremetoit De l‘ escorchier et si metoit Assez de la veneison cuire, Et li pains et l‘ eve an la buire
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Estoit toz jors sor la fenestre Por l‘ ome forsené repestre. (Das wurde ihm ganz zur Lebensgewohnheit, und der gute Mann machte sich daran, das Wildbret zu enthäuten und einiges davon zu braten, und das Brot und das Wasser im Napf standen jeden Tag auf dem Fenster bereit zur Nahrung für den Irren.)
Der Einsiedler häutet das Wild, verkauft die Häute und brät oder kocht das Fleisch. Yvain erhält weiterhin täglich Brot und Wasser vom Eremiten und verzehrt zudem das über dem Feuer zubereitete Wild. Yvain ist somit von der rohen natürlichen Nahrung im Wald zur kulturellen und schließlich zur gebratenen/gekochten Nahrung übergegangen. Wild gilt auch im höfischen Kontext als begehrenswerte Speise, Yvain isst es allerdings ohne Salz und Pfeffer (V. 2880). Durch den Verkauf der Tierhäute findet zudem ein kultureller Sprung vom Tausch zum Kauf statt, der nochmals eine Verfeinerung der Nahrungsmittel zur Folge hat410. Nun ist es dem Einsiedler möglich, Brot aus Gerste, Hafer und anderen Getreidearten zu kaufen. Ausführlicher als Chrétien beschreibt Hartmann Iweins Leben im Wald vor seiner Begegnung mit dem Eremiten. Hartmann geht auf Iweins Jagd nach den Waldtieren ein, die er als Kontrast zur höfischen Jagdkunst inszeniert. Iwein jagt alleine, ohne Gesellschaft und ohne Hunde, als Jagdwaffe dient ihm der Bogen411. Das einzige Indiz, das auf Iweins ehemals höfische Identität verweist, ist sein großes Jagdtalent; er erlegt Tiere in überreichlichem Maße. Das Wild, das er selbst fangen und töten muss, verzehrt er anschließend roh und ungewürzt. Hierfür zieht auch Hartmann den Hunger als Erklärung heran (V. 3277-3282): sone heter kezzel noch smalz weder pfeffer noch salz: sîn salse was diu hungers nôt, diuz im briet unde sôt daz ez eine süeziu spîse was, und wol vor hunger genas.
Hartmann vergleicht die rohe Speise des toren Iwein mit der gekochten und gewürzten Speise, wodurch er einerseits den Mangel hervorhebt, den der an bessere Spei410 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 117. 411 Zur Semiotik des Bogens vgl. LeGoff, Phantasie und Realität, S. 176f.
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sen gewohnte Iwein erleidet, andererseits aber deutlich macht, dass Iwein sich so weit von der höfischen Kultur entfernt hat, dass ihm dieser Mangel gar nicht auffällt. Diese Szene steht im Kontrast zu einer späteren Esssituation, in der Iwein seine Nahrung mit dem Löwen teilt. Iwein hat sein höfisches Bewusstsein wiedererlangt und kann das vom Löwen erlegte Wild nicht genießen, obwohl er sich das beste Stück über dem Feuer brät, da es nicht gewürzt ist und ihm zu der Mahlzeit Wein und Brot fehlen412 (V. 3905-3908): er schurft ein viur und briet daz und âz diz ungesalzen maz âne brôt und âne wîn: ezn moht eht dô niht wæher sîn.
Deutlicher noch schildert Chrétien, dass Yvain das Mahl mit dem Löwen Missmut bereitet (V. 3468-3470): Mes del mangier fu nus deduiz; Qu̕ il n̕ i ot pain ne vin ne sel, Ne nape ne coutel ne el. (Aber das Essen war kein Vergnügen, denn da war weder Brot noch Wein, noch Salz, noch Tischtuch, noch Messer noch sonst was zur Hand.)
Im Wald ist sich Iwein der Ärmlichkeit seiner Mahlzeit jedoch nicht bewusst und lebt einige Zeit gut von dem rohen Fleisch. Hartmann zählt auf, was Iwein im Einzelnen zur wohlschmeckenden höfischen Mahlzeit fehlt: Schmalz, Pfeffer, Salz, Soße. Somit unterstreicht Hartmann noch einmal Iweins Kulturlosigkeit. Gleichzeitig impliziert er mit dieser Aufzählung, dass die rohe ungewürzte Mahlzeit Iwein nicht angemessen ist, da dieser im Grunde immer noch ein höfischer Ritter ist. Bei einem echten Waldbewohner, wie dem vilain (Yvain, V. 282), auf den Kalogrenant zu Beginn des Romans stößt, wäre das Fehlen von Schmalz und Soße in der Mahlzeit nicht erwähnenswert. Das Wild, von dem sich Iwein ernährt, ist im Übrigen immer noch die feinste Art von Nahrung. In der höfischen Gesellschaft steht das Fleisch an der Spitze der Nahrungsmittelhierarchie und das Wild stellt die begehrteste aller Fleischarten dar. Denkbar wäre im Wald schließlich auch eine 412 Vgl. Kapitel zur Essen als Akt der Intimität.
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Ernährung auf der Basis von Kräutern, Wurzeln, Nüssen und Beeren. Iwein isst somit dieselbe Speise, die auch am Artushof verzehrt wird, nur in einer kulturfreien Variante. Auf diese Weise unterstreicht Hartmann, dass es sich bei Iwein eben nicht um einen vilain handelt, sondern um einen adeligen Ritter, der durch den Wahnsinn auf die niedrigste Stufe der Zivilisation zurückgefallen ist. Die erschütterte höfische Identität Iweins beschreibt Hartmann mit dem Oxymoron edle tôre (V. 3347). Gerade der Hunger, der Iweins Identität als defizitär kennzeichnet, leitet auch seine Rückkehr zur Gesellschaft ein. Durch den Tausch mit dem Eremiten verbessert sich Iweins Nahrung sukzessiv. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Einsiedler erhält Iwein wie Yvain Brot von schlechter Qualität und Wasser aus einem Eimer (V. 3303–3312): hie gie ein venster durch die want: dâ durch rahter die hant und leit im ûf ein bret ein brôt: daz suozt im diu hungers nôt; wand er dâ vor, daz got wol weiz, sô jæmerlîches nie enbeiz. waz welt ir waz der tôre tuo? er âz daz brôt und tranc dâ zuo eines wazzers daz er vant in einem einber an der want.
Der Verzehr des Brotes als kulturell bearbeitetes Nahrungsmittel stellt eine erste alimentäre Annäherung Iweins an die Zivilisation dar, auch wenn es sich noch um schlechtes Brot handelt. Das Wasser erhält Iwein in einem Gefäß, einem Kulturgegenstand, er trinkt es nicht direkt aus der Quelle. Indem Iwein die Nahrung des Eremiten annimmt, signalisiert er seine Bereitschaft, sich der Kultur wieder anzunähern, wenn auch auf der elementarsten Stufe413. Beim nächsten Treffen setzt der Tauschhandel ein, der Iwein den Weg zurück in die Kultur bereitet: Iwein legt dem Einsiedler ein von ihm erjagtes Reh vor die Tür. Durch seine Gegengaben beweist er, dass er noch mit den Grundregeln menschlicher Kultur vertraut ist. Der Einsiedler hat sich an Iwein gewöhnt und kommuniziert wortlos mit ihm. Er brät das 413 Vgl. Ehlert, Das Rohe, S. 28.
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Wild, das Iwein mitbringt, über dem Feuer, aber es wird zunächst nicht gewürzt, es fehlt immer noch an Pfeffer, Salz und Essig (V. 3336f): daz wart mit ungeræte gegerwet bî dem viure. im was der pfeffer tiure, daz salz, unde der ezzich.
Iweins Nahrung verbessert sich zunehmend, da der Einsiedler die Häute der erlegten Tiere verkauft, wobei er die Außenwelt in den Tauschhandel einbindet, und somit in der Lage ist, Brot von höherer Qualität und Salz zu erwerben. Iwein isst nun gebratenes und gewürztes Fleisch und gutes Brot, seine Nahrung hat also beinahe wieder das höfische Niveau erreicht. Im Gegensatz zu Chrétien, bei dem Yvain bis zuletzt keine Gewürze erhält, führt Hartmann Iwein näher an seine ursprüngliche höfische Identität heran, da Iwein durch den Tauschhandel schließlich in der Lage ist, sein Fleisch zu salzen. Wie Jacques LeGoff als Erster herausgearbeitet hat, kann das kulinarische Dreieck des Ethnologen Claude Lévi-Strauss414 für die Analyse von Essszenen in der höfischen Epik gewinnbringend eingesetzt werden415. Indem der Einsiedler Iweins Fleisch brät, vollzieht er den elementaren Schritt für dessen Wiedereingliederung in die höfische Kultur. Iwein erhält gebratenes Fleisch, das noch dem direkten Kontakt mit dem Feuer ausgesetzt ist, während Yvain Trude Ehlert zufolge gekochtes Fleisch isst416, das zum einen durch das Wasser, zum anderen durch das Gefäß vom Feuer getrennt ist und aufgrund dieses doppelten Vermittlungsprozesses eine höhere Stufe der Akkulturation darstellt417. Daher ordnet Claude Lévi-Strauss in seinem kulinarischen Dreieck das Braten der Natur zu und das Kochen der Kultur. Zudem weist er auf die Affinität des Gebratenen zum Rohen hin, die sich daraus ergibt, dass das Braten meist nur eine unvollkommene Garung zulässt und das Fleisch dabei auf einer Seite oder innen roh bleibt. Das Gebratene verkörpert somit 414 Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 504–532. 415 Vgl. LeGoff, Phantasie und Realität, S. 171–217. 416 Zur Unterscheidung von altfr. cuire (Kochen) und rostir (braten) vgl. Ehlert, Das Rohe, S. 29. Trude Ehlert weist mit Nachdruck darauf hin, dass Yvains Nahrung gekocht und nicht gebraten ist. Andere Forscher, beispielsweise Jacques Le Goff, gehen davon aus, dass auch Yvain Gebratenes vom Einsiedler erhält, vgl. Ders., Phantasie und Realität, S. 181. 417 Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 513.
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die Ambiguität des Rohen und des Gekochten, der Natur und der Kultur418. Das Gekochte ist hingegen mit dem Verfaulten affin, da das Kochen ebenso wie das Verfaulen einen Prozess darstellt, bei dem das Lebensmittel zerfällt. Aufgrund von Iweins Ernährung, gebratenes, aber gewürztes Fleisch, kann auf seine Identitätsgenese geschlossen werden. Iwein befindet sich auf dem Weg der Zivilisierung und Kultivierung, aber er ist noch weit von seiner eigentlichen Identität als höfischer Ritter entfernt. Iweins gebratenes Fleisch markiert gleichzeitig seinen Fortschritt und sein Defizit, indem es seine Identität zwischen Natur und Kultur positioniert. Yvain hingegen isst gekochtes Fleisch, das deutlicher als Iweins Nahrung eine kulturelle Transformation durchlaufen hat, aber ebenso einen Zustand zwischen Natur und Kultur markiert, indem es eine Nähe zur natürlichen Transformation des Verfaulens besitzt419. Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue setzen somit bei ihrer Bearbeitung der Einsiedlerszene unterschiedliche Akzente. Hartmann zählt immer explizit auf, woran es Iwein mangelt, und erinnert somit an seine adelige Herkunft, die mit seiner Ernährung im Wald nicht in Übereinstimmung steht. Chrétien dagegen konzentriert sich nicht auf die Aufzählung der nicht vorhandenen Speisen, sondern beschreibt die Speisen, die Yvain zu sich nimmt, ausführlicher als Hartmann. Während Hartmann beispielsweise die Betonung auf die fehlenden höfischen Gewürze legt und somit Iweins höfische Identität unterstreicht, hebt Chrétien Yvains Hunger stärker hervor und verzichtet größtenteils auf die Auflistung der fehlenden Zutaten. Stattdessen beschreibt Chrétien anschaulicher als Hartmann das alte Brot und verweist somit auf Yvains Kulturlosigkeit. Während Chrétien Yvains Identitätskrise im Rahmen der Opposition von Natur und Kultur inszeniert420, rückt Hartmann das Motiv der durch die Minne verursachten Torheit in den Vordergrund. Auf diese Weise akzentuiert Chrétien Yvains kulturelle Identität, während Hartmann Iweins personale Identität verhandelt421. Auffällig ist bei beiden Protagonisten der Verlust des Geschmackssinns: Weder Iwein noch Yvain registriert den schlechten Geschmack der Speisen im Wald. Nach 418 Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 524. 419 Als kulturell höchste Form der Zubereitung von Fleisch gilt bei Claude Lévi-Strauss das Räuchern, da das Fleisch hierbei ebenfalls nicht dem direkten Kontakt zum Feuer ausgesetzt ist und gleichzeitig der natürlichen Transformation des Verwesens besonders lange widersteht. Vgl. Lévi-Strauss, Mythologica III, S. 524f. 420 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 221. 421 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 223.
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der Wiedererlangung ihres Selbst-Bewusstseins jedoch sind beide Protagonisten nicht in der Lage, das mit dem Löwen geteilte Mahl zu genießen, da es an höfischen Gewürzen mangelt.
Sakrales Neben der kulturellen Dimension besitzt die Nahrungstauschepisode zudem eine christlich-sakramentale Konnotation. Das Empfangen von Wasser und Brot durch das Fenster des Waldheiligen lässt an eine Kommunion denken und die „Verwandlung“ von Brot in Fleisch wiederum an die Transsubstantiation422. Während bei der christlichen Eucharistie die heilige Hostie durch die Konsekration eine Wesensänderung von Brot zu Fleisch erfährt, findet im Nahrungstausch zwischen Iwein und dem Eremiten tatsächlich eine materielle Änderung der Nahrung statt. Der Fokus liegt dabei aber nicht auf der theologischen, sondern auf der kulturellen Dimension, die sich wiederum auf Iweins kulturelle und personale Identität auswirkt. Die heilige Kommunion stellt für den Gläubigen die tiefste Form der Verbindung und der Kommunikation mit Gott dar. Durch den Verzehr der heiligen Hostie wird leibhaftiger Anteil am Wesen Gottes genommen. Iwein hilft der Verzehr der vom Eremiten gereichten Nahrung, seine eigene Identität wiederzuerlangen. Diese Suche nach dem eigenen Selbst ist zutiefst mit der Suche nach Gott verbunden423. Eine gewollte Anspielung auf das Abendmahl ist daher denkbar und gewinnt angesichts der zahlreichen biblischen Konnotationen im Iwein an Plausibilität. Stärker als bei Chrétien häufen sich bei Hartmann symbolische Hinweise auf christlich-biblische Vorstellungen. So erscheint der von drei Frauen gesalbte Iwein als Erlöserfigur und die Salbung selbst als Anspielung auf die Osterszene424. Iweins Selbstbefragung nach dem Erwachen hingegen erinnert an die Taufe425. Der Löwe, der Iwein im Folgenden als Helfer zur Seite gestellt wird, stellt ein Christussymbol dar426. Iweins Auferstehung und seine darauf folgende Existenz als Erlöser mit der vorangegangenen Erniedrigung lassen Iweins Waldleben zur Passion wer-
422 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 117. 423 Vgl. Wehrli, Max: Iweins Erwachen, S. 183. In: Ders. (Hg.): Formen mittelalterlicher Erzählung: Aufsätze. Zürich, 1969, S. 177–193. 424 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 118 und Wehrli, Iweins Erwachen, S. 179f. 425 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 118 und Wehrli, Iweins Erwachen, S. 179f. 426 Vgl. Wehrli, Iweins Erwachen, S. 179.
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den427. In diesem Komplex von Passion und Auferstehung ist auch die profanisierte Darstellung des Abendmahls denkbar. Somit sind alle Elemente der Passion Christi in Iweins Waldleben und Wahnsinn angesprochen: Abendmahl, Passion, Salbung, Auferstehung und Erlöserdasein. Als Belege für diese Annahmen dienen die Qualitäten, die Iwein nunmehr auszeichnen und die sein Handeln leiten: Treue, Gerechtigkeit, Erbarmen428. Durch diese Erfahrungen gewinnt Iwein nicht nur die zuvor verlorene höfische Identität zurück, die er mit dem Kollektiv der Artusritter teilt, er erlangt zudem eine individuelle Identität, die sich durch bewusstes Wissen von sich selbst auszeichnet. Chrétien und vor allem Hartmann nutzen für diesen Prozess der höfisch-laikalen Identitätskonstitution ein geistiges Modell, das zwar profanisiert, aber nicht karnevalisiert wird429.
2.3. Fastenspeisen: Parzivals Aufenthalt beim Einsiedler Trevrizent Auch im Parzival Wolframs von Eschenbach ist eine vorangegangene Krise der Auslöser für die Desintegration des höfischen Protagonisten aus der Artusgesellschaft. Wie Iwein verlässt Parzival die Artusgesellschaft, nachdem er öffentlich von einer Botin wegen eines Versäumnisses kritisiert worden ist. Die Beschimpfung durch die Gralsbotin Cundrie hat nicht nur zur Folge, dass sich Parzival von der Artusgesellschaft entfernt, sondern bewirkt auch, dass er seinen Glauben an Gott verliert. Nachdem er zahlreiche Kämpfe bestanden hat, von denen allerdings nur die Begegnung bei Bearosche vom Erzähler knapp geschildert wird, gelangt er in einen Wald nahe der Gralsburg Munsalwäsche. Wie im Iwein und im Erec bildet der Wald im Parzival einen Gegensatz zum Hof und der Aufenthalt des höfischen Protagonisten im wilden Wald verweist auf seine defizitäre Identität. Während Iwein als Zeichen seiner Kulturlosigkeit seine Kleidung abwirft und nackt in der Wildnis lebt, trägt Parzival eine Rüstung, die ihn als Ritter ausweist, den Umständen, es ist Karfreitag und schneit, jedoch nicht angemessen ist (456, 11f; 459, 1-4). Im Gegensatz zu Iwein gelangt Parzival nicht aufgrund von Wahnsinn in den Wald. Er wird von Gott geführt, hat aber die zeitliche Orientierung verloren (447, 20-24), ist wiselos (460, 29) und ohne Freude (460, 30). Während Iwein 427 Vgl. Wehrli, Iweins Erwachen, S. 180. 428 Vgl. Wehrli, Iweins Erwachen, S. 179. 429 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 121.
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sich im Zustand der torheit seines kulturellen Defizits nicht bewusst ist, ist Parzival waltmüede (459, 14), er hat lange unwegsames Gelände durchquert und unter freiem Himmel geschlafen. Wie für Iwein stellt die Begegnung mit dem Einsiedler für Parzival den ersten Schritt der Reintegration in die höfische Gesellschaft430 dar und bildet zudem den Ausgangspunkt für Parzivals Aufnahme in die Gralsgesellschaft, mit der Trevrizent assoziiert ist. Das Teilen der Nahrung mit dem Eremiten bildet sowohl im Iwein als auch im Parzival einen Wendepunkt in der Erzählung und stellt eine wichtige Station der Identitätsgenese der höfischen Protagonisten dar. Obwohl sich sowohl Iwein als auch Parzival im Wald von unhöfischen Speisen ernähren, besitzt die Nahrung in beiden Werken unterschiedliche Qualität und verschiedene Konnotationen. Anders als Iwein muss Parzival die kulturellen Regeln des höfischen Rittertums nicht neu erlernen431. Parzivals Identitätskrise besteht im Verlust seines Vertrauens zu Gott, von dem er sich nach der Beschimpfung durch Cundrie losgesagt hat, während Iwein das Bewusstsein seiner selbst verliert. Während Iwein Brot und gebratenes Fleisch vom Einsiedler empfängt und seine Nahrung sich zunehmend kulturell verfeinert, sodass er zur höfischen Lebensform zurückfinden kann, erhält Parizval von Trevrizent ein fleischund brotloses Fastenmahl, das einen Gegensatz zur höfischen Nahrung bildet und ihm dabei hilft, Buße zu leisten und so zu Gott zurückzufinden. Für Iwein besteht das Ziel darin, allmählich wieder zur höfischen Ernährungsweise zurückzukehren, für Parzival hingegen in der Verzichtleistung, die eine reuige Zuwendung zu Gott darstellt und Disziplin erfordert. Während Iwein den höfischen Umgang mit dem Essen erst wieder erlernen muss, verfügt Parzival seit seinem Aufenthalt bei Gurnemanz durchgängig über die Kenntnis im Umgang mit höfischen Speisen und erweitert durch die Fastenkost, die er bei Trevrizent erhält, sogar sein Ernährungsrepertoire. Parzivals höfischer Nahrungssozialisation durch Gurnemanz wird durch den Aufenthalt bei Trevrizent eine religiös-asketische hinzugefügt.
Essen als Buße Im Perceval Chrétiens de Troyes geht Percevals Beichte dem gemeinsamen Mahl mit dem Eremiten voraus, das dieser explizit als Teil von Percevals Buße benennt und somit sakral konnotiert (V. 6476-6479): 430 Vgl. Ehlert, Das Rohe, S. 34. 431 Vgl. Ehlert, Das Rohe, S. 39.
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„Or te pri que deus jors entiers Aveques moi çaiens remaignes Et que en penitance prainges Tel vïande com est la moie.“ („Dann lege ich dir auf, noch zwei ganze Tage hier bei mir zu bleiben und zur Buße meine Nahrung mit mir zu teilen.“)
Chrétien geht sehr präzise auf Percevals Nahrungsbuße ein: Zu Percevals Büßermahl zählen Mangold, Kerbel, Lattich, Kresse, Hirse, Brot aus Gerste und Hafer und Wasser aus einer klaren Quelle (V. 6499-6504). Perceval isst somit Kräuter (Kerbel, Lattich und Kresse), die der Einsiedler vermutlich im Wald gesammelt hat. Dazu erhält er Gemüse, Mangold, der frei wächst oder auch angebaut sein könnte. Zudem bekommt Perceval vom Einsiedler Getreide, Hirse, die nicht roh gegessen werden kann. Die Hirse muss zumindest gekocht werden, um dann als Brei verzehrt werden zu können. Perceval erhält zudem Brot, das zwar aus Gerste und Hafer, aus höfischer Sicht minderwertigen Getreidesorten, hergestellt ist, aber dennoch gebacken ist und somit eine kulturell überarbeitete Form von Nahrung darstellt. Im Perceval bezieht der Einsiedler seine Nahrung also nicht ausschließlich aus dem Wald und überlässt somit seine Ernährung nicht vollständig Gott. Das Getreide und das Brot lassen die Schlussfolgerung zu, dass der Eremit selbst Ackerbau betreibt und die Speisen in seiner Küche am Feuer zubereitet. Die Speisen des Einsiedlers unterscheiden sich zwar deutlich von höfischen Speisen, aufgrund des Ackerbaus und des Kochens der Nahrung können die beim Einsiedler verzehrten Speisen im Perceval gemäß des kulinarischen Dreiecks von Claude Lévi-Strauss jedoch der Ebene der Kultur zugeordnet werden. Nachdem er das Mahl mit dem Eremiten geteilt hat, kommt Perceval die christliche Bedeutung des Karfreitags wieder zu Bewusstsein und er empfängt die Kommunion. Somit ist die Verbundenheit zu Gott wieder hergestellt. Durch das Fastenmahl leistet Perceval Sühne und kann so seine Identitätskrise überwinden. Durch die Kommunion stellt er die (Speise-)Gemeinschaft zu Gott her.
Fasten als Buße Wolfram hat diese Szene, die Parzivals religiöse Identitätskrise verhandelt, im Vergleich zu Chrétien stark ausgebaut und umstrukturiert. Während Perceval durch den Verzehr von unhöfischer Nahrung Buße leistet und die endgültige Überwin-
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dung seiner Identitätskrise durch einen Essakt, die Kommunion, markiert ist, drückt sich Parzivals Buße dadurch aus, dass er fast gar nichts mehr verzehrt und auch keine Kommunion empfängt. Nach seiner Begegnung mit dem grauen Ritter Kahenis gelangt Parzival durch Gottes Führung nach Fontane la salvatsche und tritt an den Einsiedler mit der Bitte heran, ihm wegen seiner Sünden zu raten. Trevrizent nimmt Parzival sofort gastlich auf und versorgt sein Pferd. Parzival legt seine Rüstung ab und erhält vom Eremiten einen „Büßerrock“432. Im Gegensatz zum Einsiedler im Iwein erschrickt Trevrizent nicht, er betont sogar explizit, dass er vor Menschen keine Angst habe433. Im Gespräch mit dem Einsiedler erhält Parzival eine religiöse Unterweisung und wird über die Bewandtnisse des Grals und der Gralsgesellschaft und über seine eigene Genealogie aufgeklärt. Anders als im Iwein erfolgt die Kommunikation zwischen Parzival und Trevrizent in Form eines verbalen Austauschs, der der gemeinsamen Mahlzeit vorausgeht. Bevor sie zur Nahrungssuche aufbrechen, berichtet Trevrizent von seinem eigenen Schicksal und seinen Nahrungsgewohnheiten (480,16ff): Ich verswuor ouch vleisch, wîn unde brôt, unt dar nâch al daz trüege bluot, daz ichs nimmer mêr gewünne muot
Trevrizent leistet durch seine asketische Ernährung Buße, in der Hoffnung, dass Gott den Gralskönig Anfortas von seinen Schmerzen erlöst. Nach der Verwundung seines Bruders hat Trevrizent den höfischen Speisen Fleisch und Fisch, Wein und Brot abgeschworen und isst kein Lebensmittel, das Blut enthält. Trevrizents Ernährung wird somit von Verzicht und Einfachheit bestimmt. Er sammelt Wurzeln und Kräuter im Wald, die er an den Büschen aufhängt, da er vor der None nichts isst. Häufig findet er diese aber später nicht mehr wieder, sodass er hungrig von der Nahrungssuche zurückkehrt. Trevrizents religiöse Nahrung stellt das qualitative Gegenteil der höfischen Nahrung dar. Er isst einsam und meidet die typischen höfischen Speisen. Trevrizent ernährt sich allein von Pflanzen, die er jedoch nicht züchtet, sondern im Wald mühsam sammelt. Er isst alles roh, in seiner Küche wird kaum ein Feuer entzündet. Auf diese Weise überlässt er seine Ernährung Gottes Gnade (485,5ff): 432 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 131. 433 Trude Ehlert erkennt hierin einen intertextuellen Verweis auf den Iwein, der dazu dient, auf die strukturelle Ähnlichkeit beider Werke hinzuweisen. Vgl. Ehlert, Das Rohe, S. 34.
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ich mac uns selben niht gespîsen, esne welle uns got bewîsen. mîn küche riuchet selten
Trevrizent nimmt Parzival mit auf Nahrungssuche, wobei er bedauert, dass der Schnee zu hoch liegt, um Parzival in Kräuterwissen zu unterrichten (485,10f). Nachdem sie die Kräuter und Wurzeln gewaschen und das Pferd mit Eibensprossen versorgt haben, kehren Trevrizent und Parzival zur Höhle zurück. Der Erzähler betont, dass in der Küche der Höhle keine weiteren Speisen zu erwarten sind, da der Einsiedler keine Vorräte anlegt und weder kocht noch brät (486,10-12): Man dorfte in niht mêr spîse holn: dane was gesoten noch gebrâten, unt ir küchen unberâten.
Der Erzähler macht somit fortwährend auf die Einfachheit von Trevrizents Nahrung aufmerksam, indem er die Abwesenheit des in einer Küche zu Erwartenden beschreibt. Wolfram hat somit Parzivals Askese gegenüber Chrétien verschärft: Die Nahrung, die Perceval vom Eremiten empfängt, ist nahrhafter und reichhaltiger als die Speisen, die Parzival bei Wolfram erhält. Obwohl auch Percevals Kost bis auf das Brot die typischen höfischen Lebensmittel, Fleisch und Wein, fehlen, ist Percevals Nahrung auf einem höheren kulturellen Niveau als Parzivals Mahl zu verorten. Gemäß Claude Lévi-Strauss’ kulinarischem Dreieck kann Trevrizents rohe, unzubereitete Nahrung nicht der Ebene der Kultur zugeordnet werden. Trevrizents einzige Form der kulturellen Verarbeitung der Nahrung besteht darin, dass er sie vor dem Essen wäscht. Für den sühnebedürftigen Parzival erweist sich jedoch gerade die Einfachheit der Kost als heilsam, er spürt eine tiefe Verbundenheit zu Trevrizent und fühlt sich besser bewirtet als bei Gurnemanz oder in Munsalwäsche (486,13–20). Trevrizents asketische Kost unterscheidet sich somit nicht nur von den höfischen Speisen, sondern auch von der durch den Gral gespendeten Nahrung. Der Gral ist bei Wolfram ein Stein, auf den eine Taube einmal im Jahr eine Oblate legt, die dem Gral die Wunderkraft verleiht. Diese eine Oblate bewirkt das Speisewunder, das die gesamte Gralsgesellschaft ernährt. Die Oblate, die in der christlichen Liturgie als Hostie verwendet wird, kann als Anspielung auf die Eucha-
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ristie verstanden werden. Bei Chrétien sind die eucharistischen Bezüge noch deutlicher zu erkennen: Chrétien betont im Gegensatz zu Wolfram explizit, dass der Gral keine üppigen Mähler, wie Hecht, Lamprete oder Salm, spendet (V. 6420f). Alleine der Fischerkönig empfängt im Perceval eine einzelne Hostie vom Gral, die ihn am Leben erhält. Chrétien setzt den Gral auf diese Weise mit einem Ciborium, einem Hostiengefäß, in Bezug434. Bei Wolfram besitzen die durch den Gral gespendete Nahrung und die asketische Ernährung des Einsiedlers somit entgegengesetzte Qualität: Die Speisen des Grals sind göttlicher Herkunft und besitzen zudem eucharistischen Charakter. Auch wenn Wolfram die christliche Dimension des Grals vermindert, stellt die durch den Gral gespendete Nahrung ein göttliches Speisewunder dar: Gott wendet sich mittels der Nahrung den Mitgliedern der Gralsgesellschaft zu. Bei der Buße durch asketische Ernährung hingegen, die in der christlichen Tradition eine bekannte Form der Sühne darstellt, wendet sich der reuige Mensch Gott zu. Während der Gral bei Wolfram höfische Speisen in jeder gewünschten Menge spendet, umfasst Parzivals Nahrungsaskese natürliche und somit unhöfische Speisen in einer äußerst geringen Menge. Das asketische, mit dem Einsiedler geteilte Mahl hilft Parzival dabei, Buße zu leisten und seine religiöse Krise zu überwinden. Die gemeinsame Mahlzeit geht bei Wolfram Parzivals Sündenbekenntnis voraus und bereitet Parzival somit auf Reue und Sühne vor435. Dass die asketische Ernährung einen Teil von Parzivals Buße darstellt, bringt Wolfram implizit dadurch zum Ausdruck, dass Parzival für die Zeit seines Aufenthalts bei Trevrizent dessen Nahrung teilen muss (485,10). Zudem korreliert Parzivals Strafe mit seinem Vergehen: Er sühnt das Fehlverhalten während eines üppigen Mahls mit asketischer Nahrung. Parzival wird von Trevrizent zwar auch wegen der Tötung von Ither und für den Tod seiner Mutter beschuldigt, für ihn selbst stellt aber das Frageversäumnis das eigentliche Vergehen dar; dies ist die Schuld, die er Trevrizent nach dem Essen gesteht. Im Unterschied zum Iwein besitzt das mit dem Eremiten geteilte Mahl im Parzival nicht die Funktion der Resozialisierung, der Rekultivierung und der Reintegration in die höfische Kultur, sondern stellt im Gegenteil eine Abwendung von der höfischen Lebensform dar und dient als religiöser Ausdruck von Reue und Buße. Anders als Iwein bedarf Parzival nicht der höfischen Speisen, Brot und gebratenes/gekochtes Fleisch, sondern der asketischen fleischlosen Nahrung, um 434 Vgl. Ruh, Höfische Epik II, S. 64. 435 Vgl. Ehlert, Das Rohe, S. 36.
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sich auf die Gralsherrschaft vorzubereiten, zu der er erwählt ist. Während die Einfachheit der Kost im Iwein ein Zeichen für Iweins Hofferne und Kulturlosigkeit ist, gilt dies nicht für die asketischen Speisen im Parzival. Während Iwein aufgrund des Verlustes seiner höfischen Identität keine kulturell bearbeitete Nahrung mehr verzehrt, sondern stattdessen rohes Fleisch isst, stellt Parzivals Verzicht auf höfische Speisen eine bewusste Entscheidung dar. Gemeinsam ist Iweins und Parzivals Ernährung zwar die mangelnde kulturelle Überarbeitung. Parzival grenzt sich durch seine asketische Ernährung von der höfischen Lebensform ab, die Fastenspeisen stellen zwar das qualitative Gegenteil der höfischen Nahrung dar, sie sind jedoch nicht als kulturlos, sondern als sakral konnotiert zu bewerten. Während sich Iweins Kulturferne durch das ständige Bedürfnis nach der Befriedigung seines Hungers äußert, das ihn selbst die primitivsten Speisen, wie rohes Fleisch, verzehren lässt, ist von Parzivals Hunger keine Rede; er fastet bewusst und zeigt somit ein Maß an Selbstdisziplinierung, das wiederum als besonders höfisch gilt. Sowohl der altfranzösische als auch der mittelhochdeutsche Dichter stellen Parzivals Buße und Läuterung anhand seiner Nahrung dar. Die Fastenspeisen im Parzival markieren somit gleichzeitig Parzivals Desintegration aus der höfischen Gesellschaft und seine Reintegration in die Artus- und in die Gralsgesellschaft. Bei beiden Dichtern nimmt die Schilderung der Speisen, die der höfische Protagonist vom Einsiedler erhält, einen großen Teil der Episode ein. Während Chrétien Percevals Speisen, die im Kontrast zu den höfischen Nahrungsmitteln stehen, genau benennt, baut Wolfram die Szene stark aus, radikalisiert die Askese und hebt immer wieder hervor, welche höfischen Speisen Parzival beim Eremiten nicht zu essen bekommt. Die bedeutendste Neuerung jedoch, die Wolfram in dieser Szene gegenüber Chrétien vorgenommen hat, ist der Bezug zwischen Nahrung und Humor. Ironie und Komik entstehen im Parzival durch die Kontrastierung des Heiligen mit dem Profanen. Wenn Trevrizent unfreiwillig fastet, da er die aufgehängten Wurzeln nicht mehr wiederfindet, beruht seine strenge Askese nicht auf frommer Selbstüberwindung, sondern auf menschlicher Vergesslichkeit. Ironisch ist bereits vorher der Hinweis des Erzählers, dass Trevrizent manchen Montag sowie den Rest der Woche kärglich esse (452,16f). Auch Trevrizents durch das Wetter vereitelte Absicht, Parzival eine Lektion in Kräuterkunde zu erteilen und seine Anspielungen auf das bessere Essen in Munsalwäsche (485,13-15; 487,27-30) wirken profan und komisch. Komisch ist auch die Imagination des Erzählers als Jagdfalke, der bei solch magerer Kost, wie sie Trevrizent bietet, beutegierig die Faust des Falkners verlassen würde, um selbst für seine Ernährung zu sorgen (487,5-10). Die
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Ironie drückt sich zudem häufig durch Aufzählungen ex negativo aus: So erwähnt Wolfram alle Speisen, die Trevrizent nicht isst, er weist darauf hin, dass in der Küche kein Feuer brennt und weder gekocht noch gebraten wird, und dass sich Parzival und Trevrizent nach dem Essen die Hände nicht waschen müssen, weil es keinen Fisch gibt, und die Hände somit sauber bleiben (487,1–4). Eine mögliche Erklärung für dieses Phänomen liefert Klaus Ridder, dem zufolge die in der Trevrizent-Episode entstehende Komik die Funktion erfüllt, das Auseinanderbrechen von heilig und profan-leiblich auf eine dialektische Weise zusammenzubringen, indem sie zwischen dem christlichen Askeseideal und der Körperlichkeit des Menschen vermittelt436. Die Komik bringt dabei zum Ausdruck, dass die grundsätzliche Heilsfähigkeit des Menschen die Körperverachtung nicht zwingend mit einschließt437. Eine andere Erklärung für den Humor in Wolframs Roman bietet Barbara Nitsche, die auf Jan-Dirk Müllers Bemerkung verweist, dass literarische Texte die Möglichkeit bieten, fiktionale Lösungsmodelle durchzuspielen438. Die Vermutung liegt somit nahe, dass es im Parzival nicht darum geht, eine präferierte höfische oder sakrale Umgangsweise mit dem Essen hervorzuheben. Wolfram scheint vielmehr mit den unterschiedlichsten alimentären Verhaltensweisen zu experimentieren, wobei er den literarischen Spielraum von der Affirmation höfischer Normen über ihre Persiflierung bis hin zu ihrer Infragestellung ausnutzt439. Die Schilderung von Essen und Trinken im Parzival kann somit als Spiel Wolframs mit der höfischen Norm betrachtet werden.
2.4. Nahrungsaskese: Gregorius’ Eremitentum Die Eremitenszene im Gregorius Hartmanns von Aue unterscheidet sich auf mehrfache Weise von den Einsiedlerszenen im Iwein und im Parzival. Der bedeutendste Unterschied besteht darin, dass Gregorius im Gegensatz zu Iwein und Parzival 436 Vgl. Ridder, Klaus: Narrheit und Heiligkeit. Komik im Parzival Wolframs von Eschenbach, S. 147. In: Wolfram-Studien 17, 2002, S. 136–156. 437 Vgl. Ridder, Narrheit, S. 147. 438 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads „Halber Birne“, S. 206f. In: Ders. (Hg.): Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien. Berlin, 2010, S. 205–227. 439 Vgl. Nitsche, literarische Signifikanz, S. 270.
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keine Nahrung von einem Einsiedler empfängt, sondern selbst zum Einsiedler wird und überhaupt nichts mehr isst. Zudem setzt sich Gregorius nicht nur der strengsten, sondern auch der längsten Askese aus. Des Weiteren besitzen die geistlichen Bezüge im Gregorius eine besondere Bedeutung, da das Eremitentum Gregorius nicht auf eine Reintegration in die höfische Gesellschaft vorbereitet, sondern auf die Übernahme des Papsttums. Hartmanns Gregorius wird dem Typus der legendenhaften Erzählung zugeordnet und umfasst sowohl Elemente der geistlichen als auch der höfischen Epik. Die Erzählung ist in eine Vor- und eine Hauptgeschichte gegliedert, an deren Anfang jeweils eine Inzest-Sünde steht, auf die eine Buße folgt. Nach dem Prinzip, dass kein Vergehen so groß ist, dass es nicht durch aufrichtige Reue gesühnt werden könne (V. 43-50), erlangen Gregorius und seine Mutter schließlich Gottes Gnade. Auf besondere Weise rückt Hartmann von Aue dabei den Leib des männlichen Protagonisten in das Zentrum der Aufmerksamkeit, indem er eine auffallende Verbindung von Identität und Körperlichkeit schafft440. Gregorius’ wechselnde Identitäten lassen sich an seinem Leib ablesen. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang Nahrung und Kleidung441, die das Aussehen des Leibes bestimmen. Gregorius setzt den Verzicht auf Nahrung dabei als Mittel ein, um den Leib und somit auch die Identität zu verändern. Das Fasten soll dazu beitragen, Buße am Leib zu leisten und sich somit der Sünde zu entledigen.
(In)Kongruenz von Innen und Außen Im Gregorius treffen zwei sich gegenüberstehende Körperkonzepte aufeinander: zum einen das Konzept der Leib-Seele-Hierarchisierung und zum anderen das der Kongruenz von Innen und Außen. In der christlichen Tradition besteht eine Dichotomie zwischen Leib und Seele mit klarem Primat der Seele, während der Leib das Defizitäre und Ungenügende darstellt442. Der Erzähler des Gregorius beschreibt den Gegensatz zwischen Leib und Seele als zwiespältigen, aber unauflösbaren Bund (V. 2655-2658), bei dem sich körperliches Wohl und seelisches Heil gegenüberstehen und gegenseitig ausschließen. Was dem Leib 440 Vgl. hierzu auch Schmitt, Kerstin: Körperbilder, Identität und Männlichkeit im „Gregorius“. In: Ingrid Bennewitz/Ingrid Kasten (Hgg.): Genderdiskurse und Körperbilder im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Münster, 2002, S. 135–155. 441 Vgl. hierzu Kraß, Geschriebene Kleider, S. 83–92. 442 Vgl. Kulturgeschichtlicher Teil zu Fasten und Askese in der Theologie der Kirchenväter.
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behagt, ist schlecht für die Seele, während durch körperliches Mühsal seelisches Heil erreicht werden kann (V. 2659-2662). Gleichzeitig aber zeichnet sich Gregorius bereits als Kind nicht nur durch seine große Schönheit, sondern auch durch seine außergewöhnliche Gelehrigkeit, seine vorzüglichen ritterlichen Qualitäten und später durch Herrschertugend aus. Der Körper, das Außen, fungiert als Spiegel der Seele, des Inneren, die selbst kaum anders als über die Ausstattung des Körpers bescheibbar ist443. Hartmann bringt diese beiden Körperkonzepte in Einklang, indem er das christliche Konzept der Leib-Seele-Dichotomie literarisiert und an die Vorstellung der Kongruenz von Außen und Innen anpasst. Gregorius’ Leib verkörpert demnach nicht nur seine Idealität, sondern auch die große Gnade, die Gott Gregorius zuteilwerden lässt, und daraus resultierend Gregorius’ Sündenlosigkeit. So verweisen sowohl die Schönheit als auch der Verfall von Gregorius’ Körper auf seine Gotteserwähltheit. Der Leib fungiert im Gregorius somit als Zeichenträger, der die soziale, aber auch die individuelle Identität lesbar macht444. Die Nahrung konstituiert die Identität noch deutlicher als die Kleidung, da sie den Leib formt. So beruht Gregorius’ körperliche Schönheit, die seine höfische Identität darstellt, auf dem Verzehr von höfischer Nahrung, während er im Zustand der Buße durch das Fasten abmagert und sein angenehmes Äußeres verliert. Des Weiteren fungiert die Nahrung im Gregorius als Mittel der Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Wie Ulrich Ernst feststellt, lassen sich zwei Formen von Nahrungsmotiven im Gregorius unterscheiden: das Fasten als Bußleistung des Menschen und das Speisewunder als Gnadengabe Gottes445. Diese beiden Formen der Ernährung sind geistlich konnotiert und stehen im Gegensatz zu einem dritten Nahrungsmotiv, der höfischen Nahrung. Das Fasten und das Speisewunder stellen eine Annäherung zwischen Gott und Mensch dar. Im Fall des Fastens wendet sich der reuige Sünder Gott zu, während das Speisewunder eine Hinwendung des gnädigen Gottes zum Menschen bedeutet. Dagegen zeugt der Verzehr höfischer Nahrung von einer Zuwendung zur Welt und ist für den reuigen Sünder mit dem Zustand der Buße unvereinbar. Das Nahrungsverhalten dient somit im Gregorius als Indikator für Reue und Buße. 443 Vgl. Gerok-Reiter, Annette: Narrative Steuermodi körperlicher Präsenz am Beispiel von Hartmanns Erec, S. 411. In: Friedrich Wolfzettel (Hg.): Körperkonzepte im arthurischen Roman. Tübingen, 2007, S. 405–430. 444 Vgl. Schmitt, Körperbilder, Identität und Männlichkeit im „Gregorius“, S. 148. 445 Vgl. Ernst, Ulrich: Der „Gregorius“ Hartmanns von Aue. Theologische Grundlagen – legendarische Strukturen – Überlieferung im geistlichen Schrifttum. Köln, 2002, S. 40f.
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Unabhängig von der altfranzösischen Vorlage La Vie du pape saint Grégoire entwickelt Hartmann die Nahrungsmotivik im Gregorius zum strukturgebenden Element und zum Symbol für Gregorius’ Identitätsstatus. Gregorius’ Identität wandelt sich innerhalb der Erzählung insgesamt fünfmal: geboren als Kind eines fürstlichen Geschwisterpaares, wird er zum Klosterschüler, im Jünglingsalter verlässt er das Kloster als höfischer Ritter, um unwissentlich seine leibliche Mutter zu heiraten und mit ihr über sein Herkunftsland zu herrschen, nach der Aufdeckung des zweiten Inzests lebt er viele Jahre als Eremit auf einem stein im Meer, um schließlich zum Papst berufen zu werden. Gregorius’ Lebensumstände alternieren somit zwischen geistlicher Askese und höfischem Luxus, wobei sich der Übergang von einer Lebensform zur anderen am deutlichsten an seiner Kleidung und anhand seines Nahrungsverhaltens abzeichnet, und daraus resultierend an seinem veränderten Körperbild. Jeweils die Übergänge zwischen Gregorius’ verschiedenen Identitäten sind durch eine andere Form der Ernährung gekennzeichnet. Nach seiner Geburt als Fürstensohn wird Gregorius auf Rat eines alten Weisen in einer Barke auf dem Meer ausgesetzt und empfängt das erste göttliche Speisewunder auf der Überfahrt zur Klosterinsel. Als Gregorius die Klosterinsel verlässt, um Ritter zu werden, führt er erstmals höfische Speisen mit sich, die er auch während der Periode seiner Herrschaft verzehrt. Nach dem zweiten Inzest beginnt Gregorius zu fasten und empfängt das zweite Speisewunder. Als er schließlich zum Papst berufen wird, ereignet sich auf dem Weg nach Rom das dritte Speisewunder. Die Nahrung dient Hartmann somit als Mittel, um Gregorius’ wechselnde Identitäten zu veranschaulichen und die Dichtung in fünf Teile zu gliedern.
Höfische Speisen – höfische Körper Fasten und Askese spielen als Mittel der Sühne bereits in der Vorgeschichte des Gregorius eine wichtige Rolle. Nach dem Inzest des herzoglichen Geschwisterpaares verlässt der Bruder auf Anraten eines alten Weisen das Land, um zum Heiligen Grab zu pilgern, während die Schwester als Landesherrin zurückbleibt. Der Ratschlag des weisen Mannes zielt insbesondere darauf ab, dass die sündigen Geschwister ihre Schuld am Leib büßen (V. 581f). Als der Bruder während der Pilgerfahrt aus Sehnsucht stirbt, wendet sich die Landesherrin Gott zu und entzieht sich aller weltlicher Bequemlichkeit und Freude in der Hoffnung auf Gottes Gnade. Mit Fasten und Wachen setzt sie ihrem Körper zu (V. 891–896):
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sô daz si naht und tac solher unmuoze phlac diu dem lîbe unsanfte tete. Beide mit wachen und mit gebete, mit almuosen und mit vasten enlie si den lîp nie gerasten.
Almosengeben, Beten und Fasten sind die drei Grundmerkmale der Frömmigkeit446. Hartmann legt jedoch einen besonderen Akzent auf das Fasten, durch das die Landesherrin, in Verbindung mit dem Wachen und der Vermeidung von Bequemlichkeit, ihren Leib malträtiert. Das Fasten kann mehrere wichtige Funktionen erfüllen: In erster Linie dient es dem Zweck, Gottes Gnade zu gewinnen, seinen Zorn abzuwenden und Sühne zu leisten447. Das Fasten ist ein Ausdruck von Reue und Gram über begangene Sünden448. Gleichzeitig dient es auch der Vorbereitung auf eine Begegnung mit Gott, dem Kampf gegen eine Versuchung oder der öffentlichen Demonstration von Trauer bei einem Todesfall449. Auf die Landesherrin treffen alle diese Funktionen in unterschiedlichem Maße zu. Sie beginnt zu fasten, nachdem ihr Bruder und Geliebter gestorben ist, das Fasten gilt somit auch dem Ausdruck von Trauer. Gleichzeitig sucht die Landesherrin die Nähe zu Gott, dem sie ihre minne schenkt (V. 871f) und um den sie durch ihr Fasten wirbt, wobei sie selbst alle weltlichen Bewerber abweist. Ihr Streben gilt der Wiedererlangung göttlicher Gnade, zu deren Verlust die Einwirkung des Teufels geführt hat. Das Fasten stellt eine Methode dar, sich gegen die Versuchungen Satans zu wappnen und ihn zu bekämpfen450. Vor allem aber dienen der Verzicht auf Bequemlichkeit und Freude, das Wachen, Fasten, Beten und Almosengeben der Demonstration von Reue, die essenziell für die Vergebung von Schuld ist (vgl. V. 896f). Auf diese Weise lebt Gregorius’ Mutter seit dem ersten Inzest in einem Zustand der Reue, der ständiges Fasten einschließt. Während sich Gregorius’ Mutter durch das Fasten Gott zuwendet, lässt Gott dem guoten sündære (V. 671) durch das erste Speisewunder bereits zu Beginn seines Lebens seinen besonderen Schutz zuteilwerden. Gregorius’ Gotteserwähltheit 446 447 448 449 450
Vgl. Hall, Stuart George/Crehan, Joseph H.: Fasten/Fastentage III, S. 49. In: TRE, Bd. XI, S. 48–59. Vgl. Hall/Crehan, Fasten/Fastentage, S. 48. Vgl. Hall/Crehan, Fasten/Fastentage S. 54. Vgl. Bergmann, Jan: Askese I, S. 198. In: TRE, Bd. IV, S. 195–198. Vgl. Gribomont, Jean: Askese IV, S. 213. In: TRE, Bd. IV, S. 204– 225.
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zeigt sich bereits unmittelbar nach seiner Geburt auf leiblicher Ebene durch seine große Schönheit. Um den Geschwisterinzest zu verschleiern, wird Gregorius von seiner Mutter wie Moses in einer Barke dem Meer übergeben. Auf dreifache Weise trägt Gott Fürsorge für Gregorius: Er schickt dem Kind den Wind, der das Boot zur Klosterinsel treibt, er behütet es wie Jona in eines visches wamme (V. 935) vor dem Meer und er dient ihm als amme (V. 936). Im Vordergrund des Speisewunders steht dabei nicht die allegorische Bedeutung der göttlichen Milch451, auf die der Erzähler gar nicht näher eingeht, sondern die Tatsache, dass Gregorius während der Überfahrt nicht verhungert oder ertrinkt. Denn die göttliche Nahrung besitzt keine Substanz und das Kind Gregorius empfängt keine Milch in manifester Form. Die göttliche Protektion bewirkt vielmehr, dass Gregorius gar nicht auf Nahrung in materieller Form angewiesen ist452. Die göttliche Milch stellt eine Form von geistlicher Nahrung dar. Das Nahrungswunder, als Fähigkeit, ohne Nahrung zu überleben, erweist sich im Folgenden als Paradigma. Als Gregorius nach dem Bekanntwerden seiner wahren Herkunft das Klosterleben aufgibt, um Ritter zu werden, und die Insel mit dem Schiff verlässt, korrespondiert seine Hinwendung zur weltlichen Lebensform mit der Änderung seines Nahrungsverhaltens. Gregorius überzeugt den Abt von seinem Wunsch nach einem Leben als Ritter und tauscht die Kutte gegen ein Seidengewand. Erstmals ist die Rede davon, dass Gregorius der Nahrung bedarf. Für die Überfahrt zum Festland rüstet er sich nicht nur mit gólt und wât, sondern auch mit spîse (V. 1812). Während Gregorius’ Aufenthalt in der Stadt, in der seine Mutter noch immer als Landesherrin regiert, weist der Dichter dann auf seinen übermäßigen Verzehr hin: sîn zerunge was rîche (V. 1891). Dieses Verhalten kontrastiert mit der Eigenschaft der mâze (V. 1253), durch die sich Gregorius im Kloster noch auszeichnete. Als er schließlich seine Mutter, die Landesherrin, heiratet, geht er dem höfischen Habitus entsprechend regelmäßig auf die Jagd. Das Wildbret stellte eine sehr begehrte Speise dar, die ausschließlich dem Adel zugänglich war. Der Fleischverzehr der weltlichen Oberschicht wurde jedoch von den Kirchenvätern heftig kritisiert453. Obwohl Gregorius’ Nahrungsverhalten an sich kein Vergehen darstellt und vom Erzähler auch nicht als ein solches gewertet wird, unterstreicht es doch seine Teilhabe am weltlich-höfischen Leben, indem es zur Konstitution seiner höfischen Identität beiträgt. 451 Vgl. Ernst, Der „Gregorius“ Hartmanns von Aue, S. 36. 452 Vgl. hierzu auch unten die Ausführungen zu Gregorius’ Existenz als Eremit. 453 Vgl. z. B. Ordensregeln des Basilius: Von der Bewirtung, S. 95. In: Die großen Ordensregeln.
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Nach der Entdeckung des zweiten Inzests befürchtet die Landesherrin nun, dass für ihr leibliches Vergehen keine angemessene Buße existiert. Sie klagt, durch ihre erneute Schuld an Leib und Seele zugrunde gerichtet zu sein (V. 2674-2680), da sie ihre Sünden als zu groß empfindet, um jemals Gottes Gnade zu erlangen. Gregorius unterbindet sofort die zwîfel seiner Mutter und rät ihr zur erneuten Abkehr von der Welt und den weltlichen Freuden und insbesondere zur Buße des Leibes (V. 2708-2723): an spîse und an gewande sult ir dem lîbe entziehen, gemach und vreude vliehen. […] ir sît ein schuldec wîp: des lât engelten den lîp mit teglîcher arbeit
Auch in der altfranzösischen Vorlage La vie du pape saint Grégoire empfiehlt Grégoire seiner Mutter körperliche Buße durch Fasten, Beten und Enthaltsamkeit als Heilmittel für die Seele zu leisten (V. 1973-1978): „Ma bele mere, en ta maison Fai de ton cors afliccion De jeüner, de Deu prier E de tes saumes versilier; E si te tien en chasteé Trestoz les jors de ton haé.“ („Meine liebe Mutter, setze deinem Leib in deinem Hause hart mit Fasten und Beten und dem Rezitieren deiner Psalmen zu und bleibe alle Tage deines Lebens enthaltsam.“)
Im Vergleich zur Vie du pape saint Grégoire verstärkt Hartmann das Motiv der Buße durch Fasten jedoch und erhebt es zum Paradigma der Dichtung, indem er die Landesherrin bereits nach dem ersten und nicht erst nach dem zweiten Inzest fasten lässt. Zudem weist der Erzähler des mittelhochdeutschen Gregorius explizit auf den Gegensatz von Leib und Seele hin. Dieser wiederum impliziert, dass die Seele nur durch die Malträtierung des Leibes mittels Enthaltsamkeit gerettet werden kann. Die Bemühungen der Landesherrin zielen somit eindeutig darauf ab,
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dem Körper Schaden zuzufügen. Dadurch manifestiert sich ihre Identität als büßende Sünderin gemäß der Kongruenz von Innen und Außen, äußerlich sichtbar in ihrem Leib, der allmählich verfällt. Nach dem zweiten Inzest leitet Gregorius seine eigene Büßerexistenz schrittweise ein. Er entledigt sich seines Seidengewands, verzichtet auf Nahrung und verlässt als rîche dürftige (V. 2751) das Land. Der von Gregorius eingeschlagene Bußweg verweist auf die sælden strâze (V. 87) des Prologs454. Drei Tage lang sucht er barfuß seinen Weg durch die Wildnis, wobei er Straßen und Menschen meidet und unentwegt betet und fastet. Als er auf einen Fischer trifft, erkennt ihn dieser trotz seines dürftigen gewandes (V. 2750) und seiner strengen Askese sofort an seiner edlen Gestalt als adeligen Mann455. Gregorius’ Bitte um Unterkunft begegnet der Fischer daher mit Spott. Aufgrund seines vornehmen Äußeren, insbesondere seines gepflegten und wohlgenährten Leibes, weckt Gregorius das Misstrauen des Fischers, der deutlich erkennt, dass dieser weder an Armut noch an Hunger leidet. Gregorius’ Identität befindet sich in einer Übergangsphase, die durch die Nichtübereinstimmung von Kleidung und Leib gekennzeichnet ist. Gregorius’ Körper hat sich an seine neue Existenz als büßender Sünder noch nicht angepasst. Während die ärmliche Kleidung bereits auf Gregorius’ zukünftige Identität als Eremit verweist, deutet sein schöner Körper auf seine höfische Vergangenheit hin. Da der Fischer Gregorius eher nach seinem Leib als nach seiner Kleidung beurteilt, beschimpft er ihn als vrâz (V. 2790; 2809) und als grôz gebûre (V. 2791) und weigert sich zunächst, ihm überhaupt Hilfe zu leisten. Die von der mitleidigen Fischerin später zubereitete Mahlzeit lehnt Gregorius ab und verzehrt schließlich einen trockenen Kanten Haferbrot und etwas Brunnenwasser, was ihm noch zu viel erscheint (V. 2893-2898): ein ranft von haberbrôte wart im dar gewunnen unde ein trunc eines brunnen. alsâ sprach er wider daz wîp daz kûme sîn sündec lîp der spîse wert wære.
454 Vgl. Hallich, Oliver: Peotologisches, Theologisches. Studien zum „Gregorius“ Hartmanns von Aue. Frankfurt, 1995, S. 61. 455 Vgl. auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 89.
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Ebenso wie Gregorius’ Kleidung unterstreicht auch seine Mahlzeit seinen Identitätswechsel. Dass Gregorius überhaupt noch isst, stellt einen Kontrast zum späteren Fasten dar und verweist wieder auf seinen noch nicht vollzogenen Identitätswechsel. Die Ärmlichkeit seiner Mahlzeit deutet aber bereits seine Existenz als büßender Sünder an. Deutlich wird beim essenden Gregorius der Gegensatz zwischen seinem höfisch gepflegten Leib und seiner ärmlichen Mahlzeit, wodurch erneut der Zorn des Fischers geweckt wird. Der Fischer stellt einen direkten Bezug zwischen Gregorius’ Schönheit und seiner Nahrung her. Detailreich beschreibt er Gregorius’ wohlgestalteten Leib, der nach seiner Ansicht nicht auf der Nahrung eines Armen beruhen kann. Aufgrund von Gregorius’ Wohlbeleibtheit kommt er zu dem Schluss, dass Gregorius nicht der arme Bettler sein kann, für den er sich ausgibt (V. 2904–2928): „dû enhâst sô kranker spîse dich niht unz her begangen. ez enschînet an dînen wangen weder durst noch hungers nôt: diu sint sô veiz und sô rôt. Ezn gesach nie man noch wîp deheinen wætlîchern lîp: den hâst dû niht gewunnen von brôte noch von brunnen. dû bist gemestet harte wol, [...] einem gemasten vrâze gelîch.
Gregorius kann seine Behauptung, ein armer Bettler zu sein, nicht durch den Zustand seines Körpers belegen. Der Fischer betont vor allem, dass Gregorius der Hunger nicht anzusehen ist. Er beschreibt Gregorius’ runde und rote Wangen und seine stattliche Gestalt und wirft ihm vor, dass sein Körper nicht von den Entbehrungen des Pilgerlebens gezeichnet ist. Auch Gregorius’ weiße Haut und sein gepflegtes glattes Haar weisen ihn als dem Hof zugehörig aus.
Göttliche Speisen – gemarterte Körper Der Fischer erfüllt am nächsten Tag Gregorius’ Wunsch nach Weltflucht und setzt ihn auf dem Felsen im Meer aus. Hier lebt Gregorius fortan in Abgeschiedenheit als fas-
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tender Eremit. Das Eremitentum gilt als äußerste Einsamkeit mit Gott456 und in Verbindung mit dem Fasten, das auf das 40-tägige Fasten Jesu in der Wüste verweist, als strengste imitatio Christi457. Zudem stellt das Fasten das Gegenteil der paradiesischen Ursünde dar458 und schafft somit ein besonderes Verhältnis zu Gott. Gott nimmt sich Gregorius’ an, indem er ihn auf wunderbare Weise ernährt (V. 3114–3121): er enmöhte der spîse die er nôz, als ich iu rehte nû sage, weizgot vierzehen tage vor dem hunger niht geleben, im enwære gegeben der trôstgeist von Kriste der im daz leben vriste, daz er vor hunger genas.
Gott rettet Gregorius erneut vor dem Verhungern. Präziser als bei der Überfahrt des Säuglings zur Klosterinsel verdeutlicht der Erzähler hier, wie es Gregorius gelingt, 17 Jahre auf dem Felsen zu überleben (V. 3122–3130): ich sage iu waz sîn spîse was. ez seic ûz dem steine wazzers harte kleine. Dar under gruop er ein hol: daz wart mit einem trunke vol. […] daz tranc der gnâdelôse man.
In Gregorius’ Existenz als Eremit überlagern sich Speisewunder und Fasten. Gregorius verleiht durch das extreme Fasten seiner Reue Ausdruck und verzichtet völlig auf Nahrung als Lebensgrundlage. Der altfranzösische Dichter hebt explizit hervor, dass Grégoire von nun an nicht mehr nach irdischer Nahrung verlangt, sondern sich durch Gebet und Bitte um göttliche Gnade ernährt (V. 2272–2276): 456 Vgl. Mertens, Volker: Gregorius Eremita. Eine Lebensform des Adels bei Hartmann von Aue in ihrer Problematik und ihrer Wandlung in der Rezeption. Zürich, 1978, S. 53. 457 Vgl. Mt 4; Mk 1, 9–13; Lk 4. 458 Vgl. Hall/Crehan, Fasten/Fastentage III, S. 54.
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Forment vers Deu s’enhumilie Qui le terriene viande O sei nen a ne demande. Merci crier e Deu prier, C’estet son deduit e son mangier. (Voller Demut wendet er sich an Gott, der bei sich weder irdische Nahrung hat noch nach ihr verlangt. Um Gnade bitten und zu Gott beten, das war seine Lust und seine Nahrung.)
Wie Volker Mertens betont, übertrifft Gregorius in mehrfacher Weise die Norm des Eremitentums, die den Fokus mehr auf den Aspekt der Einsamkeit an einem locus terribilis als auf den des Fastens legt459. Das für den Eremiten typische Fasten umfasst den Verzicht auf Wein, Fleisch und gekochte Speisen und in extremen Fällen auf Brot460. In der Regel baut sich der Eremit seine Nahrung selbst an, sucht sie sich im Wald461 oder lebt vom Fischfang. Gregorius hingegen lebt nur vom Wasser. Es gibt für ihn keine Möglichkeit, sich auf dem Felsen Nahrung zu beschaffen, und am Fischfang hindern ihn die Beinschellen. Im Mittelpunkt des Speisewunders steht daher nicht die Form der Nahrung, das Quellwunder462, sondern die Tatsache, dass Gregorius von dem wenigen Wasser überhaupt überleben kann. Das Wunder besteht darin, dass Gregorius sich 17 Jahre von dem Wasser ernährt, obwohl er eigentlich bereits innerhalb zweier Wochen verhungern müsste. Indem Gott ihn durch das Wasser aus der Quelle ernährt, ist Gregorius jedoch von dem leiblichen Bedürfnis nach Nahrung befreit. Gott wendet sich Gregorius zu, indem er ihm hilft, ohne Nahrung nur mit etwas Wasser zu überleben. Gregorius lebt in einer absoluten Askese, die neben der Abstinenz von Nahrung auch alle anderen asketischen Aspekte erfüllt: den Verzicht auf Bequemlichkeit, das Schweigen und die sexuelle Enthaltsamkeit. Er erreicht somit das asketische Ideal, indem er in einen Zustand gelangt, in dem er überhaupt keine physischen Bedürfnisse mehr hat463. Diese Bedürfnislosigkeit wiederum
459 460 461 462 463
Vgl. Mertens, Gregorius Eremita, S. 50. Vgl. Mertens, Gregorius Eremita, S. 60f. So beispielsweise der Einsiedler Trevrizent im „Parzival“. Vgl. hierzu Ernst, Der „Gregorius“ Hartmanns von Aue, S. 39f. Zum asketischen Ideal vgl. Mantel, Hugo: Fasten/Fastentage I, S. 42. In: TRE, Bd XI, hrsg. von Horst Balz, 2009, S. 42–59.
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ist göttlich464 und stellt Gregorius in die Nachfolge von Jesus, Moses und Johannes dem Täufer465. Nach 17 Jahren treffen die römischen Gesandten durch Gottes Führung in der Einöde auf den Fischer und seine Frau. Die Gesandten führen ihre eigenen Speisen mit sich: Brot und Wein. Die Nahrung der Gesandten verweist einerseits auf ihre höfische Gesinnung, da Brot und Wein die wichtigsten und elementarsten Bestandteile einer höfischen Mahlzeit darstellen, andererseits sind Brot und Wein auch die Bestandteile der Eucharistiefeier, die die Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch stiftet. Obwohl die Gesandten mit Nahrung bereits gut versorgt sind, lassen sie sich vom habgierigen Fischer bewirten und kaufen ihm den Fisch ab, der den Schlüssel zu Gregorius’ Beinschellen birgt. Die Vermutung liegt nahe, dass der Fisch im Gregorius als Christussymbol fungiert466, das von den zeitgenössischen Rezipienten als solches erkannt worden ist. Zweimal wird auf den Fisch als Bewahrer und Beschützer verwiesen: Hartmann vergleicht Gregorius’ erste Überfahrt über das Meer mit dem Aufenthalt Jonas im Bauch des Walfisches, der ebenfalls von Gott vor dem Meer geschützt wird. Ähnlich wie der Walfisch Jona birgt und schützt, bewahrt der gefangene Fisch Gregorius’ Schlüssel in seinem Magen, bis Gott Gregorius seine Schuld vergibt und seine Existenz als Eremit beendet467. Dieser durch göttliche Fügung gefangene Fisch verweist wiederum auf den wunderbaren Fischzug Petri 468. Selbst die Fischer stehen in Bezug zu Gott, obwohl sie durchweg negativ gezeichnet sind. Zweimal tragen Fischer unbeabsichtigt dazu bei, Gregorius in eine gottnahe Existenz zu überführen: Es sind Fischer, die Gregorius aus dem Meer holen und ihn zum Kloster bringen, und es ist ein Fischer, der ihn auf dem stein aussetzt und später wieder abholt. Gregorius selbst ist der Adoptivsohn eines Fischers und lebt lange Zeit wie ein Fisch vom Wasser umgeben. Indem die Gesandten Gregorius das Amt des Papstes antragen, tritt er die Nachfolge des Menschenfischers Simon Petrus an, der ebenfalls Sohn eines Fischers und selber Fischer ist469. 464 465 466 467
Vgl. Basilius der Große: Brief an den Mönch Urbicius. In: Texte der Kirchenväter, Bd. I, S. 287. Vgl. auch Kraß, Geschriebene Kleider, S. 90. Vgl. auch Hallich, Peotologisches, Theologisches, S. 98. In der Forschung existiert zudem die Überlegung, dass das Ausnehmen des Fisches durch den Fischer vor den Augen der römischen Gesandten auf die Kreuzigung Christi verweist, vgl. Hallich, Peotologisches, Theologisches, S. 162. 468 Vgl. Lk 5,6; Joh 21,6. 469 Eine weitere Parallele zwischen Gregorius und Petrus besteht darin, dass beide die ihnen von Gott zugewiesene Aufgabe unter Berufung auf ihre Schuld zunächst ablehnen. Gregorius und
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Nachdem der Fischer den Schlüssel gefunden hat, überkommt ihn die Reue, da er es nicht für möglich hält, dass Gregorius noch lebt. Die Gesandten dagegen erwarten nicht nur, dass Gregorius die Zeit auf dem Felsen überlebt hat, sie hegen zudem die Vorstellung, dass er wohlgenährt, schön, reich, fröhlich und nach höfischer Mode gekleidet sei (V. 3378-3382): der lebende marterære: einen harte schœnen man dem vil lützel iender an hunger oder vrost schein oder armuot dehein, […]
Die Gesandten zeichnen sich für Männer im Dienst Gottes durch überraschende Weltzugewandtheit aus. Dies verdeutlicht sich nicht nur aufgrund ihrer Erwartungen an Gregorius, sondern auch durch ihr Nahrungsverhalten. Obwohl sie gut mit Reiseproviant versorgt sind, kaufen sie dem Fischer seinen Fang ab. Umso stärker fällt der Kontrast zwischen der Esslust der Gesandten und Gregorius’ Askese aus. So erfolgt unmittelbar auf ihre Vorstellung vom Erwählten die Revocatio (V. 3443– 3448): ê grôz ze den liden allen daz vleisch, nû zuo gevallen unz an daz gebeine: er was sô gelîche kleine an beinen unde an armen, ez möhte got erbarmen.
Der Kontrast zwischen damals und heute hebt hervor, welchen Schaden der Hunger an Gregorius’ einst so schönem Leib angerichtet hat. Im Gegensatz zur höfischen Nahrung zielt das göttliche Speisewunder nicht darauf ab, Gregorius’ Körper gut zu ernähren. Gregorius’ Körper zeugt von seiner 17-jährigen Petrus empfinden sich gleichermaßen als Sünder. Vgl. Gregorius, V. 3505-3584; Lk 5,8. Petrus (und Gregorius) könnte aber gerade wegen seiner Sünde auserwählt sein. Vgl. Herders Theologischer Stellenkommentar zum Neuen Testament: Das Lukasevangelium I. Teil, Kap. 1,1-9,5 von Heinz Schürmann, S. 264.
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Eremitenexistenz: Sein Leib ist abgemagert, er blutet zudem aus zahlreichen Wunden und wird von Schmerzen gepeinigt. Der Verfall des gemarterten Körpers kontrastiert jedoch mit der Weisheit des Geistes, die ihm durch den Heiligen Geist erhalten geblieben ist. Leib und Seele werden somit einander direkt gegenübergestellt. Der Zustand des verkümmerten Körpers lässt dabei auf die Heilung der Seele schließen. Anhand von Gregorius’ Körper ist ersichtlich, dass er seine weltliche Identität überwunden hat und jetzt ein sündelôser man (V. 3658) ist. Die Descriptio von Gregorius’ gemartertem Leib weckt zudem die Assoziation mit dem gekreuzigtem Christus, der ebenfalls Sünden durch körperliche Qualen büßt. Gregorius’ absolutes Fasten zeigt sich darin, dass er wirklich enthaltsam lebt und aller Dinge entbehrt, die nicht unbedingt notwendig sind und sinnliche Lust verschaffen. Seine Bitte an die Gesandten, wieder zu gehen, beruht nicht nur darauf, dass er aufgrund seines Äußeren nicht mehr hoffähig ist (V. 3558–3561). Gregorius befürchtet vielmehr, seine Seele durch die kurzwîle (V. 3576) zu gefährden, die ihm die Begegnung mit den römischen Gesandten verschafft. Erst der Fund des Schlüssels überzeugt ihn, die Gesandten zu begleiten. Während der Reise nach Rom erfährt Gregorius in Begleitung der Gesandten schließlich das dritte Speisewunder, bei dem sich die mitgeführten Vorräte von selbst ergänzen (V. 3749-3752): ir spîse erschôz in alsô wol daz ir vaz ie wâren vol, swie vil sî dar ûz genâmen, unz sî ze Rôme kâmen.
Das dritte Speisewunder unterscheidet sich dadurch von den ersten beiden, dass diesmal göttliche Nahrung in manifester Form vorliegt. Denkbar ist, dass Hartmann mit dem Motiv der sich selbst ergänzenden Vorräte auf die Speisung der Vier- bzw. Fünftausend470 anspielt, wodurch Gregorius’ Gotteserwähltheit noch stärker hervorgehoben wird, indem Hartmann ihn in die Nähe von Christus rückt471. In Rom trifft Gregorius schließlich seine Mutter wieder, die sich vom neuen Papst Hilfe zur Buße ihrer Sünden erhofft. Obwohl sie bereits nach dem ersten 470 Vgl. Mt 14, 13-21+ 15, 32-39; Mk 6, 30-44 + 8, 1-9; Lk 9, 10-17; Joh 6, 1-15. 471 Mehrere Motive deuten darauf hin, dass Hartmann Gregorius systematisch als Christusfigur ausbaut, so auch die blutenden Wunden, die Gregorius als Eremit aufweist und die Heilung der Kranken durch eine Berührung von Gregorius’ Kleidung.
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Alleine essen – Codierung höfischer Identität
Inzest tiefe Reue zeigte und fortwährend durch Fasten, Wachen, Beten und Almosen büßte, hat sie sich trotzdem ihre Jugend und Schönheit bewahrt. Erst bei der Papstaudienz in Rom zeugt ihr Körper von ihrer Buße und hat an Kraft und Frische verloren, sodass Gregorius seine Mutter nicht erkennt. Die echte Reue lässt sich somit direkt am Körper des Sünders ablesen. Ebenso wie bei Gregorius markiert auch bei seiner Mutter der Verlust der körperlichen Schönheit das Erlangen göttlicher Gnade. Kerstin Schmitt macht darauf aufmerksam, dass sich gerade an dem gegenseitigen Nicht-Erkennen von Gregorius und seiner Mutter verdeutlicht, wie eng die Verbindung zwischen Körper und Identität ist472, indem der gemarterte Körper die Sündenlosigkeit der Seele spiegelt. Die Nahrung und ihr Einfluss auf den Leib dienen Hartmann somit als Mittel, um den Identitätsstatus der Protagonisten und insbesondere ihr Verhältnis zu Gott zu veranschaulichen. Einsame Esssituationen kennzeichnen in der höfischen Epik zunächst prinzipiell Identitätsdefizite. Dabei können zwei Szenarien unterschieden werden: das einsame Essen eines Protagonisten vor der Integration in die höfische Speisegemeinschaft oder als Folge einer Desintegration aus dieser. Der erste Fall trifft auf Parzival und Rennewart zu. Beide Protagonisten verzehren vor ihrer Aufnahme in eine Tischgemeinschaft einsame Mähler, Parzival z. B. bei Jeschute und bei Gurnemanz, Rennewart in der Küche. Insbesondere Rennewart ist zudem auch nach seiner Integration in die höfische Essgemeinschaft aufgrund seines unhöfischen Essverhaltens isoliert. Während Parzival mittels höfischer und christlicher Ausbildung schließlich die völlige Integration gelingt, gilt dies nicht für Rennewart, da dieser nicht dem christlichen Glauben angehört, der die Grundlage der höfischen Kultur bildet. Parzival und Iwein ist wiederum die öffentliche Anklage gemein, die den Anlass für die Desintegration darstellt. Während Parzival und Iwein die Artusgesellschaft überstürzt verlassen und die Distanzierung vom Artushof mit dem unterschiedlich ausgeprägten und konnotierten Verlust der höfischen Esskultur einhergeht, entscheiden sich Erec und Gregorius ganz bewusst dafür, die höfische Gesellschaft zu verlassen und nehmen dabei in unterschiedlichem Maße den Verlust des höfischen Lebensstils in Kauf. Während Erec erst in die Artusgesellschaft zurückkehrt, nachdem er sein ritterliches Ansehen wiederherstellen konnte, ist Gregorius erst dann bereit, den Felsen zu verlassen, als er sich der göttlichen Vergebung seiner Sünden sicher ist. Gemeinsam ist den aus dem höfischen Kollektiv desintegrierten Protagonisten die alimentäre Reintegration. So veran472 Vgl. Schmitt, Kerstin: Körperbilder, Identität und Männlichkeit im „Gregorius“, S. 154.
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staltet Parzival zum Ende des Romans eine ganze Reihe an Festmählern, Erec nimmt in Brandigan an einem Gastmahl teil und trinkt den Johannessegen, Iwein erhält von der Dame von Narison höfische Speisen und Gregorius empfängt sein drittes Speisewunder. Nur bei Rennewart ist die Reintegration ausgespart. Während der mittelhochdeutsche Rennewart bei Wolfram von Eschenbach einfach aus dem Handlungstableau verschwindet und von Willehalm betrauert wird, versäumt Guillelme in der altfranzösischen Vorlage explizit die Einladung Renoarts an seinen Tisch und zieht sich somit dessen Hass zu.
Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität
Tischgemeinschaften, an denen nur zwei Personen teilnehmen, stellen ebenso wie einsame Esssituationen in der höfischen Epik einen Sonderfall da. Während einsame Esssituationen die Identität eines Protagonisten verhandeln, dient der Verzehr zu zweit dem Ausdruck intimer Beziehungen zwischen zwei Protagonisten. Diese intimen Beziehungen umfassen Liebes-, Ehe- und Freundschaftsbeziehungen. Bei der Verbindung von Nahrung und Liebe, Ehe, Sexualität oder Freundschaft sind zwei Formen zu unterscheiden: entweder codieren Essvorgänge höfische Nahbeziehungen oder intime Beziehungen werden mit alimentären Metaphern473 umschrieben. Die Codierung von Liebes-, Ehe- und Freundschaftsbeziehungen erfolgt in der höfischen Epik über die Gemeinschaft von Tisch und Bett. Das gemeinsame Essen und Schlafen von Liebenden und Freunden ist nicht nur der höchste Ausdruck von Intimität unter Freunden oder Liebenden, sondern demonstriert die Beziehung zudem nach außen. Bei der Bildung von alimentären Metaphern hingegen findet zwar kein realer Verzehr statt, die Nahrung fungiert jedoch auf metaphorischer Ebene ebenso wie in der Tischgemeinschaft der Freunde oder Liebenden als Zeichen der Intimität. Hierbei werden meist kannibalistische Vorstellungen evoziert: Der oder die Begehrte erscheint als Jagdbeute oder als Speise, die einverleibt werden soll. Die Vorstellung der Einverleibung des geliebten Partners ist ein ambivalenter Akt, der sexuelles und orales Begehren aufeinander bezieht und miteinander verknüpft, Liebe und Vernichtung verbindet und durch die Aufhebung der Differenz zwischen Subjekt und Objekt eine vollkommene Verschmelzung der Liebenden impliziert. Sigmund Freud betrachtet das „Sicheinverleiben oder Fressen“ als eine narzisstische „Art der Liebe“, die auf die Erweiterung des Ichs abzielt und dabei die Sonderexistenz des Objekts aufhebt474. Der Verzehr ist somit immer auch ein mit Aggression verbundener Machtakt.
473 Zur Metapher vgl. Köbele, Susanne: Bilder der unbegriffenen Wahrheit: Zur Struktur mystischer Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Tübingen, 1993. 474 Vgl. Freud, Triebe und Triebschicksale, S. 99.
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Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität
1. Essen als Akt der Intimität Die Gemeinschaft von Tisch und Bett, die in der höfischen Epik ebenso als Zeichen der Liebe wie der Freundschaft ausgeübt wird, leitet sich aus einem antiken Freundschaftsmodell her, das die Muster homosozialer Freundschaftsbeziehungen auf heterosoziale Liebesbeziehungen überträgt. In der mittelhochdeutschen Dichtung werden in erster Linie Tisch- und Bettgemeinschaften in Liebesbeziehungen geschildert. Das gemeinsame Speisen von Ritter und Dame ist dabei dermaßen mit Bedeutung aufgeladen, dass es als untrügliches Zeichen einer bestehenden Liebesverbindung gilt und zudem mit einer gewissen Erotik verbunden ist475. Doch ebenso wie das gemeinsame Speisen ist auch das getrennte Speisen bedeutsam und vermittelt gerade das Nicht-Bestehen einer intimen Beziehung. Einen dritten Fall neben dem gemeinsamen und dem getrennten Speisen bildet das gemeinsame Fasten. Im Erec und im Iwein schildert Hartmann von Aue eine eheliche und eine freundschaftliche Tisch- und Bettgemeinschaft. Während das Teilen der Nahrung in den Beziehungen zwischen Erec und Enite sowie zwischen Iwein und dem Löwen die Zusammengehörigkeit kennzeichnet, demonstrieren Enite und Willehalm, der Hauptprotagonist von Wolframs von Eschenbach gleichnamigem Heldenepos, ihre Liebe zudem durch die Ablehnung von Nahrung. Gemeinsam ist vor allem den ehelichen Tischgemeinschaften die Exklusivität: So weigert sich Enite ebenso wie Willehalm, mit jemand anderem als dem Ehepartner die höfische Speisegemeinschaft herzustellen.
1.1. Die Gemeinschaft von Tisch und Bett Liebe als Freundschaft In seiner Untersuchung „Ennobling Love“ setzt sich Stephen Jaeger mit Niklas Luhmanns Epochenmodell für die Codierung von Intimität476 auseinander und postuliert, dass die Umstellung des Codes der Intimität von der Freundschaft auf die Liebe, die Luhmann für das 18. Jahrhundert ansetzt, bereits in der höfischen Epoche des Hochmittelalters nachzuweisen sei. Die Durchsetzung der Liebe als 475 Vgl. auch Bleuler, Anna Kathrin, Essen – Trinken – Liebe, S. 67. 476 Vgl. Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt, 1994.
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Code der Intimität impliziert die Ausrichtung des Liebescodes an einem seit der Antike bestehenden Freundschaftscode unter Einbezug der Sexualität, von Luhmann als „romantische Liebe“ bezeichnet. Laut Jaeger überträgt sich der antike Freundschaftsdiskurs bereits in der höfischen Dichtung auf die Liebe und die Ehe. Diese Übertragung des auf Cicero zurückgehenden Freundschaftskonzeptes auf die Beziehung zwischen Mann und Frau im 12. Jahrhundert bezeichnet Jaeger als „sublime love“477. Er unterscheidet dabei eine homosoziale und eine heterosoziale Form der sublimen Liebe, die nebeneinander existieren. Während die heterosoziale Liebe auf den höfisch-weltlichen Kontext begrenzt ist, ist die homosoziale Variante der Liebe sowohl im höfischen als auch im monastischen Umfeld verortet. Jaeger bezieht sich bei seinen Überlegungen auf die hochmittelalterlichen Kleriker Andreas Capellanus und Aelred de Rievaulx, die jeweils ein Modell für homosoziale bzw. heterosoziale Liebe anbieten. Der Zisterzienserabt Aelred de Rievaulx († 1167) entwirft in De amicitia spirituale ein Konzept für homosoziale Liebe im monastischen Kontext478. Aelred orientiert sich bei seinen Ausführungen an Ciceros Laelius de amicitia, fügt dessen Überlegungen jedoch zusätzlich eine christliche Perspektive hinzu. Aelred versteht unter Freundschaft die Verknüpfung zweier Seelen durch das Band der Liebe, sodass aus beiden eine wird (1,21). Die Freundschaft basiert also auf der Liebe, aber auf einer keuschen und vernünftigen Liebe (3,3). Aelred grenzt dabei die geistige Freundschaft (amicitia spiritualis), die keusche und heilige Liebe (castae sanctaeque dilectionis, Prolog, 6), die die Sexualität exkludiert, von der fleischlichen weltlichen Freundschaft (amicitia carnalis mundialis, 1,38), die triebhaft und maßlos ist, ab. Andreas Capellanus, vermutlich Kaplan am Hof Philipps II. und am Hof der Marie de Champagne, differenziert in seinem dreiteiligen Werk De amore (ca. 1174) zwischen zwei Arten der heterosozialen Liebe. Unter amor purus (reiner Liebe) versteht Andreas eine tiefe Liebe zwischen Mann und Frau, die jedoch körperlich nicht vollzogen wird. Amor mixtus (erfüllte Liebe) bezeichnet dagegen eine ebenso wahre Liebe, die die körperliche Beziehung aber zulässt. Allerdings sieht Andreas im körperlichen Liebesvollzug eine Gefährdung der Liebe und vermutet, dass die amor purus von längerer Dauer ist als die amor mixtus479. 477 Vgl. Jaeger, Stephen: Ennobling Love. In search of a lost sensibility. Philadelphia, 1999. 478 Vgl. Aelred de Rievaulx: De amicitia spirituale/Über die geistliche Freundschaft. Lateinisch/ Deutsch. Ins Deutsche übertragen von Rhaban Haacke. Trier, 1978. 479 Andreas Capellanus, De amore, Cap. VI: H Loquitur nobilior nobiliori (Gespräch eines Hochadeligen mit einer Hochadeligen), S. 162.
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Eine von Jaeger nicht behandelte Liebesauffassung, die die Konzeption der Liebe ebenfalls deutlich an die der Freundschaft anlehnt, ist die Ehetheologie Hugos von St. Viktor († 1141). Hugo zufolge ist die Ehe eine Lebens- und Liebesgemeinschaft, die auf personale Gegenseitigkeit ausgerichtet ist. Das Wesen der Ehe liegt laut Hugo nicht in der geschlechtlichen Begegnung, sondern in der Gemeinschaft, in der die Gatten sich gegenseitig überantworten480. Hugo betrachtet die Eheleute dabei als gleichrangige Partner, als socius und socia481. Die Ehepartner können einen Konsens zum Ehevollzug schließen, der jedoch für die Gültigkeit der Ehe nicht erforderlich ist. Die gegenseitige Liebe ist die eigentliche Wesensnorm der Ehe482. Sowohl Andreas als auch Hugo betonen, dass in der heterosozialen Liebe das rechte Maß entscheidend ist und lehnen eine zu starke sexuelle Begierde der Liebenden ab: conjugium … in solo charitatis vinculo, et non in concupiscentia carnis et libidinis ardore foederatum est.483 (Die Ehe ist … nur durch die Fessel der Liebe, und nicht durch die fleischliche Begierde und die Glut der Wolllust besiegelt.)
Andreas warnt davor, dass die Begierde die wahre und erfüllte Liebe gefährde: Nimia voluptatis abundantia impedit amorem, quia sunt quidam, qui tanta voluptatis cupidine detinentur, quod amoris non possent retineri reticulis.484 (Allzu starke Sinnlichkeit macht Liebe unmöglich, weil es Menschen gibt, die derart im Banne der Sinnesgier leben, dass sie von den Netzen der Liebe nicht gehalten werden können.)
Ehepartner können zwar miteinander auch die körperliche Liebe ausüben, dürfen dabei jedoch das rechte Maß nicht verlieren. Denn eine Liebe, die nur auf der sexuellen Attraktion der Partner basiert, kann nicht von langer Dauer sein. 480 Hugo von St. Viktor: De Beate Mariae Virginitate, Sp. 859C. In: Patrologia Latina (PL) 176, Sp. 857A-876C. 481 Hugo von St. Viktor: De sacramentis christiane fidei, Sp. 284C. In: PL 176, Sp. 173A-618B. 482 Hugo von St. Viktor: De Beate Mariae Virginitate, Sp. 859C. 483 Hugo von St. Viktor: De Beate Mariae Virginitate, Sp. 860B. 484 Andreas Capellanus, De Amore, Cap. V: Quae personae sint aptae ad amorem (Welche Menschen lieben können), S. 24.
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Während sich also die heterosoziale Liebe am Modell der Freundschaft orientiert und dabei die Sexualität inkludiert, auch wenn die Begierde der Liebe untergeordnet ist und der Sexualakt bei der reinen Liebe nicht vollzogen werden soll, exkludiert die homosoziale Liebe die Sexualität, wodurch „sich der Freundschaftsdiskurs […] einer Rhetorik bedienen [kann], die auf körperlich vollzogene Liebe anspielt“485.
Stiftung der Tischgemeinschaft
Im Zuge seiner Untersuchung geht Jaeger auf die Gemeinschaft von Tisch und Bett ein, die ein Ausdrucksmittel der homosozialen Liebe darstellt. Jaeger führt die Tisch- und Bettgemeinschaft zweier Männer auf eine frühmittelalterliche Versöhnungsgeste (reconciliation) oder der Gnadenbezeugung (favor) zurück, die sich zur Freundschaftsgeste entwickelt hat. Auch Gerd Althoff geht davon aus, dass die Mahlgemeinschaft zweier Männer im frühen Mittelalter Bündnischarakter besaß und den Zweck erfüllte, Gemeinschaft und Frieden nach außen zu demonstrieren486. Der Chronist Nithard berichtet in den Historiae über das herzliche Verhältnis der Brüder Ludwig II. und Karl dem Kahlen, das sich durch das gemeinsame Essen und Schlafen äußerte: Nam convivia erant illis poene assidua, et, quodcumque precium habebant, hoc alter alteri perhumane dabat. Una domus erat illis convivii et una somni.487 (Denn fast immer hielten sie gemeinsam ihre Mahlzeiten, und was jeder an Wert besaß, das schenkten sie einander in brüderlicher Liebe. In einem Haus aßen und schliefen sie.)
Auch Johannes’ von Salisbury Beziehung zu Hadrian IV. drückte sich in der Tischgemeinschaft der Freunde aus, die aus Liebe zueinander sogar das Essgeschirr teilten: 485 Kraß, Andreas: Freundschaft als Passion. Zur Codierung von Intimität in mittelalterlichen Erzählungen, S. 100. In: Sibylle Appuhn-Radtke/Pia Wipfler (Hgg.): Freundschaft. Motive und Bedeutungen (Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte). München, 2006, S. 97–116. 486 Vgl. Althoff, Gerd: Der frienden-, bündnis- und gemeinschaftstiftende Charakter des Mahls im frühen Mittelalter. In: Irmgard Bitsch/Trude Ehlert/Xenja von Ertzdorff (Hgg.): Essen und Trinken in Mittelalter und Neuzeit, S. 13–25. 487 Nithardi Historiarum Libri IIII. In: Rudolf Buchner (Hg.): Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr von Stein-Gedächtnisausgabe, Bd. 5, S. 443.
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Et cum Romanus pontifex esset, me in propria mensa gaudebat habere conuiuam, et eundem ciphum et discum sibi et mihi uolebat et faciebat me renitente esse communem.488 (Und auch nachdem er römischer Papst geworden war, hat es ihn erfreut, mit mir an seinem Tisch zu essen, wo er gegen meinen Protest darauf bestanden hat, mit mir gemeinsam eine Tasse und einen Teller zu verwenden.)
In der Vita Romualdi berichtet Petrus Damiani von der großen Liebe Ottos III. zu seinem Hofprediger Tammo. Petrus zufolge umfasste die Freundschaft zwischen Otto und Tammo nicht nur die Tischgemeinschaft und das Speisen von einem Teller, sondern auch Berührungen der Freunde während der Mahlzeit: Apud praedictam quoque civitatem convertit beatissimus vir (Romualdus) Tammum quemdam Teutonicum, qui, sicut dicitur, in tantum regi familiaris et charus exstiterat, ut utriusque vestes utrumque contegerent, et amborum manus una paropsis communi saepe convivio sociaret.489 (Wie eben beschrieben, gehörte zur Gemeinschaft auch der glücklichste Mann (Romualdus) Tammo, ein Deutscher, der, wie gesagt, in allem des Königs Freund und Geliebter war, sodass sie dieselben Kleider trugen und am Tisch vom selben Teller aßen, und die Hände zusammenlegten, wenn sie sich in der Schüssel trafen.)
Während die Bettgemeinschaft der Freunde in der monastischen Sphäre ab dem 12. Jahrhundert unter Verdacht geriet und erklärungsbedürftig wurde490, stellt Jaeger jedoch in Bezug auf die Tischgemeinschaft keine vergleichbare Ambiguität fest. Die Freundschaftsgeste der Tisch- und Bettgemeinschaft etabliert sich mit der Umstellung des Codes der Intimität auch in heterosozialen Liebesbeziehungen. Tisch- und Bettgemeinschaft werden dabei kausal aufeinander bezogen: In Liebesund Ehebeziehungen antizipiert die Tischgemeinschaft häufig die Bettgemeinschaft und im Eheschließungszeremoniell sind Tisch- und Bettgemeinschaft in Form von Hochzeitsmahl und Brautnacht rituell verankert. Auf diese Weise sind das gemeinsame Speisen von Ritter und Dame und der hierbei geleistete Tisch488 Iohannes Sarisberiensis: Metalogicon, 4.42. In: Library of Latin Texts A (LLT-A). 489 Petrus Damiani: Vita Romualdi, Kap. 25. In: PL 145, 975C. 490 Vgl. Jaeger, Ennobling Love, S. 130.
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dienst im Gegensatz zur homosozialen Variante erotisch konnotiert. Joachim Bumke weist jedoch darauf hin, dass diese erotisch konnotierten heterosozialen Tischgemeinschaften ein Spezifikum der höfischen Literatur darstellen, da Männer und Frauen bis ins späte Mittelalter in der Regel getrennt speisten491. In der höfischen Epik gibt es zahlreiche Beispiele für erotische Tischgemeinschaften. So bekundet die Königin Belakane in Wolframs von Eschenbach Parzival ihr Interesse an Parzivals Vater Gahmuret, indem sie ihn bei Tisch bedient (33,9-15): si kniete nider (daz was im leit), mit ir selber hant si sneit dem ritter sîner spîse ein teil. diu vrouwe was ir gastes geil. dô bôt si im sîn trinken dar und pflac sîn wol: ouch nam er war, wie was gebaerde unde ir wort.
Gahmuret weiß Belankanes Tischdienst als Liebesdienst zu deuten und verliebt sich ebenfalls in sie. Auch der Edelmann Gurnemanz, der den jungen Parzival bei sich aufnimmt, um ihn höfisch zu erziehen, macht sich die erotische Wirkung der Speisegemeinschaft zunutze. Da Gurnemanz alle seine Söhne verloren hat, hofft er, Parzival mit seiner Tochter Liaze verheiraten zu können. Daher befiehlt er Liaze, Parzival die Speisen vorzuschneiden und ihn bei Tisch zu bedienen (176,18–23): ir blanken hende linde muosen snîden, sô der wirt gebôt, den man dâ hiez den ritter rôt, swaz der ezzen wolde. Nieman si wenden solde, sine gebârten heinlîche.
Nachdem Liaze Parzival zwei Wochen bei Tisch bedient hat, verspricht er, sie zu heiraten, sobald er sich ritterlich bewährt hat. Der Fährmann hingegen, der Gawan nach dessen Kampf gegen Lischoys Gwelljus über Nacht bei sich aufnimmt, gewährt 491 Vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 254.
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Gawan erst nach einigem Zögern die Mahlgemeinschaft mit seiner Tochter Bene, da diese noch nie mit einem Ritter ein Mahl geteilt oder bei Tisch neben ihm gesessen hat (550,16–22): „hêrre, ez ist si gar verdagt daz si mit hêrren aeze oder in sô nâhe saeze: si wurde lîhte mir ze hêr. doch habe wir iuwer genozzen mêr. tohter, leiste al sîne ger: des bin ich mit der volge wer.“
Nachdem Bene jedoch mit Gawan gespeist und ihn bei Tisch bedient hat, ist ihr Vater weder erstaunt noch erzürnt, sie am nächsten Morgen in Gawans Bett vorzufinden, da sein Einverständnis zur Mahlgemeinschaft das Einverständnis zur Bettgemeinschaft impliziert. Auch die inzestuöse Geschwisterbeziehung in Hartmanns von Aue Gregorius kündigt sich über die Tisch- und Bettgemeinschaft an (V. 292–295): si wâren ungescheiden ze tische und ouch anderswâ. ir bette stuonden alsô nâ daz si sich mohten undersehen.
Die Tisch- und Bettgemeinschaft zwischen Gregorius’ Eltern besteht schon, bevor der Teufel den Bruder dazu veranlasst, seine Schwester über das Maß hinaus zu lieben. Da die Tisch- und Bettgemeinschaft der Geschwister jedoch bereits vor dem Inzest besteht, begünstigt sie dessen Zustandekommen, indem sie es dem Bruder erleichtert, tagsüber viel Zeit mit seiner Schwester zu verbringen und nachts in ihr Bett zu wechseln.
Trennung der Tischgemeinschaft Während Liebesbeziehungen und Ehestiftungen über die Mahlgemeinschaft eingeleitet werden, sieht das Kirchenrecht seit dem 1. Jahrhundert für Ehetrennungen oder zeitlich begrenzte Aufhebungen der ehelichen Gemeinschaft die separa-
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tio quoad thorum et mensam, die Auflösung der Gemeinschaft von Tisch und Bett vor492. Die Ursachen für eine endgültige oder vorübergehende Auflösung der ehelichen Tisch- und Bettgemeinschaft variieren im Lauf der Zeit. Als mögliche Gründe gelten Ehebruch, Krankheit, Impotenz oder eheliche Verfehlungen493. Die Aufhebung der ehelichen Tisch- und Bettgemeinschaft findet sich auch in der höfischen Epik. So löst Orilus in Wolframs Parzival die Tisch- und Bettgemeinschaft mit seiner Frau Jeschute, da er glaubt, diese habe ihn mit Parzival betrogen (136,23–28): aber sprach der vürste mêr „vrouwe, ir wert mir gar ze hêr: des sol ich an iu mâzen: geselleschaft wirt lâzen mit trinken und mit ezzen, bî ligens wirt vergezzen.“
Erst nachdem Parzival Orilus durch einen Eid überzeugt hat, dass er nicht mit Jeschute geschlafen hat, versöhnt sich Orilus mit seiner Frau und nimmt die Tischund Bettgemeinschaft mit ihr wieder auf (273,20–30). Im Tristan Gottfrieds von Straßburg rät der Bischof von Thamise König Marke dazu, die eheliche Tisch- und Bettgemeinschaft mit Isolde aufzuheben, da Marke Isolde (zurecht) verdächtigt, ein Verhältnis mit seinem Neffen Tristan zu unterhalten. Diese Aufhebung soll so lange andauern, bis Isoldes Unschuld erwiesen ist (15387–15392): „Sît aber der hof ir missetât sô harte in arcwâne hât, sone sulet ir der künigin ze bette noch ze tische sîn geselleclîch unz an den tac, ob s‘ir unschulde erzeigen mac.“ 492 Vgl. Riedel-Spangenberger, Ilona: Die Trennung von Tisch, Bett und Wohnung und das Herrenwort Mk 10,9. Eine Untersuchung zur Theologie und Geschichte des kirchlichen Ehetrennungsrechts. Frankfurt, 1978, S. 97. Vgl. auch Buchholz, Stephan: Ehe. In: HRG, Bd. I, Sp. 1192-1213 und Weigand, Rudolf: Eheauflösung und Trennung durch kirchliche Verfahren. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. III, Sp. 1624f. 493 Vgl. Riedel-Spangenberger, Trennung von Tisch, Bett und Wohnung, S. 85–104.
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Die Tischgemeinschaft von Mann und Frau lässt somit auf das Bestehen einer Liebesgemeinschaft schließen. Umgekehrt bedeutet eine Aufkündigung der Gemeinschaft von Tisch und Bett gleichzeitig eine Aufkündigung der Ehegemeinschaft. In der Phase der Verliebtheit wiederum besteht die Gemeinschaft von Tisch und Bett in ihrem qualitativen Gegenteil; eine starke Liebe hat zur Folge, dass die Verliebten weder essen noch schlafen können. Die Tischgemeinschaft spiegelt soziale Beziehungen wider und demonstriert sie nach außen. Das gemeinsame Speisen und Schlafen gilt in der Liebe und Freundschaft als ein Zeichen der Zusammengehörigkeit und der besonderen Verbundenheit und die Tischgemeinschaft deutet die Bettgemeinschaft voraus.
1.2. Die Gemeinschaft von Tisch und Bett in der Ehe: Erec In Chrétiens de Troyes Erec et Enide und Hartmanns von Aue Erec ist die Ehe vor allem eine Liebes- und Freundschaftsbeziehung. Beide Dichter verfügen über ein ähnliches Eheverständnis wie Hugo von St. Viktor494 und Andreas Capellanus. Die Liebe zwischen Erec und Enite kann als „romantische Liebe“495 bezeichnet werden, da sie Liebe, Ehe und Sexualität integriert und sich am Modell der Freundschaft ausrichtet496. So antwortet Enite auf die Frage des Grafen Oringles, ob Erec ihr âmîs oder man wäre, beide (V. 6172f). Es handelt sich allerdings noch nicht um die romantische Liebe des 18. Jahrhunderts, die Luhmann beschreibt, sondern um eine „protoromantische Liebe“497, da ihre Liebe noch Elemente der Idealisierung beinhaltet. Bei der idealisierten höfischen Liebe werden die Gründe für die Liebe im Objekt gesucht. Die Ehepartner lieben sich, da sie sich gegenseitig ergänzen; die Schönheit der Frau ist Bedingung für die männliche Kampfeskraft, während die Beständigkeit des Kampfdranges die Gunst der Minnepartnerin aufrechterhält498. Erec und Enite sind in erster Linie als Paar präsent; der Roman kennt nicht einen Helden, sondern ein Heldenpaar499. Im Erec wird in erster Linie die Minne494 Vgl. Quast, Bruno: Getriuwiu wandelunge. Ehe und Minne in Hartmanns „Erec“, S. 166. In: ZfdA, Bd. 122, Heft 2, 1993, S. 162–180. 495 Zur romantischen Liebe vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 163–182. 496 Vgl. Kraß, Freundschaft als Passion, S. 101. 497 Kraß, Freundschaft als Passion, S. 101. 498 Vgl. Quast, Getriuwiu wandelunge, S. 169. 499 Vgl. Bumke, Joachim: Der „Erec“ Hartmanns von Aue. Berlin, 2006, S. 104.
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gemeinschaft erprobt500: Als Paar vergehen sich Erec und Enite und als solches müssen sie sich beweisen; zu Beginn erscheinen sie als Liebespaar, am Ende als Herrscherpaar501. Insbesondere bei Hartmann manifestiert sich die Beziehung von Erec und Enite durch die Gemeinschaft von Tisch und Bett, die vielfältig variiert, verzerrt und pervertiert wird, bis Erec und Enite letztendlich zum idealen höfischen Paar werden.
Übersteigerung der Tisch- und Bettgemeinschaft Die Tisch- und Bettgemeinschaft Erecs und Enites beginnt mit ihrer Hochzeit. Ausführlich beschreiben Chrétien und Hartmann Hochzeitsmahl und Hochzeitsnacht und betonen das starke sexuelle Begehren, das Erec und Enite bereits vor der Hochzeit füreinander empfinden. Zur Beschreibung dieses übermäßigen Begehrens, das dem Eheverständnis Hugos und Andreas’ widerspricht, wählt Hartmann eine alimentäre Metapher502. Gleichzeitig betont er das maßvolle höfische Betragen der Hochzeitsgäste während der Feier, die bei Tisch nur wenig essen, obwohl die Speisen im Überfluss vorhanden sind. Essverhalten und sexuelles Begehren werden auf diese Weise parallelisiert und das maßlose Begehren Erecs und Enites nacheinander, das Hartmann als hunger (V. 1865) bezeichnet, kontrastiert mit den höfisch-maßvollen Tischmanieren der Gäste, wodurch Hartmann Erecs und Enites Verhalten indirekt als unhöfisch bewertet. Das maßlose Verhalten der Ehepartner steigert sich nach ihrem Herrschaftsantritt in Karnant, wo Erec und Enite sich verligen. Der Tagesablauf des Ehepaars spielt sich zwischen Tisch und Bett ab. Deutlich wird dabei, dass Erec nicht nur viel Zeit mit Enite im Bett verbringt, sondern auch viel isst (V. 2937–2953): Des morgens er nider lac, daz er sîn wîp trûte unz daz man messe lûte. […] zer kappeln si gingen: 500 Vgl. Kuhn, Hugo: Erec. In: Ders.: Dichtung und Welt im Mittelalter. Stuttgart, 1959, S. 149. Auch Bumke bezeichnet die Verhandlung von Liebe und Ehe als die zentralen Themen sowohl im ‚Erec‘ als auch im ‚Iwein‘, vgl. Bumke, Höfische Kultur, S. 549. 501 Vgl. Kuhn, Erec, S. 149. 502 Vgl. Kapitel zu Essen als Metapher der Intimität.
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dâ was ir tweln alsô lanc unz daz man messe gesanc. diz was sîn meistiu arbeit: sô was der imbîz bereit. swie schiere man die tische ûf zôch, mit sînem wîbe er dô vlôch ze bette von den liuten. dâ huop sich aber triuten. von danne enkam er aber nie unz er ze naht ze tische gie.
In Karnant ist die eheliche Gemeinschaft von Tisch und Bett übersteigert. Betonte Hartmann zuvor stets Erecs überaus maßvolles Essverhalten, so charakterisiert dieser sich nun durch ein Übermaß an Essen und an Liebe. Obwohl Erecs regelmäßige Mahlzeiten erwähnt werden, weist Hartmann auch darauf hin, dass Erec die soziale Institution der Essgemeinschaft nach dem Essen schnell wieder verlässt, um mit Enite ins Bett zurückzukehren. Die Mahlzeit büßt somit für Erec ihre soziale Funktion ein und dient nur der Befriedigung des Hungers. Pointiert wird dieses Verhalten zudem dadurch, dass Erec und Enite auch die Messe so früh wie möglich wieder verlassen. Erec verstößt somit nicht nur gegen den höfischen, sondern auch gegen den christlichen Verhaltenscodex.
Aufhebung der Tisch- und Bettgemeinschaft Als Erec sich seines Fehlverhaltens durch ein Selbstgespräch von Enite, das er belauscht, bewusst wird, löst er als Konsequenz die Tisch- und Bettgemeinschaft mit seiner Frau, legt ihr ein Schweigegebot auf und verlässt mit ihr heimlich den Hof. Die Trennung der Gemeinschaft von Tisch und Bett wirkt sich jedoch gefährlich für Erec und Enite aus, da Enite im Folgenden sowohl von den Räubern als auch von den Grafen zwar als höfische Dame, aber nicht mehr als Ehefrau erkannt wird. Dadurch geraten Erec und Enite laufend in Situationen, in denen Männer notfalls mit Gewalt versuchen, Enite als Partnerin zu gewinnen. Nach den zwei Räuberbegegnungen reiten Erec und Enite die ganze Nacht ohne Nahrung, was ihre Hofferne signalisiert. In Hartmanns Erec schlafen Erec und Enite gar nicht, die Bettgemeinschaft ist daher nicht getrennt, sondern fehlt völlig. Bei Chrétien ist die Bettgemeinschaft noch vorhanden, allerdings schläft nur Erec,
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während Enide über ihn wacht. Am nächsten Tag erreichen Erec und Enite einen Marktflecken, wo sie auf den Knappen des ersten Grafen stoßen. Der Graf, den Chrétien Galoein nennt, lädt Erec und Enide auf sein Schloss ein, wo sie sehr wahrscheinlich in den Genuss einer richtigen höfischen Mahlzeit kommen würden; Erec lehnt das Angebot des Grafen, wie später auch gegenüber König Artus, mit der Erklärung ab, er sei nicht hoffähig. In der Herberge, in der Erec und Enite stattdessen einkehren, vollzieht Erec erstmals öffentlich die Trennung der Tischgemeinschaft (V. 3663-3667): vrouwen Ênîten er niht enliez ensament mit im ezzen, wan er was gesezzen besunder hie und si dort von im an der tweheln ort.
Nachdem Erec seine Einladung abgelehnt hat, fasst der Graf, angetrieben durch Enites Schönheit, den Plan, sie Erec wegzunehmen, und eilt mit vier Rittern zum Gasthaus. Als er Erec und Enite getrennt essen sieht, wundert er sich sehr (V. 3730– 3733): den grâven nam grôz wunder daz si sô besunder an dem tische sâzen und ensament niht enâzen.
Da sie nicht gemeinsam speisen, erkundigt sich der Graf bei Erec, ob Enite überhaupt seine Frau sei (V. 3735–3743): „herre, […] ist disiu vrouwe iuwer wîp? der ist wünneclîch ir lîp und sô wol genæme daz si baz bî iu zæme danne dort an jener stat. wes habet ir si von iu gesat?“
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Da Erec und Enite beim Essen nicht zusammensitzen, kommt der Graf zu dem Schluss, dass Enite als Ehefrau noch verfügbar sei. Das gemeinsame Auftreten als Paar weist zwar darauf hin, dass zwischen Erec und Enite eine (Ehe-)Partnerschaft besteht. Da Erec jedoch offensichtliches Desinteresse an Enite demonstriert, indem er sich bei Tisch weit von ihr wegsetzt, wendet sich der Graf Enite zu und setzt sich mit Erecs Einverständnis zu ihr, während sie isst. Auf diese Weise stellt er eine Tischgemeinschaft zwischen sich und Enite her. Dem Grafen ist die Annäherung an Enite erst möglich, indem Erec auf Distanz zu ihr geht503. Durch die Trennung der Tischgemeinschaft mit Enite provoziert Erec somit die Annäherung des Grafen an Enite regelrecht. Während der Graf bei Enite sitzt, unterbreitet er ihr seine Pläne und versucht, sie zur Ehe mit ihm zu überreden. Enite geht zum Schein auf seinen Vorschlag ein. Wie ernst es Erec mit der Trennung der Ehegemeinschaft meint, wird am selben Abend sichtbar, als er auch die Bettgemeinschaft auflöst und getrennt von ihr schläft (V. 3948–3952): als si dô gezzen hâten, in eine kemenâten hiez er in betten beiden und doch diu bette scheiden: er enwolde si bî im ligen lân.
Pervertierung der Tisch- und Bettgemeinschaft Die zweite Grafenbegegnung stellt eine Steigerung der ersten dar. Nach der Hilfeleistung für den Ritter Cadoc erschöpft, sinkt Erec wie tot vom Pferd und schlägt sich dabei den Kopf an, sodass er betäubt liegen bleibt. Enite, die Erec für tot hält, fängt an zu klagen, wobei sie sich ebenfalls den Tod wünscht, um nicht von Erec getrennt zu werden. Enites Eheverständnis umfasst die engste Verbundenheit zwischen den Partnern (V. 5826-5828): „daz ein man und sîn wîp suln wesen ein lîp, und ensunder uns niht“
503 Vgl. Sosna, Fiktionale Identität, S. 78.
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Enite beschließt, die Gemeinschaft zu Erec wiederherzustellen, indem sie sich und Erecs Leichnam von wilden Tieren fressen lässt (V. 5833–5838): „Wâ nû hungerigiu tier, beide wolf unde ber, lewe, iuwer einez kom her und ezze uns beide daz sich sô niht scheide unser lîp mit zwein wegen!“
Indem Erec und Enite den Tieren selbst als Nahrung dienen, würde eine Gemeinschaft des Paares in den Mägen der Tiere hergestellt, die Erec und Enite im Tod vereinigen würde. Die Tischgemeinschaft ist ein Ausdruck der innigsten Verbundenheit zwischen den Partnern. Da Erec als Toter nicht mehr in der Lage ist zu essen, bleibt für die Herstellung einer Tischgemeinschaft nur die Option des Gefressenwerdens. In den Mägen der Tiere würden Erec und Enite nicht nur im metaphorischen, sondern auch im wörtlichen Sinne ein lîp, indem ihre Körper zerstückelt und vermengt würden. Auf diese Weise entstünde im Magen des wilden Tieres eine neue Form der Gemeinschaft und die höchste Form überindividueller Verschmelzung. Enite sehnt sich nach der engsten möglichen Beziehung zu Erec, da sie fürchtet durch den Tod von ihm getrennt zu sein. Die wilden Tiere hören Enites Ruf jedoch nicht und wären zudem aus Mitleid auch nicht fähig gewesen, ihrer Einladung nachzukommen. Enite versucht daher, sich in Erecs Schwert zu stürzen, und wird von Graf Oringles im letzten Moment aufgehalten. Auf drastischere Weise als der namenlose Graf in der Herberge versucht Graf Oringles die Gemeinschaft mit Enite herzustellen. Da Oringles Enite als Witwe ansieht, stellt sich für ihn nicht die Schwierigkeit, sich zuvor Erecs zu entledigen. Sofort plant Oringles, Enite noch in derselben Nacht gegen ihren Willen zu heiraten. In Schloss Limors wird Erec zur Totenwache aufgebahrt und Oringles lädt Bischöfe und Äbte zur Hochzeit ein. Zur Essenszeit schickt Oringles seine Kapläne und Vasallen zu Enite, die Totenwache hält, damit sie mit ihm isst. Doch Enite überhört die Aufforderung der Kapläne. Schließlich geht Oringles selbst, um sie zu holen. Enite ist jedoch nicht bereit, mit Oringles zu essen (V. 6382-6387): si sprach:„ob ich nû æze und sô schiere vergæze
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des aller liebisten man den ie wîp mê gewan, daz wære ein unwîplîch maz: ouwê wie zæme mir daz?“
Oringles besteht jedoch darauf, dass Enite mit ihm speist (V. 6420–6423): er sprach: „nû lât die rede sîn immer durch die liebe mîn und gât dan ezzen mit mir, wan ichs benamen niht enbir.“
Da Enite sich weiterhin weigert, schleppt Oringles sie schließlich gegen ihren Willen an den Tisch und befiehlt ihr zu essen (V. 6434–6436): er bat si dicke ezzen. nû enmohte si aber niht vergessen ir lieben gesellen.
Für Enite ist eine Mahlzeit mit Oringles gleichbedeutend mit dem Vergessen und der Aufgabe der Beziehung zu Erec. Indem sie mit einem anderen Mann als Erec speist, kündigt sie die Partnerschaft zu ihm auf. Nachdem Enite versucht hat, im Tod eine Mahlgemeinschaft mit Erec herzustellen, solidarisiert sie sich jetzt mit ihm, indem sie nach seinem vermeintlichen Tod mit keinem anderen speist. Die Beziehung zwischen Mann und Frau wird über die Gemeinschaft von Tisch und Bett definiert. Das Teilen der Speise ist ein äußeres Zeichen für den Bund zwischen Mann und Frau. Wenn Enite daher mit Oringles isst, geht sie einen Bund mit ihm ein und löst gleichzeitig den Bund mit Erec504. Auch deutet die Gemeinschaft des Tisches bereits die Bettgemeinschaft voraus, die in der Nacht erfolgen soll. Enite ist sich dessen bewusst, weshalb sie sich vehement weigert, mit Oringles zu essen. Motiviert wird Enites Handeln aber nicht durch Sorge um sich selbst, sondern vor allem durch ihre große Treue zu Erec505. Oringles ist sich der Tatsache, dass eine 504 Zur minnesymbolischen Codierung des Nicht-Teilens von Nahrung und dieser Szene im Erec vgl. auch Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, S. 72ff. 505 Vgl. Quast, Getriuwiu wandelunge, S. 173.
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Herstellung der Tischgemeinschaft einen ersten Schritt zur festen Partnerschaft mit Enite einleitet, ebenso bewusst. Aus diesem Grund besteht er mit derselben Vehemenz darauf, dass Enite ihn zum Essen begleitet. Obwohl Oringles Enite mit Gewalt an den Tisch zerrt, gelingt es ihm nicht, die Gemeinschaft herzustellen. Deutlich wird zudem, dass Oringles in erster Linie an einer Bettgemeinschaft mit Enite interessiert ist. So setzt er sie nicht wie ein Liebender an seine Seite, um mit ihr das Mahl zu teilen, sondern auf die andere Seite des Tisches ihm gegenüber, um sie während der Mahlzeit betrachten zu können (V. 64296433). Oringles fordert Enite fortwährend zum Essen auf. Daraus kann gefolgert werden, dass Enites aktive Teilnahme an der Mahlzeit gleichbedeutend mit ihrer Einwilligung in die Ehe ist. Enite boykottiert daher jeden Versuch Oringles, eine Tischgemeinschaft herzustellen, und kehrt alle Elemente des Hochzeitsmahls in ihr Gegenteil. Sie verweigert das Essen, weint und klagt ununterbrochen und gibt auf diese Weise ein Bild des Elends und Jammers ab, wodurch Oringles die Stimmung verdorben wird. Auf diese Weise entsteht eine Parodie der Tischgemeinschaft der Liebenden. Als Oringles Enite schließlich befiehlt zu essen, schwört Enite (V. 6512-6514): „bî dem eide geloubet daz, in mînen munt kumt nimmer maz, mîn tôter man enezze ê.“
Enite verdeutlicht so den fortdauernden Bestand ihrer Beziehung zu Erec, indem sie unterstreicht, dass das eheliche Recht, mit ihr zu speisen, immer noch alleine Erec vorbehalten ist. Graf Oringles versucht daraufhin, sie zum Essen zu zwingen, indem er sie schlägt und beleidigt (V. 6524): er sprach: „ir ezzet, übel hût!“ Erec erwacht schließlich durch Enites Schreie und kommt ihr zur Hilfe. Bei ihrer Flucht stoßen Erec und Enite auf König Guivreiz, der sich ihnen anschließt. Aus Rücksicht auf Erecs Wunden reiten sie die Nacht nicht durch, sondern schlagen ein Lager an einer grasbewachsenen Stelle fernab vom Weg unter drei Buchen auf. Erec und Enite legen sich gemeinsam unter eine Buche und stellen somit die Bettgemeinschaft wieder her. Hartmann verkündet, dass die Trennung der Gemeinschaft von Tisch und Bett hiermit wieder aufgehoben sei (V. 7091-7100): den vil lieben gesten betten si dar under,
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under eine besunder Êrecke und vrouwen Ênîten, die ze manegen zîten bî ein ander niht enlâgen noch geselleschefte enphlâgen mit slâfe und mit mazze. dem unbescheiden hazze wart ein ende gegeben
Enite Schönheit, die die Voraussetzung für die Ehe bildet, löst in Erec übermäßiges sexuelles Begehren aus, das zur Übersteigerung der ehelichen Gemeinschaft von Tisch und Bett führt. Die vorübergehende Aufhebung der Tisch- und Bettgemeinschaft, die Erec beschließt, um sich der Wirkung von Enites Schönheit zu entziehen, ist daher die logische Konsequenz für das verligen. Die Tischgemeinschaft ist zum einen ebenso eine erotische Situation wie die Bettgemeinschaft, daher muss sie gelöst werden, bis Erec lernt, mit seiner Begierde umzugehen und das rechte Maß zu finden. Die Speisegemeinschaft von Ritter und Dame erweist sich im Erec aber auch als performative Handlung, indem sie öffentlich Zusammengehörigkeit bzw. Nicht-Zusammengehörigkeit demonstriert. Das getrennte Speisen ist dabei ebenso aussagekräftig wie das gemeinsame Speisen. Weil Erec in der Herberge bei Tisch nicht neben Enite sitzt, nimmt der erste Graf an, dass er Enite heiraten kann. Das getrennte Speisen ist ein deutliches Zeichen für das NichtBestehen einer Ehegemeinschaft. Graf Oringles hingegen versucht mit aller Macht, Enite zum Essen zu zwingen, da die Gültigkeit der Ehe vom performativen Akt des gemeinsamen Speisens abhängt.
1.3. Die Tischgemeinschaft in der Freundschaft: Iwein Im Iwein Hartmanns von Aue, der in mehrfacher Weise Bezug auf den Erec nimmt, bilden Iwein und sein Löwe gleich bei ihrer ersten Begegnung eine Tisch- und Bettgemeinschaft basierend auf ihrer Freundschaft und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Dem Löwen als Iweins ständigem Wegbegleiter kommt im Folgenden eine vergleichbare Handlungsrolle wie Enite im Erec zu. Iwein bedarf der ständigen Unterstützung seines Löwen, der ihm nicht nur im Kampf zur Hilfe kommt, sondern ihm Werte wie Treue und Hilfeleistung vermittelt und ihn zudem mit Nahrung ver-
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sorgt. Das Verhalten des Löwen zeichnet sich durch Dankbarkeit, Ergebenheit und Fürsorglichkeit aus: Seine Einstellung gegenüber Iwein, die Hartmann bei ihrer ersten Begegnung explizit als minne (V. 3873) bezeichnet, kann auch „passionierte Freundschaft“506 genannt werden, da der Löwe selbst sterben will, als er Iwein für tot hält. In homosozialen Freundschaften in der mittelalterlichen Dichtung bietet der Tod die Lizenz zum Gefühlsausdruck507, und Iweins vermeintlicher Tod gibt dem stummen Löwen die Gelegenheit, seine Loyalität zu Iwein zu demonstrieren. Indem er triuwe und minne widerspiegelt, wird er für Iwein zum Vorbild, das ihm die Möglichkeit zur Identifikation bietet508. Max Wehrli merkt dazu an, dass für den Ritter die geliebte Dame der Inbegriff des eigenen unendlichen Wesens ist, während der Löwe Iweins Alter Ego darstellt509. Zwischen Iwein und dem Löwen besteht jedoch eine komplexe Beziehung. Der Löwe ist ein Tier mit menschlichen Zügen, während Iwein ein Mensch ist, der im Wald in tierische Verhaltensmuster fällt und sein menschliches Bewusstsein verliert. Der Löwe erweist sich in seinem Handeln und seiner Treue als das Gegenbild des alten Iwein. Allerdings ist der Löwe trotz seiner moralischen Vorbildlichkeit ein wildes Tier, und solange Iwein seine Identität über den Löwen bezieht, übernimmt er dessen semantische Ambiguität510. Iwein selbst verkörpert also sowohl höfische als auch wilde Merkmale und seine Identität oszilliert bis zur Wiedervereinigung mit Laudine zwischen Wildem und Höfischem511. Die Rolle des Löwen wird analog zu Iweins sittlichem wie körperlichem Erstarken immer geringer, bis er schließlich aus dem Handlungstableau verschwindet.
Essen als Zeichen der Gemeinsamkeit Die Beziehung zwischen Iwein und dem Löwen konstituiert sich zu Beginn durch das gemeinsame Mahl. Obwohl Iwein und der Löwe nicht miteinander sprechen können, teilen sie jedoch das Bedürfnis nach Nahrung. Kaum hat Iwein den Löwen vor dem Drachen gerettet, teilen sie ihre erste Mahlzeit. Die Verständigung läuft dabei nonverbal ab: Der Löwe signalisiert Iwein, dass er ein Reh wittert, und Iwein treibt ihn an wie einen Spürhund. Diese Form der gemeinsamen Jagd markiert 506 507 508 509 510 511
Vgl. Kraß, Freundschaft als Passion, S. 105. Vgl. Kraß, Freundschaft als Passion, S. 107. Vgl. Sosna, Fiktionale Identität, S. 133. Vgl. Wehrli, Iweins Erwachen, S. 188. Vgl. Quast, Das Höfische und das Wilde, S. 119. Vgl. Quast, Das Höfische und das Wilde, S. 123.
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einen Gegensatz zu der Jagd, die Iwein im Wald des Einsiedlers praktiziert hat. Dort war er nur mit einem Bogen unterwegs und musste sich selbst um das erlegte Wild kümmern. Hartmann betont, dass Iwein im Wald keine Hunde zur Verfügung standen, sodass Iwein gezwungen war, das Wild selbst zu fangen (V. 3275f). Durch den Löwen wird Iwein wieder in die Position versetzt, die Jagd anleiten zu können, ohne selbst hinter dem Wild herzulaufen (V. 3894f). Als der Löwe das Reh erlegt hat, teilen sich Iwein und der Löwe die Jagdbeute und stellen dadurch eine Tischgemeinschaft her. Im Anschluss an das Mahl schläft Iwein, während der Löwe über ihn wacht, ähnlich wie Enide über Erec in der ersten im Wald verbrachten Nacht wacht. Im Fokus der Beziehung stehen Treue und Fürsorge, der Löwe begleitet Iwein auf eine vierzehntägige Aventiure und versorgt ihn in dieser Zeit mit Jagdbeute. Auch Chrétien beschreibt die Essgemeinschaft Yvains mit dem Löwen. Bei Chrétien stellt die Bereitschaft des Löwen, Yvain mit Nahrung zu versorgen, den Auslöser für Yvains lebenslange Zuneigung zum Löwen dar. Die Beziehung zwischen Yvain und dem Löwen bezeichnet Chrétien explizit als Liebe (V. 3449-3455): Quant ocis l‘ ot, si le gita Sor son dos et si l‘ an porta, Tant que devant son seignor vint, Qui puis an grant chierté le tint Et a lui a pris conpaignie A trestoz les jorz de sa vie Por la grant amor, qu‘ an lui ot. (Als er es getötet hatte, lud er es auf den Rücken, nahm es mit sich und brachte es seinem Herrn, der ihn von da an sehr wert hielt und ihn um seiner großen Liebe willen lebenslang zu seinem Gefährten machte.)
Die Tisch- und Bettgemeinschaft wirkt als Initialakt für die Beziehung zwischen Iwein und dem Löwen. Die gemeinsame Jagd kennzeichnet jedoch nicht nur die Liebe zwischen den Freunden, sondern auch ihren ungleichen Status.
Essen als Zeichen der Differenz Das gemeinsame Jagen und die Mahlzeit stellen den Beginn der Freundschaft zwischen Iwein und dem Löwen dar, indem sie die Möglichkeit zum Teilen der Nahrung und zur nonverbalen Geste der Treue und Zuneigung bieten. Das Mahl bil-
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det jedoch nicht nur die Gemeinschaft zwischen Iwein und dem Löwen, es legt gleichzeitig auch die bestehenden Differenzen offen (V. 3899–3903): Der lewe […] souc im ûz daz warme bluot: dazn wær sînem herren doch niht guot. nû schant erz dâ erz weste veizet und aller beste, und nam des einen brâten dan.
Der Löwe trinkt das warme frische Blut des Rehs, das für Iwein als Nahrung nicht angemessen ist. Iwein hingegen zerlegt das Reh zunächst fachkundig und nimmt sich ein Bratenstück heraus. Iwein und der Löwe essen somit genau genommen nicht gemeinsam, sondern nacheinander und verzehren Verschiedenes. Sowohl Iwein als auch der Löwe definieren ihre Identität über ihre Nahrung: Während das Blut für den Löwen als wildes Tier die richtige Nahrung ist, hat Iwein seine Identitätskrise überwunden und sucht sich für den Verzehr jenen Teil des Rehs aus, der auch im höfischen Kontext verzehrt wird. Im Gegensatz zu der rohen Nahrung im Wald des Einsiedlers und dem Blut, das der Löwe trinkt, bereitet Iwein sein Fleisch nun über dem Feuer zu (V. 3905-3910): er schurft ein viur und briet daz und âz diz ungesalzen maz âne brôt und âne wîn: ezn moht eht dô niht wæher sîn. daz im dâ überiges schein daz âz der lewe unz an diu bein.
Die Mahlzeit mit dem Löwen markiert gleichzeitig Iweins fortschreitende höfische Reintegration wie auch seine Hofferne. Die gekochte Nahrung steht im Gegensatz zur rohen Nahrung, die Iwein im Wald verzehrt hat, aber das Mahl findet immer noch im Freien statt und die Gesellschaft besteht aus einem wilden Tier. Es mangelt an den typischen höfischen Attributen Salz, Brot und Wein. Chrétien beschreibt die Szene noch etwas ausführlicher und fasst in seiner Beschreibung sowohl die moralischen menschlichen Qualitäten des Löwen als auch seine tierische Natur zusammen, die sich jeweils rückbezüglich auf Yvains Identität auswirken. Insbesondere betont Chrétien, dass der Hunger, der den Löwen zur Jagd antreibt, ein
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tierischer Charakterzug ist. Die Hungerempfindung ist nicht länger charakteristisch für Yvain, sondern zeichnet nun den Löwen aus. Indem sich der Löwe wie ein Tier benimmt, erscheint Yvain als Mensch, und indem der Löwe sich aufmerksam, treu und ergeben verhält, kontrastiert er Yvains früheres Verhalten und gibt ihm wortlos eine moralische Anleitung. Auch Chrétien macht auf den Mangel an höfischen Attributen während des Mahls aufmerksam: Es fehlt an Brot, Wein und Salz, Tischtuch und Messern. Yvain ist dieser Mangel deutlich bewusst, er empfindet während des Essens kein Vergnügen. Auch bei Chrétien wacht der Löwe während des Mahls und auch während der Nacht über Yvain. Die Tisch- und Bettgemeinschaft Iweins und des Löwen ist keine gleichberechtigte Beziehung. Iwein und der Löwe essen nicht gemeinsam, sondern nacheinander. Der Löwe verzehrt Iweins Reste und wacht über ihn, während er schläft. Auf diese Weise verleiht er der Dankbarkeit über seine Rettung Ausdruck. Die Mahlzeit kann allerdings nur durch die gemeinsame Jagd zustande kommen und deutet somit die gegenseitige Abhängigkeit an. Der Löwe leistet zudem während des Mahls einen wichtigen Beitrag zur Konstitution von Iweins höfischer Identität, indem er den tierischen Part übernimmt und jene Teile des Rehs frisst, die für Iwein nicht angemessen sind. Im Zustand des Waldwahnsinns agierte Iwein wie ein Tier, das vom Hunger getrieben wird. Diese Rolle ist nun auf den Löwen verschoben, der von seinem Hunger und seiner art (V. 3887), seiner tierischen Identität, angetrieben wird. Iwein selbst hat seinen tierhaften Zustand überwunden. Der Löwe jagt für Iwein, der ihn dirigiert. Insofern markiert diese gemeinsame Jagd einen wichtigen Schritt von Iweins Identitätsgenese.
1.4. Fasten als Akt der Intimität: Willehalm Ebenso wie bei Hartmann von Aue manifestiert sich auch bei Wolfram von Eschenbach die eheliche Verbundenheit in der Exklusivität der Tisch- und Bettgemeinschaft. So wie Enite sich weigert, mit jemand anderem als Erec zu speisen, behält Willehalm das Recht, mit ihm Nahrung und Bett zu teilen, seiner Ehefrau Gyburc vor. Gleichzeitig räumt er der Tischgemeinschaft mit Gyburc auch bei deren Ausübung ex negativo in Form des Fastens ein absolutes Primat gegenüber allen anderen Verpflichtungen ein und sorgt damit innerhalb der französischen Hofgesellschaft für Aufsehen.
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Exklusivität der Tischgemeinschaft Wolframs Willehalm schildert die Auseinandersetzung zwischen Franzosen und Heiden um die heidnische Königin Arabel, die den französischen Markgrafen Willehalm geheiratet hat und zum christlichen Glauben übergetreten ist. Um Arabel, deren christlicher Name Gyburc lautet, zurückzugewinnen, bekämpft ihr Vater Teramer die Franzosen auf dem Feld von Alischanz, während ihr heidnischer Ehemann Tybalt Willehalms Palas in Orange belagert, in dem Gyburc sich aufhält. Nachdem die Franzosen die erste Schlacht von Alischanz verloren haben, flüchtet Willehalm nach Orange. Tybalt und Teramer verstärken daraufhin die Belagerung und schwören, die Burg für ein Jahr von der Außenwelt abzuschirmen. Willehalm schlägt Gyburc schließlich vor, seinen Schwager, den französischen König Ludwig, und dessen Truppen zur Hilfe zu holen. Bevor Willehalm aufbricht, äußert Gyburc, die in Orange zurückbleiben will, ihre Befürchtung, dass französische Frauen Willehalm ihre Liebe antragen könnten, und mahnt ihn (104,15-18): ob die claren Franzoysinne dir nach dienst bieten minne, daz si dich wellen ergetzen min, so denke an die triuwe din.
Willehalm versichert ihr daraufhin seine Liebe und leistet zudem einen Treuschwur (105,8-13): daz er durh liebe noch durh haz nimmer niht verzerte von spise diu in nerte, niht wan wazzer und brot, e daz er ir bekanten not mit swertes strite erwante.
Willehalms Verzicht hat zwei Konnotationen: Zum einen korreliert der Nahrungsverzicht mit dem Minneverzicht und ist Ausdruck der Treue. Wenn Willehalm sich weigert, andere Speisen als Wasser und Brot zu sich zu nehmen, kann er mit niemandem die Speisen teilen und somit auch keine Tischgemeinschaft herstellen. Während Gyburc ihn implizit nur dazu auffordert, keine Bettgemeinschaft mit den
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Französinnen einzugehen, verspricht Willehalm ihr zudem, keine Tischgemeinschaften einzugehen, indem er sich der Nahrung enthält. Sowohl die Tisch- als auch die Bettgemeinschaft sind exklusiv Gyburc als Willehalms Frau vorbehalten. Zudem solidarisiert sich Willehalm durch seinen Nahrungsverzicht mit Gyburc, die im belagerten Palas auch kaum Lebensmittel zur Verfügung hat. Willhalms Nahrungsverzicht ist somit Zeichen seiner doppelten Loyalität zu Gyburc, zum einen aufgrund ihrer Rolle als Willehalms Ehefrau, zum anderen aufgrund ihrer Situation in der belagerten Stadt.
Primat der Tischgemeinschaft Willehalm sichert Gyburc nicht nur seine Loyalität zu, die er mittels seines Verzicht-Schwurs beweist, er räumt diesem Versprechen auch eine absolute Vorrangstellung gegenüber allen anderen Verpflichtungen, wie gesellschaftlichen oder familiären, ein. Die Nacht nach seinem Aufbruch verbringt Willehalm in einer Herberge in Orleans, wo er sein Versprechen das erste Mal umsetzt (112,18f): niht wan wazzer und brot im selbem er ze spise nam.
Willehalm speist in der Herberge allerdings alleine, seine asketische Ernährung fällt somit nicht weiter auf. Nach seiner Ankunft in Laon, wo König Ludwig residiert, wird Willehalm von seinen Verwandten ignoriert, da diese zunächst nicht zur Hilfeleistung bereit sind. Schließlich nimmt der höfische Kaufmann Wimar Willehalm gastlich auf. Wimar bietet Willehalm ein Gastmahl an und beschließt, ihn aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung besonders gut zu bewirten. Das Gastmahl ist nicht nur ein Zeichen für Wimars höfische Bildung und seine Großzügigkeit, es besitzt zudem eine rechtliche Komponente und ist darauf ausgerichtet, die Verbindung zwischen Gastgeber und Gast zu stärken512. Willehalm wird bei Wimar nicht nur mit alimentärem Überfluss konfrontiert, er riskiert zudem eventuell rechtliche und gesellschaftliche Konsequenzen, wenn er das Mahl ablehnt. In Gedenken an Gyburc beschließt Willehalm dennoch, die von Wimar angebotenen Speisen abzulehnen (134,4-8):
512 Vgl. Kapitel zur Gastfreundschaft.
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in duhte, er hete dran getobt, ob er iht æze mer danne brot und wazzer trunke. er wolt et not haben unz im diu hœhste hant ze Oransche erloste liebez pfant.
Erst wenn Gyburc aus ihrer Notlage erlöst ist, will Willehalm seine Askese beenden. Bis dahin ist er durch seine Enthaltsamkeit mit Gyburc verbunden. Bei Wimar muss Willehalm seine Enthaltsamkeit erstmals rechtfertigen. Wimar lässt sich schließlich überzeugen und serviert Willehalm hartes Brot und Wasser. Nach dem Essen lehnt Willehalm auch das weiche Bett, das ihm angeboten wird, ab, und legt sich zum Schlafen auf einen Grashaufen. Höfisch zu speisen und bequem zu schlafen ist für Willehalm als liebenden Ehemann nur in der Gemeinschaft mit seiner Frau möglich. Durch die Entbehrung beim Essen und den Verzicht auf Bequemlichkeit beim Schlafen stellt Willehalm ex negativo eine Tisch- und Bettgemeinschaft mit Gyburc her. Am nächsten Tag söhnt Willehalm sich mit seinen Verwandten aus. Das Hoffest in Laon beginnt mit einem öffentlichen Festmahl, bei dem Willehalm sich nicht nur durch die Rostspuren in seinem Gesicht von der Gemeinschaft abgrenzt, sondern auch durch sein Essverhalten. Nachdem Willehalm in der ersten Nacht alleine gespeist hat und sich nicht für sein asketisches Essverhalten rechtfertigen musste und in der zweiten Nacht nur seinem Gastgeber seine Situation erklärt, der jedoch mit Verständnis reagiert, leistet er nun in aller Öffentlichkeit Verzicht, wodurch er sich zeichenhaft aus der Essgemeinschaft beim Hoftag ausgrenzt. Dieses Verhalten erregt Aufsehen bei den anderen Teilnehmern an der Mahlzeit (176,10–18): der marcrave niht mere neheiner spise gerte, niuwan swarzez brot er merte in ein wazzer, swenne er tranc. […] daz marcten doch genuoge: diene wessen niht durh waz er leit von zadel sölh arbeit.
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Für Willehalm jedoch ist sein Verzicht das Zeichen für seine Liebe zu Gyburc und er lässt sich durch keine gesellschaftlichen Konventionen und auch durch keine der aufgetragenen Speisen dazu verleiten, sein Enthaltsamkeitsversprechen zu brechen (176,28-177,7): ir minne gebot und riet daz sin gelübde an allen kranc gein ir stuont und ane wanc. Durh daz er miden wolde swaz man truoc oder tragen solde für in, […] durh der neheinez er vergaz siner gelübde.
Ebenso wie die Gemeinschaft von Tisch und Bett die Liebesbeziehung nach außen demonstriert, beweist Willehalm seine Verbundenheit mit Gyburc durch den Verzicht auf Nahrung und somit durch die Weigerung, während der Trennung eine Tischgemeinschaft mit jemand anderem einzugehen. Ludwig gibt schließlich sein Einverständnis, Willehalm im Kampf gegen die Heiden zu unterstützen und die Franzosen ziehen nach Orange. Hier treffen Willehalm und Gyburc wieder zusammen. Zur Begrüßung findet ein großes Festmahl statt. Erst jetzt hebt Willehalm sein Gelübde auf (269,15-19): er mac nu ezzen mer denne brot: […] der marhcrave az unde tranc vil gerne swaz man vür in truoc.
Nach dem Essen stellen Willehalm und Gyburc auch die Bettgemeinschaft wieder her (279,6-12). Das gemeinsame Fasten dient ebenso wie das gemeinsame Speisen als Zeichen von Liebe, Verbundenheit und Treue. Während der Iwein ebenso die Gegenseitigkeit wie die Differenz bei Jagd und Verzehr hervorhebt, betonen der Erec und der Willehalm vor allem die Zeichenhaftigkeit und die Exklusivität der Tisch- und Bettgemeinschaft.
2. Essen als Metapher der Intimität In der höfischen Epik codieren Speisen häufig intime Verhältnisse, wie Liebes-, Ehe- oder Freundschaftsbeziehungen. Bestimmte Nahrungsmittel werden dabei als Metaphern verwendet, die Beziehungen auszudrücken. So existiert zum einen eine ausgeprägte sexuell konnotierte Jagdmetaphorik, bei der die Jagd der Umschreibung des sexuellen Begehrens oder sogar des vollzogenen Sexualakts dient. Hierbei nimmt der Mann meist die Subjektposition des Jägers ein, während der Frau die Objektposition der Jagdbeute zukommt. Dies ist mehrfach im Parzival und bei der im Eneasroman beschriebenen Jagd der Fall. Im Erec hingegen wird bei der Schilderung von Erecs und Enites Hochzeitsnacht männliches wie weibliches sexuelles Begehren als alimentäres Begehren umschrieben. Intimität kann in der höfischen Epik jedoch nicht nur metaphorisch über bestimmte Speisen ausgedrückt werden, sondern äußert sich zudem häufig über die Unfähigkeit zu essen. Die Liebeskrankheit, die den Appetit verschlägt und die Liebenden hungern lässt, ist ein Motiv, das sich in vielen höfischen Romanen wiederholt. Einen Ausnahmefall schildert der Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg, in dem die außergewöhnliche Liebe zwischen Tristan und Isolde die Liebenden wie Nahrung ernähren kann, sodass das Paar nicht länger auf Speisen angewiesen ist. Im Herzmäre wiederum wird das Herz eines liebenden Ritters so stark personalisiert, dass es zu einem komplexen Wechselverhältnis zwischen wörtlicher und metaphorischer Ebene kommt und die auf metaphorischer Ebene gewünschte Verschmelzung von Ritter und Dame durch den Verzehr des Herzens physisch umgesetzt wird. Im Engelhard codieren dieselben Lebensmittel sowohl die Freundschaft zwischen den Protagonisten Engelhard und Dietrich als auch die Liebe zwischen Engelhard und Engeltrud und schaffen gleichzeitig durch die Motive der Halbierung und der Verdoppelung eine Differenzierung zwischen homosozialer Freundschaft und heterosozialer Liebe.
2.1. Jagd und Erotik In der Hierarchie der Lebensmittel im Hochmittelalter steht Fleisch an oberster Stelle. Die Jagd nach Wild ist ein herrschaftliches Privileg und Teil des adeligen Lebensstils und wird dementsprechend in der höfischen Literatur oft erwähnt. Die
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höfischen Dichter gehen dabei jedoch nicht auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Jagd und Fleischverzehr ein. Meist dient die Jagd vordergründig nicht der Beschaffung von Nahrung, sondern der Demonstration ritterlicher Jagdkunst. Anne Schulz weist in diesem Kontext darauf hin, dass es der idealisierten, auf maßvolle Zurückhaltung bedachten Darstellung höfischen Lebens in der mittelhochdeutschen Literatur allerdings auch nicht entsprechen würde, die Funktion der Jagd als Beschaffungsmöglichkeit für Nahrungsmittel hervorzuheben. Der Bezug zwischen Jagd und Verzehr tritt jedoch implizit durch die Erwähnung von Wildspeisen bei den Beschreibungen von Festmählern zutage513. Auf metaphorischer Ebene sind im Rahmen der Jagd zudem häufig Anspielungen auf sexuelles Begehren zu beobachten. Diese erotisch konnotierte Jagdmetaphorik zielt letztendlich auf die Vorstellung ab, sich des geliebten oder begehrten Menschens gewaltsam zu bemächtigen und ihn sich durch den Essakt einzuverleiben. Die Jagdmetaphorik steht dabei entweder für erotisches Begehren oder wird auf der Handlungsebene mit Sexualität assoziiert. Diese enge Verbindung zwischen Jagd und Liebe stellt eine bis in die Antike auf Ovid zurückreichende literarische Tradition dar514. Anna Kathrin Bleuler macht darauf aufmerksam, dass von einem Zusammenhang zwischen Jagd und Minne in der mittelalterlichen Fachliteratur zur Jagd zwar keine Rede sein könne. Im minnedidaktischen Schrifttum sei jedoch genau das der Fall. Hier werden immer wieder die Techniken und Fertigkeiten, die für das Jagen erforderlich sind, als Vorbilder für das Erlernen der Liebeskunst herangezogen515. So stellt Andreas Capellanus zu Beginn seines Werks De amore den Bezug zwischen Liebe und Jagd her, indem er den Begriff Amor (Liebe) von dem Verb (h)amare, „fangen“ oder „gefangen werden“ ableitet. Als Erläuterung wählt Andreas die Analogie eines listigen Anglers, der einen Fisch mit Ködern anlockt und an seinem Angelhaken fängt, ebenso wie ein Liebender einen anderen mit Schmeicheleien anlockt und beide Herzen mit einer immateriellen Fessel aneinanderbindet: Sicut enim piscator astutus suis conatur cibiculis attrahere pisces et ipsos sui hami capere unco, ita vero captus amore suis nititur alium attrahere blandimentis, totisque nisi513 Vgl. Schulz, Anne: Essen und Trinken im Mittelalter (1000–1300). Literarische, kunsthistorische und archäologische Quellen. Berlin, 2011, S. 83. 514 Vgl. Trinca, Parrieren, S. 157. 515 Vgl. Bleuler, Anna Kathrin: Essen – Trinken – Liebe, S. 102.
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bus instat duo diversa quodam incorporali vinculo corda unire vel unita semper coniuncta servare.516 (Wie der schlaue Fischer die Fische mit seinen Ködern anlockt und mit seinem Angelhaken fängt, so sucht der eine Liebesgefangene den anderen durch Schmeicheleien anzulocken, er bemüht sich mit allem Mitteln darum, die beiden Herzen mit einer gleichsam immateriellen Fessel zusammenzubinden und die Aneinandergebundenen für immer gebunden zu halten.)
Bei der Aufzählung der Regeln der Liebe deutet Andreas an, dass erst die lange Jagd nach der Liebe diese wertvoll macht: XIV. Facilis perceptio contemptibilem reddit amorem, difficilis eum carum facit haberi.517 (14. Leicht erworbene Liebe wird meist gering geachtet, schwer erkämpfte aber umso höher geschätzt.)
Die Frau als Beute: Parzival Im Parzival Wolframs von Eschenbach gibt es eine Reihe von Metaphern, die die Themengebiete Nahrung, Jagd und Sexualität miteinander verbinden. So begehrt Parzivals Vater Gahmuret die Königin Belakane bereits bei ihrer ersten Begegnung, einem Mahl. Dieses Begehren drückt Wolfram durch eine Metapher aus, die den begehrenden Mann als Jagdwaffe, als gespannte schussbereite Armbrust, erscheinen lässt (35,30-36,2): Daz begunde dem recken sîne brust bêde erstrecken, sô die senwen tuot daz armbrust. dâ was ze draete sîn gelust.
An anderer Stelle löst der Anblick Belakanes bei Gahmuret das Verhaltens eines Beute witternden Jagdvogels aus (64,7-9):
516 Andreas Capellanus, De amore, Cap. III. Unde dicatur amor (Die Herkunft des Wortes Liebe), S. 20. 517 Andreas Capellanus, De amore, Cap. VIII. De regulis amoris (Die Regeln der Liebe), S. 250.
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ûf ruhte sich der degen wert, als ein vederspil, daz gert.
Wie die Armbrust ist auch der Falke ein Hilfsmittel bei der Jagd, das nicht selbstständig agiert, sondern vom Falkner bzw. Schützen instrumentalisiert wird. Gahmurets Begehren versetzt ihn somit nicht in die Subjektposition des Jägers, sondern in die Objektposition der Waffe, die dem Willen des Jägers unterworfen ist. Gahmurets Handeln ist nicht selbstbestimmt; es wird von seinen sexuellen Trieben kontrolliert. Auch Gawan, der die Königsschwester Antikonie begehrt, wird von Wolfram mit einem Jagdvogel parallelisiert. Für diesen Vergleich wählt Wolfram allerdings einem Adler, der für die höfische Beizjagd keine Rolle spielt518 und somit eigenmächtig handelt (406,28-407,2): Gâwân des gedâhte, do si alle von im kômen ûz, daz dicke den grôzen strûz vaehet ein vil kranker ar. er greif ir undern mantel dar.
Beatrice Trinca weist darauf hin, dass der Begriff kranc das Gegenstück des Jagdterminus überkrüpfet darstellt und somit den Hunger und die Jagdlust des Adlers bezeichnet519. Der Strauß wiederum galt im Mittelalter als leichte Jagdbeute, weil er nicht fliegen kann520. Antikonie wird somit zur leichten Beute stilisiert. Die ausführliche Beschreibung ihres Äußeren objektiviert sie und lässt sie als zum Verzehr bereite Jagdbeute erscheinen: Ihre Taille ist schlank wie ein Hase am Bratspieß (409,26-29): baz geschict an spizze hasen, ich waene den gesâht ir nie, dan si was dort unde hie, zwischen der hüffe unde ir brust.
518 Vgl. Trinca, Parrieren, S. 165. 519 Vgl. Trinca, Parrieren, S. 165. 520 Vgl. Trinca, Parrieren, S. 167.
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Adler jagen Hasen521. Während Gawan wie ein hungriger Adler agiert, imaginiert der Blick des Erzählers die leichte Beute Antikonie als für den menschlichen Verzehr schon zubereiteter Hase.
Vergewaltigung als Jagd: Eneasroman Im Eneasroman Heinrichs von Veldeke überträgt sich die Jagd, die auf der Handlungsebene stattfindet, auf die metaphorische Ebene: Die Jagd nach Wild bildet den Rahmen für den sexuellen Übergriff Eneas’ auf Dido, der wiederum mit den Metaphern der Jagd geschildert wird. Beachtenswert ist die Tatsache, dass Dido selbst die Jagd inszeniert, um Eneas für sich zu gewinnen (58, 33-59,15). Während der Jagd erscheint Dido noch als Eroberin; Heinrich vergleicht sie mit der Jagdgöttin Diana, während er Eneas’ Auftreten mit Apollo, dem Gott der Bogenschützen, vergleicht. Apollo stellt jedoch eine ambivalente Figur dar, die sowohl Licht bringt als auch Zerstörung und Vernichtung bewirkt. Der Vergleich mit Apollo kann somit bereits als Vorausdeutung auf Didos späteren Selbstmord verstanden werden. Der Verlauf der Jagd zeichnet die Ereignisse der Handlungen nach und kündigt Kommendes an. Zu Beginn der Jagd ist Eneas das Objekt von Didos Begehren. Sie veranstaltet die Jagd um seinetwillen und tritt dabei als Diana auf. Doch obwohl die Jagdgesellschaft zunächst einiges Wild erlegt, entfliehen ihnen auch viele Tiere, die sich nicht treffen lassen, bis ein starkes Unwetter die Jagd beendet (62,18-25): des tages sie geviengen wildes gnûch unde vile zû vil gûteme spile, dô wâren si alle ensament frô. ez quam ouch vil dicke sô, daz man daz wilt fliehen sach. ez quam umbe den mitten tach ein weter vil freissam, …
Ebenso wie die Jagdgesellschaft hat Dido zunächst mit ihren Jagdbemühungen um Eneas Erfolg. Während des Unwetters suchen Dido und Eneas Zuflucht unter einem 521 Vgl. Trinca, Parrieren, S. 167.
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Baum und Eneas nimmt Dido zum Schutz unter seinen Mantel. Nun kehren sich die Verhältnisse um: Dido wird zum Objekt von Eneas’ sexuellem Begehren. Die Vergewaltigung Didos beschreibt Heinrich als erfolgreiche Jagd (63,36-39): daz tier was rehte getriben. sô der man sô schûzet daz her sîn genûzet, sô liebet ime diu vart.
Dido wird so zum Wild, das durch den Schuss des Bogenschützen Eneas getroffen wird. Die Vorstellung des Schusses aus einer Jagdwaffe, die auch Wolfram zur Umschreibung von Gahmurets Begehren verwendet, spielt gewiss auf den aus männlicher Perspektive erfolgreich vollzogenen Sexualakt an. Während Eneas erfolgreich schießt, bleibt bei Dido von diesem Pfeilschuss eine Jagdverletzung, eine Wunde, zurück, die schlecht heilt (64,27-29): Ir was gesenftet ein teil, iedoch enwas niht heil diu wunde von der strâlen.
Sexuelles als alimentäres Begehren: Erec, Parzival Auch im Erec schaffen Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue gleich zu Beginn einen Bezug zwischen Jagd und Liebe. Bei der traditionellen Jagd nach dem weißen Hirschen kommt dem Sieger als Preis das Recht zu, die schönste Frau am Artushof zu küssen (V. 43-48): „Nos savomes bien tuit piece a quel costume li blans cers a: qui le blanc cerf ocirre puet par reison beisier li estuet des puceles de vostre cort la plus bele, a que il tort.“ („Seit langem ist uns allen wohlbekannt, welche Bewandtnis es mit dem weißen Hirschen hat: Wer ihn erlegt, muss nach dem Recht die schönste der Jungfrauen Eures Hofes küssen, wohin das auch führen mag.“)
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Die Jagd nach der Frau findet hierbei indirekt über den Umweg der Jagd nach dem Hirschen statt. In der Beschreibung des sexuellen Begehrens, das Erec und Enide füreinander empfinden, greift Chrétien sowohl den Hirschen als auch die Jagd auf metaphorischer Ebene wieder auf (V. 2027-2032): Cers chaciez qui de soif alainne ne desirre tant la fontainne, n‘ espreviers ne vient a reclain si volantiers quant il a fain que plus volantiers n‘ i venissent, einçois que il s‘ antre tenissent. (Ein gehetzter Hirsch, der dürstend nach Wasser lechzt, sehnt sich nach der Quelle nicht so sehr, und der Sperber folgt dem Ruf seines Herren, wenn er Hunger hat, nicht so bereitwillig, wie sie beide in das Gemach schritten, ehe sie einander umfingen.)
Auch Hartmann wählt für die Umschreibung des gegenseitigen Begehrens eine Jagdmetapher und parallelisiert wie Chrétien durch das Wort hunger bzw. fain sexuelles und orales Begehren (V. 1861–1865): dô einz daz ander ane sach, dô enwas in beiden niht baz dan einem habeche, der im sîn maz vor geschihte zougen bringet, sô in der hunger twinget.
Sowohl Chrétien als auch Hartmann vergleichen Erec und Enite mit hungrigen Jagdvögeln, dem Sperber bzw. dem Habicht. Die Begehrenden werden nicht wie Eneas mit menschlichen Jägern verglichen, sondern wie Gahmuret und Gawan mit Tieren. Diese Metaphern offenbaren Erecs und Enites sexuelles Begehren als tierischen Trieb und deuten somit das spätere verligen voraus522. Die Jagdmetapher impliziert zudem das Töten, Verspeisen und In-sich-Aufnehmen der Jagdbeute. 522 Insbesondere in Deutschland wurde Sexualität seit dem christlichen Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert dem Bereich tierischer Triebe zugeordnet und nicht in den Liebesdiskurs integriert. Leidenschaften galt es durch die Vernunft zu kontrollieren. Vgl. Luhmann, Liebe als Passion, S. 140; S. 145.
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Sexuelles Begehren wird dabei mit alimentärem Begehren gleichgesetzt, wobei letzteres egoistisch ist und Macht und Aggressivität impliziert. Für beide Partner liegt der Fokus offensichtlich auf Sexualität und Erotik und nicht auf der Liebe. Erecs und Enites übersteigertes Verlangen wird somit als unhöfisch enttarnt. Beachtenswert ist jedoch, dass beide Autoren keine Unterscheidung zwischen Erec und Enite vornehmen. Während Belakane und Antikonie im Parzival als Objekte des männlichen Begehrens erscheinen und auch Dido letztendlich zur erfolgreich erlegten Jagdbeute wird, begehren sich Erec und Enite gleichermaßen. Doch auch in Wolframs Parzival finden sich alimentäre Metaphern, in denen Frauen die Subjektposition einnehmen und ein männliches Objekt des Begehrens wie eine Speise verschlingen. So lobt Belakanes Verwandter Kaylet Gahmuret für seine Kampfeskraft, die ihn für die Frauen attraktiv macht (50,12-16): „ich muoz des eime tiuvel jehen, des vruore ich nimmer wirde vrô: het er den prîs behalten sô an vrävelen helden sô dîn lîp, vür zucker gaezen in diu wîp.“
Obwohl die Frau hier zum begehrenden Subjekt wird und die Objektposition dem Mann überlässt, ist die Textstelle dennoch misogyn konnotiert. Die Vorstellung, die Frauen würden sogar den Teufel wie Zuckerwerk verschlingen, spielt auf das im Mittelalter weit verbreitete Vorurteil der weiblichen Essgier an, das seinen Ursprung im Sündenfall-Mythos hat. Evas Schuld besteht aus christlich-mittelalterlicher Perspektive vor allem darin, dass sie aus Gefräßigkeit (gula) vom Baum der Erkenntnis isst523. Die Metapher der den Teufel verschlingenden Frauen besitzt 523 Vgl. z. B. Andreas Capellanus, De amore, Liber tertius. De reprobatione amoris (Das Verwerfen der Liebe), S. 272: Sed licet alias mulierum sit sexus semper avarus et omni rerum tenacitati suppositus, omnia tamen, quae habet, avidissime in ciborum lecacitate consumit, nec fuit quandocunque femina visa, quae non in gulae vitio tentata succumberet. Et haec omnia possumus in Eva prima mulierum cognoscere, quae, licet manu divina sine hominis fuerit facto plasmata, nil tamen magis vetitum timuit assumere cibum, et pro ventris ingluvie de Paradisi meruit habitatione repelli. (Ist das weibliche Geschlecht auch sonst habgierig und Sklavin seines Besitzes, für eine Näscherei, für seinen Gaumen gibt es alles hin. Noch immer ist jede Frau jeder Versuchung zur Schlemmerei erlegen. Seit Evas Zeiten ist es so: Wenn Gott sie auch ohne menschliches Zutun formte, so hatte sie doch, kaum zum Leben erwacht, nichts Eiligeres zu tun, als nach verbotener Speise zu verlangen. Ihrer Esslust wegen ist sie zurecht aus dem Paradies vertrieben worden.)
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zudem für heutige Leser die Konnotation der von Freud beschriebenen sexuellen Einverleibung. Wie in der Sündenfallgeschichte wird dabei ein Bezug zwischen der Essgier der Frauen, der Sexualität und dem christlichen Unheil hergestellt. Auch an anderer Stelle weist Wolfram im Parzival explizit auf die Gefräßigkeit der Frauen hin, die die Ursache für die körperliche Deformation der Gralsbotin Cundrie und ihres Bruders Malcreatiure darstellt. Laut Wolfram sind die im Land Tribalibot lebenden Frauen so zügellos, dass sie sich trotz besseren Wissens während der Schwangerschaft einer bestimmten gefährlichen Speise nicht enthalten können und ihrer Begierde nach dem Essen nachgeben, wodurch die Kinder mit Missbildungen geboren werden (517,28-519,1). Während sich also vor allem das sexuelle Begehren des Mannes über alimentäre Metaphern ausdrückt, verweisen jene Metaphern, bei denen Frauen die Subjektposition einnehmen, stärker auf den Nahrungs- als auf den Sexualtrieb.
2.2. Liebe als Speise Nahrung und Liebe stehen in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander: Zum einen codiert Nahrung Intimität. Liebeshandlungen und erotische Verhältnisse oder Anspielungen werden durch alimentäre Metaphern ausgedrückt. Die Umschreibung von Speisen oder Jagdsituationen ersetzt die Beschreibung von Sexualität oder sexuellem Begehren. Liebe, Sexualität und Begehren äußern sich nicht nur metaphorisch über die Beschreibung von Speisen oder Esssituationen, sie wirken sich auch auf das Essverhalten aus, indem sie Appetitlosigkeit verursachen. Ebenso wie die Begierde nach dem Essen sexuelles Verlangen codiert, bezeichnet auch die Unfähigkeit, Speisen zu verzehren, ein Liebesverhältnis. Hierbei lassen sich zwei Fälle unterscheiden: Entweder die Liebe führt zur Appetitlosigkeit und verhindert das Nahrungsbedürfnis, was gesundheitliche Schäden zur Folge haben kann, oder sie bewirkt sogar eine alimentäre Bedürfnislosigkeit524.
Liebe als Verhinderung des Nahrungsbedürfnisses Andreas Capellanus weist in De amore bei der Aufzählung der Regeln für die Liebe auf den Zusammenhang zwischen Verliebtheit und Appetitlosigkeit hin: 524 Vgl. hierzu auch Bleuler, Essen – Trinken – Liebe, S. 85.
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XXIII. Minus dormit et edit, quem amoris cogitatio vexat.525 (23. Wer von Gedanken über seine Liebe gequält wird, isst und schläft weniger.)
Der Bezug zwischen Liebe und Essen funktioniert allerdings auch umgekehrt: Personen, die nicht lieben, essen mehr. So merkt Andreas an, dass Menschen über 50 bzw. 60 Jahren zwar noch sexuell miteinander verkehren, sich aber nicht mehr lieben können, da sie in diesem Alter nicht mehr in der Lage sind, Freude zu empfinden, außer an gutem Essen und Trinken: Aetas impedit, quia post sexagesimum annum in masculo et post quinquaegesimum in femina, licet coire homo possit, eius tamen voluptas ad amorem deduci non potest, […] nullaque sunt sibi in hoc saeculo praeter cibi et potus solatia.526 (Alter, weil der Mann nach dem sechzigsten, die Frau nach dem fünfzigsten Lebensjahr zwar noch miteinander verkehren können, ihre Lust aber nicht zu Liebe führt. […] Das Alter hat nichts mehr an Freude, höchstens noch an gutem Essen und Trinken.)
Auch in der höfischen Literatur bewirkt die Liebe die Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme. So ist Lavinia im Eneasroman Heinrichs von Veldeke unfähig zu essen, nachdem sie Eneas zum ersten Mal erblickt hat (278,8-10): dô si aber danne quam unde uber tisch gesaz, si ne trank noch enaz.
Als Eneas von Lavinias Liebe erfährt und sie betrachtet, kann er ebenfalls keine Nahrung mehr zu sich nehmen (291,26–31): ie doch geschûfen sîne man, daz her ze herbergen reit und vant sîn ezzen al gereit. do her dar zû was gesezzen, done mohter niht ezzen, weder ezzen noch trinken. 525 Andreas Capellanus, De amore, Cap. VIII De regulis amoris (Die Regeln der Liebe), S. 252. 526 Andreas Capellanus, De amore, Cap. V Quae personae sint aptae ad amorem (Welche Personen für die Liebe geeignet sind), S. 22f.
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Eneas leidet dermaßen am Liebesschmerz, dass er durch die aus Nahrungs- und Schlafmangel verursachte Schwächung des Körpers zu erkranken droht (293,3439): „diz ungemach sal mir den lîb schiere krank machen, sal ich vasten und wachen beidiu naht und tach, want nieman wol leben mach ân ezzen und ân slâfen.“
Auch der Titelprotagonist von Konrads von Würzburg Engelhard leidet so sehr unter den körperlichen Folgen der unerfüllten Liebe zur Königstochter Engeltrud, dass er fast stirbt (V. 2170–2178): kumberlicher swære genuoc leit er alle stunde. der junge minnewunde wart an freuden alsô kranc daz im ezzen unde tranc begunde leiden und daz leben. mit bleiche wart im underweben sîn rôsenblüendiu varwe genzlichen und vil garwe.
Die Heftigkeit der Liebe verursacht Appetitlosigkeit und verhindert somit die Empfindung des Hungers, was die Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme bewirkt und als Konsequenz die Gesundheit gefährdet, wenn die höfischen Protagonisten völlig auf Nahrung verzichten.
Liebe als Befreiung vom Nahrungsbedürfnis: Tristan Neben der durch die Liebe verursachten Appetitlosigkeit, die zur Schwächung des Körpers führt und die Liebenden ernsthaft gefährden kann, existiert in der höfischen Literatur noch eine weitere Variante der Verbindung von Liebe und Nahrung: Liebe hat für die Liebenden dieselbe Auswirkung wie Nahrung und kann
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diese ersetzen. Ebenso wie im ersten Fall empfinden die Liebenden keinen Appetit mehr; dieser Zustand ist jedoch nicht mehr gesundheitsgefährdend, da die Liebenden von der Liebe leben und nicht länger auf Nahrung angewiesen sind. Im Tristan Gottfrieds von Straßburg treten beide Phänomene auf. Nach der versehentlichen Einnahme des Liebestranks während der Überfahrt von Irland nach Cornwall sind Tristan und Isolde nicht mehr in der Lage zu essen527. Während des Aufenthalts in der Liebesgrotte nach ihrer Verbannung vom Hof hingegen bewirkt die Liebe ein Speisewunder und das Paar bedarf der Nahrung nicht mehr. Bevor Tristan und Isolde Irland mit dem Schiff verlassen, um Marke Isolde als Braut zuzuführen, braut Isoldes Mutter einen Liebestrank und befiehlt der Zofe Brangäne, ihn Isolde und Marke in der Hochzeitsnacht nach dem Vollzug der Ehe auszuschenken. Der Trank ist so beschaffen, dass das gemeinsame Trinken davon unverzüglich gegenseitige Liebe entstehen lässt (V. 11439-11442): mit sweme sîn ieman getranc, den muose er âne sînen danc vor allen dingen meinen und er dâ wider in einen.
Da Isolde und ihre Hofdamen die Reise mit dem Schiff nicht gewohnt sind, legt Tristan unterwegs eine Ruhepause ein und sucht Isolde auf. Brangäne, die als Einzige von dem Liebestrank weiß, ist nicht da und als Tristan um etwas zu trinken bittet, reicht ihm ein Hoffräulein den Liebestrank, den es für Wein hält. Tristan reicht den Trank zuerst Isolde und trinkt dann selbst (V. 11678–11685): si stuont ûf und gie hin zehant, dâ daz tranc und daz glas verborgen unde behalten was. Tristande ir meister bôt si daz. er bôt Îsôte vürbaz. Si tranc ungerne und über lanc und gap dô Tristande unde er tranc und wânden beide, ez waere wîn. 527 Vgl. hierzu auch das Kapitel zur tragischen Liebe in Toepfer, Regina: Höfische Tragik. Motivierungsformen des Unglücks in mittelalterlichen Erzählungen. Berlin, 2013, S. 361–399.
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Obwohl beide aus einem Becher trinken, ein Brauch, den auch ein frisch vermähltes Ehepaar im Anschluss an den Vollzug der Ehe ausübt (V. 12640–12646) und für den der Trank ursprünglich auch vorgesehen war (V.11460–11463), nutzt Gottfried diese Situation noch einmal, um die Distanziertheit zwischen Tristan und Isolde zu betonen. Isolde nimmt den Becher, den Tristan ihr reicht, zwar an, trinkt aber nur ungerne und nach einigem Zögern, bevor sie Tristan den Becher zurückgibt. Die durch das Trinkritual erzeugte Gemeinschaftlichkeit zwischen Tristan und Isolde ist somit auf ein Minimum reduziert und die gegenseitige Abneigung wird gerade in der intimen Situation des gemeinsamen Trinkens besonders deutlich. Erst nachdem beide vom Liebestrank getrunken haben, bricht unmittelbar die Minne aus. Die Liebe zwischen Tristan und Isolde wird somit einzig durch den Liebestrank motiviert. Gottfried nähert die Tristan-Minne zwar akzeptierten Mustern von höfischer Minne an (Brautwerbung, Drachentötung), verknotet diese jedoch „heillos miteinander“528. Nichts deutet auf ein gegenseitiges heimliches Begehren vor der Einnahme des Liebestranks hin und auch Tristans Wunsch nach etwas zu trinken ist nicht mit den traditionellen Chiffren erotischen Begehrens, Hitze oder Durst, verknüpft529. Der Liebestrank ist somit mehr als nur das Symbol einer bereits vorher angelegten Liebe, er ist der Auslöser einer ansonsten unerklärlichen Passion530, die den Regeln der höfischen Ordnung widerspricht. Die Tatsache, dass die Minne zwischen Tristan und Isolde erst durch die Einnahme des Tranks hervorgerufen wurde, wertet diese dennoch nicht ab. Dass die Liebenden die Minne bei Gottfried nicht als äußeren Zwang empfinden, wird spätestens durch Tristans Bekenntnis zum Trank deutlich (V. 12495–12506). Nachdem Tristan und Isolde vom Liebestrank getrunken haben, leiden sie beide dermaßen am Liebesschmerz, dass sie nicht mehr essen und trinken können, bis schließlich der Mangel die Körper schwächt (V. 12069–12075): sin genâmen nie vor trahte war, dekeiner slahte lîpnar, biz sî der mangel und daz leit an dem lîbe als überstreit, 528 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen, 2007, S. 436. 529 Vgl. Huber, Christoph: Gottfried von Straßburg: Tristan. Berlin, 2001, S. 75. 530 Vgl. Müller, Höfische Kompromisse, S. 434f.
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daz es Brangaenen angest nam und in die vorhte dâ von kam, ez waere ir beider ende.
Die Nahrung in Form des Liebestranks ruft somit die Minne hervor, die die weitere Aufnahme von Nahrung verhindert. Durch den Nahrungsmangel und das seelische Leid magern die Liebenden dermaßen ab, dass Brangäne schließlich um ihr Leben fürchtet. Die durch den Trank verursachte gesundheitliche Gefährdung der Liebenden findet sich ebenfalls in der Tristan-Bearbeitung Eilharts von Oberg, der der Wirkung des Tranks noch eine zeitliche Dimension hinzufügt: Auch bei Eilhart bewirkt das gemeinsame Trinken eine lebenslange Liebe, die die Liebenden insbesondere für die ersten vier Jahre aneinanderbindet. In dieser Periode sind die Liebenden darauf angewiesen, sich täglich (und nächtlich) zu sehen und jede Woche miteinander zu reden, da ihnen ansonsten Krankheit, Siechtum und schließlich der Tod drohen (V. 2385–2405). Besonders deutlich wird bei Eilhart, dass die Liebe und die Gegenwart des anderen nach der Einnahme des Liebestranks eine ähnliche lebenserhaltende Wirkung erhalten wie die Nahrung. Ebenso wie der Verzicht auf Nahrung führt der Verzicht auf die Präsenz des bzw. der Geliebten zur körperlichen Schwächung, die nach einer Weile lebensbedrohliche Ausmaße annehmen kann. Bei Gottfried ist die körperliche Schwächung von Tristan und Isolde zwar auch durch den Verzicht auf Nahrung bedingt; die ursächlich durch den Liebestrank verursachte Krankheit kann jedoch nur durch körperliche Vereinigung geheilt werden. Gottfried imaginiert die Minne als Ärztin, die Tristan und Isolde einander als Arznei, also wiederum als Form von Nahrung, zuführt (V. 12164–12170): Minne diu arzâtinne si vuorte ze handen ir siechen Tristanden. ouch vant s‘ Îsôte ir siechen da. die siechen beide nam si sâ und gap in ir, im sîe, ein ander z‘ arzâtîe.
Während die Krankheit der Liebenden gleichermaßen durch Liebessehnsucht und körperliche Schwächung hervorgerufen wurde, resultiert die körperliche Heilung
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der Kranken allein aus der Erfüllung der Liebessehnsucht. Obwohl es denkbar ist, dass Tristan und Isolde nach der Erfüllung ihrer Liebesleidenschaft wieder in Lage sind, zu essen, ist von einer durch Nahrungsaufnahme motivierten Genesung bei Gottfried keine Rede. Eilhart hingegen betont explizit, dass die Nahrung nicht dazu beitragen kann, das Siechtum der Liebenden zu heilen (V. 2727–2734): Nun laugen sie vierdhalben tag, daß ir yeglichß nicht pflag essenß noch trinckenß. sie waren irß undanckeß vil nach baide hungerß tod: in mocht kain brot gehelffen noch win. sy mussten ungesund sin.
Während Eilhart bereits in dieser Szene darauf hinweist, dass die Liebe noch stärker als die Nahrung für die körperliche Gesundheit verantwortlich ist, baut Gottfried diese Vorstellung erst in der Minnegrotten-Episode aus. Auch nach ihrer Ankunft am Hof von Cornwall und nach der Verheiratung Isoldes mit Marke setzten Tristan und Isolde ihr Liebesverhältnis fort. Markes zunehmendes Misstrauen gegen seinen Neffen und seine Frau gipfelt schließlich in der Verbannung bzw. Flucht des ehebrecherischen Paares vom königlichen Hof. Tristan und Isolde verlassen die höfische Gesellschaft und ziehen in den Wald, wo sie eine Grotte entdecken, bei der sie sich niederlassen. Sowohl Gottfried als auch die anderen Bearbeiter des Tristan-Stoffes gehen der Frage nach, wie sich Tristan und Isolde im Wald ernähren. Bei Béroul antizipieren Tristan und Yseut die mit dem Leben im Wald verbundene Unbequemlichkeit. Dennoch lieben sie sich so sehr, dass sie nach ihrer Flucht vom Hof bereit sind, auf höfische Nahrung zu verzichten (V. 1401–1406): „Sire, j‘ am Yseut a mervelle, Si que n‘ en dor ne ne somelle; De tot an est li consel pris: Mex aim o li estre mendis Et vivre d‘ erbes et de glan
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Q‘ avoir le reigne au roi Otran.“ („Herr, ich liebe Isolde so sehr, dass ich ihretwegen weder schlafe noch schlummere; mein Entschluss ist schon gefasst: Lieber möchte ich mit ihr arm sein und von Kräutern und Eicheln leben als das Reich des Königs Ortan besitzen.“)
Tristan ist nicht nur bereit, für Yseut freiwillig Verzicht zu leisten, Béroul weist zudem auf das Motiv der durch die Minne verursachten Schlaflosigkeit hin. Durch die Entbehrungen in der Minnegrotte verwahrlost das höfische Paar und magert schließlich ab (V. 1637-1648): Seignors, molt fu el bois Tristans, Molt i out paines et ahans. […] Molt sont el bois del pain destroit, De char vivent, el ne mengüent. Que püent il, se color müent? Lor dras ronpent, rains les decirent; Longuement par Morrois fuirent. (Ihr Herren, lange war Tristan im Walde, große Mühen und Qualen erlitt er dort. […] Sehr arm an Brot sind sie im Walde, von Fleisch leben sie, anderes essen sie nicht. Was können sie dafür, dass sie bleich werden? Ihre Gewänder zerschleißen, Zweige zerreißen sie; lange flohen sie durch Morrois.)
Auch Eilhart von Oberg beschreibt eine mit Mühsal und Entbehrungen verbundene Ernährung auf der Basis von Kräutern, die den höfischen Protagonisten unwürdig ist (V. 4724-4729): ich sag uch fur war, daß die gutten lut nicht aussen wen krut, daß sie in dem wald funden, wa sie daß suchen kunden: daß waß ir beste spyß.
Eilhart schildert das aus dieser Mangelernährung resultierende Leid und geht darauf ein, welche Speisen ihnen besonders fehlen (V. 4757–4767):
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Tristrand und die kungin und Kurnewal der diener sin litten grossen hunger. wer in sölichem kummer sölt ain jar liden – ich will der zwayer geschwigen –, er müst sin deß todß, wann sie enbissen kaineß brotß, metteß noch wineß, noch kainer hand fineß tranckeß.
Während Béroul und Eilhart den Aufenthalt der Liebenden im Wald als Notlage schildern, die es zu überleben gilt, deutet Gottfried die Minnegrotten-Episode in eine Liebesidylle um, behält aber das Motiv des Nahrungsmangels bei und kehrt es in ein positives Gegenteil. Während Tristan und Isolde bei Béroul und Eilhart bedingt durch die Abgeschiedenheit im Wald keinen Zugang zu höfischen Speisen haben und daher hungern müssen, besitzt die Minne bei Gottfried eine derartige Qualität, dass sie die Nahrung im Wald ersetzt: Tristan und Isolde kommen erst gar nicht dazu, höfische Nahrung zu vermissen, sie bedürfen der leiblichen Speisen nicht länger, sondern leben von der Liebe, die ihnen ausschließlich als Nahrung dient (V. 16815-16840): si sâhen ein ander an, dâ generten sî sich van. der wuocher, den das ouge bar, daz was ir zweier lîpnar. si enâzen niht dar inne wan muot unde minne. diu geliebe massenîe diu was ir mangerîe in maezlîchen sorgen. si truogen verborgen innerthalp der waete daz beste lîpgeraete, daz man zer werlde gehaben kan.
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[…] deiswâr si nâmen selten war dekeiner spîse niuwan der, von der baz daz herze sîne ger, daz ouge sîne wunne nam und ouch dem lîbe rehte kam.
Tristan und Isolde ernähren sich über die Augen, wodurch sie nicht nur die Bedürfnisse ihrer Herzen befriedigen, sondern auch die ihrer Körper. Diese Form der Ernährung stellt ein Nahrungswunder dar; da sie ihre Liebe nun erfüllen können, ist im Gegensatz zur Schiffsepisode von Abmagerung und körperlicher Schwächung im Wald keine Rede. Bei Béroul bzw. Eilhart und Gottfried hat das Motiv der mit der Minne zusammenhängenden körperlichen Folgen des Nahrungsverzichts somit umgekehrte Ursachen: Während Tristan/Tristrand und Yseut/Isalde aus Liebe absichtlich auf höfische Speisen verzichten und durch den Nahrungsmangel abmagern, bewirken die Minne und die Qual der unerfüllten Liebe bei Gottfried zunächst die Unfähigkeit zur Nahrungsaufnahme, die die körperliche Schwächung herbeiführt. Während bei der Schiffsepisode nur angedeutet wird, dass die Liebe die Funktion der Nahrung übernimmt und die körperlichen Leiden heilt, betont Gottfried dies in der Minnegrotten-Episode explizit. Alle drei Dichter nutzen die Nahrung, um die von der höfischen Norm abweichende Position der Liebenden hervorzuheben: Während Gottfried mittels des Speisewunders die Minne zwischen Tristan und Isolde idealisiert und somit über die höfische Norm hebt, markieren Béroul und Eilhart über die den höfischen Protagonisten unwürdige Nahrung den unhöfischen Status der Liebenden.
2.3. Süßes Herz: Herzmäre Sexuelle Anspielungen oder auch Handlungen über alimentäre Metaphorik auszudrücken ist ein beliebtes Stilmittel in der mittelhochdeutschen Epik. Möglich ist jedoch auch ein Rückbezug der metaphorischen auf die wörtliche Ebene. Im Herzmaere Konrads von Würzburg verzehrt eine Dame unwissend das Herz ihres aus Liebesschmerz verstorbenen Geliebten. Dabei kommt es zu einem komplexen Wechselspiel zwischen wörtlicher und metaphorischer Ebene: Die Verschmelzung
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der Liebenden, die zu Beginn des Märe auf metaphorischer Ebene imaginiert wird, mündet in eine reale Verschmelzung durch die Einverleibung des Herzens. Der Tod beider Liebenden resultiert schließlich aus der scheiternden Kommunikation des Minne- und Herzdiskurses, aus sprachlicher Inkompetenz und fatalen Umdeutungen und Missdeutungen zwischen metaphorischer und wörtlicher Ebene531.
Materialisierung des Metaphorischen Das Motiv des gegessenen Herzens stellt eine in die Antike zurückreichende literarische Tradition familiär und sexuell motivierter Anthropophagie dar532, das der Dynamik von Anziehung und Abstoßung folgt und in der mittelalterlichen Dichtung übersteigerte, normsprengende Nahbeziehungen ausdrückt533. So betont Konrad bereits zu Beginn der Erzählung die überaus enge Verbundenheit zwischen dem Ritter und seiner verheirateten Geliebten, die einander so sehr lieben, dass sie eins werden (V. 29-33): Ein ritter unde ein frouwe guot diu hæten leben unde muot in einander sô verweben, daz beide ir muot unde ir leben ein dinc was worden alsô gar.
Alles, was die Dame bedrückt, betrübt auch den Ritter; die Subjekt-Objekt-Grenze scheint aufgehoben. Die Verschmelzung von Ritter und Dame findet zunächst auf textueller Ebene durch den Chiasmus leben unde muot/muot unde leben Ausdruck sowie auf metaphorischer Ebene statt: Ritter und Dame teilen Leben und Gefühle, sie werden ein dinc. Die Liebenden können aufgrund des eifersüchtigen Ehemanns der Dame allerdings nicht ihr Verlangen nach körperlicher Vereinigung erfüllen, was sie einem starken Liebesschmerz aussetzt. Die metaphorische Verschmelzung zu Beginn der Erzählung antizipiert die reale Verschmelzung, die am 531 Vgl. Kragl, Florian: Wie man in Furten ertrinkt und warum Herzen süss schmecken, S. 317, 324f. In: Euphorion 102, 2008, Heft 3, S. 289–330. 532 Vgl. Brall-Tuchel, Helmut: Das Motiv des gegessenen Herzens in der mittelalterlichen Novellistik, S. 72. In: Michael Dallapiazza (Hg.): La novella europea: origine, sviluppo, teoria; atti del convegno internazionale, Urbino, 30-31 maggio 2007. Rom, 2009, S. 71–89. 533 Vgl. Brall-Tuchel, Das Motiv des gegessenen Herzens, S. 74.
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Ende der Geschichte stattfindet. Während der gesamten Erzählung manifestiert sich die Minne in den personifizierten Herzen der Liebenden. Die Herzen empfinden Kummer und Schmerz, sie pressen sich im Abschied zusammen und sind wie abgestorben gegenüber weltlicher Freude. Bereits zu Beginn des Märe und noch einmal unmittelbar vor dem Tod des Ritters bezeichnet der Erzähler das Herz des Ritters als versniten (V. 67, 316), d. h. zerschnitten und beschädigt. Als der Ritter schließlich spürt, dass er stirbt, befiehlt er, sein Herz nach seinem Tod aus dem Leib zu scheiden, es einzubalsamieren und der geliebten Dame in einem Kästchen zu übergeben. Dieser letzte Wunsch des sterbenden Ritters bewirkt einen Wechsel von Signifikat und Signifikant534. Stand das Herz zuvor metaphorisch für die Minne, wobei physische Ereignisse, die dem körperlichen Herzen später zugefügt werden, in Form von Metaphern bereits angedeutet werden, so findet jetzt ein Sprung von der metaphorischen auf die wörtliche Ebene statt, wenn sich der Ritter sein physisches Herz nach dem Tod aus dem Körper schneiden lässt535.
Einverleibung als Scheitern von Kommunikation Der Knappe, der das Kästchen an die Geliebte aushändigen soll, wird jedoch von deren Ehemann abgefangen. Dieser nimmt das Kästchen an sich und befiehlt seinem Koch, aus dem Herzen des toten Ritters eine wohlschmeckende Mahlzeit zuzubereiten (V. 413–420): daz tet der koch mit willen gar: er nam zuo im daz herze dar und mahte ez alsô rehte wol daz man enbîzen niemer dekeiner slahte spîse, diu alsô wol nâch prîse mit edeln würzen sî gemaht als daz herze vil geslaht.
War das Herz des Ritters bereits zuvor auf metaphorischer Ebene zerschnitten, so geschieht dies nun bei der Zubereitung auf wörtlicher Ebene. Das fertige Gericht 534 Vgl. Kragl, Furten und Herzen, S. 325. 535 Vgl. Kragl, Furten und Herzen, S. 312.
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lässt der Ehemann schließlich seiner Ehefrau auftragen und fordert sie auf, es alleine zu verspeisen. Ohne zu wissen, was sie isst, schmeckt ihr das Herz des Geliebten so gut wie noch nie eine Speise zuvor (V. 448–455): „niemer werde ich rehte frô, ob ich ie spîse gæze diu sô zuckermæze mich dûhte und alsô reine sô disiu trahte cleine der ich iezuo hân bekort. aller spîse ein überhort muoz si mir benamen sîn.“
Die Einverleibung sättigt und befriedigt die Dame und ersetzt somit den Geschlechtsakt, den die Liebenden nicht vollziehen konnten. Das Gericht schmeckt süß, wie Zucker, und verweist somit auf die Minne, die der Erzähler wiederholt als süeze bezeichnet (V. 43, 84, 123, 247, 317, 472). Der süße Geschmack resultiert jedoch nicht aus der Materie des Herzens, sondern aus seiner metaphorischen Bedeutung, die der Ehefrau während des Verzehrs allerdings noch nicht bekannt ist. Erst nach dem Geständnis ihres Ehemanns wird die Speise für die geliebte Dame wieder metaphorisch aufgeladen536. Nachdem sie das Gericht aufgegessen hat, gesteht der Ehemann ihr, dass das Mahl aus dem Herzen ihres Geliebten zubereitet wurde, woraufhin die Dame aus Treue beschließt, nie wieder zu essen (V. 486–493): „jâ“, sprach si dô mit maneger nôt, „hân ich sîn herze denne gâz der mir hât ân underlâz von grunde ie holden muot getragen, sô wil ich iu benamen sagen, daz ich nâch dirre spîse hêr, dekeiner trahte niemer mêr mich fürbaz wil genieten.“
536 Vgl. Kragl, Furten und Herzen, S. 314.
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Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität
Die Einverleibung des Herzens ihres Geliebten lässt Dame und Ritter auch auf physiologischer Ebene zu einem dinc werden. Die metaphorische Bedeutung des Herzens für die Dame spiegelt sich in seiner realen Schmackhaftigkeit wider: In der Hierarchie der wohlschmeckenden Speisen steht das Herz ganz oben. Der Verzehr des toten Herzens löst physiologische Folgen bei der Dame aus: Ihr eigenes Herz erkaltet und bricht, als sie von der Herkunft der Speise erfährt. Die Funktion des Herzens oszilliert somit permanent zwischen seiner Bedeutung als metaphorischem Zeichen und als körperlichem Organ537. Das physische Herz ist dabei der Signifikant, während die Herzmetapher das Signifikat bildet, indem es auf die immaterielle Minne verweist. Durch den Sprung von der metaphorischen auf die wörtliche Ebene, der mit einer Materialisierung des Herzens und somit der Zerstörung der Metapher verbunden ist, wird das Signifikat, also die Minne, ebenfalls zerstört538. Der Tod des Ritters ist durch diese Materialisierung des Herzens verschuldet. Durch den Wegfall der metaphorischen Ebene greift der Liebesschmerz das körperliche Organ an539. Der Tod des Ritters bedingt den Tod der Dame: Da das Herz und somit die Minne materialisiert werden, können sie gegessen und somit vernichtet werden. Die metaphorische Bedeutung des Herzens wirkt sich dabei wiederum physiologisch auf das reale Herz der Dame aus, die durch den Verzehr des Herzens ebenfalls stirbt. Im Herzmaere sind zudem beide Seiten der von Freud beschriebenen ambivalenten Einverleibung präsent: die höchste Form von Verschmelzung und Erfüllung, ebenso wie das Moment von Aggression und Zerstörung. Dabei zerstört die Dame physiologisch nicht nur das Herz des Ritters, das sie zerkaut, die Vernichtung greift auch auf sie selbst über.
2.4. Apfel und Ei: Engelhard Nahrung fungiert nicht nur in der höfischen Liebe, sondern auch in der höfischen Freundschaft als Metapher der Intimität. Konrad von Würzburg wählt in seinem Freundschaftsroman Engelhard zwei Speisen, Apfel und Ei, die sowohl als Codes für die Zusammengehörigkeit der Freunde als auch der Liebenden dienen. Im 537 Vgl. Kragl, Furten und Herzen, S. 313. 538 Vgl. Kragl, Furten und Herzen, S. 317. 539 Vgl. Kragl, Furten und Herzen, S. 324.
2. Essen als Metapher der Intimität
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Engelhard codieren der Apfel und das Ei sowohl die Freundschaft zwischen Engelhard und Dietrich als auch die Liebe zwischen Engelhard und Engeltrud. Während die Freundschaftsbeziehung über das Motiv des halbierten Apfels und des halbierten Eis ausgedrückt wird, treten diese beiden Speisen in der Liebesbeziehung verdoppelt auf.
Halbierung der Speisen
Zunächst wird der Umgang mit der Nahrung zum Erkennungszeichen für Freundschaft. Engelhard, der höfisch gebildete, aber besitzlose Sohn eines burgundischen Adeligen, bricht auf, um am Hof des Königs von Dänemark als Knappe zu dienen. Bevor er loszieht, überreicht ihm sein Vater drei Äpfel und gibt ihm einen Rat mit auf den Weg (V. 338–357): „lieber sun“, sprach er, „da bî solt dû di versuochen die dîn her nâch geruochen ûf der strâze wellen vil lîhte zeime gesellen. Ich sage dir rehte wie dû tuo. swenn iemen dir gerîte zuo der dich geselleschefte bite, den versuoche alsô dâ mite. gip im der epfel einen dar. izzet er in in sich gar unde engît dir niht dar abe, sô mît, vil herzelieber knabe, alle sîne geselleschaft. ist aber er sô tugenthaft daz er durch sîner sêle heil des apfels gebe dir ein teil, sô lâz in mit dir rîten und won im zallen zîten vil geselleclichen bî.“
Weiterhin rät Engelhards Vater ihm, falls alle drei Äpfel ohne zu teilen verzehrt würden, lieber ohne Begleitung weiterzuziehen, als mit einem Gefährten, der den
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Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität
Apfel allein aufisst. Der erste Knappe, dem Engelhard begegnet, isst seinen Apfel sofort auf, ohne Engelhard etwas anzubieten (V. 426-429): sus nam er den apfel dar und az in bî der selben stunt gar unde ganz in sînem munt und gap sîn Engelharte niht.
Auch der zweite Knappe teilt den Apfel nicht (V. 436-439): den versuochte er alse disen, biz daz er sîner zuht vergaz und ouch der epfel einen az alsô daz er im niht enbôt.
Konrad führt das Verhalten der Knappen auf das Fehlen von zuht, also höfischer Erziehung, zurück, die beinhaltet, dass beim Essen maßvolle Zurückhaltung gezeigt wird. Jan-Dirk Müller weist darauf hin, dass das Mahl durch die Einhaltung grundlegender höfischer Tischzuchten zum Modell „richtiger“ sozialer Beziehungen werden kann540. Besondere Bedeutung im Umgang mit der Nahrung kommt dabei der Disziplinierung der Essgier und der Rücksicht auf die Tischnachbarn zu: Es dürfen nicht zu große Bissen genommen werden, es darf nicht zu schnell gegessen werden, dem Nachbarn das Essen wegzunehmen oder sich selbst die besten Stücke herauszusuchen, gilt als unfein. Als besonders höfisch gilt hingegen, die Speisen miteinander zu teilen und sich gegenseitig zu bedienen541. Der schnelle Verzehr des Apfels, ohne ihn zu teilen, zeugt von der Gier und dem Widerstreben, von der wohlschmeckenden Frucht ein Stück abzugeben. Die maßlose Gier und das egoistische Verhalten der beiden ersten Weggefährten widersprechen somit den grundlegenden höfischen Normen für den Umgang mit der Nahrung. Durch das versuochen mittels der Äpfel offenbart sich somit selbst bei den adeligen Knappen der Mangel an höfischen Umgangsformen, da sie die Lust auf den Apfel ihre guten Manieren vergessen lässt. 540 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfischer Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads „Halber Birne“, S. 216f. In: Mediävistische Kulturwissenschaft. Ausgewählte Studien, S. 205–227. 541 Vgl. Kapitel vor höfischen Esskultur.
2. Essen als Metapher der Intimität
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Erst der dritte Knappe weiß mit dem Apfel in höfischer Weise umzugehen (V. 552-561): den nam der knabe stæte mit blanken henden snêwîz und tete dar zuo sînen flîz daz er in gar geschelte. dâr nâch der ûz erwelte spielt in ebene als ein ei mit einem mezzersnîte enzwei und bôt daz eine stücke dar mit hovelicher zühte gar Engelharte bî der stunt.
Dietrich teilt seinen Apfel nicht nur mit Engelhard, er verfeinert ihn zudem kulturell, indem er ihn schält. Dietrich hält somit zwei wichtige Regeln der Tischzuchten ein: das Teilen der Speisen und die besondere Zuvorkommenheit, dem Gefährten die Nahrung zum Verzehr vorzubereiten. Dietrichs Verhalten zeugt somit von einem besonderen Maß an Kultivierung. Während Konrad explizit den Mangel an zuht bei den beiden anderen Knappen betont, hebt er die hoveliche zühte Dietrichs hingegen hervor. Die Demonstration höfischer Verhaltensweisen ist umso wichtiger, da Engelhard und Dietrich sich fernab des Hofes auf einer Heide befinden. Der gemeinsame Verzehr des Apfels bildet den Ausgangspunkt ihrer Freundschaft und kündigt die zukünftige triuwe zwischen den beiden Freunden an542. Der Essakt könnte zudem als Anspielung auf den christlichen SündenfallMythos verstanden werden. Während der Verzehr der Frucht vom Baum der Erkenntnis im Alten Testament das gegenseitige Erkennen von Mann und Frau auslöst, erkennen sich im Engelhard die Freunde durch den Akt des Teilens. Das Teilen des Apfels, der wie ein Ei in zwei gleiche Stücke geschnitten wird, evoziert zudem die Gleichheit und Einheit der Freunde. Wie beide Apfelhälften ein Ganzes bilden, so werden auch die Freunde fortan unzertrennlich543. Engelhard und Dietrich sehen einander nicht nur ähnlich wie Zwillinge, sie teilen auch ihre Nahrung brüderlich, wobei beider Verhalten von ihrer höfischen Gesinnung 542 Vgl. Müller, hovezuht, S. 218. 543 Vgl. Kraß, Freundschaft als Passion, S. 112.
Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität
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zeugt. Die höfische Geste des Teilens relativiert dabei die Standesunterschiede, die zwischen Engelhard und Dietrich bestehen. Das Verschenken und Teilen der Nahrung wirkt als Initialakt, der das Gegeneinander von Opfer und Zurückweisung in Gang setzt, „jene Wechselwirkung von Rücksichtnahme auf den anderen und Rücksichtnahme auf dessen Rücksichtnahme“544, die für die Beziehung zwischen Engelhard und Dietrich charakteristisch ist.
Verdoppelung der Speisen Der Engelhard erzählt aber nicht nur die Geschichte der Freundschaft zwischen Engelhard und Dietrich, sondern auch die Geschichte der Liebe zwischen Engelhard und der dänischen Königstochter Engeltrud. Während der engen Verbundenheit der Freunde über die körperliche Gleichheit Ausdruck verliehen wird, wird der Bezug zwischen Engelhard und Engeltrud über die Gleichheit der Namen hergestellt. Apfel und Ei, die die Freundschaft von Engelhard und Dietrich codieren, tauchen in der Beziehung von Engelhard und Engeltrud als erotische Attribute wieder auf. Die Beziehung zwischen Engelhard und Engeltrud konstituiert sich somit über dieselben Metaphern wie die Beziehung zwischen Engelhard und Dietrich. Das gespaltene Ei, das als Zeichen der Gleichheit der Freunde dient, bezeichnet nun die Zusammengehörigkeit der Liebenden. Während Engelhard und Dietrich die beiden Hälften eines einzelnen Eis bilden, erscheinen die Herzen der Liebenden als zwei Eier, die jedoch, spaltete man sie auf, jeweils ein Bild des anderen enthalten (V. 3459-2464): ez ist noch der geloube mîn, swer do gespalten hæte enzwei ir beider herzen als ein ei, ez wære bî den stunden in iegelichem funden des anderen fîgûre mit golde und mit lâsûre gebildet und gebuochstabet.
544 Vgl. Müller, hovezuht, S. 219.
2. Essen als Metapher der Intimität
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Die Vorstellung der Präsenz des Geliebten im Herzen des Liebenden spielt auf das in der höfischen Literatur beliebte Motiv des Herzenstauschs an. Auch den Apfel erwähnt Konrad in Bezug auf die Liebe zu Engeltrud. Bei dem ersten erotischen Zusammentreffen der Liebenden in einem Baumgarten beschreibt Konrad ausführlich Engeltruds Körper und hebt insbesondere ihre kleinen Apfelbrüste hervor (V. 3044–3047): man sach ir senften brüstelîn an dem kleide reine storzen harte kleine, als ez zwên epfel wæren.
Auch diese Szene kann als Anspielung auf den Sündenfall verstanden werden. Der Bezug zwischen Frucht und Sexualität wird im Engelhard jedoch in umgekehrter Richtung hergestellt. Bewirkt der Verzehr der Frucht im Alten Testament das Erkennen der Sexualität, so lässt erst die Erotik in der Baumgarten-Szene Engeltruds Brüste als Äpfel erscheinen. Dasselbe Zeichen, das die Freundschaft konstituiert, wird somit auch zum Symbol der erotischen Liebe. Ebenso wie das Ei verdoppelt sich dabei auch der Apfel in der Beziehung zwischen Engelhard und Engeltrud. Engelhard und Dietrich teilen miteinander die körperliche Ähnlichkeit; sie sind zwei Hälften eines Apfels und eines Eis. Engelhard und Engelturd hingegen sind bereits durch die körperliche Gegensätzlichkeit von Mann und Frau getrennt. Ihre Ähnlichkeit manifestiert sich auf einer Metaebene: Sie teilen die Ähnlichkeit der Namen. Jedoch tritt auch das Wort „Engel“ in beiden Namen verdoppelt auf. Ihre Herzen erscheinen als zwei Eier und ihre Beziehung basiert nicht auf Freundschaft, sondern auf Liebe und sexueller Anziehung. Diese sexuelle Anziehung, die Engeltrud auf Engelhard ausübt, drückt sich über ihre Brüste aus, die wie zwei Äpfel erscheinen. Apfel und Ei codieren somit sowohl Engelhards Freundschaft zu Dietrich als auch die Liebe zu Engeltrud. Die Verdoppelung der Speisen markiert jedoch zum einen die höhere Bedeutung der Liebe gegenüber der Freundschaft als Lebensmodell: Engelhard und Dietrich trennen sich schließlich, um zu heiraten und leben in unterschiedlichen Ländern. Zum anderen bezeichnet sie allerdings auch die größere Distanz innerhalb der heterosozialen Beziehung. Auf Handlungsebene zeigt sich die Verbundenheit der Freunde und die Distanz der Liebenden darin, dass die Freunde einander trotz der räumlichen Trennung loyal
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Zu zweit essen – Codierung höfischer Intimität
bleiben, während sie ihre Frauen hintergehen, obwohl sie mit ihnen zusammenleben. Nahrung und Essen codieren in der höfischen Epik intime Nahbeziehungen zwischen zwei Figuren. Dies gilt für die Handlungsebene ebenso wie für die metaphorische Ebene. Auf der Handlungsebene erfolgt der Ausdruck der Zusammengehörigkeit in Form der ehelichen oder freundschaftlichen Gemeinschaft von Tisch und Bett, wie im Erec und im Iwein, oder auch in Form des gemeinsamen Fastens, wie im Willehalm. Während die Speisegemeinschaften von zwei Personen auf Handlungsebene in der Liebe wie in der Freundschaft Zusammengehörigkeit stiften und diese auch nach außen vermitteln, dienen Speisen oder der Akt deren Beschaffung mittels der Jagd auf der metaphorischen Ebene der Veranschaulichung von sexuellem Begehren, wie im Parzival, im Eneasroman und im Erec. Aber nicht nur das alimentäre Begehren umschreibt sexuelles Begehren, auch die Unfähigkeit zu essen, der Verlust des Appetits, ist ein Zeichen für Liebe und Begehren. Im Tristan ist die Liebe zwischen Tristan und Isolde so stark, dass sie die Liebenden ernährt und somit die Speisen ersetzt. Die metaphorische Bedeutung des gemeinsamen Verzichts auf höfische Nahrung von Tristan und Isolde in der Waldgrotte hat somit Konsequenzen auf die epische Welt und es kommt zu einem Rückbezug der metaphorischen Ebene auf die Handlungsebene. Wie durch ein Wunder müssen sich Tristan und Isolde nicht mehr ernähren, sie leben von der Liebe. Dieser Rückbezug findet ebenfalls im Herzmäre statt, allerdings mit fatalen Auswirkungen. Hier ist die metaphorische Aufladung des Herzens des liebenden Ritters überzogen ausgeprägt, während sich die Protagonisten dessen gleichzeitig nicht bewusst sind. Dies führt in erster Konsequenz zum Tod des Ritters, dessen Herz aus Liebe bricht, und in zweiter Konsequenz zum Tod der Dame, die das Herz mitsamt seinen metaphorischen Implikationen verzehrt. Im Engelhard wiederum bezeichnen zwei Speisen nicht nur die Liebe zwischen Engelhard und Engeltrud, sondern auch die Freundschaft zwischen Engelhard und Dietrich und definieren gleichzeitig das Verhältnis der Freundschafts- zur Liebesbeziehung.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
Neben einsamen und intimen Esssituationen werden in der mittelhochdeutschen Dichtung vor allem Festmähler in höfischer Gemeinschaft geschildert. Für höfische Feste gibt es verschiedene Anlässe: Hoffeste, wie Hoftage und kirchliche Feiertage, dienen dazu, die höfische Gesellschaft als solche zu feiern und zu bestätigen. Bei der Beschreibung von höfischen Festen gehen die Dichter meist ausführlich auf das Festmahl ein, das eine integrative, kommunikative und identitätsstiftende Funktion ausübt545. Die Tischgemeinschaft bildet das Zentrum der höfischen Gesellschaft und die Teilnahme an der Tischgemeinschaft ist zeichenhaft für die Zugehörigkeit zum Hof546. Die Mähler dienen in der höfischen Epik also dazu, gesellschaftliche Verhältnisse zu konstituieren und zu demonstrieren. Indem literarische Festmähler die gesellschaftlichen Gegebenheiten zeichenhaft abbilden und widerspiegeln, können sie ebenso das Gelingen wie das Misslingen höfischer Ordnung darstellen. Ein misslungenes Mahl ist ein Zeichen, das auf die gestörte höfische Ordnung innerhalb der Gesellschaft verweist. Die Störung eines Festmahls hat in der Literatur somit immer symptomatischen Charakter und legt gesellschaftliche Missstände offen. Neben Hoffesten und kirchlichen Feiertagen schildern die höfischen Dichter Initiationsfeiern, wie Krönungen, Schwertleiten und Hochzeiten, die ebenfalls Anlässe für ein höfisches Fest bilden. Auch diese Feste besitzen konstitutiven Charakter für die höfische Gesellschaft, stellen dabei aber einzelne Personen in den Vordergrund. Festmähler im Rahmen von Initiationen fungieren als Übergangsriten, die den Wechsel von einer Lebenssituation in eine andere markieren und besiegeln. Außerdem werden Festmähler anlässlich von Gastaufnahmen veranstaltet. Solche festlichen Mahlzeiten, die Gast und Gastgeber miteinander teilen, beinhalten auf nonverbaler Ebene in unterschiedlichem Ausmaß freundschaftliche, bündnishafte und rechtliche Implikationen. Insbesondere der rechtliche Aspekt ist bei jedem Gastmahl implizit enthalten und kann im besten Fall freundschaftliche 545 Vgl. Kapitel zu höfischen Festen und Speisegemeinschaften. 546 Vgl. Kapitel zur höfischen Esskultur.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
Beziehungen oder auf gegenseitige Hilfeverpflichtungen ausgerichtete Bündnisse zwischen Gast und Gastgeber initiieren und verstärken oder im schlimmsten Fall zu rechtlichen Konflikten führen.
1. Festmähler Die höfischen Dichter diskutieren Fest und Festmahl im Spannungsfeld von Frieden und Krise. In der Artusepik Chrétiens de Troyes und Hartmanns von Aue wird ein festliches Ideal propagiert, das jedoch latent von Innen durch gesellschaftliche Instabilität bedroht ist. Diese Instabilität der Artusgesellschaft zeigt sich am deutlichsten während der Festmähler, die stets unhöfische Aspekte aufweisen. Der Tristan Gottfrieds von Straßburg hingegen rezipiert dieses in der Artusdichtung immer nur behauptete festliche Ideal, wertet es aber zur Präsentation gesellschaftlicher Stabilität auf, die zu Beginn des Tristan im Gegensatz zu den Artusromanen tatsächlich besteht. Auch im Nibelungenlied dienen die Festmähler dazu, die Störung der gesellschaftlichen Ordnung offenzulegen und zudem ihre fortschreitende Destruktion zu dokumentieren. Während die Verletzung der höfischen Ordnung zerstörerisches Potenzial besitzt, das auf die Festmähler übergreift, übt die Umsetzung höfischer Ordnung jedoch eine pazifierende Wirkung aus, die sich ebenfalls anhand der Festmähler zeigt. Im Willehalm Wolframs von Eschenbach ist der gesellschaftliche Friede sowohl latent durch innere Konflikte als auch manifest durch äußere Gegner bedroht. Hier gelingt es der höfischen Gesellschaft mittels des Festmahls den Frieden zu bewahren und beide Formen der Bedrohung abzuwehren.
1.1. Hoffeste Artusfeste: Offenlegung innerer Instabilität In der Artusliteratur wird erstmals der Hof des Königs zum Fix- und Angelpunkt der Erzählung547. Den Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens am Artushof bilden die Artusfeste, die auf die Gewährleistung und Demonstration höfischen Friedens548 und höfischer Idealität ausgerichtet sind549. Während es der Artusgesell547 Wolfzettel, Friedrich: Der Artushof: ideale Mitte oder problematische Idealität? S. 7. In: Matthias Däumer/Cora Dietl/Friedrich Wolfzettel (Hgg.): Artushof und Artusliteratur. Berlin, 2010, S. 3–19. 548 Vgl. Köhler, Erich: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artusund Graldichtung. Tübingen, 1970, S. 106. Köhler betont, dass der Friede das eigentliche Idealziel des Artushofs ist, das einerseits von der Durchsetzung der höfischen Ordnung abhängt und andererseits von der erfolgreichen Abwehr der Bedrohungen durch die antihöfische Gegenwelt. 549 Zur Genese des Festmotivs in der Artusdichtung vgl. Haupt, Barbara: Das Fest. Barbara Haupt
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
schaft gelingt, mittels der Festmähler Konflikte mit äußeren Gegnern erfolgreich zu bewältigen und den Frieden zu sichern, scheitert jedoch die Herstellung innerer Stabilität und Idealität. Dabei legen gerade die Mahlzeiten die massiven Ambivalenzen offen, die den Artushof prägen550. Grundsätzlich herrscht bei allen Festen und Festmählern am Artushof höfische Idealität in Bezug auf die materiellen Rahmenbedingungen, die Vielfalt an Speisen und die Art der Bedienung. Diese festliche Idealität schildern Chrétien de Troyes und Hartmann von Aue im Erec und im Iwein. Beide Artusromane beginnen mit der Beschreibung eines Festes. Im Erec-Roman Chrétiens feiert die Artusgesellschaft Ostern und am Hof haben sich die besten Ritter und die schönsten Frauen versammelt. König Artus ruft seine Ritter zusammen, um den weißen Hirsch zu jagen. Der Befehl zur Jagd erregt jedoch den Missfallen Gauvains, der befürchtet, dass die aus der Jagd entstehende Schönheitskonkurrenz unter den Damen Unfrieden am Hof entstehen lässt. Bereits der Aufruf zur Jagd verursacht Unruhe am Artushof und stört die festliche Harmonie. Zwischen Artus und Gauvain entwickelt sich ein Streit, bei dem Artus sich durchsetzt, da er der König ist. Das Machtwort Artus’, des primus inter pares, widerspricht jedoch dem Gleichheitsideal der Tafelrunde. Auch der Iwein-Roman beginnt mit der Feier eines christlichen Festes am Artushof. Im Iwein kontrastieren die idealen festlichen Bedingungen mit dem unhöfischen Verhalten der Artusritter während des Mahls. Während Chrétien das Festmahl zu Pfingsten zwar erwähnt, aber nicht beschreibt, verbindet Hartmann das unhöfische Verhalten der Artusgesellschaft mit der Mahlzeit. So spricht Keie551 berücksichtigt jedoch vor allem die integrative Funktion des Artusfestes und geht weniger auf die Ambivalenzen ein. 550 Albrecht Classen hebt hervor, dass unterbrochene, gestörte oder misslungene Mahlzeiten dazu dienen, die Brüchigkeit der Artusgesellschaft zu spiegeln. Die Störung der höfischen Ordnung geht laut Classen gerade deshalb von den an der Tafelrunde eingenommenen Mählern aus, da diese die Artusgesellschaft symbolisch repräsentiert. Vgl. Classen, Albrecht: The Symbolic Function of Food as Ironic Representation of Culture and Spirituality in Wolfram von Eschenbach‘s Parzival (ca. 1205), S. 321. In: Orbis litterarum 62, 2007, S. 315–335. Laut Erich Köhler sind die tiefen gesellschaftlichen Widersprüche, die die Artusgesellschaft kennzeichnen, strukturelles Element der Artusdichtung, da die costume, die die höfische Ordnung gewährleisten soll, diese gleichzeitig ständig bedroht. Vgl. Köhler, Ideal und Wirklichkeit, S. 92. Zu den Ambivalenzen am Artushof vgl. auch Schulz, Armin: Die Ambivalenzen des Höfischen und der Beginn arthurischen Erzählens. In: Scientia Poetica 13, 2009, S. 1–20; Schmitz, Bernhard Anton: Gauvain, Gawein, Walewein. Die Emanzipation des ewig Verspäteten. Tübingen, 2008, insbesondere S. 25–37. 551 Gerade der Truchsess Keie, einer der prominentesten Vertreter der Artusgesellschaft, der die oberste Aufsicht über die fürstliche Tafel innehat, verkörpert die gesellschaftlichen Ambivalen-
1. Festmähler
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Iwein die Fähigkeit zur mâze ab, als Iwein nach dem Essen anbietet, Kalogrenants während der Brunnenaventiure erlittene Schande zu rächen. Keie beschuldigt ihn daraufhin, infolge des Festmahls übermütig geworden zu sein (V. 815-825): „ez schînet wol, wizzet Krist, daz disiu rede nâch ezzen ist. irn vastet niht, daz hœr ich wol. wînes ein becher vol der gît, daz sî iu geseit, mêre rede und manheit danne vierzec und viere mit wazzer ode mir biere. sô diu katze gevrizzet vil, zehant sô hebet sî ir spil: herre Îwein, alsô tuot ir.“
Das Mahl im Rahmen des Pfingstfestes wird von Keie nicht als Gelegenheit wahrgenommen, feine höfische Manieren vorzuführen, sondern stellt aus seiner Perspektive die Ursache für Prahlerei dar. Keie beschuldigt Iwein, zu viel gegessen und vor allem getrunken zu haben. Dabei macht Keie gerade das höfische Getränk schlechthin, den Wein, verantwortlich für Iweins aus seiner Sicht nicht ernstzunehmendes Hilfsangebot. Keie weist zudem darauf hin, dass die bäuerlichen Getränke, Wasser und Bier, diese schädliche Wirkung nicht besäßen. Darüber hinaus vergleicht er Iweins Verhalten mit dem eines Tieres, der Katze, und spricht Iwein somit nicht nur das höfische, sondern auch das durch Selbstdisziplin gekennzeichnete menschliche Verhalten ab. Während im Erec und im Iwein die festliche Idealität zwar noch propagiert, aber nicht umgesetzt wird, dominiert zu Beginn des Perceval Chrétiens de Troyes das antihöfische Verhalten der Ritter den Artushof. Hier kommt es während der Mahlzeit zum Eklat, als der rote Ritter König Artus im Streit um Ländereien dessen weingefüllten goldenen Becher entwendet und über der Königin entleert. Das Verschütten von Getränken während des Festes ist ein Topos, der die nachfolgende
zen am deutlichsten, indem er beständig gegen die Ordnung verstößt, die er repräsentiert. Vgl. Schulz, Ambivalenzen des Höfischen, S. 5.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
Gewalt einleitet und ankündigt552. Das Vergießen des Weines über die Königin stellt somit nicht nur eine Provokation dar, sondern deutet auch die spätere Gewalt Keus gegen das Mädchen und den Narren sowie den Tod des roten Ritters zeichenhaft voraus. Während Chrétien die Gefährdung jedoch außerhalb der Artusgesellschaft ansiedelt, verlagert Wolfram von Eschenbach sie direkt in ihre Mitte. Bei Chrétiens rotem Ritter handelt es sich um einen Gegner, Artus’ schlimmsten Feind, der dem außerhöfischen Bereich des Waldes von Quinqueroi angehört. Bei Wolfram ist er jedoch ein Verwandter und Mitglied der Artussippe. Im Parzival findet der Streit im Verlauf eines Mahls an der Tafelrunde statt, wobei der von Artus enttäuschte rote Ritter Ither von Gaheviez mit dem Griff nach dem Weinbecher eine rechtliche Geste vollführt, da er seine Ansprüche auf die Bertane geltend machen will. Im Gegensatz zum roten Ritter bei Chrétien stößt er den Becher versehentlich um, woraufhin sich der Wein nicht über die Königin, sondern in ihren Schoß ergießt. Wolfram verleiht der Szene somit eine sexuelle Konnotation, die dadurch verstärkt wird, dass Ginover deutliche Sympathien für Ither zeigt. Der in Ginovers Schoß vergossene Wein kann als Geste der sexuellen Usurpation der Königin gelesen werden, die politisch gesehen einen Angriff auf Artus’ königliche Macht darstellt. Somit ist nicht nur das festliche Mahl gescheitert, sondern auch Artus’ Herrschaft von innen her bedroht553. Dass auch die Artusgesellschaft bei Chrétien eine innere Defizienz aufweist, zeigt sich anhand der Nichtreaktion von König und Hof auf die Provokation des roten Ritters554. Die Ritter setzen die Mahlzeit fort und scherzen und lachen unbekümmert miteinander (V. 907-911), während König Artus isoliert von der Mahlgemeinschaft schweigend und traurig am Kopfende der Tafel sitzt. Während das festliche Mahl im mittelhochdeutschen Parzival innergesellschaftliche Konflikte offenlegt, gelingt jedoch die Bewältigung außergesellschaftlicher Streitigkeiten. So setzen Artus und Gawan beim Fest von Joflanze festliche Mahlzeiten gezielt ein, um einander feindlich gesinnte Parteien zu versöhnen. Gawan 552 Vgl. Schwab, Ute: Weinverschütten und Minnetrinken. Verwendung und Umwandlung metaphorischer Hallenoptik im Nibelungenlied. In: Klaus Zatloukal (Hg.): Das Nibelungenlied und der mittlere Donauraum. Wien, 1990, S. 59–101. 553 Vgl. Schulz, Ambivalenzen des Höfischen, S. 19; vgl. auch Ders.: Der Schoß der Königin. Metonymische Verhandlungen über Macht und Herrschaft im Artsuroman. In: Matthias Däumer/ Cora Dietl/Friedrich Wolfzettel (Hgg.): Artushof und Artusliteratur. Berlin, 2010, S. 119–135. Vgl. auch Trinca, Parrieren und undersniden, S. 189f. 554 Vgl. Schmitz, Gauvain, S. 35.
1. Festmähler
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trägt Orgeluse auf, beim Festmahl mit Parzival zu speisen und ihn zu bedienen (697,12–15): Mit der herzogîn gemeit Parzivâl solt ezzen. Dane wart des niht vergezzen, Gâwân dern befülhe in ir.
Die Tischgemeinschaft gilt als öffentliches Zeichen der Versöhnung und des Friedens von verpflichtendem Charakter555, und wird von Gawan bewusst herbeigeführt, um den Konflikt zwischen Parzival und der Herzogin beizulegen. Obwohl Orgeluse immer noch Groll gegen Parzival hegt, muss sie die Feindschaft infolge der Tischgemeinschaft aufgeben. Am Ende der Begegnung veranstaltet Artus ein großes Festmahl, an dem alle teilnehmen. Nachdem der Frieden bereits erreicht ist, ist dieses Mahl insbesondere darauf ausgerichtet, Freundschaften herzustellen (762,27–763,4): Gâwân und Jofreit ir alten gesellekeit: si âzen mit ein ander. die herzogîn mit blicken glander Mit der küneginne Arnîven az: ir enwedriu dâ niht vergaz, ir gesellekeit wârn sie ein ander vil bereite.
Die Teilnehmer der Tischgemeinschaft bringen ihre alte oder neue Verbundenheit performativ zum Ausdruck, indem sie die Speisen miteinander teilen und sich gegenseitig bei Tisch bedienen. Das Fest von Joflanze integriert dabei vor allem Figuren, die vorher nicht zum Artushof gehörten. Der Artushof zeigt sich somit in der Lage, mittels der Festmähler die äußeren, aber nicht die inneren Krisen abzuwenden. Die innere Instabilität des Artushofes, 555 Vgl. Brüggen, Elke: Inszenierte Körperlichkeit. Formen höfischer Interaktion am Beispiel der Joflanze-Handlung in Wolframs Parzival, S. 220. In: Jan-Dirk Müller (Hg.): „Aufführung“ und „Schrift“ in Mittelalter und früher Neuzeit. Stuttgart, 1996, S. 205–221.
Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
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die insbesondere während der Mahlzeiten zutage tritt, erweist sich als konstitutives Element und integraler Bestandteil einer ambivalenten Artusgesellschaft556. Dabei scheint sich eine kontinuierliche Steigerung abzuzeichnen. Chrétien macht bereits im Erec auf Unstimmigkeiten zwischen Artus, der die Jagd nach dem weißen Hirsch veranstalten will, und Gauvain, der ihm davon abrät, aufmerksam. Hartmann hingegen schildert erst im Iwein das ambivalente Verhalten von Artus und seinem Hof und verbindet dieses direkt mit der Mahlzeit. Während sich Artus mit Ginover nach dem Essen schlafen legt, statt an der Tafelrunde seine Präsenz zu zeigen, berichtet Kalogrenant von einem ritterlichen Misserfolg und Keie verspottet Iwein. Am deutlichsten treten die unhöfischen Elemente jedoch im Parzival auf, wo der Streit zwischen Artus und dem roten Ritter während des Mahls eskaliert.
Tristan: Präsentation gesellschaftlicher Idealität Im Unterschied zu den Artusfesten gelingt bei Markes Maifest im Tristan Gottfrieds von Straßburg die Herstellung sowohl von äußerem Frieden als auch von gesellschaftlicher Stabilität. Marke wird ebenso wie Artus als idealer König eingeführt557 und sein Hof stellt ein attraktives Ziel für den vorbildlich-höfischen jungen Herrscher Riwalin dar. Das Maifest zu Ehren Riwalins verläuft ohne die geringste Störung und zeugt so von Markes Qualitäten als Herrscher und von der Geltung höfischer Ordnung. Neben der höfischen Freude betont Gottfried die materiellen Aspekte des Festes, den Überfluss an Speisen und teuren Kleidern und die kostspielige und großzügige Versorgung der Gäste (V. 603–607): ouch vant man dâ rât über rât, als man ze hôhgezîten hât, an spîse und edeler waete, des iegelîcher haete ze wunsche sich gewarnet dar.
556 Einen aktuellen Forschungsüberblick zur (gestörten) Idealität des Artushofs gibt Friedrich Wolfzettel, Der Artushof. 557 Vgl. Schuhmann, Martin: Sine ira et studio – aber warum? Artus in der Artusliteratur, S. 170. In: Matthias Däumer/Cora Dietl/Friedrich Wolfzettel (Hgg.): Artushof und Artusliteratur. Berlin, 2010, 169–188.
1. Festmähler
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Im Gegensatz zu den Artusdichtern hebt Gottfried zwar den Glanz des Festmahls hervor, geht aber nicht näher auf das Verhalten der Protagonisten während der Mahlzeit ein. Das Festmahl erfüllt im Tristan somit nicht dieselbe gesellschaftskonstitutive oder pazifizierende Wirkung wie das Artusfest und besitzt auch nicht dessen Integrationskraft. Es dient ausschließlich der Repräsentation und der Darstellung von gesellschaftlicher Idealität. Markes Maifest erweist sich als ideales höfisches Fest, das jedoch einen anderen Zweck verfolgt als die Feste in den Artusromanen, wobei das Artusideal von Hof und Gesellschaft aber als Bezugshorizont erhalten bleibt558.
Nibelungenlied: Spiegelung höfischer Ordnung Im Nibelungenlied fungieren die Feste und Mähler als Seismografen für gesellschaftliche Spannungen und zielen weniger auf die Herstellung oder Darstellung von Idealität ab. Darüber hinaus üben die Festmähler vor allem eine pazifizierende Funktion aus, indem sie sowohl der Beendigung als auch der Verhinderung und Abwehr von Gewalt dienen und das Gelingen oder Misslingen höfischer Ordnung und höfischen Friedens veranschaulichen. Das gemeinschaftliche Speisen und Trinken der ehemaligen Gegner bei dem mehrtägigen Friedensfest, das die burgundischen Könige in der 4. Aventiure veranstalten, beendet den Krieg mit den Sachsen und Dänen und stellt den Frieden performativ her. Die besiegten Feinde ziehen als Gäste an den burgundischen Hof, um einen dauerhaften Frieden zu vereinbaren. Die gegnerischen Könige Gunther und Liudeger besiegeln den Friedenspakt per Handschlag, anschließend trinken die einstigen Gegner gemeinsam met und guoten wîn (252,3). Der Konflikt ist somit überwunden und die Burgunden sorgen für die Zeit des Festes für eine Atmosphäre der Gemeinschaft und Freude, indem sie das blutige Kriegsgerät außer Sichtweite schaffen (253) und sich um die Verletzten kümmern (254). Der Dichter inszeniert den Wein und die friedliche Trinkgemeinschaft als direkten Gegen558 Markes Hof zeichnet sich im Gegensatz zum Artushof durch eine auffällige Passivität aus. Dies ist laut Barbara Haupt darauf zurückzuführen, dass sich die festliche Handlung auf die Begegnung zwischen Riwalin und Blanscheflur konzentriert, während der Hof nur eine Zuschauerfunktion übernimmt. Das Fest fungiert im Tristan somit als höfische Kulisse für die Minne und verliert dabei im Vergleich zum Artusfest an politischer und sozialer Bedeutung. Vgl. Haupt, Das Fest, S. 254f. Das Maifest dient dabei allerdings nicht nur als bloßer Rahmen, sondern als Rahmenbedingung für die Minne zwischen Riwalin und Blanscheflur. Vgl. Haupt, Das Fest, S. 263.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
satz zu Blut und Kampf. Zuletzt verteilt Gunther großzügige Geschenke und lädt zu einem großen Fest ein. Dieses gelungene zwölftägige Fest findet an Pfingsten statt und stellt einen Akt der Präsentation höfischer Ordnung und höfischen Friedens dar. Gunther erweist sich als vorbildlicher Gastgeber, indem er die Gäste mit bester spîse (309,2) versorgt. Im Anschluss an das gemeinsame Mahl bestätigen beide Parteien den Friedensschluss (311), wobei Gunther auf Siegfrieds Rat hin auf Reparationszahlungen verzichtet. Der Friedensschluss wird auf diese Weise nicht an materielle Bedingungen geknüpft559, sondern an das zeichenhafte Handeln, den Handschlag und das gemeinsame Mahl. Während bei dem Siegesfest nach dem Krieg das Festmahl als Besiegelung des Friedenspaktes fungiert, dient die Trinkgemeinschaft im Nibelungenlied der Prävention von Gewalt und besitzt dieselbe Verbindlichkeit wie das gemeinsam eingenommene Mahl560. Sie erfüllt eine integrative Funktion und ist darauf ausgerichtet, Fremde in bestehende Gemeinschaften aufzunehmen und somit Frieden herzustellen und zu wahren. Dies geschieht, als Siegfried am Wormser Hof eintrifft und von Gunther Land und Burgen fordert. Ortwin von Metz geht zunächst auf Siegfrieds Provokation ein und verlangt lautstark nach Schwertern, um die Ritter aus Niederland anzugreifen. Gernot verhindert den Ausbruch von Gewalt jedoch, indem er Siegfried willkommen heißt und den Gästen Wein bringen lässt (126). Durch das Ausschenken von Wein als Geste der Gastfreundschaft und des Friedens wird das Wortgefecht zwischen Siegfried und den Burgunden gewaltlos beendet. Diese nonverbale Geste des gemeinsamen Weintrinkens wird sowohl von den Niederländern als auch von den Burgunden verstanden und beide Seiten geben ihre Aggressionen auf. Ähnlich wie Siegfried in Worms ergeht es den Burgunden am Hof von Brünhild, als Hagen es trotz dringender Aufforderung ablehnt, seine Waffen abzulegen. Siegfried wiederholt schließlich die Bitte der Burgbewohner, woraufhin sich Hagen von Schwert und Rüstung trennt. Erst nachdem Hagen seine Waffen abgelegt hat, erhalten die Gäste einen Trunk und werden versorgt (408,1). Das gemeinsame Trinken kommuniziert somit zeichenhaft, dass die Beteiligten die am Hof gültigen Regeln anerkennen und einhalten. 559 Vgl. auch Haupt, Das Fest, S. 194. 560 Zur Zeichenfunktion der Trinkgemeinschaft vgl. auch Rader, Olaf B.: Becher oder Tod. Richtig und falsch verstandene Zeichen bei Tisch, S. 114. In: Lothar Kolmer (Hg.): Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen. Beiträge des internationalen Symposions in Salzburg, 29. April bis 1. Mai 1999. Paderborn, 2000, S. 113–123.
1. Festmähler
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Die hohe Bedeutung der Trinkgemeinschaft zeichnet sich ab, als die Burgunden zu Kriemhilds Fest an den Etzelhof reisen. Der später ausbrechende Konflikt kündigt sich durch wiederholte Verstöße gegen das höfische Protokoll an, als Kriemhild es versäumt, den Burgunden einen Willkommenstrunk auszuschenken. Durch eine zuvorkommende Bewirtung gelingt es Etzel, die höfische Ordnung vorübergehend wiederherzustellen. Die Ausübung des höfischen Habitus und die Einhaltung des höfischen Protokolls bewirken Frieden und Gemeinschaft.
Willehalm: Bewältigung innerer und äußerer Krisen Im Willehalm beschreibt Wolfram von Eschenbach anhand zweier Festmähler eine Gesellschaft, die sowohl äußeren Gefährdungen, wie Krieg, als auch inneren Gefährdungen, wie höfisch-herrschaftlichen Krisen, ausgesetzt ist. Der Willehalm schildert zwei große Feste, die die verschiedenen Formen der Gefährdung der höfischen Gemeinschaft thematisieren: Beim Hoftag in Laon ist die Gesellschaft aufgrund herrschaftlich-familiärer Konflikte von innen her bedroht und beim Fest in Orange durch Krieg und die damit einhergehende Verwüstung und Zerstörung von außen. Bei beiden Festen gelingt die Abwendung der Krise, wodurch die höfische Gemeinschaft, ihre Werte und Umgangsformen bestätigt werden. Beide Feste stellen jeweils ein Festmahl in ihren Mittelpunkt, anhand dessen sich zeigt, auf welche Weise die höfischen Akteure mit den unterschiedlichen Formen der Bedrohung umgehen. Beim Hoftag in Laon kommt es während des Festmahls zum Eklat, als der französische König Ludwig sich weigert, Willehalms Forderung nach Unterstützung im Kampf gegen die Heiden zu erfüllen. Der Streit zwischen Willehalm und Ludwig und die Trauer um Vivianz werden durch die Ankunft der Fürsten unterbrochen, die zum Hoftag angereist sind. Von Heimrich an seine Pflichten als Gastgeber erinnert, bewirtet Ludwig seine Gäste und trägt dabei Sorge für die strenge Einhaltung des höfischen Zeremoniells bei Tisch (173,20-24): seht wie ir mine werde man wol setzet, und nemet des war daz ir dies und die hohen gar setzet nach minen eren: ir sult iuch selbe leeren.
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Willehalm bringt diese sorgfältig arrangierte Hierarchie durcheinander, indem er die Aufforderung, sich zu Irmschart zu setzen, zurückweist und stattdessen darauf besteht, dass sein Gastgeber, der Kaufmann Wimar, an seiner Seite speist561. Mit dieser Forderung, die Wimar auszeichnet, erinnert Willehalm außerdem an die schlechte Gastfreundschaft des Königs und betont gleichzeitig den Verlust seiner ehemaligen Tischgenossen, die im Kampf von Tybalt getötet wurden (175, 26–29). Die permanenten Anspielungen auf die Schlacht von Alischanz und Gyburcs Situation in Orange kontrastieren mit der festlichen Situation. Auch beim Festmahl kommt keine Freude auf. Zum gemeinsamen Mahl lässt der König erlesene exotische Speisen auf höfische Weise aufgetragen (173,27-39): mit spæhem getihte wunderlichiu tischgerihte man uf ze vier orten truoc und gap mit zuht da nach genuoc.
Doch das höfische Mahl kann seine integrative Funktion trotzdem nicht erfüllen. Willehalm isoliert sich von der Tischgemeinschaft, indem er nicht am Festmahl partizipiert, sondern nur Schwarzbrot und Wasser zu sich nimmt (176,10–177,10): der marcrave niht mere neheiner spise gerte, niuvan swarzez brot er merte in ein wazzer, swenne er tranc.
Da seine Tischgenossen jedoch nicht über seinen Schwur562 Bescheid wissen, wundern sie sich über sein asketisches Verhalten bei Tisch. Während des Festmahls wendet sich Willehalm erneut an Ludwig, wobei er darauf spekuliert, dass dieser ihm nach dem Essen eher etwas verspricht, das er ihm mit nüchternem Magen abschlägt (177,15-20): Er dahte: „nu ist der künes sat: des in diu küneginne hiute bat, 561 Vgl. Kapitel zur Gastfreundschaft. 562 Vgl. Kapitel zu Fasten als Akt der Intimität.
1. Festmähler
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er beginnets uns nu lihte wern. ich wil genade und hilfe gern. daz trunken houbt lihte tuot des nüehter man gewan nie muot“.
Willehalm vertraut hierbei jedoch nicht auf die gemeinschaftsstiftende und rechtliche Wirkung von Fest und Mahl, sondern mutmaßt, dass der reichliche Genuss von Speisen und Wein den König großzügiger und mutiger stimmt563. Willehalm rechnet außerdem damit, dass Ludwig ihm, wenn er sein Hilfegesuch bei dem Mahl als einem Ort des Rechts öffentlich äußert, seine Unterstützung später nicht mehr versagen kann. Ludwig ist jedoch nicht gewillt, sie ihm sogleich zu geben und Willehalm reagiert auf die Abweisung durch den König mit einer Drohgebärde, indem er seinen Platz verlässt und über den Tisch springt. Einerseits stellt der wilde Sprung über den Tisch eine aggressive Geste dar, die den Frieden der Tischgemeinschaft stört und unter den Teilnehmern der Mahlzeit Aufruhr erregt, da sie allgemein als Bedrohung des Königs empfunden wird (182,2–10). Andererseits stellt der Tisch einen Ort des Rechts dar, das Willehalm vom König einfordert. Im Vordergrund von Fest und Festmahl in Laon stehen die familiären Konflikte und die höfisch-herrschaftliche Krise. Das Festmahl versagt hierbei in seiner Funktion, festliche Freude und Gemeinschaft herzustellen und stellt auch keine Gewährleistung für die Durchsetzung von Recht dar. Stattdessen legt es die innere Instabilität am Hof offen564. Dennoch gelingt die Versöhnung am Ende des Festes, der Konflikt wird beigelegt, letztendlich kann die höfische Ordnung der Krise widerstehen. Während Wolfram in der Laon-Episode die Verhandlung innerer Konflikte bei idealen äußeren Bedingungen schildert, findet das Fest in Orange unter umgekehrten Umständen statt. In Orange beschreibt Wolfram eine ideale Gemeinschaft, die angesichts des drohenden Krieges und hoher Verluste ein Festmahl abhält, das 563 Dieser Gedankengang erinnert an Keies Äußerung im Iwein, der ebenfalls unterstellt, dass ein voller Bauch und der Genuss von Wein einen Ritter zu vorschnellen Hilfeversprechen veranlassen. 564 Vgl. Haupt, Das Fest, S. 244. Während Barbara Haupt versucht, das Misslingen des Festes in Laon mit der Emotionalisierung der Atmosphäre zu erklären, verweist Regina Toepfer darauf, dass Motivationsdefizite im Willehalm häufig durch eine paradigmatische Betrachtungsweise erhellt werden können. So erwiesen sich die problematischen Figurenkonstellationen und familiären Konflikte charakteristisch für das Werk. Vgl. Toepfer, Regina: Enterbung und Gotteskindschaft. Zur Problematik der Handlungsmotivierung im Willehalm Wolframs von Eschenbach, S. 81. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 129 (2010), S. 63–81.
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die Gemeinschaft stärkt, die Treuebindungen festigt und die Krieger ermutigt. Ludwig sagt Willehalm schließlich seine Unterstützung im Kampf gegen die Heiden zu und die Franzosen ziehen nach Orange. Nach ihrer Ankunft beschließt Willehalm ein Festmahl in seinem Palast Glorjet zu veranstalten. Er befürchtet jedoch, dass nicht genug Vorräte vorhanden sind, um alle angemessen zu bewirten: „nu ist liute und spise mir verbrant,/daz ich der wenic inne vant.“ (234,21f). Die Ausgangslage in Orange, Krieg, Verwüstung, Tod und Lebensmittelknappheit, bietet nicht die idealen Voraussetzungen für ein gelungenes Fest. Gyburc weist jedoch darauf hin, dass die Heiden genügend Speisen und Getränke zurückgelassen haben (264,14-19). Willehalm lädt daraufhin jeden seiner Gäste einzeln zum Essen ein (245,27-30): im wære ein teil noch unverbrant, swie wære unverwüestet al daz lant: des solten si mit im da leben, und er woltz in willeclichen geben.
Willehalm beweist echte Treue und Gastfreundschaft, indem er sich bereit zeigt, das Wenige, was ihm geblieben ist, mit den Gästen zu teilen. Das Teilen der verbliebenen Speisen, die gemeinsame Befriedigung des existenziellen Bedürfnisses nach Nahrung, schafft eine besondere Verbundenheit. Wolfram hebt das Motiv der geteilten Nahrung im weiteren Verlauf besonders hervor, indem er es noch zweimal wiederholt. Die Franzosen anerkennen die symbolische Geste, die diese Einladung darstellt, und ziehen nur mit kleinem Gefolge zum Palas, um ihrem Gastgeber nicht zu sehr zur Last zu fallen. Wolfram betont zudem das Ideal der mâze, das die Franzosen verkörpern: Sie sind nicht gitic (246,13), außer nach Ruhm, und hätten auf die Bewirtung auch ganz verzichtet, da ihnen die Lebensmittelknappheit im Land bekannt ist. Da Willehalms Truchsessen und Schenken von den Heiden getötet wurden, überlässt er es Heimrich und seinen Dienstleuten, die Tischordnung zu arrangieren. Im Mittelpunkt der Mahlzeit steht die Gemeinschaft von Heimrich und Gyburc, die zusammen speisen und sich dabei an höfischer Zurückhaltung gegenseitig übertreffen (265,22–266,5): diu zwei azen kleine, von maneger vrage diu da geschach
1. Festmähler
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umb der küneginne ungemach, daz er von herzen klagete do siz im undersagete. niht anders si sich nerte, wan daz si et vröude zerete mere danne ir selber spise. daz widerriet der wise. Do man uf dem palas vil gap unt genuoc gegeben was, Heimrich der alders blanke und niht des muotes kranke az minner denne ein ander man.
In mehrfacher Hinsicht verläuft dieses Festmahl komplementär zu demjenigen in Laon. In Laon wie in Orange werden reichlich Speisen aufgetischt, wodurch dem höfischen Protokoll Genüge getan wird. Während der Hoftag in Laon jedoch lange vorausgeplant und organisiert wurde, ist das Fest in Orange mehr oder weniger improvisiert. Nur mit Mühe können ausreichend Speisen herbeigeschafft werden. Dafür betont Wolfram immer wieder die Ausübung höfischer Verhaltensweisen, insbesondere die Demonstration höfischer Gesinnung und höfischer maze, während in Laon nur das höfische Protokoll erfüllt wird. Während Willehalm als ungebetener Gast in Laon nicht nur aufgrund seines asketischen Essverhaltens isoliert bei Tisch sitzt, nimmt Heimrich als Gyburcs gedienter vater (268,7) mitfühlend Anteil an ihrem Schicksal. Im Gegensatz zum Festmahl in Laon, bei dem Willehalm und später auch seine Verwandten König Ludwig die Hilfezusage regelrecht abnötigen müssen, bilden Fest und Mahl in Orange den Rahmen für gegenseitige Treuebekundungen und Hilfeversprechen. So sagt Heimrich Gyburc für die Zukunft seine Unterstützung zu, während sie ihm ihre Treue und Loyalität versichert. Gleichzeitig wiederholt sie Willehalms Angebot, die verbliebene Nahrung zu teilen, wodurch die Treueverbindung zeichenhaft besiegelt wird (262,20-23): unser habe, iuwers sunes guot, daz wir vil kume erwerten, ungerne wirz verzerten ane iuch und ane die den irz gebt.
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Das Teilen der vor den Feinden geretteten Nahrung ist von einer derartigen Bedeutsamkeit, dass Heimrich, der die Rolle des Gastgebers übernimmt, die Gäste während des Essens erneut auf die Besonderheit der geteilten Speisen hinweist (263,30-264,3): Er bat siz willeclichen nemen: swaz wurde alda von in verzert, daz heten vrouwen hende erwert gein starker viende überlast.
Durch das Teilen der bitter verteidigten Nahrung entsteht eine ideale höfische Tischgemeinschaft, die sich durch Freude und maze auszeichnet. Wolfram betont die höfische Gesinnung der Teilnehmer, die viel wichtiger ist als die im Überfluss vorhandenen höfischen Speisen und der Wein (265,6-13): da ergienc ein dienest zühte rich von den die ez vür truogen. an nihte si gewuogen daz da dehein zadel möhte sin. moraz, claret und win si heten, und spise guot. doch was ir williger muot vil bezzer danne diu spise gar.
Die Forschung hat das Fest in Orange lange Zeit unter den Aspekten der Trauer und Klage betrachtet565. Diese sind zwar Teil der Handlung, die kollektive Demonstration von Trauer ist aber zeitlich vor dem Festmahl angesiedelt. Die kriegerische Bedrohung und die Trauer über den Verlust der Angehörigen sind auch während des Mahls immer präsent, es gelingt der Gemeinschaft jedoch, auf die richtige Art und Weise mit dieser Gefährdung umzugehen. So bittet Heimrich Gyburc, als ihr während der Mahlzeit die Tränen kommen, diese zu verbergen und sich unbeschwert und fröhlich zu geben (268,7–12): do sprach ir gedienter vater hin ze ir alsus mit zühten bater 565 Vgl. Haupt, Das Fest, S. 245.
1. Festmähler
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daz si ir weinen lieze sin verholen: da solten kurzwile dolen der wirt und sine geste ane jamers überleste.
Heimrich will durch seine Bitte verhindern, dass die Krieger angesichts von Gyburcs Kummer den Mut verlieren. Auf diese Weise hat das Verhalten während der Mahlzeit politische Auswirkungen. Das gelungene Festmahl in Orange trägt somit zum Sieg gegen die Heiden in Alischanz bei, indem es durch Treue und höfische Freude die Gesellschaft im Inneren stärkt. Festmähler dienen in der mittelhochdeutschen Epik dazu, die höfische Gesellschaft zu spiegeln, und besitzen daher das Potenzial, gesellschaftliche Gegebenheiten zeichenhaft abzubilden und innere Konflikte und Störungen der höfischen Ordnung offenzulegen. In den Artusromanen erfüllen die Festmähler die paradoxe Funktion, höfische Idealität zu postulieren und gleichzeitig die unüberwindbaren inneren Widersprüche und Gegensätze, die die Artusgesellschaft auszeichnen, zu offenbaren. So schildern Hartmann von Aue und Wolfram von Eschenbach ausführlich die festliche Pracht und den prunkvollen Überfluss in den Artusromanen, erwähnen jedoch auch Streitigkeiten zwischen den Artusrittern und vermitteln implizit die gesellschaftliche Hierarchie, die im Gegensatz zur Philosophie der Tafelrunde steht, so wie das wenig repräsentative Verhalten von König Artus, der während des Festes schlafen geht. Stärker noch als die mittelhochdeutschen Dichter hebt Chrétien de Troyes die Unstimmigkeiten am Artushof hervor. Im Unterschied zu den inneren gelingt dem Artushof jedoch stets die Abwendung der äußeren Bedrohungen mittels des gemeinschaftlichen Festmahls. Der Tristan Gottfrieds von Straßburg rezipiert dieses in der Artusepik etablierte festliche Ideal, jedoch ohne dessen negative Implikationen, und nutzt es als Raumkulisse für Markes Maifest. Das Fest dient somit ausschließlich der Darstellung von höfischer Idealität; im weiteren Verlauf des Romans werden aufgrund der Störung der höfischen Ordnung keine Feste mehr beschrieben. Im Nibelungenlied wiederum wird eine Reihe von Mählern geschildert, bei denen die Umsetzung der höfischen Ordnung immer schlechter gelingt. Die ersten im Epos beschriebenen Festmähler fungieren dabei als positive Kontrastfolie zu allen späteren Festen. Die Feste und Festmähler dienen im Nibelungenlied ebenso wie in der Artusdichtung dazu, die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu spiegeln. Während die gesellschaftliche Instabilität, die bei den Artusfesten offengelegt
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wird, der Artusgesellschaft inhärent ist und nicht erklärt wird, beruht die Störung der höfischen Ordnung im Nibelungenlied jedoch auf konkreten Ereignissen; der Standeslüge und dem ersten Brautwerbungsbetrug. Die Festmähler spiegeln somit keine generelle Instabilität, sondern die Verletzung des ordo durch Siegfried und Gunther. Solange die höfische Ordnung jedoch umgesetzt wird, können die Festmähler ihre friedens- und gemeinschaftsstiftende Funktion erfüllen. Auch im Willehalm können Festmähler nicht gelingen, wenn ungeklärte gesellschaftsinterne Konflikte vorliegen. Solange sich Willehalm nicht der Unterstützung für Gyburc durch Ludwig und die Franzosen sicher ist, kann er beim Festmahl keine fröhliche Stimmung empfinden und stört die festliche Harmonie. Hinzu kommt, dass er keine höfischen Speisen verzehrt und nicht bereit ist, sich die Rostspuren vom Gesicht zu waschen. Willehalm boykottiert somit gewissermaßen das Gelingen des höfischen Festes. Umgekehrt gelingt es der französischen Gesellschaft jedoch, auch unter suboptimalen Bedingungen ein Fest auszurichten, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt und die höfische Ordnung bestätigt.
1.2. Antifest: Nibelungenlied Fest und Festmahl fungieren in der mittelhochdeutschen Epik als Zeichen höfischer Ordnung und intakter Gemeinschaft566 und die gemeinsame festliche Mahlzeit gilt als Ritual des Friedens und der Verbundenheit. Seine friedensstiftende Funktion kann das Mahl jedoch nur solange bewahren, wie die gesellschaftliche Ordnung eingehalten wird. Dialektisch beinhaltet die Definition des Mahls als Zeit des Friedens und der Gemeinschaft jedoch bereits die Möglichkeit von Konflikt und Krise. So zeichnet sich das Festmahl nicht nur durch seine integrative und pazifizierende Wirkung aus, es ist auch besonders anfällig für Störungen der sozialen Ordnung567. Gerd Althoff weist darauf hin, dass Mähler ihre gemeinschaftsstiftende Wirkung manchmal verfehlten und zum Gegenteil führten, weil sie heimtückisch dazu benutzt wurden, arglose und unbewaffnete Teilnehmer zu überwinden und umzubringen568. Olaf Rader betont, dass es in der Geschichte 566 Vgl. Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen, 1998, S. 424. 567 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 424. 568 Vgl. Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im früheren Mittelalter, S. 204.
1. Festmähler
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viele Beispiele dafür gibt, dass Gastgeber bewusst den Glauben ihrer Gäste an pax und amicitia durch gemeinsames Essen und Trinken ausgenutzt haben569. Auch in der Literatur stellen diese hinterlistigen Einladungen zur Mahlgemeinschaft ein beliebtes Motiv dar570. Im Nibelungenlied erfüllen die Feste und Mähler den Zweck, Störungen der höfischen Ordnung sichtbar werden zu lassen. Indem der Dichter Parallelen zwischen den gelungenen und den misslungenen Festen herstellt, fungieren die gelungenen Mahlzeiten als höfische Schablonen, die das destruktive Potenzial der späteren Feste offenlegen571. Dadurch heben sich die misslungenen Mähler kontrastiv von den gelungenen Festen ab. Der Dichter baut die Kontraste aus, indem er systematisch Elemente des höfischen Festes in ihr Gegenteil verkehrt. Der Untergang der Burgunden ist in den Rahmen eines großen Festes eingebunden, und alle Feste verweisen bereits auf dieses Ende. Im Verlauf der Handlung zeichnet sich eine Entwicklung ab. Zunächst spiegelt sich das Misslingen höfischer Ordnung in der Störung des Protokolls und in Regelverletzungen während der Mahlzeit. Beim Hochzeitsmahl von Gunther und Brünhild und beim Fest in Worms stellt das Misslingen der Mahlgemeinschaft zwar das Resultat der verletzten Ordnung dar und weist auf sie zurück, aber der Verstoß gegen die herrschende Ordnung ist noch räumlich und zeitlich vom Festmahl getrennt. Bei der Jagd im Waskenwald stellt das Mahl schließlich selbst den Ort des Rechtsverstoßes dar und die Gewalt wird in das Fest integriert. Der in die Mahlgemeinschaft verlagerte Rechtsbruch gilt als besonders verwerflich, gerade da das Mahl erklärtermaßen Frieden, Ordnung und Recht symbolisiert572. Der Bezug von Mahl und Gewalt fungiert somit als stilistisches Mittel, um die Intrige und die Hinterlist zusätzlich als grausam und unrechtmäßig hervorzuheben. Am Etzelhof sind die Festmähler schließlich der Ort der Eskalation von Gewalt, sodass sich die Funktion des Mahls in ihr Gegenteil verkehrt und die gemeinschaftlichen Mähler nicht mehr Frieden, sondern Kampf und Tod bewirken.
569 Rader, Becher oder Tod, S. 120. 570 Vgl. Hennig, Ursula: Hinterlistige Einladungen. In: Fritz Peter Knapp (Hg.): Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Heidelberg, 1987, S. 61–77. 571 Brüggen, Elke: Räume und Begegnungen. Konturen höfischer Kultur im Nibelungenlied, S. 184. In: Joachim Heinzle/Klaus Klein/Ute Obhof (Hgg.): Die Nibelungen. Sage – Epos – Mythos. Wiesbaden, 2003, S. 161–188. 572 Vgl. Althoff, Der frieden-, bündnis- und gemeinschaftstifende Charakter des Mahles, S. 22.
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Störung höfischer Ordnung Durch den Brautwerbungsbetrug an Brünhild ist die höfische Ordnung nachhaltig gestört. Diese vor der Öffentlichkeit verborgene Störung macht sich im weiteren Verlauf des Epos zunehmend bemerkbar. Bereits während der Doppelhochzeit tritt die vor der Öffentlichkeit verborgene Störung zutage. Die Sitzordnung während des Hochzeitsmahls legt Siegfrieds wahre soziale Identität offen und bildet den Anlass für Brünhilds Tränen, die das höfische Zeremoniell unterbrechen und die höfische Freude stören573. Brünhilds Einladung an Siegfried und Kriemhild nach Worms zehn Jahre später dient nicht dazu, Brünhilds Sehnsucht nach ihren Verwandten zu stillen, sondern erfolgt aus der Absicht, herauszufinden, warum Siegfried Gunther keine Lehnspflichten leistet. In Niederland resultiert Siegfrieds Einladung an die burgundischen Boten, die er, als diese abreisen wollen, zum neuntägigen Bleiben nötigt, nicht aus höfischer Gastfreundschaft. Vielmehr benötigt Siegfried die Zeit, um sich bei seinen Freunden politischen Rat über die Einladung nach Worms einzuholen. In Worms wiederum mischt sich in die Vorbereitungen der Speisen für das Fest durch die Truchsesse, Mundschenken und Küchenmeister Hagens Interesse am Nibelungenhort. Die Festvorbereitungen sind also sowohl von nibelungischer als auch von burgundischer Seite mit Berechnung und Hintergedanken verbunden. Die spätere Hinterlist ist hier bereits angelegt und das Mahl stellt schließlich den Ort dar, der die Störung aufdeckt. Die Verwirrung der höfischen Ordnung setzt sich beim Festmahl in Worms fort. Als Siegfried und Kriemhild schließlich am Hof von Burgund eintreffen, findet ein Festmahl zur Begrüßung statt und Siegfried wird auf seinen alten Platz am Tisch neben Gunther gebeten. Siegfrieds Position bei Tisch verschärft Brünhilds Unsicherheit hinsichtlich seiner sozialen Stellung (803). Später am Abend trinken die Helden gemeinsam. Dabei verschütten sie einen großen Teil des Weins auf ihre kostbare Kleidung, sodass die Schenken beständig für Nachschub sorgen müssen (804,1-3): An einem ábendé, dâ der künec saz, vil der rîchen kleider wart von wîne naz, dâ die schenken solden zuo den tischen gân.
573 Vgl. Kapitel zur verdoppelten Initiation.
1. Festmähler
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Trinkgemeinschaften sind ein häufig wiederkehrendes Motiv im Nibelungenlied. Den Referenzpunkt für jede Trinkgemeinschaft stellen die gelungenen Feste und Begrüßungen dar, bei denen guter Wein dauerhafte Freundschaft stiftet. Im Verlauf der Handlung kommt es zu vielfältigen Variationen der Trinkgemeinschaft, wobei der gemeinschafts- und bündnisstiftende Sinn der Trinkgemeinschaft nach und nach destruiert und schließlich pervertiert wird. Indem bei der abendlichen Trinkgemeinschaft in Worms ein großer Teil des Weins nicht genossen, sondern verschüttet wird, ist die Trinkgemeinschaft zwar noch vorhanden, sie ist jedoch verzerrt. Im Motiv der „Weinverschüttung“ erkennt Ute Schwab ein Spiel des Dichters mit altheroischen Elementen574, das den Umsturz der höfischen Ordnung und Ruhe bedeutet, und Kampf und Blutvergießen ankündigt und einleitet575. Die misslungene Trinkgemeinschaft legt die Störung der höfischen Ordnung offen und deutet die kommenden Ereignisse voraus. Das Bild, das die Ritter in ihrer vom Wein nassen und rotgefärbten Kleidung bieten, präfiguriert den Mord an Siegfried und den Burgundenuntergang, indem es sich als Spiegelbild jener Ritter erweist, deren Kleidung von Blut getränkt ist. Die bald vom Wein, bald vom Blut rotgefärbte Kleidung bildet ein festliches Paradigma: Nach dem Mord an Siegfried spritzt das Blut aus seinem Herz bis an Hagens Kleidung (981) und am Etzelhof jagt Dankwart den Burgunden einen Schreck ein, da er vor Blut trieft. Dankwart beruhigt die Ritter jedoch damit, dass das Blut bloß auf seiner Kleidung ist (1956). Beim Fest am Burgundenhof handelt es sich noch um Wein, der aber metaphorisch bereits auf das Blut verweist. Symbolisieren Wein und Trinkgemeinschaft Frieden und Gemeinschaftlichkeit, so bezeichnet das Blut die Gewalt und die ungesühnte Rechtsverletzung576. Im Folgenden werden Rechtsbruch, Gewalt und Mord in das höfische Fest verlagert, sodass Wein und Blut sich vermischen und austauschbar scheinen. Während beim Fest in Worms noch Wein getrunken und verschüttet wird, so fehlt der Wein bei der Jagd im Waskenwald ganz und an seine Stelle tritt das Blut.
Misslingen höfischer Ordnung
Im Waskenwald bildet das höfische Vergnügen der Jagd den Rahmen für den Mord an Siegfried, wodurch der Sinn der Jagd in mehrfacher Hinsicht pervertiert wird. 574 Vgl. Schwab, Ute: Weinverschütten und Minnetrinken. 575 Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 72. 576 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 431.
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Die Jagd stellt als adelige Beschäftigung einen Teil des Festes dar und dient dazu Freundschaften oder vorbereitete Bündnisse zu festigen. Als Friedensfest soll sie den angeblich abgesagten Krieg ersetzen577. Die Jagd ist als Spiel definiert, bei dem sich die Gewalt nach außen, gegen die als unterlegen wahrgenommene Natur, richtet578. Es findet jedoch eine Umkehrung von Friedensfest in Mordintrige, von Spiel in Ernst und von Tierjagd in Menschenjagd statt. Siegfried stellt von Anfang an die eigentliche Jagdbeute dar. Als ein tier, daz si sluogen (1002,3), beweinen ihn später die Frauen. Siegfried stirbt nicht wie ein Ritter im Kampf, sondern wie ein Tier, das aus dem Hinterhalt überrascht und ohne Möglichkeit zur Gegenwehr niedergestreckt wird579. Während der Jagd demonstriert Siegfried noch einmal seine Überlegenheit. Seine Fähigkeiten muten jedoch eher animalisch als höfisch an, da er die Tiere an Schnelligkeit und Stärke überbietet580. Er erlegt mehr Tiere im Wald als irgendjemand sonst: Wildschweine, Löwen, Wisente, Elche, Auerochsen und Hirsche. Die Jagd ist auf diese Weise als ein Massensterben der Tiere inszeniert und Siegfried zieht mehr mordend als jagend durch den Wald581. Schließlich bitten ihn seine Jagdgefährten noch einige Tiere am Leben zu lassen, da sonst der Wald leer wäre (940). Das Erlegen der Tiere dient jedoch nicht der Nahrungsbeschaffung und zeugt auch nicht von höfischer Jagdkunst wie der bast im Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. Die Tötung der Waldtiere hat mehr eine grausame als eine höfische Konnotation. Das Blutvergießen erweist sich als ein Menetekel, das das spätere Geschehen, Siegfrieds eigenen Tod und den Burgundenuntergang, vorausdeutet. Den Höhepunkt der Jagd stellt das Festmahl dar, für das reichlich Proviant mitgeführt wird: Beladene Pferde tragen Brot und Wein, Fleisch und Fisch und andere Vorräte. Hinzu kommt noch das während der Jagd erbeutete Wildbret, das die Jäger gleich verzehren wollen. Außerdem begleiten Hofpersonal und Köche die Jagdgesellschaft. Die Mahlzeit im Wald wird auf diese Weise nicht als Picknick, sondern als prachtvolles höfisches Festmahl inszeniert. Gunther lässt verkünden, dass er speisen will und ein Hornsignal ruft die Jäger zusammen. Siegfried fängt unterwegs einen Bären, den er zur Unterhaltung der Jagdgesellschaft mitnimmt. Die Belustigung der Jagdgesellschaft misslingt jedoch; Siegfried lässt den Bären im Hoflager los, dieser rennt verwirrt in die Küche und 577 578 579 580 581
Vgl. Müller, Spielregeln, S. 425. Vgl. Müller, Spielregeln, S. 425. Vgl. Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied. Stuttgart, 1997, S. 219. Vgl. Müller, Jan-Dirk: Das Nibelungenlied. Berlin, 2005, S. 160. Vgl. Ehrismann, Otfried: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. München, 2002, S. 102.
1. Festmähler
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vertreibt die Küchenjungen. Die Kessel werden umgestoßen, das Herdfeuer zerstreut und die Speisen fallen zu Boden (959,4): hey waz man guoter spîse in der aschen ligen vant! Das Mahl wird gestört, bevor es überhaupt anfangen kann. Das Verschütten von Getränken und Speisen steht dem Zutrinken bei festlichem Anlass als Symbol der intakten Ordnung und als Zeichen des Friedens kontrastiv gegenüber582 und fungiert somit als Zeichen für die Verletzung der höfischen Ordnung. Wie der verschüttete Wein kündigen auch die verschütteten Speisen das drohende Unheil an. Diese Störung wird jedoch schnell behoben. Siegfried tötet den Bären und das Mahl kann beginnen (963,4): hey waz man rîcher spîse den edeln jegeren dô truoc! Als sich die Ritter zu Tisch setzen und die Speisen aufgetragen werden, fehlt jedoch der Wein. Das Festmahl ist somit unvollständig und Siegfried verleiht seiner Unzufriedenheit Ausdruck (965): Dô sprach der herre Sîfrit: „wunder mich des hât, sît man uns von der kuchen gît sô manigen rât, warumbe uns die schenken bringen niht den wîn. Man enpflége baz der jegere ich enwil niht jagetgeselle sîn.“
Der Wein ist ein fester Bestandteil von elementarer Wichtigkeit bei jeder höfischen Mahlzeit. Durch das Fehlen des Weins ist nicht nur das Mahl misslungen, es kann auch keine Trinkgemeinschaft mehr zustande kommen. An die Stelle der Trinkgemeinschaft rückt der Durst als körperliches Bedürfnis583, das einen Ausdruck mangelnder höfischer Umgangsformen darstellt, da sich die höfische Gesinnung bei Tisch gerade durch die Disziplinierung körperlicher Bedürfnisse definiert. Die mit großem Aufwand ausgerichtete höfische Tischgemeinschaft ist somit zur bloßen Essgemeinschaft verkommen; Siegfried quält der Durst und er lässt die Tafel früher aufheben. Durch das Fehlen des Weins sind Mahl und Mord kausal aufeinander bezogen und Hagen ist der Verantwortliche für beides. Der hinterhältige Mord an Siegfried ereignet sich vor einer Kulisse des höfischen Friedens. Quelle und Linde bilden einen locus amoenus und Siegfried beweist hier seine höfische Gesinnung, indem er seinen Durst beherrschen kann und Gunther den Vortritt lässt. Für sein höfisches Verhalten muss er aber bezahlen: Do engalt er sîner zühte (980,1). Während Gunther trinkt, trägt Hagen Siegfrieds Waffen beiseite 582 Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 61. 583 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 426.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
und nimmt sich den Speer. Als Siegfried sich selbst zum Trinken neigt, schießt Hagen von hinten, sodass der Speer in Siegfrieds Herz stecken bleibt und sein Blut auf Hagens Kleidung spritzt. Der Ausbruch von Gewalt und die Perversion höfischer Ordnung stehen in engem Zusammenhang. Der Hinterhalt ist nicht nur in die Jagd integriert, sondern wird ausdrücklich erst durch Siegfrieds höfisches Verhalten ermöglicht. Wieder kommt eine verzerrte Form der Trinkgemeinschaft zustande, die Verrat statt Frieden bezweckt und in der das Blut den Wein ersetzt. Wurde zuvor bei der Trinkgemeinschaft der Könige Wein verschüttet, sodass die Ritter aussahen, als seien sie mit Blut übergossen, so fehlt bei dieser Trinkgemeinschaft der Wein völlig, während wirklich Blut vergossen wird, das Hagens Kleidung rot färbt. Das Blut ersetzt im Folgenden den Wein. Nach Siegfrieds Tod trinken die Burgunden bis zum Zusammentreffen mit Rüdiger von Bechelaren keinen Wein mehr und feiern keine Feste. Siegfrieds Tod zieht eine Blutspur nach sich, die bis an der Wormser Hof reicht: Sein Blut färbt die Blumen an der Quelle rot, blutüberströmt wird er vor Kriemhilds Kemenate abgelegt und Kriemhild schießt vor Schreck das Blut aus dem Mund. Bei der Bahrprobe bluten Siegfrieds Wunden erneut, als Hagen am Leichnam vorübergeht und bei Siegfrieds Totenwache weint Kriemhild blutige Tränen. Siegfrieds Blut ersetzt nicht nur den Wein, sondern auch die Nahrung: Drei Tage verzichten Kriemhild und ihr Gefolge nach Siegfrieds Tod auf Essen und Trinken. Der Mord an Siegfried findet zwar im unhöfischen Bereich des Waldes statt, steht aber durch das Fehlen des Weins beim Essen in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mahl. Die Verbindung des Mordes mit der Mahl- und Trinkgemeinschaft bedeutet die Außerkraftsetzung der höfischen Ordnung. Im Folgenden ist sie nur noch als Fassade erhalten. Auf die friedens- und bündnisstiftende Wirkung von Fest und Mahlzeit ist jetzt kein Verlass mehr; einmal als Falle gebraucht stellen sie nun einen Ort der Gefahr und nicht mehr der friedlichen Gemeinschaftlichkeit dar. Gemeinsam mit dem Höflichkeitscode fällt die Anerkennung von Recht584, von nun an gilt allein das Recht des Stärkeren. Da Recht und Ordnung ebenso wie die Tischsitten auf Absprachen, Reglementierung und Selbstdisziplinierung beruhen, steht das Versagen der Ordnung bei Tisch zeichenhaft für die Außerkraftsetzung der höfischen Ordnung insgesamt. Gleichzeitig wird die höfische Hierarchie revidiert, die sich in der Sitzordnung bei Tisch spiegelt. So bedauert Hagen am Etzelhof, dass er früher an der Tafel einen höheren Rang als Volker eingenommen hat (2005,1f): 584 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 421.
1. Festmähler
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„Mich riuwet âne mâze“, sô sprach Hagene, „daz ich íe gesáz in dem hûse vor dem degene.“
Auch die Bedeutung der Amtsträger nimmt im zweiten Teil des Epos deutlich ab585 und der Küchenmeister Rumold bleibt in Worms. Er rät den Burgunden von der Reise zum Etzelhof ab und bietet ihnen den besten Wein und erlesene Speisen als höfische Alternative zur heroischen Unternehmung an. Rumolds Rat verzerrt die höfische Kultur jedoch, indem er sie banalisiert586, und degradiert den Inhaber des Hofamts zum ordinären Koch587.
Untergang höfischer Ordnung Bei Kriemhilds Fest am Etzelhof findet eine endgültige Aufkündigung der höfischen Form statt und die Feier mutiert zur grausamen Parodie eines höfischen Festes. Die Burgunden folgen Kriemhilds hinterlistiger Einladung, wobei schon die Reise misslingt und Blut vergossen wird. Bei der Donauüberquerung dampft das Boot vom Blut des durch Hagen geköpften Fährmanns und die Bayern fliehen nass vor Blut nach ihrem nächtlichen Kampf gegen die Tronjer. Auch die Schilder der Tronjer sind blutbefleckt, woran Gunther am nächsten Morgen den Kampf erkennt. Bei der Ankunft der Burgunden misslingt bereits die Begrüßung und die Aggressionen zwischen Kriemhild und Hagen treten offen zutage. Sowohl Etzel als auch Dietrich von Bern bemühen sich um Schlichtung. Etzel gelingt es, die höfische Ordnung vorübergehend wiederherzustellen, indem er zunächst das Protokoll der Begrüßung einhält und anschließend den Gästen Met, Maulbeermost und Wein in goldenen Schalen reichen lässt (1812). Etzel erweist den Gästen zusätzliche Ehre, indem er sie an jenen Tisch führt, an dem er selbst zuvor gesessen hatte. Als die Essenszeit gekommen ist, betont der Erzähler Etzels Fähigkeit als geselliger Gastgeber und die Fülle an Speisen und Getränken (1817). Die Ausübung des höfischen Habitus und die Einhaltung des höfischen Protokolls bewirken Frieden und 585 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 391. 586 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 419. Aufgrund dieses Ratschlags ist Rumold in der zeitgenössischen höfischen Literatur negativ als Beispiel für Feigheit rezipiert worden. So wird Liddamus im Parzival Wolframs von Eschenbach dadurch als lächerliche Gestalt charakterisiert, dass er sich Romulds Verhalten zum Vorbild nimmt. 587 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 190.
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Gemeinschaft. Doch Etzels Gastfreundschaft verzögert den Ausbruch der Gewalt nur und kann ihn letztlich nicht verhindern. Mehrere Angriffsversuche Kriemhilds auf die Burgunden scheitern zunächst. Die vorher mit Mühe kontrollierte Gewalt eskaliert gerade während des Festmahls. Während Etzels Hofpersonal die Tische deckt und Wasser aufträgt, überredet Kriemhild Etzels Bruder Blödel, die Burgunden anzugreifen. Blödel und seine Krieger betreten schwer bewaffnet den Saal, in dem Dankwart mit seinen Knappen gerade an der Tafel sitzt. Der Konflikt zwischen Hunnen und Burgunden bricht aus, als Dankwart den von Kriemhild geschickten Blödel erschlägt. Die unbewaffneten Burgunden wehren sich, indem sie den Hunnen lange Fußschemel und schwere Stühle auf die Köpfe schlagen (1931); die Requisiten der höfischen Mahlzeit werden als Waffen missbraucht. Die Mahlzeit von Dankwart und seinen Knappen endet in einem Blutbad, das den Auftakt der Gewalt darstellt, die wie ein höfisches Fest mehrere Tage andauert. Von Dankwarts Knappen bleibt keiner am Leben, sodass dieser sich alleine wie ein von Jagdhunden verfolgter wilder Eber zu Gunther und Hagen durchschlagen muss (1946). Das höfische Fest mutiert zur Jagd, bei der Menschen Menschen verfolgen und dabei wie Tiere agieren588. Auf seinem Weg zum Festsaal trifft Dankwart auf die hunnischen Truchsessen und Mundschenken, die gerade auftragen wollen. Speisen und Getränke werden verschüttet und fallen zu Boden (1948,1-3): Trúhsæzen únde schénken die hôrten swerte klanc. vil maneger dô daz trinken von der hende swanc unde eteslîche spîse, die man zu hove truoc.
Das Mahl der Könige misslingt somit von Anfang an, die Tischgemeinschaft zwischen Burgunden und Hunnen wird dadurch verhindert, dass die Speisen nicht im Festsaal antreffen. Dankwart erinnert das hunnische Hofpersonal an seine Pflichten, und macht somit darauf aufmerksam, dass trotz Kampfhandlung ein höfisches Fest im Gange ist. Mit Dankwarts Eintreffen im Festsaal beginnt die groteske Verkehrung des höfischen Festes in ein „blutiges Gegenfest“589. Das Festmahl wird zum
588 Das Tier-Werden dokumentiert die Entfesselung der heroischen Kräfte, die mit dem Verlust höfischer Identität und höfischer Ordnung einhergeht. Vgl. Müller, Das Nibelungenlied, S. 160. Bereits bei ihrer Ankunft werden die Burgunden wie wilde Tiere von den Hunnen angestarrt (1762). 589 Müller, Das Nibelungenlied, S. 159.
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„Anti-Bankett“590 und die festlichen Handlungen zu ironischen Metaphern des Tötens591. Der Erzähler und die Protagonisten bedienen sich aber weiterhin des höfisch-festlichen Vokabulars, sodass der Ausbruch von Gewalt als groteske Verkehrung der höfischen Feier erzählt wird592. So beschweren sich die Burgunden über Kriemhilds übel und arge hôchzît (2122) und Ezel klagt über seine Gäste: „owê mir dirre geste“ (2000,3). Indem dem Rezipienten immer wieder vor Augen geführt wird, dass eigentlich ein höfisches Fest stattfindet, wird er beständig an die Verwerflichkeit der Ausübung von Gewalt im Rahmen von Fest und Mahlzeit erinnert. Systematisch dekonstruiert der Dichter die Elemente des höfischen Festes wie Begrüßung, Ritterspiel, Mahlzeit und Trinkgemeinschaft, wobei sich Kriemilds hôchzît kontrastiv von den gelungenen Festen abhebt. Das Wesen des Festes bleibt aber auf dem Wege der Inversion erhalten593. Der Untergang der höfischen Umgangsformen dokumentiert den fortschreitenden Verlust höfischer Identität, auf die der Dichter aber durch die Verzerrung der höfischen Sitten permanent anspielt. Die Hofämter werden karikiert: Der blutüberströmte Dankwart spielt den kamerære (1958,1), der niemanden lebend aus dem Festsaal herauslässt und Volker stellt den neuen spileman dar, der mit bösen Liedern (übele léiche) und blutrotem Bogenstrich (rôten zügen, 2002,1) ausgestattet ist und ebenso auf dem Schwert spielt, wie er mit der Fiedel tötet. Hagen hingegen übernimmt die Rolle des Schenken. Sein Minnetrinken594 leitet das Kampfgeschehen im Festsaal ein (1960,3f): „nu trinken wir die minne unde gelten’s küneges wîn. der junge vogt der Hiunen, der muoz der aller êrste sîn“.
Durch Hagens Trinkspruch, der das Todesurteil des Kindes Ortlieb darstellt, wird der von ihm kredenzte Wein zu Blut595. Hagen deutet die friedliche Trinkgemeinschaft zur Totenfeier für Siegfried und Ortlieb um596, wobei er Etzels Wein mit Blut erwidert und die Rollen zwischen Gast und Gastgeber vertauscht, indem er 590 591 592 593 594
Schwab, Weinverschütten, S. 64. Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 64. Vgl. Müller, Das Nibelungenlied, S. 157. Vgl. Haupt, Das Fest, S. 216. Ute Schwab erkennt diesen Trinkspruch als „Johannessegen“, der u. a. an den Sterbenden gerichtet wurde und eine besondere Funktion bei der Henkersmahlzeit innehatte. Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 91. 595 Vgl. Müller, Spielregeln, S. 77. 596 Vgl. Müller, Das Nibelungenlied, S.158.
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selbst das Ausschenken übernimmt597. Die anderen Ritter passen sich Hagens Festmetaphorik zur Umschreibung von Kampfhandlungen an (1981): Dô der vogt von Berne rehte daz ersach, daz Hagen der starke sô manegen helm brach, der künec der Amelunge spranc ûf eine banc; er sprach: „hie schenket Hagene daz aller wirsiste tranc.“
Die höfische Ordnung wird durch eine neue Ordnung ersetzt, die eine ironische Spiegelung der rituellen Gestik des Speisens und Trinkens darstellt598 und den Kampf als grausame Form der Bewirtung schildert. Nach dem Kampf werfen die Burgunden auch die leicht Verletzten aus dem Saal, sodass die Überlebenden durch den Sturz getötet werden. Ein Hunne, der auf Volkers Aufforderung hin einem verletzten Verwandten zur Hilfe eilt, wird von Volker erschlagen. Dieses Vorgehen steht im Gegensatz zur Pflege der Verletzten während des Friedensfestes nach dem Sachsenkrieg, die höfischen Werte der zühte und caritas werden ironisch verzerrt und ins Gegenteil verkehrt599. Allein der Tisch behält seine Funktion als Symbol der Ordnung, indem Dietrich sich auf den Tisch stellt, um Gehör bei den Burgunden zu finden (1989). Den Kampfhandlungen geht ein Aufspringen vom Tisch voraus (1926,3f): der snelle degen küene von dem tische spranc. er zôch ein scharpfez wâfen, daz was michel unde lanc. Ouch sprungen von den tischen die drîe künege hêr. (1967,1)
Das Verlassen des Tischs bedeutet somit immer auch ein Verlassen des Orts des Rechts. Ebenso wie das Weinverschütten stellt das Aufspringen vom Tisch einen Topos dar, der den Moment des Umschlags bezeichnet und das Kampfgeschehen einleitet600. War das Ausschenken von Blut als Wein im Festsaal noch im übertragenen Sinne gemeint, so findet das Trinken von Blut als Wein nach dem Saalbrand im wörtlichen Sinn statt. Das Spiel des Dichters mit der Austauschbarkeit von Blut und 597 598 599 600
Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 90. Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 64. Vgl. Haupt, Das Fest, S. 215. Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 62.
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Wein erreicht hier seinen Höhepunkt. Die Ritter sind durstig und Hagen preist das Blut als den besseren Wein (2114): Dô sprach von Tronege Hagene: „ir edeln ritter guot, swen twinge durstes nôt, der trinke hie daz bluot. Daz ist in solher hitze noch bezzer danne wîn. Ez enmác an disen zîten et nú niht bézzér gesîn.“
Die Krieger folgen Hagens Aufforderung und trinken das Blut der Toten: dô begond er trinken daz vliezénde bluot. Swie ungewon ers wære, ez dûhte in grœzlîche guot. (2115,3f) „Nu lôn’ iu got, her Hagene“, sprach der müede man, „daz ich von iuwer lêre sô wol getrunken hân. Mir ist noch vil selten geschenket bezzer wîn.“ (2116,1–3) Do die ándern daz gehôrten, daz ez in dûhte guot, dô wart ir michel mêre, die trunken ouch daz bluot. dâ von gewan vil krefte ir eteslîches lîp. (2117,1–3)
Bei der letzten Trinkgemeinschaft im Nibelungenlied gibt es nur noch Blut. Das Trinken des Blutes der Feinde scheint hierbei zur Überlebensstrategie der durstigen Burgunden rationalisiert601. Allerdings verleiht das Blut den Burgunden besondere Kräfte, was die Handlung der Krieger als rituellen Kannibalismus erscheinen lässt, der darauf abzielt, sich die Kraft des Opfers anzueignen602. Das Preisen von Blut als bestem Wein widerruft die höfische Trinkgemeinschaft und dokumentiert den zunehmenden Identitätsverlust der Helden. Hatten sie sich zuvor im Kampf wie Tiere gebärdet, so scheint mit dem Trinken vom Blut der erlegten Feinde der letzte Schritt der „Tier-Werdung“ der Ritter vollzogen. Die Gabe des Blutes durch Hagen an seine Kämpfer kann zudem als blasphemisches Ritual und schwarze „Blutmesse“603 gelesen werden. Statt Jesu Blut trinken die Helden Menschenblut. Während Hagen 601 Vgl. Müller, Das Nibelungenlied, S.159. 602 Vgl. auch Ehrismann, Nibelungenlied, S. 127. 603 Vgl. Müller, Das Nibelungenlied, S.159.
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zuvor beim Minnetrinken durch seinen Trinkspruch Wein in Blut gewandelt und somit eine profane Eucharistie praktiziert hat, so vollzieht er jetzt mit dem Trinken von Blut als Wein eine umgekehrte Eucharistie. Wandelt die Konsekration bei der christlichen Abendmahlfeier das Wesen des Weins in das Blut Christi, so ist Hagens Aufforderung darauf ausgerichtet, das Wesen des Blutes in Wein zu wandeln. Beide Textstellen enthalten zwar keine direkten theologischen Konnotationen, die Schlussfolgerung, dass der Dichter trotzdem auf die Eucharistie anspielt, liegt jedoch durch das wiederholte Spiel mit dem Trinken von Blut nahe604. Die Verkehrung der christlichen Ordnung spiegelt dabei die Umkehrung der höfischen Ordnung. In der Regel sind die Festmähler in der höfischen Dichtung darauf ausgerichtet, das Funktionieren höfischer Ordnung und die festliche Freude zu demonstrieren. Umgekehrt besitzen Festmähler aber auch das Potenzial, als Schauplätze für das Misslingen der höfischen Ordnung zu fungieren und Missstände offenzulegen. In den Werken Hartmanns von Aue, Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach dient das Fest vor allem dazu, höfische Idealität zu demonstrieren, Frieden zu stiften und das Überwinden einer gesellschaftlichen Krise oder einen Sieg zu feiern. Die Dichter stellen somit einen Bezug zwischen dem Gelingen höfischer Ordnung und dem Festmahl her. Dieses in der höfischen Epik etablierte Muster von Festmahl und Frieden nutzt der Dichter des Nibelungenlieds, um nicht das Gelingen, sondern den fortschreitenden Verfall höfischer Ordnung zu demonstrieren. Von dem Festmahl bleiben nur noch die äußeren Elemente übrig, die jedoch systematisch dekonstruiert und in ihr qualitatives Gegenteil verkehrt werden. Während die ersten Festmähler im Nibelungenlied noch auf den Bezug von Fest und gesellschaftlicher Ordnung rekurrieren, zeichnet sich im Verlauf des Epos eine zunehmende Umkehrung des Zusammenhangs von Fest und Frieden ab, sodass Fest und Mahl schließlich nicht mehr Frieden und Recht, sondern Gefahr, Kampf und Tod bedeuten.
1.3. Essen als Übergangsritus: Königskrönung, Schwertleite und Hochzeit Die Festmähler im Rahmen von Königskrönungen, Schwertleiten und Eheschließungen erfüllen in der höfischen Dichtung die Funktion, den Erwerb eines neu604 In der Forschung ist diese Deutung jedoch umstritten. So spricht sich z. B. Ute Schwab vehement gegen eine solche Interpretation aus. Vgl. Schwab, Weinverschütten, S. 74.
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erworbenen sozialen Status zu markieren und zu besiegeln. Krönungen, Schwertleiten und Hochzeiten sind Initiationsfeiern, die wichtige Stationen bei der Identitätsgenese des Protagonisten darstellen. Häufig fallen diese bedeutenden Ereignisse zusammen, wie die Hochzeit und Krönung Erecs und Enites im Erec Hartmanns von Aue, und werden an einem Tag veranstaltet, wie die Krönung und Hochzeit Eneas und Lavinias im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, oder sind kausal aufeinander bezogen, wie Siegfrieds Schwertleite und seine Hochzeit im Nibelungenlied. Jedes dieser Feste ist mit einem Festmahl verbunden. Vor allem der Parzival Wolframs von Eschenbach betont den Einfluss der von Mahlzeiten begleiteten Initiation auf die Identität des höfischen Protagonisten. Bei den Mählern, die zum Abschluss der Feiern abgehalten werden, handelt es sich somit um Übergangsriten. Die Feste und Mähler werden dabei umso ausführlicher geschildert, je bedeutsamer sie für Aufbau und Struktur des Werkes sind. So sind Feste, bei denen der Dichter detailreich auf Gäste, Zeremoniell und Bewirtung eingeht, meist Ziel oder Wendepunkt der Handlung605. Die Ausführlichkeit bei der Schilderung der Speisen gibt somit Aufschluss über den Stellenwert des Festes und des gefeierten Ereignisses innerhalb des Textes.
Initiation als Verhandlung ritterlicher Idealität: Erec et Enide In Chrétiens de Troyes altfranzösischem Roman Erec et Enide bildet die Hochzeitsfeier von Erec und Enide einen vorläufigen Höhepunkt und einen Wendepunkt in der Erzählung. Chrétien schildert Erecs und Enides Hochzeit als ideales Fest mit höfisch-repräsentativem Charakter, das zu Pfingsten am Hof von König Artus stattfindet und zu dem auf Artus’ Geheiß eine Reihe bedeutender Gäste angereist kommt. Zur Vergrößerung der Festfreude befiehlt Artus 100 Knappen zu baden, um ihnen anschließend das Schwert zu verleihen und sie mit Kleidung, Waffen und Pferden auszustatten. Die Massenpromotion ist Zeichen für Artus’ Macht und Großzügigkeit und unterstreicht gleichzeitig den Initiationscharakter der Hochzeit. Erecs und Enides Hochzeit umfasst einen sakralen und einen profanen Teil. Zuerst findet eine kirchliche Trauung durch den Erzbischof von Can605 Vgl. Ehlert, Trude: Die Funktionen des Hochzeitsfestes in deutscher erzählender Dichtung vornehmlich des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 393f. In: Detlef Altenburg (Hg.): Feste und Feiern im Mittelalter. Paderborner Symposium des Mediävistenverbandes. Sigmaringen, 1991, S. 391–400. Ehlert bezieht sich mit dieser These zwar auf Hochzeitsfeste, sie ist jedoch ebenso auf andere Feste, die Initiationen feiern, übertragbar.
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terbury statt. Im Anschluss an die kirchliche Zeremonie, auf die Chrétien nicht näher eingeht, treten Spielleute, Tänzer und Akrobaten auf, deren Darbietungen für höfische Freude sorgen. Den Höhepunkt der Feierlichkeiten bildet das Hochzeitsmahl (V. 2006-2014): Li rois Artus ne fu pas chiches: bien comanda as penetiers et as queuz et aus botelliers qu‘ il livrassent a grant planté, chascun selonc a volanté, et pain et vin et veneison; nus ne demanda livreison de rien nule que que ce fust qu‘ a sa volanté ne l‘ eüst. (König Artus war nicht geizig; er befahl denen, die das Brot brachten, den Köchen und den Kellermeistern, alles im Überfluss zu reichen, jedem so viel er wollte, Brot, Wein und Wildbret; niemand verlangte dort etwas, dem sein Wunsch nicht erfüllt worden wäre, was immer es auch sein mochte.)
Chrétien hebt Artus’ großzügiges Verhalten hervor und erwähnt die typischen höfischen Speisen, Brot, Wein, Wild, und den alimentären Überfluss und betont darüber hinaus die Möglichkeit, alle Wünsche zu erfüllen. Das Festmahl beendet die Feier. Nach dem Essen findet die Hochzeitsnacht statt. Chrétien umschreibt das gegenseitige Begehren Erecs und Enides mit alimentären Metaphern, sodass das sexuelle Verlangen als Hunger erscheint606. Hochzeitsnacht und Bettgemeinschaft erscheinen somit als metaphorische Wiederholung der vorangegangenen Mahlzeit und Tischgemeinschaft. Die Feierlichkeiten dauern für weitere vierzehn Tage an. Die Schilderung der Hochzeitsfeierlichkeiten bildet das Ende des ersten Kursus. Nachdem Erec Enide geheiratet hat, erreicht er einen vorläufigen Höhepunkt seines Individuationsweges. Um seine höfische Identität vollständig auszubilden und zum idealen Ritter zu werden, ist noch eine zweite, längere Aventiurenfahrt notwendig, die mit Erecs Krönung abschließt. Die Krönung bildet somit den Höhepunkt des zweiten Kursus’ und des Romans.
606 Vgl. hierzu das Kapitel zur Gemeinschaft von Tisch und Bett.
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Chrétien geht bei der Schilderung von Erecs Königskrönung, die an Weihnachten in Nantes vollzogen wird, ausführlich auf die Einzelheiten des Krönungszeremoniells ein. Zahlreiche Gäste werden ehrenvoll empfangen. Wie bereits bei Erecs Hochzeit verleiht König Artus vierhundert Knappen oder mehr die Ritterwürde, um die Festfreude zu vergrößern. Die Massenpromotion demonstriert wieder Artus’ Macht und Reichtum, steigert Erecs Ruhm und antizipiert die Königskrönung. Artus verschenkt freigiebig wertvolle Mäntel. Alle kostbaren Kleidungsstücke werden jedoch durch Erecs Krönungsgewand übertroffen, das deshalb so außergewöhnlich ist, da das Innenfutter des Gewandes aus dem bunten Pelz wunderbarer Fabeltiere genäht ist, die sich ausschließlich von seltenen exotischen Speisen ernähren (V. 6732–6741): La pane qui i fu cosue Fu d‘ unes contrefetes bestes Qui ont totes blondes les testes Et les cors noires com une more, Et les dos ont vermauz desore, Les vantres noirs et la coe inde; Itex bestes neissent en Inde, Si ont berbioletes non, Ne manjuent se poisson non, Quenele et girofle novel. (Das hineingenähte Pelzwerk stammte von einem der missgestalteten Tiere, die die Köpfe ganz blond, den Körper schwarz wie eine Maulbeere und den Rücken oben rot haben, den Bauch schwarz und den Schwanz blau; diese Tiere stammen aus Indien, sie heißen Barbioleten und fressen nur Fisch, Zimt und frische Gewürznelken.)
In Erecs Krönungsmantel fallen vestimentärer und alimentärer Code zusammen. Die Barbioleten und ihre Nahrung, Fisch, Zimt und frische Gewürznelken, verweisen auf den exotischen Orient als Kontrast zum zivilisierten Okzident, der durch die Außenseite des Mantels repräsentiert wird607. Erec kleidet sich mit einem Stück Stoff, das die für ihn als politischem Herrscher wichtige Opposition von Kosmos und Chaos, Orient und Okzident impliziert608 und diese Vorstellungen 607 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 114. 608 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 114.
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auf zweiter Ebene in der Nahrung der Fabeltiere wiederholt und vertieft. Nicht nur das Fell der Barbioleten, aus dem die Innenseite des Mantels besteht, sondern auch ihre Nahrung ist kostbar und exotisch, und trägt somit zur Wertsteigerung des Mantels bei. Am nächsten Morgen vollzieht der Bischof von Nantes die Krönungsweihe, anschließend folgt der Besuch der Messe. Das Krönungszeremoniell endet mit einem aufwendig und prunkvoll gestalteten Festmahl. An fünfhundert mit Tüchern bedeckten Tischen, die auf fünf Festsäle verteilt sind, tragen tausend Ritter zahlreiche Speisen auf (V. 6872-6879): Mil chevalier de pein servoient, Et mil de vin, et mil de mes, Vestuz d‘ ermins peliçons fres. Des mes divers don sont servi, Ne por quant se ge nel vos di, Vos savroie bien reison randre; Mes il m‘ estuet a el antendre. (Tausend Ritter, alle in neue Hermelinpelze gekleidet, servierten Brot, tausend Wein und tausend die verschiedenen Gerichte. Von den vielartigen Speisen, die gereicht wurden, wüsste ich euch wohl Rechenschaft zu geben, obwohl ich euch nichts davon mitteile; aber ich muss meinen Sinn auf anderes richten.)
Chrétien erwähnt tausend verschiedene Gerichte, die er aus vornehmer Zurückhaltung jedoch nicht näher beschreibt. Er hebt aber hervor, dass die Speisen nicht nur in großer Fülle, sondern auch in großer Diversität vorhanden sind. Die einzigen Speisen, die Chrétien explizit benennt, sind Brot und Wein. Brot und Wein sind nicht nur die elementaren Bestandteile der höfischen Mahlzeit, sie sind gleichzeitig auch die Speisen, die bei der Abendmahlfeier gereicht werden. Die Eucharistie wird zwar während der Krönungsmesse nicht erwähnt, auf sie wird aber beim Krönungsmahl angespielt, wodurch dieses einen sakralen Charakter erhält. Chrétien inszeniert Erecs Krönung somit als Abschluss mit doppelter Auszeichnung: sakral durch den Bischof und profan durch die Artusgesellschaft. Das Krönungsmahl spiegelt dabei den sakralen Charakter von Erecs Krönung und sein Krönungsmantel repräsentiert Erecs weltliche Macht, seinen Reichtum und seine politische Verantwortung.
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Initiation als Gründungsakt: Eneasroman Im Eneasroman Heinrichs von Veldeke fallen die Hochzeit und die Krönung von Eneas und Lavinia zusammen. Wie im Erec Chrétiens bilden die Feierlichkeiten den Abschluss des Romans. Eneas heiratet insgesamt drei Mal. Von seiner ersten Frau erwähnt Heinrich lediglich, dass Eneas sie beim Verlassen von Troja verlôs (20,40). Eneas zweite Frau ist Dido, die er heiratet, nachdem in Karthago bekannt geworden ist, dass Eneas Didos Geliebter ist. Dido gibt sich schließlich als Eneas Braut zu erkennen und richtet ein großes Fest aus, dessen Einzelheiten jedoch nicht beschrieben werden (64,38–65,3). Nachdem Eneas Dido verlassen hat, besucht er seinen Vater Anchises in der Unterwelt, der ihm die Hochzeit mit Lavinia, die Herrschaft in Laurente sowie die Gründung Roms prophezeit (108,17). Eneas gelingt es jedoch erst nach langen Kämpfen, sowohl die Ehe mit Lavinia als auch die Landesherrschaft zu erlangen. Den Hochzeitsfeierlichkeiten geht die Krönung von Eneas und Lavinia voraus. Krönung, Hochzeit und das damit einhergehende Ende des Konflikts bilden den Höhepunkt und den Abschluss des Eneasromans. Das Fest verbindet Minne, höfische Freude und Politik. Heinrich beschreibt ausführlich Festmahl, Unterhaltung und Beschenkung und hebt die Sonderstellung des Hochzeitsfestes hervor, das sich einzig mit dem Mainzer Hoffest vergleichen lässt (347,14–19). Die Beschreibung des Hochzeitsfestes, die eine Zugabe Heinrichs darstellt und kein Vorbild im altfranzösischen Roman d‘ Éneas besitzt, deckt sich teilweise wörtlich mit dem Bericht über das Mainzer Hoffest des Chronisten Giselbert von Mons609. Heinrich lässt die Erzählung aber nicht mit der Hochzeit enden, er liefert noch einen Ausblick auf die Nachfahren von Eneas und Lavinia bis hin zur Gründung Roms und zu Christi Geburt. Auf diese Weise erscheint das ausführlich beschriebene Hochzeitsfest zudem als Gründungsfest des römischen Reiches610. Da die zeitgenössische Geschichtsauffassung das staufische Reich Friedrichs Barbarossa als Fortsetzung des römischen Reichs verstand611, wird das im Eneasroman beschriebene Hochzeitsfest zum Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen Realität und Fiktion. Im Mittelpunkt der Feierlichkeiten steht das Festmahl, das sich durch Überfluss auszeichnet (345,13-24): 609 Der Vergleich findet sich bei Mohr, Wolfgang: Mittelalterliche Feste und ihre Dichtung. In: Eckehard Catholy/Winfried Hellmann (Hgg.): Festschrift für Klaus Ziegler. Tübingen, 1968, S. 37–60. 610 Vgl. Mohr, Mittelalterliche Feste, S. 39. 611 Vgl. Mohr, Mittelalterliche Feste, S. 41.
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mit flîze dâ gedienet wart. dâ wart diu spîse niht gespart. der sich des flîzen wolde, daz her sagen solde, wie dâ gedienet wâre, ez wolde ein langez mâre, wand als ich û hie sagen wil, man gab in allen ze vil, ezzen unde trinken, des ieman konde erdenken und des ir herze gerde, wol man si des gewerde.
Heinrich verzichtet darauf, einzelne Speisen zu nennen, mit der Begründung, es würde zu lange dauern, alles aufzuzählen, und überlässt es der Fantasie des Rezipienten, sich die Speisen vorzustellen. Es kommt Heinrich weniger auf die Einzelheiten in Bezug auf die höfischen Speisen und das Verhalten an, sondern auf die idealtypische Darstellung von Fest und Festmahl, die die epischen Geschehnisse sowohl in der Vergangenheit als auch in der realen Gegenwart verankert.
Verdoppelte Initiation: Nibelungenlied Während Heinrich von Veldeke dem Hochzeitsfest von Eneas und Lavinia durch den Bezug zum Mainzer Hoffest eine hervorgehobene Bedeutung verleiht, werden die besonders bedeutungsvollen Feste im Nibelungenlied nicht durch realhistorische Bezüge, sondern durch Doppelungen betont. Jan-Dirk Müller macht auf die Bedeutung der Doppelungen im Nibelungenlied aufmerksam, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und typisch für die Struktur des Epos sind612. Das Motiv der Doppelung findet sich auch bei den Initiationsfeiern. Sowohl Siegfrieds Sozialisation als auch die Hochzeitsfeier in Worms sind auf unterschiedliche Weise gedoppelt. Der Charakter der Feste als Feiern des rituellen Übergangs und das Motiv der Verdoppelung sind darauf ausgerichtet, die Bedeutung dieser Szenen für die Komposition des Epos hervorzuheben.
612 Vgl. Müller, Das Nibelungenlied, S. 66–69.
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Siegfrieds Jugendgeschichte wird in zwei kontrastierenden Versionen erzählt: Der Schilderung des Erzählers von höfischer Erziehung und Schwertleite steht Hagens mündlicher Bericht von Horterwerb und Drachenkampf gegenüber613. Der Königssohn Siegfried wächst in Niederland wohlbehütet zum jungen Höfling heran. Siegfried eignet sich hervorragend zum höfischen Ritter; der Dichter preist seine túgende (23,2), seine êren (22,3) und seine Schönheit. Als er alt genug ist, um in die höfische Gesellschaft aufgenommen zu werden, die Waffen zu führen gelernt hat und den Frauen dient, beschließt sein Vater, König Siegmund, ihn mittels der Schwertleite in die höfische Gemeinschaft der Ritter aufzunehmen. Die Schwertleite bildet somit den Höhepunkt und Abschluss von Siegfrieds höfischer Erziehung. Der Dichter beschreibt ausführlich die einzelnen Elemente der Feier. Bedeutende Fürsten und Könige reisen an und werden beschenkt. Siegfried zu Ehren erhalten vierhundert weitere Knappen mit ihm gemeinsam die Schwertleite. Die Zeremonie beginnt mit einer Messe. Anschließend wird den Knappen das Schwert umgegürtet und ein Turnier am Hof ausgetragen. Zum Abschluss findet ein gemeinsames Festmahl statt (37): Dô giengen‘ s wirtes geste, dâ man in sitzen riet. vil der edelen spîse si von ir müede sciet unt wîn der aller beste, des man in vil getruoc. den vremden und den kunden bôt man êren dâ genuoc.
Dieses Festmahl besitzt eine soziale und eine rechtliche Komponente: Einerseits fungiert es als Integrationsritus, indem es Siegfrieds neuen sozialen Status als Ritter vor den einheimischen und fremden Fürsten öffentlich bestätigt und Siegfried in die Mahlgemeinschaft der Ritter aufnimmt. Der Initiationsritus der Schwertleite erfüllt seine Funktion nur dann, wenn der Ritterstatus von der ganzen Adelsgesellschaft anerkannt wird614. Das Festmahl bestätigt zudem die gesellschaftlichen Verhältnisse, indem den Gästen ihre Plätze bei Tisch zugewiesen werden. Die gemeinsame Mahlzeit stärkt den Zusammenhalt der Festgesellschaft, die aus einheimischen und fremden Fürsten besteht. Die gelungene Tischgemeinschaft wiederum sorgt für Freude, die das Ansehen des ganzen Landes steigert (32). Außerdem stellt 613 Vgl. hierzu auch Müller, Spielregeln S. 125–130. 614 Vgl. Orth, Elsbet: Formen und Funktionen der höfischen Rittererhebung, S. 135f. In: Fleckenstein, Josef (Hg.): Curialitas, S. 128–170.
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das Festmahl einen politisch-rechtlichen Akt dar. Siegfried erwirbt mit der Erhebung in den Ritterstand zugleich die Berechtigung, die Landesherrschaft zu übernehmen (43) und zu heiraten. Indem die Landesfürsten an dem Festmahl partizipieren, bringen sie performativ ihr Einverständnis zum Ausdruck und signalisieren ihre Bereitschaft, Siegfried in Zukunft als neuen Herrscher über Niederland anzuerkennen (42,2f). Das Festmahl besiegelt somit Siegfrieds Aufnahme in die Gemeinschaft der Ritter und stärkt gleichzeitig seine Rechtsposition als zukünftiger König615. Siegfrieds Initiation als Heros wird vergleichsweise knapper geschildert. Hagen berichtet bei Siegfrieds Ankunft in Worms von der Eroberung des Horts und dem Sieg über die Nibelungen, die Riesen und den Zwerg Alberich. Der Bericht vom Bad im Drachenblut stellt in der Chronologie des Erzählens den Höhepunkt von Siegfrieds heroischer Jugend dar (100): Noch weiz ich an im mêre, daz mir ist bekant. einen lintrachen den sluoc des heldes hant. er badet sich in dem bluote: sîn hût wart húrnîn. des snîdet in kein wâfen; daz ist dicke worden scîn.
Durch das Bad im Drachenblut empfängt Siegfried eine mythisch-heroische Initiation. Die komplementären Episoden von Siegfrieds Schwertleite und dem Bad im Drachenblut sind antagonistisch aufeinander bezogen: Bei der Schwertleite werden Siegfried zeremoniell die Waffen umgürtet; bei seiner heroischen Initiation erhält er eine Hornhaut, die ihn vor Waffen schützt. Während Siegfrieds höfische Identitätsgenese in der Aufnahme in die ritterliche Gemeinschaft gipfelt und mit dem Festmahl abschließt, agiert er als junger Heros alleine. Während Siegfried mit seinen Gästen bei der Schwertleite-Feier Wein trinkt, badet er bei seinem heroischen Initiationsritus im Blut. Blut und Wein ähneln sich in Bezug auf Farbe und Konsistenz und werden im Verlauf des Epos immer stärker parallelisiert, bis sie schließlich austauschbar sind. Die Verbindung von Blut und Wein ist bei der doppelten Schilderung von Siegfrieds Initiation bereits angelegt. Sie weist auf die kommenden Ereignisse hin und repräsentiert beide Facetten von Siegfrieds Identität, die höfische und die heroische. Die Beschreibung der Schwertleite schafft außerdem einen Bezug zur später geschilderten Doppelhochzeit. Der Vollzug der Schwertleite ermächtigt Siegfried 615 Vgl. Orth: Formen und Funktionen, S. 156.
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nicht nur zur Herrschaftsübernahme, sondern auch zur Heirat. Siegfried lehnt die Herrschaft zwar ab, da seine Eltern noch leben. Er beschließt aber stattdessen, Kriemhild zu heiraten. Die Doppelhochzeit am Hof von Worms und insbesondere das Hochzeitsmahl werden ausführlich beschrieben. Doppelhochzeit und Hochzeitsmahl bilden den Höhepunkt des ersten Betrugs an Brünhild und bereiten die Hochzeitsnacht und den zweiten Betrug vor. Der Schwerpunkt liegt somit weniger auf der Darstellung des Initiations- und des Repräsentationscharakters der Hochzeitsfeier. Zwar schildert auch der Dichter des Nibelungenlieds profane und sakrale Elemente der Feier sowie die Schwertleite von über sechshundert Knappen zu Ehren von König Gunther am Tag nach der Hochzeit. Die Beschreibung der höfisch-festlichen Elemente dient jedoch nicht der Darstellung von Idealität, sondern fungiert als Kontrast zu Betrug und Hinterlist. Die Schilderung der Mahlzeit verfolgt somit den Zweck, die durch den Brautwerbungsbetrug nachhaltige Störung der höfischen Ordnung offenzulegen. Die vor der Öffentlichkeit verborgene Störung macht sich erstmals während des Hochzeitsmahls bemerkbar, da diese das unmittelbare Resultat des Betrugs darstellt. Nach außen hin verläuft die Vorbereitung für das Hochzeitsmahl idealtypisch: Es werden viele Tische herbeigeschafft und reichlich mit Speisen beladen, sodass keine Wünsche offenbleiben. Viele edle Gäste sind anwesend, um deren Bedienung sich die Kämmerer vorbildlich kümmern (605f): Vil manic hergesidele mit guoten tavelen breit vol spîse wart gesetzet, als uns daz ist geseit. des si dâ haben solden, wie wênec des gebrast! dô sach man bî dem künege vil manigen hêrlîchen gast. Des wirtes kamerære in bécken von gólde rôt daz wazzer für trúogen. des wære lützel nôt, ob iu daz iemen sagte, daz man diente baz ze fürsten hôchgezîte; ich wolde niht glouben daz.
Siegfried hält das höfische Zeremoniell der Handwaschung jedoch auf und hindert Gunther daran, sich Wasser zu nehmen, indem er ihn an sein Versprechen erinnert, ihm als Lohn für den Betrug an Brünhild Kriemhild zur Frau zu geben. Der Zeitpunkt ist von Siegfried mit Bedacht gewählt, da das Mahl einen Ort des
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Rechts darstellt. Gunther unterbricht daraufhin den Ablauf der Festlichkeiten, um Siegfried mit Kriemhild zu verbinden. Die Unterbrechung der Mahlzeit weist somit auf die Intrige zurück, durch die es Gunther und Siegfried gelungen ist, Brünhild mit Gunther zu vermählen. Anhand des gestörten Ablaufs beim Hochzeitsmahl erinnert der Dichter an die Hinterlist, auf der die Ehe basiert. Die Störung der Mahlzeit spiegelt somit die durch Intrigen gestörte höfische Ordnung. Als alle wieder an den Tisch zurückkehren, setzen sich Siegfried und Kriemhild Gunther und Brünhild gegenüber. Erst nachdem Siegfried und Kriemhild vermählt worden sind, sitzen sie zusammen, woran Brünhild die außerhalb ihrer Sichtweite geschlossene Ehe erkennt. Die Tischordnung bildet jedoch die gesellschaftliche Ordnung ab und offenbart Siegfrieds Identität als Königssohn und signalisiert durch die Nähe zu Gunther seine hohe Stellung616. Hatte sich Siegfried Brünhild gegenüber zuvor als Lehnsmann ausgegeben, so kann er bei Tisch seine wahre Identität nicht verbergen. Für Brünhild, der Siegfrieds tatsächliche soziale Position unbekannt ist, steht seine Behauptung, er sei Gunthers man, im Widerspruch zu seinem Sitzplatz während der Mahlzeit. Daher hält sie Gunthers und Siegfrieds Handeln bei Tisch für eine Verletzung des ordo und reagiert mit Schmerz. Die für Brünhild so schmerzhafte Divergenz zwischen Sprechen und Handeln bleibt ungelöst, da sie auf dem Betrug und der Standeslüge basiert. Brünhild weint und ihre Tränen unterbrechen die Mahlzeit ein weiteres Mal. Die Störung der Tischgemeinschaft ist jetzt irreversibel; Brünhild lässt sich nicht beruhigen und die anwesenden Ritter verlassen nach kurzer Zeit den Tisch, um sich ungewohnt heftigen Kampfspielen zu widmen (624). Diese bricht Gunther jedoch bald ab, um mit Brünhild zu Bett zu gehen. Brünhild weigert sich jedoch aufgrund der aus ihrer Sicht unauflösbaren Differenz zwischen Siegfrieds Selbstdarstellung als eigenholde und seiner Position bei Tisch, die Ehe mit Gunther zu vollziehen, solange sie nicht weiß, wie es sich um Siegfrieds soziale Stellung verhält (635). Die Hochzeitsnacht ist somit auf das Engste mit dem Hochzeitsmahl verbunden und das Gelingen der Bettgemeinschaft hängt vom Gelingen der Tischgemeinschaft ab. Am nächsten Morgen findet eine Messe statt, bei der Gunther, Brünhild, Kriemhild und Siegfried in Krone und Krönungsgewändern gesegnet werden. Dieser Kirchengang, der Teil der Eheschließungszeremonie ist, darf jedoch rechtlich gesehen erst nach 616 Vgl. Frey, Winfried/Raitz, Walter/Seitz, Dieter u. a.: Einführung in die deutsche Literatur des 12. bis 16. Jahrhunderts, Bd. 1. Opladen, 1985, S. 72. Zur Sitzordnung vgl. auch Bumke, Höfische Kultur, S. 251. Die Plätze in der Nähe des Königs waren den ranghöchsten Gästen vorbehalten.
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dem Beilager stattfinden617, das Gunther und Brünhild jedoch nicht vollzogen haben. Solange das Beilager nicht vollzogen ist, ist die Ehe womöglich nicht gültig618. Der Brautwerbungsbetrug in Island ist somit die Ursache für das Misslingen des Hochzeitsmahls, welches wiederum eine Reihe weiterer vor der Öffentlichkeit verborgener Störungen und Rechtsbrüche nach sich zieht.
Initiation als Identitätsbildung: Parzival Im Perceval Chrétiens de Troyes und im Parzival Wolframs von Eschenbach erfüllen die Mähler die Funktion, die Individuation des Protagonisten vom tumben Jungen zum höfischen Ritter zu dokumentieren. Wichtige Stationen bei der Entwicklung von Parzivals höfischer Identität, wie Schwertleite und Krönung, werden durch Mähler begleitet und Parzivals Identitätsstatus spiegelt sich stets in seinem Essverhalten619. Trotz seiner vornehmen Geburt wächst Parzival fernab der Zivilisation im Wald auf, ohne Kenntnis und Verständnis der höfischen Sitten. Neben seiner Narrenkleidung zeichnet sich Parzival vor allem durch seinen übergroßen Appetit und den Mangel an Tischmanieren aus. Getrieben von dem Wunsch, Ritter zu werden, sucht Parzival zunächst den Hof von König Artus auf. Nach dem Verlassen des Artushofs trifft er auf Gurnemanz, der ihn schließlich höfisches Verhalten lehrt. Erst als Parzival Gurnemanz wieder verlässt, ist er das, wozu er durch seine Geburt bestimmt ist. Unmittelbar nach dem Aufenthalt bei seinem höfischen Gastgeber besteht Parzival seinen ersten höfischen Kampf und heiratet anschließend. Im Unterschied zu Siegfried, der sich schon vor der Schwertleite durch sein feines höfisches Benehmen auszeichnet, vollzieht Parzival erst durch den Aufenthalt bei Gurnemanz den Wechsel von tumb zu höfisch. Bei Chrétien finden Percevals Schwertleite und das dazugehörige Mahl nicht in der Öffentlichkeit eines Königshofs statt. Das Festmahl im Perceval ist zudem vor Percevals Schwertleite angesiedelt und antizipiert somit seinen neuen sozialen Status als Ritter. Perceval erhält nach seiner Ankunft in der Burg von Gornemanz eine ritterliche Belehrung und wird von ihm in den ritterlichen Kampftechniken unterwiesen. Anschließend findet ein gemeinsames Mahl statt, das Percevals Identitätswechsel bestätigt und ihn in die Gemeinschaft der Ritter integriert (V. 1559–1565): 617 Vgl. Deneke, Bernward: Hochzeit. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5, Sp. 60–62. 618 Vgl. Dilger, Konrad: Ehe. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 3, Sp. 1635f. 619 Vgl. Kapitel zu Parzivals Appetit.
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Et li mengiers fu atornez, bons et biaxx et bien conraez; si laverent li chevalier, puis si s‘ asïent al mengier. Et li preudom lez lui assist le vallet, et mengier le fist avec lui a une escüele. (Ein gutes, verlockend aussehendes, köstlich zubereitetes Essen war schon hergerichtet. Die Ritter wuschen sich die Hände und setzten sich dann zu Tisch. Der Burgherr ließ den Jungen an seiner Seite Platz nehmen und mit ihm aus derselben Schüssel essen.)
Der Platz am Tisch neben Gornemanz und der gemeinsame Verzehr der höfischen Speisen aus einer Schüssel implizieren Gleichrangigkeit und deuten die Ritterpromotion voraus. Percevals Schwertleite beinhaltet zwar keine direkten christlichen Elemente. Die Mahlzeit mit Gornemanz erhält jedoch durch den Vergleich von Gornemanz mit Saint Juliien (V. 1538), Julianus Hospitator, dem Schutzpatron der Reisenden, der für seine Gastfreundschaft bekannt war, eine sakrale Konnotation. Am nächsten Morgen schenkt Gornemanz Perceval neue Kleider und gürtet ihm das Schwert um. Mit der Schwertumgürtung ist der Übergangsritus vollzogen, Perceval ist nun ein noviax chevaliers (V. 1699). Wolfram von Eschenbach weicht in seiner Bearbeitung deutlich von der altfranzösischen Vorlage ab. Zum einen verzichtet Wolfram auf die Darstellung von Parzivals Schwertleite620. Bei ihm ist Parzival bereits Ritter, als er die rote Rüstung Ithers anlegt621. Stattdessen baut Wolfram die Episode von Parzivals höfischer Erziehung wesentlich aus. Während Perceval nur einen Tag bei Gornemanz verweilt, dauert 620 Das Fehlen der Schwertleite bei Wolfram lässt darauf schließen, dass Wolfram der Zeremonie eine geringere Bedeutung beimisst als Chrétien. Sowohl Wolfram von Eschenbach als auch Hartmann von Aue weichen in ihren deutschen Bearbeitungen von den altfranzösischen Vorlagen Chrétiens de Troyes ab, indem sie die Schwertleite-Episoden übergehen. Erst mit dem Tristan Gottfrieds von Straßburg zu Beginn des 13. Jahrhunderts gewinnt das Motiv der Schwertleite auch in der mittelhochdeutschen Literatur an Bedeutung. Vgl. Schmitt, Stefanie: Empfang und Schwertleite. Zur literarischen Darstellung höfischen Zeremoniells in französischen und deutschen Artusromanen um 1200, S. 53. In: Matthias Däumer/Cora Dietl/Friedrich Wolfzettel (Hgg.): Artushof und Artusliteratur. Berlin, 2010, S. 43–60. 621 Vgl. hierzu z. B. Bumke, Joachim: Parzivals „Schwertleite“, S. 238. In: Werner Betz/Evelyn S. Coleman/Kenneth Northcott (Hgg.): Taylor Starck Festschrift. Presented by his friends colleagues, and pupils on the occasion of his seventyfifth birthday october fifteenth, ninteen hundred and sixty-four. London, 1964, S. 235–245.
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Parzivals Aufenthalt in Gurnemanz’ Burg zwei Wochen. Im Vergleich zum Perceval vollzieht sich Parzivals Individuation bei Wolfram stufenweise und wird nicht durch ein großes Mahl, sondern durch eine Abfolge von drei kleineren Mählern begleitet. Während Perceval bei Chrétien erst durch die Schwertleite verständig wird, ist Parzivals Identitätswandel bei Wolfram durch Gurnemanz’ Lehren motiviert. Der Charakter des rituellen Übergangs wird dennoch anhand einer Reihe von Ablösungs- und Eingliederungsriten ersichtlich, die Parzival während seines Aufenthalts bei Gurnemanz vollzieht. Bei Wolfram spielen insbesondere die Mahlzeiten eine hervorgehobene Rolle, die Parzivals Identitätswandel in drei Schritte gliedern. Parzivals Identitätsgenese spiegelt sich insbesondere in der Verbesserung seiner Essmanieren. Das unhöfische Verhalten, das ihn zu Beginn auszeichnet, findet vor allem Ausdruck in seiner großen Essgier. Essen besitzt für Parzival einen derartigen Stellenwert, dass er seine Beobachtungen unwillkürlich auf das Thema Nahrung bezieht. So glaubt er bei der Ankunft an Gurnemanz’ Burg, die Türme des Gebäudes seien von Artus mithilfe von wundertätigen Kräften ausgesät. Unmittelbar nach seiner Ankunft in Gurnemanz’ Burg erhält Parzival eine Mahlzeit. Da er sehr früh am Morgen aufgebrochen ist, quält ihn großer Hunger. Dieser ist ein Zeichen für Parzivals Triebhaftigkeit (165,15-29): dô was ouch ûf geleit daz brôt. des was dem jungen gaste nôt, wand in grôz hunger niht vermeit. al vastende er des morgens reit von dem vischaere. […] der wirt in mit im ezzen hiez: der gast sich dâ gelabte. In den barn er sich sô habte, daz er der spîse swande vil.
Parzival spürt nicht nur großen Hunger, er legt bei Tisch ein ungezügeltes Verhalten an den Tag, er isst gierig und lässt keine Speisen übrig. Gurnemanz lässt Parzival vorerst gewähren; er ermuntert ihn zu essen, um so Hunger und Erschöpfung zu überwinden (166,1-4):
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dô bat in vlîzeclîche Gurnemanz der triuwen rîche, daz er vaste aeze unt der müede sîn vergaeze.
Die erste Mahlzeit auf der Burg ist darauf ausgerichtet, Parzival gastlich aufzunehmen, wobei Gurnemanz’ besondere Fürsorge deutlich wird. Außerdem dokumentiert dieses Mahl Parzivals alimentäres Verhalten vor der ritterlichen Belehrung622. Das Mahl findet nicht wie im Perceval als Resultat von Parzivals höfischer Erziehung statt, sondern geht dieser voraus und leitet sie ein. Im Gegensatz zu Perceval teilt Parzival seine Speisen nicht mit seinem Gastgeber, sondern isst alleine. Am nächsten Morgen nimmt Parzival ein Bad mit Rosenwasser und legt seine alten Kleider ab; er vollzieht somit einen Trennungsritus. Anschließend legt er neue Kleider an und besucht die Messe. Diese Abfolge von formalen Handlungen, Bad, Kleiderwechsel und religiöser Unterweisung, nimmt den Charakter einer Initiation an623, die mit einem zweiten Mahl abschließt, bei dem Parzival nun an Gurnemanz’ Seite speist (169,21–24): dô giengen si ûf den palas, aldâ der tisch gedecket was. der gast ze sîme wirte saz, die spîse er ungesmaehet az.
Im Gegensatz zu der ersten Mahlzeit entsteht eine Mahlgemeinschaft zwischen Parzival und Gurnemanz, bei der beide dieselbe Position bei Tisch einnehmen. Im Anschluss an dieses Mahl erfolgen die ritterliche Belehrung und die Unterweisung im Reiten und im Umgang mit den Waffen. Parzivals ritterliche Ausbildung ist somit abgeschlossen und der Vollzug seines Identitätswechsels wird mit einem dritten Mahl besiegelt, an dem erstmals auch Gurnemanz’ Tochter Liaze teilnimmt (176,13–23): der tisch was nider unde lanc. der wirt mit niemen sich dâ dranc. er saz al eine an den ort. 622 Vgl. hierzu auch das Kapitel zu Parzivals Appetit. 623 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 128.
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sînen gast hiez er sitzen dort zwischen im unt sîme kinde. ir blanken hende linde muozen snîden, sô der wirt gebôt, den man dâ hiez den ritter rôt, swaz der ezzen wolde. nieman si wenden solde, sine gebârten heinlîche.
Parzival speist nun am Kopfende der Tafel zwischen Gurnemanz und Liaze. Liazes Anwesenheit und ihre Fürsorge für Parzival unterstreichen Parzivals neuerworbenen sozialen Status; er ist nun heirats- und herrschaftsfähig. Wie die ritterliche Initiation vollziehen sich auch Parzivals Einsetzungen als Ehemann und als König stufenweise. Zweimal bietet sich ihm die Gelegenheit zu heiraten und zweimal die Gelegenheit zur Übernahme des Gralskönigtums. Jeder dieser Statuswechsel ist mit einem Mahl verbunden. Nachdem Parzivals höfische Erziehung durch Gurnemanz abgeschlossen ist, bittet ihn dieser, Liaze, mit der Parzival zwei Wochen lang jeden Tag gespeist hat, zu heiraten. Parzival lehnt jedoch ab und verlässt Gurnemanz. Er gelangt zur belagerten Burg Pelrapeire, wo er Condwiramurs heiratet. Die Annäherung an Condwiramurs und die Aufnahme einer Liebesbeziehung zu ihr sind wiederum mit einer Abfolge von Mählern verbunden624. Nach der Befreiung der Burg erreicht Parzival Munsalwäsche, wo das Gralskönigtum in Form einer Einkleidung625 und einer Mahlzeit an ihn herangetragen wird. Parzival scheitert jedoch zunächst, da er die Mitleidsfrage nicht stellt. Erst nachdem er eine religiöse Unterweisung durch Trevrizent erhalten hat626, seinen Bruder Feirefiz getroffen und sich mit ihm versöhnt hat und in die Artusgesellschaft integriert ist, ist Parzival bereit für die Übernahme der Gralsherrschaft. Parzivals Krönung zum Gralskönig bildet den Höhepunkt des Romans. Nach seiner Ankunft auf der Gralsburg stellt Parzival Anfortas die erlösende Frage und wird König, wie der Gral es ihm bestimmt hat. Wolfram geht auf die Einzelheiten der Krönung jedoch nicht ein. Das Krönungsmahl ist das einzige feierliche Ele624 Vgl. Kapitel zu Parzivals Appetit. 625 Vgl. Kraß, Geschriebene Kleider, S. 130. 626 Vgl. Kapitel zu Parzivals Aufenthalt bei Trevrizent.
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ment, das Wolfram beschreibt. Das Mahl ist umrahmt von einer Abfolge weiterer festlicher Schilderungen und Initiationsfeiern. Vor Parzivals Krönung findet das Fest von Joflanze statt, bei dem es zu einer Reihe von Eheschließungen kommt. Nach der Krönung wird Feirefiz getauft und heiratet Repanse de Schoye. Im Anschluss liefert Wolfram ebenso wie Heinrich von Veldeke im Eneasroman einen Ausblick in die Zukunft, der die Tragweite der Krönung als Gründungsakt zum Ausdruck bringt. Auch um das Ausmaß des Krönungsmahls zu beschreiben, wählt Wolfram eine ähnliche Formulierung wie Heinrich. Ebenso wie dieser verzichtet er auf eine detaillierte Schilderung der Speisen und der Prozession des Auftragens mit der Begründung, die Aufzählung würde zu lange dauern. Wolfram vermeidet somit bei der Beschreibung des Mahls ebenso wie bei der Krönung die Schilderung von Zeremoniell. Er weist nur darauf hin, dass für das Krönungsmahl mehr Tischplatten als bei Parzivals erstem Besuch auf der Gralsburg herangeschafft werden, und erwähnt verschiedene Sorten Fleisch, von Wildtieren und von Zuchttieren, und verschiedene Sorten Wein, Rotwein, Maulbeerwein und Würzwein sowie Met. Das Krönungsmahl ist zudem durch eine vorangehende Messe und Feirefiz’ nachfolgende Taufe sakral umklammert. Dem Mahl selbst fehlt jedoch die sakrale Konnotation, obwohl die Speisen von dem Gral gespendet werden. Bei dem Krönungsmahl und auch bei der Taufe am nächsten Tag mischen sich sakrale und profane Elemente, jedoch nicht mit dem Ziel, dem Krönungsmahl eine sakrale Konnotation zu verleihen. Gralsmahl und Taufe erhalten stattdessen eine profane höfische Konnotation. Wolfram legt die Schilderung von Parzivals Krönung zum Gralskönig sehr widersprüchlich an. Er bereitet die Krönung durch weitere Initiationen und Feiern vor, beschreibt das Ereignis selbst jedoch nur sehr knapp und verzichtet auf die Erwähnung des Krönungszeremoniells. Zudem erscheint das Krönungsmahl als profaner Akt, bei dem der sakrale Anteil auf ein Minimum reduziert ist. Den größten Anteil der Beschreibung des Festmahls bildet Feirefiz’ Liebe zu Repanse de Schoye. Das Festmahl ist somit kausal mit der Taufe Feirefiz’ verbunden, die alleine durch die Minne zu Repanse de Schoye motiviert ist. Durch die höfischen Elemente, die höfischen Speisen und die Minne, werden Krönungsmahl und Taufe profanisiert. Initiationsmähler werden in der höfischen Dichtung häufig geschildert und erfüllen unterschiedliche Funktionen. Im Erec-Roman Chrétiens bilden das Hochzeitsmahl und das Krönungsmahl jeweils den Abschluss und den Höhepunkt des
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ersten und zweiten Kursus. Diese Mähler bestätigen somit Erecs neu erworbenen Identitätsstatus und strukturieren den Roman. Während Chrétien Erecs Ausbildung höfisch-ritterlicher Idealität in zwei Abschnitten beschreibt, die jeweils mit einem Initiationsmahl enden, fallen in Heinrichs Eneasroman dieselben Ereignisse, Krönung und Hochzeit, zusammen und bilden so den Abschluss und Höhepunkt der Erzählung. Im Nibelungenlied hingegen kontrastiert Siegfrieds höfische mit seiner heroischen Initiation. Der Dichter stellt dabei zwei Flüssigkeiten, Blut und Wein, die die höfische und die heroische Welt repräsentieren und sich im Verlauf des Epos als austauschbare Getränke erweisen, einander diametral entgegen. Im Parzival wiederum beschreiben Chrétien und Wolfram Parzivals Individuation als Prozess, der von Mählern begleitet wird. Insbesondere in Wolframs mittelhochdeutscher Bearbeitung kennzeichnet Parzivals Verhalten während des Mahls seine höfischen Fortschritte.
2. Gastmähler Im Gegensatz zu Festen, die geplant und organisiert werden, findet Gastfreundschaft in der Regel spontan statt, wenn sich ein Hilfe suchender Ritter an einen Hausherren wendet. Gastfreundschaften und Gastbewirtungen werden in der höfischen Epik häufig geschildert. In der Regel handelt es sich dabei um Situationen, in denen der Protagonist auf nächtliche Unterkunft und Nahrung angewiesen ist. Die Beschreibung der Bewirtung bildet meist den Mittelpunkt bei der Schilderung von Gastfreundschaftsepisoden. Die Menge und die Art der bei der Gastbewirtung angebotenen Speisen sind Zeichen für die Qualität der Gastfreundschaft und somit für die höfische Bildung des Gastgebers. Während der Gast, ohne eine materielle Gegenleistung erbringen zu müssen, in den Genuss von Hilfe und Nahrung durch den Gastgeber kommt, kann dieser durch die gelungene Bewirtung eines vornehmen Gastes auf immaterieller Ebene gesellschaftlich profitieren, da die Anwesenheit eines hohen Gastes ihn ehrt und zur Steigerung seines Ansehens beitragen kann. Die Bewirtung des Gastes und die damit verbundene Aufnahme in die Tischgemeinschaft weisen aber nicht nur auf die Großzügigkeit und die höfische Gesinnung des Gastgebers hin, sie stellen vor allem auch eine rechtlich bedeutsame Form der Integration dar. Durch die Einbindung in die Tischgemeinschaft und die Versorgung mit Nahrung bringt der Gastgeber performativ zum Ausdruck, dass er den Gast seinem Schutz unterstellt und ist ihm fortan rechtlich verpflichtet. Die Beziehung zwischen Gastgeber und Gast ist somit ein sensibles Verhältnis, das soziale, gesellschaftliche und rechtliche Implikationen aufweist und somit das Potenzial besitzt, sowohl dauerhafte (Freundschafts-)Beziehungen und Bündnisse als auch Auseinandersetzungen und Konflikte zu evozieren. Ausführlich werden von den höfischen Dichtern solche Episoden behandelt, in denen die Gastfreundschaft entweder vorbildlich ausgeübt wird oder misslingt, indem der Gast oder der Gastgeber die Regeln der Gastfreundschaft, wie die Schutzpflicht und das Gebot der Uneigennützigkeit, missachtet oder ausnutzt. Außerdem kann es vorkommen, dass Gastgeber und Gast trotz eines guten Verhältnisses mit Bündnischarakter im Anschluss an die Gastbewirtung in Konflikt geraten, wenn die rechtliche Verpflichtung zur Gastfreundschaft in Konkurrenz zu anderen Verpflichtungen tritt.
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2.1. Gastfreundschaft als Freundschaft Gastfreundschaften, die auf rechtlichen Verpflichtungen und dem Gebot der Uneigennützigkeit basieren, können sich zu Freundschaften entwickeln, die emotionale Beziehungen zwischen Gastgeber und Gast sowie auf Gegenseitigkeit ausgerichtete Hilfebündnisse einschließen. Der Erec und der Iwein schildern solche gelungenen Gastaufnahmen, bei denen die Gastgeber ihrem Gast Hilfe und Fürsorge zukommen lassen und die über die Gastfreundschaft hinaus dauerhafte Freundschaften und Bündnisse zur Folge haben. Den Initialakt für die Gastaufnahmen bildet jeweils ein Gastmahl. Im Erec werden zwei gelungene Gastfreundschaften geschildert, bei denen sich freundschaftliche Beziehungen zwischen zwei Männern entwickeln. Während im ersten Kursus Erecs zukünftiger Schwiegervater Koralus Erec Hilfe leistet und ihn in einer Notlage gastlich aufnimmt, wofür dieser sich später revanchiert, trifft Erec im zweiten Kursus auf den kleinen König Guivreiz, mit dem er ebenfalls ein auf Gegenseitigkeit ausgerichtetes Verhältnis eingeht. Hartmann schildert die Begegnung zwischen Erec und Koralus sowie die Hilfe, die Koralus Erec zukommen lässt, sehr ausführlich. Im Mittelpunkt von Erecs Aufenthalt bei Koralus steht das Gastmahl, das Erec, obwohl es in Hartmanns Roman nur ex negativo beschrieben, aber nicht vorhanden ist, dabei hilft, seine Identitätskrise zu überwinden. Guivreiz hingegen begegnet Erec gleich zweimal. Insbesondere Erecs zweiter Aufenthalt in Guivreiz’ Schloss dient dazu, Erecs Wunden durch die von Guivreiz angebotenen Speisen zu heilen. Der Iwein schildert neben der Freundschaftsbeziehung Iweins mit dem Löwen die heterosoziale Freundschaft, die sich zwischen Iwein und Laudines Zofe Lunete entwickelt. Die Beziehung zwischen Iwein und Lunete beruht auf einer Gastaufnahme und erstreckt sich über den gesamten Roman. Kennzeichnend für diese Beziehung ist ein wechselseitiges Hilfebündnis, das die Versorgung mit Nahrung einschließt.
Gastfreundschaft als homosoziale Freundschaft Gleich zu Beginn des ersten Kursus’ ist Erec auf Hilfe von außen angewiesen. Nach der Demütigung durch den Zwerg Maliclisier erreicht Erec einen Tiefpunkt seiner ritterlich-höfischen Entwicklung. Er verlässt den Sozialverband des Artushofes und befindet sich in einem fremden Umfeld, in dem er niemanden kennt und sei-
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nerseits nicht erkannt wird. Da keiner ihn als Gast aufnimmt, reitet Erec umher, bis er auf den verarmten Edelmann Koralus trifft. Erecs höfische Identität ist zu dem Zeitpunkt tief erschüttert, er ist suochende (V. 228), habelôs (V. 238), unerkant (V. 245) und wîselôs (V. 250). Seine durch die erlittene Demütigung erschütterte Identität wird weiter verunsichert, da er sich ihrer nicht durch die Praxis höfischer Umgangsformen vergewissern kann. Erec ist auf die Kommunikation höfischer Werte und Lebensart angewiesen, ein Herauslösen aus dem Umfeld des Artushofes bewirkt daher eine Schwächung seiner Identität, da diese zu Beginn des Romans noch nicht ausreichend gefestigt ist. Koralus nimmt Erec gastfreundlich auf und beweist damit trotz seiner Armut höfische Gesinnung. Im Folgenden betont Hartmann sowohl Koralus’ feines Benehmen, das ihn als dem Hofe zugehörig ausweist, als auch dessen unverschuldete Armut. Dies gelingt im Gestus der Negation. So zählt Hartmann schöne Teppiche, bequemes Bettzeug und kostbare Kissen auf, nur um das Vorhandensein dieser prächtigen Ausstattung sofort wieder abzustreiten. Im Mittelpunkt der Szene steht die Beschreibung des nicht vorhandenen Abendessens (V. 386-392): ouch was dâ ritters spîse: swes ein man vil wîse möhte in sînem muote erdenken ze guote, des heten si die überkraft und volleclîche wirtschaft, doch mans ûf den tisch niht entruoc.
Dieses Mahl, das materiell nicht existiert, erfüllt jedoch dieselbe Funktion wie eine manifeste Mahlzeit: Erec wird in Koralus’ Familie aufgenommen. Durch das Aufzählen höfischer Attribute und der direkt darauffolgenden Revocatio vermittelt Hartmann sowohl die höfische Gesinnung als auch die Armut des Gastgebers. Hartmann macht auf diese Weise deutlich, dass das erwähnte Bettzeug eigentlich da sein müsste, ebenso wie das Herrenessen im Überfluss, da Koralus’ gebildete Umgangsformen und seine edle Herkunft mit Reichtum verbunden sein müssten. Das Gastmahl vermittelt somit das Vorhandensein eines höfischen Umfelds, das jedoch imaginär ist und von Erec nicht auf materieller Ebene erfahren werden kann. Die Wirkung ist aber dieselbe, unabhängig davon, ob höfische Speisen serviert werden oder nicht. Deutlich wird dies im Vergleich mit der altfranzösischen
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Vorlage Chrétiens de Troyes, in der Enides Vater und seine Familie längst nicht als so arm beschrieben werden wie bei Hartmann. Bei Chrétien wird Erec ebenfalls herzlich aufgenommen. Für ihn liegen kostbare Kissen und Teppiche bereit und der Diener serviert zum Abendessen Fleisch und Geflügel, zum Händewaschen werden Becken mit Wasser und Tücher gereicht (V. 477-498): La dame an ert devant alee, Qui la meison ot atornee; Coutes porpointes et tapiz, Ot estanuz par sor les liz […] Cil atornoit an la ciusine Por le soper char et oisiax. […] Quant ot le mangier atorné Tel con l‘ an li ot comandé, L‘ eve lor done an deus bacins; Tables, et napes, et bacins Fu tost aparellié et mis, Et cil sont au mangier asis; (Die Herrin des Hauses war ihnen vorangegangen und hatte alles zum Empfang des Gastes vorbereitet; gesteppte Kissen und Teppiche hatte sie über die Ruhebetten gebreitet […] der eine Diener bereitete in der Küche Fleisch und Geflügel für das Abendessen zu. […] Als der Essen fertig war, wie man es ihm befohlen hatte, brachte er ihnen Wasser und zwei Becken; Tische, Tischtücher und Platten waren rasch zur Hand und bereitgestellt, und die drei setzten sich zum Essen.)
Bei beiden Dichtern stellt der Gastgeber eine höfische Atmosphäre her, in der Erec sich wohlfühlt und die es ihm möglich macht, um Hilfe zu bitten, um die erlittene Schmach auszugleichen. Erec und sein Gastgeber spiegeln einander höfisches Verhalten wider und schließen einen Bund, in dem sie sich gegenseitig helfen und der die Wiedererlangung der höfischen Identität beider zum Ziel hat. Die Teilnahme Erecs am immateriellen höfischen Mahl bei Hartmann ist ein Zeichen dafür, dass Erec wieder auf dem Weg ist, Stabilität zu erlangen, diese jedoch noch lange nicht erreicht hat. Koralus verkörpert ebenso wie Erec eine Diskrepanz zwischen Innen und Außen, er lebt Erec durch seinen Tugendadel jedoch vor, dass Gesinnung und
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Einstellung größere Bedeutung zukommen als der Kongruenz von Innerem und Äußerem627. Koralus’ Fürsorge und Hilfe für Erec gehen über die formale Gastfreundschaft hinaus und bilden die Voraussetzung für den Beschluss der Ehe zwischen Erec und Enite. Allerdings profitiert auch der verarmte Koralus von Erecs Besuch, da Erec als sein Schwiegersohn seinen sozialen Status auch materiell wiederherstellen kann. Mit der Hilfe seines Gastgebers und zukünftigen Schwiegervaters Koralus gelingt es Erec schließlich, Iders beim Sperberkampf zu besiegen und den ersten Kursus erfolgreich abzuschließen. Nach dem verligen zu Beginn des zweiten Kursus bricht Erec mit Enite auf Aventiurefahrt auf und gelangt erneut in Situationen, in denen beide auf fremde Hilfe angewiesen sind. Wieder befindet sich Erec, diesmal in Enites Begleitung, entfernt vom Hof in einer Situation ohne Unterkunft und Nahrung. Nach der im Wald verbrachten Nacht trifft das Paar auf einen höfischen Knappen, der sofort ihre Not erkennt und sie bewirtet628. Der Knappe verweist auf seinen Dienstherren, den Grafen, und bietet Erec und Enite in dessen Namen die Gastfreundschaft im Schloss an (V. 3520–3529). Der Graf, dem der Knappe Bericht erstattet, fängt Erec und Enite nach ihrem Mahl ab und lädt sie persönlich in sein Schloss. Erec lehnt dieses Angebot jedoch mit der Begründung, er sei nicht hoffähig, ab. Obwohl Erec und Enite sich verabschieden, um in einer Herberge Quartier zu beziehen, reist der Graf ihnen nach, da er sich bereits in Enite verliebt hat und daran denkt, sie zu entführen. Hartmann kommentiert das Handeln des Grafen mit dem Hinweis, dass dieser Unrecht begehe, da er die Pflicht habe, Erec und Enite als Gästen in seinem Land den Frieden zu garantieren und sie vor Schaden zu schützen (V. 3678–3683). Hartmann konstatiert somit an dieser Stelle bereits den Rechtsbruch, erklärt das Verhalten des Grafen jedoch mit der Liebe. In der Herberge wählt der Graf, um sich Enite zu nähern und Pläne gegen Erec zu schmieden, ausgerechnet die Mahlzeit, einen Ort des Friedens und des Rechts. Da Erec die Tischgemeinschaft mit Enite aufgehoben hat und getrennt von ihr speist, nutzt der Graf die Gelegenheit, sich zu Enite zu setzen und sie zur Ehe mit ihm zu überzeugen629. Erec nimmt zwar die Speisen des Grafen von dessen Knappen an, vergilt das Mahl aber sogleich, indem er dem Knappen das schönste der erbeuteten Pferde 627 Vgl. Sosna, Fiktionale Identität, S. 62. 628 Vgl. Kapitel zu Desintegration und Reintegration. 629 Vgl. Kapitel zur Gemeinschaft von Tisch und Bett.
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schenkt. Die Gastfreundschaft des Grafen in dessen Schloss lehnt er jedoch ab. Der Graf hingegen bietet zwar Speisen und Unterkunft an, wodurch er Erec formal als seinen Gast anerkennt und die Pflichten des Gastgebers übernehmen will, intrigiert aber gleichzeitig gegen ihn. Die vom Grafen ausgesprochene Einladung erfolgt zudem nicht aus Großzügigkeit, sondern aus seinem Interesse an der schönen Enite. Die Begegnung mit dem ersten Grafen endet schließlich in einem Kampf. Während diese misslungene Gastfreundschaft mit einer Bewirtung beginnt und mit einem Kampf endet, beginnt die gelungene Gastfreundschaft, die der kleine König Guivreiz im Anschluss Erec und Enite gewährt, mit einem Kampf und endet mit einem Mahl. Obwohl Erec sich friedlich verhält und versucht, die Konfrontation abzuwehren, fordert Guivreiz ihn nach Betreten seines Herrschaftsgebiets sofort zum Kampf heraus. Erec trägt zwar den Sieg davon, zieht sich im Kampf jedoch eine schwere Wunde zu und verletzt seinerseits auch Guivreiz. Als Guivreiz Erecs Namen erfährt, verspricht er ihm seine Treue und beide schließen Freundschaft (V. 4559–4561). Beide beklagen die Wunden des anderen und verbinden sich gegenseitig. Guivreiz lädt Erec und Enite zur Genesung in sein Schloss, sorgt für ihre Bequemlichkeit und bewirtet sie (V. 4611-4613): Êrec enwart nie baz gehandelet anderswâ dan ouch des selben nahtes dâ.
Guivreiz’ Fürsorge für Erec und das gemeinsam eingenommene Mahl bestätigen den Freundschaftsbund und das Treueversprechen. Erecs Aufenthalt in Guivreiz’ Burg stellt zudem eine Ehre für Guivreiz dar und er verpflichtet sich Erec als Gegenleistung für die Zukunft (V. 4562–4569). Die Freundschaft mit Guivreiz kommt Erec zugute, als er sich mit Enite nach der zweiten Grafenepisode auf der Flucht befindet. Auch die zweite Begegnung mit Guivreiz beginnt mit einem Kampf, bei dem Erec beinahe sein Leben verliert, da die Freunde einander nicht erkennen. Erst durch Enites Eingreifen erkennt Guivreiz Erec und lädt beide wieder in sein Schloss, wo Erec vollständig genest630. Erneut kümmert sich Guivreiz um Erecs und Enites Bequemlichkeit. Hartmann betont insbesondere Guivreiz’ Reichtum und die zahlreichen Möglichkeiten der Versorgung mit höfischen Speisen.
630 Vgl. Kapitel zur Desintegration und Reintegration.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
Gastfreundschaft als heterosoziale Freundschaft Während der Erec zwei homosoziale Gastfreundschaftsbündnisse schildert, berichtet der Iwein von einer heterosozialen Beziehung, die auf einem andauernden Bündnis aus freiwilligen Leistungen und Gegenleistungen basiert. Nachdem Iwein Laudines ersten Ehemann, Askalon, durch den Kampf an der Quelle tödlich verwundet hat und dieser in seine Burg geflohen ist, sitzt Iwein gefangen zwischen zwei Falltoren. Er kann weder vor noch zurück und findet keinen Ausweg. Schließlich erscheint Lunete durch eine kleine Türe und setzt ihn von Askalons Tod und dem daraus resultierenden Zorn des Gesindes in Kenntnis. Lunete bietet Iwein ihre Hilfe an, da sie ihn von einem Besuch am Artushof kennt und sich ihm aufgrund seiner Gastfreundschaft und Höflichkeit verpflichtet fühlt (V. 1196f). Indem sich Iwein gegenüber Lunete am Artushof gastfreundlich verhalten hat, ist eine Bindung zwischen beiden entstanden, die auf gegenseitigen Schutz und Hilfe ausgerichtet ist und bis zum Ende des Romans bestehen bleibt. Lunete revanchiert sich für Iweins freundliches Verhalten. Sie gibt Iwein den Ring, der ihn unsichtbar macht, und führt ihn zu einem schönen Bett. Anschließend bietet sie ihm eine Mahlzeit an, die Iwein gerne annimmt (V. 1217-1223): und dô er was gesezzen, sî sprach: „welt ir iht ezzen?“ er sprach: „gerne, der mirz gît.“ sî gienc und was in kurzer zît her wider komen unde truoc guoter gâchspîse gnuoc: des saget er ir gnâde und danc.
Durch die förmliche Frage bietet Lunete Iwein ihre Gastfreundschaft an und signalisiert, dass sie bereit ist die Schutzpflicht der Gastgeberin zu übernehmen. Iwein antwortet ebenso formelhaft und dankt ihr für die Speisen. Auf diese Weise sind in der Begegnung zwischen Iwein und Lunete alle Elemente eines Bündnisses und eines Hausherr-Gast-Verhältnisses enthalten. Auch wenn Laudine und nicht Lunete die Hausherrin ist, gewährt diese ihm Protektion, Unterkunft und Verpflegung. Indem Lunete Iwein den Ring, das Bett und die Mahlzeit überlässt, sind alle rechtlich fixierten Gastgeberpflichten erfüllt. Auf dieser Basis von Verpflichtung und Freundschaft entspinnt sich ein dauerhaftes Bünd-
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nis zwischen Iwein und Lunete, das auf gegenseitige Hilfe ausgerichtet ist und durch das Mahl besiegelt wird. Den Beziehungen zwischen Erec und Koralus, Erec und Guivreiz sowie Iwein und Lunete ist gemeinsam, dass sie aus Gastfreundschaften mit einem initialen Essakt heraus entstanden sind. Während Koralus Erecs zukünftiger Schwiegervater und somit ein Verwandter ist und Guivreiz Erec explizit einen vriunt nennt (V. 4560), unterscheidet sich die Beziehung von Iwein und Lunete auf mehrfache Weise von den Beziehungen zwischen den Männern. Neben dem augenfälligsten Unterschied der Geschlechterdifferenz und dem Standesunterschied, der zwischen Erec, Koralus und Guivreiz nicht besteht, wird Lunete niemals direkt als Freundin bezeichnet und es wird auch nicht wie bei der Beziehung zwischen Iwein und dem Löwen von Liebe gesprochen. Die Beziehung zwischen Iwein und Lunete kennzeichnet sich jedoch über eine besondere gegenseitige Treuebindung, die aus der Gastfreundschaft Iweins gegenüber Lunete in Britannien und deren Erwiderung durch Lunete im Quellenreich resultiert und sich durch den Verlauf des gesamten Romans zieht. Somit besitzt das heterosoziale Treuebündnis eine Konstanz, die die homosozialen Verbindungen nicht aufweisen. Sowohl Iwein als auch Lunete sind bereit, zugunsten der durch die Gastfreundschaft entstandenen Treuebindung andere Verpflichtungen zurückzustellen. Obwohl die Beziehung zwischen Iwein und Lunete nicht explizit Freundschaft oder Liebe genannt wird, verleiht die gegenseitige Treue der Beziehung einen Freundschaftscharakter.
2.2. Gastfreundschaft als Bündnis Der Yvain Chrétiens de Troyes, der Iwein Hartmanns von Aue und der Willehalm Wolframs von Eschenbach diskutieren das Wesen der Gastfreundschaft als uneigennützige Leistung des Gastgebers, die nicht auf der Erwartung einer Gegenleistung basieren darf. Dennoch besteht für den Gast und den Gastgeber die Möglichkeit, über die Gastfreundschaft hinaus ein Bündnis aus gegenseitigen Hilfeleistungen zu schließen, die jedoch freiwillig erfolgen, und somit die Leistung des Gastgebers zu vergelten. Der Iwein behandelt eine Vielzahl von Bündnissen, die auf Verpflichtungen basieren. Der Bruch der Vereinbarung mit Laudine bewirkt als Konsequenz nicht
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nur Iweins Nahrungsbündnis mit dem Eremiten631, von dem letzten Endes beide profitieren, sondern auch die Fortsetzung seines Bündnisses mit Lunete. Iwein gerät jedoch auch an Gastgeber, die versuchen, ihm für ihre Gastfreundschaft eine Gegenleistung abzuverlangen. Bei den Gastfreundschaften im Iwein kann somit zwischen Begegnungen, die auf dem Ehrencodex von Leistung und Gegenleistung basieren, und solchen, bei denen dieser Ehrenkodex pervertiert wird und die das Gebot der Uneigennützigkeit des Gastgebers verletzen, unterschieden werden. Dabei vollzieht sich ein Dreischritt von der idealen Gastfreundschaft, bei der der Gastgeber keinerlei Erwartungen an seinen Gast stellt, über eine Gastfreundschaft, bei der um eine Hilfeleistung seitens des Gastes gebeten wird, hin zur verkehrten Gastfreundschaft, die die Gegenleistung des Gastes sogar fordert. Im Willehalm hingegen schildert Wolfram eine Gastfreundschaft, bei der ebenfalls ein Bündnis zwischen Gast und Gastgeber entsteht, das jedoch im Gegensatz zur Beziehung zwischen Iwein und Lunete nicht in einer Freundschaft mündet, bei dem beide Parteien jedoch die Leistung des anderen freiwillig vergelten.
Ideale Gastfreundschaft: Iwein Die erste im Iwein geschilderte Gastfreundschaft ist die Aufnahme Kalogrenants im Rahmen seiner Quellen-Aventiure. Zweimal erhält Kalogrenant Unterkunft bei einem vorbildlichen höfischen Gastgeber, der ihn ohne die Erwartung einer Gegenleistung beherbergt und zehn Jahre später Iwein auf dieselbe höfische Art behandelt. Bei der ersten Riesen-Aventiure hingegen beharrt der Gastgeber darauf, dass Iwein sein Hilfsangebot einhält und richtet seine Gastfreundschaft an Iweins Hilfeleistung aus. Bei der zweiten Riesen-Aventiure betrachtet der Gastgeber die Gastfreundschaft sogar als Vorausleistung für Iweins Unterstützung im Kampf gegen die Riesen und fordert diese explizit ein, ist im Gegenzug aber auch bereit, Iwein durch die Ehe mit seiner Tochter zu vergelten. Gleich zu Beginn der Erzählung berichtet Kalogrenant von einem höfischen Gastgeber, der ihn bei seiner misslungenen Quellen-Aventiure zweimal beherbergt. Kalogrenant wird sowohl vor der Aventiure und als auch auf seinem Heimweg von einem sehr vornehmen Burgherrn vorzüglich bewirtet. Der Gastgeber nimmt Kalogrenant an der Pforte in Empfang, seine Tochter nimmt ihm die Waffen ab und legt ihm einen Mantel um. Es wird ihm gestattet, sich mit der schönen Toch631 Vgl. Kapitel zur Desintegration und Reintegration.
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ter, in die sich Kalogrenant sogleich verliebt, zu unterhalten und an ihrer Seite zu speisen. Kalogrenant rühmt in seiner Erzählung die Freundlichkeit, die Ehrenhaftigkeit und die Rücksichtnahme seines Gastgebers, der ihm den Aufenthalt angenehm macht, ihm erlaubt, an der Seite seiner Tochter zu speisen, und der ihn bittet, auf dem Rückweg wieder zu Besuch zu kommen. Beim zweiten Besuch empfängt der Burgherr Kalogrenant ebenso freundlich, obwohl dieser nun nicht zu Pferd, sondern zu Fuß unterwegs ist. Kalogrenant betont, dass sein Gastherr ihm einen höfischen und ehrenvollen Empfang bereitet, unabhängig von seinem Erfolg bei der Aventiure. Die höfische Gesinnung dieses Gastherren zeigt sich darin, dass er seinen vornehmen Gast auf freundliche und unaufdringliche Weise bei sich aufnimmt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Wie das Gastrecht es vorschreibt, wird Kalogrenant angemessen empfangen und bewirtet, aber es werden keine Erwartungen an seinen Besuch geknüpft. Nachdem Iwein Kalogrenants Erzählung gehört hat, entschließt er sich selbst zur Aventiure, und ihm wird bei eben diesem Gastherrn dieselbe freundliche Bewirtung zuteil.
Gefährdung der Gastfreundschaft: Iwein Die nächste Gastaufnahme erfährt Iwein, nachdem er Lunete seine Hilfe beim Gerichtskampf zugesagt hat. Iwein findet Unterkunft in einer Burg, wo er zwar gastlich aufgenommen und bewirtet wird, die Bewohner ihren Kummer während des Mahls aber nur mühsam verbergen können (V. 4400-4405): er wart sînem lîbe ze dienste gekêret und über state gêret. sî wurden vil vaste ze liebe dem gaste alle wider ir willen vrô.
Der Burgherr unterrichtet Iwein auf dessen Nachfrage schließlich über den Riesen Harpin, der seine Söhne gefangen hält. Iwein sagt dem Burgherrn seine Hilfe zu, unter der Voraussetzung, dass der Riese am nächsten Tag rechtzeitig zum Kampf erscheint. Die Burgbewohner bewirten Iwein zunächst freiwillig, ohne eine Gegenleistung zu erwarten und berichten auch erst auf explizite Nachfrage über ihr Dilemma. Nachdem Iwein allerdings sein Hilfeversprechen gegeben hat, scheinen
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die Handlungen der Burgbewohner auf diese Hilfeleistung ausgerichtet zu sein. Sie loben und preisen ihn und bereiten ihm ein weiteres Mahl und ein bequemes Nachtlager (V. 4818f). Als der Riese am nächsten Morgen jedoch nicht auftaucht, bietet der Burgherr Iwein seinen Besitz an, um ihn zum Bleiben zu überreden. Das Angebot, für Geld zu kämpfen, lehnt Iwein entschieden ab und vertraut stattdessen auf Gott. Auch nach dem erfolgreichen Kampf besteht der Burgherr darauf, Iweins Hilfe zu vergelten, was dieser wiederum ablehnt. Obwohl der Burgherr die Regeln der Gastfreundschaft einhält, versucht er dennoch, Iweins Hilfe durch Gegenleistung zu erkaufen und ihn somit zu verpflichten.
Pervertierung der Gastfreundschaft: Iwein Eine Wiederholung und Steigerung dieser Gastfreundschaftsepisode stellt Iweins Aufenthalt in der Burg zum Schlimmen Abenteuer dar. Nachdem Iwein der jüngeren Schwester vom Schwarzen Dorn seine Hilfe im Gerichtskampf zugesagt hat, reitet er fort, um eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Der unfreundliche Empfang durch die Bewohner des Ortes stellt den ersten Verstoß gegen das Gastrecht dar. Als Iwein schließlich erfährt, dass jene ihn nicht beherbergen dürfen, entscheidet er sich trotzdem, in der Burg um Unterkunft zu bitten, da es schon zu spät ist, um eine andere Herberge zu suchen. Iwein wird somit in die Position des Gastes in der Burg gezwungen. Als er das Burgtor passiert, verschließt der Pförtner sogleich den Ausgang hinter ihm, was Iwein mehr als einen Gefangenen denn als einen Gast erscheinen lässt. Das unhöfliche und bedrohliche Verhalten des Pförtners sowie der erbärmliche Zustand von 300 in der Burg gefangenen Frauen, der Iweins Mitleid weckt, stehen im Kontrast zum Gastgeber und seiner Familie. Der Gastgeber und seine Frau verhalten sich ausgesprochen großzügig und höfisch; die Tochter ist edel und jung, schön und gebildet. Iwein wird schon fast zu herzlich empfangen. Die Tochter nimmt ihm die Waffen ab und zieht ihm einen leichten Mantel aus Samt und Hermelin über. Iwein wird reichlich und zuvorkommend bewirtet (V. 6545-6551): Nû giengen sî ouch ezzen, und enwart des niht vergezzen, sî enbuten dem gaste volleclîchen vaste alsô grôze êre
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daz ez nie wirt mêre sînem gaste baz erbôt.
Das üppige Mahl und das Verhalten der Burgbewohner wecken jedoch Iweins Misstrauen und er befürchtet bereits, für die ihm erwiesene Ehre bezahlen zu müssen (V. 6555-6559): Dar under gedâhter iedoch: „ez vert allez wol noch: nû vürht ich aber vil sêre daz ich dies grôze êre vil tiure gelten müeze.“
Das Verhalten der Burgbewohner scheint überzogen und entspricht nicht dem Verhalten, das normalerweise von vornehmen Gastherren zu erwarten wäre. Noch ausführlicher als Hartmann schildert Chrétien die vielen Ehrbezeugungen, die Yvain durch seine Gastgeberfamilie zukommen. So wäscht die Tochter Yvain Gesicht und Hände und begnügt sich nicht damit, ihm ein Mäntelchen zu reichen, sondern kleidet ihn in ein Hemd und weiße Beinkleider und näht ihm anschließend noch Ärmel an. Danach erhält Yvain ein schönes Überkleid und einen gestrickten Mantel aus Scharlachstoff mit grauweißem Pelz. Sie bedient ihn derart zuvorkommend, dass dieses Verhalten Yvain nicht angenehm ist, sondern ihn beschämt und verlegen macht. Auch das Mahl am Abend ist so übertrieben reichlich, dass die Diener es kaum auftragen können (V. 5438-5441): La nuit fu serviz au mangier De tanz mes, que trop an i ot. Li aporters enuiier pot As serjanz, qui des mes servirent. (Abends wurde das Essen aufgetragen, und der Gerichte waren fast zu viele. Den Dienern, die sie brachten, mochte das Auftragen schwer werden.)
Chrétien kündigt die eigentliche Motivation der Gastgeber ironisch an; für dieses freundliche Verhalten wird gewiss eine Gegenleistung erwartet (V. 5424f):
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Or doint Des, que trop ne li cost Ceste losange et cist servise! (Nun gebe Gott, dass ihm dieser Liebesdienst nicht teuer zu stehen kommt!)
Nach dem Essen wird Iwein ein Nachtlager direkt neben der Tochter des Gastgebers bereitet. Am nächsten Morgen klärt der Burgherr Iwein darüber auf, dass als Gegenleistung für die Gastfreundschaft von ihm erwartet wird, gegen die beiden Riesen zu kämpfen. Falls er den Kampf gewinnt, stehen ihm als Lohn die Ehe mit seiner Tochter und eine finanzielle Entgeltung zu. Als Iwein erfährt, dass der Burgherr das Gebot der Gastfreundschaft bricht, indem er für die Herberge eine Gegenleistung erwartet, reagiert Iwein dementsprechend wütend (V. 6647–6649): Dô sprach der gast:„daz ist ein nôt, herre, daz man iuwer brôt mit dem lîbe zinsen sol.“
Das brôt wird von Iwein metonymisch für die Gastfreundschaft verwendet. Die Hauptelemente höfischer Gastfreundschaft bestehen in der Mahlzeit und in der Unterbringung für die Nacht, da Nahrung und Schlaf die wichtigsten Bedürfnisse des Menschen darstellen. Die höfischen Dichter konzentrieren sich bei der Beschreibung einer Herberge in erster Linie auf die Schilderung von Bett und Mahlzeit. Selbstverständlich ist dabei, dass beides kostenlos gewährt wird. Der Herr der Burg zum Schlimmen Abenteuer bietet Iwein zwar Gastfreundschaft an, lockt ihn aber in eine Falle, da er es den Leuten, die unterhalb der Burg wohnen, verbietet, Gäste aufzunehmen. Ein Reisender, der abends eine Unterkunft benötigt, ist somit gezwungen, in der Burg sein Quartier zu suchen. In einem Erzählerkommentar weist Hartmann darauf hin, dass Leistungen, die ein Gastgeber gegen den Wunsch seines Gastes vollbringt, bei diesem keine Anerkennung finden werden (V. 6660–6669). Im Gegensatz zu Kalogrenant ist Iwein seinen Gastgebern daher auch nicht dankbar (V. 6670–6673): ern darf im niemer gesagen danc um sînes orses gemach, wand ez im ûf den wân geschach daz ez in dâ solde bestân.
Selbst nachdem Iwein widerwillig den Forderungen seines Gastgebers nachgekommen ist und die Riesen besiegt hat, zeigt sich der Burgherr weder einsichtig
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noch dankbar. Stattdessen droht er Iwein mit Gefangenschaft, da dieser sich nicht bereit zeigt, seine Tochter zu heiraten. Iweins konsequente Weigerung erzürnt den Vater, der schließlich sein Angebot zurückzieht. Iwein erinnert den Hausherren nun an dessen Verpflichtung, die 300 Frauen freizulassen. Anschließend verweilt er noch sieben Tage in der Burg und kümmert sich um die freigelassenen Frauen. Der Abschied zwischen ihm und dem Burgherren wird von Hartmann nicht geschildert. Die Begegnung zwischen Iwein und dem Herrn der Burg zum Schlimmen Abenteuer steht im Kontrast zu Iweins Verabschiedung von anderen Gastgebern im Roman, die von gegenseitigen Freundschaftsbezeugungen begleitet werden. Zudem sind sich Iwein und der Burgherr aufgrund ihrer Uneinigkeit nicht für die Zukunft verpflichtet, obwohl der Burgherr Iwein beherbergt hat und dieser den Burgherren von den Riesen befreit hat. Bei Chrétien befreit der Burgherr Yvain explizit für die Zukunft von allen Verpflichtungen, bevor er ihn wegschickt (V. 5762f). Die Gastfreundschaft, die Iwein Lunete leistet und die von Lunete im Quellenreich erwidert wird, nimmt den bestmöglichen Ausgang, indem sich eine lebenslange Freundschaft, Verbundenheit und Treue zwischen Iwein und Lunete entwickelt. Im Gegensatz dazu endet die Gastfreundschaft in der Burg zum schlimmen Abenteuer auf denkbar unfreundliche Art und Weise, da offene Drohungen ausgesprochen werden und ein Eheangebot vom potenziellen Schwiegersohn ausgeschlagen und schließlich vom Brautvater zurückgezogen wird.
Gelungene Gastfreundschaft: Willehalm Während der Iwein drei Abstufungen von der idealen bis zur pervertierten Gastfreundschaft beschreibt, behandelt der Willehalm Wolframs von Eschenbach eine gelungene und eine misslungene Gastaufnahme und thematisiert dabei ebenfalls das Verhältnis von Uneigennützigkeit und Vergeltung der Gastfreundschaft. Willehalm reist nach Laon in der Absicht, seinen Schwager, den französischen König Ludwig, um Hilfe im Kampf gegen die Heiden zu bitten. Aufgrund seiner Verwandtschaft und vorhergegangener Hilfeleistungen ist Willehalm überzeugt, dass ihm Ludwig diese Hilfe nicht abschlägt und dass die Königin, Willehalms Schwester, ihn bei dieser Bitte unterstützt (122,1418). Als Willehalm jedoch zum Hoftag in Laon eintrifft, zu dem seine gesamte Familie versammelt ist, wird er schlecht empfangen. Niemand kommt ihm entgegen, um ihn zu grüßen und sein Pferd zu versorgen. Willehalm setzt sich schließlich in voller Rüstung unter zwei Bäume, wo man ihn von den Fenstern des Palas aus gut sehen kann. Nach einer Weile wird sei-
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ne Ankunft König Ludwig gemeldet. Die Königin erkennt ihren Bruder sofort und ordnet an, ihn nicht einzuladen und ihn abzuweisen, wenn er an die Tür klopfen sollte (129,28–130,2). Wimar, ein Kaufmann ritterlicher Abstammung, spricht Willehalm schließlich an und bittet ihn, sein Gast zu sein. Wimar ist sich der ständischen Differenz zu Willehalm bewusst und betrachtet es daher als Ehre, Willehalm gastlich aufnehmen zu können. Wimar betont explizit, dass Willehalms Aufenthalt in seinem Haus unter seinen eigenen Standesgenossen seinen gesellschaftlichen Status hebt (131,4-6). Wimars Einladung ist somit nicht vollkommen uneigennützig. Willehalm nimmt Wimars Einladung an und beklagt sich dabei über seine Verwandten, die das Gesetz von Gabe und Gegengabe verletzt haben, indem sie in der Vergangenheit Willehalms Geschenke annahmen und ihm nun den Willkommensgruß verweigern (131,16-20). Wimar kümmert sich jedoch vorbildlich um Willehalm: Er nimmt ihm die Rüstung ab, versorgt sein Pferd und lässt kostbare Decken und Kissen herbeischaffen. Willehalm lehnt die Bequemlichkeit jedoch aufgrund seines Schwurs gegenüber Gyburc ab632. Schließlich lässt Wimar ein prunkvolles, übermäßiges Festmahl auftischen, das Wolfram ausführlich beschreibt. Aufgetragen werden ausschließlich teure höfische Speisen, verschiedene Sorten Fisch, Fleisch, Geflügel und Wein in mehreren Gängen. Wimar scheut dabei keine Kosten (133,16–19): der wirt die kost an sich so nam, soltz im lœsen sinen lip, sone möhte er selbe und ouch sin wip des nimmer baz genemen war.
Wimars Großzügigkeit zeugt nicht nur von seiner höfischen Bildung, darüber hinaus schafft seine Bereitwilligkeit, Willehalm mit den besten Speisen zu versorgen, einen Bund zwischen Willehalm und Wimar, der die ständischen Differenzen überwindet und über die Gastfreundschaft hinaus andauert. Diese freundschaftliche Verbindung zwischen Willehalm und Wimar kommt zustande, obwohl Willehalm wiederum aufgrund seines Schwurs nichts von den Speisen isst. Wimar bietet seinem Gast zunächst an, noch bessere Speisen zu besorgen (134,1519): der wirt sprach: „herre, disem lant, wære dem bezzer spise erkant, 632 Vgl. Kapitel zu Fasten als Akt der Intimität.
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der wurdet ir schone von mir gewert. saget mir ob ir iht anders gert: da lat mich balde werben nach.“
Willehalm gibt sich daraufhin seinem Gastgeber zu erkennen, erklärt seine Situation und leistet gleichzeitig ein Treueversprechen, das aufgetischte Mahl zu vergelten (135,17-20): „Willalm bin ich genant, getrag ich immer gebende hant, iu wirt vergolten disiu nar, swie swach ich hinte bi iu var.“
Anschließend kommt Wimar Willehalms Bitte nach Wasser und Brot nach, ohne ihn weiter zu befragen. Beim Hoffest am nächsten Tag besteht Willehalm im Gegenzug darauf, dass Wimar bei Tisch neben ihm sitzt. Willehalm begründet die Wahl seines Tischnachbarn mit seinen durch Tybalt erlittenen Verlusten. Die Mahlgemeinschaft mit Wimar ist somit zum einen Ausdruck von Willehalms Trauer, zum anderen stellt sie jedoch auch die Einlösung des zuvor gegebenen Versprechens dar und bildet somit die Gegenleistung für Wimars Freigiebigkeit als Gastgeber (175,26–176,3): der sprach „mit hat Tybalt benomen swaz ich gesellen mohte han: minen wirt, den koufman, den heizet mir ze gesellen geben.“ do mohte Wimar gerne leben, [W]an er ans riches tische saz und mit den hœhisten vürsten az under rœmischer krone.
Während Czerwinski argumentiert, dass der Aufenthalt Willehalms in Wimars Haus und seine Tischgemeinschaft mit ihm in erster Linie darauf ausgerichtet sind, Willehalm abzuwerten und seinen desolaten Zustand zu demonstrieren633, könn633 Vgl. Czerwinski, Glanz der Abstraktion, S. 51.
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te Wimars Gastfreundlichkeit ebenso als inszenierter Kontrast zum ungastlichen Benehmen von König Ludwig und dessen Frau, Willehalms Schwester, zu verstehen sein, da die instabilen prekären Familienbeziehungen im Willehalm ein Paradigma darstellen, auf das Wolfram immer wieder anspielt634. Willehalm betont bei der Äußerung seines Wunsches, mit Wimar zu speisen, ebenso dessen gesellschaftliche Stellung als Kaufmann wie seine Rolle als Willehalms Gastgeber (175,28). Für Wimar bedeutet die Teilnahme an der fürstlichen Tischgemeinschaft den Gewinn an gesellschaftlichem Ansehen. Zudem schenkt Willehalm ihm zum Dank zweihundert Markt. Wolfram betont, dass Wimar seine Gastfreundschaft somit zweifach vergolten wird, materiell und immateriell (176,7–9). Der Iwein und der Willehalm schildern jeweils eine gelungene Gastfreundschaft mit Bündnischarakter, bei der jedoch keine Freundschaft entsteht. Der Burgherr im Iwein gewährt sowohl Kalogrenant als auch Iwein freiwillig eine angemessene Unterkunft, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Er beherbergt Kalogrenant sogar nach dessen erfolgloser Aventiure, die dessen ritterliches Ansehen schädigt, sodass dieser dem Gastgeber keinen gesellschaftlichen Gewinn verschaffen kann. Im Gegensatz dazu ist sich der Kaufmann Wimar im Willehalm der Steigerung seines Ansehens durch die Bewirtung Willehalms durchaus bewusst. Sein besonderes Bemühen um den hohen Gast ist jedoch nicht durch die Erwartung einer Gegenleistung motiviert, sondern vor allem durch den Wunsch Willehalm seinem Stand angemessen zu behandeln. Willehalm entschädigt Wimar dennoch freiwillig, indem er ihn als Tischnachbarn wählt und ihn beschenkt. Im Gegensatz zu diesen beiden Gastbeherbergungen, bei denen sowohl die Leistung als auch die Gegenleistung freiwillig erfolgen, erwarten die Gastgeber bei den Riesen-Episoden im Iwein in unterschiedlichem Maße eine Vergeltung ihrer Gastfreundschaft. Im Anschluss an den Waldwahnsinn leistet Iwein in einer Reihe von Aventiuren seinen Gastgebern Hilfe. Iweins Hilfeleistung gegenüber Lunete, die aus einer durch die Gastfreundschaft entstandenen Freundschaft resultiert, erfolgt freiwillig und wird von ihr mit keinem Wort gefordert. Die Hilfeleistungen in den beiden Riesen-Episoden hingegen werden von Iweins Gastgebern in unterschiedlichem Maße verlangt, weswegen Iwein diesen Aufforderungen weniger gerne bzw. nur gezwungenermaßen nachkommt.
634 Vgl. Toepfer, Enterbung und Gotteskindschaft.
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2.3. Gastfreundschaft als rechtliche Verpflichtung Das Gebot der Uneigennützigkeit schließt eine Gegenleistung somit nicht aus, diese muss allerdings freiwillig durch den Gast erfolgen und kann ein dauerhaftes Bündnis zur Folge haben. Vonseiten des Gastgebers umfasst die Gastfreundschaft jedoch explizit rechtliche Verpflichtungen, wie beispielsweise die Schutzpflicht des Gastgebers gegenüber dem Gast, deren Verstoß einen Rechtsbruch darstellt. Diese rechtlichen Verpflichtungen des Gastgebers gegenüber dem Gast setzen mit dem Gastmahl ein. Der Perceval Chrétiens de Troyes und das Nibelungenlied thematisieren Gastaufnahmen, bei denen die rechtliche Verpflichtung gegenüber dem Gast in Konkurrenz zu anderen rechtlichen Verpflichtungen tritt.
Gastfreundschaft und Rache: Perceval Der Perceval Chrétiens de Troyes verhandelt wiederholt die Konkurrenz zweier widersprüchlicher rechtlicher Verpflichtungen im Rahmen der Gastfreundschaft. Während der adelige Vasall Garin in den Konflikt gerät, sich zwischen seiner Verpflichtung als Gastgeber und als Vasall entscheiden zu müssen, wird Guigambresil mit den entgegengesetzten Verpflichtungen zum Gastschutz und zur Blutrache konfrontiert. Chrétien schildert nicht nur Percevals Suche nach dem Gral, ein großer Teil der Erzählung ist zudem den Aventiuren Gauvains, einem der vorbildlichsten Artusritter, gewidmet. Angeklagt durch den Ritter Guigambresil, seinen Vater zu Unrecht getötet zu haben, verlässt Gauvain die Artusgesellschaft, um sich dem Kampf mit Guigambresil zu stellen. Bereits kurz nach seinem Aufbruch wird Gauvain aufgrund der Auseinandersetzung zweier Schwestern unfreiwillig in ein Turnier einbezogen und muss seine Kampffähigkeit unter Beweis stellen. Da er sich zunächst nicht am Turnier beteiligen will, gerät er unter Verdacht ein Kaufmann zu sein, der sich den Zoll sparen will. Als schließlich der Landesherr, Tiebaut von Tintagel, Gauvains Gastgeber, den adeligen Vasall Garin um Aufklärung bittet, wertet dieser das Gastrecht höher als das Lehnsrecht und verteidigt Gauvain gegen seinen Lehnsherrn (V. 5274-5281). Nachdem Gauvain die Situation aufgeklärt hat, erweist sich Tiebaut wiederum selbst als guter Gastgeber und sichert ihm für seinen weiteren Weg Begleitung, Ausrüstung und Nahrung zu (V. 5318-5323). Als Gauvains Pferd unterwegs ein Hufeisen verliert, bietet ein unbekannter Ritter Gauvain seine Gastfreundschaft an und fordert ihn auf, in seiner Burg Quartier
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zu beziehen und in Gesellschaft seiner Schwester auf ihn zu warten. Bei diesem unbekannten Ritter handelt es sich um Guigambresil, der Gauvain aber ebenso wenig erkennt, wie Gauvain ihn. Ein Ritter, der Guigambresil begleitet, bringt Gauvain zu dessen Burg und führt ihn zu Guigambresils Schwester, die er bittet, sich um Gauvain zu kümmern und ihn zu bewirten (V. 5792–5802): Et si li dist: „Amie bele, Vostre frere salus vos mande Et de cest seignor vos comande Qu‘ il soit honerez et servis; Ne nel faites mie a envies, Mais trestot ausi de bon cuer Com se vos estiiez sa suer Et com s‘ il estoit vostre frere. Or gardez ne soiez avere De tote sa volenté faire, Mais large et franche et debonaire.“ (Und er sagte: „Liebe Freundin, Euer Bruder entsendet Euch Grüße und heißt Euch diesen Herren hier ehren und bewirten; nicht unwillig sollt ihr es tun, vielmehr so erbötig, als wäret Ihr seine Schwester und er Euer Bruder. Zeigt Euch nicht kleinlich bei der Erfüllung all seiner Wünsche, sondern freigiebig, großzügig und freundlich.“)
Wie schon bei der Begegnung mit Tiebault bezieht gute Gastfreundschaft neben freundlichem Verhalten auch die Versorgung mit Speisen mit ein. Indem Guigambresil seiner Schwester den freundlichen Empfang und die großzügige Versorgung des Gastes aufträgt, beweist er wie Tiebault seine höfische Gesinnung und seine guten Manieren. Obwohl er als Landesherr verpflichtet ist, Hilfe suchenden Rittern in seinem Herrschaftsbereich Unterstützung zu gewähren, beweist Guigambresil eine besondere Fürsorge gegenüber Gauvain. In dem Moment jedoch, in dem Guigambresil Gauvain als seinen Gast anerkennt und ihm eine Bewirtung zukommen lässt, übernimmt er zugleich auch die Pflichten des Gastgebers, die den Schutz des Gastes einbeziehen. Guigambresil bringt sich somit in den Konflikt zweier konkurrierender Verpflichtungen: Die Pflicht, seinen toten Vater an Gauvain zu rächen, steht der Pflicht gegenüber, Gauvain als seinen Gast zu schützen. Zu diesen konkurrierenden Verpflichtungen kommt noch eine dritte Motivation hinzu: In Abwesenheit Guigambresils tauscht Gauvain mit dessen Schwes-
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ter Zärtlichkeiten aus. Ein Vasall, der beide dabei überrascht, erkennt Gauvain und informiert sogleich die Stadtbewohner, die den Turm, in dem Gauvain sich aufhält, erbost belagern. Von der Situation unterrichtet, kommt Guigambresil Gauvain mit der Unterstützung des Königs von Escavalon zur Hilfe. Der König mahnt Guigambresil, seine Verpflichtung zur Gastfreundschaft höher zu stellen, als die zur Rache (V. 6100-6107). Nachdem der König öffentlich verkündet hat, dass Gauvain dem Gastschutz untersteht, verschiebt er den Kampf zwischen ihm und Guigambresil um ein Jahr.
Gastfreundschaft und Vasallität: Nibelungenlied Auch der Dichter des Nibelungenlieds hebt hervor, welche rechtliche Verbindlichkeit das gemeinsam eingenommene Gastmahl besitzt. Als die Burgunden auf ihrer Reise an den Etzelhof in Bechelaren ankommen, befinden sie sich in einer verzweifelten Lage, da sie ihre Vorräte aufgebraucht haben. Hagen hofft auf einen Gastgeber, der seine höfischen tugende durch die Gabe von Brot beweist. Der Grenzposten Eckewart führt die Burgunden daraufhin zu Rüdiger. Der Aufenthalt der Burgunden in Bechelaren stellt im Epos die letzte gelungene Bewirtung von Gästen dar und bildet einen Kontrast zum Fest am Etzelhof. Irmgard Gephart führt das Gelingen des Festes in Bechelaren und die daraus entstehende Freundschaftsund Treueverbindung zwischen Rüdiger und den Burgunden auf die geklärte ständische Struktur635 und somit auf die Geltung der höfischen Ordnung zurück. Rüdigers Verhalten entspricht genau dem höfischen Protokoll. Er begrüßt die Gäste vil vrœlîche (1656,2) und sorgt sofort für ihre Bequemlichkeit. Anschließend lässt er den Gästen guoten wîn (1668,3) ausschenken und führt sie dann zum Essen. Zu Ehren der Gäste nimmt die Marktgräfin an der Mahlzeit teil. Als die Burgunden weiterziehen wollen, fordert Rüdiger sie zum Bleiben auf. Dankwart befürchtet daraufhin, dass Rüdiger von Bechelaren trotz seiner Großzügigkeit nicht über genug Brot und Wein verfügt, um die Gäste noch länger zu beherbergen (1689,2f): „wâ næmet ir die spîse daz brôt und ouch den wîn, daz ir sô manigen recken noch hînte müeset hân?“
635 Vgl. Gephart, Irmgard: Geben und Nehmen im „Nibelungenlied“ und in Wolframs von Eschenbach „Parzival“. Bonn, 1994, S. 56f. Umgekehrt stellt die ungeklärte ständische Struktur den Grund für Brünhilds Tränen beim Hochzeitsmahl dar.
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Mit vielen essen – Codierung höfischer Sozialität
Rüdiger ist jedoch nicht nur in der Lage, die Ansprüche seiner vornehmen Gäste zu erfüllen, er übertrifft alle Normen, wobei seine Gastfreundschaft und seine Freigebigkeit eine besondere Verbundenheit zwischen Gastgeber und Gästen schaffen. Gastfreundschaft und gute Bewirtung bilden die Grundlage für den Beschluss der Ehe zwischen Rüdigers Tochter und Giselher. Da Rüdiger nicht in der Lage ist seiner Tochter Burgen als Mitgift in die Ehe zu geben, legt er stattdessen ein Treueversprechen ab. Rüdigers Gastfreundschaft hat somit eine dreifache Verbundenheit zwischen ihm und den Burgunden zur Folge: die rechtliche Verbindung zwischen Gastgeber und Gästen (auf die sich später auch Etzel beruft), die verwandtschaftliche Bindung, die durch die Verlobung zustande kommt, und die Treuebindung. Die Burgunden verweilen vier Tage bei Rüdiger, wobei der Dichter Rüdigers milte (1691) preist. Zum Abschied beschenkt Rüdiger die Gäste. Der friedens- und gemeinschaftsstiftende Charakter dieser Mahlzeit ist von derartiger Gültigkeit, dass Rüdiger sich später weigert, gegen seine ehemaligen Tischgenossen zu kämpfen, als er in den Konflikt zwischen die konkurrierenden Verpflichtungen als Gastgeber und Vasall gerät (2159): Dô sprach aber Rüedegêr: „wie sol ichz ane vân? heim ze mînem hûse ich si geladet hân, trinken unde spîse ich in güetlîchen bôt und gap in mîne gâbe: wie sol ich râten in den tôt?“
Rüdiger beruft sich auf seine Rolle als Gastgeber und versucht die Forderungen von Etzel und Kriemhild abzuwehren. Da diese ihn jedoch aus seinen Lehenspflichten nicht entlassen wollen, muss Rüdiger schließlich gegen seine Tischgenossen kämpfen. Vorher kündigt Rüdiger aber die Freundschaftsbindung zu den Burgunden auf. Diese wollen die Kündigung der Freundschaft zunächst nicht anerkennen und berufen sich dabei ebenfalls auf die Gastfreundschaft Rüdigers (2182). Der Vertragscharakter des Mahls in Bechelaren zeigt sich vor allem darin, dass der dort entstandene Bund nun Schritt für Schritt wieder gelöst werden muss und die Burgunden neue Konditionen mit Rüdiger aushandeln. Hagen und Volker halten sich aus der Auseinandersetzung jedoch ganz heraus. Der Kampf gegen die ehemaligen Tischgenossen stellt einen schweren Verstoß gegen die höfische Ordnung dar, der einem Tabubruch gleichkommt. Rüdiger empfindet die Vorstellung, gegen die Burgunden zu kämpfen, als einen derartigen Frevel, dass er befürch-
2. Gastmähler
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tet, dadurch êre, triuwe und zühte zu verlieren (2153,2f), sich schaden und ungefüegiu leit zuzuziehen (2156,1), lîp und sêle zu riskieren (2166,1) und somit seine höfische Identität einzubüßen. Im Gegensatz zum Perceval Chrétiens fällt im Nibelungenlied die Entscheidung zwischen zwei konkurrierenden rechtlichen Verpflichtungen nicht zugunsten der Gastfreundschaft aus. Die Pflicht zur Rache und die Lehenspflicht, die sowohl im Perceval als auch im Nibelungenlied in Konflikt zur Gastfreundschaft tritt, werden im Perceval zweimal als die der Gastfreundschaft nachgeordnete Pflicht gewertet. Im Nibelungenlied erscheint die Wahl zwischen zwei rechtlichen Verpflichtungen als unlösbarer Konflikt und die Aufhebung der Pflicht zur Gastfreundschaft, für die Rüdiger sich schließlich entscheidet, erweist sich als komplexer Prozess, den die ehemaligen Gäste Hagen und Volker nicht anerkennen636. Das gemeinsame Speisen als die gebräuchlichste Form der Nahrungsaufnahme spielt in der höfischen Epik in verschiedenen Kontexten eine bedeutende Rolle. Feste, die die höfische Gesellschaft als solche in ihren Mittelpunkt stellen und feiern, besitzen das Potenzial, gesellschaftliche Verhältnisse zu spiegeln und sowohl das Gelingen als auch das Misslingen höfischer Ordnung offenzulegen. Das Zentrum des Festes bildet immer das Mahl, das meist ausführlich beschrieben wird. Initiationsfeste, die ein einzelnes Individuum in ihren Mittelpunkt stellen, üben ebenfalls eine gesellschaftsbestätigende Funktion aus und bilden gesellschaftliche Gegebenheiten ab. Die höfischen Dichter nutzen die Schilderung von Mählern anlässlich von Hochzeit, Schwertleite und Krönung jedoch auch deutlicher als bei Hoffesten, um den Identitätsstatus des Protagonisten darzustellen und Veränderungen zu markieren. Eine weitere Situation des gemeinsamen Speisens bildet die Gastfreundschaft, die ebenfalls häufig geschildert wird. Hier geht es den höfischen Dichtern meist um die Frage, inwieweit das Essen des Gastgebers durch eine Gegenleistung des Gastes vergolten wird. Das freiwillige großzügige Teilen der Nahrung vonseiten des Gastgebers mit dem Gast kann zu dauerhaften Freundschaften und Bündnissen führen, deren Kündigung sich als beinahe unmöglich erweist. In der höfischen Dichtung existieren jedoch auch Gastgeber, die die Gabe von Nahrung an ihren Gast als Vorausleistung betrachten und explizit eine Gegenleistung einfordern.
636 Zu Rüdigers Treuekonflikt vgl. auch Toepfer, Höfische Tragik, S. 211–241.
Zusammenfassung und Ausblick
In der höfischen Epik des hohen Mittelalters dient die Nahrung als Zeichenebene und besitzt das Potenzial, kulturelle, soziale, schichtspezifische, religiöse und individuelle Merkmale der Figuren zu codieren. Nahrung ist somit immer signifikant und besitzt semiologisch gesehen die Funktion eines Vermittlers, der auf etwas Imaginäres hinweist. Die Bedeutung, die eine bestimmte Speise einnimmt, ist jedoch nicht festgeschrieben, sondern wandelbar und muss kontextabhängig ermittelt werden. In jeder Kultur haben bestimmte Speisen im kollektiven Bewusstsein bestimmte Bedeutungen und besitzen somit besondere Konnotationen, die eine nonverbale alimentäre Kommunikation begründen. Gerade in der Literatur des hohen Mittelalters, das sich durch ein hohes Maß an ritueller Kommunikation auszeichnet, besitzen Mähler und Esshandlungen sozialkommunikativen, zeichenhaften und sogar rechtsverbindlichen Charakter, der sich besonders deutlich bei öffentlichen Anlässen, wie Hoffesten, Initiationsfeiern und Gastbewirtungen, zeigt. Das Mahl erweist sich zudem mehr als jede andere gesellschaftliche Institution als gemeinschaftsstiftend und gruppenbildend. Die Kehrseite der inkludierenden Wirkung der gemeinsamen Mahlzeit nach innen ist jedoch ihre exkludierende Wirkung nach außen. Entscheidend für die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zur Mahlgemeinschaft ist in der höfischen Dichtung vor allem das Essverhalten, das auf den Stand und die ritterliche Ausbildung schließen lässt. Die drei Stände – Adel, Klerus und Bauerntum – grenzen sich in der hochmittelalterlichen Vorstellung deutlich durch ihre Essgewohnheiten voneinander ab. Ein spezifisches Essverhalten, das in der höfischen Epik immer wieder beobachtet werden kann, dient der höfischen Oberschicht als Mittel der sozialen Distinktion. Die wichtigsten Elemente dieses höfischen Essverhaltens sind die Bevorzugung bestimmter teurer Speisen sowie eine besondere Mäßigung und Zurückhaltung im Umgang mit der Nahrung. Die Untersuchung des alimentären Codes in der mittelhochdeutschen Epik berücksichtigt die Essgemeinschaft, die Auswahl und Zubereitung der Speisen und den Umgang mit der Nahrung. Diese Parameter weisen stets auf den Grad der Zugehörigkeit einer Figur zur höfischen Gesellschaft, den Identitätsstatus und somit auch auf das Maß der stets angestrebten ritterlichen Idealität hin. Die Nah-
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Zusammenfassung und Ausblick
rung in der mittelhochdeutschen Epik erfüllt also im Wesentlichen zwei Funktionen: Sie dient zum einen der Identitätsbildung und -darstellung und zum anderen der damit verbundenen sozialen Inklusion und Exklusion. Die Nahrung, die ein höfischer Protagonist zu sich nimmt, besitzt nicht nur das Potenzial, seine Identität abzubilden, sondern trägt auch elementar zu deren Stiftung bei. Die Teilnahme oder die Nicht-Teilnahme an der höfischen Tischgemeinschaft kennzeichnet die Zugehörigkeit eines Ritters zur höfischen Gesellschaft, die wiederum Auswirkung auf seinen Identitätsstatus hat. Einsame Mahlzeiten bedeuten somit immer eine Exklusion des höfischen Protagonisten aus der höfischen Tischgemeinschaft, die meist aus einer Identitätskrise resultiert. Alleine eingenommene Mähler kennzeichnen höfische Defizite und gehen häufig mit dem Verzehr unhöfischer Speisen oder einem unhöfischen Essverhalten einher. Die höfischen Dichter schildern dabei zum einen solche Fälle, bei denen ein von Geburt an zum Rittertum bestimmter Protagonist erst mittels eines Individuationsprozesses in die höfische Gesellschaft aufgenommen wird, und zum anderen solche Fälle, bei denen ein der höfischen Gesellschaft zugehöriger Protagonist aufgrund eines Vergehens wieder von ihr ausgeschlossen wird. Die Integration eines Ritters in die höfische Gesellschaft erfolgt unter anderem über seine alimentäre Sozialisation. Das Verhalten des Ritters bei Tisch spiegelt den Grad an Partizipation am höfischen Verhaltenscodex und lässt somit auf seinen aktuellen Identitätsstatus schließen. Zwei Beispiele für die Aufnahme eines Ritters in die höfische Gesellschaft mittels einer Esssozialisation sind Parzival und Rennewart. Beide Protagonisten verhalten sich bei Tisch gierig. Insbesondere bei Parzival verbessern sich die Essmanieren, sodass sich seine höfischen Fortschritte anhand seines Essverhaltens nachvollziehen lassen, während sich Rennewart niemals vollständig an die Tischgemeinschaft anpasst und seine höfischen Defizite durch die fortwährende Verbundenheit mit der Küche gekennzeichnet sind. Wie die Integration in die höfische Gesellschaft äußern sich auch die Desintegration und die nachfolgende Reintegration eines Protagonisten über die Teilnahme bzw. die Nicht-Teilnahme an der Tischgemeinschaft. Die einsamen Mähler, die aus einer Desintegration resultieren, sind ganz unterschiedlich akzentuiert. Der Grund für eine Desintegration besteht immer in einem ritterlichen Vergehen. Beispiele für Desintegrationen, die aus einer durch ein Vergehen ausgelösten Identitätskrise resultieren, finden sich im Erec, im Iwein, im Parzival und im Gregorius. Alle vier Protagonisten verlassen infolge einer Identitätskrise den Hof und ändern ihre Essgewohnheiten. Während sich Erecs Identitätskrise darin äußert, dass er Mähler
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abseits des Artushofes und somit der höfischen (Tisch-)Gemeinschaft einnimmt, aber weiterhin höfische Speisen verzehrt, ernährt sich Iwein von unkultivierten natürlichen Speisen, die jedoch sakral konnotiert sind. Sowohl Erec als auch Iwein leisten keinen Verzicht beim Essen. Parzival und Gregorius hingegen nehmen in einem explizit christlichen Kontext Fastenspeisen zu sich. Gregorius verzichtet dabei zunächst auf höfische Speisen und schließlich auf Speisen überhaupt. Die Desintegration aus der höfischen Essgemeinschaft und die damit einhergehende Identitätskrise werden somit nicht nur durch die Gesellschaft beim Essen und die Qualität der Speisen markiert, sondern auch durch deren Quantität, die die höfische Norm entweder über- oder unterschreitet. Im Erec liegt der Fokus auf der Gemeinschaft beim Essen und dem Maß an Nahrung, im Iwein auf der Qualität der Speisen und dem kreatürlichen Hunger, im Parzival und im Gregorius hingegen auf dem Fasten bzw. auf dem völligen Nahrungsverzicht. Gemeinsam ist allen Protagonisten der übermäßige Verzehr während der Identitätskrise. Während Erecs alimentäre Reintegration vor allem die Wiedereinbindung in die höfische Tischgemeinschaft impliziert, umfasst Iweins Reintegration den Verzehr kulturell überarbeiteter Speisen und Parzivals Reintegration den Verzehr von Fastenspeisen als Form der Buße, aber auch die Teilnahme an zahlreichen höfischen Mählern im Anschluss an seinen Aufenthalt beim Einsiedler Trevrizent. Gregorius’ Reintegration wiederum äußert sich durch das Empfangen der göttlichen Speisewunder. Die Änderung des Lebensstils aufgrund einer vorangegangenen Krise ist sowohl im Erec als auch im Gregorius, im Iwein und im Parzival mit einer Änderung der Nahrungsgewohnheiten verbunden und im Fall von Gregorius sogar mit einer Veränderung des äußeren Erscheinungsbildes. Die soziale Inklusion und Exklusion funktionieren in der höfischen Epik somit über die Integration bzw. Des- und Reintegration in die höfische Tischgemeinschaft und sind mit der Einnahme einsamer Mähler verbunden. Die Aufnahme in die bzw. der Ausschluss aus der höfischen Tischgemeinschaft sind dabei auf das Engste mit der höfischen Identität eines literarischen Protagonisten verbunden. Mittels der Schilderung von Nahrungsszenen wird in der höfischen Epik nicht nur die Zugehörigkeit zur höfischen Gesellschaft ausgedrückt, auch intime Nahbeziehungen definieren sich über Essgemeinschaften. Mahlzeiten, die von Liebesund Ehepaaren sowie von Freunden zu zweit eingenommen werden, besitzen das Potenzial, als Initialakt zu wirken und Liebe und Freundschaft zu begründen; sie dienen zudem der Demonstration bestehender Liebes-, Ehe- und Freundschaftsbeziehungen nach außen. Die Tischgemeinschaft von Ritter und Dame sowie zwei-
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er Freunde codiert somit die heterosoziale Liebe und Ehe und die homosoziale Freundschaft. Eine besondere Bedeutung besitzt die Gemeinschaft von Tisch und Bett, die sowohl in der Liebe und Ehe als auch in der Freundschaft ausgeübt wird. Diese fest etablierte Institution des gemeinsamen Speisens (und Schlafens) kennzeichnet eindeutig die Zugehörigkeit zweier Menschen zueinander und lässt das Essen somit als intimen Akt erscheinen. Da das Teilen von Nahrung durch Ritter und Dame auch im Eheschließungszeremoniell verankert ist und in der Regel der Bettgemeinschaft vorausgeht, ist die heterosoziale Tischgemeinschaft im Gegensatz zur homosozialen Variante zudem mit einer gewissen Erotik verbunden, insbesondere dann, wenn das heterosoziale Paar noch nicht verheiratet ist. Ebenso bedeutsam wie das gemeinsame ist allerdings auch das getrennte Speisen, das Nicht-Zugehörigkeit vermittelt und im hohen Mittelalter durch den rechtlichen Terminus der separatio quoad thorum et mensam geregelt war. Durch die Trennung der Tischgemeinschaft können eheliche Verbindungen zeitweilig oder dauerhaft aufgehoben werden. In der höfischen Epik lässt sich die Tischgemeinschaft zu zweit in drei Erscheinungsformen beobachten: das gemeinsame Speisen als Ausdruck von Liebe und Freundschaft, das getrennte Speisen als Zeichen der Aufkündigung einer bestehenden Nahbeziehung und das gemeinsame Fasten als Akt der Zugehörigkeit und Solidarität oder als Unmöglichkeit der Nahrungsaufnahme infolge einer heftigen Verliebtheit. Der Erec thematisiert alle drei genannten Möglichkeiten. Die eheliche Tisch- und Bettgemeinschaft wird von Erec und Enite aufgenommen und übersteigert und von Erec schließlich aufgelöst. Zwei Grafen, denen Erec und Enite auf ihrer anschließenden Aventiurefahrt begegnen, versuchen, Enite als Ehefrau zu gewinnen, indem sie eine Tischgemeinschaft mit ihr herstellen. Enite weigert sich jedoch, mit dem zweiten Grafen zu speisen und drückt durch das Fasten ihre Zugehörigkeit zu Erec aus, der aufgrund seines Scheintods nicht in der Lage ist, zu essen. Auch im Iwein erweisen sich die gemeinsame Jagd und die nachfolgende Essgemeinschaft von Iwein und dem Löwen als Initialakt für ihre Freundschaft. Sie legen jedoch gleichzeitig die Differenzen offen, die zwischen dem Menschen, der im Wald tierhaft agiert, und dem Tier, das mit menschlichen Charakterzügen ausgestattet ist, bestehen. Der Willehalm behandelt ebenfalls die eheliche Tisch- und Bettgemeinschaft, die Willehalm und Gyburc miteinander ausüben. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Exklusivität und dem Primat dieser ehelichen Institution. Als Willehalm und Gyburc aufgrund ihrer räumlichen Trennung nicht mehr in der Lage sind, miteinander zu speisen, leistet Willehalm das Versprechen, sich der Nahrung zu enthalten und somit keine Tisch-
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gemeinschaften mit anderen Personen einzugehen. Die Tischgemeinschaft erweist sich nicht nur als ein alleine dem Ehepartner vorbehaltenes Recht, sondern zudem als vorrangig, da Willehalm es in Kauf nimmt, durch seinen Nahrungsverzicht beim höfischen Festmahl Aufsehen zu erregen. Neben der Option, die Zusammengehörigkeit von Liebenden oder Freunden durch das gemeinsame Speisen auf der Handlungsebene zu kennzeichnen, codieren die höfischen Dichter hetero- oder homosoziale Zweierbeziehungen über alimentäre Metaphern. Dies geschieht auf verschiedene Weise: Im Erec, im Parzival und im Eneasroman umschreibt die Jagdmetaphorik sexuelles männliches Begehren durch die Parallelisierung mit alimentärem Begehren. Während der Mann dabei in der Regel die Subjektposition des Jägers einnimmt, kommt der Frau die Objektposition der Beute zu. Im Engelhard fungieren zwei Speisen, Apfel und Ei, die wiederholt erwähnt werden, als Codes für Beziehungen und Zugehörigkeit. Diese Speisen kommen sowohl auf Handlungsebene als auch auf metaphorischer Ebene vor. Im Herzmäre wiederum führt das literarische Spiel mit der wörtlichen und der metaphorischen Ebene zur Materialisierung des Signifikats, sodass das Herz eines liebenden Ritters, das zuvor personalisiert wurde, tatsächlich von seiner Geliebten verspeist wird. Der Essakt, der auf der Handlungsebene stattfindet, hat den Tod des Liebespaares zur Folge. Neben alimentären Metaphern, bei denen Speisen Liebe oder Freundschaft bedeuten, schildert der Tristan den umgekehrten Fall, dass die Liebe die Funktion der Nahrung erfüllt und das ehebrecherische Liebespaar Tristan und Isolde im Wald ernährt. Das Motiv des gemeinsamen Fastens, das auf Handlungsebene wie im Erec oder im Willehalm die Solidarität der Liebenden kennzeichnet, ist in der höfischen Epik auch als Folge der Verliebtheit bekannt. Die Liebe verhindert Appetit und Schlaf, sodass die Liebenden im schlimmsten Fall erkranken. Gottfried von Straßburg deutet dieses Motiv im Tristan jedoch positiv um, sodass die Liebe die Nahrung ersetzen kann. Zu zweit verzehrte Speisen und auch das gemeinsame Fasten bezeichnen in der höfischen Epik somit immer personale Zugehörigkeit und codieren höfische Intimität. Den Regelfall des Nahrungsverzehrs in der höfischen Epik bilden jedoch nicht die einsamen Mähler oder die Mahlgemeinschaften zu zweit, sondern das gemeinschaftliche Mahl in höfischer Gesellschaft. Häufig und ausführlich schildern die höfischen Dichter Festmähler. Bei höfischen Festmählern kann unterschieden werden zwischen Festmählern, die anlässlich von Hoftagen und kirchlichen Feiertagen veranstaltet werden und die höfische Gesellschaft als solche feiern, und Initiationsmählern, die anlässlich von Einsetzungen, wie Krönungen, Schwertlei-
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ten und Hochzeiten, veranstaltet werden und einzelne Individuen in ihren Mittelpunkt stellen. Eine weitere Situation des gemeinsamen Speisens stellt das höfische Gastmahl dar. Festmähler konstituieren und spiegeln gesellschaftliche Gegebenheiten, beispielsweise indem die Tischordnung die gesellschaftliche Hierarchie zeichenhaft abbildet, und eigenen sich daher besonders gut dafür, das Gelingen oder Misslingen höfischer Ordnung offenzulegen. Störungen bei höfischen Festmählern sind daher immer symptomatisch und weisen auf gesellschaftliche Missstände hin. Diese können entweder durch innere gesellschaftliche Instabilität oder durch eine äußere Bedrohung verursacht werden. So erweist sich das festliche Ideal, das in der Artusepik stets propagiert wird, als latent von innen bedroht. Die Festmähler am Artushof laufen kaum störungsfrei ab; der höfische Friede wird durch Keie gestört oder das höfische Protokoll durch König Artus selbst verletzt. Im Parzival eskaliert der Rechtsstreit zwischen Artus und dem roten Ritter Ither während des Mahls. Während innere Krisen nicht durch Festmähler beizulegen sind, erweist sich der Artushof jedoch in der Lage, äußere Bedrohungen durch Mähler abzuwehren. Dies funktioniert über die Integration von dem Artushof fernen Parteien in die Mahlgemeinschaft. Während in der Artusliteratur nur die äußeren, aber nicht die inneren Konflikte durch gemeinsames Speisen beigelegt werden können, gelingt im Willehalm beides. Im Anschluss an das Festmahl in Laon, das aufgrund des Konflikts zwischen Willehalm und seiner Familie misslingt, sagt König Ludwig Willehalm dennoch seine Hilfe im Kampf gegen die Sarazenen zu. Das Festmahl in Orange hingegen, das unter Kriegsbedingungen und Nahrungsknappheit stattfindet, entfaltet eine gemeinschaftsstiftende Wirkung, die die Treuebindungen festigt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt. Im Nibelungenlied besitzen die Festmähler zu Beginn wie in der Artusdichtung friedensstiftendes und integratives Potenzial. Nach der Ankunft von Siegfried am Wormser Hof, nach dem Sachsenkrieg und auch nach der Ankunft der Burgunden am Hof von Brünhild können sich anbahnende Konflikte durch gemeinsames Essen und Trinken friedlich beigelegt werden. Wie in der Artusliteratur dienen die Mähler im Nibelungenlied jedoch auch der Offenlegung innergesellschaftlicher Störungen. Der Verstoß gegen die höfische Ordnung durch den Brautwerbungsbetrug an Brünhild wirkt sich nachhaltig auf die Festmähler aus. Zunächst äußert sich die Störung der höfischen Ordnung durch Störungen des höfischen Zeremoniells beim Mahl. Im Verlauf des Epos zeichnet sich schließlich eine kontinuierliche Steigerung von Gewalt während der Mähler ab, die in zunehmendem Maß misslingen. Während das gemeinsame Essen zu Beginn noch Frieden stiftet und
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garantiert, werden die Festmähler zum Ende des Epos zu einem Ort der Gefahr und der Untergang der Burgunden ist in ein großes Mahl eingebunden. Beachtenswert ist dabei, dass der Dichter des Nibelungenlieds das festliche Vokabular zur Schilderung von Gewalt während des Mahls beibehält und auf diese Weise permanent auf das begangene Unrecht anspielt. Festmähler im Rahmen von Hoffesten dienen somit vor allem dazu, die höfische Ordnung abzubilden und ihr Gelingen oder Misslingen zu spiegeln. Im Rahmen von Initiationen stellen Festmähler Übergangsriten dar, die den neuerworbenen sozialen Status literarischer Protagonisten feiern und bestätigen. Solche Festmähler erfüllen eine kompositorische Funktion und dienen dazu Wende- oder Höhepunkte zu markieren. Dies ist beispielsweise im altfranzösischen Erec et Enide-Roman der Fall, wo Erecs Hochzeit und seine Krönung den Abschluss des ersten und des zweiten Kursus bilden. Insbesondere bei Erecs Krönung spiegeln das Festmahl und der Krönungsmantel auf zeichenhafter Ebene Erecs neue Position als König. Auch im Eneasroman bildet die Krönung zusammen mit der Hochzeit den Höhepunkt und Abschluss der Erzählung. Durch die Referenz auf das Mainzer Hoffest von 1184 wird zudem ein Zusammenhang von Realität und Fiktion sowie von Vergangenheit und Gegenwart hergestellt. Im Nibelungenlied wiederum sind wichtige Initiationen wie Siegfrieds Schwertleite und die Hochzeitsfeier in Worms auf verschiedene Weise gedoppelt. Diese Doppelungen erfüllen zwar auch eine kompositorische Funktion, indem sie wichtige Stationen im Verlauf der Handlung markieren. Siegfrieds zweifach geschilderte Sozialisation ist zudem darauf ausgerichtet, die beiden Seiten seiner Identität als höfischer Ritter und als Heros zu betonen sowie deren Repräsentation durch zwei Flüssigkeiten, Wein und Blut, die im Verlauf des Epos parallelisiert und schließlich vertauscht werden, anzulegen. Die Doppelhochzeit in Worms hingegen stellt das unmittelbare Resultat des Brautwerbungsbetrugs dar und dient wie viele Feste im Nibelungenlied dazu, diese Verletzung der höfischen Ordnung offenzulegen. Im Parzival erfüllen die Mähler vor allem die Funktion, Parzivals Individuation als höfischer Ritter nachzuvollziehen und abzubilden. Parzivals höfische Ausbildung erfolgt dabei zu einem großen Teil über das Essen. Sowohl seine höfischen Defizite als auch seine Fortschritte werden anhand der Mahlzeiten ersichtlich. Obwohl Parzival nur in der altfranzösischen Vorlage, aber nicht bei Wolfram eine Schwertleite empfängt, besitzt seine Ausbildung beim Edelmann Gurnemanz den Charakter eines rituellen Übergangs, der mit einer Abfolge von Mählern verbunden ist. Den Abschluss des Romans bildet wie im Erec und im Eneasroman die Schilderung von Parzivals Krönungsmahl. Neben höfischen Fes-
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ten werden in der mittelhochdeutschen Epik häufig Gastbewirtungen geschildert. Das Gastmahl besitzt ebenso wie das Festmahl eine rechtliche Bedeutung und Funktion, indem es den Gast unter den Schutz seines Gastherren stellt. Zudem ist die Bewirtung des Gastes eine rechtliche Pflicht des Gastgebers, für die dieser keine Gegenleistung fordern darf. Gelungene Gastmähler stiften allerdings wie gelungene Festmähler eine gegenseitige Verbundenheit und einen Zusammenhalt, der sich zu Freundschaften oder Bündnissen entwickeln kann. Dies ist im Erec zweimal der Fall: Sowohl die Bewirtung durch Koralus als auch die Bewirtung durch Guivreiz haben eine dauerhafte Verbindung Erecs mit seinen Gastgebern zur Folge. Im Iwein hingegen werden Kalogrenant und Iwein zu Beginn des Romans ebenfalls durch ihren Gastgeber ideal bewirtet, die Begegnung hat jedoch keinerlei Auswirkungen auf die Zukunft, sondern dient vielmehr der Kontrastierung mit den nachfolgenden Gastfreundschaften im Iwein, bei denen die Gastgeber mehr oder weniger explizit eine Gegenleistung von Iwein fordern. Grundsätzlich kann im Rahmen einer Gastfreundschaft eine Bündnisschließung erfolgen, die zu einer Folge von Leistungen und Gegenleistungen führt. Die Voraussetzung für solch ein Bündnis ist jedoch die Freiwilligkeit, da für Gastaufnahmen und insbesondere für Gastbewirtungen keine Gegenleistung verlangt werden darf. Während der Iwein diesen Tabubruch thematisiert, schildert der Willehalm ein gelungenes Beispiel für eine Gastfreundschaft, die freiwillig vergolten wird. So lassen sich Willehalm und sein Gastgeber Wimar gegenseitig und unaufgefordert Leistungen zukommen, von denen beide profitieren, ohne dass eine einseitige Verpflichtung entsteht. Während das Vergelten von Gastfreundschaft und Gastmahl durch den Gast freiwillig erfolgen kann, aber nicht geleistet werden muss, gilt dies nicht für die rechtliche Schutzpflicht des Gastgebers. Im Perceval und im Nibelungenlied geschilderte Gastfreundschaften machen deutlich, dass die Schutzpflicht des Gastgebers in der höfischen Gesellschaft gegenüber anderen rechtlichen Pflichten einen hohen und nahezu immer übergeordneten Stellenwert besitzt. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Gastmahl zu, das die Gültigkeit der Gastaufnahme besiegelt. So stellt sich der adelige Vasall Garin im Perceval seinem König Tiebaut entgegen und verteidigt seinen Gast Gauvain gegen dessen Anschuldigungen. In einer weiteren nachfolgend geschilderten Gastfreundschaft muss Gauvains Gastgeber Guigambresil darauf verzichten, an Gauvain Rache für den Tod seines Vaters zu nehmen, da er ihm zuvor durch seine Schwester ein Gastmahl zugesagt hat. Im Nibelungenlied wiederum gerät der vorbildliche Gastgeber und Vasall Rüdiger von Bechelaren in einen schier unlösbaren Konflikt, als sein Landesherr König
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Etzel von ihm verlangt, gegen seine Gäste zu kämpfen. Rüdiger weigert sich zunächst und führt als Argument das gemeinsam eingenommene Gastmahl an. Damit der Kampf schließlich doch zustande kommt, muss Rüdiger erst die Verbindung mit seinen Gästen umständlich wieder lösen. Die geleistete Untersuchung setzte ihren Schwerpunkt explizit auf eine Erforschung der Nahrung und des Essverhaltens in der höfischen Epik um 1200 und unterschied dabei die Situationen alleine essen, zu zweit essen und mit vielen essen. Das Essen erwies sich im untersuchten Textkorpus als performativer Akt, der auf nonverbaler zeichenhafter Ebene Bedeutung vermittelt. Dabei wurden vor allem Mechanismen der sozialen Inklusion und Exklusion über Essgemeinschaften, Strategien literarischer Identitätsbildung sowie der Stiftung und Auflösung von kollektiver und personaler Zugehörigkeit mittels der Nahrung und die Performanz von Essakten beleuchtet. Jenseits der höfischen Epik existiert jedoch eine Anzahl weiterer literarischer Texte, die die Nahrung thematisieren und in Bezug auf das Essen noch nicht ausreichend erforscht sind. Ausgehend von den in der Untersuchung erzielten Erkenntnissen soll im Folgenden ein weiteres mögliches Forschungsfeld vorgestellt werden. In der höfischen Epik um 1200 liegt der Schwerpunkt bei der Darstellung von Essen auf dem höfischen Umgang mit der Nahrung, der von den literarischen Protagonisten entweder schon praktiziert wird oder aber erst noch erlernt werden muss. Insbesondere Wolfram von Eschenbach schildert im Rahmen der Darstellung von Individuationsprozessen jedoch auch den unhöfischen Umgang mit dem Essen, der mit Komik verbunden ist. Sowohl im Parzival als auch im Willehalm entwickelt Wolfram auf der Handlungsebene und in den Erzählerkommentaren einen ausgeprägten Küchenhumor, der stets auf die Leiblichkeit der Ernährung und die Esslust anspielt637. Diese Betonung der Leiblichkeit der Ernährung statt ihrer Marginalisierung widerspricht der Einstellung der meisten höfischen Dichter, die sich bei der Beschreibung von Nahrung sehr zurückhalten. Diese Zurückhaltung in Bezug auf die Nahrung ist Teil des höfischen Habitus. Im weiteren Verlauf des Mittelalters entwickelt sich jedoch eine literarische Gattung, die die Tendenz besitzt, Essen in den Vordergrund der Erzählung zu rücken und Essensvorgänge komisch darzustellen. So steht ein unhöfischer Essakt im Zentrum des Geschehens im Märe von der halben Birne, das Konrad von Würzburg zugeschrieben wird. Auch in der Verserzählung Helmbrecht Wernhers des Gärtners, die zwi637 Vgl. hierzu auch Nitsche: Die literarische Signifikanz, S. 263–266.
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schen 1250 und 1280 verfasst wurde und von einem Bauernsohn handelt, der Ritter werden will, nimmt die Nahrung eine exponierte Rolle ein und höfische Speisen werden zum Objekt der Begierde. Sowohl Helmbrecht als auch sein Vater nennen die Nahrung als Argument für die Wahl des Lebensstils und der Ritterstand, den Helmbrecht anstrebt, wird vorwiegend über Nahrung codiert. Nahrung ist im Helmbrecht also wie in der höfischen Epik mit Standesvorstellungen verknüpft. Indem die Nahrung jedoch zum Grund wird, Ritter zu werden, kehrt sich die in der höfischen Epik proklamierte Kausalität um: Nicht derjenige, der Ritter ist, verzehrt höfische Speisen, sondern wer höfische Speisen verzehrt, ist Ritter. Die ritterliche Identität ist im Helmbrecht auf die Nahrung reduziert. Zudem ist die gesellschaftliche Ordnung verkehrt: Höfische Speisen werden von unhöfischen Rittern auf unhöfische Weise verzehrt. Helmbrecht verschafft sich die höfischen Speisen auch nicht auf rechtmäßigem Weg, sondern durch Raubzüge. Auch die von Helmbrecht angestiftete Ehe seiner Schwester mit einem seiner Raubrittergesellen wird durch die Aussicht auf höfische Nahrung motiviert. Den Höhepunkt der Erzählung bildet schließlich die Gefräßigkeit beim Hochzeitsmahl, anschließend wird die gesellschaftliche Ordnung wiederhergestellt; der Richter mit seinen Gerichtsdienern und die beraubten Bauern richten Helmbrecht und seine Gesellen hin638. Nahrung wird im Helmbrecht zur Motivation von Handlung, wobei die gesellschaftliche Ordnung verdreht wird: Die Nahrung wird unrechtmäßig erworben und von den bäuerlichen Rittern unrechtmäßig verzehrt, immer wieder betont Wernher die Gefräßigkeit der Protagonisten. Der Helmbrecht weist somit Elemente der mittelalterlichen Gattung der Schwankliteratur auf, die sich im Gegensatz zur höfischen Epik an ein bürgerliches Publikum richtet. Werner Wunderlich definiert Schwank als epische Gattung, die den dörflichen Lebensstil und körperliche Vorgänge, insbesondere das Essen und Trinken sowie die Sexualität, thematisiert. Der Schwank zielt vor allem darauf ab, auf grobe oder obszöne Weise gegen die Norm zu verstoßen und mit Tabus zu brechen639. Insbesondere zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert entsteht eine der Schwankliteratur zugehörige Gattung von Sauf- und Fressliteratur, zu der einige Schwänke des Strickers, die Herbstlieder 638 Zum alimentären Code im Helmbrecht vgl. auch Ehlert, Trude: Zur Semantisierung von Essen und Trinken in Wernhers des Gartenaere „Helmbrecht“. In: ZfdA 189, Heft 1, 2009, S. 1–16. 639 Zur Charakterisierung des Schwank vgl. Wunderlich, Werner: Deutsche Schankliteratur. Vom frühen Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert. Frankfurt, 1992, S. 257 sowie einführend Ehrismann, Otfried: Fabeln, Mären, Schwänke und Legenden im Mittelalter. Darmstadt, 2011, S. 55.
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von Steinmar und Johannes Hadlaub und Neidharts Gefräß zählen, die sich mit dem unfeinen und ungehörigen Umgang mit dem Essen beschäftigt und dabei auf komische Effekte abzielt. Im 16. Jahrhundert entwickelt sich zudem eine grobianische Tischzucht, zu der der lateinische Grobianus von Friedrich Dedekind zählt, sowie drei Tischzuchten von Hans Sachs und das Narrenschiff Sebastian Brands, in dem Grobian als Figur auftritt. Zu untersuchen wäre, warum sich Essen und insbesondere übermäßiges Essverhalten besonders gut eignen, um komische Effekte zu erzielen. Während die Gattungen Märe und Schwank bisher hinsichtlich der Aspekte Gewalt, Lachen und Sexualität untersucht worden sind, steht eine Untersuchung im Hinblick auf die Bedeutung von Nahrung noch aus. Die Komik resultiert zum einen sicherlich aus dem Bruch zwischen höfischen Speisen und unhöfischem Habitus und dem daraus entstehenden Gegensatz. Aufschluss über die mit Essvorgängen verbundene Komik könnte zudem die Untersuchung zu Literatur und Karneval von Michail Bachtin geben, der in seine Überlegungen zum Teil auf den mittelhochdeutschen Schwank von Hans Sachs stützt640. Bachtin bezeichnet den Bauch und den Mund als wichtigste Körperteile in der Groteske und Essen und Trinken als wesentliche Ereignisse des grotesken Körpers641. Bachtin stellt zudem fest, dass die groteske Bedeutung des Essens und der Essvorgänge spezifisch für die vormoderne Literatur ist und sich nicht auf den individuellen Leib der Neuzeit übertragen lässt642. Des Weiteren wäre zu erforschen, worauf die Essenskomik letztendlich abzielt. Einen Ansatzpunkt bildet die Überlegung, dass die Schwankliteratur neben dem Aspekt der Unterhaltung auch eine didaktische Funktion erfüllt: Während Thomasin von Zerklaere in seinem Welschen Gast auf das didaktische Potenzial höfischer Literatur aufmerksam macht, proklamieren die grobianischen Tischzuchten unfeines Benehmen, das jedoch als negatives Vorbild dient. Das durch die Komik erzeugte Lachen könnte wiederum die durch den Schwank verletzte Ordnung wiederherstellen643. Die höfische Epik und die höfischen Tischsitten bleiben dabei insofern von Bedeutung, als dass sie einen Bezugshorizont für normatives Essverhalten bilden.
640 Vgl. Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt, 1990, S. 16. 641 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 17. 642 Vgl. Bachtin, Literatur und Karneval, S. 22. 643 Vgl. Wunderlich, Deutsche Schankliteratur, S. 261.
Anhang
Literaturverzeichnis
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Register Adam 43, 44, 46, 47 Aelred de Rievaulx 171 Ahasver 61 Althoff, Gerd 27, 28, 29, 173, 240 Alyze 107, 111, 117, 121 Ambrosius von Mailand 52 Andreas Capellanus 171, 172, 178, 179, 196, 197, 203, 204 Anfortas 148, 267 Antikonie 198, 199, 202 Arnold von Lübeck 29, 61 Artus 7, 8, 9, 11, 92, 104, 125, 128, 130, 131, 181, 226, 227, 228, 229, 230, 239, 253, 254, 255, 263, 265, 298 Assmann, Jan 37, 85 Augustinus von Hippo 52, 55, 56, 58 Austin, John L. 26, 27 Bachl, Gottfried 52, 53 Bachtin, Michail 303 Barlösius, Eva 13, 31 Barthes, Roland 12, 22, 23, 24, 25 Basilius von Caesarea 54, 55, 58 Belakane 175, 197, 202 Bene 176 Benedikt von Nursia 58, 75 Berengar von Tours 52 Bernhard von Clairvaux 74 Béroul 209, 210, 211, 212 Bertau, Karl 90 Bitsch, Irmgard 14 Bleuler, Anna Kathrin 15, 100, 196 Blödel 248 Bourdieu, Pierre 12, 38, 41 Brangäne 206, 208 Brüggen, Elke 80, 82
Brünhild 232, 241, 242, 261, 262, 263, 298 Bumke, Joachim 80, 175 Burchard von Worms 69 Castoriadis, Cornelius 33, 35 Chilperich I. 28 Chrétien de Troyes 15, 82, 83, 87, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 100, 103, 124, 125, 126, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 142, 143, 144, 145, 146, 147, 149, 150, 151, 178, 179, 180, 181, 188, 189, 190, 200, 201, 225, 226, 227, 228, 230, 239, 253, 254, 255, 256, 257, 263, 265, 268, 269, 273, 277, 281, 283, 287, 291 Cicero 171 Clamide 101, 102 Condwiramurs/Blancheflor 98, 99, 100, 101, 267 Cundrie 89, 105, 145, 146, 203 Czerwinski, Peter 285 Dankwart 243, 248, 249, 289 Dido 199, 200, 202, 257 Dietrich 195, 217, 219, 220, 221, 222 Dietrich von Bern 247, 250 Drewermann, Eugen 44 Eckewart 289 Ehlert, Trude 14, 142 Eilhart von Oberg 208, 209, 210, 211, 212 Elias 55 Elias, Norbert 12, 38, 39, 40, 41, 80, 83, 138 Eneas 63, 199, 200, 201, 204, 205, 253, 257, 258 Engelhard 195, 217, 218, 219, 220, 221, 222 Engeltrud 195, 205, 217, 220, 221, 222
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Anhang
Enite/Enide 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 170, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 188, 190, 195, 201, 202, 253, 254, 273, 274, 275, 296 Erec 9, 10, 11, 75, 76, 82, 84, 87, 124, 125, 126, 127, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 134, 135, 166, 167, 170, 178, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 186, 188, 190, 195, 201, 202, 253, 254, 255, 256, 269, 271, 272, 273, 274, 275, 277, 294, 295, 296, 299, 300 Ernst, Ulrich 154 von Ertzdorff, Xenja 14 Etzel 233, 247, 248, 249, 290, 301 Eva 43, 44, 45, 46, 47 Fleckenstein, Josef 62 Freud, Sigmund 53, 93, 196, 203 Friedrich I. (Barbarossa) 60, 62, 63, 257 Fritsch-Rößler, Waltraud 93 Froebe, Dieter 46 Gahmuret 89, 175, 197, 198, 200, 201, 202 Galoein 181 Garin 287, 300 Gawan/Gawein/Gauvain 130, 175, 176, 198, 199, 201, 226, 228, 229, 230, 287, 288, 289, 300 van Gennep, Arnold 29, 30, 31 Gephart, Irmgard 289 Gernot 232 Ginover 105, 131, 228, 230 Gislebert von Mons 62 Gottfried von Straßburg 17, 177, 195, 206, 207, 208, 209, 211, 212, 225, 230, 231, 239, 244, 252, 297 Gratian 69 Gregor VII. 28 Gregor von Tours 28
Gregorius/Grégoire 124, 125, 152, 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 164, 165, 166, 167, 295 Guigambresil 287, 288, 289, 300 Guiot von Provins 63 Guivreiz/Givret 125, 130, 132, 133, 134, 185, 271, 275, 277, 300 Gunther 231, 232, 240, 241, 242, 244, 245, 247, 248, 261, 262, 263 Gurevic, Aron 70, 85 Gurnemanz/Gornemanz 11, 89, 97, 103, 105, 146, 149, 166, 175, 263, 264, 265, 266, 267, 299 Gyburc/Guiborc/Arabel 106, 113, 118, 119, 122, 190, 191, 192, 193, 194, 234, 236, 237, 238, 239, 240, 284, 296 Hadrian IV. 173 Hagen von Tronje 232, 242, 243, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 259, 260, 289, 290, 291 Hampe, Karl 63 Harris, Marvin 13, 35, 36 Hartmann von Aue 9, 10, 11, 14, 15, 16, 17, 18, 75, 83, 84, 87, 124, 125, 126, 127, 131, 132, 133, 135, 136, 137, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 152, 153, 154, 155, 156, 158, 163, 165, 166, 170, 176, 178, 179, 180, 185, 186, 187, 188, 190, 200, 201, 225, 226, 230, 239, 252, 253, 271, 272, 273, 274, 275, 277, 281, 282, 283 Heimrich/Aymeri 113, 118, 119, 233, 236, 237, 238, 239 Heinrich IV. 28 Heinrich VI. 61, 62 Heinrich von Freiberg 17 Heinrich von Veldeke 63, 258, 268 Helmbrecht 302 Herzeloyde 88, 89, 90, 91, 97
Register
321
Konrad von Würzburg 14, 17, 18, 205, 212, Hinkmar von Reims 69 213, 216, 218, 219, 221, 302 Hugo von St. Viktor 70, 75, 76, 77, 78, 79, 80, Kyot 100 172, 178, 179 Iders 126, 127, 274 Imain 126, 127 Innozenz III. 52 Isolde/Isalde/Yseut 177, 195, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 222, 297 Ither 150, 228, 264, 298 Ivreins 134 Iwein/Yvain 87, 124, 129, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 148, 150, 151, 152, 166, 167, 170, 186, 187, 188, 189, 190, 227, 230, 271, 276, 277, 278, 279, 280, 281, 282, 283, 286, 295, 296, 300 Jaeger, Stephen 170, 171, 172, 173, 174 Jeschute 89, 92, 93, 95, 96, 97, 166, 177 Johannes Cassianus 56, 57 Johannes Hadlaub 303 Johannes der Täufer 55, 58, 163 Johannes von Salisbury 173 Judas Iskariot 50
Laudine 136, 187, 271, 276, 277 Lavinia 63, 204, 253, 257, 258 LeGoff, Jacques 131, 142 Lévi-Strauss, Claude 32, 33, 131, 142, 147, 149 Liaze 97, 175, 266, 267 Lillge, Claudia 37 Lischoys Gwelljus 175 Liudeger 231 Ludwig/Loois 106, 107, 109, 111, 191, 192, 194, 233, 134, 235, 236, 237, 240, 283, 284, 286, 298 Ludwig II. 173 Luhmann, Niklas 170, 171, 178 Lunete 136, 271, 276, 277, 278, 279, 283, 286
Malcreatiure 203 Maliclisier 126, 271 Manphilyot 100 Maria 89, 90 Marie de Champagne 171 Marke 177, 206, 209, 230, 231, 239 Mennell, Stephen 13 Kahenis 148 Mertens, Volker 162 Kalogrenant 140, 227, 230, 278, 279, 282, Meyer, Anne-Rose 37 286, 300 Montanari, Massimo 13 Karl II. (der Kahle) 173 Moses 55, 58, 157, 163 Kaylet 202 Müller, Jan-Dirk 14, 152, 218, 258 Keie/Keu 130, 226, 227, 228, 230, 298 Neumann, Gerhard 13, 14 Kielpinski, Andrea 121 Nithard 173 Kingrun 99 Nitsche, Barbara 93, 152 Kleinspehn, Thomas 13 Knapp, Fritz Peter 117 Orgeluse 229 Koralus 125, 126, 271, 272, 273, 274, 277, 300 Orilus/Orgueilleux 93, 95, 96, 177 Kriemhild 233, 242, 246, 247, 248, 249, 261, Oringles 178, 183, 184, 185, 186 Ortwin von Metz 232 262, 290
322
Ott, Christine 14 Otto III. 174 Otto von St. Blasien 61, 62
Anhang
Teramer 191 Teuteberg, Hans Jürgen 13, 24 Thimm, Utz 13 Thomasin von Zerklaere 75, 79, 303 Tiebaut von Tintagel 287, 300 Trevrizent 105, 124, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 267, 295 Trinca, Beatrice 92, 198 Tristan/Tristrand 177, 195, 206, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 222, 297 Tybalt 191, 234, 285
Parzival/Perceval 11, 86, 88, 89, 90, 91, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 103, 104, 105, 107, 109, 123, 124, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 151, 152, 166, 167, 175, 177, 229, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 294, 295, 299 Paulus 49, 51 Plessner, Helmuth 31, 32 Ulrich von Türheim 17 Petrus Alfonsi 75, 76 Petrus Damiani 174 Vivianz/Vivien 120, 121, 122, 233 Philipp II. 171 Volker von Alzey 246, 249, 250, 290, 291 Rader, Olaf 240 Warning, Rainer 85 Reitmeier, Simon 13 Rennewart/Renoart 88, 106, 107, 108, 109, Wehrli, Max 187 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, Wellmann, Karl-Heinz 13 118, 119, 120, 121, 122, 123, 166, 167, 294 Wernher der Gärtner 302 Wierlacher, Alois 13 Ridder, Klaus 152 Rüdiger von Bechelaren 246, 289, 290, 291, Wilhelm von Giesebrecht 62 Willehalm/Guillelme 106, 107, 108, 109, 110, 300, 301 111, 112, 113, 114, 115, 117, 118, 119, Rumold 247 120, 121, 122, 167, 170, 190, 191, 192, 193, 194, 233, 234, 235, 236, 237, 240, Sandgruber, Roman 37 283, 284, 285, 286, 296, 297, 298, 300 Schivelbusch, Wolfgang 35 Wimar 192, 193, 234, 284, 285, 286, 300 Schmitt, Kerstin 166 Wolfram von Eschenbach 11, 15, 16, 17, 18, Schulz, Anne 15, 196 82, 83, 86, 88, 90, 92, 93, 94, 95, 96, 97, 98, Schwab, Ute 243 99, 100, 103, 104, 105, 106, 107, 109, 110, Schwietering, Julius 90 111, 114, 116, 117, 118, 120, 121, 122, Siegfried 232, 240, 242, 243, 244, 245, 246, 124, 145, 147, 149, 150, 151, 152, 167, 249, 253, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 170, 175, 177, 190, 191, 197, 198, 200, 269, 298, 299 202, 203, 225, 228, 233, 235, 236, 237, Simmel, Georg 12, 36, 37, 38 238, 239, 252, 253, 263, 264, 265, 267, 268, 269, 277, 278, 283, 284, 286, 299, 301 Tammo 174 Wunderlich, Werner 302 Tannhäuser 79, 80