Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik: Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung [3rd unrev. Edition] 9783110962116, 9783484503908

This third edition of Köhler's book (1st edition 1956, 2nd expanded edition 1970 as Vol. 97 of the series »Beihefte

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German Pages 288 Year 2002

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Table of contents :
Verzeichnis der Abkürzungen
Vorwort zur ersten Auflage
I. Kapitel König Artus und sein Reich — Geschichtliche Wirklich¬keit und ritterliches Wunschbild
II. Kapitel Chevalerie — clergie — Doppelbestimmung und Geschichts¬bewußtsein des höfischen Rittertums
III. Kapitel Aventure — Reintegration und Wesenssuche
IV. Kapitel Erwählung und Erlösung — Von der Unordnung der Welt zum Friedensreich
V. Kapitel Verdichtung und Wandlung der Ideal-Wirklichkeits¬spannung in der Liebe — Erec, Cligès, Tristan, Lancelot, Yvain
VI. Kapitel Perceval und der Gral — Die eschatologische Vollendung der ritterlichen Selbstauslegung
VII. Kapitel Die Form des Artusromans bei Chrestien — Das Verhält¬nis von Gehalt und Gestalt
Anhang zur zweiten Auflage
Namen- und Titelregister
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Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik: Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung [3rd unrev. Edition]
 9783110962116, 9783484503908

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Erich Köhler · Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik

ERICH KÖHLER

Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik Studien zur Form der frühen Artus-und Graldichtung 3., unveränderte Auflage

MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 2002

I.Auflage 1956 2., ergänzte Auflage 1970

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Köhler, Erich : Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik : Studien zur Form der frühen Artus-und Graldichtung / Erich Köhler. — 3., erg. Aufl.. — Tübingen: Niemeyer, 2002 Zugl.: Hamburg, Univ., Habil.-Schr., 1955 ISBN 3-484-50390-4 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Vorwort zur Neuauflage In der aktuellen, von raschen Paradigmenwechseln und kurzen Halbwertzeiten des Wissens charakterisierten Umbruchsphase wirkt es überraschend, daß eine Habilitationsschrift — zumal zu einem mediävistischen Thema — fast fünfzig Jahre nach ihrer Entstehung zum dritten Mal aufgelegt wird. Als Erich Köhlers Ideal und Wirklichkeit in der hofischen Epik - Studien %ur Form der frühen Artus- und GraldichtungWie erschien, betrachteten die zeitgenössischen Positivisten, Geistesgeschichtler und immanenten Deuter die historisch-dialektische oder literatursoziologische Interpretationsmethode des Autors voller Argwohn. Den Positivisten, die sich auf den Nachweis historischer Fakten und Filiationen von Motiven konzentrierten, hielt Erich Köhler entgegen, daß die Materialität der faits historiques als Moment der widerspenstigen Realität auf der Ebene der Dichtung ebenso ästhetisch aufgehoben werden muß wie die scheinbar transhistorischen Motive, die in veränderten Kontexten neue Sinngebung gewinnen. Gegen jene, die die Geschichte des Geistes weitgehend von der allgemeinen Geschichte zu trennen suchten und jene, die Kunst nur als schöpferische Tat des von allen gesellschaftlichen Bezügen freien Individuums sahen, wandte er ein, „daß es sich mit dem Geist der Poesie nicht so verhält wie mit dem heiligen Geist, der bekanntlich bläst, wann und wo er will. Wir glauben vielmehr: das Genie ist — in seinem jeweiligen Bereich — die Summe der Möglichkeiten seiner Zeit. Sie zu realisieren ist seine Freiheit. Diese Formel impliziert die Konsequenz, daß auch das große, überragende Kunstwerk sich nicht dem Zugriff der Soziologie verschließt, sondern daß im Gegenteil die Soziologie an ihm ihre umfassendste Anwendung und Bewährung erfährt. Die Literatur ist auch dort, wo sie im genialen Kunstwerk gipfelt, geistiger Spiegel und Interpretation der menschlichen Gesellschaft in einem bestimmten geschichtlichen Stadium und in der komplexen Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit, ja sie wird erst dadurch zur hohen Kunst, daß sie jenen — immer mehr oder minder widerspruchsvollen — Zustand kraft einer formerzeugenden Verwandlung in einem eigenen, geschlossenen, die Einheit des Kunstwerks schaffenden Sinnzusammenhang reproduziert." Literatur geht also von der Realität aus, ist aber zugleich als ihr Korrektiv gedacht, insofern sie die als krude und kontingent erfahrene extensive Totalität des Wirklichen in die intensive Totalität der Fiktion wandelt. Das Werk hebt das Wichtige aus dem Läßlichen heraus und ordnet das Zufällige den Gesetzen ästhetischer Kausalität und Finalität ein. Die Intentionalisierung des realiter kontingenten Weltausschnitts zielt ab auf eine humanisierte, von menschlicher Freiheit durchwaltete Welt, die als durchschaubare Neu-Schöpfung für die Re-

Vorwort zur Neuauflage

zipienten genießbar wird. Der Literatur gelingt es, ideale, ihre Genese weit überdauernde Leitbilder zu formulieren, die für Erich Köhler den Rang wirklicher Entdeckungen — wie jene der Naturwissenschaften — besaßen, die ein verbindliches und verpflichtendes Erbe darstellen, Stadien des Fortschritts markieren, hinter die nicht mehr zurückgefallen werden darf. Zu ihnen zählte er u.a. das Konzept der höfischen Liebe, jenes der herrschaftsfreien Kommunikation, der Toleranz und die Leitworte der Französischen Revolution. Die Rezeption literarischer Werke schließt die Differenz zwischen dem faktischen Sosein und der wertenden Reflexion dieses Soseins in der Kunst auf, schafft beim Leser ein Bedürfnis nach Sein-Sollen, nach Veränderung. Literatur — und hier zitierte Erich Köhler gern seinen philosophischen Lehrer Ernst Bloch -, die den Überschuß des Möglichen im Wirklichen aufscheinen läßt, eignet die Qualität des Vor-Scheins, der Antizipation des Sinnvollen, Wünschenswerten. Verglichen mit aktuellen, zur Geschichte sträflich abgeblendeten poststrukturalistischen und einförmig-ermüdenden, lediglich auf die Analyse narrati'ver Techniken konzentrierten Arbeiten, wirkt Ideal und Wirklichkeit als Pionierwerk kulturwissenschaftlicher Interpretation. Den Eigenwert der literarischen Tradition und der sich wandelnden Form des höfischen Romans unentwegt im Auge behaltend, bezieht es in steter Engführung die Werke Chrestiens de Troyes auf die Gesellschaft des 12. Jahrhunderts in ihrer politischen, juristischen, ökonomischen, religiösen und philosophischen Bedingtheit. Der Reichtum und die Qualität der erzielten Ergebnisse legen es nahe, einer historisch-dialektisch verfahrenden Literaturwissenschaft in der sich entwickelnden Kulturwissenschaft eine zentrale Rolle zuzuweisen. Henning Krauß

MEINER LIEBEN FRAU

Inhalt Verzeichnis der Abkürzungen Vorwort zur ersten Auflage

VIII i

/. Kapitel König Artus und sein Reich — Geschichtliche Wirklichkeit und ritterliches Wunschbild

j

II. Kapitel Chevalerie — clergie — Doppelbestimmung und Geschichtsbewußtsein des höfischen Rittertums

37

///. Kapitel Aventure —- Reintegration und Wesenssuche IV. Kapitel Erwählung und Erlösung — Von der Unordnung der Welt zum Friedensreich (Mit Exkurs: Prodome im Artusroman, 129)

66

89

V. Kapitel Verdichtung und Wandlung der Ideal-Wirklichkeitsspannung in der Liebe — Erec, Cliges, Tristan, Lancelot, Yvain 139 VI. Kapitel Perceval und der Gral — Die eschatologische Vollendung der ritterlichen Selbstauslegung VII.

181

Kapitel Die Form des Artusromans bei Chrestien — Das Verhältnis von Gehalt und Gestalt 236

Anhang zur zweiten Auflage

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Namen- und Titelregister

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Verzeichnis der Abkürzungen AARPh = Ausgaben und Abhandlungen aus dem Gebiet der romanischen Philologie, veröffentlicht von E. Stengel AR = Archivum Romanicum BBSIA = Bulletin Bibliographique de la Socioti Internationale Arthurienne CFMA = Classiques Francais du Moyen Äge DVS = Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte ER = Estudis Romanics GRM = Germanisch-Romanische Monatsschrift HZ = Historische Zeitschrift MLQ = Modern Language Quarterly MLR = Modern Language Review MP = Modern Philology N = Neophilologus NM = Neuphilologische Mitteilungen PMLA = Publications of Modern Language Association R = Romania RF = Romanische Forschungen RJ = Romanistisches Jahrbuch RP = Romance Philology RR = The Romanic Review S = Speculum SATF = 8 des Ancieiis Textes Franc,ais SPh = Studies in Philology ZfdA = Zeitschrift für deutsches Altertum ZFSL = Zeitschrift für französische Sprache und Literatur ZRPh = Zeitschrift für romanische Philologie

Vorwort zur ersten Auflage Das höfische Epos ist „eine Reaktion des Individuums gegen die Masse, des persönlichen gegen den Allgemeingeist, gegen die nationale und Staatsidee im Heldengedicht". So steht seit dem Jahre 1902 im Grundriß der Romanischen Philologie (II, S. 491) zu lesen. Es scheint an der Zeit, die hier ausgesprochene grundlegende Einsicht einmal konsequent zum Ausgangspunkt einer Neuinterpretation des höfischen Romans und besonders des Gesamtwerks seines Begründers Chrestien de Troyes zu machen. Gustav Gröber, der die obige Feststellung traf, hatte sich nicht den Blick verstellen lassen durch die ebenso bequeme wie schiefe Auffassung, welche die rund tausendjährige Epoche, die man als Mittelalter zu bezeichnen gewohnt ist, im Gefolge Jacob Burckhardts mit einem „Schleier ... gewoben aus Glauben, Kindesbefangenheit und Wahn" überzog, der trotz zahlreicher anderslautender Auskünfte der seitherigen Einzelforschung noch heute das Bild des Mittelalters trübt. Burckhardts überscharfe historische Grenzziehung hat den Begriff des Individuums in einer Weise eingeengt, die eine grundsätzliche Rechtfertigung seiner Verwendung bei den folgenden Untersuchungen erheischt. Obwohl heute fast allgemein erkannt wird, daß sich das Selbstverständnis des mittelalterlichen Menschen durchaus gewandelt hat, wird doch leicht an der — nicht immer interessefreien — Vorstellung einer unterschiedslos für die ganze Epoche im Allgemeinen und für das Hochmittelalter im Besonderen geltenden, gradualistisch gesicherten Allgeborgenheit und unangetasteten Gott-Welt-Einheit festgehalten. Dabei sollte jedoch — ganz abgesehen von den starken häretischen Strömungen des z, Jhs. und der die Einzelseele zur Quelle der Gottesund Wesenserkenntnis erhebenden Mystik — allein schon der Universalienstreit größte Bedenken erregen. Es ist kein Zufall, daß der Nominalismus, der philosophische Aufstand des Einzelwesens gegen den Herrschaftsanspruch des Überindividuellen, in diesem Jahrhundert aufblüht und noch im selben Zeitraum bereits die kirchliche Trinitätsauffassung in Frage stellt. Das vermeintlich so geborgene Mittelalter zeigt sich im 12. Jh. in einer Aufgebrochenheit, einer — sich in den Exponenten Bernhard von Clairvaux und Abälard einzigartig manifestierenden — durchgehenden Spannung des Bewußtseins, die jeden Versuch, die Literatur aus dem Wirkbereich dieser umfassenden geistigen Bewegung auszuklammern, als ganz und gar unbillig erscheinen läßt. Die in den genannten Strömungen zum Ausdruck gelangende Trennung von Sein und Bewußtsein löst den Einzelnen aus der ihn selbstverständlich

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Vorwort

bestimmenden Ordnungseinheit der nun auch in ihrem gegenseitigen Verhältnis angetasteten gesellschaftlichen Verbände. Es bedarf nicht der vollen geistigen Klarheit über diesen zunächst unfaßbaren und in seinen Folgen unabsehbaren Vorgang, um das Denken des so Vereinzelten alsbald wesentlich zu verändern. Die erste wie unbewußt auch immer vollzogene Reaktion auf die Entfremdung ist zugleich der erste Schritt zu einem Weltverständnis, das nunmehr von den Bedürfnissen des Individuums geprägt wird. Selbstverständlich ist das Individuum des 12. und 13. Jhs. noch nicht dasjenige der Renaissance. Es setzt sich noch nicht selbst, im Sinne der Persönlichkeit, als Sinn und Ziel des Daseins, sondern hält an der Vorstellung der Organisationseinheit von Einzelwesen und Gemeinschaft fest. Diese Vorstellung aber ist dem Bewußtsein nicht mehr immanent, sondern ist nun das Ideal einer Daseinsform, die das neuentdeckte Recht des Individuums als solches gewährleisten soll. So wenig der Umstand, daß kaum einer der Vertreter der zahlreichen häretischen oder zur Häresie neigenden religiösen Bewegungen des 12. Jhs. sich im Gegensatz zum rechten Glauben wähnte, die Tatsache der Häresie widerlegt, so wenig erlaubt das begreifliche Fehlen expliziter Selbstbekundungen des Individuums den Schluß, daß dieses nicht existierte. Die Störung des mittelalterlichen „ordo" einer normativ erstarrten GottWelt-Einheit wird zum Erlebnis der Entfremdung des Einzelnen, die, gerade hier wieder ganz von gefestigten theologischen Denkweisen ausgehend, in eschatologische, ja konkret chiliastische Theorien mündet. Wenn man das tiefe dualistische Erleben des 12. Jhs. verkennt oder als irrelevant beiseiteschiebt, wird etwa auf geschichtsphilosophischem Gebiet eine Erscheinung wie Joachim von Fiore, auf dem literarischen Sektor aber auch die Tristandichtung als geschichtliche Erscheinung und das heißt letztlich auch als eine geistige und künstlerische Leistung unverständlich bleiben. In den folgenden Betrachtungen wird zu zeigen versucht, daß und wieso unter den gleichen geistesgeschichtlichen Bedingungen eine Antwort der zu eigenem Kultur- und Geschichtsbewußtsein gelangten ritterlichen Welt auf die sie in besonderer Weise berührende Zeitproblematik erfolgte. Ferner weshalb mit dieser Antwort, deren hervorragendes Kennzeichen das Streben nach der Reintegration von Individuum und ständischer Gemeinschaft und der Sinneinheit von Innen und Außen ist, auch die Geburt des abendländischen Romans im Artus- und Gralroman erfolgt. Daß Wirklichkeit und Ideal, d. h. objektive Gegebenheit und subjektive (Überwindung der Wirklichkeit anstrebende) Deutung und Sinngebung in einem kausalen Zusammenhang stehen, ist vor allem hinsichtlich des höfischen Epos so sehr eine Binsenwahrheit, daß sie schon nicht mehr ernst genug genommen wird. Der Literarhistoriker, dem es um die Aufhellung dieser für das poetische Erzeugnis höchst bedeutsamen Beziehung zu tun ist, muß die dichterische Sinngebung der Wirklichkeit aus dieser

Vorwort

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letzteren, selbst schon den Anlaß 2u jener Sinngebung enthaltenden, deutlich machen, aus ihr die besondere Art der jeweiligen Deutung einschließlich der Stilformen, in denen dies geschieht, zu verstehen suchen. Die Elemente der objektiven Wirklichkeit sind auch in dem Ideal, das die Dichtung erstellt, erkennbar, wenn die zwischen der Wirklichkeit und dem Ideal liegenden Schichten des Bewußtseins und ihre historischen Voraussetzungen, die Art und Intensität der Widerspiegelung bestimmen, in ihrer ganzen Kompliziertheit durchschaut und aufgewiesen sind. Es ist gewiß ein verfängliches Unternehmen, über das Verhältnis von Wirklichkeit und Ideal etwas zu ermitteln, das für die Deutung mittelalterlicher höfischer Dichtung sichere Maßstäbe und Kriterien erarbeiten hilft. Unser Bild der mittelalterlichen Wirklichkeit ist in hohem Maße erst aus der Literatur selbst bezogen; nicht zufällig stützen sich alle Darstellungen mittelalterlicher Lebensverhältnisse weitgehend auf die Literatur und erliegen oft genug der Versuchung, Momente des Ideals für Momente der Wirklichkeit zu nehmen. Die Gefahr des Zirkelschlusses darf indessen den Literarhistoriker nicht schrecken. Sie kann auf ein Mindestmaß reduziert werden, wenn das aus der Dichtung im Dienste ihrer Deutung erschlossene Bild der Wirklichkeit mit dem ständigen Blick auf alle anderen Gebiete zeitgenössischen Handelns und Denkens auf seine Objektivität, und das heißt auch auf seine hermeneutische Tauglichkeit hin, überprüft wird. Die angedeutete methodische Richtungsänderung soll dem Versuch dienen, einen ersten Weg aus der Sackgasse zu finden, in welche die Artusforschung trotz imponierender Teilerkenntnisse neuerdings geraten zu sein scheint. Die Ursprungs- und Stofforschung hat vor allem bei den Vertretern der keltischen Theorie in den letzten Jahrzehnten eine Fülle von möglichen (und unmöglichen) Quellen erschlossen, deren vereinigte Wasser den Eigenwert der einzelnen Dichtungen ins Nichts aufzulösen drohen. Eine hypertrophe, zum Selbstzweck werdende Stoff- und Motivforschung, die den Schöpfer des Artusromans zum bloßen Redaktor erniedrigt, und die zählebige Auffassung, der champagnische Dichter sei im Grunde nichts weiter als der versierte und elegante Unterhalter einer verwöhnten Gesellschaft, lassen es allein verstehen, daß noch heute allen Ernstes von einer „sehr flachen Parzivaldichtung Chrestiens" (Josef Nadler, in: Festschrift für Dietrich Kralik, Hörn N.-ö. 1954, S. 118) gesprochen werden kann. In vollem Umfange gilt auch für Chrestien, was vor kurzem einmal im Hinblick auf die französischen Prosaromane gesagt wurde: daß es nämlich jetzt gelte, „in die Wirklichkeit der vorhandenen Texte zurückzukehren, aus ihnen durch eine anders als auf Motive eingestellte Interpretation Gehalt und Geist der Dichtungen herauszuholen. Dabei wird auch die Dichterpersönlichkeit, die hinter ihnen steht, klarer hervortreten" (H. Tiemann, in RF 63 [1951] S. 321). Es schien uns aus diesen Gründen richtiger und aussichtsreicher, das Problem des Gralursprungs, das sich beharrlich jeder eindeutigen Lösung

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Vorwort

entzieht, zurückzustellen und anstatt nach dem Woher mit umso größerer Entschiedenheit nach dem Warum zu fragen. Eine vorwiegend auf die stoffliche und motivliche Provenienz des Gralgeschehens eingestellte Forschung löst zwangsläufig den Gralroman aus dem Gesamtwerk, isoliert ihn und beraubt sich dadurch der Möglichkeit einer ihm seinen geistigen und künstlerischen Ort zurückgebenden problem- und formgeschichtlichen Interpretation. Erst wenn die „innere" Geschichte des Chrestienschen Werks soweit erkannt und aufgewiesen ist, daß die Funktion, die in seinem Rahmen dem Gral zukommt, klar hervortritt, kann die Frage nach der Herkunft des Grals neu gestellt werden. Sie ist damit natürlich nicht bereits der Beantwortung sicher, aber ihre Möglichkeiten werden allein schon dadurch begrenzter und überschaubarer, daß die eingehende Betrachtung des problem- und formgeschichtlichen Zusammenhangs der vorausgehenden Werke eine durchgehende aufsteigende Sinnrichtung des Chrestienschen Artusromans erkennen läßt, die — wenn diese pointierte Formulierung erlaubt ist — entweder zu einem Werk von der Art des Gralromans oder zu nichts führt. Anders und auf unsere Ergebnisse vorgreifend gesagt: der Artusroman entfaltet fortschreitend einen in märchenhafter Entrückung poetisch verlagerten und verkleideten universalhistorischen Führungsanspruch der ritterlich-höfischen Welt, deren eigene Widersprüche und deren an einer in anderer Richtung verlaufenden geschichtlichen Wirklichkeit aufbrechende Fragwürdigkeit entweder den Umschlag der übersteigerten Autonomie des ritterlichen Menschenbildes in eschatologische Vorstellungen oder aber die Rückkehr zu einer unverbindlichen und selbstzweckhaften, mehr ästhetischen als sittlichen Idealität erzwingen. Die möglichst genaue Erfassung der Entwicklung der für Inhalt und Form konsumtiven Elemente des Artusromans in ihrer hintergründig realen und umgesetzt poetisch-idealen Funktions- und Problemverflechtung muß, so glauben wir, mit hinreichender Evidenz den Anteil zu bestimmen gestatten, den Chrestien selbst an Sinngebung und Gestaltung seiner Stoffe hat. Das heißt aber letztlich nichts anderes, als Charakter, Wert und Bedeutung der dichterischen Leistung zu bestimmen. Jede einseitig orientierte Quellenforschung wird an dieser wichtigsten Aufgabe der Literaturgeschichtsschreibung scheitern, weil ihre methodischen Mittel sich jedem Bemühen um die Erkenntnis der Formkraft der Inhaltselemente und damit dem zentralen Problem des den poetischen Wert einer Dichtung bestimmenden Verhältnisses von Gehalt und Gestalt versagen. Gerade das Formproblem aber wird zum letzten Prüfstein jeder Methode, die auf die Erfassung des dichterischen Ganzen zielt.

I

König Artus und sein Reich

Geschichtliche Wirklichkeit und ritterliches Wunschbild Der legendäre König Artus spielt im höfischen Roman, soweit dieser sich der mature de Bretagne bedient, eine ähnliche Rolle wie Karl der Große in der Heldenepik. Diesen Vergleich hat die Forschung längst angestellt und mit Recht einerseits die zwölf pairs de France, andererseits die Ritter der Tafelrunde einbezogen. Wenn aber hinsichtlich Karls die historischen Gründe der literarischen Schilderhebung bis in die gröbsten Verzerrungen seiner Gestalt hinein aufgesucht wurden, hat sich die historische Erklärung Artus' bisher fast nur auf dessen vorliterarische Erscheinung und auf seine in der Legende zugleich verdeckte und überlieferte geschichtliche Existenz erstreckt. Daß die Artusdichtung keinen der für die Heldenepik zwar im Umfang umstrittenen, prinzipiell aber unleugbaren Hintergründe für ihre einzelnen Figuren aufweist, besagt noch nicht, daß sie nicht eine ähnliche Antwort auf die Fragen ihrer Zeit, also einen hinter der Fiktion versteckten konkreten geschichtlichen Bezug enthält, wie die Chanson de geste, die das Bild ihrer Helden ungeachtet einer wenigstens hinsichtlich Karls durchaus auffindbaren historischen Wahrheit ihrem jeweiligen Anliegen entsprechend abwandelt. Für das Mittelalter gilt in einem ganz besonderen und engen Sinne, was ganz allgemein jeden geschichtlichen Anspruch von Gruppen wie von Individuen kennzeichnet, daß nämlich — nach H. Oncken — die menschliche Phantasie „von jeher das Bedürfnis hat, das Idealbild dessen, was in der Gegenwart erstrebt wird, schon in ferner Vergangenheit als verwirklicht sich vorzustellen"1. In einer Zeit, in der Vergangenheit und Gegenwart, Überlieferung und tägliche Realität eine so innige Verbindung eingehen wie im Mittelalter, liegt es nahe, die Gegenwart in ihren wichtigsten Momenten an der Vergangenheit zu legitimieren, wobei die Vergangenheit notfalls bedenkenlos im Sinne der Gegenwart gefälscht wird2. Mit der auf diese Weise gezogenen geschichtlichen Entwicklungslinie ist immer auch schon der Hinweis auf eine Zukunft verbunden, mit deren richtigem, vorbestimmtem Verlauf sich der eigene Anspruch als in Übereinstimmung befindlich darstellt. Die zahlreichen Bemühungen großer und kleiner Dynastien, sich eine antike, mög1

Zit. nach Hans Rail, Zeitgeschichtliche Züge im Vergangenheitsbild mittelalterlicher, namentlich mittellateinischer Schriftsteller. Historische Studien, Heft 322, Berlin 1937, S. M. 2

Vgl. Rails Untersuchung, die diese für das ganze Mittelalter so bedeutsamen Bestrebungen an der mlat. Literatur überzeugend aufzeigt.

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König Artus und sein Reich

liehst trojanische Ahnenschaft zu sichern, erklären sich aus diesem Bedürfnis. Dasselbe gilt, wenn auch weniger offenkundig, weil weniger bewußt und unter der Eigengesetzlichkeit der Dichtung unternommen, für den höfischen Roman von seinen antikisierenden Anfängen an. Die souveräne Unbekümmertheit, mit der das Mittelalter die Vergangenheit travestiert, ist nur zu einem geringen Teil Naivität, zum größten Teil ist sie Selbstinterpretation mit Hilfe einer Geschichtsauslegung, die hinter den bloßen Fakten eine zwar meist mehrdeutige, aber immer auf eine Erfüllung hin, d. h. letztlich heilgeschichtlich verstandene Bedeutung sucht, an die sich die Legende heftet. Die Legende aber ist im ganzen Mittelalter von der Geschichtsdarstellung nicht scharf zu trennen, ja beide verschmelzen für das mittelaterliche Bewußtsein überhaupt1. Anders ausgedrückt: „Im Mittelalter gab es ... keine Legenden, da die Wirklichkeit des Außergewöhnlichen nicht in Frage gestellt wurde."2 Die Legendenforschung hat Funktion und Wahrheitsanspruch der Legende längst erkannt3. Die Anwendung ihrer Ergebnisse auf die Literatur des Mittelalters jedoch hat bisher noch nicht alle Möglichkeiten erschöpft. Der Legendenforscher F. Lanzoni definierte die Legende als „un ingrandimento ideale della realtä"4. Solche Idealisierung der Wirklichkeit nun ist grundsätzlich unbegrenzt; sie erfaßt die Vergangenheit vom Standort der Gegenwart her nicht in Richtung auf eine Wahrscheinlichkeit, sondern auf eine Sinnbildlichkeit, der die Verbindlichkeit einer höheren Wahrheit eignet. Es ist kaum nötig zu sagen, daß legendenhafte Idealisierung der Wirklichkeit Schwarzmalerei und restlose Verdammung nicht ausschließt, sondern damit das ihren Zielen Feindliche bedenkt. Das unerfreuliche Bild, das die Empörergeste von den karolingischen Königen, aber schließlich auch — besonders für den modernen Betrachter — von einer maßlosen, ungebärdigen Feudalität entwirft, erweist gerade das Herrscherbild dieser späteren Ependichtung als feudale Idealisierung einer sich zum Schlechten wendenden Wirklichkeit. Eine Epoche, welche die schlimmste Schwäche des monarchischen und staatlichen Gedankens erlebt, entwirft im Rolandslied das Wunschbild des von Gott erwählten und geleiteten Universalherrschers und sieht es in Karl dem Großen verwirklicht. Nur wenige Jahre später hat die in der Gestalt Rolands angekündigte und in christ1

Vgl. Leo Spitzer ZRPh 50 (1930) 8.40: „Das Mittelalter hebt den Unterschied zwischen Sage und Historic auf". 2 Josef Merk, Die literarische Gestaltung der altfransysischen Heiligenleben bis Ende des 12.Jhs., Diss. Zürich, Affoltern 1946, S. 6. 3 Auch dort, wo sie sie psychologisch erklärt, bleibt das Ergebnis für das Mittelalter als den bevorzugten Zeitraum der Legende das gleiche. Man vgl. in diesem Sinne Heinrich Günter, Psychologie der liegende, Freiburg 1949, S. 93: „Wie kindliche Phantasie sich's vorstellt, für den gegebenen Augenblick wünscht, so muß es gewesen sein; so wird es Geschichte und wird erzählt." 4 Genest, svolgimento e tramonto delle leggende storiche, Roma 1925, S. 116.

König Artus und sein Reich

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lichem Heldentod und in Einsicht gebändigte Anarchie der feudalen Gesellschaft in der Wilhelmsgeste den mächtigen Vasallen zum — noch loyalen — Königs„macher" erhoben, um fast gleichzeitig oder wenig später aus dem bis dahin nur schwachen König einen schlechten, pflichtvergessenen Herrscher zu machen und das sittliche und politische Führungsrecht auf den Vasallen zu verlagern.1 Dieses dritte Stadium der Chanson de gesteDichtung fällt in die Zeit, in der das Königtum sich wieder auf seine Aufgabe zu besinnen und sich nachhaltig im antifeudalen Sinne durchzusetzen beginnt. Damit erweist sich die geschichtliche Legende auch in der Empörergeste in ihrem Wunschbildcharakter und in ihrer historisch-politischen Zielsetzung. Die Zeit ist nahe, in der sich die wiedererstarkte Monarchie der feudalistisch verzerrten Karlslegende bemächtigt, um sie als eine wirksame Hilfsmacht in den Dienst des kapetingischen Staatsgedankens zu stellen. Was für Karl den Großen und seine Nachfolger recht ist, ist für Artus billig — mit dem bedeutsamen Unterschied jedoch, daß Artus bereits als das Geschöpf der feudalhöfischen Welt in die Literatur eintritt. Daraus erklärt sich zugleich sein merkwürdig schwankendes Bild, das ihn einmal stark und entschlossen, dann wieder schwach und unentschieden, einmal voll königlicher, machtvoller Würde, ein andermal gedemütigt und hilflos zeigt2. Nichtsdestoweniger bleibt er immer der vorbildliche König, dessen Hof das Zentrum der Welt, die Mitte idealen Menschentums ist. Seine Schwäche und der Glanz seiner festfreudigen Lebensführung bestimmen ihn zum Idealkönig der feudalen Gesellschaft. Sein Bild erleidet zwar im Verlauf der Geschichte der mittelalterlichen Artusdichtung einige Wandlungen, ohne sich jedoch grundsätzlich zu verändern. In seinem Charakter festgelegt, ist Artus eine statische Größe, an der sich eine bei aller Differenzierung gleichbleibende „Gerichtetheit" der höfischen Epik kundgibt. Gal fried von Monmouth läßt in seiner Hisioria Regum Britanniae König Artus Neustrien seinem Mundschenk, Anjou und die Touraine seinem Truchseß übertragen, um so den Anspruch des englischen Königs auf diese Gebiete zu rechtfertigen. Ebenso verfährt die Chronik der Grafen von Anjou in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts3. Artus und sein legendäres Königtum sind hier Mittel für einen höchst realen Zweck. Man darf von vorneherein vermuten, daß ein Gleiches, nur viel unpräziser und allgemeiner, weil im Dienst einer eben erst zum Selbstbewußtsein gelangenden feudalhöfischen Schicht stehend, für den Artus des Romans gilt. Indem 1

Vgl. den wichtigen Aufsatz von Reto R. Bezzola, De Roland ä Raoul de Cambrai, in: Melanges Hoepffner, Paris 1949, S. 195 — 213. 2 Vgl. W. A. Nitze, MP 50 (1952) S. 222: „Chretien's Arthur is not only a figurehead, a static monarch, but a „roi faineant" whose weakness the poet mentions again and again, and not without humour . . . As a consequence, it is Gauvain who, according to Chretien, supplies the strength and judgement that Arthur lacks." 3 S. Rail a.a.O., S. 253.

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wir eine eingehende Würdigung seiner literarischen Funktion an den Anfang unserer Untersuchung stellen, hoffen wir am ehesten den Zugang zum höfischen Roman überhaupt zu finden. Zwangsläufig muß sich damit eine historisch-politische Betrachtung der Vorstellung von Aufgabe und Wesen des Königtums, wie sie das 12. Jahrhundert besaß, verbinden. Bekanntlich fließen die Nachrichten über Artus bis zu Galfried von Monmouth nur spärlich. Erst die Historia regum Britanniae (1137 abgeschlossen) macht· aus dem bei Nennius (9. Jh.) zum „dux bellorum" avancierten kleinen keltischen Lokalhelden den Nationalheros, in dem sich die angeblich glanzvollste Epoche der englischen Geschichte verkörpert1. Galfrieds „abenteuerliches, in seiner Weise geniales Lügenbuch"2 macht aus Artus einen Weltherrscher, durch den ebenso die dunklen Jahrhunderte keltischer Frühgeschichte des Landes verherrlicht wie die Suprematieansprüche seiner Nachfolger auf dem englischen Thron unterstützt werden. Ihre große Verbreitung und literarische Ausstrahlung aber erhält die so gewandelte Artuslegende erst durch Wace, der Galfrieds Werk in seinem Roman de Brut ( n j j ) ins Französische überträgt und der Charakteristik der Galfriedschen Gestalten — offenbar in der Absicht, dem englischen Königshaus zu huldigen — die neuen spezifisch höfischen Elemente auszeichnend hinzufügt3. Bei Wace nun heißt es über Artus: Mult ama pris, mult ama glore, Mult valt son fet metre en memore; Servir se fist cortoisement Et mult se maintint noblement. Tant com il vesqui et raina, Tos autres princes sormonta De cortoisie et de proesce Et de valor et de largesce. (Ed. J. Arnold, SATF, Paris 1938, v. 9258—9265)

Wie sieht nun Chrestien, der seiner wichtigsten Quelle, eben Wace, in seinem ersten Artusroman noch am nächsten stehen muß, den neuen Idealkönig ? Im Erec legt er Artus die Worte in den Mund: Je sui rois, ne doi pas mantir, Ne vilenie consantir, Ne fausseto ne desmesure: 1

Zur Entwicklung der Artussage s. J. D. Bruce, The Evolution of Arthurian Romance from the Beginnings down to the year 1300, Göttingen 1923; E. Faral, La legende arthurienne, Etudes et documents, Paris 1929; J. S. P. Tatlock, The Legendary History of Britain, Univ. of California Press, Berkeley and Los Angeles 1950. * Ph.-A. Becker, Der gepaarte Achfsilber in der französischen Dichtung. XLIII. Bd. d. Abh. d. philol.-hist. Kl. d. Sachs. Akad. d. Wiss. Nr. I, Leipzig 1934, S. 29. 3 Dazu neuerdings Stefan Hofer, Cbritien de Troyes. Leben und Werke des altfran^ösischen Epikers, Graz-Köln 1954, S. i6ff. — Zu Waces Anteil bei der Ausbildung der Artuslegende auch M. Delbouille. Le temoignage de Wact sur la legende arthurienne, R 74 (1953) S. 172—199.

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Reison doi garder et droiture. Ce apartient a leal roi Que il doit maintenir la loi, Veritd et foi et justise. Je ne voudroie an nule guise Feire desleauto ne tort, Ne plus au foible que au fort. N'est droiz que nus de moi se plaigne Ne je ne vuel pas que remaigne La costume ne li usages, Que siaut maintenir mes lignages. De ce vos devroit il peser, Se je vor voloie alever Autres costumes, autres lois, Que ne tint mes pere, li rois. L'usage Pandragon, mon pere, Qui fu droiz rois et anperere, Doi je garder et maintenir, Que que il m'an doie avenir. (v. 1793—1814)

Das Artusbild Waces steht, noch ganz allgemein und höfisch verbrämt, wie bei Galfried völlig im Dienst einer massiven Geschichtskonstruktion zugunsten des englischen Königshauses. In Chrestiens Katalog der Königspflichten erscheint das Fürstenideal Artus zugleich präzisiert und entkonkretisiert. Auf den ersten Blick zwar scheint auch Chrestiens Darstellung, so detailliert sie ist, nicht wesentlich über die bei Wace eingefügten allgemein höfischen Elemente hinauszugehen, bei näherem Zusehen jedoch gewahrt man deutlich politische Akzente, die erhellen, daß das einleitende, selbstbewußte und machtvolle „Je sui rois" in Wirklichkeit gar nicht selbstherrlich und souverän zu verstehen ist, sondern daß hier die feudale Welt sich durch eine ihren Gesetzen gehorchende monarchische Spitze bestätigt. Der Grundzug des ganzen Passus ist besorgter Konservativismus, fast ängstliches Festhalten am überlieferten Gesetz, an den costumes und usages^ damit niemand Grund zur Klage habe1. In diesem Traditionalismus geht die leauti Arthurs auf, die damit den lehensrechtlichen Treue-Begriff in bemerkenswerter Weise auf die Bewahrung der überkommenen Rechtsordnung reduziert, diese Rechtsordnung für unantastbar erklärt und damit der königlichen Aktivität scharfe Grenzen setzt. Es ist das Grundprinzip der feudalen Rechtsauffassung, daß Autorität sich nur aus Wahrung und 1

Die feudale Rechtsauffassung bezieht sich wesentlich auf ein Gewohnheitsrecht, die costumes. Dazu R. W. Carlyle, A. J. Carlyle, A History of Mediaeval Political Theory in the West, 3. Aufl. Edinburgh und London 1950, Bd. Ill, S. 45: „The first element in the conception of feudal law is that it is custom, that it is something not made by the king or even by the community, but something which is a part of its life." Vgl. dazu die Definition der normannischen Summa de Legibus: „Consuetudines vero sunt mores ab antiquitate habiti, a principibus approbati et a populo conservati. . ." (Zit. n. Carlyle-Carlyle, a. a. O. S. 47).

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Ausübung des überlieferten Rechts herleitet. Mit der Verletzung dieses Grundsatzes durch den Fürsten entfällt auch der Rechtsgrund seiner Autorität und es tritt ein Widerstandsrecht in Kraft, das eine gestörte Ordnung wiederherzustellen vorgibt. Diese Auffassung kommt in aller Deutlichkeit zum Ausdruck in den in den siebziger Jahren des 12. Jahrhunderts entstandenen Assises de Jerusalem, die für das Staatswesen bestimmt sind, in dem sich die Konzeption des Feudalstaates in reinster Form präsentiert, das Königreich Jerusalem1. Artus kann neben foi -anajuslise und Einhaltung der lot auch verite versprechen, weil das überkommene Gesetz geradezu als Instrument der Wahrheitsfindung gilt2. Oberstes Gesetz ist für Artus, im Sinne seines Vaters und seines „lignage" zu regieren. Die feudalhöfische Königsvorstellung, zu deren Sprecher sich Chrestien hier macht, hält also an dem Grundsatz der karolingischen Krönungs-ordines fest, der den Fürsten dazu anhält, „iuxta morem patrum" zu regieren, ja sie rückt diesen Grundsatz, unter dem Eindruck der tatsächlichen politischen Praxis ihrer Zeit reagierend, ins Zentrum. „Regere iuxta morem patrum" nun bedeutet zweierlei: „vor allem: den überkommenen Rechtszustand bewahren". Ferner besagt es: „Wie das Gewohnheitsrecht die Herrschaft eines Geschlechts sanktioniert oder sanktionieren hilft, so soll der Regent das alte Recht wahren, dem er und das Volk gleicherweise unterstehen"3. Der höfische Roman hält hier und in der Folgezeit mit der Figur Artus' an einem Fürstenbild fest, das die zu gleicher Zeit in der Wirklichkeit sich vollziehende Wandlung des nationalen Königtums von der bloßen Suzeränität zur Souveränität negiert. Wenn der einzige Rechtsgrund der Autorität die Einhaltung der Gesetze, nicht das Regieren an sich ist, und die Gesetze im feudalen Gewohnheitsrecht bestehen, dann kann sich die Befreiung des nationalen Königtums aus den Fesseln des Feudalstaates nur im Zeichen einer „rex legibus solutus"-Theorie vollziehen, wenngleich hier die Theorie der Praxis begreiflicherweise nachhinkt. Es hat seine tiefe Bedeutung — 1

„. .. le roi jure tout premier, sur sains, de maintenir tous les dons des autres rois; apras jure de maintenir les bons hus et les bones coustumes dou reaume . . . Et c'il avient puis, en aucune maniere, que il vaise contre ses sairemens, il fait premier tort et rende Dieu, puis que il fauce ce que il a jure. Et ne'l deivent soufrir ses homes ni le peuple, car la dame ne le sire n'en est seigneur se non dou dreit. . . Mais bien sachies qu'il n'est mie seignor de faire tort" (Zit. n. CarlylcCarlyle, a. a. O. S. 33). Vgl. Bractons De Legibus et Consuetudinibus Angliae: „Ipse autem rex non debet esse sub homine sed sub deo et sub lege, quia lex facit regem. Attribuat igitur rex legi, quod lex attribuit ei, videlicet dominationem et potestatem, non est enim rex, ubi d o m i n a t u r v o l u n t a s et non lex." (Ebenda S. 38; Sperrungen von mir.) 2 Vgl. die Summa de Legibus: „Sunt enim leges quasi instrumenta in iure ad contentionum declarationem veritatis" (a. a. O..S. 47). 8 Wilhelm Berges, Die Fürstenspiegel des hohen und späten Mittelalters. Schriften des Reichsinstitutes für ältere deutsche Geschichtskunde (Monumenta Germaniae historica) 2, Leipzig 1938, S. 9, auf der Grundlage der Forschungen P. E. Schramms über die Krönungs-ordines.

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auch wenn keine direkte Beziehung vorliegt — daß die programmatische Formulierung Chrestiens im Erec wenige Jahre nach dem Erscheinen desjenigen Werkes auftritt, das unter dem Zwang der angestauten Probleme die staatsrechtliche Fürstenethik nach jahrhundertelanger Erstarrung entschlossen auf die Höhe der politischen Realität stellt: der Policraticus des J o h a n n e s von S a l i s b u r y (1159). Von nun an gehen außerfeudales Staatsrecht und Praxis im Zeichen des neuen nationalen Königtums eine sachliche Verbindung ein, ohne daß darum gleich alle traditionellen, und d. h. hier veralteten Vorstellungen ganz verschwunden wären1. Diese konnten schon deshalb nicht ausgeschieden werden, weil sich die Monarchie der Rechtsmittel des Feudalstaats bediente, um eben diesen Feudalstaat zu überwinden. Bei Johannes orientieren sich die Forderungen, die an den Staat und an den Fürsten gestellt werden, an dem jungen nationalen Staat seiner Epoche2. Derselbe Mann, der die Lehre vom Tyrannenmord begründet, befürwortet eine — bezeichnenderweise nicht gewohnheitsrechtlich, sondern ethisch eingeschränkte — Freiheit des Fürsten vom geltenden Gesetz3. Hinter dieser Auffassung und der den ganzen Policraiicus durchziehenden scharf antihöfischen Einstellung besteht ein hintergründiger Zusammenhang, angesichts dessen sich die höfische Verschiebung des alten feudalen Königsbildes ins Ethisch-Ästhetische als eine Rückzugsbewegung darstellt, die ein vorläufig aussichtsloses politisches Bestreben mit dem Glanz universalen, vollkommenen Menschentums ausstattet. Germanische fides, von der Kirche im n. Jahrhundert eifrig gefördert, die pax- und /»/////^-Gedanken augustinischer Herkunft, die Elemente der überkommenen Königsvorstellungen bilden die Grundlagen eines von der neuen höfischen Gesittung überglänzten Königsideals, mit dem das feudalhöfische Rittertum dem Königtum seiner Tage einen korrigierenden Spiegel vorhält. Diese politische Tendenz, leicht übersehen, weil mehr oder weniger bewußt in eine ethische und ästhetische Vorbildhaftigkeit von zwingender Überzeugungskraft umgeformt und somit verdeckt, sei im Folgenden noch präzisiert. Sucht man in Chrestiens Artusromanen nach direkt vorgetragenen, scharfen Formulierungen der feudalen Forderungen gegenüber dem Königtum, so ist die Ausbeute gering. Das Artusreich bildet eine Welt, in der praktisch nur ein Rittertum existiert, das seine politischen Ansprüche vermöge durchgehender Moralisierung der feudalrechtlichen und ständischen Begriffe mit den Prinzipien edelsten menschlichen Sittlichkeitsstrebens gleichgesetzt hat. Chevalerie, leaute, justise, honor, usage, foi, coustume, don, largesce, 1

Berges, a. a. O. S. 6. Berges, a. a. O. S. 141. Dort Verweis auf die gleiche Feststellung bei Joh. Spörl, Grandformen hochmittelalterlicber Gcschichtsanschauungen, München 1935. 3 Policraticus IV, 2, Migne 199, 515: „Princeps tarnen Icgis nexibus dicitur absolutus, non quia ei iniqua liceant, sed quia is esse debet, qui non timore poenae sed amore iustitiae aequitatem colat, rei publicae procuret utilitatem, et in omnibus aliorum commoda privatae praeferat voluntati." 2

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all diese hochgespannten Verpflichtungen, die Artus, der Idealkönig, einhält, lassen ob ihrer so entschieden auf eine allgemeinsittliche Ebene hin verschobenen Bedeutung fast vergessen, daß hinter ihnen ganz konkrete lehensrechtliche Normen stehen. Sie lassen diese Tatsache umso leichter übersehen, als die Artuswelt in eine Märchenatmosphäre getaucht ist, in der es zwar Kämpfe und böse Mächte gibt, alltägliche Nöte aber fast gänzlich ausgeschlossen und die politischen Antagonismen des Feudalstaates restlos auf die persönlich-psychologische Problematik reduziert sind. Um die hinter dem Artusbild stehende politische Wirklichkeit, von der die Romane abstrahieren, in ihrer Bedeutung für den Roman selbst zu erfassen, müssen wir den Umweg über die eine deutlichere Sprache sprechende Chanson de geste und einige spätere, nicht-arthurische Romane nehmen. Im Couronnement de Louis, einer zum Wilhelms-Zyklus gehörenden Chanson de geste, gibt der altgewordene Kaiser dem soeben zum Nachfolger bestimmten Sohn Ludwig Verhaltungsmaßregeln für die Regierung, zu deren wichtigsten die folgende gehört: Et altre chose te vueil, filz, acointier, Que, se tu vis, il t'avra grant mestier: Que de vilain ne faces conseiller, Fill a prevost ne de fill a veier: II boiseroient a petit por loier; (Ed. E. Langlois, CFMA, Paris 192.5*, v. 204—8) Das Couronnement ist ein Teil jenes Epenzyklus, in dem eine führende Feudalität sich zur Schutzmacht des schwachen Königtums und zum Wahrer der Ordnung im Innern und Äußern des Reiches aufwirft. Der König ist ihr Geschöpf, der Dichter läßt ihn ganz in diesem Sinne zu Wilhelm sagen: Vostre lignage a le mien essalciö. (v. 149) Die Zeit ist nahe, in der die Empörergeste dem mehr mit List als Gewalt wieder um die tatsächliche Herrschaft mit Erfolg ringenden Königtum das Nein der selbstherrlich gewordenen Vasallengeschlechter entgegenhält. Aber schon dort, wo die Dichtung den Vasallen als den weitschauenden, den Gedanken der Monarchie notfalls gegen das kurzsichtige Tagesinteresse des jeweiligen Königs aufrechthaltenden treuen Gefolgsmann zeigt, verrät sich eine Ahnung von der Gefahr, die dem Feudalismus durch die Verbindung der Monarchie mit einer ihr bedingungslos ergebenen, weil nur von ihr aus gesellschaftlicher und politischer Bedeutungslosigkeit herausgehobenen Schicht von bürgerlichen Staatsfunktionären droht. Der Zusammenhang, dem die oben zitierten Verse angehören, bildet einen fast vollständigen Monarchenspiegel im Sinne der hochfeudalen Aristokratie1. 1

Zur Bedeutung dieser Stelle vgl. Reto R. Bezzola, Les origines et la formation de la litti'rature courtoise en Occident, Paris 1944,1, S. 309ff., und in Melanges Hoepffner, Paris 1949, S. 204.

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Er umreißt das Programm einer Regierungsausübung, die vom Feudaladel selbst getragen wird und den Bürger, den vilain, ausschließt1. Von geradezu penetranter Deutlichkeit ist die Alexander-Version des Alexandre de Paris (de Bernay), der den Stoff restlos durch-„höfisiert". Der Tod des Darius wird hier benutzt, um die sittliche Verwerflichkeit und politische Kurzsichtigkeit des Herrschers zu demonstrieren, der seinen Adel demütigt und vilains und sers zu seinen Ratgebern erhebt und mit Ehren und Reichtümern überhäuft. Darius muß, obwohl er mit einem dreißigmal größeren Heer in den Krieg zieht, die Entscheidungsschlacht mit Alexander und sogar sein Leben selbst verlieren, weil er seinen Adel vernachlässigt hat2. Alle Ritter, einschließlich der hier (v. 178) besonders erwähnten povres chevaliers lassen Darius allein zurück mit seinen sers. Die Reue kommt zu spät, die bitteren Vorwürfe gegen die sers bewirken nur, daß diese ihren Herrn ermorden, um des siegreichen Alexander Gunst zu gewinnen. Der Epilog des ganzen Werks enthüllt noch einmal mit aller Deutlichkeit, worum es dem Dichter ging: Li gentil chevalier et li clerc sage et bon, Les dames, les puceles, qui ont clere fagon, Qui sevent de service rendre le guerredon, Cil doivent d'Alixandre escouter la changon. 1

Vgl. in Deutschland die an Kaiser Heinrich IV. gerichteten Forderungen bei Lambert von Hersfeld: „Ut vilissimos homines, quorum consilio seque remque publicam praecipitem dedisset, de palatio eiceret, et regni negocia regni principibus, quibus ea competerent, curanda atque administranda permitteret." (Anna/es, Monumenta Germaniae historica. Scriptores 5, S. 196.) 2 Si ot trente tans d'omes q'Alixandres n'ot Gris; Mais por ce fu vaincus et ses regnes conquis Qu'es fieus de ses gargons estoit ses consaus mis Qu'avoit fait de sä terre seneschaus et baillis, Donees gentieus fernes et es honors asis. Cil li ont tous ses homes afoles et malmis, Les vilains confondus et les borgois aquis, Les povres chevaliers ciaus ont tenus si vis Q'assos sont plus dolent que se il fuissent prix, Et hontes et contraires ont tant fait as gentis Q'il n'a home en sä terre qui ne li soit eschis. Quant vint au grant besoing sor l'eaue de Gangis, Si dist li uns a l'autre: „Ja n'ait il Paradis Qui por malvais segnor se laist navrer el vis Ne qui n'avra colee desor son escu bis; Combatent soi li serf que il a enrichis, Qui nos avoirs nos tolent et fönt clamer chaitis; Ja eil n'avra la terre qui nos en face pis." (Ed. E. C. Armstrong, D. L. Buffum, Bateman Edwards, L. F. H. Lowe. Elliott Monographs 37, Princeton-Paris 1937, Branche III, v. 171 — 188, vgl. v. 24off.)

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König Artus und sein Reich Alixandres le dist et mostre par raison: Fous est qui conseil croit de serf ne de felon Ne qui fait de nul d'aus prince de sä maison; Se gaaig i puet faire, ne doute traison; Ci doivent prendre essample li prince et li baron. (Br. IV, v. 1652-1668)

Man muß bis zu Jean Renarts L'Escoufle gehen, um im höfischen Roman Ähnliches in gleicher Deutlichkeit zu finden. An einem Kaiser wird hier getadelt, daß er seine Ritter — letztlich zu seinem eigenen Schaden — vernachlässige und Nichtadlige in den Ritterstand erhebe. Er wird aufgefordert, dafür zu sorgen, Que jamais a vo cort ne viegne N u s sers por estre vos b a i l l i u s , Car haus hom est honis et vix Qui de soi fait nul v i l a i n mestre. Vilain! et comment porroit estre Que vilains fust gentix ne frans ? Riches hom doit estre tous tans Humles et dous, et ses consaus Li doit ades garder son miaus, Et faire droiture et justise A cascun. Ce que je devise Ne valt riens s'or ne faites plus. Metis vos haus homes desus; Si les amds et tenos chiers: Por avoir paor de lor chiers Ne vos faudront, s'ensi le faites. Se besoins vos vient en souhaites, II aideront a amender Les bas consaus, et amender Les comunes et les vilains. (Ed. H. Michelant et P. Meyer, SATF, Paris 1894, v. 1616—1645)* Solche Mahnungen, von erfundenen Rittern an erfundene Könige und Kaiser gerichtet, meinen gleichwohl höchst reale Herrscher. Das wird noch deutlicher, wenn im Guillaume de Dole mit dem Lob eines deutschen Kaisers das Idealbild eines Monarchen erstellt wird: H n'estoit mie, ce me samble, De cez rois ne de cez barons Qui donent or a lor gargons, Rentes et prevostez a ferme, Dont les terres et i l meesme Sont destruit et il honi; S'ont tot le monde aviloni; 1

Eine ähnliche Warnung vor der Förderung der sers und vilains auch v. 8394^

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Ce met les prodomes arriere Et les mauves en la chaiere: Mal fet bers qes met en baillie; Que ja por nule segnorie Nuls vilains n'iert se vilains non. (Ed. G. Servois, SATF, Paris 1893, v. 574—585) Die Erhebung der vilains zu Ratgebern des Königs und die damit verbundene Ausschaltung des Adels aus entscheidenden politischen Positionen erscheint als Zeichen eines verhängnisvollen Niedergangs der Welt („S'ont tot le monde aviloni"). So ist es nicht verwunderlich, wenn Huon de Mery den Antichrist wie den adelsfeindlichen König handeln und ihn die vilains zu Rittern schlagen läßt1. Ch.-V. Langlois vermutete in der von uns zitierten Stelle aus Guillaume de Dole eine direkte Wendung gegen den französischen König2. Zweifellos mit Recht. Hinter der deutlichen Sprache der Romane aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts steht die Erfahrung, die der französische Feudaladel unter Philipp August machen mußte. Dieser nüchterne Realpolitiker hat nie die Kämpfe gegen die aufsässigen Vasallen vergessen, die seine Jugend überschatteten und den Bestand der Monarchie in Frage stellten. Die Chronik von Tours charakterisiert ihn mit den Worten: „die übelwollenden Barone des Reichs unterdrückte er und förderte ihre Zwietracht, tötete aber keinen im Kerker, zog kleine Leute in seinen Rat, trug niemanden etwas nach, demütigte die Hochmütigen, verteidigte die Kirchen und unterstützte die Armen"3. Energisch und konsequent in allen politischen Handlungen verhilft Philipp August der Idee des Staates zur Macht und bedient sich dabei eines neuen Staatsrechts auf der Grundlage des römischen Rechts, der Legende, der Geschichtsschreibung und aller politischen Hilfsmittel, die ihm das Lehensrecht selbst in die Hand gibt4. Das 1

... Antecriz ot amassez Tant de gent, com il pot avoir, Et abandona son avoir As serjans et as soudadiers, Et pour plus avoir chevaliers Meint usurier et meint vilain (Ot) fet chevalier de sä main. (Li Tournoiemen^ Aniecrit, Ausg. G. Wimmer, AARPh LXXVI, Marburg 1888, v. 2038—44). — Auch wenn Bernhard von Clairvaux ein Jahrhundert früher in rhetorischer Bescheidenheit einmal erklärt, daß er, eine „vilis persona", es wage, dem König zu raten, so liegt auch hier die Vorstellung zugrunde, daß nur der Adel als Ratgeber des Königs in Betracht komme. Siehe F. Heer, Aufgang Europas, Wien-Zürich 1949, S. 187. 2 La vie en France au mqyen age de la fin du XIIe au milieu du XIV* siede d'apres des romans mondains du temps, Paris 1924, S. 83. * Zit. n. A. Cartellieri, Philipp H. August, König von Frankreich, Leipzig-Paris 1899—1922, Bd. IV, S. 578. * Vgl. Percy E. Schramm, Der König von Frankreich, Weimar 1939, I, S. no ff.

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Bündnis zwischen Monarchie und Klerus, sichtbar vor allem in der in Saint Denis geschaffenen Königslegende, trägt jetzt seine Früchte1. Von den Plantagenets übernimmt Philipp August 1184 die Einrichtung der baillis oder senecbaux, ihm treu ergebener Beamter, und bildet damit einen Verwaltungsapparat, der ganz im Dienste des antifeudalen Zentralismus steht2. Die entscheidende Hilfsmacht des Königs im Kampf um die Restaurierung der monarchischen Souveränität aber ist das städtische Bürgertum. Philipp August führt einen historisch zu verfolgenden Plan zur Förderung und Stärkung der Kommunen durch, der fast ausschließlich auf Kosten des Feudaladels geht3. Wenn die Zentralisationspolitik des französischen Königtums mit Philipp August einen ersten großen Höhepunkt erreicht, so wird doch die Wirkung dieser Politik nicht erst unter seiner Regierung spürbar, sondern setzt schon beträchtlich früher ein. Das französische Königtum hatte seine Machtposition nie verloren gegeben; wenn es in den Zeiten seiner größten Schwäche die heranwachsenden Lehensfürstentümer notgedrungen dulden mußte, so hat es sie als selbständige Gebilde doch niemals in irgendeiner Weise legalisiert4. In hartnäckigem, zähem Kampf gegen die partikularistischen feudalen Mächte erobert sich die kapetingische Monarchie, trotz ihrer eigenen feudalen Herkunft ihrer Natur nach außer-, d. h. antifeudal, die verlorene faktische Herrschaft zurück, wobei auch ihre anfälligsten Vertreter nie den staatlichen Grundgedanken preisgeben5. Mit dem Beginn des iz. Jahrhunderts gerät der dritte Stand in Bewegung. Langsam zunächst, und dann immer rascher, teils in blutigen Aufständen, teils bei günstiger politischer Konstellation ohne größere Schwierigkeiten, erlangt das städtische Bürgertum seine Freiheiten in einem Kampf, der von Anfang an im Zeichen des Protests gegen die feudalen Gewalten steht8. Der Gegner war für Kommunen und Königtum derselbe. Ludwig VI., der 1

Schramm, a.a.O. S. 131 ff.; H. Mitteis, Lehnrecbf und Staatsgewalt, Weimar 1933. S. 2752

Siehe Ch. Petit-Dutaillis, La France et VAngleterre depuis la constitution de empire angevin (1154) jusqu'ä la mort de Saint Louis (1270) ei de Henri III (1272) .Paris »937, S. 233. 8 Dazu Mitteis, a.a.O. S. 302 f.; ferner A. Luchaire bei E. Lavisse, Histoin de France, Bd. III, i, S. zzzff.; Walther Kienast, HZ 148 (1933) S. 497fT.; J. Calmette, Le monde feodal, Paris 1946, S. 321 ff. 4 Siehe Mitteis, a. a. O. S. 281. • Vgl. Calmette, a. a. O. S. 177: „. . . si eile agit longtemps sous le ddguisement feodal, la royautd n'abdique ä aucun moment sä souverainete virtuelle . . . eile conserve ses protentions de sou veraine, sä nature extrafoodale." • Siehe Luchaire's KapitelL·'emancipationdes classes populaires, a. a. O. Bd. II, 2, S. 332ff. Vgl. 342: „Tout est sorti pourtant d'une meme pensde et d'un mfime fait: le soulevement provoqu£ par les exces feodaux, la reaction progressive ou brusque centre une organisation sociale qui livrait les villes sans defense ä la rapacitd des seigneurs et de leurs agents." — Die nordfranzösischen Städte schließen, im Gegensatz' zu denen des Südens, die Edelleute grundsätzlich von jeder Verwaltungstätigkeit aus. Siehe Petit-Dutaillis, a. a. O. S. 9.

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Dicke, verzehrte sich ein Leben lang in Kämpfen gegen den Raubadel. Wenn in seiner Regierungstätigkeit, die sich vorwiegend auf den Klerus stützte, keine ausgesprochene Begünstigung der Städte festzustellen ist, so kommt doch seine Befriedungspolitik weitgehend gerade der ökonomischen Entwicklung der Städte zugute. Bei Ludwig VII., dessen größter politischer Fehler die folgenschwere Scheidung von Eleonore von Aquitanien war, läßt sich bei aller Schwäche eine instinktive und zäh festgehaltene Neigung zum Bürgertum und eine mehr oder weniger zielbewußte Förderung der Städte feststellen1. Was Ludwig VI. und Ludwig VII. an Entschiedenheit fehlen ließen, ersetzte in ihrer Zeit der treueste und begabteste Diener, den das Königtum im z. Jahrhundert finden konnte: Suger, Abt von Saint Denis, ein Mann von niederer Herkunft2. Die neue Schicht der Legisten, die das wiederauflebende römische Recht in den Dienst der Monarchie stellt, setzt sich vorwiegend aus Bürgerlichen zusammen. Diese treuen Helfer zu belohnen und an sich zu fesseln, bemühte sich das Königtum frühzeitig um das Alleinrecht auf die Erhebung in den Adelsstand. Immer mehr erwies sich das Bündnis mit dem Bürgertum als wichtigstes Mittel zur Destruktion der feudalen Gewalten. „La royauto frangaise n'a d'ailleurs pu briser la föodalite que parce qu'elle a fait alliance contre eile avec le peuple: ici intervient ce facteur essentiel du dynamisme social au moyen age, I'esprit d'association"3. „Des Königs Bürger" und damit jeder lokalen feudalen Gerichtsbarkeit entzogen zu sein, war für den Städter des 12. Jahrhunderts ebenso erstrebenswert wie der Begriff der „Commune" für den Adel verabscheuenswert. Die Stadt erschien als Sitz eines besonderen Menschentums, dessen Lebensformen und Denkkategorien überhaupt nicht in die geläufigen Vorstellungen paßten, ja dem Rittertum und dem feudalisierten Klerus als Bedrohung der Ordnung überhaupt erscheinen mußten und durch das Bündnis mit der Monarchie und der dadurch ermöglichten Geltungssteigerung und der ökonomischen Macht unheimlich wurde*. Nach literarischen Zeugnissen des ritterlichen Hasses auf die städtischen Gemeinden braucht man nicht lange zu suchen5. Neben Guiberts de Nogent vielzitiertem Wort: „commune, nom nouveau, nom 1

Gleichzeitig bemühte er sich um die Einschränkung der erblich und übermächtig gewordenen hohen feudalen Hofämter, deren zwei, die Ämter des Seneechalls und des Kanzlers, Philipp August schließlich (1185 und 1191) ganz aufhebt. Siehe Luchaire, a. a. O. S. 233 f. Dazu auch P. E. Schramm, a. a. O. S. 166. 2 Zur überragenden Bedeutung Sugers neuerdings F. Heer, Aufgang Europas, S. 43 o ff. — Zur Rolle Sugers und des Klosters Saint Denis beim Wiederaufstieg der Königsmacht und bei der Errichtung eines Beamtenstaates im Zusammenhang mit cluniazensischen Verwaltungsmethoden vgl. neben Olschki und Mitteis (S. 231, 315 ff. u. 409ff.) G. Schreiber, Gemeinschaften des Mittelalters, Recht und Verfassung, Kult und Frömmigkeit, Münster 1948, S. loff. u. 432. 8 Calmette, a. a. O. S. 179. « Siehe M. Bloch, a. a. O. II, S. ii2ff. 6 Vgl. Fritz Meyer, Die Stände, ihr Lieben und Treiben dargestellt nach den altfranjösischen Artus- und Abenteuerromanen. AARPh LXXXIV, Marburg 1891.

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ddtestable" genügt ein Blick in das Werk Chrestiens. Die Verachtung des vilainy mit dem unterschiedslos alle nicht dem ritterlichen oder dem geistlichen Stand Zugehörigen bezeichnet werden, ist am deutlichsten im Wilhelm von England, wo in breiter Darlegung die Natura-Lehre zur Feststellung einer abgründigen metaphysischen und biologischen Verschiedenheit herangezogen wird1. „Vilenaille, chien enragie, pute servaille" nennt das Fräulein, das sich mit Gauvain im Perceval gegen die Bürger der Stadt verteidigt, die Anstürmenden2. Die ökonomische Macht, die hier, zur Zeit der Verarmung des Adels, nach undurchschaubaren Gesetzen heranwuchs, das Geheimnis einer ihrer gemeinsamen Interessen vollbewußten Kollektivität auf der Basis der Gleichheit erschien unheimlich und bedrohlich. Und das umsomehr, als die Stadt ihren Machtzuwachs nicht ausschließlich der bereits erkennbaren Verbindung mit dem monarchischen Staatsgedanken verdankte, sondern ein Produkt der in der Entwicklung des Feudalismus selbst liegenden Bildung großer Territorialeinheiten war. Die Förderung von Handel und Industrie, die Heranziehung neuer gesellschaftlicher Schichten, wurden bei der Schaffung großer Verwaltungseinheiten zur wirtschaftlichen und organisatorischen Notwendigkeit. Mit den Städtegründungen und der Gewährung von beträchtlichen Privilegien erzeugt der fortgeschrittene Feudalismus seinen eigenen Widerspruch, der vom Standort des höfischen Rittertums aus in seiner ganzen fatalen Unwiderruflichkeit empfunden wird. Eine Warnung an den König vor der Heranziehung von vilains als Ratgeber, wie wir deren mehrere oben anführten, ist in der Artusdichtung nicht anzutreffen, weil der Artushof von vornherein frei ist von NichtRitterbürtigen. Der auf seine feudalen Pflichten bedachte Artus bedarf solcher Ermahnungen nicht. Das ideale Verhältnis zwischen dem König und seinen hochgestellten Baronen wird im höfischen Roman durch die Stellung der Tafelrunde am Artushof bezeichnet und somit an der Dichtung das Wunschbild einer curia regis gezeigt, das, wenn es auch keiner politischen Wirklichkeit standhalten könnte, doch mannigfache Beziehung zu dieser aufweist. Die früheste Erwähnung der Tafelrunde findet sich bekanntlich im Roman de Brut von Wace3. Ihr Ursprung ist bis heute umstritten, und die Frage, ob sie keltischer Herkunft sei oder ausschließlich eine Analogie zu den zwölf Aposteln und den zwölf Pairs der Karlsgeste darstelle, ist mit völliger Sicherheit wohl nicht zu entscheiden. Letztere Erklärung scheint uns jedoch wahrscheinlicher, da sie die Entstehung der Tafelrunde ohne 1

Siehe bes. v. 1362ff. — Vgl. hierzu C. Foulon, Les tendances aristocratiques dans le roman de Guillaume d'Angleierre, R 71 (1950) S. 222—237. * Ed. Hilka, v. 595 5 f. 8 Vgl. Bruce, Evolution, I, S. 57ff. u. 82ff., und neuerdings M, Delbouille, Lt t moignage de Wace sur la legende artburienne, R 74 (1953) S. 172—199; vgl. A. Hilka, . S. 762, Anrn. zu v. 8125.

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Schwierigkeit verstehen läßt, und die sehr konstruiert anmutende Rückführung auf die Legende von „Bran the Blessed" durch R. S. Loomis nicht zu überzeugen vermag1. Während die Forschung bisher zu der Ansicht neigte, daß es Wace ist, dem man die Verknüpfung von Table Ronde und Artuslegende zu verdanken hat2, hält St. Hofer, nachdem bereits Ph. A. Becker (Der gepaarte Achtsilbery S. 92) an der Echtheit der entsprechenden j#r»/-Stellen zweifelte, die Tafelrunde für eine nach dem Vorbild der zwölf Pairs des Volksepos von Chrestien erfundene Einrichtung und die Wace-Stellen für das Werk eines späteren Zyklikers, der den Roman de Brut den Romanen Chrestiens als Einleitung voranstellte3. Bei aller gebotenen Zurückhaltung gegenüber der häufig voreiligen Annahme von Interpolationen ist Hofers Auffassung doch sehr einleuchtend; jedenfalls erscheint die Einrichtung der Tafelrunde, die den König als primus inter pares hinstellt und eine ständige Mahnung an die Grenzen seiner Macht und an seine rein feudalrechtliche Stellung einbegreift, als eine Erfindung des französischen höfischen Romans wahrscheinlicher denn als eine solche der im Dienste des angevinischen Königshauses stehenden Chronik. Die Erklärung, welche die Brut-Steüe für die Entstehung der Tafelrunde gibt4, 1

Roger S. Loomis, Arthurian Tradition and Cbritien de Trqyes, Columbia University Press, New York 1949, S. 64ff. Siehe dazu die Rezension von John J. Parry, MLQ 14 (S. 131 — 133). Während Bruce, a. a. O. S. 83, trotz seiner „antikeltischen" Einstellung noch zur Annahme keltischer Quellen für die Tafelrunde neigte, sprechen Dclbouille, a.a.O. S. 188, Parry, a.a.O. S. 100, und zuletzt St. Hofer, Chretien de Trqyes, S. j 9, sich für eine biblische bzw. epische Analogie aus. — Die Zwölfzahl spielt im ganzen Mittelalter eine bedeutende Rolle. Der benediktinischen Überlieferung zufolge hatte Benedikt von Nursia zwölf Konvente mit je zwölf Mönchen und einem Abt gegründet. Kleinklöster mit zwölf Mönchen blieben lange Zeit das Ideal. Die Symbolkraft der Zwölfzahl fand in der Bettenzahl der Hospitäler, bei Fußwaschungen, in der Armenpflege usw. Ausdruck. Im Jahre 1132 versammelte Petrus Venerabilis die Führer der cluniazensischen Reformbewegung zu einer großen Heerschau; nach Odericus Vitalis (Hisforia Ecclesiastica III, 13, 4) bildeten 1212 Mönche eine glanzvolle Prozession. (Für die Belege s. Georg Schreiber, Gemeinschaften des Miitelalters, S. 43, 90, 225 f., 423). Bernhard von Clairvaux erläutert in seinem Traktat De gradibus hurailitatis et superbiae zwölf Stufen der Demut und zwölf Stufen des Stolzes (Migne, 182, col. 941 — 72). „Die Symbolgewalt und die Volkstümlichkeit der cluniazensischen Zwölfzahl . . . hat der zisterziensischen Zahlensymbolik, die in gleicher Linie verlief, vorgearbeitet" (Schreiber, a. a. O. S. 97). Es fällt schwer, angesichts der hervorragenden Bedeutung der von der Zahl der Apostel her geheiligten Zwölfzahl im kirchlichen und täglichen Leben des Mittelalters bei Tafelrunde und Pairskollegium an keltische Ursprünge zu glauben. 2 So noch Delbouille, a. a. O. S. 191. 8 ZRPh 62 (1942) S. 87—91, und Cbritien de Trqyes, S. 38 u. 59. * Por les nobles barons qu'il ot Dont cascuns mieldre estre quidot; Cascuns s'en tenoit al millor, Ne nus n'en savoit le pior, Fist Artus la Roonde Table, Dont Breton dient mainte fable.

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steht dazu in keinem Widerspruch, sondern weist bereits auf die Motive, aus denen später der Pairshof unter Philipp August zu einer — wenn auch praktisch machtlosen — offiziellen Institution werden konnte1. Die französischen Könige konnten sich mit dem Gedanken eines Pairskollegiums nie befreunden, weil sie in ihm von Anfang an und mit Recht den Herrschaftsanspruch des feudalen Hochadels erkannten2. Die Harmonie zwischen einer Gruppe hochgestellter Vasallen und Suzerän, wie sie frühe Chanson de geste und Artusepik darstellten, war für ein sich bewußt aus den Klammern des Feudalstaates lösendes Königtum von vornherein illusorisch und, da es den politischen Anspruch auch hinter der literarischen Fiktion erkannte, verdächtig. Die fiktive Harmonie zwischen Herrscher und Vasallen verbot ein direktes Aussprechen der an den König gestellten Ansprüche ebenso wie im Falle der Forderung, keine vilains als Ratgeber zu verwenden. Was aber die Artusepik ihrer eigenen Voraussetzung nach nicht bieten konnte, findet sich wiederum anderswo. In der vierten Branche des Zwölfsilber-Alexanderromans (Alexandre de Bernai) verteilt Alexander der Große vor seinem Tod das Reich an die zwölf Pairs, die er zu Beginn seiner Herrschaft auf den Rat und nach Angabe des Aristoteles ausgesucht hat8. Das Gleiche darf man sich für den kinderlosen Artus vorstellen, wie denn auch noch im großen LatKe/ot-Graa/-'Zj\dus Lancelot seine Domänen an die ihm nahestehenden großen Vasallen verteilt bzw. lange vor seinem Tod Boort und Illoc seoient li vassal Tuit chievalment et tot ingal; A la table ingalment sdoient Et ingalment servi estoient. Nus d'als ne se pooit vanter Qu'il soist plus halt de son per; Tuit estoient assis moiain, Ne n'i avoit nul de forain. (v. 9994^.) 1 Das Verlangen der französischen Großen, nur von ihresgleichen gerichtet zu werden, bot bekanntlich Philipp August die Möglichkeit, Johann ohne Land auf feudalrechtlichem Wege durch ein zu diesem Zweck einberufenes Pairsgericht verurteilen zu lassen. — Hinweise auf Stellen, in denen die ständige Forderung nach einem von den hohen Vasallen, den Pairs, gebildeten Gerichtshof ziemlich unverblümt auf ein Kontrollorgan gegenüber der Königsgewalt zielt, geben Carlyle-Carlyle, a. a. O. S. 5 8ff. ' Deshalb konnten die französischen Kronvasallen nie eine so bestimmende Macht erlangen wie die deutsche Kurfürstenversammlung. Als „par Franciae" wird offiziell erstmals um 1180 der Graf von Champagne bezeichnet. Siehe Schramm, Der König von Frankreich, S. 172. Nur vorübergehend konnten einzelne große Vasallen über die Hofämter, der früheren Entsprechung der Pairschaft, schwerwiegenden Einfluß gewinnen. So vor allem Chrestiens ehrgeiziger Gönner Philipp von Flandern. Siehe Cartellieri, a. a. O. I, S. 380°. u. 102 ff. • Auf dem Sterbebett erhebt Alexander in langer, von Ohnmacht unterbrochener Rede die zwölf Pairs zu Königen über die Länder, die er ihnen überträgt; Branche I, v. 674—695, Br. IV, v. 253 — 544.

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Lyonel zu Königen zweier ihm unterstehender Länder erhebt1. Was die Artusepik stillschweigend voraussetzt und der Alexanderroman als Wunschbild in Handlung umsetzt, wird Jahrzehnte später von Hue de la Fert6 als verhüllte Forderung vorgetragen, als er dem jungen Ludwig IX., bei dessen Krönung 1226 die Kronvasallen bedrohlichen Widerstand leisten, rät, die Regierung in die Hände der Pairs zu legen2. Die Bestimmung der Tafelrunde in der Artus dichtung kann nach dem Gesagten kaum zweifelhaft sein. Sie bezeichnet die Möglichkeit eines idealen Verhältnisses zwischen König und Großvasallen im Sinne der feudalen Gesellschaft und der vorbildhaften — wenn auch nicht einmal im Roman völlig herstellbaren — Ranggleichheit dieser hohen Vasallen untereinander. Indem sie sich einen primus pares, einen in seiner Machtausübung feudal rechtlich eng eingeschränkten und den gleichen moralischen und politischen Kategorien unterworfenen Lehensherrn gibt, verschafft sich diese Gemeinschaft der Großen zugleich den ideellen Mittelpunkt, dessen sie als höfisch-ritterliche, ästhetisch-sittliche Korrektur ihrer eigenen anarchisch-partikularistischen Kräfte bedarf. Die Königsgestalt des höfischen Romans erklärt sich indessen nicht nur aus diesem Bedürfnis nach einer exemplarischen Mitte für die neue Gesittung, die einen bedrohten Führungsanspruch legitimiert, sondern erwächst aus der geschichtlichen Dialektik der Lehensgesellschaft selbst. Hier gilt, was A. Dempf einmal im Hinblick auf die Königswahl sagt: Die Wahl „ist so tief begründet im germanischen Genossenschaftsgeist, daß die gesamte Dynamik des Lehensstaates, die mit unwiderstehlicher Gewalt ein Erbkönigtum fordert, dagegen niemals aufkommen konnte, daß bis zum Absolutismus der rein autoritäre Herrschaftsstaat einer Erbmonarchie niemals volle, rechtliche Wirklichkeit werden konnte. Es ist ja die eigentliche crux, die geschichtliche Antinomie des Lehensstaates, daß nur eine Erbmonarchie die Verschleuderung von Königsgut verhindern könnte, wenn nämlich keine Wahlabkommen mit den Lehensträgern getroffen werden müßten, und daß trotzdem der König selbst erstes Vorbild der Nichterblichkeit des Amtes sein muß, das Beispiel dafür, daß das Amt nur für den Dienst verliehen werden kann und nicht einer Familie eigen ist"3. Der Lehensstaat bildet mit seinen vertikalen Abhängigkeitsverhältnissen eine Gesellschafts1 LA a

Mort le rot Artu, dd. J. Frappier, Paris 1936, S. 139. „Sire, quar faites mander Vos barons et acorder; Et viegnent avant li Per Qui seulent France guier; Et o vos mainie Vos feront aie; Et faites les clers aler En lor eglise chanter." (Le Romancero Francois. Recueilli par P. Paris. Paris 1833, S. 191.) ' Sacrum Imperium, München und Berlin 1929, S. 147.

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pyramide, die ohne eine oberste Spitze, einen Suzerän, nicht denkbar ist. Das Streben der erstarkenden Vasallen nach gesicherter Erblichkeit mußte auch dem obersten Lehensherrn eine von der Wahl unabhängige Erblichkeit zugestehen, die mit dem Anspruch des Suzeräns, die Lehen nach seinem Ermessen zu vergeben, in einem schwerwiegenden und permanenten Gegensatz stehen mußte. So zeugte die feudale Gesellschaft mit ihrer monarchischen Spitze auch hier ihren eigenen Widerspruch, und zwar einen Widerspruch, der unaufhebbar war und seine die Existenz des Feudaladels bedrohende Dynamik nur dann verlor, wenn der König das Geschöpf seiner Vasallen blieb. Dieser im feudalen Sinn ideale Zustand aber ist in Frankreich, dem am stärksten und frühesten durchfeudalisierten Land, durch die Kapetinger bald überwunden; die politische Wirklichkeit verweist das feudale Wunschbild in die Dichtung und gibt dieser wichtige Elemente der Gestaltung. Der keltische Nationalheros Artus verdankt seine „fortuna" auf französischem Boden seiner vorzüglichen Eignung für die Bestrebungen des höfisierten Hochadels. Daß der höfische Roman und vor allem der Artusroman durch ständig opponierende Fürstenhäuser wie diejenigen von Blois-Champagne und Flandern eifrig gefördert wird, während die kapetingischen Könige sich der so bestimmten Dichtung ihrer Zeit gegenüber völlig ablehnend verhalten, erklärt sich aus diesen Umständen leicht1. Artus ist nie König im Sinne eines Herrschers, ist kein wirklicher König; er ist immer Symbol eines als vollkommenste menschliche Ordnung gewährleistend vorgestellten und hingestellten idealen Feudalstaates. Er ist es solange, bis eine der wirklichen Situation des Rittertums bewußt gewordene Dichtung sich mit der zur äußersten Konsequenz feudalistischer Umklammerung des Königtums und hybrider Übermacht des „lignage" in der Mort Artu das Crepusculum der eigenen Welt vor Augen hält. Die Tafelrunde und die Artuswelt gehen dort an ihren eigenen Voraussetzungen zugrunde. Ein folgerichtigeres Ende ihrer tiefsten Bestrebungen hätte sich die Gesellschaft der höfischen Dichtung nicht setzen können. Das Artuskönigtum ist nicht denkbar ohne largesce, d. h. ohne eine Eigenschaft, die gerade bei den Kapetingern des 12. und 13. Jahrhunderts vermißt wurde und deren Fehlen am Königshof noch bei Rutebeuf zum Anlaß bitterer Vorwürfe gegen Ludwig den Heiligen, ja zu einer Art Symbol für den Niedergang der Welt wird2. Die Bedeutung dieses Motivs für die Dichtung ist mit dem Hinweis auf die Untcrhaltsbedürfnisse der Sänger und Dichter nicht annähernd erschöpft, sondern kann nur aus dem Charakter des Lehenswesens und seiner Entwicklung erklärt werden8. 1

Über das Verhältnis des englischen Königshauses zur Artuslegende wird weiter unten zu sprechen sein. 2 Siehe Ulrich Leo, Studien ^u Rutebeuf, Beih. z. ZRPh LXVII, Halle 1922, S. 81 ff, 8 Vgl. unseren Aufsatz über Reichtum und Freigebigkeit in der Trobadordicbtung, ER 3 (1951-52), S. 103-138.

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Schon der Erec bringt die erste große Manifestation arthurischer Freigebigkeit. Aus Anlaß der Krönung Erecs ordnet Artus eine Prachtveranstaltung an, bei deren Schilderung sich Chrestiens frühe Sprachkunst kaum genug tun kann. Breit wird die largesce des Königs geschildert und dann mit derjenigen berühmter Vorbilder, Cäsars und Alexanders, verglichen1. Was der Erec wortreich schildert, versucht der Cliges enthusiastisch zu begründen. Largesce ist hier explizit die oberste Tugend, die allen anderen Tugenden ihre Strahlungskraft mitteilt und deren Mangel den Besten tadeln und deren Vorhandensein den Schlechtesten rühmen läßt. Sie steht nicht nur beherrschend über all den Eigenschaften, die den Bestand der höfischen Gesittung ausmachen, sondern erscheint als die Grundtugend, die alle Vorzüge des neuen, sittlich vertieften ritterlichen Ideals, der prodomie, in wunderbarer Weise vervielfacht2. Die konsequente Versittlichung einer Freigebigkeit, die keine Abgrenzung gegenüber der Verschwendung kennt, ihre Rolle als integrierender Bestandteil eines Vollkommenheit anstrebenden Menschenideals, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich hinter ihr die ökonomischen Belange der Lehensgesell schaft verbergen3. Der Ruf nach der Freigebigkeit gründet 1 2

v. 6660 ff.

„Biaus fizl", fet il, „de ce me croi, Que largesce est dame et reine, Qui totes vertuz anlumine, Ne n'est mie grief a prover. An quel leu porroit I'an trover Home, tant soit puissanz ne riches, Ne soit blasmez, se il est chiches, Ne nul, tant et mauveise grace, Que largesce loer ne face? Par li fet prodome largesce, Ce que ne puet feire hautesce Ne corteisie ne savoirs Ne jantillesce ne avoirs Ne force ne chevalerie Ne hardemanz ne seignorie Ne biautez ne nule autre chose. Mes tot aussi come la rose Est plus que nule autre flors bele, Quant ele nest fresche et novele: Aussi la, ou largesce vient, Dessor totes vertuz se tient, Et les bontez que ele trueve An prodome, qui bien s'esprueve, Fet a eine ganz dobles monter. Tant a an largesce a conter, Que n'an diroie la meitie." (v. 192—217) 8 Die Konstituierung der feudalen Welt hatte sich nach der Landnahme vollzogen, indem der Herr seinem Dienstmann, dem compagnon, Land zur Nutznießung überließ, das freiwillig gegebene beneficium, das zur Ehre (honor) und Besiegelung der Gemeinschaft übertragene, später erbliche Lehen. Das gegen-

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also auf einer vom feudalen Leben selbst gebotenen Notwendigkeit. Gerade die der Bildung mächtiger und unabhängiger Territorien zustrebenden Großvasallen mußten sich dieser Notwendigkeit öffnen, um ihre belehnten Vasallen und zugleich den besitzlosen Kleinadel an sich zu fesseln. In der largesce finden sich die Interessen aller ritterlichen Schichten, an ihr werden zuerst und am deutlichsten die objektiven Bedingungen für die Ausbildung des höfischen Ideals sichtbar. Unmerklich wandelt sich eine ökonomisch-politische Forderung um in eine Voraussetzung des persönlichen Ansehens und der ritterlichen Ehre. Ihr zu genügen, wird auch zu brutalen Mitteln, zu Raub und Krieg gegriffen. Der Trobador Bert r an de Born, ein kleiner und ständig von Geldnöten gepkgter „vavassor", steht nicht an, mit seinen Sirventesen zum Krieg zu hetzen und offen einzugestehen, er tue dies, weil der Krieg die Herren zu größerer Freigebigkeit zwinge1. Hier bricht die zugrunde hegende Realität durch den Firnis der Ideale und enthüllt ihren Ideologiecharakter. Nicht so offen, aber darum nicht weniger bezeichnend, sind die Dichtungen der Marie de France. In einem wertvollen Aufsatz macht E. A. Francis geltend, daß entgegen der üblichen Auffassung Maries Kritik in den Fabeln sich keineswegs an alle Stände, sondern speziell an den Ritterstand wendet, und stellt fest, daß vom Stoff her gebotene Termini wie gain und aveir der Fabeln in den Lais durch moralisierte Termini -wiepris und riches duns ersetzt sind2. Wenn etwa Lanval den Helden im Glanz großzügigster Freigebigkeit, Milde und Bereitschaft, seitige Verhältnis — compagnonnage — beruhte auf einer persönlichen Bindung, die durch die Freigebigkeit des Herrn, seine ständige Bereitschaft zum Geschenk — don — untermauert wurde. Den Charakter des don behält das übertragene Lehen auch noch, nachdem die Beziehung der beiden Partner durch die Einführung des Vertrags, d. h. fest umrissener Verpflichtungen, weitgehend versachlicht war, ja der Geschenkcharakter mußte erst recht in den Vordergrund rücken, wo kein Land mehr zu vergeben war und eine ständig wachsende Zahl von Ritterbürtigen gleichwohl ihren Anspruch auf Unterhalt aufrechterhielt. Die Forderung nach der largesce, die von diesem landlosen Kleinadel erhoben wurde, rechtfertigte sich an der stets festgehaltenen Verpflichtung des Herrn, ja selbst die Ausstattung mit einem Lehen enthob diesen noch nicht weiteren Schenkens. — Über die Entwicklung des französischen Lehenswesens und speziell des don grundlegend Jacques Flach, Lei origines de l'ancienne France, t. II, Paris 1893, S. 4278., und Marc Bloch, La societ fiodale, t. I, Paris 1949, S. zz$S. 1 No puosc mudar, un chantar non esparja, Puois n'Oc-e-No a mes fuoc e trach sanc, Quar grans guerra fai d'eschars senhor larc, Per que'm platz be dels reis vezer la bomba, Que n'aian ops paisso, cordas e pom, E.n sian trap pendut per fors jazer, E.us encontrem a miliers e a cens, Si qu'apres nos en chan hom de la gesta. (Pillet-Carstens Nr. 28, Str. I) Zum Zusammenhang von Krieg und Freigebigkeit vgl. auch Bloch, a. a. O. , S. 24. * Marie de France et son temps, R 72 (1951) S. 78—99.

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seine Leute zu ehren, zeigt1, so bilden die Lehren sozialer Moral, die Marie aus den Fabeln zieht und die — wie Francis richtig bemerkt — öfters gar keinen direkten Bezug zu der erzählten Fabel aufweisen, ein ganzes System der rechten Verhaltensweise in der Lehensgesellschaft. Betrachtet man die Moralkritik der Fabeln Maries einmal unter vorläufigem Absehen von ihrer jeweiligen — des öfteren sehr lockeren — Abhängigkeit von der Einzelfabel, so gewahrt man eine polemische Einheit, deren Ausgangsstellung auch für die Auswahl der Fabelstoffe und letztlich für die stilistische und künstlerische Einheit der ganzen Sammlung entscheidend gewesen sein dürfte. Die wiederholten Warnungen vor der felunie der bösen Nachbarn, vor tückischen Ratgebern, vor Stolz und Überheblichkeit, der Rat, bei der Wahl des Herren vorsichtig zu sein, die Mahnung an die gegenseitige Treuepflicht, die Anprangerung der Habgier und des Geizes, all das zielt auf eine ständisch geschlossene Welt, deren Ordnung durch den pflichtvergessenen Teil ihrer Träger vom Verfall bedroht ist. Die Worte felunt desleial und coveitus ergeben den Grundton von Maries kritischer Moral, die als erste praktische Nutzanwendung dem Einzelnen resigniert den Rat vermittelt, seine Gedanken tunlichst für sich zu behalten: Par descovrance vient granz mals, n'est pas li siecles tuz leials. (LI, v. 29 f.) Sämtliche Widerwärtigkeiten des ritterlichen Lebens ihrer Tage, alle Arten der Gefährdung einer als endgültig konzipierten Ordnung stellen sich Marie als Verstöße gegen die leialti dar, die in einem auf persönlicher Verpflichtung basierenden gesellschaftlichen Beziehungsnetz die einzige Garantie für die Einhaltung der ordnungsstiftenden Abhängigkeitsverhältnisse ist. Die realen politischen und sozialen Veränderungen, die sich seit der Konstituierung der Feudalgesellschaft vollzogen hatten und eine funktionsgegliederte Gesellschaft in eine herrenständische umgewandelt, die lehensrechtlichen Verpflichtungen fortschreitend versachlicht und Bestrebungen untergeordnet hatte, die auf die Bildung großer Machteinheiten zielten, all das konnte Marie de France ebensowenig durchschauen und akzeptieren wie ihre Zeitgenossen. Sie überträgt darum eine unbeeinflußbare Realität 1

N'ot en la vile chevalier ki de surjur ait grant mestier, que il ne face a lui venir e richement e bien servir. Lanval donout les riches duns, Lanval aquitout les prisuns, Lanval vesteit les jugleürs, Lanval faiseit les granz honurs, Lanval despendeit largement, Lanval donout or e argent: n'i ot estrange ne privo a qui Lanval n'eüst don6. (Ed. K. Warnke, Halle 1925, v. 2oj —216)

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in die Psychologie, deren Möglichkeiten ja tatsächlich durch jene Realität die Richtung gewiesen wird. Die Verlagerung einer objektiven Problematik in das psychologische Verhalten zeitigt die Wendung an die Verantwortlichkeit des Einzelnen, macht den objektiven Befund zum Gegenstand der subjektiven Moral und erwirbt sich damit erst die Möglichkeit, an eine Besserung der Zustände mit Hilfe des Appells an das sittliche Bewußtsein der Einzelnen zu glauben. In unserem Fall, d. h. bei Marie de France wie bei der ganzen höfischen Dichtung ihrer Zeit, bedeutet dies das entschiedene Festhalten an der persönlichen Treueverpflichtung als einer sittlichen Grundeigenschaft des Menschen, an der leialie, deren Aktualisierung sich aber nun nicht mehr auf die einsträngige Beziehung zwischen Herr und Vasall beschränkt, sondern die ganze ständig wachsende Masse des gar nicht oder nur gering belehnten Kleinadels einbezieht. Hatte sich die Malte einst wesentlich nur in der Belehnung mit Land geäußert, so bezeichnet sie jetzt auf der einen Seite die loyale Gefolgschaft, auf der anderen Seite — der des Herrn — die Anerkennung und Einhaltung der Unterhaltspflicht schlechthin. Die leialte aber ist das gewohnheitsrechtlich postulierte Verhalten, das seine gesellschaftliche und sittliche Leuchtkraft von der Tugend der largesce, ihren ästhetischen Glanz von einer kulturfreudigen Prachtentfaltung erhält. Als stetige, überlegte, wie sich spontan bekundende Bereitschaft zum Geschenk ist die largesce in der Epoche der höfischen Kulturzentralisierung der sichtbare und alsbald mit der christlichen caritas religiös besiegelte Ausweis der leialti, Nicht nur die im engeren Sinne höfische Dichtung, Lyrik wie Epik, sondern auch das didaktische und vulgarisierende philosophische Schrift turn kennt in dieser von der feudalständischen Weltsicht beherrschten Zeit Freigebigkeit und Schenken als ein ernstes und für die menschlichen Beziehungen entscheidendes Problem1. Was an stoischen Quellen, vor allem aus den Schriften Senecas, vorlag, trat als Hilfsmacht in den Dienst der ethischen Fundierung des /argesce-Idea.lsz. Die Klage über den Geiz, der Tadel am Schenken am falschen Ort sind in mittelalterlicher Dichtung immer mit dem Gefühl drohenden Niedergangs verbunden3. Auch die Kritik Maries steht unter dem Eindruck des inneren Verfalls der Lehensgesellschaft. Sie prangert die Erbarmungslosigkeit der mächtigen Reichen den Armen gegenüber an (z. B. X, XI), die Demütigungen, die sie ihnen 1

Zur Diskussion über die Frage, wie und wem man schenken soll, bei mittellateinischen Schriftstellern, s. E. R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, S. 467 f. 2 Vgl. Rudolf Brummer, Auf den Spuren des Philosophen Seneca in den romanischen Literaturen des Mittelalters und des Frühhumanismus. In: Romanica, Festschr. f. F. Neubert, Berlin 1948, S. 55ff.; E. Köhler, a. a. O. S. 132. 3 Sie stehen früh im Zusammenhang mit dem eschatologisch verstandenen Kampf zwischen Tugenden und Lastern. Siehe D. Scheludko, Klagen über den Verfall der Welt bei den Trobadors. Allegorische Darstellung des Kampfes der Tugenden und der Laster, NM 44 (1943) S. zzS.

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zufügen (VII), ihre Neigung zu verschwenderischen Geschenken an falsche Ratgeber und Schmeichler (XIII) und verbindet mit ihrem Tadel den Hinweis darauf, daß die Mächtigen in der Not auf die so schlecht Behandelten angewiesen sind: Par ceste fable nus assume qu'essample i prengent li riche hume ki sur les povres unt poeir, s'il lur mesfunt par nunsaveir, qu'il en aient bone merci. Avenir puet tut altresi que eil li avra grant mestier e mielz le savra cunseillier a sun busuin, s'il est suzpris, que li mieldre de ses amis. (XIV, v. 45—54)

Trotz oder wegen ihrer engen Beziehungen zum englischen Königshof sieht sie die von ihr gerügten Erscheinungen an eben diesem Hofe sich ausbreiten (XXXIV) und rät, ihm fernzubleiben (XXXVI). Mit ihrem Hinweis auf die Bedeutung der Freigebigkeit und ihrer richtigen Anwendung zur Förderung des armen Ritters steht Marie de France nicht allein. Wenn die höfischen Dichter als Sprecher des Kleinadels ihre hochmögenden Gönner immer wieder ermahnen, sich der armen Ritter anzunehmen, weil sie ja letztlich auf sie angewiesen seien, so nehmen sie in gedanklichem Ansatz vorweg, was das französische Königtum auf nüchterner und rein politischer Basis wenig später durch die planvolle Immediatisation der Aftervasallen in die Tat umsetzen wird. Die frühen Prosaromane sind noch deutlicher. Im Perlesvaus hat Artus zehn Jahre lang als „essanple" aller Fürsten und Barone regiert, da kommt ihn eine „volente delaianz" an, die ihn seine largesces verlieren läßt. Die Ritter verlassen seinen Hof, über dem nun die Strafe der Aventurelosigkeit liegt1. Auf Guenievres Rat sucht er die Chapele Saint Augustin auf, wo er das dort vollzogene Meßwunder nur von ferne schauen darf; wegen seiner Sünden, wie ein Eremit ihm erklärt: „. . . car vos estes li plus riches rois du mont e li plus poissanz e li plus aventurex, si devroit a vos toz li mondes prendre essanple de bien fere e de largesce e d'onneur: e vos estes li essanples de vilenie fere a toz les riches homes qui ore sont. Si vos en mescharra molt durement, se vos ne remetez vostre afere o point o vos l'aviez commencie; car vostre corz estoit la sovrainne de totes les corz, e la plus aventureuse; or est la pis vaillanz." (33 — 9)

Und wenig später bestäugt die kahlköpfige Gralsbotin die weltgültige Exemplaritat des Artus königtums: „. . . vos .. . avez delaie vostre bienfet grant piece, de coi vos avez estd molt 1

Ed. W. A. Nitze und T.Atkinson Jenkins, I, Chicago 1932, v. 58ff. Der Verlust der largesce entzieht dem Artushof jede „raison d'etre", was der Dichter nicht wirkungsvoller zum Ausdruck bringen konnte als mit dem Satz: „Nule »venture n'avenoit mes a sä cort" (v. 74—5).

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König Artus und sein Reich blasmez e tuit li autre baron qui pris ont garde a vos, car vos estes li mireors au siecle de bien fere o de mal. . ." (644—6)

Der komplette Fürstenspiegel des Lancelot propre im Vulgata-Zyklus ist völlig vom Standort des Kleinadels aus gesehen. Nach dem Einfall Galahauts in das Land Arthurs wirft ein „preudon" dem König seine Vergehen vor. Artus hat die Güter, die Gott ihm verliehen, schlecht verwaltet, da er den Armen und Machtlosen sein Ohr verschließt und nur die „riches desloiax" Zugang bei ihm haben1. Eine erste Warnung Gottes ist der Artus erschreckende und unbegreifliche Umstand, daß diejenigen, denen er Gutes getan, ihn in der Gefahr allein lassen: „Car trop sui espoentes de mes; hommes qui si me faillent car trop les ai ames. ha. fait li preudom ehe nest mie merueille se ti homme te faillent. Car ceste premiere demonstrance ta fait diex por ehe que tu tapercheusses. quil te voloit oster de ta signoric. pzir ehe quil te toloit eels par quele aide tu las longuement maintenue. et neporquant li .j. te faillent de lor gre qui tu deusses faire les grans honors, et porter les granz signouries et les grans compaignies. ehe sont li bas gentil homme de ta terre par qui tu dois estre maintenus. Car li regne s ne puet estre maintenus se li communs des gens ne si acorde. Chil te sont failli de lor gre. li autre qui estre lor gre te faillent ehe sont chil de ta maison qui tu as donees les granz riqueches et qui tu äs fais signors de ta maison chil te faillent estre lor gre por ehe que diex le velt issi. Ne contre la volente dieu ne puet durer nule desfense. Ensi te faillent li .j. et li autre. Mais li .j. vienent en ta besoigne par forche por ehe que garantir lor couient lor terres et lor honors, et li autre i vienent por les biens que tu lor fais et que lor feras encore. Ensi vienent li .j. par forche et li autre par volente. Mais chil qui par force i vienent ne te valent rien plus que sil estoient mort. Car tu nas mie leur cuers. et cors sans euer na nul pooir." (217, 25 — 218, i) Der christliche Gedanke, daß der Arme als solcher gut sei, der Reiche aber zum Schlechten neige, wird hier in den Dienst der „bas gentil homme" genommen, deren Ansprüche auch die in langer Rede folgenden Ratschläge des „preudon" an Artus beherrschen2. Die nun plötzlich als vorherrschende 1

The Vulgate Version of the Arthurian Romances, ed. by H. Oskar Sommer, Washington 19090"., vol. Ill, S. 216, 6 —10. * „Car desous pouerte de cors gist grant riqueche de euer. Et en grant plente dor et de terres est maintes foiz pout:rte de euer enuelopee. Mais pour ehe que tu ne poroies mie par toi seul connoistre les boins ne les maluais de chascune terre ou tu vendras. (mande) le plus loia): cheualier en qui bonte darmes se soit herbergie. et par le tesmoig de lui feras les biens et les honors a eels de son pais. Car nus ne connoist si bien preudomme comme chil qui de grant proece est enrachines. Et quant il te mostera le boin poure homme qui loig se sera entre les autres poures. si garde que tu naies mie si chier la compaignie del haut homme que tu ne ten lieues et ailles seoir daks le poure homme et li enquier de son estre. Et tacointe de li et il de toi. et lors dira chascuns. aues veu le roi quil fait que tous les riches hommes a laissies por chelui qui poures hons est. par ehe conquerras lamor des basses gens. Car ehe sera moult grans humilites. humilite si est vne virtus par coi len puet plus sonor et son preu essauchier et auanchier . . ." (218, 35—219, 7)·

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Königstugend auftretende bumilite verschafft der königlichen Begünstigung des niederen Rittertums die Weihe frommen Gehorsams. Aber diese christliche Demut erschöpft sich bezeichnenderweise wieder in der Jargesse, für deren Übung dem König eine detaillierte Gebrauchsanweisung vorgelegt wird. Dem „poure preudomme" soll er Geld und ein Pferd, den „vauassors" hingegen „robes e palefrois" schenken. Das ist eine Minimalforderung: „Ensi donras au vauassor. Mais por ehe que ne remaigne mie que tu nacroisses au besoing lor fies, de beles rentes et de riches terres a chascun selonc que il sera. Car por ehe ne perdras tu mie se tu los dounes ains gaigneras les cuers daus. Car miex seront les terres gardees par maint preudomme sil les ont queles ne seroient par toi seul. Car tu nes que .j. seul homme. ne tu ne pues se par aus non. Che que tu pues et tu dois miex voloir que ti preudome tiegnent a honor de ta terre vne partie. que tu perdisses honteusement et lune et lautre. Apres donras äs haus hommes. äs rois et as dus as contes et äs barons les riches vasselementes les cointes ioiaus les biax dras de soie les boins oisiax et les cheuax. Et si ne (dois) baer mie a eis tant a doner les riches dons come les biax et les plaisans. Car len ne doit mie douner au rice homme riches choses por plaisans. Mais plaisans choses pour riches. Car chest .j. anuis de fondre vne riqueche sor lautre. Mais au poure home doit len douner tex choses qui soient plus boines que beles et plus profitables que plaisans. Car pouertes na mestier fors damendement. Et riquece na mestier fors de delit. ne tex choses ne font mie a douner a tous Car on ne doit doner a home chose dont il a asses. Et si te conuenra doner, se tu vels doner selonc droiture." (219, 27—220, i)

Man sieht: die „bas gentil homme" erscheinen eindeutig als wichtigste Stützen des Reichs, ohne sich darum schon absolut zu setzen. In einem merkwürdigen System der Güterverteilung — auf die, religiös-sittlich fundiert, sich das gleichfalls durch religiöse Weihe sanktionierte Königtum wesentlich beschränkt — bleibt Platz für die Interessen des Hochadels, deren Umfang jedoch von den Bedürfnissen der niederen Ritter bestimmt wird1. Im Lancelot propre stellt der Kleinadel die ökonomischen Bedingungen für einen modus vivendi, für die Zusammenarbeit mit dem feudalen Hochadel, die, indem sie vom Festglanz höfischen Lebens und den gottgewiesenen Tugenden durchstrahlt ist, die Möglichkeit höchsten Menschentums im Zuge einer mit der Gralsuche ihrer Erfüllung zustrebenden Heilsgeschichte eröffnet. Das Anliegen des Kleinadels war schon im ersten Artusroman deutlich zum Ausdruck gekommen, ja der ganze höfische Roman hat, wie wir noch sehen werden, den Konsens der verschiedenen ritterlichen Schichten zu einem die verschiedenen Interessen in einer ge1

Für die Gott und Welt und den Sinn des Einzellebens selbst umfassende Verdienstlichkeit der largesse vgl. den Abschluß der Ermahnungen des „preudon": „Et se tu ensi le fcsoies tu gaaigneroies lonor del siecle et les cuers de tes gens et lamor de nostre signor. Che sont li haut gaaing a cui hom fu establis. Ne nus ne doit baer a autres choses gaaignier." (Sommer III, 220, 16—19.)

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meinsamen höfischen Mitte einschließenden Lebensform 2ur wesentlichen Voraussetzung. Nun scheint es, als werde sich der Kleinadel bewußt, daß sein Beitrag im höfischen Raum zugunsten eines feudalen Hochadels, der die höfische Integration der divergierenden ritterlichen Schichten nicht umsonst förderte, mißbraucht worden war. Mit der Gottesstrafe, die Artus für seine Vernachlässigung der „bas gentil homme" droht, protestieren diese gegen eine Entwicklung, die auch den höfischen Roman immer mehr in den Dienst der großen Adelsgeschlechter gestellt hatte. In der umfassenden Freigebigkeit Arthurs finden sich die Bedürfnisse des gesamten Rittertums. Aber nur vom Standort des Kleinadels aus vermag die largesse den König in einem solchen Maße zu erhöhen, daß strenge ligesse-Verpflichtungen allein durch die Macht der Persönlichkeit des Königs in Frage gestellt werden. Bevor im Lancelot-Graal-'Lyklus König Claudas seinen Plan, Artus zu bekriegen, ausführt, beobachtet er verkleidet seinen künftigen Feind. Er ist tief beeindruckt von Arthurs largesse, die ihm sein Begleiter schon vorher gerühmt hat. Auf die Frage Claudas', ob er ihm im Kampf gegen Artus helfen würde, antwortet eben dieser Begleiter: als Angegriffener ja, als Angreifer nicht; wenn Claudas Artus angreife, werde er aufhören, sein — Claudas' — „hons liges" zu sein, und mit Artus gegen seinen bisherigen Herrn kämpfen: „Je vous guerpiroie tout vostre hommage pour garandir tout le monde de dolor et de pouerte. et pour toute cheualerie tenir en haut. Car se chis seus hons estoit mors. Je ne voi qui jamais maintenist cheualerie. Ne tenist gentilleche la ou ele est." (Sommer III, ji, 4—7)

Das ritterliche Ideal ist hier in der Person des es symbolisierenden Artuskönigtums selbständig geworden und wendet sich gegen die Institution des Lehenswesens, aus dessen Gefährdung es hervorgegangen ist. Wo sich die Institution gegen das menschliche, vermenschlichte und versittlichte Ideal vergeht, hört ihr Verfügungsrecht über den Einzelnen auf. Claudas stellt mit Verwunderung das über sein Begreifen hinausgehende Maß von Artus* Freigebigkeit fest: „II est plains de si grant proeche et de si grant hautece quil vaint toutes cheualeries et cheus de son ostel et les estraignes. II est si larges et si abandounes que nus noseroit penser ehe que il oseroit desprendre. II est si debonaires et si plains de grant compaignie quil ne remaint pour les haus hommes quil ne fache grant ioie et grant amor as poures cheualiers et lor doune les riches dons et les plaisans. Et si se fait gaaignier les cuers des riches et des poures. Car il honeure les riches comme ses compaignons. Et les poures pour lor proeches. et pour son pris et sonour acroistre vers dieu et vers le siecle. Car bien gaaigne pris et honour vers le siecle et grace et amours vers dieu chiex qui au siecle fait chou quil doit de teil baillie com diex li aura donee ..." (Sommer III, 30, 13— 23)

Mit der weisen und, wie durch Zauberkraft unerschöpflich, alle Glieder der Gesellschaft erfassenden Bereitschaft zum Schenken befreit sich die largesse

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von ihrer harten wirtschaftlichen Notwendigkeit und rückt in die Höhe reiner Sittlichkeit: „Si sai bien que chest la plus haute teche que hons puist auoir que estre larges de vraie largueche. Chest de donner ausi bien sans besoig comme a besoig. Et teile est la largueche le roi artu." (Sommer III, 33, 8—10) Die Forderungen der feudalen Wirklichkeit, Zug um Zug moralisiert, sind über die largesse mit einer allgemeinen sittlichen Gültigkeit ausgestattet worden, die es schon Chrestien im Perceval gestattet, die ritterliche Vorzugstugend mit der zu seiner Zeit exaltierten christlichen caritas zu verschmelzen und die Blüte des zeitgenössischen Rittertums in der Person Philipps von Flandern über das bisherige höchste, aber der christlichen Weihe entbehrende /argesse-Ideal Alexander zu stellen1. Der ehrgeizige Gönner Chrestiens, bis an sein Lebensende der Exponent der aufsässigen Feudalität, deren sich Philipp August zu erwehren hatte, weist die Züge Arthurs auf. Ein weiteres Mal bezeugt sich hier die tiefliegende Interessenverknüpfung zwischen Territorialfürsten und Artusroman. In einem von jeder speziellen sozialen Bindung gelösten Freigebigkeitsideal, in dem ein ganzes Tugendsystem gipfelt, können sich Individuen wiederfinden, die eine anders aussehende Wirklichkeit zu entfremden im Begriff ist. Die höfische Gesittung, entstanden im Bannkreis der mit der largesse die alte genossenschaftliche Treueverpflichtung fortsetzenden Fürstenhöfe, leistet aus partikularistischem Antrieb heraus die geistige Integration des Rittertums zu eben der Zeit, in der die feudale Gesellschaft im Zug ihrer anarchischen Dynamik in Bewegung gerät und in ihren unteren Schichtungen der politischen Anziehungskraft des Königtums, sektiererischen und dualistischen Frömmigkeitsbewegungen oder einem brutalen Räuberdasein anheimzufallen droht. Die Pflege und Förderung der höfischen Kultur durch die selbstherrlichen Großvasallen bewirken deren ideelle Gleichsetzung mit dem legendären Idealkönig Artus und stellen mit dessen Historisierung und mit der Einbeziehung der Grallegende die eigene Epoche als entscheidende Station in den Zusammenhang eines naturgemäß nur christlich und d. h. heilsgeschichtlich begreifbaren Geschichtsprozesses. Artus ist die poetisierte universalhistorische Legitimation der innersten feudalhöfischen Bestrebungen. Wir sahen: die alte, durch tatsächliche Lehensvergebung untermauerte persönliche Treueverpflichtung erfuhr in dem Maße, in dem die Zahl der wirklichen Lehensträger zur Minderheit wurde, eine Wandlung zu Bindungsformen, die auf einem allgemein-sittlich verbindlichen, in der largesse kulminierenden System von Tugenden beruhen. Hatte sich das Verhältnis 1

Siehe den bekannten langen Passus über die cbariti Philipps im Perceval, v. 13 ff., der mit den Versen schließt: Ne vaut miauz eil que ne valut Alixandres cui ne chalut De charite ne de nul bien ? Oll, n'an dotez ja de rien. (v. 57—60)

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politisch-sozialer Abhängigkeit, und d. h. im Lehensstaat menschlicher Beziehung überhaupt, einst in der einlinigen Verbindung von Herr und Vasall erschöpft, so mußte, wenn die Einheit des Standes gewahrt bleiben sollte, das neue menschliche Beziehungssystem für die im alten Dienstverhältnis lebenden und die aus den Bindungen streng lehensrechtlicher Verpflichtung entlassenen ritterlichen Individuen gelten. Den politischökonomischen Vertikalbindungen trat ein moralisch-ideelles Horizontalverhältnis zur Seite. Je mehr sich nun die Glieder dieser Gesellschaft differenzierten, um so mehr mußten sich die Elemente der Gesittung, die sie erfassen sollte, von den Voraussetzungen der Einzelnen lösen, um diese Einzelnen überhaupt noch einbegreifen und für sie verbindlich werden zu können. Zwangsläufig wird so die höfische Kultur universalistisch, ihrem inneren Gesetz nach ist sie so extranational wie ihre politische Grundlage eine partikularistische ist. Der Hof Arthurs und seine Ortlosigkeit sind das dichterische Symbol eines nach der Realität nicht lokalisierbaren feudalhöfischen Wunschreiches. Man versteht nun die „fortuna" dieses mit allen dienlichen Motiven der keltischen Sage ausgestatteten legendären Herrschers auf dem französischen Festland, aber auch die schweigende und darum vielsagende Ablehnung dieses Stoffes und des sich an ihn klammernden höfischen Ideals durch die französische Monarchie. Ein Königtum, das seine Waffen im Kampf gegen den Feudalismus aus dem Lehensrecht selbst sowie aus einer geschickt wiederbelebten monarchistischen Tradition bezieht, ein seiner Natur nach antifeudales Bürgertum, schließlich das schwerwiegende Bündnis dieser beiden Mächte, müßten den Vertretern des Adels die Vorstellung einer vom Rittertum allein beherrschten Welt illusorisch machen, wenn solche Einsicht historisch möglich wäre. Darum kann eine von der Idee des höfischen Rittertums, von seinen moralisierten Lebens- und Führungsansprüchen gestaltete Welt nur noch in der Phantasielandschaft einer märchenhaften Dichtung existieren, in der die neue bürgerliche Realität an den äußersten Rand abgeschoben, das wirkliche Königtum ignoriert, die innerständischen Antinomien in eine fabelhafte, dämonisierte, bedrohliche, aber abwendbare „Andere Welt" projiziert und die notwendige mittegebende und gemeinschaftsstiftende Gestalt eines Königs zum ebenso glänzenden wie schwachen Geschöpf der feudalen Belange gemacht werden. Als Erster unter einer Zahl auserlesener Ritter muß Artus ein strahlender Vertreter des durch seinen Kreis repräsentierten Vorbildmenschentums sein. Diese gleiche Eigenschaft als Erster, als König, bestimmt ihn aber gleichzeitig dazu, ein Schwächling zu sein, der den Beleidigungen plötzlich auftauchender Feinde hilflos ausgesetzt wäre, wenn nicht seine ausgewählte Schar von Musterrittern in ständigem Kampf Macht und Ehre des Artushofs gewährleisten würde. Das bedeutet: die entscheidende Leistung dieses Königs, die Leistung, die ihn zum König macht, beruht in der Tag für Tag unter Beweis gestellten Fähigkeit, durch kluge Wahrung der überkommenen

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Rechte der Einzelnen, durch selbstverständliches Festhalten an seiner Unterhaltspflicht, die besten Ritter an seinen Hof zu fesseln und so ein Zentrum zu schaffen, in dem die vorzüglichsten Vertreter des höchsten Standes in der günstigsten Atmosphäre ein vollkommenes Menschentum verwirklichen können. Das Ziel solcher Exemplarität impliziert die nahezu restlose Ethisierung aller politischen und ökonomischen Beziehungsformen und erfaßt in diesem Sinne auch die wichtigste Äußerung der largesse, das don. Sie kann dies um so leichter, als die ihrem Wesen — wenn auch nicht ihrem historischen Bezug — nach ortlose Artuswelt, die keine Versorgungsschwierigkeiten kennt, mit ihrer Konzentration am Hof von der Problematik der Lehensvergebung abstrahiert und sie völlig ins Moralische transponiert. Wieder einmal entspricht hier die dichterische Fiktion durchaus einer harten Wirklichkeit insofern, als die Erlangung von Lehen bereits für den größeren Teil des Adels unmöglich und ihre Belehnung für die hohen Feudalherren untragbar und unerwünscht ist, wodurch aber die Notwendigkeit, den ärmeren Adel an sich zu fesseln, keineswegs beseitigt ist. So ist largesse, zur wichtigsten, umfassendsten Tugend verallgemeinert, als Verteilung von reichen Geschenken bei Festen und besonderen Anlässen sowie als bloße Unterhaltsgewährung mit der Wirklichkeit verknüpft, mit dem lion aber, das im Artus kreis die Erlaubnis zur Tat, zum Ausritt, zur aventure, bedeutet, gänzlich versinnbildlicht und unter das Prinzip der bedachten Ehr-Erweisung und -Ermöglichung gestellt. Don hat damit den gleichen entkonkretisierenden Bedeutungswandel erfahren wie der Äoeer-BegrifF (vom „Lehen", das zur „Ehre" übertragen wurde, zur vom Besitz eines Lehens unabhängigen Ehre) seit den Anfängen der Lehensgesellschaft. Insgesamt aber bleiben allgemeine largesse und ihre Spezifikationen Güterverteilung und don die einzigen Bindemittel dieser Gesellschaft. Der /ergwe-Begriff der Höfik kann indessen über die ständischen Grenzen nicht hinaustreten und bleibt damit an die Ordnungskategorien der Lehensgesellschaft gebunden. Wenn die Versittlichung der höfischen Existenzform dazu drängt, die Spontaneität im Schenken zum edelsten Wesensmerkmal der Freigebigkeit zu erheben, so wird diese Tendenz doch ständig durch die höchst reale Mahnung des Dienstmannes an den jeweiligen Herren auf allen Stufen der Lehenshierarchie gebremst. Auch Artus muß, wie wir oben sahen, im Perlesvaus erfahren, daß Versagen in der Freigebigkeit unweigerlich zum Untergang seiner Macht führt. Die unabdingliche Verpflichtung zur largesse überzieht den Artushof gerade im Hinblick auf das don mit einem Mechanismus, welcher der Handlungsfreiheit des Königs enge Grenzen steckt. Das feudale Streben nach Beherrschung des Königtums wirft von Anfang an seine Schatten über die ideale Welt des höfischen Romans. Als in der Karre Meleaganz vor dem Hof in Camaalot erscheint mit der Herausforderung, die Königin und die Freiheit der in Gorre gefangengehaltenen Ritter und Damen als Preis für einen Zweikampf mit ihm zu setzen, verlangt Keu vom König ein don, das Artus gewährt. Ent-

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setzen erfaßt alle, als sie hören, daß Keu den Zweikampf übernehmen will. Vergeblich sagen sie, „Qu'orguel, outrage et desreison Avoit Kes demandee et quise" (v. i88f). Diese Gewährung des don durch Artus ist weder ein „voreilig gegebenes Versprechen", wie Hofer meint1, noch erklärt es sich befriedigend als „a common feature of the famous Celtic abduction stories", wie Loomis glaubt2, sondern aus der unabweisbaren Verpflichtung des fiktiven Feudalkönigs Artus zum don. Keu erinnert Artus nachdrücklich an seine Pflicht, indem er droht, seinen Dienst für immer zu verlassen. Unter dem gleichen Zwang stehen die Einzelritter. Im gleichen Roman verlangt ein Fräulein von Lancelot als don den Kopf eines soeben von ihm nach schwerem Kampf besiegten Gegners3. Lancelot sagt zu, bevor er weiß, worum es sich handelt. Der Besiegte fleht um Gnade, und nun streiten sich largesce undpitit im Herzen Lancelots, zwei Kräfte, deren eine die allgemein verbindliche Verpflichtung schlechthin und deren andere eine ebenfalls vom Ritter verlangte, aber wesentlich individuelle Tugend darstellt, die Lancelot besonders eigen ist. Zwei bedeutsame Komponenten des höfisch-ritterlichen Menschenbildes, das gesellschaftlich-ehrbezogene und das religiös-sittliche, geraten hier erstmals in einen vom Dichter stark empfundenen Konflikt: Et a cesti et a celui Viaut feire ce qu'il li demandent: Largesce et pitiez li comandent Que lor buens face a anbedeus; Qu'il estoit larges et piteus. Mes se cele la teste an porte, Done est pitiez vaincue et morte; Et s'ele ne l'an porte quite, Done est largesce desconfite. An tel prison, an tel destrece Le tienent pitiez et largesce, Que chascune Fangoisse et point, (v. 2850—61)

Der Nachdruck, mit dem Chrestien hier verfährt, verrät schon etwas von der Bedeutung dieses inneren Zwiespalts. Noch mehr aber die Form des Ausdrucks. Durch die sprachliche Gestaltung erscheint die singuläre Entscheidung für oder gegen largesce \yzvr.pitii als deren Infragestellung überhaupt, als Niederlage und Ohnmacht sittlicher Grundkräfte, auf denen ritterlich-höfisches Menschentum basiert. Anders: die Erfahrung, daß die als im einen, unteilbaren Wesen des ritterlichen Menschen liegend erachteten Grundkräfte in einen Widerspruch geraten können, eröffnet einer hellhörigen Dichtung das Feld der Psychologie4. Die gleiche Erfahrung macht diese Grundkräfte wenn nicht an und für sich, so doch in ihrem gegenseitigen Verhältnis frag-würdig und befremdlich. Die erste Folge 1

Cbritien de Trqyes, S. 126. * Arthurian Tradition, S. 203. »v. 281 iff. 4 Vgl. auch den Streit zwischen Amor und Haine im Yvain v. 6005 — 6069.

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dieses Eindrucks, der sich in verhaltenem Staunen bekundet, ist die Steigerung der Abstrakta zu Personifikationen und damit der erste Schritt zur späteren Allegorieninflation der mittelalterlichen Dichtung. Die Bedeutung, die die zugrunde liegende Erfahrung des ritterlichen Individuums für Stil und Aufbauform der höfischen Dichtung hat, kann vorerst nur angedeutet werden. Die Funktion, die höfisch umgesetzte politisch-soziale Normen als Gestaltungselemente in der Dichtung erhalten, soll zunächst nur kurz an dem leicht erkennbaren Beispiel des oben dargestellten