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German Pages 1014 [1036] Year 1993
Jacoby Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit
Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit von
Günther Jacoby mit einer Einleitung von Baron Bruno von Frey tag Löringhoff
Zweiter Band zweite unveränderte A u f l a g e
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Herausgeber und Verlag danken Herrn Dr. med. Dipl. biochem. Rudolf Seuffer für einen Zuschuß zu den Druckkosten, der diesen Neudruck ermöglichte.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jacoby, G ü n t h e r : Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit / von Günther Jacoby. Mit einer Einl. von Baron Bruno von Freytag Löringhoff. - Tübingen: Niemeyer. Bd. 2. - 2., unveränd. Aufl. - 1993. ISBN 3-484-70151-X ISBN 3-484-70152-8
(Band 1) (Band 2)
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Obersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Kunst- und Verlagsbuchbinderei, Leipzig
VORWORT Die letzte Lieferung des vorliegenden Werkes hat lange auf sich warten lassen. Aber nun liegt das Ganze vor. Es ist das Ergebnis einer über drei Jahrzehnte langen Arbeit. Ihre Vorstadien, Beschäftigung des Verfassers mit Wirklichkeitsproblemen, reichen bis in dessen Studentenzeit zurück. Den Anstoss zu der Abfassung des Buches gab ihm 1920 das Versagen der Erkenntnislehre von M. Schlick in Wirklichkeitsfragen. Er erkannte damals, dass in diesen ontologisch bei dem objektiven Begriffe der Wirklichkeit anzusetzen ist, nicht erkenntnistheoretisch bei unseren subjektiven Erkenntnismitteln für sie. Daraus entwickelten sich für ihn die Probleme. Teile der Immanenzontologie waren schon vor 1920 entworfen. Der Rest der eigentlichen Ontologie entstand in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre. Ihr erster Band erschien 1925, der zweite in vier Lieferungen zwischen 1928 und 1932. Die letzte, fünfte Lieferung, die die Ideenontologie, die ontologische Grundlegung der Einzelwissenschaften, die theologische Ontologie und das zusammenfassende Schlusskapitel enthält, hat über zwanzig Jahre beansprucht. Dank seines Ansatzes und unter dem Zwange der Problementwicklung ist der Verfasser von manchen überlieferten, einst auch von ihm vertretenen Ansichten über Seinsfragen zu anderen geführt worden. Zeitweise einer Rechtfertigung des naiven Realismus und dem Positivismus zugeneigt wurde er zu den hier dargelegten transzendenzontologischen Ergebnissen genötigt. Von der scheinbar selbstverständlichen Annahme, unser Bewusstsein sei so, wie wir es erleben, wirklich, zu der Erkenntnis, daß seine Wirklichkeit eine andere ist. Von der Annahme, Ich sei das erfahrbare Bewusstsein, zu scharfer Unterscheidung zwischen diesem und dem Ich. Von der Meinung, Raum und Zeit seien wirklich absolut und voneinander getrennt, zu der Einsicht, dass sie das nur für uns sind, von der Annahme, ihre
Relativität und Einheit seien Fiktion, zu der Einsicht, dass sie die Wirklichkeit sind. Von der anfänglichen Ansicht, die Abweichung der neuen ontologischen Zeitwelttransformationen von den physikalischen Lorentztransformationen sei nur ein Kuriosum, diese seien real, zu der entgegengesetzten Vermutung. Von den traditionellen Lehren über die Substanzen zu der Einsicht, dass es nur Eine gibt, Raumzeit die Weltsubstanz ist. Von Skepsis gegen Hegels Begriff des Geistes zu den hier dargelegten Lehren von dem objektiven, subjektiven und absoluten. Von Atheismus zu der Einsicht in die ontologische Bedeutung des Gottesglaubens. Der Inhalt des Werkes erklärt sich somit aus seinem objektiven Problemansatze, nicht aus subjektiven Neigungen des Verfassers. Vielleicht aber spiegelt die hier angedeutete Wende seiner Ueberzeugungen eine geheime Wende unseres philosophischen Denkens während der letzten dreißig Jahre. Um keine ihm nicht zukommende Priorität zu beanspruchen, hat der Verfasser in dem Schlusskapitel des Buches auf seine Vorgänger, soweit er sie entdecken konnte, hingewiesen und wäre für Ergänzungen dankbar. Abhängig aber weiss er sich nur von den Autoren, bei denen er dies vermerkt hat. Mittelbar ist er auch durch ändere gefördert, besonders durch die, gegen die er sich wenden musste. Jedoch ist es .rhm trotz Suchens und mancher Anfrage bei Fachgenossen nicht gelungen, einen Vorgänger für Ansatz und Aufbau des Buches zu finden. Dessen erster Band wurde in ausführlichen Kritiken des In- und Auslandes freundlich aufgenommen. Die bisherigen Lieferungen des zweiten wurden nirgend besprochen. Aber ihr Inhalt ist in mehrere Darstellungen der Philosophie der Gegenwart eingegangen. So zuerst in den „Deutschen Kulturatlas", dann in die Schrift von Gerhard Lehmann, „Die Ontologie der Gegenwart in ihren Grundgestalten" 1933 und in dessen Werk „Die deutsche Philosophie der Gegenwart" 1943, ferner in Johannes Hessen „Die Philosophie des 20. Jahrhunderts" 1951. Knapp charakterisiert wurde er in Windelband-Heimsoeth „Lehrbuch der Geschichte der Philosophie" 19. Aufl. 1950. Eine Darstellung der in dem Buche enthaltenen Untersuchung über das psychophysische Problem findet sich in der „Psychologie" von Georg Anschütz 1953. Ausserdem erschienen in Bd. 1 und Bd. 5 der Zeitschrift für Philosophische Forschung zwei das Buch betreffende Abhandlungen von Walter Del-Negro über „Die Ontologie der Wirklichkeit und das psychophysische Problem" und „Wandelungen des Materialismus". Diese Veröffentlichungen und andere dem Verfasser zugegangene mündliche und schriftliche Aeusserungen fachkundiger
Leser sowie die einzelwissenschaftliche Stellungnahme von Psychologen, Mathematikern, Physikern und Theologen geben ihm die Hoffnung, dass das Buch nicht vergeblich geschrieben ist. Bereits veröffentlicht sind aus ihm als Abhandlungen in gekürzter Form die „Theologische Ontologie" zu Ehren von Johannes Hessen in „Veritati" München 1949, „Raumzeit als Weltsubstanz" zu Ehren von Anders Karitz in „Fran filosofiens forskningen fält" Uppsala 1950 und „Die ontologischen Hintergründe der speziellen Relativitätstheorie" zu Ehren von Paul F. Linke in der „Wissenschaftlichen Zeitschrift der Universität Greifswald, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Reihe" 1952/53. Die Diagramme der letzteren Abhandlung sind dem vorliegenden Werke beigefügt. Das Buch hätte in seinen durch einzelwissenschaftliche Erörterungen mitbedingten Teilen nicht geschrieben werden können ohne ständige Beratung und Kontrolle durch die Greifswalder Kollegen des Verfassers. Ihnen ist er zu tiefem Danke verpflichtet, namentlich den Herren Professoren Dr. Reinhardt t . Dr. Maier, Dr. von Krbek, Dr. Schallreuter, früher seinem jetzigen Tübinger Kollegen ( Professor Dr. Baron von Freytag und in letzter Zeit besonders seinem jüngeren Kollegen, dem Mathematiker, theoretischen Physiker und Philosophen H. G. Schöpf. Zu danken hat er für wertvolle Hilfe bei der stilistischen Ausformung des Textes und den Mühen der Drucklegung einigen seiner Schüler, besonders den Herren Studienassessor Hans Scholl, cand. phil. Wilhelm Risse, cand. phil. Dietrich Trendel und cand. theol. Karl Reincke. Durch Missgeschick eines Druckers sind einige Bogen im letzten Augenblicke nicht einwandfrei geworden, und die Mängel konnten nicht mehr beseitigt werden. Die Leser werden gebeten, dies zu entschuldigen. G r e i f s w a l d , im September 1955 GÜNTHER
JACOBY
INHALT DIE TRANSZENDENZONTOLOGISCHEN GRUNDBEGRIFFE Einführung Der ontologische Ansichcharakter Ansich und Füruns Die Meinungsbasis und ihre ontologischen Gegenglieder . . . . Die Ansichfürunsverhältnisse der Meinungsbasis Die Ueberschneidungsstruktur in der Transzendenzontologie . . . Die tran&zendenzontologische Repräsentation Die Repräsentationsstruktur in einem Panorama Die ontologische Grundlage der Wahrnehmungswelt Der Begriff der Erscheinung Die Vertretung und die Fiktion Die allgemeinen Bedingungen der Erscheinung Die einfache Repräsentation Die gehemmte Erscheinung Die vollendete, aber hemmbare Erscheinung Die vollendete und tatsächlich unhemmbare Erscheinung . . . . Der transzendenzontologische Erscheinungstypus Die ontologische Grundlage der Erscheinungen Die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz Die tatsächliche und die grundsätzliche Transzendenz Die verbundene und die unverbundene Transzendenz Die Transzendenzen innerhalb der Erlebniseinheit Die Transzendenzen der BewusstseinswirkLichkeit gegenüber . Die Transzendenzen dem Erkenntnisbereiche gegenüber . . . . Die Transzendenzverhältnisse der falschen Urteilsmeinung Die Transzendenzverhältnisse der Meinungsbasis Die Transzendenzverhältnisse der gnoseologischen Wirklichkeit Die Transzendenzverhältnisse der gestaltqualitativen Zusammenfassung Die Grundstruktur der transzendenzontologischen Situation . . .
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3 H 15 25 34 39 41 45 46 48 50 52 54 57 59 65 78 86 93 97 103 107 109 112 120 127 134 147
2 DIE LEHRE VON DER GEDACHTEN AUSSENWIRKLICHKEIT Der Grundfehler der immanenten Aussenwirklichkeit Der Begriff der gedachten Aussenwirklichkeit Die Konkretheit der gedachten Aussenwirklichkeit Die Raum- und Zeitsystematik der gedachten Aussenwirklichkeit . Die Bestandsystematik der gedachten Aussenwirklichkeit . . . . Der Zuordnungsgegenstand der gedachten Aussenwirklichkeit . Die Einzigkeit der gedachten Aussenwirklichkeit Die Transzendenz der gedachten Aussenwirklichkeit Die ontologischen Voraussetzungen der gedachten Aussenwirklichkeit Der angebliche Modellcharakter der gedachten Aussenwirklichkeit Die gedachte und die transzendente Aussenwirklichkeit . . . .
150 153 157 161 168 171 177 180 182 184 189
DIE TRANSZENDENZONTOLOGIE DER AUSSENWIRKLICHKEIT Die metaphysische Transzendenz Die Transzendenz der ertasteten Körper Die Transzendenz der erschauten Körper Die Lehre von dem phänomenal transzendenten Dinge Das phänomenal transzendente Ding als Substanz Die nicht substantiellen Immanenzbestände Die physischen Grundlagen der Aussenwirklichkeitstrariszendeaz . Die Erregung der Sinneszentren und die Wahrnehmungen . . . . Die Abbildung der transzendenten Aussenwirklichkeit in der Wahrnehmung Der immanenzontologische Ausbau der zentralen Registrierungen . Die Ueberschneidungsstruktur in der Transzendenzontologie . . . Die Wahrnehmungsgemeinschaft in der Transzendenzontologie Die Zuordnung der Immanenzsysteme in der Transzendenzontologie . Die Substanz und ihre Wirkungen in der Transzendenzontologie . Der Begriff des metaphänomenal transzendenten Dinges . . . . Die Einheitlichkeit des Substanzbegriifes Der Begriff des Kraftfeldes in der Transzendenzontologie . . . . Die Kraftfelder und die nichtsubstantiellen Immanenzqualitäten . Der Kraftmonismus in der Transzendenzontologie Die primären und sekundären Qualitäten in der Transzendenzontologie Der Ort der transzendenten Aussenwirklichkeit Die transzendenzontologischen Einschläge in der Wahrnehmungswelt Die Beweisbarkeit dier transzendenten Aussenwirklichkeit . . . . Der erkenntnistheoretische und der ontologische Ansatz für die Aussenwirklichkeit Die transzendenzontologische Definition der Aussenwirklichkeit .
DIE TRANSZENDENZONTOLOGIE DES BEWUSSTSEINS Die Die Die Die Die
Grundlage der Transzendenzontologie des Bewusstseins doppelte Wirklichkeit der Wahrnehmungen . . . . . . . doppelte Wirklichkeit der Sichtwahraehmungen Bewusstsetnsgrundlage der gnoseologischen Wirklichkeiten doppelte Wirklichkeit der nichtslchthaften Wahrnehmungen .
192 198 202 204 210 212 220 226 231 235 241 244 246 250 255 259 262 269 272 274 278 282 285 290 291 293 296 298 307 314
3 Die doppelte Wirklichkeit der Vorstellungen Die Unerfahrbarkeit des ontologischen Bewusstseins Die ontologische Grundlage der Gedanken Die ontologische Grundlage der falschen Urteilsmeinungen . . Die Dualität der Feldgebiete in der Wahrnehmung Die Abwesenheit der Körperstrukturen von der Wahrnehmung Die Abwesenheit des leeren Raumes von der Wahrnehmung Rückblick Die Lehre von den Ansichten in der Wahrnehmungswelt . . Die drei Faktoren der Wahrnehmungsdeutung Das psychologische und das ontologische Verfahren Die Lehre von der gnoseologischen Verdrängung Die Transzendenzontologie der Aktbewusstheit Die unanschaulichen Bewusstseinsbestände Der bewusstheitliche Charakter der Erlebniseinheit Die Transzendenzontologie der Ichbewusstheit Die Ichbestände und die Nichtichbestände des Bewusstseins Die Entwicklungsstufe der Ichbestände des Bewusstseins . . Die inneren Transzendenzverhältnisse des Bewusstseins . .
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319 321 324 331 335 338 347 353 355 357 359 361 369 382 389 394 407 412 416
DAS PSYCHOPHYSISCHE PROBLEM IN DER TRANSZENDENZONTOLOGIE Die transzendenzontologische Fassung des psychophysischen Problems Die Argumente für die Unräumlichkeit des Bewusstseins . . . . Die Argumente gegen die Unräumlichkeit des Bewusstseins Die Argumente f ü r die Räumlichkeit des Bewusstseins Die Unerfassbarkeit des Bewusstseinsraumes Die Neutralität des Bewusstseinsraumes Die gnoseologische Bestandverschiebung Die bewusstseinsräumlichen Lücken und ihre Ueberbrückung . Der Ort des Bewusstseins Die Lehre von der Ejektion und der Introjektion Die Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Bewusstseinsraum Das Problem der Netzhautbilder in der Transzendenzontologie Die Veranschaulichung des Ergebnisses an einem Modelle . . . . Der Stoff des Bewusstseins Die Erlebniseinheit als überphysische Gestalt Die erlebniseinheitliche Geschlossenheit Die Unwahrnehmbarkeit der Erlebniseinheit Die erlebniseinheitlichen Ganzheitsformationen Das psychophysische Wesen der Nichtichgebilde Das psychophysische Wesen der Ichgebilde Die ontologische Bedeutung der Psychophysik
427 434 437 439 445 446 447 463 466 472 474 484 489 492 495 499 502 504 514 518 520
DIE TRANSZENDENZONTOLOGIE DER ZEIT Die Der Die Die
Trennung zwischen Raum und Zeit Alleinwirklichkeitsanspruch der Gegenwart Lehre von der Gesamtwirklichkeit der Zeit Erfassung höherer durch niedere Manichfaltigkelten
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523 524 536 543
4 Der Raum in der Zeit Die Berührungsmöglichkeiten geometrischer Gebilde Die Entstehung höherer Manichfaltigkeiten durch Scharung niederer Die vermeintliche Eindimensionalität der Zeit Die egozentrische Orientierung in der Zeit Das Nacheinander und die Zeitwelt Die Entstehung höherer durch Bewegung niederer Manichfaltigkeiten Die Identität in der Zeit und die Genidentität Die Bewegung und die Ruhe Die Gegenwart Die Präsenzzeit Die Richtung des Nacheinander Das nacheinanderhafte und das nacheinanderlose Sein Die Ontotogien des Raumes und die der Zeit Die allgemeinsten Seinsbegriffe
549 553 555 557 560 572 583 586 603 612 615 620 626 631 638
DIE ONTOLOGIE DER IDEEN Die Das Das Die Die Die Die Das Der Der Der
ideisierende Gnoseologie ideelle Sein Sein einzelner ideeller Gebilde Zeitlosigkeit der Ideen Einbettung des Ich in die Ideen ideenfoedingten Verbände explizite und die implizite Idee Sein der Werte objektive Geist subjektive Geist absolute Geist
646 648 655 658 660 661 664 665 .672 679 683
DIE ONTOLOGISCHE GRUNDLAGE DER NATURWISSENSCHAFTEN Das Die Die Die
Seinsfeld der Physik Substanz Raumzeiteinheit Kausalität
696 705 716 757
DIE ONTOLOGISCHE GRUNDLAGE DER IDEENWISSENSCHAFTEN Die Das Die Die Die
ontologische Grundlage der Mathematik Unendliche Geisteswissenschaften Sprache Psychologie
773 778 783 788 703
DIE THEOLOGISCHE ONTOLOGIE Die Aseitas Gottes Die Abalietas der Welt Die Seele
799 806 828
5 Der Christus Die Kirche . . . Die Theologie
854 860 873
DAS ERGEBNIS Die Aufgabe Die Gliederung des Buches Die ontologischen Einzelergebnisse Die ontologische Grundlegung der Einzel Wissenschaften Die ontologische Grundlegung der Naturwissenschaften Die ontologische Grundlegung der Ideenwissenschaften Die theologische Ontologie Das Gesamtsystem unserer praktischen Seinsbegriffe Die subjektfreie Objektivität Die Phänomenologie Die Ontologie N. Hartmanns Die Existenzphilosophie Die drei Haupttypen der gegenwärtigen Ontologie Die Erkenntnislehren des 19. Jahrhunderts Der dialektische Materialismus Der Name Ontologie
SACHVERZEICHNIS NAMENVERZEICHNIS
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900 905 906 915 919 935 937 941 945 957 963 967 974 975 990 997
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DIE TRANSZENDENZONTOLOGISCHEN GRUNDBEGRIFFE
Unsere Erörterungen über die logischen Grundlagen der Transzendenzoniologie haben uns zu dem Begriffe eines Ansichcharakters gemeinter Bestände geführt. Wir erkannten, daß dieser Begriff für die Logik im Allgemeinen, wie für die logische Behandlung ontologischer Bestände im Besonderen von grundlegender Bedeutung ist. Dabei verstanden wir unter dem Ansichcharakter der logischen und ontologischen Bestände eine Selbständigkeit derselben im Sinne ihrer Unabhängigkeit von dem erkennenden Bewußtsein. In der Transzendenzontologie erhält dieser Begriff des Ansich außerdem noch eine andere Wendung. Er geht hier nicht nur auf das selbständige Bestehen einer Wirklichkeit an sich, sondern vor allem auch auf die eigentümliche Beschaffenheit, die dieser Wirklichkeit in dem Zustande ihres Ansichseins zum Unterschiede von einem anderen Zustande zukommt. In diesem Sinne spielt der Begriff Ansich in der Transzendenzontologie eine entscheidende Rolle und tritt nunmehr mit dem Begriffe der Transzendenz in eine enge Verbindung. Wie eng hier diese Verbindung zwischen Ansichcharakter und Transzendenz ist, läßt sich schon daraus erkennen, daß die philosophische Ueberlieferung bald die Begriffe Ansich und Transzendenz in dem Begriffe einer transzendenten Wirklichkeit an sich miteinander verkoppelt, bald den Begriff der Wirklichkeit an sich mit dem der transzendenten Wirklichkeit synonym verwendet. Und in der Tat wird uns ein näheres Eingehen auf den Bedeutungsgehalt beider Begriffe zeigen, daß sie im Hinblick auf die Strukturverhältnisse, die der Transzendenzontologie zu Grunde liegen, korrelative Sachverhalte bezeichnen und insofern zusammengehörige Begriffsbedeutungen darstellen. Die in dieser Hinsicht zwischen den Begriffen Ansich und Transzendenz waltenden Beziehungen bedürfen zunächst einer Klärung. Denn die philosophische Tradition hat es unterlassen, den genauen Sinn dieser Begriffe zu bestimmen, sie gegeneinander abzugrenzen l
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
und ihre wechselseitigen Bezugsverhältnisse zu untersuchen. Dennoch erscheint die Lösung dieser Aufgabe im Interesse einer Klarheit über den Bedeutungsgehalt des transzendenzontologischen Begriffsschatzes geboten. Und dieses Gebot macht sich als umso unabweislicher geltend, als, wie wir sehen werden, weder der Begriff des Ansich noch der der Transzendenz eindeutig ist, sondern jeder von ihnen in manichfachen Spielarten auftritt. Für die Zwecke der Ontologie ist, wie der weitere Verlauf der vorliegenden Untersuchung zeigen wird, eine sorgfältige Unterscheidung gerade dieser Spielarten von erheblicher Bedeutung. Denn verschiedene unter den Arten des Ansichcharakters, sowie fast alle uns bekannten Typen der Transzendenz spielen in der Transzendenzontologie eine Rolle; jede dieser Arten spielt in ihr eine andere Rolle; und alle gehen eigentümliche Komplikationen miteinander ein. Unter diesen Umständen kann man zu einem tieferen Verständnisse der transzendenzontologischen Strukturverhältnisse nur dann gelangen, wenn man sich über den Bedeutungsgehalt der Begriffe Ansich und Transzendenz, über den Unterschied ihrer Spielarten und über ihre wechselseitigen Bezugsverhältnisse hinreichende Klarheit verschafft hat. Was zunächst den Begriff des Ansich angeht, so haben wir uns bisher nur mit dem schon bezeichneten logischen Ansichcharakter von gewissen Gegenständen der Erkenntnis im Sinne ihrer durch ihre Selbständigkeit bedingten Unabhängigkeit von den gnoseologischen Akten des Bewußtseins beschäftigt. Und in der Tat ließe es sich leicht zeigen, daß die Begriffsbezeichnung Ansich auch nur auf solche selbständigen Gebilde anwendbar ist. Wir haben aber bereits darauf hingewiesen, daß der Ansichbegriff nicht nur auf diese Selbständigkeit des Bestehens, sondern auch auf eine eigentümliche Beschaffenheit der selbständigen Gebilde geht. Und gerade diese letztere Bedeutung des Ausdruckes Ansich ist die uns im täglichen Leben geläufigere. Dabei pflegen wir demjenigen, was wir einem Bestände an sich zuschreiben, etwas Anderes gegenüberzustellen, was wir als zu dem Bestände an sich nicht gehörig betrachten. So können wir beispielsweise von einem Körper sagen, daß wir ihn an sich selbst und ohne Rücksicht auf seine Beziehung zu anderen Körpern untersuchen wollten. Oder, daß wir umgekehrt diese letzteren Beziehungen untersuchen und unberücksichtigt lassen wollten, was der Körper an sich selbst sei. Oder, wir sagen von einer Krankheit: an sich sei sie nicht gefährlich, aber im Zusammenhange mit besonderen Umständen könne sie bedenklich werden. Oder wir sagen von einem
Der ontologische Ansichcharakter
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Staatswesen: an sich sei es lebensfähig, mache aber im Augenblicke eine Krise durch. Oder wieder, wir sagen: zu dem Begriffe eines Dreiecks gehöre es an sich nicht, daß es rechtwinklig sei; aber es gäbe auch rechtwinklige Dreiecke. Usw. Was ist in allen diesen Fällen mit dem Begriffe Ansich gemeint? Die Antwort auf diese Frage ist zunächst eine verhältnismäßig einfache. An sich ist bei einem selbständigen und von unserem Erkenntnisakte unabhängigen Bestände alles das, was zu ihm gehört. Es würde sich also fragen: was gehört zu einem solchen Bestände? Hierauf aber lautet die Antwort, daß das von dem Bedeutungsgehalte des Begriffes abhängt, den wir jeweils auf den betreffenden Bestand anwenden. Denn ein solcher Begriff dient zur Bezeichnung dessen, was wir in jeder ihn enthaltenden gnoseologischen Relation meinen. Nur auf dies von uns Gemeinte sind unsere jeweiligen Aussagen gemünzt. Dementsprechend kommt einem Bestände an sich alles das zu, was zu ihm als dem Gegenstande unserer jeweiligen Meinung gehört. Und zwar gestalten sich hierbei die Verhältnisse verschieden, je nachdem es sich um eine allgemeinbegriffliche oder um eine individualbegriffliche Erfassung des betreffenden Bestandes handelt. Insoweit es sich um allgemeinbegriffliche Erfassungen handelt, dürfen wir sagen, daß sich der Ansichcharakter der auf diese Weise erfaßten selbständigen Bestände mit ihrem sogenannten Wesen deckt. Denn unter dem Wesen eines solchen Bestandes verstehen wir, wenn es sich um einen logischen Bestand handelt, eben den Bedeutungsgehalt seines Allgemeinbegriffs, und wenn es sich um einen ontologischen Bestand handelt, den Inbegriff derjenigen unter seinen Eigenschaften, die im Sinne der früher besprochenen Teilhabe ontologischer Bestände an Begriffen mit dem Bedeutungsgehalte des auf den Bestand angewandten Allgemeinbegriffes identisch sind. Zu dem Wesen eines Dreiecks oder zu dem Dreiecke an sich würde also alles das und nur das gehören, was in dem Gattungsbegriffe des Dreiecks enthalten ist; zu dem Wesen der Menschen oder zu den Menschen an sich nur das, was in unserem Gattungsbegriffe des Menschen enthalten ist. Usw. Nur scheinbar widerspricht diese logische Auffassung von dem Wesen und Ansichcharakter eines Bestandes der uns geläufigeren volkstümlichen Auffassung, nach der sein Wesen etwas dem Bestände selbst gewissermaßen Innewohnendes ist. Es wohnt diesem Bestände auch inne: aber eben nur in dem bezeichneten Sinne, in dem Begriffsbedeutungen einem Bestände innewohnen. Und diese unsere Begriffsbedeutungen pflegen wir nicht willkürlich zu treffen, sondern an den 1*
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Strukturverhältnissen des Bestandes selbst nach Maßgabe unserer Kenntnis oder Unkenntnis desselben zu orientieren. Die so begriffenen Strukturverhältnisse im Unterschiede zu anderen nicht von uns gemeinten Eigenschaften des Bestandes bilden den Bedeutungsgehalt unseres Begriffes von ihm. Daher ist die eigene Struktur, die wir einem Bestände als sein ihm innewohnendes Wesen zuschreiben, mit dem Bedeutungsgehalte unseres Begriffes von einem solchen Bestände identisch. Hierbei ist jedoch zu beachten, daß zu dem Bedeutungsgehalte unserer Begriffe nur das gehört, was wir mit ihnen meinen. Dagegen ist es für diesen Bedeutungsgehalt nicht mehr erforderlich, daß wir das, was wir meinen, auch erkennen. Und es ist auch nicht erforderlich, daß sich die von uns gemeinte Begriffsbedeutung logisch aus den von uns angegebenen Merkmalen des Bestandes ableiten lasse. Dementsprechend gehört es häufig zu unserem Begriffe eines Bestandes, daß wir Wesen und Ansichcharakter desselben nicht erkennen, obwohl unser Begriff gerade auf dieses sein Wesen und seinen Ansichcharakter gemünzt ist. Oder anders ausgedrückt: zu dem Bedeutungsgehalte unseres Begriffes von einem solchen Bestände gehört es dann, daß er eine Unbekannte bildet: und zwar nicht nur in dem psychologischen Sinne, daß wir ihn nicht kennen, sondern auch in dem logischen Sinne, daß unsere Begriffsbestimmung des Bestandes weder eindeutig noch erschöpfend ist, und daher sein von uns gemeintes Wesen aus ihr auch nicht abgeleitet werden kann. Wir meinen einen solchen Bestand; aber wir kennen ihn nicht. Wir kennen ihn nicht nach dem von uns gemeinten Ansichcharakter, sondern höchstens aus seinen nicht von uns gemeinten Aeußerungen. Ein solcher Fall kann jedoch nur bei konkreten und speziell bei ontologischen Beständen eintreten. Mit allgemeinbegrifflichen Beständen verhält es sich anders. Denn, da deren begriffliche Bestimmung, wie wir früher erkannt haben, in jedem Falle logisch, wenn auch nicht erkenntnispsychologisch, sowohl erschöpfend als auch eindeutig ist, so ist auch ihr Ansichcharakter oder Wesen erschöpfend und eindeutig bestimmt. Erkenntnispsychologisch freilich kann auch bei ihnen ihr Wesen unbekannt sein. Wir sind uns vielfach, zB. in der Mathematik, durchaus nicht über alle Eigenschaften unserer Allgemeinbegriffe, obwohl diese von uns selbst gesetzt sind, im Klaren. Nichtsdestoweniger ist ein solcher Allgemeinbegriff niemals logisch unbestimmt. Denn seine logische Bestimmtheit gehört, wie wir früher erkannt haben, zu dem Bedeutungsgehalte jedes Allgemeinbegriffes. So gehört zu dem Wesen eines Dreiecks oder zu einem Dreiecke an sich alles das
Der ontologische Ansichcharakter
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und nur das, was durch die Begriffsbestimmung des Dreiecks logisch gesetzt ist: ganz gleich, ob wir uns über die Gesamtheit dieser Dreieckseigenschaften erkenntnispsychologisch im Klaren sind oder nicht. Aber nicht nur bei logischen Allgemeinbegriffen, sondern auch bei Gattungsbegriffen ontologischer Bestände kann ihr gesamter Bedeutungsgehalt durch unsere begrifflichen Bestimmungen eindeutig und erschöpfend festgelegt sein. In einem solchen Falle ist eben damit auch das Wesen dieser Bestände vollständig bestimmt. So gehört beispielsweise zu dem Wesen einer bestimmten Art von Instrumenten nur das, was ihre Begriffsbestimmung enthält, ohne Rücksicht darauf, daß solche Instrumente nach Größe und Material verschieden ausfallen können. Weder jene Größe noch dieses Material ist dann für das Wesen solcher Instrumente charakteristisch. Denn sie sind nicht nur nicht durch unsere Begriffe dieser letzteren bestimmt, sondern sie sind mit diesen Begriffen auch nicht gemeint. Alles aber, was in unseren Begriffen gemeint ist, ist in diesem Falle auch logisch durch sie bestimmt. Mit anderen Worten: in einem solchen Falle deckt sich das, was gnoseologisch gemeint wird, mit dem, was logisch bestimmt wird. Mit anderen unter unseren ontologischen Gattungsbegriffen verhält es sich anders. Wenn ich zB. von dem Wesen des Aethers, von dem der Materie oder von dem des Bewußtseins spreche, so ist das, was mit meinem Begriffe gnoseologisch gemeint ist, darum noch nicht etwas, was durch einen solchen Begriff auch schon logisch bestimmt wäre, sich aus ihm also ableiten ließe. Es ist dementsprechend erkenntnispsychologisch auch nur etwas, was wir meinen; nicht dagegen etwas, was wir darum auch schon erkennen. Wir erkennen zwar gewisse Aeußerungen dieser Gebilde; aber diese ihre Aeußerungen sind nicht das, was wir meinen, wenn wir von solchen Gebilden sprechen. Sie bestehen nicht in diesen Aeußerungen. Sie sind das, was wir mit ihnen meinen, vielmehr auch dann, wenn sie sich nicht so äußern. Jene Aeußerungen haben nur den Wert, Symptome von ihnen und unsere Kriterien zu sein, an denen wir solche Bestände erkennen. Dagegen bilden sie nicht das Wesen dieser Bestände und haben daher auch nicht den Wert eines Charakteristikums derselben. Sie gehören dementsprechend nicht zu unserem Begriffe dieser Gebilde und also auch nicht zu den Gebilden an sich. Dieser ihr Ansichcharakter ist das, was in unseren Begriffen ontologischer wie logischer Gebilde gnoseologisch gemeint wird. Und nur das, was wir auf solche Weise meinen, nicht das, was wir außerdem von dem Gemeinten auch noch logisch bestimmen und psycho-
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
logisch erkennen, ist für den Ansichcharakter der von uns gemeinten Bestände maßgebend. Wir haben früher erkannt, daß der gnoseologische Bereich des Bewußtseins weit über den Erkenntnisbereich desselben hinausragt, wie wir anderseits erkannten, daß unser Erkenntnisbereich über den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins hinausgeht. Und hier erkennen wir nun, daß für den Bedeutungsgehalt unserer Begriffe und damit für den Ansichcharakter der durch unsere Begriffe bezeichneten Bestände nicht der Erkenntnisbereich, geschweige denn der ontologische Bezirk des Bewußtseins, sondern ausschließlich der gnoseologische Bereich desselben in Betracht kommt. Mit anderen Worten: unsere Begriffe besagen nicht nur das, was wir begreifen; sondern sie besagen mehr: nämlich das, was wir meinen, auch wenn wir es nicht begreifen. Nur deshalb kann es einen Begriff unbegriffener Bestände geben. Etwas verwickelter als bei den Allgemeinbegriffen und als bei den Gattungsbegriffen ontologischer Bestände liegt die Frage nach dem Ansichcharakter der durch ontologische Individualbegriffe erfaßten Bestände. Auch hier gehört zu dem Bestände an sich stets das und nur das, was in dem Bedeutungsgehalte des betreffenden Individualbegriffes enthalten ist. Aber wir haben hier jeweils zu unterscheiden, ob mit unserem Individualbegriffe, dem normalen Wesen dieses letzteren entsprechend, der betreffende Bestand in seiner ontologischen Vollständigkeitgemeint ist, oder ob wir ihn, in einer uneigentlichen Verwendung des ontologischen Individualbegriffes, nur als den Träger bestimmter allgemeinbegrifflicher Charakterzüge auffassen. In jedem der beiden Fälle hat der Ansichcharakter des betreffenden Individualbestandes eine andere Bedeutung. In dem ersteren Falle gehört zu dem ontologischen Bestände an sich alles das, was innerhalb seiner individualbegrifflich zu bestimmenden ontologischen Grenzen liegt. Auch hier haben wir wieder das Bild vor uns, daß wir mit unserem Begriffe gnoseologisch mehr meinen, als wir aus unseren begrifflichen Bestimmungen logisch herleiten können, geschweige denn erkennen. Denn, so eindeutig unser ontologischer Individualbegriff in vielen Fällen auch sein mag, so wenig ist er, wie wir früher erkannt haben, jemals erschöpfend. Niemals läßt sich aus ihm der ontologische Bestand selbst nach seinem eigenen Wesen deduzieren. Und doch bildet gerade dieser individualbegrifflich zwar vielfach eindeutig bestimmte, aber niemals erschöpfte Bestand selbst in seiner ganzen unerschöpften Fülle den Bedeutungsgehalt unseres Individualbegriffes. Unser Meinen geht also auch hier über unser Erkennen hinaus. Denn zu dem von uns gemeinten ontologischen
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Bestände an sich gehört alles, was wir mit unserem IndividualbegTiffe desselben meinen, auch wenn wir es nicht erkennen, also der gesamte in Frage stehende Bestand selbst. In diesem Sinne gehört zu dem vor mir stehenden Tische an sich als dem Gegenstande meines augenblicklichen Individualbegriffes sein Unterbau, seine Platte, seine ganze Einrichtung usw., wenn ich auch keineswegs imstande bin, aus meinem Begriffe dieses Tisches ihn selber und alle seine Einzelheiten abzuleiten. Allein nicht immer ist mit unseren individualbegrifflichen Erfassungen der betreffende Bestand in der Vollständigkeit seiner Teile und Merkmale gemeint. Vielmehr pflegen wir uns von solchen Individualbeständen in vielen Fällen außerdem einen sogenannten bestimmten Begriff zu machen, dh. sie auf eine bestimmte Weise allgemeinbegrifflich zu charakterisieren. Diese allgemeinbegriffliche Charakteristik eines Individualbestandes macht dann wieder in dem zuvor beschriebenen Sinne einer Teilhabe an dem Bedeutungsgehalte eines Inbegriffes von Merkmalen sein Wesen aus. Und zwar pflegen wir zu unserer Kennzeichnung dieses Wesens in der Regel diejenigen Eigenschaften des betreffenden Bestandes zu verwenden, die in der Mehrzahl seiner räumlichen bzw. zeitlichen Phasen wiederkehren und daher für ihn, wie wir zu sagen pflegen, typisch sind. Dementsprechend können wir von einem solchen Bestände unbeschadet seiner individualbegrifflichen Kennzeichnung den Ansichbegriff auch in einem ähnlichen Sinne wie bei gattungsbegrifflichen Kennzeichnungen anwenden. An sich ist bei ihm dann nicht alles das, was innerhalb seiner ontologischen Grenzen liegt, sondern nur das, was unserer allgemeinbegrifflichen Charakteristik dieses Bestandes entspricht. So können wir etwa von einem bestimmten Menschen sagen: an sich sei er gutmütig; gelegentlich aber könne ihn auch der Jähzorn übermannen; oder von einem Staate: er sei an sich gesund, habe aber auch schon Krisen durchgemacht. Usw. Maßgebend ist für uns in solchen Fällen dann nicht die individualbegriffliche Erfassung des Gesamtbestandes, sondern unsere allgemeinbegriffliche Auswahl seiner Eigenschaften. Der Zorn gehört hier dementsprechend nicht zu dem Wesen des Menschen, die Krisen nicht zu dem Wesen des Staates, dh. während unser eigentlicher Individualbegriff jenes Menschen und des Staates alles einschließt, was an irgendeiner Stelle zu irgendeiner Zeit in ihnen vorgeht, schließt unser uneigentlicher Individualbegriff derselben, indem er in allgemeinbegrifflicher Weise nur das für sie Typische heraushebt, die gekennzeichneten Zustände des Jähzorns oder der Krisen nicht ein, wenn er sie auch nicht ausschließt. Er betrachtet sie als individualbegrifflich zwar vorhanden, aber als für
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
den betreffenden Bestand nicht typisch und daher als nicht zu seiner allgemeinbegrifflichen Charakteristik gehörig. Nachalledem kommen wir zu dem Ergebnisse, daß der Sinn des Begriffes Ansich durch den Bedeutungsgehalt des jeweils angewandten Allgemein- oder Individualbegriffes bestimmt ist und zwar ganz gleich, ob wir diesen Bedeutungsgehalt aus unseren Begriffsbestimmungen ableiten können oder nicht. Das ist für die Ontologie der sogenannten Wirklichkeit an sich nicht ohne Belang. Es bedeutet, daß unser Begriff der Wirklichkeit von unserer begrifflichen Erkenntnis derselben nicht abzuhängen braucht, und daß das, was wir unter dem Begriffe der Wirklichkeit eigentlich zu verstehen haben, nur die Wirklichkeit an sich und nichts Anderes ist. Es bedeutet, daß, wo immer wir von einer Wirklichkeit sprechen, wir diese als Wirklichkeit an sich meinen. Wenn es daher etwas Anderes gibt, was wir gelegentlich ebenfalls als Wirklichkeit ansprechen, was sich aber als mit der Wirklichkeit an sich nicht identisch erweist, mit ihr vielmehr in Konkurrenz tritt, so heißt das, daß dieses Andere die Wirklichkeit, die wir in ihm zu sehen glauben, nicht sein kann; oder anders ausgedrückt, daß nur die Wirklichkeit an sich die von uns gemeinte, jede andere dagegen eine insofern nicht von uns gemeinte sein muß. Der Begriff einer Wirklichkeit und der Begriff dieser Wirklichkeit an sich sind also miteinander identisch. Denn der Ansichcharakter besagt, wie wir gesehen haben, nur dies, daß ein selbständiger Bestand der von uns gemeinten Begriffsbedeutung entspreche. Es ist freilich durch den Begriff einer Wirklichkeit an sich noch nicht bestimmt, in welchen besonderen Formen die soeben gekennzeichnete Konkurrenz auftritt. Diese Formen können vielmehr, wie wir sogleich sehen werden, durch verschiedenartige Bezugsverhältnisse charakterisiert werden. So können sie unter Anderem auch dadurch bedingt sein, daß ein uns vorliegender Bestandkomplex deshalb nicht als Wirklichkeit an sich betrachtet wird, weil er nicht die Ganzheit der als an sich bestehend gedachten Wirklichkeit umfaßt, sondern nur einen Teil von dieser bildet. Ein solcher Fall liegt in dem Bezugsverhältnisse der immanenzontologischen Ueberschneidungsstruktur vor. Nach der These der Immanenzontologie ist das, was wir von der Außenwirklichkeit wahrnehmen, und was daher nicht zu dem Ansichcharakter dieser letzteren gehört — denn das Wahrgenommenwerden gehört nicht zu dem Begriffe der Außenwirklichkeit — nichtsdestoweniger nach Bestand und Beschaffenheit mit dem betreffenden Außenwirklichkeitsteile, wie er an sich besteht, identisch. Diese Identität, sie mag nun tatsächlich
Der ontologische Ansichcharakter
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statthaben oder nicht, war der Sinn der immanenzontologischen Ueberschneidungslehre. Der wahrgenommene Bestandkomplex unterscheidet sich dann von der Wirklichkeit an sich nicht als etwas, das von ihr nach Bestand und Beschaffenheit verschieden wäre, sondern nur so, wie sich der Teil von dem Ganzen unterscheidet. Und zwar gilt das sowohl von der räumlichen als auch von der zeitlichen Ausdehnung der von uns wahrgenommenen Komplexe. Im Verhältnisse zu dem, was wir wahrnehmen, dehnt sich die immanente Außenwirklichkeit an sich in ihren verschiedenen Räumen weit über den von uns wahrgenommenen Bezirk hinaus aus. Und ebenso bildet zeitlich das, was wir von ihr wahrnehmen, nur einen geringfügigen Ausschnitt aus seiner Dauer in der Wirklichkeit an sich. Nicht an sich ist die immanente Außenwirklichkeit also nur, insofern ihr Wahrgenommenwerden nicht zu unserer Begriffsbedeutung einer Außenwirklichkeit gehört, und insofern sie räumlich und zeitlich über den jeweils wahrgenommenen Bezirk hinausragt. Dem Bestände und der Beschaffenheit nach dagegen ist der wahrgenommene Bruchteil der Außenwirklichkeit nach immanenzontologischer Auffassung während der Zeit, in der er wahrgenommen wird, mit dem, was dieser Bruchteil in der Außenwirklichkeit an sich ist, identisch. Anders steht es mit denjenigen Auffassungen der Außenwirklichkeit, die die letztere als etwas von unseren Wahrnehmungsbeständen Verschiedenes betrachten. Diesen Auffassungen zufolge mögen wir zwar glauben, in unseren Wahrnehmungsbeständen die Außenwirklichkeit selbst, so wie sie ist, zu erfassen. Aber das, was wir erfassen, die von uns wahrgenommenen eigentümlichen Beschaffenheiten sind dann nicht die Außenwirklichkeit, die wir mit unserem Außejiwirklichkeitsbegriffe meinen; vielmehr ist das, was wir meinen, eine nicht von uns erfaßte Außenwirklichkeit an sich. Und zwar kann sich diese nicht erfaßte Außenwirklichkeit von unseren Wahrnehmungsbeständen auf zwei logisch verschiedene Weisen unterscheiden: nämlich erstens nur allgemeinbegrifflich und zweitens außerdem individualbegrifflich. Beide Arten der Unterschiedenheit spielen in den Wirklichkeitsauffassungen der philosophischen Tradition eine Rolle. Und beide Unterschiedenheiten verknüpfen sich, wie der weitere Fortgang dieser Untersuchung zeigen wird, in der Transzendenzontologie zu einer komplexen Systematik. Die Möglichkeit einer der Außenwirklichkeit an sich zukommenden allgemeinbegrifflichen Verschiedenheit von unseren Wahrnehmungsbeständen unter Wahrung ihrer individualbegrifflichen Identität mit ihnen haben wir schon im Rahmen der Immanenzontologie erwogen.
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E s zeigte sich dort, daß aus bestimmten Gründen die immanente Außenwirklichkeit nicht dieselbe Beschaffenheit haben konnte, die wir an ihr wahrnehmen. Wir nahmen daher unsere Zuflucht zu der These, daß möglicherweise das, was wir wahrnehmen, zwar seinem Bestände nach, also indi vi dualbegrifflich mit der Außenwirklichkeit, die wir wahrzunehmen glauben, identisch sei, daß diese aber an sich eine andere Beschaffenheit habe, als diejenige, die in unserer Wahrnehmung zu Tage tritt, und daß sie uns diese ihre eigentliche Beschaffenheit nur stufenweise enthülle. In einem solchen Falle wäre die von uns wahrgenommene Außenwirklichkeit also zwar individualbegrifflich, nicht aber allgemeinbegrifflich zugleich die in unserem Außenwirklichkeitsbegriffe gemeinte Außen Wirklichkeit an sich. Neben dieser Auffassung der ontologischen Sachlage besteht aber noch eine andere, nach der die von uns wahrgenommenen und als außenwirklich angesprochenen Gebilde nicht nur nicht nach ihrer Beschaffenheit, sondern auch nicht nach ihrem Bestände mit der von uns gemeinten Außenwirklichkeit an sich identisch sind. Unsere Wahrnehmungsbestände würden in diesem Falle überhaupt nichts Außenwirkliches sein, sondern die von uns gemeinte Außenwirklichkeit nur repräsentieren, ihrem ontologischen Eigenbestande nach aber einem anderen Bezirke, nämlich dem des Bewußtseins, angehören. Hier wäre demnach die Außenwirklichkeit an sich sowohl allgemeinbegrifflich als auch individualbegrifflich von unserer immanenten Wahrnehmungswelt verschieden. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß sich nach den Wirklichkeitsauffassungen der philosophischen Ueberlieferung die Außenwirklichkeit an sich als der eigentliche Gegenstand unseres Außenwirklichkeitsbegriffes von den Bestandkomplexen unserer Wahrnehmung auf drei logisch verschiedene Weisen unterscheiden kann. Sie kann nämlich entweder mit diesen Wahrnehmungsbeständen allgemeinbegrifflich und individualbegrifflich identisch sein und sie nur durch die Weite ihres räumlichen und zeitlichen Kontiguitätszusammenhanges überragen. Diese Auffassung des Sachverhaltes wäre die typisch immanenzontologische. Sie kann zweitens außerdem allgemeinbegrifflich von unseren Wahrnehmungsbeständen verschieden sein, individualbegrifflich aber als mit ihnen identisch betrachtet werden. Wir kämen dann zu einer schon in das Transzendenzontologische hinübergleitenden Form der Immanenzontologie. Und sie kann sich drittens, abgesehen von der Weite ihres Kontiguitätszusammenhanges und von ihrer allgemeinbegrifflichen Verschiedenheit, auch individualbegrifflich von unseren Wahrnehmungen unterscheiden. Das ist die These der eigentlichen
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Transzendenzontologie. Hierbei setzt, wie wir sehen, wenn dies auch nicht durch die Logik der betreffenden Begriffsbildungen bestimmt ist, so doch tatsächlich die jeweils folgende Stufe der Wirklichkeitsauffassung das negative Moment der ihr vorangehenden voraus. Denn die in der Immanenzontologie hervortretende Ueberragung der uns jeweils vorliegenden Bestandkomplexe durch die Außenwirklichkeit an sich wird durch die Annahme einer allgemeinbegrifflichen Verschiedenheit beider nicht beseitigt. Und diese Verschiedenheit wieder bleibt auch bei der Annahme einer uns individualbegrifflich transzendenten Außenwirklichkeit fortbestehen. Wir erkannten, daß der Ansichcharakter eines selbständigen Bestandes von dem Bedeutungsgehalte des jeweils auf ihn angewandten Begriffes abhängt. An sich gehört zu dem betreffenden Bestände alles das, was ihm jenem Bedeutungsgehalte entsprechend zukommt; an sich nicht zu ihm das, was jenem Bedeutungsgehalte nicht entspricht. Betrachten wir nun die Beziehungen zwischen einem solchem Bestände an sich und dem, was zu ihm an sich nicht gehört, so erkennen wir leicht, daß sowohl diese Beziehungen, um derenwillen wir die beiden Faktoren überhaupt miteinander in Zusammenhang bringen, als auch jeder einzelne Faktor selbst und im Besonderen dasjenige, was von uns nicht als zu dem Bestände an sich gehörig gerechnet wird, von verschiedener Art sein kann. So kann das nicht zu dem Bestände an sich Gehörige eine seiner von uns nicht gemeinten Eigenschaften sein. Oder es kann etwas sein, was mit dem an sich bestehenden Sachverhalte in kontiguitätssystematischer Grenznachbarschaft steht. Es kann eine Wirkung des Sachverhaltes auf anderem Felde sein. Es kann etwas sein, was von dem Sachverhalte individualbegrifflich verschieden ist, ihm aber allgemeinbegrifflich gleicht. Usw. Näher zugesehen, ist die Manichfaltigkeit dieser Bestände, zu denen ein an sich gemeinter Sachverhalt in Beziehung treten kann, und die daher zu diesem Sachverhalte an sich nicht gehören, dem Wesen der darin eingeschlossenen Negation entsprechend grundsätzlich unbegrenzt. Denn an sich gehört zu einem Sachverhalte alles und nur das, was ihm durch seinen Begriff zugesprochen wird: dagegen gehört an sich nicht zu ihm, was ihm nicht zugesprochen bzw. was ihm abgesprochen wird. Offenbar aber kann ich einem Sachverhalte unbegrenzt viel nicht zusprechen bzw. absprechen. Unter den hier in Frage kommenden Beständen ist nun einer, der im Zusammenhange mit allen an sich bestehenden Sachverhalten, wo und wann diese auch gemeint werden mögen, auftritt, und der
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zugleich für jeden, der einen solchen Ansichcharakter meint, besonders ausgezeichnet ist. Das ist der Meinende selbst. Diesen Bestand wollen wir zunächst als das meinende Bewußtsein charakterisieren. Auch ein solches Bewußtsein gehört unseren früheren Erörterungen gemäß offenbar nicht zu dem Ansichcharakter des Bestandes, den es meint, sondern steht zu ihm in Relationen, die für einen derartigen Ansichcharakter als solchen gleichgültig sind. Seine Auszeichnung hat zunächst nur den Grund, daß immer, wo von einem Ansichcharakter die Rede ist, auch eine Meinungsrelation besteht, daß es keine Meinungsrelation gibt, in der nicht ein meinendes Bewußtsein aufträte, und daß dieses Bewußtsein in allen Meinungsrelationen eine andere Rolle spielt als andere Bestände. Denn während andere Bestände kraft ihrer Beziehung zu dem an sich bestehenden Sachverhalte in dem meinenden Bewußtsein die typische Fremdheit aller intentionalen Gegenstände zeigen, betreffen die zwischen dem Ansichcharakter und dem meinenden Bewußtsein selbst stattfindenden Relationen das eigene Sein dieses letzteren selbst. Hiervon abgesehen aber sind die meisten dieser Relationen von anderen Beziehungen in keiner Weise verschieden. Sie können zB. von praktischer Natur sein. So kann ich etwa sagen: an sich mag jenes Ereignis noch so belanglos sein; für mich war es wichtig. Worin diese Wichtigkeit auch bestanden haben mag, in den Konsequenzen jenes Ereignisses für meine Pläne oder was es auch sei: in keinem Falle ist an einer solchen Beziehung auf mein eigenes Bewußtsein nach dieser Richtung hin etwas Besonderes. Anders steht es, wenn wir die spezifisch gnoseologische Relation betrachten, in die ein an sich bestehender Sachverhalt, wenn wir ihn meinen, eintritt. Auch hier ist dasjenige, was dem gemeinten Bestände als nicht zu seinem Ansichcharakter gehörig gegenübertritt, zunächst nur das meinende Bewußtsein. Und auch hier ist weder dieses meinende Bewußtsein als ontologischer Bestand noch die zwischen ihm und dem gemeinten Sachverhalte stattfindende gnoseologische Beziehung für das Verhältnis zwischen dem Ansichcharakter des Sachverhaltes und dem, was an sich nicht zu ihm gehört, besonders belangreich. Belangreich aber wird dieses Verhältnis da, wo an die Stelle des meinenden Bewußtseins als eines ontologischen Bestandes seine Meinungen als nicht mehr ontologische sondern gnoseologisch gesetzte Bestände treten. Aus unseren früheren Erörterungen über den Begriff des gnoseologischen Bereiches und über den Begriff der Wahrheit wissen wir, daß unsere Meinungen, insoweit ihr Bedeutungsgehalt in Betracht kommt, zu der Wirklichkeit unseres Bewußtseins, wenn dieses als ein
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ontologischer Bestand aufgefaßt wird, nicht gehören. Wenn ich von Walther von der Vogelweide oder von der Insel Ceylon rede, so gehört zwar das betreffende Meinungserlebnis zu dem ontologischen Bezirke meines Bewußtseins, nicht aber das, was ich meine, also nicht der als Minnesänger des Mittelalters von mir gemeinte Waither von der Vogelweide und nicht das als Insel im Indischen Ozean von mir gemeinte Ceylon. Wir sahen, daß der Sinngehalt dieser unserer Meinungen über solche Bestände und die gemeinten Bestände selbst, unabhängig von unseren Meinungen über sie, im Falle der Wahrheit miteinander identisch sind, und daß sie im Falle der Falschheit voneinander abweichen. Jene in der Wahrheit zum Ausdruck kommende Identität ist also eine logisch zufällige. Oder anders ausgedrückt: Meinung und Sachverhalt sind voneinander grundsätzlich unterscheidbar. Betrachten wir nunmehr die von uns gemeinten, jedoch von uns unabhängigen Sachverhalte als das an sich Bestehende, unsere Meinungen über sie dagegen als etwas, was zu ihnen an sich nicht gehört, so erkennen wir, daß das zuerst von uns gekennzeichnete Verhältnis zwischen dem Ansichcharakter und dem meinenden Bewußtsein, als einem ontologischen Bestände hier nicht mehr besteht, und daß an die Stelle dieses meinenden Bewußtseins jetzt die von diesem zwar gesetzten, ihrem Sinne nach aber nicht mehr ontologisch zu ihm gehörigen Meinungen selbst getreten sind. Die Beziehungsglieder, die sich hier gegenübertreten, sind daher die uns aus den Erörterungen über den Wahrheitsbegriff schon bekannten. Der an sich bestehende Sachverhalt ist die res, insofern sie an dem Bedeutungsgehalte unserer Begriffe teilhat; und unsere zu diesem Sachverhalte an sich nicht gehörende Meinung ist der intellectus: aber nicht in dem psychologischen Sinne des Bewußtseins und seines ontologischen Bezirkes, sondern in dem logischen Sinne der von uns gnoseologisch gesetzten Urteilsmeinungen. In der Transzendenzontologie wird diese Beziehung zwischen dem Ansichcharakter des gemeinten Bestandes und der zu seinem Ansichcharakter nicht gehörigen Meinung eines Bewußtseins bedeutungsvoll. Durch eine Beziehung solcher Art wird, wie wir früher gesehen haben, der gemeinte Gegenstand selbst nicht berührt. Auch erfolgt innerhalb der gnoseologischen Relation keine Wirkung des an sich bestehenden Gegenstandes auf die über ihn aufgestellten Meinungen. Wohl aber stehen der gemeinte Gegenstand selbst und das, was wir über ihn meinen, in dem Falle der Urteilswahrheit in der idealen Relation einer Identität und in dem Falle der Urteilsfalschheit in der idealen Relation eines Widerspruches. Diese idealen Relationen
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charakterisiert die philosophische Ueberlieferung, und zwar im besonderen Hinblick auf gewisse, sogleich noch näher zu besprechende transzendenzontologische Verhältnisse, durch eine Gegenüberstellung der Bezugsglieder Ansich und Füruns. An sich ist der gemeinte Sachverhalt selbst; für uns die Urteilsmeinung über ihn. Sind Sachverhalt und Urteilsmeinung miteinander identisch, ist also die Urteilsmeinung wahr, so liegt in dem Verhältnisse zwischen Ansich und Füruns kein Problem mehr. Läßt es sich dagegen zeigen, daß sich beide widersprechen, so erwächst uns nunmehr die Aufgabe, die Art dieses Widerspruches klarzustellen und damit die alte Urteilsmeinung durch eine neue zu ersetzen. Diese Korrektur läßt sich, wenn die theoretischen Voraussetzungen dafür gegeben sind, zunächst in allen denjenigen Fällen ohne Weiteres vollziehen, in denen der gemeinte Bestand lediglich gedacht, bzw. auch vorgestellt wird. Wir haben dann den Gegenstand unseres Denkens, die Urteilsmeinung, und gegebenenfalls die sie begleitenden Vorstellungen entsprechend zu ändern. Habe ich mir zB. das Atom als ein einheitliches Gebilde gedacht und erfahre nun, ein wie kompliziertes System es sein dürfte, so sind dadurch meine frühere Urteilsmeinung und die sie etwa begleitenden Vorstellungen erledigt. Das, was nur für uns ist, wird in diesen Fällen dem, was als an sich betrachtet wird, entsprechend umgewandelt, so daß die zwischen dem Ansich und dem Füruns zunächst eingetretene Spannung beseitigt wird und nach deren Beseitigung innerhalb unserer gnoseologischen Relation und ihrer Ansprüche auf Wahrheit, dh. auf Identität zwischen Urteilsmeinung und gemeintem Sachverhalt, zwischen diesen letzteren beiden kein Unterschied mehr besteht. Daß ein solcher Unterschied nichtsdestoweniger außerhalb der gnoseologischen Relation noch fortbestehen kann, haben wir früher gesehen. Aber nicht immer sind die theoretischen Voraussetzungen für eine solche positive Umwandelung unserer Urteilsmeinung bis zu ihrer wenigstens innerhalb der gnoseologischen Relation beanspruchten vollständigen Identität mit dem von uns gemeinten Sachverhalte gegeben. Vielmehr kann auch innerhalb dieser Relation selbst eine Verschiedenheit zwischen dem gemeinten Ansichcharakter und unserer Urteilsmeinung auftreten. Möglich wird diese Lage durch den schon gekennzeichneten Umstand, daß der Bedeutungsgehalt unserer Begriffe in einem gnoseologischen Felde jenseits unseres Erkenntnisbereiches liegen kann. Wir nehmen in diesen Fällen an, daß sich der begrifflich von uns gemeinte Sachverhalt von unseren Urteilsmeinungen über ihn unterscheidet, ja bisweilen, daß er in mancher
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Hinsicht zu ihnen in einem ausschließenden Widerspruche steht, und daß sich unsere Urteilsmeinungen mit größeren oder geringeren Fehlern an den eigentlichen Sachverhalt nur annähern. Die Tatsache eines Widerspruches zwischen dein Ansich und dem Füruns liegt dann innerhalb unseres eigenen gnoseologischen Feldes. Und nur durch unsere Einsicht in das Vorhandensein dieses Widerspruches, also durch das zu unserem positiven Urteile hinzukommende zweite negative Urteil, daß unsere positive Meinung auf den Bestand nicht zutrifft, wird eine solche Anomalie wieder wettgemacht. Man kann sich das leicht an den Beschreibungen klarmachen, deren sich hier und da die theologischen Dogmatiker für das Wesen der Gottheit bedienen. Sie verleihen dieser mit größeren oder geringeren Abänderungen die in der dogmatischen Tradition geläufigen Prädikate. Aber gleichzeitig lassen sie darüber keinen Zweifel, daß diese Prädikate im Grunde nur Anthropomorphismen darstellen. Denn zu dem Begriffe der so von ihnen beschriebenen Gottheit gehört es, daß sie zwar von uns gemeint werden kann und also innerhalb unseres gnoseologischen Bereiches ist; daß sie aber anderseits außerhalb des Bereiches unserer Erkenntnis steht und ihr Wesen daher für uns unerkennbar bleibt. Dementsprechend lehren diese Dogmatiker in bewußtem Widerspruche zu ihren eigenen Ausführungen, daß die wahren Prädikate Gottes unserem menschlichen Wissen verschlossen bleiben, ja daß die ihm von uns zugesprochenen Prädikate, insofern sie eine anthropomorphe Form tragen, als zu dem Begriffe Gottes im Widerspruche stehend betrachtet werden müssen. Jene der Gottheit von uns zugeschriebenen Prädikate können daher im besten Falle nur als Annäherungen an eine wahre die menschlichen Schranken übersteigende Gotteserkenntnis betrachtet werden und tragen den Charakter eines dem Menschengeiste angepaßten praktischen Notbehelfes. Die hier beschriebene Lage, in der eine mit dem gemeinten Sachverhalte als nicht identisch gewußte positive Urteilsmeinung praktisch an die Stelle einer als mit diesem Sachverhalte zwar identisch gewußten aber nur negativen Urteilsmeinung gesetzt wird, liegt den schon öfter von uns berührten sogenannten Fiktionen zu Grunde. Allein mit dem hier von uns beschriebenen Verhältnisse zwischen der theoretischen Urteilsmeinung und dem von ihr betroffenen Sachverhalte ist die Frage nach dem Bedeutungsgehalte der Begriffe Ansich und Füruns noch nicht vollständig erledigt. Vielmehr gibt es eine besondere Lage, die zugleich die für die Transzendenzontologie vornehmlich wichtige ist, und in der sich der soeben beschriebene
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Sachverhalt mit eigentümlichen Umständen verbindet. Die Vorbedingung dieser Lage ist dann gegeben, wenn sich unser gnoseologisches Verhalten nicht oder doch nicht allein in der Form von theoretischen Urteilen darstellt, sondern zugleich die andere Form einer praktischen Deutung gegebener Bestände annimmt; wenn es sich also nicht oder doch nicht nur um Urteile über abwesende Bestände handelt bzw. um solche Urteile über anwesende Bestände, die deren unmittelbare Erfassung unberührt lassen, sondern um eine durch ausgesprochene oder unausgesprochene Urteile zwar begründete, aber über sie hinaus ins Praktische gehende Deutung, die uns gegebene und somit anwesende Bestände in ihrer unmittelbaren Erfassung erfahren. In einem solchen Falle kann diese unsere praktische Deutung der jeweils vorliegenden Bestände mit anders lautenden theoretischen Urteilen über eben diese Bestände in Konflikt geraten. Denn unsere theoretische Einsicht in das Wesen solcher Bestände ist dem Fortschritte unserer Erkenntnis entsprechend Aenderungen unterworfen. Und diesen Aenderungen pflegen unsere theoretischen Urteilsmeinungen im Sinne der soeben besprochenen Umwandelung zu folgen. Ihnen gegenüber ist unsere ebenfalls durch theoretische, aber in den meisten Fällen durch unausgesprochene und in vielen Fällen durch unbewußte Urteile zu begründende praktische Deutung unmittelbar vorliegender Bestände weit weniger labil und paßt sich unseren theoretischen Einsichten in der Regel nicht so leicht an. Nichtsdestoweniger sollte man erwarten, daß auch sie sich früher oder später unseren theoretischen Einsichten fügte. Und in der Tat zeigt das tägliche Leben eine große Zahl von Beispielen, in denen eine derartige Wandelung unserer praktischen Deutungen entsprechend unseren theoretischen Einsichten stattfindet. So können wir zB. bei einer neuen uns noch nicht vertrauten Malweise nicht immer sogleich erkennen, was das betreffende Bild darstellt. Es ist uns zunächst nur ein Farbengewirre. Wird uns der Gegenstand der Darstellung dann aber erklärt, so ändern wir unser Urteil und deuten es in dem Sinne des Malers. Andere Beispiele dieser und ähnlicher Art liefert uns die Psychologie der Wahrnehmungsdeutungen in Fülle. An und für sich müßte es möglich sein, daß eine solche Anpassung unserer Deutung gegebener Bestände an abweichende Urteilseinsichten immer stattfände. In Wahrheit aber findet sie aus verschiedenen später noch genau von uns zu erörternden Gründen keineswegs immer statt. Vielmehr zeigt es sich in vielen Fällen, daß die uns gewohnten Deutungen unserer besseren theoretischen Einsicht zum Trotze fort-
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bestehen, und daß wir an sie im psychologischen Sinne des Wortes zwangsläufig gebunden sind. In diesen Fällen steht dann unsere praktische Deutung gegebener Bestände zu dem Meinungsgehalte unserer theoretischen Urteile in einem psychologisch für uns nicht zu überwindenden Widerspruche. Wir können uns das an einigen Beispielen leicht klar machen. So geht nach unserer praktischen Deutung die Sonne im Osten auf und im Westen unter. Nach unserer theoretischen Einsicht geht sie weder auf noch unter, sondern die Erde dreht sich um ihre Axe. Von dieser Einsicht bleibt unsere praktische Deutung der Wahrnehmungsvorgänge unberührt. Oder: in unserer praktischen Deutung ist als senkrecht eine einzige Richtung ausgezeichnet. Nach unserer theoretischen Einsicht kommt eine solche Auszeichnung keiner Richtung zu, da alle von der Oberfläche der Erde zu ihrem Mittelpunkte führenden, mithin, wenn man unter Richtung nicht nur eine einzelne Gerade, sondern auch ihre Parallelen versteht, alle in unserem Räume bestehenden Richtungen überhaupt senkrecht sind. Auch hier folgt unsere praktische Deutung der von uns wahrgenommenen Sachlage nicht unserer theoretischen Einsicht in dieselbe. Oder endlich: nach unserer praktischen Deutung liegt jedes Spiegelbild hinter der Spiegelfläche. Nach unserer theoretischen Einsicht liegt es auf ihr. Trotzdem bleibt unsere praktische Deutung der wahrgenommenen Spiegelungen unserer besseren theoretischen Einsicht zum Trotze wiederum bestehen. Usw. In allen solchen Fällen liegt zwischen unseren theoretischen Urteilsmeinungen und denjenigen Urteilsmeinungen, in denen unsere praktischen Deutungen ihre Begründung finden, ein Widerspruch vor. Beide Meinungen gehen auf denselben an sich bestehenden Sachverhalt; beide beanspruchen, wie jede Urteilsmeinung, die Identität ihres Bedeutungsgehaltes mit dem gemeinten Ansichbestande; aber beide urteilen in verschiedener Weise. E s findet also innerhalb unseres eigenen gnoseologischen Feldes ein Widerstreit der Meinungen statt. Insofern ist hier die logische Lage mit der zuvor geschilderten anderen Lage verwandt, in der uns die Unrichtigkeit der von uns selbst als richtig behandelten Urteilsmeinungen bewußt war. Hier wie dort sind eben damit die Voraussetzungen für ein fiktives Verhalten gegeben. Und doch unterscheiden sich beide Fälle grundsätzlich. Denn erstens handelt es sich in jenem Falle unseres eigenen Wissens von der Unrichtigkeit unserer Meinung um zwei rein theoretische Urteile, ganz gleich ob die Urteilsgegenstände anwesend sind oder nicht, und ohne Rücksicht auf die Art ihrer praktischen Erfassung. In unserem 2
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Falle dagegen handelt es sich um ein theoretisches Urteil und um eine durch theoretische Urteile nur zu begründende, nicht aber selbst in solchen Urteilen bestehende praktische Deutung gegebener Bestände. Zweitens lag in jenem anderen Falle der an sich bestehende Sachverhalt, der begrifflich gemeint wurde, in dem gnoseologischen Bereiche jenseits unserer Erkenntnisgrenze und wurde daher von uns selbst in der geschilderten Weise durch ein zweites korrigierendes Urteil als mehr oder minder unbekannt gekennzeichnet. Dagegen liegt bei dem Widerspruche zwischen unserer praktischen Deutung gegebener Bestände und unseren theoretischen Urteilen der von diesen gemeinte Sachverhalt innerhalb unseres Erkenntnisbereiches oder kann wenigstens innerhalb desselben liegen und braucht daher keineswegs als unbekannt betrachtet zu werden. Der hier verbleibende Unterschied zwischen der theoretischen Urteilsmeinung und der praktischen Deutung beruht also nicht, wie in jenem anderen Falle, auf einem Nichtwissen dem von uns gemeinten Sachverhalte gegenüber, sondern auf einem Nichtkönnen den uns gegebenen Beständen gegenüber. Und endlich drittens ist in jenem anderen Falle das zu dem falschen positiven Urteile hinzukommende und es korrigierende zweite Urteil nur eine Negation jenes ersteren. Dagegen begnügt sich im Falle der als falsch betrachteten praktischen Deutung gegebener Bestände das hinzukommende theoretische Urteil nicht mit einer Negation des unserer falschen Deutung zu Grunde liegenden Urteils, sondern setzt darüber hinausgehend eine andere, neue positive Urteilsmeinung. Die hier beschriebene logische Situation des Widerspruches zwischen einer theoretischen Urteilseinsicht und einer praktischen Deutung gegebener Bestände ist, wie schon angedeutet wurde, diejenige, auf die die Begriffe Ansich und Füruns in ihrer besonderen transzendenzontologischen Verwendung vornehmlich gemünzt sind. In jeder Ontologie besteht die Wirklichkeit an sich als ein selbständiges und von unseren Urteilen über sie unabhängiges Gebilde. Für uns sind dementsprechend, wie in jeder anderen, so auch in der Transzendenzontologie zunächst alle Urteilsmeinungen über diese Wirklichkeit, ganz gleich ob sie rein theoretischer Art sind oder in der Form einer praktischen und in diesem Falle ontologischen Deutung gegebener Bestände auftreten. Aber während die Immanenzontologie von der Voraussetzung ausgeht, daß die Wirklichkeit an sich und unsere theoretische Einsicht in ihr Wesen mit dem Inhalte unserer praktischen Deutung der gegebenen Bestände als bestimmter Teile dieser Wirklichkeit identisch ist, geht die Transzendenzontologie von der entgegengesetzten Voraussetzung aus. Sie nimmt auf Grund
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gewisser Erwägungen an, daß zwischen der Wirklichkeit an sich sowie unserer theoretischen Einsicht in ihr Wesen auf der einen Seite und unseren praktischen Deutungen der gegebenen Bestände auf der anderen Seite ein Widerspruch der oben von uns geschilderten Art bestehe: sei es nun, daß sich dieser nur auf die allgemeinbegriffliche Charakteristik einer solchen Wirklichkeit oder auch auf ihre individualbegriffliche Erfassung bezieht. Um eben dieses nur in der Transzendenzontologie auftretenden Widerspruches willen bildet nun die Beziehung zwischen der Wirklichkeit an sich und einer Wirklichkeit für uns auch nur in der Transzendenzontologie ein Problem. Daß in einem weiteren Sinne auch in der Transzendenzontologie alle Urteilsmeinungen über die Wirklichkeit schlechthin, die theoretischen \yie die praktisch verwandten, nur für uns bestehen, haben wir soeben gesehen. Aber von unseren theoretischen Urteilsmeinungen nimmt die Transzendenzontologie, wie jede Realwissenschaft, an, daß sie mit der an sich bestehenden Wirklichkeit selber bis zu der Höchstgrenze unserer jeweiligen Einsicht im Sinne der Wahrheit identisch sind. Dementsprechend gilt hier der Sinngehalt der Lehre von der transzendenten Außenwirklichkeit und der dieser Lehre entsprechende Tatbestand selber als ein und dasselbe. Unter diesen Umständen stellt die Frage nach der Beziehung zwischen der Wirklichkeit an sich und den für uns bestehenden theoretischen Urteilsmeinungen über sie in der Transzendenzontologie nach dieser Richtung auch kein Problem dar. Anders steht es mit dem Verhältnisse zwischen der Wirklichkeit an sich und der Wirklichkeit für uns, wie sie unserer praktischen Deutung der uns gegebenen Wahrnehmungen entspricht. Hier liegt in der Tat ein Problem vor. Denn von diesem Verhältnisse nimmt die Transzendenzontologie an, daß es in dem von uns gekennzeichneten Sinne einen Widerspruch enthält. Transzendenzontologisch ist also der Bedeutungsgehalt der Urteile, die unserer praktischen Deutung gegebener Bestände zu Grunde liegen, nicht nur seinem Sein, sondern auch seinem Sinne nach von der Wirklichkeit an sich, die wir durch sie zu treffen glauben, verschieden. Deshalb steht an dieser Stelle der Problementwicklung, und zwar nur an dieser Stelle, der Wirklichkeit an sich eine von ihr zu unterscheidende besondere Wirklichkeit für uns gegenüber. Ist das aber der Fall, so gelangen wir zu den transzendenzontologischen Fragestellungen: was ist die Wirklichkeit an sich? was ist die Wirklichkeit für uns? und welche Beziehungen bestehen zwischen beiden? Einer Beantwortung dieser Fragen gelten die folgenden Untersuchungen des vorliegenden Buches. 2*
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Wir haben uns bisher darauf beschränkt, die Anwendung der Begriffe Ansich und Füruns auf das transzendenzontologische Widerspruchsverhältnis zwischen einer von uns gemeinten Wirklichkeit, wie sie an sich besteht, und unserer auf sie abzielenden immanenzontologischen Deutung gegebener Wahrnehmungen zu prüfen. Auf eben dieses letztere Widerspruchsverhältnis hat die philosophische Ueberlieferung vorzugsweise die Begriffe Ansich und Füruns gemünzt; ihm hat sie in erster Linie ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Weit weniger hat sie sich aus Gründen, die in dem weiteren Verlaufe dieser Erörterung klar werden sollen, mit einem zweiten Widerspruchsverhältnisse beschäftigt, das mit jenem ersten als dessen unvermeidliches Korrelat grundsätzlich verbunden ist und sich daher als Begleiterscheinung überall entdecken läßt, wo wir jenes erste Widerspruchsverhältnis feststellen können. Dieses zweite Widerspruchsverhältnis spielt sich zwischen dem ab, was die jeweils gegebenen Bestandkomplexe ihrem Fürunscharakter entsprechend gnoseologisch darstellen, und dem, was sie nach ihrem Ansichcharakter ontologisch selbst sind. Wenn sie das, was sie für uns darstellen, nicht sind, wenn also die unserer Deutung der gegebenen Bestände zu Grunde liegenden Urteilsmeinungen mit dem durch sie gemeinten an sich bestehenden Sachverhalte nicht identisch sind, dann ist offenbar nicht nur dieser Sachverhalt nach seinem ontologischen Ansichsein etwas Anderes als das, was wir gnoseologisch aus jenen Beständen erdeuteten; sondern es sind dann auch die unseren Deutungen zu Grunde liegenden gegebenen Bestände selbst nach ihrem ontologischen Ansichsein etwas anderes als das, was sie gnoseologisch für uns sind. Im Uebrigen ist dieser Sachverhalt nicht an eine solche Deutung uns unmittelbar vorliegender Bestände gebunden, wie sie hier den Gegenstand unserer Erörterung bildet. Er tritt vielmehr überall da auf, wo durch eine falsche Urteilsmeinung zwei individualbegrifflich voneinander verschiedene Bestände, ganz gleich ob sie unmittelbar vorliegen oder nicht, irrtümlich miteinander identifiziert werden. Die hier von uns behandelte Situation ist also nur ein Sonderfall des allgemeineren Verhältnisses zwischen einer falschen Urteilsmeinung und zwei zu Unrecht von ihr als identisch beurteilten Gegenständen. In allen solchen Fällen hat die Urteilsmeinung als das nur für uns Bestehende keinen Ansichbestand. Wohl aber bestehen die beiden durch das Urteil fälschlich miteinander identifizierten Bestände an sich. Dementsprechend haben wir hier stets drei verschiedene Bestände zu unterscheiden: auf der einen Seite die beiden in Wahrheit nicht mitein-
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ander identischen Bestände an sich, auf der anderen Seite den nur für uns bestehenden Befund unserer Urteilsmeinung als eine Identifikation jener beiden Bestände. Zwischen diesem Fürunsbestande und jedem der beiden Ansichbestände waltet ein besonderes und von dem anderen wohl zu unterscheidendes Ansichfürunsverhältnis. Hierbei ist das eine Ansichfürunsverhältnis durch das andere logisch bedingt. Der von uns besonders behandelte Fall einer falschen Deutung uns unmittelbar vorliegender Bestände kann als eine Anwendung dieses allgemeineren Prinzips betrachtet werden. Das Wesen und die wechselseitige Bedingtheit dieser Ansichfürunsverhältnisse kann man sich an einem einfachen Beispiele aus dem täglichen Leben leicht klarmachen. Wenn ich einen vor mir stehenden und mir unbekannten Herrn mit einem anderen mir bekannten Herrn verwechsele, so ist nicht nur der mir bekannte Herr ein anderer als der vor mir stehende; sondern es ist auch umgekehrt, dem logischen Prinzip des wechselseitigen Ausschlusses nicht identischer Begriffsbedeutungen entsprechend, der vor mir stehende Herr ein anderer als der mir bekannte. Die eine Negation schließt die andere ein. Nur für mich besteht die falsche Urteilsmeinung, nach der beide Herren miteinander identisch sind. An sich ist sowohl jener Herr wie dieser ein anderer als der, den ich vor mir zu sehen glaubte. Oder allgemeiner gesprochen: bei jeder falschen Erdeutung eines gegebenen Bestandes ist sowohl der Gegenstand, den wir in der Deutung zu erfassen glauben, als auch der Bestand selbst, der diese Deutung erfährt, nach seinem Ansichsein etwas Anderes als dasjenige, was wir in ihm nach seinem Fürunsbestande kraft falscher Deutung zu sehen meinen. Umgekehrt erkennen wir leicht, daß bei einer richtigen Deutung gegebener Bestände das, was wir uns erdeuten, nicht nur mit dem, was wir meinen, identisch ist, sondern auch mit dem, was die gegebenen Bestände abgesehen von unserer Deutung sind. Wie dort die eine Negation als Ausdruck der Falschheit die andere Negation und damit die entsprechende Falschheit bedingte, so bedingt hier die eine Identität als Ausdruck der Wahrheit die andere Identität und damit die entsprechende Wahrheit. Deute ich die vor mir stehende Gestalt als den mir bekannten Herrn und er ist dieser wirklich, so ist der Sinn der meiner Deutung zu Grunde liegenden Urteilsmeinung mit der vor mir stehenden Gestalt in dem früher besprochenen Sinne der Teilhabe ontologischer Bestände an Begriffsbedeutungen identisch. Und in demselben Sinne ist diese Gestalt dann auf der anderen Seite als das, was sie außerhalb meiner Deutung ist, mit dem
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identisch, was sie innerhalb meiner Deutung ist. Von welcher Seite ich also die dann waltenden Beziehungen auch betrachte, stets ist das, was für mich ist, zugleich dasselbe, was an sich ist. Dagegen tritt, wie wir sahen, bei einem Widerspruchsverhältnisse zwischen Ansich und Füruns an die Stelle dieser allseitigen Identität ein zwiefaches Ansichfürunsverhältnis, nämlich erstens das zwischen dem gemeinten und dem erdeuteten Sachverhalte bestehende und zweitens ein solches zwischen dem ontologischen Sein der unserer Deutung zu Grunde liegenden Bestände und dem, als was diese in unserer gnoseologischen Deutung auftreten. Dieses zweite Widerspruchsverhältnis zwischen Ansich und Füruns darf mit jenem ersten nicht verwechselt werden. Zwar haben beide Widerspruchsverhältnisse das eine ihrer Beziehungsglieder, nämlich die gegebenen Bestände nach ihrem Fürunscharakter, den sie in gnoseologischer Deutung annehmen, gemeinsam. Das, was für uns ist, ist also in beiden Fällen dasselbe. Dagegen ist das, was an sich ist, in beiden Fällen etwas Anderes. In jenem ersteren Falle war es der gemeinte Gegenstand, auf den unsere gnoseologische Deutung die ihr gegebenen Bestände bezog: in unserem Beispiele also der mir bekannte Herr, für den ich die vor mir stehende Gestalt hielt. In dem letzteren Falle dagegen ist es der Ansichcharakter eines Gegenstandes, den wir im Unterschiede zu jenem ersteren Falle nicht meinen, sondern im Gegenteile verkennen, nämlich der Ansichcharakter der uns zwar gegebenen, aber von uns falsch gedeuteten Bestände: in unserem Beispiele also der mir unbekannte Herr selbst, den ich für den mir bekannten hielt Wir können unter diesen Umständen die hierin Frage stehenden beiden Ansichfürunsbeziehungen dahin charakterisieren, daß sie sich an demselben Fürunsbestande gewissermaßen überschneiden. Die dabei auftretenden verschiedenen Bezugsglieder wollen wir mit besonderen Namen bezeichnen. Den von uns gemeinten Sachverhalt nach seinem Ansichsein nennen wir den Meinungsgegenstand. Den Sinngehalt, den wir den gegebenen Beständen in unserer gnoseologischen Deutung zuschreiben, wollen wir Meinungsbasis nennen. Und dasjenige, was solche Bestände abgesehen von dieser unserer Deutung an sich selbst sind, können wir als die ontologische Grundlage der Meinungsbasis bezeichnen. Die hier behandelten beiden Ansichfürunsbeziehungen betreffen dann das Widerspruchsverhältnis einer Meinungsbasis einmal zu ihrem Meinungsgegenstande und zweitens zu ihrer ontologischen Grundlage. Wollten wir diese Begriffe auf unser Beispiel anwenden, so wäre also nach seinem Ansichbestehen der mir bekannte Herr, den ich mit
Die Meinungsbasis und ihre ontologischen Gegenglieder
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dem vor mir stehenden Herrn verwechselte, der Meinungsgegenstand. Der vor mir stehende Herr selbst nach seinem Ansichbestande wäre das, was wir die ontologische Grundlage der Meinungsbasis genannt haben. Und die Meinungsbasis wäre der irrtümliche Befund meines Urteils, nach dem der vor mir stehende Herr als der mir bekannte betrachtet wird. Zwischen dieser meiner Meinungsbasis und dem Ansichbestande jedes der beiden Herren finden dementsprechend zwei verschiedene Widerspruchsbeziehungen statt. Die eine betrifft das Verhältnis der Meinungsbasis zu ihrem Meinungsgegenstande. Die andere das Verhältnis der Meinungsbasis zu ihrer ontologischen Grundlage. Beide der hier charakterisierten Widerspruchsbeziehungen spielen auf dem Gebiete der Transzendenzontologie eine wichtige Rolle. Jedoch hat, wie gesagt, nur die eine von ihnen, nämlich die zwischen der Meinungsbasis und dem Meinungsgegenstande waltende in der philosophischen Tradition eine allgemeinere Beachtung gefunden. Sie tritt hier als das Verhältnis zwischen unseren Wahrnehmungen und der transzendenten Außenwirklichkeit an sich auf. Jene Wahrnehmungen bilden unsere Meinungsbasis, diese Außenwirklichkeit den Meinungsgegenstand. Jene als das uns unmittelbar Vorliegende werden immanenzontologisch von uns nicht nur allgemeinbegrifflich, sondern auch individualbegrifflich mit Merkmalen ausgestattet, die nach transzendenzontologischer Auffassung nur dieser uns nicht unmittelbar vorliegenden Außenwirklichkeit zukommen. Insofern wird die immanente Wahrnehmungswelt fälschlich mit der transzendenten Außenwirklichkeit identifiziert. Eben dadurch erweisen sich unsere immanenten Bestände als eine spezifische Meinungsbasis. Das Verhältnis zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand liegt in der Transzendenzontologie nach dieser Richtung hin klar zu Tage. Es hat, wenn auch nicht immer in derselben Weise interpretiert, allenthalben die Beachtung der Transzendenzontologen gefunden. Weit weniger Aufmerksamkeit hat man der zweiten der hier behandelten beiden Beziehungen zugewandt. Das ist in der eigentümlichen Struktur dieser Beziehungen selbst begründet. Mit dem Widerspruchsverhältnisse zwischen einer Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage hat es nämlich, wie schon angedeutet wurde, im Hinblick auf die gnoseologische Relation unseres Bewußtseins eine andere Bewandtnis als mit dem Widerspruchsverhältnisse zwischen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis. Denn abgesehen von diesem ihrem Widerspruchsverhältnisse stehen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis zueinander in der entscheidenden gnoseologischen Relation, um derenwillen die Meinungsbasis überhaupt besteht, da ja der
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Meinungsgegenstand dasjenige ist, was von der Meinungsbasis aus gemeint wird. Dagegen steht die ontologische Grundlage einer Meinungsbasis zu dieser letzteren nicht in einer gnoseologischen Relation, da sie, solange sie nicht selbst gemeint wird, also in allen Fällen eines zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand bestehenden Widerspruchsverhältnisses, nicht den zu der Basis gehörigen Meinungsgegenstand bildet. Das aber heißt, daß die Beziehung des Meinungsgegenstandes zu seiner Meinungsbasis in dieser letzteren selbst zum Ausdrucke kommt, während die Beziehung der Meinungsbasis zu ihrer ontologischen Grundlage von jener verschwiegen wird. Unter diesen Umständen ist es wohl verständlich, daß man den Unterschied zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand, namentlich sobald zwischen diesen ein Mißverhältnis waltete, also besonders in der Transzendenzontologie, leicht erkannte, das damit korrelativ verbundene Mißverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage dagegen ebenso leicht vernachlässigte, da weder diese Grundlage noch jenes Mißverhältnis in dem gnoseologischen Bereiche der Meinungsbasis selbst eine Rolle spielt. Und diese Bevorzugung des einen unter Vernachlässigung des anderen AnsichfürunsVerhältnisses wird in der Transzendenzontologie umso begreiflicher, als sich die philosophische Ueberlieferung hier vorwiegend mit der Außenwirklichkeit beschäftigt hat, die den Meinungsgegenstand unserer Wahrnehmungen bildet, während es die ontologische Grundlage dieser Wahrnehmungen, wenn man an der transzendenzontologischen Auffassung des Sachverhaltes konsequent festhält, ausschließlich mit der von der philosophischen Ueberlieferung stark vernachlässigten ontologischen Struktur des Bewußtseins zu tun hat. Mit dieser letzteren Tatsache werden wir uns in einem späteren Kapitel eingehend zu beschäftigen haben. Im Unterschiede zu dem Ansichfürunsverhältnisse zwischen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis ist, wie wir soeben sahen, das entsprechende Ansichfürunsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage in dem gnoseologischen Bereiche der Meinungsbasis selbst nicht enthalten und liegt normaler Weise außerhalb jeder gnoseologischen Relation überhaupt. Anderseits ist nicht zu übersehen, daß, wie jedes, so auch dieses Ansichfürunsverhältnis nur durch das Auftreten einer gnoseologischen Relation zustandekommt. E s bestünde nicht, wenn nicht die ontologische Grundlage der Meinungsbasis als etwas für uns Bestehendes anders gedeutet würde, als es ihr nach ihrem Ansichbestande zukommt. Mit anderen Worten: die nichtgnoseologische Relation zwischen einer Meinungs-
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basis und ihrer ontologischen Grundlage verdankt ihr Dasein lediglich der von ihr verschiedenen gnoseologischen Relation zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand, zu deren Widerspruchsverhältnis sie die entsprechende Ergänzung bildet. Wir haben hier also die eigentümliche Tatsache einer außerhalb der gnoseologischen Relation bestehenden Ansichfürunsbeziehung vor uns, die doch lediglich durch eine solche Relation bedingt ist, und deren eines Glied, aber eben nur dieses eine, in gnoseologischer Relation steht. Zugleich lehrt uns eine nähere Betrachtung der hier vorliegenden Verhältnisse aber noch etwas Anderes. Es zeigt sich nämlich, daß auf dem Gebiete der Ontologie alles an sich Bestehende ontologisch, alles für uns Bestehende dagegen gnoseologisch ist, so daß wir in diesem Zusammenhange die Begriffe Ansich und Füruns geradezu durch die Begriffe ontologisch und gnoseologisch ersetzen können. Denn ontologisch ist hier sowohl der Meinungsgegenstand nach seinem Ansichcharakter als auch die Grundlage der Meinungsbasis nach dem ihrigen. Alles auf ontologischem Gebiete an sich Bestehende ist ontologisch. Und umgekehrt besteht alles Ontologische auf seine spezifisch ontologische Weise an sich. Dagegen ist alles für uns Bestehende nicht nur auf ontologischem, sondern auf jedem Gebiete überhaupt gnoseologisch. Von dieser gnoseologischen Art war auch die hier von uns behandelte Meinungsbasis. Und wie alles für uns Bestehende gnoseologisch ist, so besteht auch umgekehrt alles Gnoseologische nur für uns. Denn immer sind wir es, die gnoseologisch meinen, und ohne uns als Meinende gibt es keine gnoseologischen Beziehungen. Ontologisch und gnoseologisch, an sich und für uns sind also auf dem hier von uns behandelten Gebiete nur verschiedene Begriffe für dieselbe Sache. Das aber ist kein Zufall, sondern eine einfache Konsequenz aus dem Ergebnisse unserer früheren Erörterungen. Denn wir erkannten, daß für uns stets unsere Urteilsmeinungen als solche sind, an sich dagegen das, was unabhängig von diesen Urteilsmeinungen durch sie getroffen werden soll. Unsere Urteilsmeinungen als solche aber sind eben, wie früher ausführlich dargelegt worden ist, von gnoseologischer Natur, und das, was durch Urteilsmeinungen getroffen werden soll, ist, wie wir ebenfalls gesehen haben, zugleich das, was wir ansich nennen. Das aber ist auf ontologischem Gebiete von ontologischer Art. Um uns über das in diesem Zusammenhange geschilderte doppelte Widerspruch sverhältnis zwischen Ansich und Füruns, zwischen Onto-
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logisch und Gnoseologisch völlig klar zu werden und unsere Einsicht in sein Wesen weiter zu vertiefen, wollen wir das bisher von uns benutzte Beispiel einer bloßen Verwechselung verlassen und stattdessen ein anderes wählen. Die Einfachheit der Situation bei unserer Verwechselung der verschiedenen Herren lag darin, daß sich der ihr enthaltene Urteilsirrtum lediglich auf eine individualbegriffliche Bestimmung bezog. Wir hielten den einen uns unbekannten Herrn für den uns bekannten. Dh. unseren früheren Erörterungen über die Identität ontologischer Bestände entsprechend: statt in den zeitlichen Gesamtablauf eines uns unbekannten Menschenlebens ordneten wir die von uns wahrgenommene zeitliche Phase des vor uns stehenden Herrn in den Gesamtablauf eines uns bekannten Menschenlebens ein. Irgendeine tatsächliche Aenderung an dem uns vorliegenden Wahrnehmungsbilde brauchten wir zu diesem Zwecke nicht vorzunehmen. Denn der vor uns stehende Herr war dem uns bekannten offenbar so ähnlich, daß uns im Augenblicke keinerlei Verschiedenheit zwischen ihm und dem anderen auffiel. Eben deshalb verwechselten wir sie miteinander. Mit anderen Worten: allgemeinbegrifflich waren hier die Meinungsbasis und ihre ontologische Grundlage einander gleich. Sie unterschieden sich nur durch das zeitliche Gesamtsystem, dem sie eingegliedert wurden. Es gibt aber auch Meinungsbasen, in denen der Sachverhalt anders liegt; bei denen wir in dem schon einmal angedeuteten Sinne mit einer Deutung der uns vorliegenden Bestände zugleich gewisse Aenderungen an ihnen vornehmen, kraft deren wir sie anders wahrnehmen, als sie abgesehen von unserer Wahrnehmung sind. Für die Transzendenzontologie sind die Ansichfürunsverhältnisse gerade dieser Fälle besonders wichtig. Beispiele dieser Art finden sich namentlich bei unserer perspektivischen Deutung von flächenhaften Darstellungen. Ich denke mir ein Rundpanorama, das eine Phantasielandschaft darstelle. In einem solchen Panorama haben wir offenbar eine typisch gnoseologische Deutung ontologisch gegebener Bestände vor uns. In eben dieser Deutung bietet sich für uns jene Landschaft dar. Sie ist unsere Meinungsbasis. Fragen wir nun nach dem Ansichcharakter des Meinungsgegenstandes, so erhalten wir die Antwort, das dieser nicht besteht. Denn dieser Meinungsgegenstand an sich wäre die Landschaft, die wir zu sehen glauben, nach ihrem ontologischen Sein. Und ein solches ontologisches Sein hat sie nicht. Es gibt hier also wohl ein Fürunsbestehen der Meinungsbasia, dagegen kein Ansichbestehen des Meinungsgegenstandes. Daneben gibt es hier aber noch ein zweites
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Ansichbestehen. Denn wenn das, was wir sehen, die vermeintliche Landschaft ontologisch nicht ist, so muß es etwas Anderes sein. Dieses Andere ist die ontologische Grundlage der Meinungsbasis, also das Material, aus dem die vermeintliche Landschaft erdeutet wurde. Es ist in unserem Falle eine mit Farben bedeckte Leinewand. Wir erkennen hier also in den Widerspruchsverhältnissen zwischen der nicht bestehenden wirklichen und der vermeintlich gesehenen Landschaft unserer Wahrnehmungsdeutung einerseits, sowie zwischen dieser letzteren und der mit Farben bedeckten Leinewand anderseits wieder das doppelte Ansichfürunsverhältnis zwischen dem Meinungsgegenstande, der Meinungsbasis und der ontologischen Grundlage dieser letzteren. Zugleich ersehen wir aus diesem Beispiele, daß das Ansichfürunsverhältnis zwischen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis ein ontologisches Dasein jenes ersteren nicht einschließt. Zwar ist der Meinungsgegenstand seinem Ansichcharakter nach in allen hier in Frage kommenden Fällen als ein ontologischer gemeint; aber dieser Anspruch besteht nur innerhalb der gnoseologischen Relation, und durch diese ist nicht ausgemacht, daß er zu Recht besteht. Besteht er nicht zu Recht, so gelangen wir zu solchen Situationen wie der soeben beschriebenen. Dem in der Meinungsbasis gemeinten Gegenstande wird dann ein ontologisches Ansichbestehen zugeschrieben, das er in Wahrheit nicht hat. Anders steht es mit dem Ansichfürunsverhältnisse zwischen der ontologischen Grundlage einer Meinungsbasis und dieser selbst. Hier ist der Ansichbestand einer solchen ontologischen Grundlage stets gesichert. Denn jede Meinungsbasis tritt zum Mindesten in der Wirklichkeit unseres Bewußtseins als etwas Wirkliches auf. Wäre dies nicht der Fall, dann gäbe es auch die Meinungsbasis nicht. Das Fundament ihrer Wirklichkeit aber ist ihre ontologische Grundlage. Welche Bewandtnis es sonst noch mit der Wirklichkeit der Meinungsbasis auf sich hat, werden wir in dem späteren Verlaufe dieser Untersuchungen erkennen. Hier genügt uns die Einsicht, daß ohne den wirklichen Ansichbestand ihrer ontologischen Grundlage eine Meinungsbasis nicht auftreten könnte. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß in der Frage nach dem mit jeder Meinungsbasis verbundenen doppelten Ansichfürunsverhältnisse durch dieses letztere keineswegs das ontologische Ansichbestehen des in der gnoseologischen Relation enthaltenen Meinnngsgegenstandes verbürgt ist, wohl aber das Ansichbestehen der nicht in der gnoseologischen Relation enthaltenen ontologischen Grundlage der
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Meinungsbasis. Welchen Belang dieser Sachverhalt für die Beurteilung transzendenzontologischer Verhältnisse hat, werden wir später erkennen. Wir wollen nunmehr unser Beispiel etwas ändern. Das Rundpanorama stelle keine Phantasielandschaft dar, sondern sei das naturgetreue Abbild einer mir bekannten Gegend. Ich selbst aber möge auf irgendeine Weise, ohne es zu wissen, in das Panorama gebracht sein und es möge mir unter allerlei Vorspiegelungen die Ueberzeugung beigebracht werden, ich sei wirklich in jener mir bekannten Gegend. Dann kann es leicht geschehen, daß ich auf Augenblicke das Panorama als jene wirkliche Gegend anspreche. Das Ansichfürunsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage bleibt in diesem Falle dasselbe, das wir schon kennen. Das entsprechende Verhältnis zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand dagegen ändert sich insofern, als der Meinungsgegenstand, also die mir bekannte Gegend, die ich zu sehen glaube, nunmehr tatsächlich besteht, wenn sie auch nicht das ist, was ich sehe. Betrachten wir die hier obwaltenden Ansichfürunsverhältnisse näher, so kommen wir zu einem transzendenzontologisch nicht unwichtigen Ergebnisse. Es zeigt sich nämlich, daß das in diesem Falle vorliegende Ansichfürunsverhältnis zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand von grundsätzlich anderer Natur ist als das entsprechende Ansichfürunsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage. Das Panorama, aus dem ich mir die Landschaft erdeute, und die mir bekannte wirkliche Landschaft, mit der ich das Panorama verwechsele, liegen räumlich weit voneinander entfernt. Sie sind individualbegrifflich verschiedene Gebilde, die abgesehen von ihrer Aehnlichkeit nichts miteinander zu tun haben. Anders steht es mit dem Ansichfürunsverhältnisse zwischen der ontologischen Grundlage meiner Meinungsbasis und dieser selbst. Hier ist das, was ich zu sehen glaube, und das, was tatsächlich vorhanden ist, nicht ähnlich, sondern allgemeinbegrifflich verschieden. Felder und Wälder, Hügel und Täler sind etwas Anderes als farbenbedeckte Leinewand. Nichtsdestoweniger ist seinem Bestände nach in diesem Falle beides dasselbe. Die Landschaft und die Leinewand sind, wenn auch in verschiedener Auffassung, so doch individualbegrifflich dasselbe Ding, das ich vor mir sehe. Das Widerspruchsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage betrifft also nur ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit, nicht ihren individualbegrifflichen Bestand. Dieser ist vielmehr, ganz gleich ob an sich oder für uns, identisch derselbe.
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Bedenkt man nun, daß die Verwechselung zwischen der erdeuteten Darstellung des Panoramas und der wirklichen Landschaft auf einer Aehnlichkeit beider, also, wie wir früher gesehen haben, auf ihrer teilweisen allgemeinbegrifflichen Identität beruhte, das Verhältnis zwischen jener erdeuteten Darstellung und der farbenbedeckten Leinewand dagegen das einer allgemeinbegrifflichen Verschiedenheit war, so kommt man zu einem eigentümlichen Ergebnisse. Man erkennt nämlich, daß in unserem Beispiele die Ansichfürunsbeziehung zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand ein individualbegriffliches Widerspruchsverhältnis bei teilweiser allgemeinbegrifflicher Identität darstellt, während die korrelate zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage waltende Ansichfürunsbeziehung umgekehrt ein allgemeinbegriffliches Widerspruchsverhältnis bei individualbegrifflicher Identität bildet. Unter diesen Umständen erhebt sich die Frage, ob sich das nur zufällig in unserem Beispiele so verhält, oder ob diese eigentümlichen Beziehungen grundsätzlich durch den von uns geschilderten Sachverhalt bedingt sind. Die Antwort hierauf ist verhältnismäßig einfach und klar in B e zug auf das Ansichfürunsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage. Ein näheres Zusehen zeigt uns nämlich, daß hier ein individualbegrifflicher Widerspruch nicht auftreten kann, und daß anderseits das Wesen dieses Verhältnisses, sobald es sich um eine wirkliche Umdeutungdurch die Meinungsbasis und nicht nur, wie in dem früher von uns behandelten Falle, um eine einfache Verwechselung handelt, einen allgemeinbegrifflichen Widerspruch erfordert. Das läßt sich leicht zeigen. Denn die Bestände, durch deren Deutung es zu einer Meinungsbasis für uns kommt, sind ja ihrem Ansichsein nach selbst die ontologische Grundlage dieser Meinungsbasis. Daher kann eine individualbegriffliche Verschiedenheit dieser Meinungsbasis von ihrer ontologischen Grundlage nicht stattfinden. Auf der anderen Seite kommt der Unterschied zwischen beiden Faktoren hier dadurch zustande, daß unsere sich in der Meinungsbasis darstellende Interpretation der uns gegebenen Bestände von deren ontologischen Ansichbestehen in Bezug auf ihre Beschaffenheit abweicht. Diese Abweichung bedeutet aber logisch gesprochen einen allgemeinbegrifflichen Widerspruch nicht sowohl gegen den Ansichbestand als vielmehr gegen den Ansichcharakter als die von uns verkannte ontologische Beschaffenheit des jeweils vorliegenden Sachverhaltes. Nicht nach ihrem individualbegrifflichen Bestehen, sondern nach ihrer allgemeinbegrifflichen Charakteristik unterscheiden sich also beide Gebilde.
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Anders steht es, wenn wir uns die Frage stellen, ob nicht nur das allgemeinbegriffliche Widerspruchsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage, sondern auch das entsprechende individualbegriffliche Widerspruchsverhältnis zwischen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis durch die hier waltenden sachlichen Beziehungen grundsätzlich bedingt sei. Daß auch diese Frage zu bejahen ist, kann man sich durch folgende Erwägung klarmachen. Werden gegebene Bestände von uns im Sinne einer Meinungsbasis als etwas Anderes gedeutet, denn als das, was sie ontologisch an sich sind, so ist dieses Andere, das Gemeinte, als solches in jener Meinungsbasis eben nicht vorhanden. Nehmen wir an, es sei ontologisch in ihr nicht vorhanden, also individualbegrifflich von jener Meinungsbasis verschieden, so kommen wir zu den normalen und klaren sachlichen Verhältnissen, die wir uns an dem Beispiele eines Panoramas, das eine uns bekannte Landschaft darstellt, vor Augen führten. Nehmen wir dagegen an, der Meinungsgegenstand sei mit unserer Meinungsbasis individualbegrifflich identisch, er sei derselbe ontologische Bestand, unterscheide sich aber von dieser durch seine allgemeinbegriffliche Beschaffenheit, so werden wir nunmehr vor eine schwierige Situation gestellt, deren logische Struktur einen inneren Widerspruch zeigt. Wird nämlich eine individualbegriffliche Identität zwischen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis gefordert, und ist anderseits die Meinungsbasis auch mit ihrer ontologischen Grundlage individualbegrifflich identisch, so wird ebendamit nun auch eine solche Identität zwischen jenem Meinungsgegenstande und dieser Grundlage der Meinungsbasis statuiert. Denn Sachverhalte, die auf eine bestimmte Weise mit einem dritten Sachverhalte identisch sind, sind auf dieselbe Weise auch untereinander identisch. Unter diesen Umständen müßte individualbegrifflich identisch derselbe Bestand nach seiner allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit außer seinem Fürunscharakter in der Meinungsbasis noch zwei Ansichcharaktere von verschiedener Beschaffenheit tragen, nämlich den Ansichcharakter des Meinungsgegenstandes und den Ansichcharakter der ontologischen Grundlage unserer Meinungsbasis. Es hätte also identisch derselbe Bestand drei verschiedene Beschaffenheiten. Tatsächlich kommt die dreifache Identität zwischen dem Meinungsgegenstande, der Meinungsbasis und deren ontologischer Grundlage, wie wir früher gesehen haben, vor. Sie findet dann statt, wenn unsere Meinungsbasis in ihrem Gegenstande nicht nur individualbegrifflich, sondern auch allgemeinbegrifflich eben das meint, was sie
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ihrer ontologischen Grundlage nach an sich selber ist. Die hier stattfindende dreifache Identität gehört dann, wie wir sahen, zu dem Typus der für das Wesen der Wahrheit charakteristischen Identität zwischen Urteilsmeinung und Sachverhalt. Oder anders ausgedrückt: in einem solchen Falle ist das unserer Meinungsbasis zu Grunde liegende Urteil über die jeweils vorliegenden Bestände im Sinne unserer früheren Darlegungen richtig. Unter dieser Bedingung kommt eine sowohl allgemeinbegriffliche als auch individualbegriffliche dreifache Identität zwischen dem Meinungsgegenstande, der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage tatsächlich zustande. In unserem Falle aber sollte das nicht zutreffen. Vielmehr sollte die Deutung der Meinungsbasis falsch sein. Nur eine individualbegriffliche Identität zwischen ihr und dem Meinungsgegenstande wurde gefordert. Allgemeinbegrifflich dagegen sollten sie sich voneinander unterscheiden. Dementsprechend müßte nunmehr angenommen werden, daß auch die beiden in Betracht kommenden Ansichbestände, der ontologische Meinungsgegenstand und die ontologische Grundlage der Meinungsbasis, zwar individualbegrifflich miteinander identisch wären, aber allgemeinbegrifflich zueinander wie zu der Meinungsbasis in Widerspruch stünden, so daß identisch derselbe Bestand auf die vorhin genannte Weise drei verschiedene Beschaffenheiten zugleich hätte. Denn er hätte einmal seine Beschaffenheit als Meinungsbasis für uns, außerdem eine andere Beschaffenheit als ontologische Grundlage unserer Meinungsbasis nach deren Ansichbestände und drittens wieder eine andere Beschaffenheit als an sich bestehender Meinungsgegenstand. Und doch wäre er in allen drei Fällen identisch derselbe Bestand. Dieser Auskunft steht nun, abgesehen von der Verwickelung des Sachverhaltes, die sie erfordert, eine entscheidende Erwägung entgegen. Ein ontologischer Bestand hat nämlich seiner Eindeutigkeit innerhalb der Wirklichkeitssystematik entsprechend, wie wir in früheren Erörterungen gesehen haben, zu derselben Zeit, an demselben Orte und in derselben Hinsicht immer nur eine und dieselbe Beschaffenheit Werden im Widerspruche hierzu individualbegrifflich demselben ontologischen Bestände zu derselben Zeit, an demselben Orte und in derselben Hinsicht verschiedene einander ausschließende Beschaffenheiten zugeschrieben, so müßten wir annehmen, daß solchen Wirklichkeitsgebilden keine Eindeutigkeit zukomme. Damit wäre unserem Wirklichkeitsbegriffe seine Grundlage entzogen. Der Satz des Widerspruches, daß A nicht zugleich a und nicht a sein könne, hätte für ontologische Bestände keine Geltung mehr. Zu dieser An-
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nähme wird sich aber niemand entschließen, da sie unserer gesamten vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Erkenntnis der Wirklichkeit zuwiderläuft. Man könnte freilich einwenden, daß ein entsprechendes Bedenken auch für die individualbegriffliche Identität und allgemeinbegriffliche Verschiedenheit zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage gelten müsse. Allein hierauf ist zu erwidern, daß die Meinungsbasis eben nicht an sich, sondern nur für uns besteht. Hier kommt also eine allgemeinbegriffliche Verschiedenheit bei individualbegrifflicher Identität nicht für einen und denselben Ansichbestand in Frage, sondern für das Verhältnis zwischen einem Ansichbestande und einem Fürunsbestande. Nichtsdestoweniger ist jener Einwand nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen. Welche nähere Bewandtnis es mit ihm hat, soll der spätere Verlauf unserer Untersuchungen zu zeigen versuchen. Unter diesem Vorbehalte kommen wir nunmehr zu dem Ergebnisse, daß die eigentümlichen Ansichfürunsverhältnisse, wie sie sich uns in dem zweiten abgeänderten Panoramabeispiele darstellten, nicht auf einem Zufalle beruhen, sondern durch die sachliche Struktur der hier waltenden Beziehungen grundsätzlich bedingt sind. Ist ein an sich bestehender und von den Deutungen unserer Meinungsbasis abweichender Meinungsgegenstand überhaupt vorhanden, so steht er zu seiner Meinungsbasis stets in einem individualbegrifflichen Widerspruchsverhältnisse bei teilweiser allgemeinbegrifflicher Identität. Dagegen steht, ganz gleich ob ein Meinungsgegenstand an sich vorhanden ist oder nicht, die Meinungsbasis zu ihrer ontologischen Grundlage stets in einem allgemeinbegrifflichen Widerspruchsverhältnisse bei individualbegrifflicher Identität. Beides folgt aus der logischen Struktur der hier auftretenden Ansichfürunsbeziehungen und ihrer Bezugsglieder. Man kann sich die hier geschilderten Sachverhalte in concreto an einer Theorie klarmachen, die uns bei unserer Untersuchung der für die immanente Außenwelt geltenden ontologischen Verhältnisse aufgestoßen ist. Wir gerieten dort mit der Frage nach der Identität zwischen unseren Wahrnehmungsgebilden und den in ihnen gemeinten Außenwirklichkeitsbeständen in Schwierigkeiten und nahmen schließlich zu der Auskunft unsere Zuflucht, daß die Außenwirklichkeit in unseren Ueberschneidungsbeständen zwar individualbegrifflich enthalten sei, ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit sich jedoch nur allmählich und in einem unendlichen Prozesse unserem erkennenden Bewußtsein erschließe. Diese Auskunft, deren Zulässigkeit oder Unzulässigkeit wir seiner Zeit dahingestellt sein ließen, zeigt deutlich
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die logischen Gebrechen, die wir für die Annahme einer allgemeinbegrifflichen Verschiedenheit und individualbegrifflichen Identität zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand aufgedeckt haben. Es wurde angenommen, daß das, was wir in deutungserfüllter Wahrnehmung erfassen, also unsere Meinungsbasis, zwar seinem Bestände nach mit den von uns gemeinten Wirklichkeitsgebilden an sich identisch sei, daß diese letzteren jedoch in ihrem Ansichcharakter eine andere Beschaffenheit trügen als die uns aus unserer Wahrnehmung bekannte, und daß sich unsere Meinungsbasis nur asymptotisch an einen solchen Ansichcharakter annähere. Das hier vorausgesetzte Ansichfürunsverhältnis zwischen Meinungsgegenstand und Meinungsbasis war also ein typisches Beispiel von allgemeinbegrifflicher Widerspruchsbeziehung bei individualbegrifflicher Identität. Daneben besteht, wie unseren Darlegungen entsprechend in allen solchen Fällen, ein korrelates Ansichfürunsverhältnis zwischen der Grundlage unserer immanenzontologischen Meinungsbasis und dieser selbst. Auch diese Grundlage ist von unserer deutungserfüllten Wahrnehmung verschieden; auch sie besteht zum Unterschiede von ihr und ebenso wie die in unserer Wahrnehmung gemeinte Außenwirklichkeit ontologisch an sich. Sie liegt, wie unsere früheren Erörterungen zeigten, in dem deutungslos Gegebenen der Wahrnehmung, hat also für sichthafte Bestände etwa die Gestalt einer farbigen leicht gekrümmten Fläche. Mit dieser Fläche als einem Ansichbestande ist unsere deutungserfüllte Meinungsbasis als Fürunsbestand ebenfalls individualbegrifflich identisch, wenn sie sich auch ihrer erdeuteten Beschaffenheit nach, also wieder allgemeinbegrifflich, grundsätzlich von ihr unterscheidet. Wird nun auf der anderen Seite eine analoge individualbegriffliche Identität der Meinungsbasis mit dem Meinungsgegenstande gefordert, so wird eben dadurch der ontologische Bestand des deutungslos Gegebenen unserer Wahrnehmung, also eine farbige Fläche, als individualbegrifflich identisch mit den in unserer Sichtwahrnehmung gemeinten ontologisch an sich bestehenden Außenwirklichkeitsbeständen, also einer dreidimensionalen Körperwelt gesetzt. Eine individualbegriffliche Identität jener Fläche mit diesen Körpern ist aber, wenn beide nach ihrem Ansichbestande betrachtet werden, ein offenbarer Widerspruch in sich. Denn ein Körper ist keine Fläche, und eine Fläche ist kein Körper. Nur solche Gebilde, die allgemeinbegrifflich einander restlos gleich sind, dagegen keine Gebilde, die sich allgemeinbegrifflich ausschließen, können, wenn beide Gebilde ontologisch an sich bestehen sollen, zugleich individualbegrifflich identisch sein. Jene 3
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Auskunft der Immanenzontologie, daß die Außenwirklichkeit an sich in unseren deutungserfüllten Wahrnehmungsbeständen individualbegrifflich enthalten sei, ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit jedoch unserem Bewußtsein nur allmählich entdecke, ist also unzulässig und bietet keine Zuflucht vor den Schwierigkeiten, in die uns die Durchführung der immanenzontologischen Prinzipien führt. Nichtsdestoweniger soll hier ausdrücklich anerkannt werden, daß sie dem Scheine nach durch gewisse immanenzontologische Tatbestände gestützt wird. Es wird die Aufgabe späterer Untersuchungen sein, zu zeigen, worauf dieser Schein beruht. Die von uns gewonnenen Ergebnisse haben eine gewisse Tragweite für das Verständnis der transzendenzontologischen Begriffsbildung. Wir haben daher die allgemeinen logischen und ontologischen Strukturverhältnisse zu bestimmen, unter denen die von uns beschriebene doppelseitige Ansichfürunsbeziehung in der Transzendenzontologie auftritt. Dabei erweist es sich, daß diese Verhältnisse ohne Weiteres durchsichtig sind, insoweit es sich um die transzendenzontologischen Beziehungen zwischen der Meinungsbasis und dem Meinungsgegenstande handelt. Dagegen stellt uns die Frage nach der transzendenzontologischen Beziehung zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage vor verwickeitere Probleme, deren Lösung ohne ein tieferes Eingehen auf die Transzendenzontologie des Bewußtseins nicht möglich ist. Ueber diese letztere Beziehung werden wir unter diesen Umständen erst in einem späteren Zusammenhange zur Klarheit gelangen können. Wenden wir uns zu der transzendenzontologischen Ansichfürunsbeziehung zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand, so erkennen wir, daß die Verhältnisse hier klarer liegen als bei dem soeben behandelten Versuche der Immanenzontologie, die Grundthese ihrer Ueberschneidungslehre durch ein halbtranszendenzontologisches Zugeständnis zu retten. Die logischen Schwierigkeiten, in die wir bei diesem Rettungsversuche gerieten, hatten ihren Ursprung darin, daß bei ihm das normale Verhältnis zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand auf den Kopf gestellt wurde. Denn während sonst zwischen diesen letzteren beiden Faktoren das Verhältnis eines individualbegrifflichen Widerspruches bei allgemeinbegrifflicher partieller Identität herrscht, wurde in jenem Rettungsversuche zwischen ihnen ein Verhältnis individualbegrifflicher Identität bei allgemeinbegrifflichem Widerspruche konstruiert. In der Transzendenzontologie dagegen waltet jenes normale Verhältnis. Dementsprechend be-
Die Ueberschneidungsstruktur in der Transzendenzontologie
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steht hier zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand individualbegrifflich ein Widerspruch, während allgemeinbegrifilich zwischen ihnen eine partielle Identität herrscht. Betrachten wir zunächst jenes individualbegriffliche Verhältnis. Hier ist es die aus unseren Schlußerörterungen zu der immanenzontologischen Ueberschneidungslehre leicht verständliche Grundthese der Transzendenzontologie, daß die deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände, die wir immanenzontologisch als einen Teil der Außenwirklichkeit auffassen, nicht selbst zu der Außenwirklichkeit gehören, die wir in ihnen zu erfassen glauben, sich von dieser vielmehr individualbegrifflich unterscheiden. Sie sind nicht die von uns gemeinte Außenwirklichkeit. Sie stellen sie nur dar. Mit dieser ihrer Darstellungsfunktion aber spielen sie, wie wir bereits bei einer früheren Gelegenheit erkannt haben, die typische Rolle einer Meinungsbasis. Als solche liegen sie, vorbehaltlich einer späteren Korrektur dieses Begriffes, in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins und nur in diesem unmittelbar vor. Dagegen liegt ihr Meinungsgegenstand, die von ihnen dargestellte Außenwirklichkeit selbst unserem Bewußtsein niemals unmittelbar vor. Sie ist vielmehr von dem ontologischen Bezirke dieses letzteren jederzeit grundsätzlich abwesend. Hieraus ergibt sich zunächst eine neue Lage in Bezug auf die Lehre von der Ueberschneidung. Denn nach der transzendenzontologisehen Auffassung der Sachlage ist nunmehr der gesamte Bestand unserer Ueberschneidung und die aus ihm erdeutete scheinbare Außenwirklichkeit unserer Wahrnehmungen in Wahrheit ausschließlich bewußtseinswirklich. Und die Außenwirklichkeit selbst wird durch diese bewußtseinswirklichen Ueberschneidungsbestände nur allgemeinbegrifflich repräsentiert, ragt dagegen nicht individualbegrifflich in den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins hinein, sondern liegt vielmehr jenseits seiner Grenzen. Die von der Immanenzontologie proklamierte Ueberschneidung zwischen Außenwelt und Bewußtsein, welche innerhalb des Ueberschneidungsbezirkes eine individualbegriffliche Identität der zu beiden ontologischen Systemen gehörigen Bestände erfordert, findet hier also nicht statt. Bilden Außenwirklichkeit und Bewußtsein zwei individualbegrifflich voneinander gesonderte Bestandkomplexe, so können ihnen auch keine Bestände gemeinsam sein. Unter diesen Umständen verliert die immanenzontologische Deutung der Lehre von der Ueberschneidung ihre sachliche Grundlage. Nichtsdestoweniger besteht ein Analogon dieser Ueberschneidungslehre, wiewohl in anderer Wendung, innerhalb der Transzendenzontologie fort. Es wäre auch schlecht um 3*
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
die transzendenzontologische Sache bestellt, wenn dies nicht der Fall wäre. Denn der in der Ueberschneidungslehre beschriebene Sachverhalt ist in seiner Weise ohne Zweifel vorhanden. Niemand kann daran vorbeigehen, daß die Dinge, die wir als wirkliche sehen und tasten, die Schälle, die wir als wirkliche hören, usw. eine andere ontologische Bedeutung haben als bloße Phantasien, Träume, Halluzinationen oder sonstige Bewußtseinsbestände diesseits der Ueberschneidung. Es fragt sich nur, wie dieser Tatbestand zu deuten ist. Die Immanenzontologie deutete ihn dahin, daß die Ueberschneidungsbestände selber Außenwirklichkeitsbestände seien. Aber sie geriet damit, wie wir gesehen haben, in Schwierigkeiten. Die Transzendenzontologie deutet ihn anders. Wir erinnern uns aus unseren früheren Erörterungen über die allgemeine Struktur der Ueberschneidung, daß die immanenzontologische Form derselben nur einen besonderen Fall der intentionalen Ueberschneidungen überhaupt bildete. Dabei unterschieden wir verschiedene Stufen solcher intentionaler Ueberschneidungen und zeigten, daß auf einer von ihnen der als Ueberschneidungsbezirk zu charakterisierende Bestandkomplex nicht mehr in seiner Eigenwirklichkeit erfaßt wird, sondern als Vertreter von etwas Anderem gilt, welches Andere nicht durch die Wirklichkeit, sondern durch die Struktur jenes Komplexes repräsentiert wird. Zu dieser letzteren Art der Ueberschneidung, die wir als eine repräsentative bezeichnen können, gehört die transzendenzontologische Ueberschneidung. Ihr Wesen besteht darin, daß unsere Wahrnehmungsbestände zwar ontologisch zu dem wahrnehmenden Bewußtsein gehören, gnoseologisch aber nicht dieses, sondern die Außenwirklichkeit darstellen. Auch hier überschneiden sich zwei verschiedene Strukturzusammenhänge an identisch denselben Beständen. Aber von diesen Zusammenhängen ist nur der eine ein ontologischer; der andere dagegen ist ein gnoseologischer. Denn ihrer Wirklichkeit nach gehören unsere Wahrnehmungsbestände offenbar zu dem ontologischen Systeme unseres Bewußtseins, und zwar, wie die Transzendenzontologie feststellt, nur zu diesem. Dagegen gehören sie mit ihrem gnoseologischen Bedeutungsgehalte auch nach transzendenzontologischer Auffassung zu der Außenwirklichkeit, die sie darstellen. Bilden unsere Wahrnehmungsbestände so den Ueberschneidungsbezirk, der ihrem ontologischen und ihrem gnoseologischen Strukturzusammenhange gemeinsam ist, so wird, ähnlich wie in der Immanenzontologie, der Bezirk diesseits dieser Ueberschneidung durch jene anderen Bewußtseinsbestände gebildet, die, ohne die Außenwirklichkeit zu repräsentieren, innerhalb derselben Erlebniseinheit stehen.
Die Ueberschneidungsstruktur in der Transzendenzontologie
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Auf der anderen Seite hätte als Bezirk jenseits dieser Ueberschneidung die ontologisch zwar nicht vorhandene, von uns aber stets mitgemeinte und beliebig weit fortsetzbar zu denkende Erweiterung zu gelten, nach der sich unsere Wahrnehmungsrepräsentation der Außenwirklichkeit über den uns jeweils vorliegenden Teil hinaus in das Gebiet jenseits der Grenzen unseres ontologischen Bewußtseinsbezirkes hinein so weit erstreckt, wie es der von ihr repräsentierten und transzendenten Außenwirklichkeit entspricht. Denn auch wenn wir unsere Wahrnehmungen nur als eine Repräsentation der Außenwirklichkeit auffassen, so gehört es doch zu dem Sinne dieser Repräsentation, daß sie nicht an den Grenzen unseres jeweiligen Wahrnehmungsbezirkes, also etwa an den Grenzen unseres Sichtfeldes aufhört, sondern sich weit darüber hinaus in das Unbegrenzte erstreckt: ähnlich wie die von einem Gemälde repräsentierte Landschaft für uns nicht dort aufhört, wo sie einen Abschluß durch den Rahmen erhält, sondern als darüber hinaus in das Unbegrenzte ragend gedacht wird. Eine ähnliche nur repräsentative Ueberschneidung wie die hier geschilderte haben wir bei der Analyse der Fremdbewußtseinsrealisation kennen gelernt. Auch dort konnte von einer Ueberschneidung in dem Sinne, daß identisch dieselben Bestände ontologisch sowohl zu dem Bewußtsein des Einen als auch zu dem des Anderen gehörten, nicht die Rede sein. Das verbot sich durch das Prinzip der unbedingten wechselseitigen Geschlossenheit der Bewußtseinssysteme. Wohl aber fand auch dort eine repräsentative Ueberschneidung statt. Denn auf Grund der Außenkausalität des Fremdbewußtseins übermittelte dieses meinem eigenen Bewußtsein in Gestalt von Sprache, Schrift, Mienenspiel usw. Wahrnehmungen, welche ihrerseits für mich zu einer gnoseologischen Meinungsbasis für die zu verstehenden Fremdbewußtseinsvorgänge dienen konnten, ohne damit diese erschöpfen zu wollen. Wie verschieden im Uebrigen auch die Sachlage dort und hier sein mag, darin stimmen beide überein, daß sowohl das Fremdbewußtsein als nach transzendenzontologischer Auffassung die Außenwirklichkeit jenseits der ontologischen Grenzen des eigenen Bewußtseins liegt, daß diese beiden nichtsdestoweniger in ihrer Weise, wenn auch nicht in ihrer unmittelbaren Konkretheit, für uns erkennbar sind, und daß die für sie gültige Form der Ueberschneidung eine repräsentative ist. In dieser Hinsicht ist die auch von der Immanenzontologie nicht wegzuleugnende Transzendenz und Erkennbarkeit des Fremdbewußtseins ein Prototyp der Transzendenz und Erkennbarkeit der uns transzendenten Außenwirklichkeit an sich.
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Der hier geschilderte Unterschied zwischen der immanenzontologischen und der transzendenzontologischen Ueberschneidungslehre läßt sich übrigens auch aus dem von uns schon einmal gestreiften Gesichtspunkte einer Unterscheidung zwischen Ansichfürunsbeziehungen mit tatsächlich vorhandenem und solchen ohne tatsächlich vorhandenen Meinungsgegenstand beleuchten. Wenn nämlich der transzendenzontologische Meinungsgegenstand von seiner Meinungsbasis individualbegrifflich verschieden und die transzendenzontologische Ueberschneidung dementsprechend nur eine repräsentative ist, so geht daraus hervor, daß im Unterschiede zu dem transzendenzontologischen der immanenzontologische Meinungsgegenstand tatsächlich nicht vorhanden ist. Denn der Meinungsgegenstand der Immanenzontologie ist die Außenwirklichkeit der Wahrnehmungsbestände selbst. Aber diese Außenwirklichkeit besteht nicht. Dagegen gelten in der Transzendenzontologie unsere Wahrnehmungsbestände nicht selbst als außenwirklich, sondern repräsentieren nur eine individualbegrifflich von ihnen verschiedene und uns transzendente Außenwirklichkeit. Diese ist ihr Meinungsgegenstand; und sie allein ist nach der transzendenzontologischen Auffassung der Sachlage im Unterschiede zu der immanenzontologischen Auffassung der Außenwirklichkeit tatsächlich vorhanden. Die individualbegrifflichen Beziehungen zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand in der Transzendenzontologie sind also von den entsprechenden Beziehungen in der Immanenzontologie wesentlich verschieden. Jedoch ist nicht zu übersehen, daß die hier skizzierte Darlegung der transzendenzontologischen Ansichfürunsverhältnisse immer nur den Wert einer theoretischen Einsicht hat. Praktisch verfahren wir, auch wenn wir uns theoretisch auf einen anderen Standpunkt stellen, stets als Immanenzontologen. Denn auch wenn wir eingesehen haben, daß zwischen der von uns gemeinten Außenwirklichkeit und unseren Wahrnehmungsbeständen ein individualbegrifflicher Widerspruch besteht, so fahren wir doch kraft einer psychologischen Zwangsläufigkeit, die durch gewisse später noch zu erläuternde Umstände bedingt ist, nichtsdestoweniger fort, Wahrnehmungsbestände und Außen Wirklichkeit praktisch miteinander zu identifizieren. Nach wie vor behandeln wir also im Alltagsleben unsere Wahrnehmungsbestände so, als wären sie die von uns gemeinten Außenwirklichkeitsbestände selbst. Es geht uns hier auf dem Gebiete der Ontologie ähnlich, wie es uns auf dem Gebiete der Astronomie, um ein schon einmal von uns benutztes Beispiel wieder aufzunehmen, mit dem Auf- und Unter-
Die tr&nszendenzontologische Repräsentation
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gange der Sonne, des Mondes und der Sterne geht. Auch dort wissen wir theoretisch, daß die Bewegungen dieser Himmelskörper in Wirklichkeit andere sind als die von uns wahrgenommenen. Praktisch aber gehen sie für uns ebenso auf und unter, wie sie es in dem naiven Weltbilde der Primitiven tun. In beiden Fällen steht unsere praktische Deutung der Sachverhalte mit unserer theoretischen Einsicht in das Wesen dieser letzteren in Widerspruch. In beiden Fällen ist diese praktische Deutung nicht durch die Struktur des Meinungsgegenstandes selbst, sondern durch die Verhältnisse bedingt, unter denen unsere Wahrnehmungen als deutungserfüllte Meinungsbasen Zustandekommen. In beiden Fällen handelt es sich also um eine Verwechselung zwischen den Verhältnissen, die für das Erkenntnismittel gelten, und den in dem Erkenntnisgegenstande selbst bestehenden Verhältnissen. Und in beiden Fällen ist diese Verwechselung psychologisch zwangsläufig. Der weitere Verlauf unserer Erörterungen wird uns zeigen, daß diese psychologische Situation eine gewisse Bedeutung für den transzendenzontologischen Begriff der Erscheinung hat. Ueberblicken wir diese Erörterungen, so führen sie zu dem Ergebnisse, daß die transzendenzontologische Forderung eines individualbegrifflichen Widerspruches zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand eine grundsätzlich andere Form der Ueberschneidung und damit in der Ansichfürunsbeziehung zwischen Bewußtsein und Außenwelt wesentlich andere Verhältnisse schafft als die uns im Alltagsleben gewohnten immanenzontologischen, an die wir praktisch stets gebunden bleiben. Anders als mit den individualbegrifflichen stand es in jedem derartigen Ansichfürunsverhältnisse mit den allgemeinbegrifflichen Beziehungen zwischen der Meinungsbasis und ihrem Gegenstande. Denn im Unterschiede zu dem individualbegrifflich zwischen diesen beiden bestehenden Widerspruchsverhältnisse galt allgemeinbegrifflich für sie ein Verhältnis partieller Identität. Dieses letztere Verhältnis ist in der Transzendenzontologie auch für die allgemeinbegriffliche Beziehung zwischen Wahrnehmung und Außenwelt maßgebend. Im Gegensatze zu ihrem individualbegrifflichen Widerspruchsverhältnisse sind nämlich, wie uns der weitere Fortgang dieser Untersuchungen zeigen wird, die immanente Wahrnehmungswelt als Meinungsbasis und die transzendente Außenwirklichkeit als Meinungsgegenstand allgemeinbegrifflich nahe miteinander verwandt. Sie haben in dem früher von uns ausführlich behandelten Sinne an identisch demselben Bedeutungsgehalte gewisser ihnen eben deshalb gemeinsamer Allgemeinbegriffe teil.
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Die transzendenzontoiogischen Grundbegriffe
Auf dieser Begriffsgemeinschaft beruht die repräsentative Funktion unserer deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände. Denn logisch ist das Wesen jedes Repräsentierens darin begründet, daß an die Stelle des zu repräsentierenden Bestandes ein anderer tritt, der zwar individualbegrifflich von ihm verschieden ist, allgemeinbegrifflich aber in größerem oder geringerem Umfange dieselben Eigenschaften besitzt. Diese identischen Eigenschaften sind dann dasjenige, um dessenwillen die Vertretung stattfindet. Daher kommt ein solcher Bestand als Vertreter auch nur insoweit in Betracht, als seine Eigenschaften kraft jener Begriffsgemeinschaft dieselben sind wie die des durch ihn vertretenen Bestandes. Alle seine anderen Eigenschaften sowie sein eigener ontologischer Individualbestand dagegen sind, wie noch zu zeigen sein wird, von der Vertretungsfunktion ausgeschlossen. Dies übersehen zu haben, ist in Verbindung mit der von ihr vollzogenen individualbegrifflichen Identifikation zwischen unseren Wahrnehmungen und der Außenwirklichkeit ein weiterer Fehler der Immanenzontologie. Indem sie Wahrnehmung und Außenwelt ihrem ontologischen Bestände nach miteinander identisch setzt, setzt sie sie in demselben Akte auch ihrer Beschaffenheit nach miteinander gleich. Nach transzendenzontologischer Auffassung besteht zwischen unseren Wahrnehmungen und der transzendenten Außenwirklichkeit weder jene individualbegriffliche Identität noch diese allgemeinbegriffliche Gleichheit. Zwar sind in letzterer Hinsicht beiden gewisse Züge gemeinsam. Daneben aber besteht eine Fülle von anderen Zügen, durch die sie sich außer ihrer individualbegrifflichen Nichtidentität auch allgemeinbegrifflich und zwar sowohl tatsächlich als auch grundsätzlich voneinander unterscheiden. Und für den gnoseologischen Außenwirklichkeitswert unserer Wahrnehmungen sind nur jene Züge belangreich, nicht diese. Denn nur aus jenen können wir ermitteln, was in der Außenwirklichkeit als solcher besteht. Dagegen zeigen uns diese, was nur für unser Bewußtsein kennzeichnend ist. Man kann den zwischen Immanenz- und Transzendenzontologie in dieser Hinsicht waltenden Unterschied dahin charakterisieren, daß die transzendenzontologische Repräsentationsfunktion unserer Wahrnehmungen von der Immanenzontologie als ein Auftreten der repräsentierten Außenwirklichkeit selbst aufgefaßt wird. An die Stelle einer Aehnlichkeit im Sinne partieller allgemeinbegrifflicher Teilhabe wird von ihr Gleichheit im Sinne einer totalen solchen Teilhabe, und an die Stelle der allgemeinbegrifflichen Gleichheit individualbegriffliche Identität geschoben. Damit wird der Fehler begangen, der, wie wir gesehen haben, auf ontologischem Gebiete für jede echte Fiktion
Die Repräsentationsstruktur in einem Panorama
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typisch ist. Hätte es hiermit sein Bewenden, dh. würde diese Fiktion von uns als solche erkannt und behandelt, so wäre ein derartiges Verfahren logisch unverfänglich und praktisch innerhalb seiner Grenzen berechtigt. Aber das Charakteristikum der immanenzontologischen Fiktion ist es, daß sie unwissentlich vollzogen wird, daß also der fiktive Sachverhalt hier mit dem Ansprüche einer nicht nur fiktiv für uns, sondern ontologisch an sich bestehenden Tatsache auftritt. Darin liegt transzendenzontologisch beurteilt der Grundirrtum der Immanenzontologie. Der weitere Verlauf der vorliegenden Erörterungen wird uns zeigen, inwiefern dieser Irrtum der Immanenzontologie für den transzendenzontologischen Begriff der Erscheinung belangreich ist. In den hier beschriebenen individual- und allgemeinbegrifflichen Beziehungen zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand zeigen die transzendenzontologischen Strukturen keine Besonderheiten, die ihnen vor anderen Ansichfürunsverhältnissen eine Ausnahmestellung verschafften. Sie sind vielmehr ebenso normal wie diejenigen, die wir in unserem Beispiele von der Panoramadarstellung einer uns bekannten Landschaft kennen gelernt haben. Das gilt zunächst von den individualbegrifflichen Beziehungen. Wie dort die Darstellung der Landschaft zu dieser selbst, so steht unsere Wahrnehmungswelt zu der Außen Wirklichkeit individualbegrifflich in jenem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung, das wir als typisch für die logische Wechselbeziehung zwischen verschiedenen konkreten Beständen erkannten, und das in der ontologischen Systematik dieser letzteren die positive Form der Kontiguitätsbeziehung anzunehmen pflegte. Wir wiesen darauf hin, daß sich bei jener Landschaft diese Kontiguität in einer räumlichen Entfernung zwischen ihr und der farbenbedeckten Leinewand als der ontologischen Grundlage jener Panoramadarstellung ausdrückte. Ein ähnliches Raumverhältnis werden wir später zwischen den in unserer Wahrnehmung von uns gemeinten, uns aber transzendenten Außenwirklichkeitsbeständen und der ontologischen Grundlage unserer deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände selbst nachweisen. Mit anderen Worten: die individualbegriffliche Verschiedenheit zwischen der transzendenten Außenwirklichkeit und unseren Wahrnehmungen trägt grundsätzlich denselben Typus wie die individualbegriffliche Verschiedenheit zwischen einer wirklichen Landschaft und ihrer Darstellung in einem Panorama. Auch die von uns geschilderte repräsentative Ueberschneidungsstruktur der Transzendenzontologie findet sich, wenn wir uns auf den für diesen Fall notwendigen immanenzontologischen Standpunkt
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
stellen, als grundsätzlich dieselbe in unserer Panoramadarstellung' wieder. Denn auch in dieser überschneidet sich unser wahrnehmendes Bewußtsein nicht mit der wirklichen Landschaft, sondern es überschneidet sich, immer die immanenzontologische Auffassung der Sachlage vorausgesetzt, nur mit ihrer von uns erdeuteten Darstellung in dem Panorama, also nicht mit dem Meinungsgegenstande selbst, sondern nur mit seiner Repräsentation. Und diese Repräsentation hört auch hier ihrem Bedeutungsgehalte nach nicht da auf, wo der Verfertiger des Panoramas unser Sichtfeld aufhören läßt, sondern wird von uns als sich weit darüber hinaus in das Unbegrenzte erstreckend gedacht. Dieser über den Bereich des Panoramas hinausragende, nur gedachte Teil der Landschaftsdarstellung bildet hier den Bezirk jenseits der Ueberschneidung, die wahrgenommene Panoramadarstellung den Ueberschneidungsbezirk und die anderen Bestände unseres wahrnehmenden Bewußtseins den Bezirk diesseits der Ueberschneidung. Die Ueberschneidungsverhältnisse sind also bei einer solchen Panoramadarstellung grundsätzlich dieselben wie die in der Transzendenzontologie auftretenden Ueberschneidungsverhältnisse. Aehnlich steht es mit der Frage nach dem Nichtvorhandensein oder Vorhandensein des ontologischen Meinungsgegenstandes. Auch hier gleicht die transzendenzontologische Situation den Situationen in unseren Panoramabeispielen. Denn, wenn sich, wie wir sahen, die immanente Außenwirklichkeitsauffassung transzendenzontologisch beurteilt dadurch auszeichnet, daß ihr Meinungsgegenstand den ihm zugeschriebenen Bestand nicht hat, der transzendenzontologische Meinungsgegenstand dagegen als solcher vorhanden ist: dann entspricht die immanenzontologische Situation der Panoramadarstellung einer Phantasielandschaft; die transzendenzontologische der einer wirklich vorhandenen Landschaft. Wie nämlich in jenem Falle der eigentliche Meinungsgegenstand, die Außenwirklichkeit der Panoramadarstellung, nicht tatsächlich vorhanden ist, so ist als immanenzontologischer Meinungsgegenstand die Außenwirklichkeit unserer Wahrnehmungsbestände ebenfalls tatsächlich nicht vorhanden. Und wie bei der Panoramadarstellung einer wirklichen Landschaft diese als außenwirklicher Meinungsgegenstand jenseits des Panoramas tatsächlich besteht, so ist als transzendenzontologischer Meinungsgegenstand die jenseits unserer Bewußtseinswirklichkeit liegende Außenwirklichkeit an sich tatsächlich vorhanden. Auch nach dieser Hinsicht also sind die transzendenzontologischen Ansichfürunsverhältnisse mit den in jenen Panoramabeispielen waltenden Verhältnissen nahe verwandt.
Die Repräsentationsstruktur in einem Panorama
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Das Entsprechende gilt, wenn wir unser praktisches Verhalten jenen Panoramalandschaften gegenüber mit unserem praktisch immanenzontologischen Verhalten vergleichen. Denn, wie wir unsere Wahrnehmungsbestände praktisch kraft psychologischer Zwangsläufigkeit und trotz besserer Einsicht immer wieder mit der individualbegrifflich von ihnen verschiedenen Außenwirklichkeit restlos identifizieren, statt sie als bloße Repräsentationen dieser letzteren aufzufassen, so macht sich mit derselben psychologischen Zwangsläufigkeit auch in der Panoramadarstellung einer uns bekannten Landschaft praktisch der Eindruck geltend, daß diese Darstellung die uns bekannte Landschaft selber sei und nicht nur eine künstliche Repräsentation derselben. Hier wie dort findet die von uns geschilderte Verwechselung des psychologischen Erkenntnismittels mit dem ontologischen Erkenntnisgegenstande statt. Und hier wie dort macht sich diese Verwechselung mit psychologischer Zwangsläufigkeit geltend. Individualbegrifflich sind also die Ansichfürunsverhältnisse zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand in der Panoramadarstellung einer uns bekannten wirklichen Landschaft und die entsprechenden Ansichfürunsverhältnisse in der transzendenzontologischen Situation grundsätzlich dieselben. Irgendein auszeichnendes Merkmal kommt den letzteren nach dieser Richtung hin nicht zu. Aber auch allgemeinbegrifflich sind sie nahe miteinander verwandt. Denn sowohl in dem Falle der Panoramadarstellung als auch in dem Falle der transzendenzontologischen Situation findet in dem von uns beschriebenen Sinne eine auf allgemeinbegrifflichen Identitätsverhältnissen beruhende Repräsentation des Meinungsgegenstandes durch die Meinungsbasis statt, da in beiden Fällen die repräsentierende Meinungsbasis und der repräsentierte Meinungsgegenstand an dem Bedeutungsgehalte identisch derselben Allgemeinbegriffe teilhaben. Auf der anderen Seite freilich besteht nach dieser Hinsicht zwischen den beiden Fällen ein Unterschied, der, wenn nicht ontologisch, so doch erkenntnistheoretisch von Belang ist. Denn in dem Beispiele der Panoramadarstellung stand die von ihr repräsentierte wirkliche Landschaft immanenzontologisch innerhalb derselben Sichtwirklichkeit, nach deren Muster gnoseologisch auch die von uns erdeutete Panoramalandschaft aufgebaut war. Sie konnte uns daher ihrer Wahrnehmungsbeschaffenheit nach bekannt sein. Und sie war nach eben dieser Beschaffenheit der von uns scheinbar erschauten Panoramalandschaft bis zur Gleichheit ähnlich. Mit dem Verhältnisse zwischen unseren Wahrnehmungsbeständen und der von ihnen repräsentierten transzendenten Außenwirklichkeit an sich steht es anders.
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Denn diese letztere bildet, wie wir sehen werden, ein von unseren Wahrnehmungswelten artverschiedenes System. Ontologisch ist dieser Umstand, wie sich später zeigen wird, für das hier vorliegende Problem von verhältnismäßig geringem Belange. Erkenntnistheoretisch aber ist er wichtig. Wir können die transzendente Außenwirklichkeit nicht wahrnehmen. Und wir haben, wie noch gezeigt werden soll, auch Anlaß zu der Vermutung, daß sie in ihrem Eigenbestande weder die uns bekannten Wahrnehmungsbeschaffenheiten noch die Beschaffenheit anderer Bewußtseinsbestände trägt. Sie ist uns unter diesen Umständen nach ihrer unmittelbaren konkreten Eigenbeschaffenheit unbekannt. Demgemäß können wir uns, wie in dem weiteren Verlaufe dieser Untersuchung zu Tage treten wird, zu einer Charakteristik der transzendenten Außenwirklichkeit an sich auch keinerlei Begriffe bedienen, deren Bedeutungsgehalt eine Anschaulichkeit ihres Gegenstandes impliziert. Vielmehr bedarf es hierzu solcher Begriffe, deren Bedeutung an eine Anschaulichkeit ihres Gegenstandes nicht gebunden ist. An Begriffsbedeutungen dieser Art, deren Wesen uns später näher beschäftigen wird, haben nicht nur die Bestände der uns transzendenten Außenwelt, sondern, ihrer eigenen Anschaulichkeit unbeschadet, auch unsere Wahrnehmungsbestände teil. Und es läßt sich zeigen, daß unsere immanente Wahrnehmungswelt, wenn auch nicht durchgehend, so doch teilweise an dem unanschaulichen Bedeutungsgehalte identisch derselben Allgemeinbegriffe teil hat, wie die transzendente Außenwirklichkeit an sich. Nur um dieser allgemeinbegrifflichen Identität willen und nur insoweit, wie sie reicht, können unsere deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände als Repräsentanten der transzendenten Außenwirklichkeit betrachtet werden. Die ihnen mit dieser gemeinsamen allgemeinbegrifflichen Bedeutungsgehalte sind demnach der alleinige Gegenstand ihrer repräsentativen Funktion. Dagegen kommen alle anderen Allgemeinbegriffe, an deren Bedeutungsgehalte sie außerdem noch teilhaben, und im Besonderen die ihnen zukommenden Allgemeinbegriffe mit einem anschaulichen Bedeutungsgehalte für ihr transzendenzontologisches Repräsentationsverhältnis und daher für ihre gnoseologische Außenwirklichkeitsbedeutung nicht in Betracht, sind vielmehr ausschließlich auf das Konto ihrer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit zu schreiben. Aber wir können von diesen, wie gesagt, mehr erkenntnistheoretisch als ontologisch wichtigen Bezügen in dem hier vorliegenden Zusammenhange absehen. Unsere Erörterungen führen dann zu dem Ergebnisse, daß das Verhältnis zwischen unserer immanenten Wahr-
Die ontologische Grundlage der Wahrnehmungswelt
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nehmungswelt und der transzendenten Außenwirklichkeit, was die sachliche Struktur der Ansichfürunsbeziehung zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand betrifft, weder logisch noch ontologisch etwas Außergewöhnliches an sich hat. Es ist vielmehr sowohl nach individualbegrifflicher als auch nach allgemeinbegrifflicher Hinsicht mit einem entsprechenden Ansichfürunsverhältnisse, wie es in anderen uns bekannten Situationen und speziell in dem von uns gewählten Beispiele einer Panoramadarstellung vorkommt, nahe verwandt und gehört grundsätzlich demselben Strukturtypus an. Mit diesem Tatbestande ist aber, wie aus unseren früheren Erörterungen über die doppelseitige logische Konstitution des Ansichfürunsverhältnisses hervorgeht, nur die eine Seite der hier vorliegenden transzendenzontologischen Situation beschrieben. In Verbindung mit ihr hat diese letztere, wie wir wissen, noch eine andere Seite. Denn überall, wo ein Ansichfürunsverhältnis zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand besteht, da besteht in logischer Konsequenz auch ein korrelatives Ansichfürunsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage. Wir haben daher anzunehmen, daß ein Verhältnis dieser letzteren Art auch in der hier von uns behandelten transzendenzontologischen Situation impliziert ist. Besteht zwischen unserer immanenten Wahrnehmungswelt und der transzendenten Außenwirklichkeit ein individualbegriffliches Widerspruchsverhältnis bei partieller allgemeinbegrifflicher Identität, so dürfte in Verbindung damit umgekehrt ein allgemeinbegriffliches Widerspruchs Verhältnis bei individualbegrifflicher Identität zwischen unserer immanenten Wahrnehmungswelt und dem bestehen, was wir als ihre ontologische Grundlage zu betrachten haben. Erst nach einer Darstellung auch dieser Beziehungen könnte der hier unternommene Versuch einer allgemeinen Charakteristik der transzendenzontologischen Ansichfürunsverhältnisse zu einem vollständigen Bilde abgerundet werden. Allein schon die Aufsuchung der ontologischen Grundlage unserer immanenten Wahrnehmungswelt führt uns zu Problemstellungen, deren Beantwortung ein Hinausgehen über den hier von uns noch einzunehmenden Standpunkt erfordert. Vollends ist eine weitere Vertiefung in das Wesen der zwischen dieser Grundlage und unserer Wahrnehmung bestehenden Identitäts- und Widerspruchsbeziehungen nur vermittels eines genaueren Einblickes in die transzendenzontologische Struktur unseres Bewußtseins möglich. Zu einem solchen Einblicke aber sind wir noch nicht gerüstet. Wir müssen daher die Erörterung hier ab-
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
brechen, um sie in einem späteren Zusammenhange unserer Untersuchungen wieder aufzunehmen. Neben dem Begriffspaare Ansich und Füruns spielt in der Transzendenzontologie das andere Begriffspaar Ansich und Erscheinung eine Rolle. Näher zugesehen stellt dieses letztere Begriffspaar einen besonderen Fall der von uns behandelten Ansichfürunsbeziehung mit konkret vorliegender Meinungsbasis dar. Deshalb gibt es zwar mancherlei Meinungsbasen, die keine Erscheinungen sind; aber es gibt keine Erscheinung, die nicht eine Meinungsbasis wäre. Eine Erscheinung ist also stets ein in gnoseologischer Deutungserfüllung stehender und einem wahrnehmenden Bewußtsein konkret vorliegender Bestand, der als Meinungsbasis nur für uns besteht. An sich dagegen bestehen die mit jeder derartigen Meinungsbasis zusammenhängenden ontologischen Sachverhalte. Dementsprechend haben wir bei jeder Erscheinung zwischen dieser selbst, ihrem ontologischen Meinungsgegenstande und ihrer ontologischen Grundlage zu unterscheiden. Vorbehaltlich einer späteren Vertiefung unseres Begriffes der Erscheinung können wir zunächst das unterscheidende Artmerkmal, durch das sie sich anderen Formen der Meinungsbasis gegenüber auszeichnet, dahin bestimmen, daß wir bei einer Erscheinung auf die schon bezeichnete Weise mit psychologischer Zwangsläufigkeit an praktische Deutungen konkret vorliegender Bestände gebunden sind, auf Grund deren diese Bestände für etwas Anderes gehalten werden als für das, was sie ontologisch sind, und zwar ganz gleich, ob wir uns theoretisch über das Unzutreffende unserer Deutung im Klaren sind oder nicht. In diesem Sinne waren auch manche der bisher von uns schon behandelten Meinungsbasen zugleich Erscheinungen. Der Schein einer Erscheinung beruht also, wie die Falschheit der falschen Urteilsmeinungen, auf dem Widerspruche zwischen dem, was für uns ist, und dem, was an sich besteht. Nach alledem gehören zu einer Erscheinung zunächst die drei Hauptmerkmale jeder Meinungsbasis: nämlich erstens, daß ein konkreter Bestand anwesend ist, auf den sich eine ausgesprochene oder unausgesprochene Urteilsmeinung bezieht; zweitens, daß sich der Meinungsgegenstand, falls er überhaupt vorhanden ist, von dem jeweils vorliegenden Bestände individualbegrifflich unterscheidet; und drittens, daß die Meinungsbasis von diesem letzteren Bestände als von ihrer ontologischen Grundlage allgemeinbegrifflich verschieden ist. Sind der Erscheinung diese drei Merkmale mit jeder anderen Meinungsbasis gemeinsam, so unterscheidet sie sich von den letzteren,
Der Begriff der Erscheinung
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wie wir gesehen haben, dadurch, daß wir praktisch, auch gegen unser besseres Wissen, mit psychologischer Zwangsläufigkeit an sie gebunden sind. Aus diesem letzteren Merkmale geht hervor, daß sich eine Erscheinung von anderen Meinungsbasen nicht durch die ontologische bzw. logische Struktur der ihr zu Grunde liegenden Sachverhalte unterscheidet, sondern nur durch unsere psychologische und damit freilich, wie wir sogleich sehen werden, auch methodologische Stellungnahme zu diesen Sachverhalten, die durch gewisse noch genau zu erörternde Verhältnisse bedingt ist. Endlich sei noch ein fünftes Merkmal erwähnt: nämlich dies, daß zu dem Wesen aller Erscheinungen ihr Anspruch auf Außenwirklichkeit gehört. Die Gründe dieses Umstandes können jedoch hier noch nicht dargelegt werden. Sie werden in dem späteren Zusammenhange der vorliegenden Erörterung zu Tage treten. Diesen Maßgaben entsprechend sind, um auf jene früheren Beispiele zurückzugreifen, unsere Auffassungen der Senkrechten, der Bewegung von Himmelskörpern oder einer Panoramadarstellung typische Erscheinungen, da wir an unsere praktischen Deutungen dieser Gebilde, auch wider besseres Wissen, zwangsläufig gebunden sind. Ebenso sind Träume, die suggerierten Wahrnehmungen Hypnotisierter oder die Auditionen und Visionen von Halluzinanten Erscheinungen, da sich die Betroffenen praktisch darüber im Unklaren bleiben, daß den von ihnen wahrgenommenen Beständen die von ihnen beanspruchte Wirklichkeit nicht zukommt. Und aus demselben Grunde bezeichnet die Transzendenzontologie die deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände unserer immanenten Außenwirklichkeitsauffassung als Erscheinungen. Sie will damit besagen, daß diesen Beständen die Deutungen, mit denen wir sie erfüllen, nicht zukommen, daß wir uns aber dieser Deutungserfüllungen praktisch nicht erwehren können, selbst wenn wir uns theoretisch nicht auf den immanenzontologischen, sondern auf einen transzendenzontologischen Standpunkt stellen. Auf der anderen Seite ist, wie gesagt, nicht jede Meinungsbasis deshalb auch schon eine Erscheinung. Denn zu einer Erscheinung gehört eben außerdem noch der zwangsläufige Mangel an praktischer Einsicht in den wahren Sachverhalt. Und dieser Mangel tritt nicht bei allen Meinungsbasen auf. Vielmehr gibt es eine Fülle von Beständen, die wir auch ohne psychologische Zwangsläufigkeit durch Deutungserfüllung zu einer Meinungsbasis machen können. Solche Meinungsbasen sind eben damit keine Erscheinungen. So ist zwar das Panoramabild einer Landschaft eine Erscheinung; nicht mehr aber kann ich von einer Erscheinung sprechen, wenn ich dieselbe
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Landschaft in einer Photographie vor mir habe. Zwar kann ich mir auch diese Photographie als eine dreidimensionale Landschaft deuten; aber ihr gegenüber bin ich mir nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch darüber im Klaren, daß ich keine Landschaft vor mir habe, sondern eine Papierfläche. Oder es sind zwar die Bilder eines Traumes, einer Vision usw. Erscheinungen. Dagegen sind unsere Vorstellungen, auch wenn sie, wie es bei ausgeprägten Eidetikern der Fall ist, mit der greifbaren Lebhaftigkeit von Wahrnehmungen auftreten, keine Erscheinungen: solange wir uns nämlich nicht bloß theoretisch, sondern auch praktisch darüber klar sind, daß es sich nur um unsere bewußtseinswirklichen Vorstellungen handelt und nicht um außenwirkliche Bestände. Das charakteristische Merkmal einer Erscheinung besteht also in unserer zwangsläufigen Gebundenheit an die praktische Deutung eines uns vorliegenden Bestandes. Eine solche Gebundenheit ist aber von bestimmten Folgen für die psychologische Erfassung der Ansichfürunsbeziehungen begleitet, die zwischen jener Deutung als unserer Meinungsbasis und den zu dieser letzteren gehörigen ontologischen Gegengliedern bestehen. Diese Folgen wollen wir uns zunächst im Hinblicke auf die Beziehung zwischen der erscheinenden Meinungsbasis und dem von ihr gemeinten Gegenstande klarmachen. Wir können dabei an unsere frühere Erörterung über die von der Immanenzontologie unwissentlich vollzogene Fiktion anknüpfen. Der Unterschied, der zwischen dem Verhältnisse einer einfachen Meinungsbasis und dem Verhältnisse einer Erscheinung zu ihren beiderseitigen Meinungsgegenständen besteht, läßt sich nämlich, wenn man unsere mit der Erscheinung verbundene zwangsläufige psychologische Einstellung zu den Sachverhalten auf ihren methodologischen Wert prüft, als der typische Unterschied zwischen einer Vertretung und einer Fiktion charakterisieren. Vertretung und Fiktion sind methodologisch verschiedene Stellungnahmen zu identisch denselben Sachverhalten. Beide beruhen darauf, daß an die Stelle eines zu vertretenden Bestandes ein anderer tritt, der zwar individualbegrifflich von ihm verschieden ist, allgemeinbegrifflich aber bald in größerem, bald in geringerem Umfange dieselben Eigenschaften trägt. In dem Falle einer Vertretung wird dieses allgemeinbegriffliche Verhältnis lediglich als das betrachtet, was es tatsächlich ist. Dagegen wird in dem Falle der Fiktion, wie wir schon bei unseren Erörterungen über die logischen Grundlagen der Transzendenzontologie sahen, die partielle allgemeinbegriffliche Identität der beiden Bestände in eine totale
Die Vertretung und die Fiktion
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individualbegriffliche verkehrt. Oder anders ausgedrückt: in dem Falle der Vertretung wird der Vertreter mit dem Vertretenen nicht identifiziert, sondern nur als ihm in einem bestimmt zu umschreibenden Umfange gleichwertig betrachtet. Dagegen wird in dem Falle der Fiktion der Vertreter nicht als dem Vertretenen nur gleichwertig, sondern als mit ihm schlechthin identisch behandelt. Das Wesen der einfachen Vertretung kann man sich leicht an dem juristischen Begriffe des Vertreters in einem Rechtsgeschäfte klarmachen. Individualbegrifflich ist hier der Wille des Vertretenen von dem seines Vertreters verschieden. Nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit dagegen sind beide Willen insoweit gleich, als sie denselben Ablauf desselben Rechtsgeschäftes wollen. Diese Gleichheit wird durch die Vollmacht des Vertreters umschrieben. Daher ist der letztere mit Wirkung gegen den Vertretenen nur insoweit Vertreter, als seine Vollmacht reicht. In allen anderen Fragen dagegen kommt er für das Rechtsgeschäft, abgesehen von einer nachträglichen Zustimmung durch den Vertretenen, als Vertreter nicht in Betracht. Er wird also nicht mit dem Vertretenen schlechthin identifiziert, sondern ihm nur im Rahmen seiner Vollmacht gleichgestellt. Grundsätzlich ebenso verhält es sich mit der logischen Struktur jeder anderen Vertretung. Sie reicht immer nur soweit, wie die allgemeinbegriffliche Gleichheit zwischen dem Repräsentanten und dem Repräsentierten reicht. Dagegen verkehrt die Fiktion eine solche allgemeinbegriffliche Gleichheit in eine individualbegriffliche Identität beider. In diesem Sinne hat jede einfache Meinungsbasis den Wert einer Vertretung, jede Erscheinung dagegen den Wert einer Fiktion. Denn die einfache Meinungsbasis wird nicht als der von ihr vertretene Bestand selbst angesprochen, sondern gilt im Rahmen der Eigenschaften, die sie mit ihm gemeinsam hat, nur als ein Repräsentant dieses Bestandes. Dagegen ist es, wenn die Erscheinung vollendet ist, durch die mit ihr verbundene Zwangsläufigkeit unserer Deutung bedingt, daß wir den erscheinenden Bestand nicht etwa auch als den Repräsentanten eines anderen Bestandes auffassen, sondern ihn vielmehr auf Grund seiner allgemeinbegrifflichen Züge für den von ihm vertretenen Meinungsgegenstand selbst halten, ihn also mit diesem letzteren individualbegrifflich identifizieren. So ist unserem Beispiele die Panoramadarstellung eine echte Erscheinung, da wir hier in psychologischer Zwangsläufigkeit die Landschaft von ihrer Darstellung nicht mehr unterscheiden können, sondern beide ohne Einschränkung miteinander identifizieren, so daß wir in der Darstellung die Landschaft selbst zu erschauen glauben. Da4
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Die transzendenzontologischea Grundbegriffe
gegen ist das photographische Bild dieser Landschaft nur ihr repräsentierender Vertreter und nicht ihre Erscheinung. Denn jene Zwangsläufigkeit waltet bei einem solchen Bilde nicht ob. Vielmehr ist hier der individualbegriffliche Unterschied zwischen Bild und Landschaft auch für unsere praktische Wahrnehmung offensichtlich. Um unseren Einblick in die Bedeutung dieser Verhältnisse für die verschiedenen Typen der Erscheinung weiter zu vertiefen, wollen wir im Anschlüsse an unsere Unterscheidung zwischen Vertretung und fiktiver Identifikation eine größere Klarheit darüber zu gewinnen versuchen, welche Eigentümlichkeiten der mit dem Erscheinungscharakter von Meinungsbasen verbundenen psychologischen Zwangsläufigkeit zukommen, und welche ontologischen Situationen ihr zu Grunde liegen. Was zunächst das psychologische Wesen dieser Zwangsläufigkeit angeht, so liegt es, wie wir wissen, darin, daß unsere Deutungserfüllungen gewisser Meinungsbasen, soweit die Erfahrung des täglichen Lebens reicht, scheinbar weder durch bessere theoretische Einsicht, noch auch durch den Widerspruch mit anderen praktischen Erfahrungen korrigierbar sind. So sind wir an die dreidimensionale Deutung eines Spiegelbildes zwangsläufig gebunden, obwohl wir theoretisch wissen, daß das Bild nicht hinter, sondern auf der Spiegelfläche liegt, und obwohl wir uns praktisch hiervon durch einen Griff hinter die Spiegelfläche usw. überzeugen können. Die Deutungserfüllung anderer Meinungsbasen dagegen erweist sich als weniger stark und nicht zwangsläufig. So kann ich zB. im Gegensatze zu dem soeben genannten Spiegelbeispiele eine Photographie sowohl flächenhaft als auch in perspektivischer Tiefenwahrnehmung auffassen. Usw. Zwischen zwangsläufiger und nicht zwangsläufiger Deutung von Meinungsbasen besteht also in unserer Alltagspraxis ein offenbarer Unterschied. Dabei soll, um Mißverständnissen vorzubeugen, nicht geleugnet werden, daß zwischen der zwangsweisen und der nicht zwangsweisen Deutungserfüllung Annäherungen stattfinden und Uebergänge denkbar sind. So gibt es unter den nicht zwangsläufigen Deutungserfüllungen solche, die dem Versuche, sie zu beeinflussen, größeren Widerstand leisten als andere. Und es gibt zwangsläufige Deutungserfüllungen, die sich nach größerer oder geringerer Uebung innerhalb gewisser Grenzen modifizieren lassen. Ja, theoretisch wäre es denkbar, daß sich schließlich auch die scheinbar zwangsläufigen Deutungserfüllungen nach einer bestimmten Hinsicht insgesamt umstellen ließen. Dagegen wird, der weitere Verlauf dieser Erörterungen zeigen, daß sich nach
Die allgemeinen Bedingungen der Erscheinung
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einer anderen Hinsicht gewisse Deutungserfüllungen tatsächlich und einige unter ihnen auch grundsätzlich nicht umstellen lassen. Und in der Praxis, dh. in dem Bereiche der alltäglichen Erfahrung findet eine solche Umstellung fast nirgends statt. Unter diesen Umständen erweist sich in dem Rahmen unserer Praxis, und nur in diesem Rahmen treten Erscheinungen auf, die Unterscheidung zwischen zwangsläufiger und nicht zwangsläufiger Deutung als gerechtfertigt. Es gehört nicht zu den Aufgaben des vorliegenden Buches, der spezifisch psychologischen Begründung dieses Sachverhaltes nachzugehen. In dieser Hinsicht könnte man sich für die Zwangsläufigkeit der Erscheinungen etwa auf die phylogenetische Abstammung und die ontogenetische Entwicklung unseres Bewußtseins berufen. Auch wir werden an einem Punkte unserer Erörterungen genötigt sein, auf solche Erwägungen psychologischer Art zurückzugreifen. Denn letzten Endes ist das Wesen der Erscheinung eben psychologisch und nicht ontologisch bedingt. Wichtiger aber ist es für uns, daß die Zwangsläufigkeit oder Umstellbarkeit unserer Meinungsbasen in einer bestimmten Beschaffenheit der jeweils vorliegenden Situationen ihre ontologische Grundlage hat. Es zeigt sich nämlich, daß sich die Zwangsläufigkeit einer Meinungsbasis umso stärker geltend macht, je verwandter die ihr zu Grunde liegende ontologische Situation einer entsprechenden immanenzontologischen Situation ist, und daß umgekehrt die Umstellbarkeit einer Meinungsbasis eine umso höhere ist, je mehr die ihr zu Grunde liegende Situation von der entsprechenden immanenzontologischen Situation abweicht. Fragt man also, welche ontologischen Situationsverhältnisse als positive Instanzen für das Zustandekommen einer Erscheinung maßgebend sind, so lautet die Antwort, daß diese Instanzen auf einer Gleichartigkeit der betreffenden Meinungsbasis mit den Verhältnissen in der entsprechenden immanenzontologischen Situation beruhen. Umgekehrt beruhen die negativen Instanzen gegen das Zustandekommen einer Erscheinung auf den Abweichungen der betreffenden Meinungsbasis von der entsprechenden immanenzontologischen Situation. Das für die Zwangsläufigkeit unserer Deutungserfüllungen Maßgebende ist also die einer immanenzontologischen Struktur entsprechende Beschaffenheit der betreffenden Befunde. Oder anders gewendet: zwangsläufig sind für uns die Deutungserfüllungen unserer Meinungsbasen in dem Maße, in dem sie ihren grundlegenden Bedingungen nach mit den Deutungserfüllungen unserer immanenten Außenwelt verwandt sind. 4»
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Es geht hieraus hervor, daß das Prototyp aller Zwangsläufigkeit unserer Deutungen die Immanenzbestände selber sind. Daher erhebt sich nunmehr die Frage, worauf das beruht, warum gerade unsere immanenzontologischen Deutungen zwangsläufig sind, und welche ontologischen Situationsverhältnisse diese Zwangsläufigkeit bedingen. Die Antwort hierauf wird der spätere Verlauf dieser Erörterungen zu erteilen haben. Wenn man sich nun näher mit dem Wechselspiele der hier genannten positiven und negativen Instanzen in den unseren Meinungsbasen zu Grunde liegenden ontologischen Situationen beschäftigt, so findet man, daß die dort jeweils vorliegenden Bedingungen verschiedene Grundformen annehmen, und daß wir diesen verschiedenen Grundformen entsprechend verschiedene Typen der Erscheinung zu unterscheiden haben. Ich will zunächst versuchen, diese Typen und die ihnen zu Grunde liegenden Situationen im Einzelnen zu charakterisieren. Der erste Typus kennzeichnet sich dadurch, daß die der Meinungsbasis zu Grunde liegende Situation einer entsprechenden immanenzontologischen Situation zwar in einzelnen Hinsichten ähnlich ist, in anderen Hinsichten aber so erheblich von ihr abweicht, daß erkenntnispsychologisch eine einfache Gleichstellung beider Situationen ausgeschlossen wird. In einem solchfen Falle kommt eine Erscheinung nicht zustande, dh. die Meinungsbasis wird hier dem ihr entsprechenden immanenzontologischen Meinungsgegenstande weder allgemeinbegrifflich gleich geachtet noch individualbegrifflich mit ihm identisch gesetzt. Sie erhält vielmehr die Bedeutung einer einfachen auf Aehnlichkeit, nicht aber auf Gleichheit beruhenden Repräsentation des Meinungsgegenstandes. Das kann man sich leicht an dem schon berührten Repräsentationsverhältnisse zwi sehen einer wirklichen Land schaft und ihrer photographischen Wiedergabe klarmachen. Was in unserer Wahrnehmung das photographische Bild mit der immanenzontologischen Schau jener Landschaft gemeinsam hat, das sind in flächenhafter Projektion einmal die Größen-, Gestalt- und Raumordnungsverhältnisse und zweitens die Lichter und Schatten. Diese allgemeinbegrifflichen Eigenschaften kehren als identisch dieselben an der wirklichen Landschaft, wie wir sie immanenzontologisch erschauen, und an der Photographie wieder. Dagegen stehen die anderen Eigenschaften der Photographie mit denen der wirklichen Landschaft nicht nur für unsere theoretische Erkenntnis, sondern auch für unsere praktische Wahrnehmung in
Die einfache Repräsentation
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Widerspruch. Denn einmal sind zwar die relativen Größenverhältnisse innerhalb der Photographie dieselben wie die relativen Größenverhältnisse innerhalb der Landschaft, nicht aber die sogenannten absoluten Größenverhältnisse zwischen beiden. Vielmehr ist offenbar, daß die Photographie Alles in einem erheblich verkleinerten Maßstabe bringt. Ferner ist in ihr die flächenhafte Projektion ohne Weiteres erkennbar, während sich die immanenzontologische Schau der Landschaft selbst mit psychologischer Zwangsläufigkeit als dreidimensionaler Raum gibt. Außerdem fehlen die Farben in der Photographie. Usw. Diese allgemeinbegrifflichen Unterschiede stehen innerhalb unserer praktischen Wahrnehmungsdeutung selber einer individualbegrifflichen Identifikation des Bildes mit der wirklichen Landschaft, wie sie für das Wesen der Erscheinung charakteristisch ist, im Wege. Denn mit einem anderen Bestände für individualbegrifflich identisch kann nur derjenige Bestand gehalten werden, dessen allgemeinbegriffliche Eigenschaften für ebenfalls identisch mit denen jenes anderen Bestandes gehalten werden. Und das findet hier nicht statt. Mit anderen Worten: der innerhalb unserer Wahrnehmung auftretende allgemeinbegriffliche Widerspruch ihrer Beschaffenheiten verhindert die individualbegriffliche Identifikation zwischen dem Repräsentanten und dem Repräsentierten. Daher bedienen wir uns in solchen Fällen des schlichten Vertretungsverhältnisses und vermeiden die der Erscheinung eigentümliche Fiktion. Die an diesem Beispiele veranschaulichte ontologische Situation ist für unsere Problemstellung insofern bemerkenswert, als sie, wie wir sogleich sehen werden, die einzige ist, in der das Zustandekommen einer Erscheinung grundsätzlich ausgeschlossen ist, und die einzige, in der das Repräsentationsverhältnis der Meinungsbasis zu ihrem Gegenstande offen zu Tage liegt. Denn offenkundig ist dieses letztere Verhältnis nur dann, wenn die Beschaffenheit der Meinungsbasis von der ihres Gegenstandes so erheblich abweicht, daß eine allgemeinbegriffliche Gleichstellung und infolgedessen auch eine individualbegriffliche Identifikation beider von vornherein nicht in Frage kommt. Oder anders ausgedrückt: ein bloßes Repräsentationsverhältnis zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand ist innerhalb unserer Wahrnehmungspraxis nur dann vollständig durchsichtig und das Zustandekommen einer Erscheinung ist nur dann nach jeder Richtung hin ausgeschlossen, wenn die der Meinungsbasis zu Grunde liegende ontologische Situation der ihr entsprechenden immanenzontologischen Situation nur in einigen Zügen als ähnlich, in anderen Zügen aber als
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
wesentlich von ihr verschieden aufgefaßt wird. Diese allgemeinbegriffliche Verschiedenheit bildet hier die Gegeninstanz gegen das Zustandekommen einer Erscheinung. Fällt diese Gegeninstanz fort, ist also die der Meinungsbasis zu Grunde liegende Situation der ihr entsprechenden immanenzontologischen Situation annähernd oder vollständig gleich, so ist eben damit das Zustandekommen einer Erscheinung auch schon verbürgt: allerdings, wie wir sogleich sehen werden, mit charakteristischen Unterschieden. Das wird deutlich, wenn wir zu dem zweiten der hier zu behandelnden Erscheinungstypen übergehen. Das Charakteristikum dieses Erscheinungstypus liegt darin, daß auf der einen Seite die der Meinungsbasis zu Grunde liegende Situation der entsprechenden immanenzontologischen Situation annähernd oder vollständig gleicht; daß aber auf der anderen Seite innerhalb desselben Wahrnehmungsfeldes andere Bestände auftreten, die als Gegeninstanzen einer Identifikation der Meinungsbasis mit immanenzontologischen Beständen im Wege stehen. Auf Grund einer solchen Situation machen sich eigentümliche und für die Struktur der Erscheinungen lehrreiche Verhältnisse geltend, deren Wesen man sich an unserer alltäglichen Behandlung der Spiegelbilder veranschaulichen kann. Bei einem guten Spiegel liegen alle Bedingungen für eine dreidimensionale Tiefendeutung des Spiegelbildes im Sinne der immanenzontologischen Außenwirklichkeitsauffassung vor. Hier ist also die dem Spiegelbilde zu Grunde liegende Situation ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit nach der entsprechenden immanenzontologischen Situation in unserer Sichtwirklichkeit gleichartig. Infolgedessen würde sich die Schau des Spiegelbildes, wenn nur die Spiegelfläche als solche für uns in Frage käme, von einer entsprechenden Schau in der immanenten Sichtwirklichkeit nicht unterscheiden. Und in der Tat wird von uns bei einem solchen Spiegel die gleiche dreidimensionale Deutung mit der gleichen psychologischen Zwangsläufigkeit vollzogen wie bei der immanenten Sichtwirklichkeit selber. In diesem Vollzuge liegt der Erscheinungscharakter solcher Spiegelbilder, der auf Grund der geschilderten Gleichartigkeit zwischen Meinungsbasis und Meinungsgegenstand insoweit tatsächlich zustandekommt. Wäre unser ganzes Wahrnehmungsfeld von einer solchen Spiegelfläche ausgefüllt, dann wäre diese Erscheinung in sich vollendet. Gewöhnlich aber ist das nicht der Fall. Vielmehr pflegen neben der Spiegelfläche auch noch andere Bestände in unserem Wahrnehmungsfelde aufzutreten. Diese letzteren Bestände aber geraten dann mit
Die gehemmte Erscheinung
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einer immanenzontologischen Deutung unseres Spiegelbildes in Widerspruch und verhindern es als Gegeninstanzen gegen die Vollendung der Erscheinung, daß wir das in Tiefenanschauung erfaßte Spiegelbild mit der übrigen Wahrnehmungswelt ringsum, also zB. mit dem Zimmer, in dem der Spiegel hängt, ontologisch auf dieselbe Stufe stellen. Gegeninstanzen dieser Art werden zB. durch den Rahmen und die Aufhängung des Spiegels geschaffen. In demselben Sinne wirken die in dem Spiegelbilde auftretenden Verdoppelungen der vor dem Spiegel befindlichen Gegenstände. Auch brauchen wir nur die Spiegelfläche zu berühren oder hinter die Spiegelfläche zu greifen, um uns von der immanenzontologischen NichtWirklichkeit unserer dreidimensionalen Deutung des Spiegelbildes zu überzeugen. Usw. Alle diese innerhalb desselben Wahrnehmungsfeldes auftretenden und unserer Spiegeldeutung widersprechenden Bestände haben den Wert von Gegeninstanzen gegen die Vollendung der hier vorliegenden Erscheinung, indem sie unbeschadet der allgemeinbegrifflichen Gleichheit zwischen Spiegelbild und Außenwelt eine individualbegriffliche Identifikation beider praktisch verhindern. Dringen wir in diese Situation etwas tiefer ein, so erkennen wir leicht, worauf der Widerspruch der als Gegeninstanzen auftretenden anderen Bestände innerhalb desselben Wahrnehmungsfeldes beruht. Dieser Widerspruch gilt nicht unserer auf seiner allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit fußenden dreidimensionalen Deutung des Spiegelbildes, sondern lediglich der individualbegrifflichen Eingliederung dieser Deutung in den naturgesetzlichen Zusammenhang der Außenwelt. Nicht dem wird widersprochen, daß ich das Spiegelbild so schauen dürfe, daß diese Schau einer entsprechenden Außenwirklichkeitssituation gleicht, sondern dem, daß ich meine Schau nun auch in den realen Systemzusammenhang der immanenten Außenwirklichkeit hineinstelle, indem ich ihr einen Ort in dem Wirklichkeitsraume hinter dem Spiegelglase anweise. Mit anderen Worten: der Widerspruch der hier in demselben Wahrnehmungsfelde auftretenden Gegeninstanzen läßt die allgemeinbegriffliche Gleichstellung der Meinungsbasis mit der immanenten Außenwelt unangetastet. Dagegen verhindert er eine individualbegriffliche Identifikation beider. An diesem Sachverhalte wird der charakteristische Unterschied zwischen dem hier behandelten Erscheinungstypus und dem zuvor von uns besprochenen Repräsentationsverhältnisse, wie wir es uns an dem Beispiele der Landschaft und ihrer Photographie vergegenwärtigten, deutlich. In beiden Situationen kommt eine individualbegriffliche Identifikation der Meinungsbasis mit dem ihr entsprechenden
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
außenwirklichen Sachverhalte nicht zustande. Aber dort trug die Meinungsbasis eine andere allgemeinbegriffliche Beschaffenheit als ihr außenwirklicher Gegenstand. Daher kam es dort weder zu einer allgemeinbegrifflichen Gleichstellung noch zu einer individualbegrifflichen Identifikation beider. Hier dagegen tragen Meinungsbasis und Außenwelt dieselbe Beschaffenheit. Daher werden beide allgemeinbegrifflich einander gleichgestellt, und nur ihre individualbegriffliche Identität wird bestritten. Wir kommen auf diesem letzteren Wege zu dem eigentümlichen Typus derjenigen Erscheinungen, die wir als gehemmte bezeichnen können. Das Wesen solcher gehemmten Erscheinungen ist für die Struktur aller Erscheinungen überhaupt, also nicht nur für die der gehemmten sondern auch für die der vollendeten, insofern lehrreich als es an ihnen offenbar wird, daß alle Erscheinungen zwei verschiedene Seiten haben. Dabei ist die erste dieser beiden Seiten von der zweiten unabhängig und kann infolgedessen auch ohne sie auftreten. Dagegen ist die zweite von der ersten abhängig und in ihrem Auftreten an diese gebunden. Die erste der beiden Seiten stützt sich ausschließlich auf die allgemeinbegriffliche Beschaffenheit der uns in der Meinungsbasis vorliegenden ontologischen Situation und kommt dementsprechend auch lediglich in der allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit unserer Deutungserfüllung zum Ausdrucke. Unser Beispiel hierfür war die perspektivische Tiefendeutung der Spiegelbilder. Nach dieser Seite hin ist die hier von uns behandelte Art der Erscheinung nicht gehemmt, sondern vollendet. Die andere Seite betrifft die individualbegriffliche Identifikation einer solchen allgemeinbegrifflichen Deutungserfüllung mit einer ihr gleichgearteten immanenzontologischen Außenwirklichkeitssituation. Diese Seite der Erscheinung, die die Vollendung der ersten Seite voraussetzt, ist in unserem Falle, wie es in jenem Beispiele die Nichtaußenwirklichkeit der Spiegelbilder zeigte, gehemmt und nicht vollendet. Der Grund dieser Hemmung liegt bei dem hier behandelten Erscheinungstypus darin, daß die in ihm vorliegende Meinungsbasis zwar für sich allein genommen, nicht aber nach ihrem naturgesetzlichen Zusammenhange mit den anderen Beständen desselben Wahrnehmungsfeldes einer entsprechenden immanenzontologischen Situation gleichartig ist. Für sich allein genommen hatte unser Spiegelbild eine solche Gleichartigkeit; und die in unserem Wahrnehmungsfelde liegende Umgebung des Spiegelbildes war mit einer Außenwirklichkeitssituation nicht nur gleichartig, sondern sogar identisch. Aber zwischen jenem
Die gehemmte Erscheinung
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Spiegelbilde und dieser Umgebung waltete nicht der räumliche und naturgesetzliche Zusammenhang, der für jede immanenzontologische Außenwirklichkeitssituation charakteristisch ist. Deshalb war trotz jener Umstände unser Gesamtwahrnehmungsfeld einer entsprechenden Außenwirklichkeitssituation nicht gleichartig. An dieser Ungleichartigkeit fand der Erscheinungscharakter des Spiegelbildes seine Hemmung. Eine vollendete Gleichartigkeit ist also erforderlich, wenn das gesamte Wahrnehmungsfeld einschließlich'unserer Meinungsbasis mit der immanenten Außenwirklichkeitssituation identifiziert werden soll. Denn mit der Außenwirklichkeit identisch kann immer nur dasjenige gesetzt werden, was sich als nach jeder Richtung mit dieser übereinstimmend erweist. Erstreckt sich eine solche Uebereinstimmung auf unsere Meinungsbasis aber nur so weit, als man diese für sich selber nimmt, hört dagegen auf, wenn man ihren Zusammenhang mit den übrigen Beständen des Wahrnehmungsfeldes in Rechnung zieht, so gelangen wir zu dem eigentümlichen Typus der gehemmten Erscheinung, den wir hier beschrieben haben. Das Wesen einer solchen gehemmten Erscheinung kennzeichnet sich nach alledem als eine Erfüllung der für den allgemeinbegrifflichen, dagegen nicht als eine Erfüllung der für den individualbegrifflichen Charakter einer Erscheinung notwendigen Bedingungen. Allgemeinbegrifflich sind diese Bedingungen bei ihr erfüllt. Denn die ihrer Meinungsbasis selbst zu Grunde liegende ontologische Situation ist der Beschaffenheit nach einer entsprechenden immanenzontologischen Situation gleich. Daher wird hier eine der immanenzontologischen gleichartige Deutung mit psychologischer Zwangsläufigkeit vollzogen. Unter diesen Umständen zeigt der hier behandelte Typus der gehemmten Erscheinung in allgemeinbegrifflicher Beziehung dieselben Eigenschaften wie eine vollendete Erscheinung. Dagegen zeigt er diese Eigenschaften nicht in individualbegrifflicher Beziehung. Denn da seine Meinungsbasis mit dem naturgesetzlichen Zusammenhange des ihr zugehörigen Wahrnehmungsfeldes in Widerspruch steht, so kann sie innerhalb der Systematik dieses Feldes, insofern es als außenwirklich betrachtet wird, auch keine Stelle finden. Sie kann daher individualbegrifflich mit der entsprechenden Außenwirklichkeitssituation nicht identifiziert werden. Nach dieser Richtung hin ist ihr Erscheinungscharakter nicht vollendet, sondern in seiner Vollendung gehemmt. Von diesem Typus der gehemmten wenden wir uns zu einem dritten Typus, dem der vollendeten aber hemmbaren Erscheinung.
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Zu einem solchen Erscheinungstypus gelangen wir, wenn innerhalb desselben Wahrnehmungsfeldes alle unserer Deutung der Meinungsbasis widersprechenden anderen Bestände als Gegeninstanzen beseitigt sind. Ist dies der Fall, so wird auf Grund unserer immanenzontologischen Praxis die Deutungserfüllung der Meinungsbasis nicht nur der Deutungserfüllung einer entsprechenden Außenwirklichkeitssituation allgemeinbegrifflich gleichgestellt; sondern es werden auch individualbegrifflich beide Situationen restlos miteinander identifiziert. Man kann sich diesen Typus der Erscheinung dadurch veranschaulichen, daß man das von uns gewählte Spiegelbeispiel in geeigneter Weise abändert. Alle einer individualbegrifflichen Identifikation des Spiegelbildes mit der Außenwirklichkeit widersprechenden Wahrnehmungsbestände mögen beseitigt sein. Es möge etwa eine ganze Wandfläche von dem betreffenden Spiegel eingenommen werden, und wir mögen seitwärts stehend nicht uns selbst, sondern nur den Zimmerraum in dem Spiegel erschauen. Auch sei der Zimmerraum so hergerichtet, daß wir nicht durch die Wiederkehr derselben Möbel in dem Spiegelbilde auf den wahren Sachverhalt aufmerksam werden. Usw. Sind alle derartigen Vorkehrungen getroffen, so wird nunmehr das Spiegelbild mit psychologischer Zwangsläufigkeit nicht nur in Bezug auf die allgemeinbegriffliche Beschaffenheit seiner Deutung sondern auch in Bezug auf ihre individualbegriffliche Außenwirklichkeitsauffassung zu einer ungehemmten und vollendeten Erscheinung. Zu dem Typus dieser letzteren gehört also nur dies, daß innerhalb desselben Wahrnehmungsfeldes alle Gegeninstanzen gegen das Zustandekommen einer Erscheinung beseitigt sind. Die diesem Felde zu Grunde liegende Situation ist dann von einer entsprechenden immanenzontologischen Situation nicht mehr unterscheidbar und wird daher allgemeinbegrifflich und individualbegrifflich mit einer solchen identifiziert. Eine auf diese Weise zustandegekommene Erscheinung ist ungehemmt. Sie ist aber nicht unhemmbar. Das liegt daran, daß ihre Vollendung an ein bestimmtes Wahrnehmungsfeld gebunden ist. Aendere ich dieses Wahrnehmungsfeld, so ist die Vollendung einer solchen Erscheinung aufgehoben, und an ihre Stelle tritt der Typus der gehemmten Erscheinung. So brauche ich in unserem Beispiele nur auf das Spiegelbild loszugehen und an das harte Glas zu stoßen, um meine Identifikation des Spiegelbildes mit der immanenten Außenwirklichkeit und damit den individualbegrifflichen Teil der Erscheinung zu vernichten, während meine dreidimensionale Ausdeutung des Spiegelbildes und damit der allgemeinbegriffliche Teil der Erscheinung bestehen bleibt.
Die vollendete aber hemmbare Erscheinung
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Bemerkenswert ist, daß infolge dieser Umstände bei dem hier vorliegenden Erscheinungstypus auch eine nur theoretische Kenntnisnahme von dem ontologischen Sachverhalte genügt, um den gleichen Erfolg zu erzielen. Dabei ist es, wie wir bald sehen werden, allerdings erforderlich, daß wir uns der Möglichkeit bewußt sind, den nur theoretisch zu unserer Kenntnis kommenden wahren Sachverhalt jederzeit auch praktisch verifizieren zu können. Um uns eine solche Lage zu vergegenwärtigen, wollen wir den Fall fingieren, wir stünden vor jener Spiegelwand, ohne den wahren Sachverhalt durchschaut zu haben, würden aber von anderer Seite theoretisch über ihn aufgeklärt. Eine solche Aufklärung hätte für unsere Behandlung der Situation einen ähnlichen Erfolg wie unsere eigene praktische Feststellung der Sachlage. Wir würden zwar nicht tatsächlich auf die Spiegelwand gestoßen sein; aber wir würden wissen, daß wir nur einige Schritte zu tun brauchten, um auf sie zu stoßen. Wir wären uns darüber klar, daß der Bedeutungsgehalt jener theoretischen Mitteilung für unser Verhalten praktische Konsequenzen hat. Denn einer Glasscheibe gegenüber müssen wir uns praktisch anders verhalten als einer Verlängerung des Zimmers in den Spiegelraum hinein. Daher würden wir auf Grund eines solchen theoretischen Wissens von einer ontologischen Behandlung des Spiegelraumes in demselben Sinne praktisch Abstand nehmen, wie wir das bei einer von vornherein gehemmten Erscheinung tun. Mit anderen Worten: um eine in sich vollendete Erscheinung zu hemmen und damit ihre individualbegriffliche Identifikation mit der gleichwertigen Außenwirklichkeitssituation zu verhüten, genügt nicht nur eine praktische Verifikation des ontologischen Sachverhaltes, sondern auch schon ein theoretisches Wissen um solche Verifikationsmöglichkeiten, selbst wenn wir von diesen Möglichkeiten keinen tatsächlichen Gebrauch machen. Dagegen genügt, wie wir im Folgenden erkennen werden, ein nur theoretisches Wissen um den ontologischen Sachverhalt zu einer Hemmung der Erscheinungen nicht, wenn uns die praktischen Verifikationsmöglichkeiten versagt sind. Das tritt deutlich zu Tage, wenn wir nunmehr zu einem vierten Erscheinungstypus übergehen. Dieser Typus zeichnet sich dadurch aus, daß uns jede Möglichkeit, ihn innerhalb unserer praktischen Wahrnehmung zu hemmen, de facto benommen ist. Wir können ihn daher als den vollendeten und tatsächlich unhemmbaren Erscheinungstypus bezeichnen. Die damit gekennzeichnete Eigentümlichkeit dieses Erscheinungstypus beruht darauf, daß wir bei ihm sowohl an unsere
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
allgemeinbegriffliche Deutung der Meinungsbasis als auch an deren individualbegriffliche Identifikation mit der Außenwirklichkeit jederzeit und daher nicht nur für bestimmte sondern für alle uns zu Gebote stehenden Wahrnehmungsfelder überhaupt praktisch gebunden sind. Dabei hat eben dieser letztere Umstand die Folge, daß einem solchen Erscheinungstypus gegenüber nunmehr auch eine ihm widersprechende theoretische Einsicht auf unsere individualbegriffliche Identifikation derartiger Erscheinungen mit den immanenten Außenwirklichkeitsbeständen in dem Rahmen unserer Wahrnehmungspraxis ohne Einfluß bleibt. Denn, wenn ein solcher Erscheinungstypus in allen uns zu Gebote stehenden Wahrnehmungsfeldern erhalten bleibt, dann haben wir auch keine Möglichkeit, eine dieser Erscheinung widersprechende theoretische Einsicht praktisch zu verifizieren. Ein anschauliches Beispiel für diesen auch transzendenzontologisch wichtigen Typus der Erscheinung bietet trotz gewisser Abweichungen, die wir hier übergehen wollen, unsere Wahrnehmungsauffassung von der Bewegung der Himmelskörper, auf deren Widerspruch zu unseren eigenen theoretischen Einsichten wir schon hingewiesen haben. Theoretisch wissen wir, daß sich die Erde um ihre Axe dreht. In unserer praktischen Wahrnehmungsdeutung aber gehen statt der Erdbewegung Sonne, Mond und Sterne für uns auf und unter. Dabei behandeln wir diese unsere Auffassung der Sachlage nicht nur als eine Deutung allgemeinbegrifflicher Art, an die wir mit psychologischer Zwangsläufigkeit gebunden sind, der wir aber keinen Außenwirklichkeitswert zuschreiben; sondern wir identifizieren unsere Wahrnehmungsauffassung auch individualbegrifflich mit dem außen wirklichen Sachverhalte selber. Der Erscheinungscharakter ist hier also anders beschaffen als in dem Beispiele von der Spiegelwandfläche, wo ein einfaches theoretisches Wissen um den ontologischen Sachverhalt genügte, um die Außenwirklichkeitsauffassung der Erscheinung aufzuheben. Eine entsprechende theoretische Einsicht fehlt auch bei unserer Wahrnehmung jener Gestirnbewegungen nicht. Aber auf unsere immanenzontologische Praxis übt eine solche Einsicht in diesem Falle keine Wirkung aus. Der Grund hierfür liegt darin, daß wir, anders als in jenem Spiegelbeispiele, der Bewegung der Himmelskörper gegenüber keine Möglichkeit haben, unsere theoretische Einsicht in dem Bereiche unserer praktischen Alltagserfahrung zu verifizieren. Wir müßten, um die astronomischen Bewegungsverhältnisse unserer theoretischen Einsicht entsprechend auch praktisch wahrzunehmen, einen anderen kosmischen Standpunkt einnehmen können als den von uns tatsächlich eingenommenen. Dazu aber sind wir nicht imstande. Aus diesem
Die vollendete und tatsächlich unhemmbare Erscheinung.
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Grunde tritt in dem Bereiche unserer immanenzontologischen Praxis die von uns wahrgenommene Bewegungserscheinung der Himmelskörper nicht nur in einem bestimmten Wahrnehmungsfelde und unter bestimmten Bedingungen auf, sondern in jedem Wahrnehmungsfelde und unter allen Bedingungen, unter denen solche Himmelskörper überhaupt wahrgenommen werden. Daher hat hier unsere diesen Wahrnehmungen widersprechende theoretische Einsicht nicht dieselbe Bedeutung einer hemmenden Gegeninstanz, wie in dem Falle jenes Spiegelbeispieles. Da der hierdurch bedingte Typus der unhemmbaren Erscheinung für den transzendenzontologischen Erscheinungsbegriff nicht ohne Bedeutung ist, so will ich mich über die in unserem Beispiele waltende Situation noch etwas näher erklären. Aus der Literatur über die Relativität der Bewegung ist bekannt, daß dieser letztere Begriff auf die Raumbeziehungen zwischen Punkten oder Beständen geht, deren Abstände sich in der Zeit ändern. Es ist auch bekannt, daß es an und für sich in unserem Belieben liegt, ob wir einen unter diesen Punkten oder Beständen als den ruhenden bezeichnen, und welchen wir in diesem Sinne auszeichnen wollen. In der Begriffsbildung des täglichen Lebens pflegen wir dabei die Regel zu befolgen, daß wir ceteris paribus den größten von mehreren sich relativ zueinander bewegenden Beständen als ruhend bezeichnen, die kleineren als bewegt. Dabei kann nun eine charakteristische Umkehrung zwischen dem auftreten, was in unserem Wahrnehmungsfelde als dem psychologischen Erkenntnismittel, und dem, was in der wahrzunehmenden Außenwirklichkeit selbst als dem von uns gemeinten ontologischen Erkenntnisgegenstande das Größere ist. Denn das in unserem Wahrnehmungsfelde Größere kann außenwirklich das Kleinere sein und umgekehrt. Wir haben dann den Eindruck, daß sich das tatsächlich Ruhende bewegt, und daß das sich tatsächlich Bewegende ruht. Eine solche Wahrnehmungsweise hat den Wert einer durch eine falsche Urteilsmeinung beeinflußten Wirklichkeitsauffassung. Denn unsere eigentliche Meinung über solche Bewegungen ist nicht auf die tatsächlich von uns beurteilten Vorgänge in unserem Wahrnehmungsfelde als dem nur zu unserem Bewußtsein gehörigen psychologischen Erkenntnismittel gemünzt, sondern auf die tatsächlich nicht von uns beurteilten Vorgänge in der wahrzunehmenden Außenwirklichkeit selbst als dem ontologischen Erkenntnisgegenstande. Wir verwechseln also einen uns unmittelbar vorliegenden Sachverhalt mit einem von uns gemeinten andersartigen Sachverhalte. Insofern stellt die einer solchen Urteilsmeinung entsprechende Wahrnehmungsdeutung
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eine typische Meinungsbasis, und, da es sich hier um eine psychologisch zwangsläufige Deutung handelt, eine Erscheinung dar. Ist dies aber der Fall, so erhebt sich nunmehr für uns die Frage, ob die hier vorliegende Erscheinung als eine gehemmte oder als eine vollendete aufzutreten pflegt, und wenn das Letztere zutreffen sollte, unter welchen Bedingungen diese vollendete Erscheinung hemmbar, unter welchen anderen Bedingungen sie unhemmbar ist. Was zunächst die Frage betrifft, ob die hier geschilderte Bewegungsauffassung als eine gehemmte oder vollendete Erscheinung auftritt, so kann diese Frage insofern in dem letzteren Sinne beantwortet werden, als bei ihr eine Hemmung innerhalb desselben simultanen Wahrnehmungsfeldes gewöhnlich nicht eintritt. Denn diese Hemmung kann nur durch die gleichzeitige Wahrnehmung der wahren Bewegungsverhältnisse bewirkt werden, und eine solche Wahrnehmung führt in diesem Falle, abgesehen von besonderen Komplikationen, nicht zu einer Hemmung, sondern zu einer vollständigen Aufhebung der Erscheinung als solcher. Insoweit handelt es sich also um eine vollendete Erscheinung. Aber diese vollendete Erscheinung kann unter bestimmten Umständen, wenn auch, wie gesagt, nicht immer durch den Widerspruch gleichzeitiger Wahrnehmungsbestände, hemmbar sein, und sie kann unter anderen Umständen als eine unhemmbare auftreten. Den ersteren Fall können wir uns an einem allbekannten Beispiele klarmachen. Beugen wir uns in einem rasch dahinfahrenden Zuge aus dem Fenster und blicken starr auf den Bahnkörper unter uns, sodaß der größere Teil unseres Blickfeldes von dem fahrenden Zuge und nur der kleinere Teil von einem Stücke des Bahnkörpers ausgefüllt wird, dann haben wir den Eindruck, als stünden wir still, während sich die Erde unter uns mit der Geschwindigkeit des Zuges in entgegengesetzter Richtung bewegte. Jedermann kennt diese Erscheinung, die sich uns mit psychologischer Zwangsläufigkeit aufdrängt, und die innerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes, solange wir den Blick entsprechend gesenkt halten, keinerlei Hemmungen erfährt. Trotzdem behandeln wir diese Erscheinung ähnlich wie bei unserem gehemmten Verhalten gegenüber der Spiegelwand so, als wäre sie schon innerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes selbst gehemmt. Wir identifizieren daher auch nicht das von uns geschaute Bewegungsverhältnis in unserem Wahrnehmungsfelde mit dem von uns gemeinten Bewegungsverhältnisse in der immanenten Außenwirklichkeit. Denn wir wissen aus unseren vorangegangenen Erfahrungen und können durch spätere Erfahrungen leicht feststellen, daß die von uns ge-
Die vollendete und tatsächlich unhemmbare Erscheinung
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meinten außenwirklichen Bewegungsverhältnisse andere sind als die von uns wahrgenommenen. Wir brauchen nur unsere Augen zu erheben und damit unser Blickfeld so umzustellen, daß der größere Teil desselben von dem Gelände und der kleinere Teil von dem fahrenden Zuge eingenommen wird, um die Erscheinung bei geeigneter Blickrichtung vollständig aufzuheben und zu erkennen, daß unsere Wahrnehmungsweise die außenwirklichen Verhältnisse umkehrte, und daß in Wahrheit die Erde still steht, während sich der Zug bewegt. Mit anderen Worten: wir haben hier eine vollendete aber hemmbare Erscheinung vor uns, die auf Grund von Gegeninstanzen, die uns aus der Praxis bekannt sind, und deren Anwendung die Täuschung aufheben würde, wie eine gehemmte Erscheinung behandelt wird. Wir vollziehen dementsprechend die in ihr enthaltene unzutreffende Deutung, wie bei jeder gehemmten Erscheinung, mit psychologischer Zwangsläufigkeit; aber wir identifizieren diese Deutung nicht mit dem außenwirklichen Sachverhalte. Wäre es mit unserer Wahrnehmungsauffassung von der Bewegung der Himmelskörper ebenso bestellt, hätten wir auch hier die Möglichkeit, unser Wahrnehmungsfeld beliebig umzustellen, dann würden wir in einem ähnlichen Sinne den von uns wahrgenommenen Auf- und Untergang von Sonne, Mond und Sternen als eine in ihrem eigenen Wahrnehmungsfelde zwar vollendete, durch andere Erfahrungen aber hemmbare Erscheinung behandeln. Wir würden in unserem irdischen Wahrnehmungsfelde mit derselben psychologischen Zwangsläufigkeit wie heute fortfahren, die Bewegung der Himmelskörper als einen Aufund Untergang von Sonne, Mond und Sternen zu deuten; aber wir würden anders als heute diese unsere Deutung mit den außenwirklichen Bewegungsverhältnissen ebensowenig identifizieren, wie wir dies mit der scheinbaren Bewegung des Bahnkörpers tun. Denn daß in unserer immanenzontologischen Praxis Sonne, Mond und Sterne auf- und untergehen, die Erde aber stillsteht, das liegt daran, daß in unserem Wahrnehmungsfelde der Erdboden und das sich über ihm wölbende Himmelszelt zu jeder Zeit größer sind als die verhältnismäßig kleinen Scheiben und leuchtenden Punkte an diesem letzteren. Wären wir in der Lage, unseren irdischen Standpunkt mit einem anderen kosmischen Standpunkte gelegentlich zu vertauschen, dann würden wir die Größenverhältnisse und damit auch die Bewegungsverhältnisse der Himmelskörper anders beurteilen. Aber in dieser Lage sind wir nicht. Daher kommt ein anderes Bewegungsverhältnis als das von dem Erdstandpunkte aus zu erschauende für unsere gesamte immanenzontologische Praxis auch nicht in Betracht. Unter diesen Um-
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ständen bleibt unsere ihr widersprechende kopernikanische Weltanschauung eine rein theoretische Einsicht und hat auf unsere praktische Wirklichkeitsauffassung keinen Einfluß. Die oben von uns beschriebene Hemmung einer in ihrem eigenen Wahrnehmungsfelde vollendeten Erscheinung, wie wir sie in dem Beispiele der Spiegelwand oder des sich bewegenden Bahnkörpers kennen lernten, kommt für unsere immanenzontologische Praxis immer nur dann in Betracht, wenn wir sie in dem Bereiche unserer Wahrnehmungen tatsächlich verifizieren können. Ist eine solche Verifikationsmöglichkeit nicht gegeben, so bleibt ein Widerspruch rein theoretischer Einsichten gegen eine solche Meinungsbasis für unsere praktische Behandlung dieser letzteren ohne Belang. Wir haben in einem solchen Falle den für die Transzendenzontologie wichtigen Typus einer vollendeten und nicht mehr hemmbaren Erscheinung vor uns. Das Bemerkenswerte und für unser Verhalten ihm gegenüber Maßgebende an diesem Erscheinungstypus ist dies, daß er praktisch mit unserer immanenzontologischen Außenwirklichkeit identisch ist. Denn dasjenige, was in dem Bereiche unserer alltäglichen Erfahrung einen Widerspruch durch andere Wahrnehmungen niemals erfahren kann, sondern sich dem in diesem Bereiche erforderten Maße an naturgesetzlichem Zusammenhange allenthalben fügt, gilt praktisch eben deshalb als ein allen anderen immanenzontologischen Beständen gleichwertiges Außenwirklichkeitsgebilde. Wenn wir daher erkannten, daß eine unserer Meinungsbasis widersprechende theoretische Einsicht auf unsere praktische Behandlung der ersteren nur dann Einfluß gewinnt, wenn sie durch andere Wahrnehmungen verifizierbar ist, dagegen einflußlos bleibt, wenn uns eine solche Verifikationsmöglichkeit benommen ist, so bedeutet dies, daß unser praktisches Kriterium dafür, ob etwas Erscheinung ist oder nicht, lediglich der unserer Wahrnehmung unmittelbar zugängliche Bereich der immanenten Außenwirklichkeit ist. Alles, was über diesen uns praktisch allein zugänglichen Bereich hinausgeht, bleibt, auch wenn es an und für sich auf eine uns nicht zugängliche Weise als immanenzontologisch wahrnehmbar gedacht werden kann, für unser praktisches Verhalten im Alltagsleben so, als wäre es nicht wirklich. Denn es hat in dem engen Bereiche, auf den unsere Wahrnehmungspraxis die Außenwirklichkeit einschränkt, keinen Platz. Ueberblicken wir von hier aus die bisher von uns behandelten Erscheinungstypen, so erkennen wir als ein ihnen gemeinsames Charakteristikum dies, daß sie insgesamt eine immanenzontologische Deutung unserer Wahrnehmungen voraussetzten. Denn ihnen gegenüber galten als echte Außenwirklichkeitsbestände und nicht als Erschei-
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nungen alle diejenigen Deutungserfüllungen, die sich dem naturgesetzlichen Zusammenhange unserer immanenten Wahrnehmungswelt einfügten. Diese Wahrnehmungswelt bildete einerseits den Rahmen, innerhalb dessen die bisher besprochenen Erscheinungen auftraten, und anderseits den Maßstab, an dem sie beurteilt wurden. Fügten sich unsere Meinungsbasen diesem Rahmen nicht ein und wurden sie nichtsdestoweniger auf Grund ihrer allgemeinbegrifflichen Verwandtschaft mit immanenzontologischen Situationen zwangsläufig als etwas diesen Gleichartiges gedeutet, so galten sie eben deshalb als Erscheinungen, die mit ihrer Deutungserfüllung innerhalb der immanenten Außenwirklichkeit keine Stelle fanden. Wir könnten insofern die bisher behandelten Erscheinungstypen als verunglückte immanenzontologische Deutungen bezeichnen. Das gilt auch für den zuletzt von uns behandelten vierten Erscheinungstypus, der nur innerhalb der beschränkten Immanenzontologie der Alltagspraxis als mit dem außenwirklichen Sachverhalte identisch und daher als geglückt behandelt werden konnte, dagegen ebenfalls als verunglückt betrachtet werden mußte, wenn man sich, ohne die immanente Außenwirklichkeit zu verlassen, über die Grenzen unserer Alltagserfahrung hinaus in den Wahrnehmungsbereich eines anderen kosmischen Standpunktes versetzt dachte. Ueber diesen Rahmen führt nun die Lehre der Transzendenzontologie, daß die Wahrnehmungswelt selbst eine Erscheinung sei, grundsätzlich hinaus. Sie schafft sich eben damit einen neuen, den fünften und für unseren Problemkreis letzten Erscheinungstypus. Die Eigenart dieses transzendenzontologischen Erscheinungstypus, kraft deren er sich von der gesamten Gruppe der bisher behandelten Typen grundsätzlich unterscheidet, liegt darin, daß er in der transzendenten Außenwirklichkeit einen anderen Hintergrund als jene hat. Die transzendente Außenwirklichkeit ist für ihn, in einem ähnlichen Sinne wie für die anderen Typen die immanente Wahrnehmungswelt, der Rahmen, innerhalb dessen er auftritt, und der Maßstab, an dem er beurteilt wird. Inwiefern das Erstere der Fall ist, das wird in einem späteren Zusammenhange dieser Untersuchungen klargestellt werden. Was aber das Zweite betrifft, so leuchtet ohne Weiteres ein, daß der Maßstab einer Erscheinung durch den ontologischen Bestand ihres Meinungsgegenstandes gebildet wird, und daß in unserem Falle dieser ontologische Bestand die transzendente Außenwirklichkeit selbst ist. Dementsprechend ist von diesem Standpunkte aus alles dasjenige Erscheinung, was einen Anspruch auf Außenwirklichkeit erhebt, ohne uns transzendent zu sein. Der Maßstab für den Repräsentationswert 5
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einer Erscheinung dieser Art aber ist die Fülle und der Inhalt der allgemeinbegrifflichen Identität, diezwischen der transzendenten Außenwirklichkeit und unserer immanenten Wahrnehmungswelt unbeschadet ihrer individualbegrifflichen Verschiedenheit waltet. Freilich ist es, wie wir sogleich sehen werden, gerade dieser letztere Punkt, der für den Bereich unserer Wahrnehmungspraxis zu erheblichen Abweichungen des hier behandelten Erscheinungstypus von den anderen Typen führt. Seiner Struktur nach aber ist dieser fünfte Erscheinungstypus mit der Struktur der übrigen Typen sonst eng verwandt: bis auf den einen entscheidenden Punkt, daß hier der außenwirkliche Meinungsgegenstand nicht mehr in demselben immanenzontologischen, sondern in einem grundsätzlich davon verschiedenen transzendenzontologischen Bereiche liegt. Wir können diesen Sachverhalt auch dahin formulieren, daß sich die immanente Wahrnehmungswelt als Erscheinung zu der transzendenten Außenwirklichkeit ebenso verhält, wie sich die bisher behandelten Erscheinungstypen zu der immanenten Wahrnehmungswelt verhielten. Die letzteren Typen können dementsprechend von diesem Standpunkte aus als Erscheinungen innerhalb der Erscheinung aufgefaßt werden. Auf Grund dieser Verhältnisse stellt sich der von der Transzendenzontologie geschaffene fünfte Erscheinungstypus als nahe mit dem zuvor von uns behandelten vierten Erscheinungstypus verwandt dar. Beide Typen zeichnen sich dadurch aus, daß ihr Meinungsgegenstand, der ihnen entsprechende außenwirkliche Sachverhalt selbst, außerhalb unserer praktischen Reichweite liegt. Auf der anderen Seite aber besteht gerade hier ein tiefgreifender Unterschied zwischen ihnen. Denn der Meinungsgegenstand des vierten Erscheinungstypus liegt nur tatsächlich und nicht grundsätzlich außerhalb unserer praktischen Reichweite. Er gehört an und für sich derselben immanenten Außenwirklichkeit an, mit der wir es im täglichen Leben zu tun haben; und daß er uns praktisch unerreichbar bleibt, ist durch äußere Gründe bedingt. Hätten wir, um auf jenes Sternenbeispiel zurückzugreifen, einen anderen kosmischen Standpunkt inne, so wären die wahren Bewegungsverhältnisse der Himmelskörper auch unserer Wahrnehmung zugänglich. Wir brauchten daher, um diesen Erscheinungstypus zu durchschauen, die immanenzontologische Wirklichkeitsauffassung nicht aufzugeben. Dagegen liegt der Meinungsgegenstand des fünften Erscheinungstypus, die transzendente Außenwirklichkeit nicht nur tatsächlich, sondern auch grundsätzlich außerhalb unserer praktischen Reichweite. Denn er gehört zu einem anderen ontologischen Systemzusammenhange als
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unsere immanente Wahrnehmungswelt. Daß er uns unzugänglich bleibt, ist bei ihm, wie später noch gezeigt werden soll, nicht durch äußere, sondern durch innere Gründe bedingt: nämlich durch die systematische Geschlossenheit unseres Bewußtseins und durch die von der Transzendenzontologie proklamierte grundsätzliche Verschiedenartigkeit zwischen außenwirklichen und bewußtseinswirklichen Beständen. Daher läßt sich die Unzugänglichkeit unseres transzendenten Meinungsgegenstandes auch durch keine Aenderung unseres zufälligen Standpunktes im Weltall oder dergl. beseitigen. Sie ist für uns konstitutiv. Wir müßten ontologisch anders gebaut sein, als wir es sind, um aus unserer immanenten Wahrnehmungswelt in die transzendente Außenwirklichkeit selbst hinaustreten und damit das für den fünften Erscheinungstypus charakteristische Repräsentationsverhältnis in dem Bereiche unserer Wirklichkeitspraxis durchschauen zu können. Diesem Unterschiede zwischen dem vierten und dem fünften Erscheinungstypus entspricht es, daß zwar beide Typen in gleicher Weise vollendet, darum aber noch nicht beide in gleicher Weise unhemmbar sind. Denn jener ist nur tatsächlich, dieser dagegen auch grundsätzlich unhemmbar. Beides läuft praktisch freilich auf dasselbe, nämlich darauf hinaus, daß unsere theoretische Einsicht in den ontologischen Sachverhalt auf unsere tatsächliche Handhabung der Wahrnehmungswelt keinen Einfluß ausübt. Charakteristisch für jenen Unterschied aber ist es, daß wir uns den gemeinten ontologischen Sachverhalt in dem Falle des vierten Erscheinungstypus, wenn wir ihn auch nicht wahrnehmen, so doch wenigstens anschaulich vorstellen können, da er derselben ontologischen Systematik wie unsere Wahrnehmungen angehört. Dagegen vermögen wir uns die Sachverhalte der transzendenten Außenwirklichkeit, da sie in einem anderen als dem unserer Wahrnehmung zugänglichen ontologischen Bereiche liegen, auch nicht einmal vorzustellen. Wir können sie nur denken. Durch diesen letzteren Umstand ist es bedingt, daß die hier in Frage stehenden Verhältnisse auch noch in einer anderen Hinsicht von den uns aus den ersten vier Erscheinungstypen bekannten Verhältnissen abweichen. Maßgebend für den Erscheinungscharakter dieser letzteren war der Umstand gewesen, daß die uns jeweils vorliegende Situation nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit einer entsprechenden uns bekannten immanenzontologischen Situation glich. Eben diese allgemeinbegriffliche Gleichartigkeit verleitete uns dazu, unsere Meinungsbasis mit einer solchen immanenzontologischen Situation auch individualbegrifflich zu identifizieren. In dem Falle des fünften Erscheinungstypus kommt eine derartige Gleichartigkeit 5*
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mit anderen uns bekannten Situationen nicht in Betracht. Denn hier ist der unserer Meinungsbasis entsprechende außenwirkliche Sachverhalt selber, wie wir schon bei einer früheren Gelegenheit erkannt haben, nicht nur seinem individualbegrifflichen Bestehen sondern auch seiner allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit nach unserer unmittelbaren Kenntnis grundsätzlich entzogen. Daher können wir innerhalb unseres praktischen Wirklichkeitsbereiches auch nicht feststellen, ob diese seine Beschaffenheit unter allen in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins auftretenden Beständen Ihresgleichen hat. Wir haben infolgedessen auch keine Möglichkeit, ihn mit den uns vorliegenden immanenzontologischen Situationen zu vergleichen. Wäre uns aber per impossibile eine solche Vergleichungsmöglichkeit gegeben, so dürften wir, wie wir ebenfalls schon angedeutet haben, voraussichtlich finden, daß sich die transzendenten Außenwirklichkeitsbestände von unserer immanenten Wahrnehmungsrepräsentation derselben wesentlich unterscheiden und nur einzelne allgemeinbegriffliche Züge mit dieser gemeinsam haben. Es wären daher die auf immanenzontologischem Gebiete zureichenden Bedingungen für das Zustandekommen einer Erscheinung hier nicht erfüllt; vielmehr läge mutatis mutandis der Sachverhalt ähnlich wie etwa bei dem Repräsentationsverhältnisse zwischen einer Landschaft und deren photographischer Wiedergabe. Wenn also nichtsdestoweniger auch in dem Falle des hier beschriebenen transzendenzontologischen Typus ein Erscheinungscharakter in dem Sinne zustandekommt, daß unsere Meinungsbasis mit dem außenwirklichen Sachverhalte individualbegrifflich identifiziert wird, dann muß diese Identifikation hier einen anderen Grund haben als bei den übrigen Erscheinungstypen. Dieser Grund hängt mit der praktischen Unzugänglichkeit der transzendenten Außenwirklichkeit zusammen. Er liegt darin, daß die Wahrnehmungsbestände, eben deshalb weil wir niemals in die transzendente Außenwirklichkeit eintreten können, nunmehr das Einzige sind, was von Außenwirklichem praktisch für uns in Betracht kommt. Können wir aus dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins zu der uns umgebenden transzendenten Welt selber nicht hinausgelangen, und erhalten wir nur durch unsere Wahrnehmungsrepräsentationen von ihr Kenntnis, so sind diese Repräsentationen auch das einzige Außenwirkliche, mit dem wir es praktisch jemals zu tun haben können. Aus diesen Umständen wird es verständlich, daß wir in dem Bereiche der Praxis unsere Wahrnehmungsrepräsentationen selber und nur sie als Außenwirklichkeit ansprechen. Dagegen kann das von der Transzendenzontologie proklamierte Repräsentationsverhältnis zu einer
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jenseits unserer Bewußtseinssystematik liegenden Außenwelt, da diese zu repräsentierende Welt wegen ihrer Jenseitigkeit stets außerhalb unseres praktischen Bereiches bleibt, für die Wirklichkeitspraxis niemals in Betracht kommen. Hierauf beruht, ähnlich wie bei dem vierten Erscheinungstypus, die Vollendung des unserer Wahrnehmungswelt eigenen Erscheinungscharakters. Aus alledem ergibt sich, daß die Einführung einer transzendenten Außenwirklichkeit, die aus dem schon genannten Grunde zugleich die Aufhebung des eigentlichen Erscheinungscharakters unserer immanenten Wahrnehmungswelt zu Gunsten eines bloßen Repräsentationsverhältnisses derselben bedeuten würde, für den Bereich unserer alltäglichen Praxis unvollziehbar ist. Wäre sie aber vollziehbar, dann wäre sie, solange wir mit einer solchen transzendenten Außenwirklichkeit in keine tatsächliche Berührung kommen können, praktisch ebenso überflüssig, wie sie für eine folgerichtige Durchführung der Ontologie theoretisch notwendig sein dürfte. Wir können daher nicht etwa eines Tages den Entschluß fassen, nunmehr nicht nur theoretisch sondern auch praktisch Transzendenzontologie zu treiben, den Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungen dementsprechend aufzuheben und die immanente Außenwelt als eine bloße Repräsentation der transzendenten zu behandeln. Ein solcher Versuch müßte stets an dem vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt, wie er durch die Grundlagen unserer praktischen Wirklichkeitsauffassung bedingt ist, scheitern. Angesichts dieses Charakters wäre jener Versuch sinnlos. Denn die Wahrnehmungswelt ließe sich nur dann auch in dem Bereiche unseres praktischen Lebens als eine bloße Repräsentation der transzendenten Außenwirklichkeit auffassen, wenn wir imstande wären, nicht nur mit jener ersteren, sondern auch mit dieser letzteren in unmittelbare Berührung zu treten. Dazu aber sind wir nicht imstande. Denn in unmittelbare Berührung treten können wir immer nur mit dem, was unserem Bewußtsein vorliegt. Und unserem Bewußtsein liegt niemals die transzendente Außenwirklichkeit vor, denn dann wäre sie nicht transzendent, sondern immer nur die immanente Wahrnehmungswelt. Daher ist eine transzendenzontoiogische Wirklichkeitsauffassung im Bereiche des praktischenLebens nicht möglich. Vielmehr ist die immanente Wahrnehmungswelt die einzige Außenwirklichkeit, die praktisch für uns in Betracht kommt. Nichtsdestoweniger ist das, was wir in der praktischen Ausdeutung unserer Wahrnehmungen meinen, nicht sowohl die uns vorliegende immanente als vielmehr die uns nicht vorliegende transzendente Außenwirklichkeit. Das ergibt sich sowohl aus den allgemeinbegriff-
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liehen als auch aus den individualbegrifflichen Merkmalen, die wir unserer immanenten Wahrnehmungswelt beilegen. Allgemeinbegrifflich betrachten wir diese letztere als räumlich und zeitlich unendlich, als naturgesetzlich und als etwas, das unabhängig von seinem Auftreten in unserem Bewußtsein ontologisch an sich besteht. Individualbegrifflich aber glauben wir in der immanenten Wahrnehmungswelt das eine und als einziges für uns in Betracht kommende ontologische System zu erfassen, in das unter Anderem unser eigenes Bewußtsein eingebettet ist. Alle diese Merkmale kommen nach transzendenzontologischer Auffassung unserer Wahrnehmungswelt nicht zu. Sie sind vielmehr ausschließlich Merkmale der uns transzendenten Außenwirklichkeit an sich. Diese letztere ist daher der eigentliche ontologische Gegenstand, auf den unsere Ausdeutung der Wahrnehmungen gemünzt ist. Aber in unserer immanenzontologischen Praxis halten wir die transzendente Außenwirklichkeit nicht für etwas von unserer Wahrnehmungswelt Verschiedenes, sondern glauben, sie in dieser letzteren selber vor uns zu haben. Eine von unserer Wahrnehmungswelt allgemein- und. individualbegrifflich unterschiedene und uns transzendente Außenwirklichkeit gibt es also nur für unsere theoretische Einsicht. Praktisch ist es so, als wäre die immanente Wahrnehmungswelt und die transzendente Außenwirklichkeit ein und dasselbe. Eben hierauf beruht von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus beurteilt der typische und ausschließliche Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt. Gerade deshalb, weil sie und nur sie allein für unsere alltägliche Praxis die Außenwirklichkeit selbst ist, ist sie eine vollendete Erscheinung. Denn würde sie sich damit bescheiden, uns die transzendente Außenwirklichkeit gewissermaßen in einem Modelle vorzuführen, oder ließe sie sich in ähnlicher Weise wie etwa ein Panorama oder eine Spiegelwand hemmen, so wäre sie keine oder doch keine vollendete Erscheinung, sondern spielte die Rolle einer repräsentativen Meinungsbasis und gäbe sich dementsprechend als das, was sie nach transzendenzontologischer Auffassung tatsächlich ist. Unter diesen Umständen hat nun auch die psychologische Zwangsläufigkeit unserer Deutungserfüllung bei diesem fünften Erscheinungstypus eine andere Grundlage als bei den zuvor behandelten Erscheinungstypen. Wir haben früher erkannt, daß das für die ersten vier Erscheinungstypen maßgebende Moment ihrer psychologischen Zwangsläufigkeit die Zwangsläufigkeit unserer immanenzontologischen Deutung war. Jede einer immanenzontologischen allgemeinbegrifflich gleichartige Situation wurde mit derselben psychologischen Zwangsläufig-
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keit als ein außenwirklicher Sachverhalt gedeutet wie die entsprechende immanenzontologische Situation selbst. Hier haben wir nun die schon in der Einleitung zu diesen Erörterungen von uns angeschnittene Frage zu beantworten: warum ist unsere immanenzontologische Deutung selber zwangsläufig? Die Antwort hierauf lautet, daß ihre Zwangsläufigkeit auf unserer praktischen Stellungnahme zu den Außenwirklichkeitswahrnehmungen als solchen beruht und nicht etwa darauf, daß wir in dem Ausbau unserer Wahrnehmungen ein der transzendenten Außenwirklichkeit gleichgeartetes Modell derselben zustandebrächten. Das Vorbild der anderen Erscheinungstypen war die immanente Außenwirklichkeit. Die immanente Außenwirklichkeit selbst hat kein Vorbild. Sie beansprucht nicht, einer transzendenten Außenwirklichkeit zu gleichen. Sie weiß von einer solchen Außenwirklichkeit überhaupt nichts. Sie will vielmehr die Außenwirklichkeit selbst sein. In diesem Sachverhalte liegt der Grund für die Zwangsläufigkeit unserer immanenzontologischen Deutungen. Das wird deutlich, wenn wir uns an unsere früheren Ausführungen über den Begriff und die Struktur der immanenten Außenwirklichkeit erinnern. Wir erkannten dort, daß das deutungslos Gegebene der unseren Wahrnehmungen zu Grunde liegenden Empfindungen erst kraft seiner Deutungen den naturgesetzlichen Zusammenhang gewinnt, der immanenzontologisch die Außenwirklichkeitsbestände innerhalb der Üeberschneidung von den reinen Bewußtseinswirklichkeitsbeständen diesseits der Üeberschneidung unterscheidet. Die Zwangsläufigkeit der immanenzontologischen Deutungen ist demnach in der grundsätzlichen Einstellung unseres Bewußtseins auf Außenwirklichkeitswahrnehmungen begründet. Entweder es wird überhaupt keine Außenwirklichkeit wahrgenommen, und dann kommen wir zu jenem seiner Zeit von uns beschriebenen Bewußtseinstypus, der aussagelos auf seine zentralen Gegebenheiten beschränkt bleibt, und von dem unser eigener Bewußtseinstypus grundsätzlich verschieden ist. Oder es wird eine Außenwirklichkeit wahrgenommen, und dann gelangen wir zu unserem eigenen Bewußtseinstypus der peripheren und ultraperipheren Deutungserfüllungen, aus denen sich die Immanenzontologie aufbaut. Fragt man also, warum unsere immanenzontologischen Deutungen psychologisch zwangsläufig seien, so lautet die Antwort: deshalb, weil unser Bewußtsein seiner tatsächlichen Konstitution nach auf Außenwirklichkeitswahrnehmungen eingestellt ist. Die Zwangsläufigkeit des fünften, transzendenzontologischen Erscheinungstypus hat also keinerlei Analogie zu jenen eigentümlichen Strukturen, die für die Zwangsläufigkeit der bisher von uns be-
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handelten immanenzontologischen Erscheinungstypen maßgebend waren. Sie hat nichts mit einem Repräsentationsverhältnisse zwischen unseren Wahrnehmungen und der transzendenten Außenwirklichkeit zu tun, sondern ist eine Konsequenz aus der naturhaften Ginstellung unseres Bewußtseins auf eine Kenntnisnahme von seiner Umwelt an der Hand der ihm allein zur Verfügung stehenden Wahrnehmungsrepräsentationen. Diese naturhafte Einstellung als eine spezifisch psychologische Tatsache ist ihr unmittelbares Fundament. Und sie ist eben damit zugleich ein mittelbares Fundament für alle anderen Erscheinungstypen. Denn die Zwangsläufigkeit dieser letzteren beruht, wie wir gesehen haben, im tiefsten Grunde auf der aus jener naturhaften Einstellung unseres Bewußtseins hervorgehenden Zwangsläufigkeit unserer immanenzontologischen Deutungen. Gegen diese Darstellung der für den Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt maßgebenden Verhältnisse ließe sich ein naheliegender Einwand erheben, dessen Behandlung zugleich geeignet ist, uns noch etwas tiefer in das Wesen des fünften Erscheinungstypus einzuführen. Man könnte nämlich darauf hinweisen, daß, wie wir in unseren früheren Untersuchungen ausführlich dargelegt haben, innerhalb unserer immanenten Wahrnehmungswirklichkeit selbst gewisse Widersprüche auftreten, und daß eben diese inneren Widersprüche auch in dem Bereiche unserer praktischen Wirklichkeitsauffassung zu der Annahme einer transzendenten Außenwirklichkeit führen müßten. Man kann dabei zB. an die widerspruchsvolle Struktur des offenen Immanenzsystems denken oder an die Schwierigkeiten, die sich bei der Frage nach dem Außenwirklichkeitswerte unserer Wahrnehmungsdeutungen erhoben, oder an die namentlich im Hinblicke auf das psychophysische Problem zu Tage tretende Unmöglichkeit, unsere Bewußtseinswirklichkeit in die immanente Außenwelt einzufügen, usw. Alle diese Widersprüche, so könnte man argumentieren, müßten uns als Gegeninstanzen gegen den Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt auch im Rahmen unserer praktischen Wirklichkeitsauffassung über die Immanenzontologie hinaus zu einer Transzendenzontologie führen. Angesichts einer solchen Argumentation ließe sich zunächst darauf hinweisen, daß uns die tatsächliche Beschaffenheit unserer Wirklichkeitspraxis eines Anderen belehrt. Denn tatsächlich bedienen wir uns praktisch eben nicht einer transzendenten Außenwirklichkeit. Wir hätten uns also zu fragen, wie es kommt, daß die innerhalb der Immanenzontologie selbst auftretenden Widersprüche nicht imstande sind, den Erscheinungscharakter der Wahrnehmungswelt zu hemmen, und
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also nicht denselben Wert wie die früher von uns besprochenen Gegeninstanzen gegen die Vollendung von Erscheinungen haben. Die Antwort hierauf ergibt sich, wenn wir auf die besondere Art des in jenen Gegeninstanzen von uns beobachteten Widerspruches achten. Wir erkennen dann, daß das Wesen solcher Gegeninstanzen nicht darin lag, daß sie dem Erscheinungscharakter unserer Meinungsbasis auf irgendeine beliebige Weise widersprachen; sondern darin, daß sie im Gegensatze zu unserer Meinungsbasis als Sachverhalte auftraten, deren Außenwirklichkeit für uns außer Zweifel stand, und an denen wir unsere Meinungsbasis daher zu messen pflegten. Mit anderen Worten: die unseren Meinungsbasen widersprechenden Wahrnehmungen können den Wert von Gegeninstanzen mit dem Erfolge einer Hemmung oder Aufhebung von Erscheinungen nur dann gewinnen, wenn sie uns ihrerseits einen anderen Sachverhalt vor Augen führen, der im Unterschiede zu der Erscheinung als ein ontologisch tatsächlich bestehender gilt. So wurde in dem Beispiele des Spiegelbildes der Erscheinungscharakter dieses letzteren dadurch gehemmt, daß seine dreidimensionale Deutungserfüllung zu den Wahrnehmungen des Zimmers usw. in Widerspruch trat. Diese letzteren Wahrnehmungen aber galten ihrerseits nicht als Erscheinuugen, sondern als außen wirkliche Bestände. Oder in dem Beispiele des sich scheinbar bewegenden Bahnkörpers wurde die Aufhebung dieser Erscheinung durch einen Blick auf das für uns den wahren ontologischen Sachverhalt darstellende Gelände bewerkstelligt. Allenthalben also traten diejenigen Wahrnehmungen, die als Gegeninstanzen gegen den Erscheinungscharakter der Meinungsbasen in Betracht kamen, selber nicht als Meinungsbasen auf sondern als vollgültige Außenwirklichkeitsbestände. Eben darauf beruhte ihr ontologisches Gewicht, kraft dessen sie einen Maßstab dafür bilden konnten, ob andere deutungserfüllte Wahrnehmungen eine bloße Erscheinung seien oder ihren Außenwirklichkeitsanspruch zu Recht, dh. in diesem Falle mit demselben Rechte trügen wie sie selber. Wäre es anders, träten jene Gegeninstanzen auch ihrerseits nur als Meinungsbasen für uns und nicht mit dem Ansprüche auf, die gemeinten Sachverhalte an sich selbst zu sein, so wäre ihnen damit ihr für die Beurteilung der Erscheinungen maßgeblicher Charakter genommen. Sie hätten keinen besser gesicherten Wirklichkeitswert als jene an ihrem Maßstabe für eine bloße Erscheinung zu erklärenden Meinungsbasen selbst. Es stünde hier also nur die eine Meinungsbasis gegen die andere. Daher ließe es sich, wenn kein weiteres Kriterium da ist, auch nicht ausmachen, ob von den verschiedenen
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einander widerstreitenden Meinungsbasen eine als maßgeblich zu betrachten sei, und welche. Ein Widerspruch zwischen verschiedenen Meinungsbasen, von denen jede mit gleichwertigen Gründen auf Außenwirklichkeit Anspruch erhebt, kann also nicht über den dadurch geschaffenen Bereich von Fürunsbeständen zu der praktischen Einsicht in den Ansichbestand der entsprechenden ontologischen Sachverhalte selbst führen. Gerade dies aber ist die uns im Hinblicke auf die immanente Außenwirklichkeit vorliegende Situation, wenn wir der transzendenzontologischen These folgen und die Wahrnehmungswelt selbst als eine Erscheinung auffassen. Es treten dann innerhalb dieser Wahrnehmungswelt jene schon bezeichneten Widersprüche auf. Aber wenn sich jede von den einander widersprechenden Wahrnehmungssituationen auf ihre Art in dem für unsere Alltagspraxis erforderlichen Maße als naturgesetzlich erweist, und daher jede von ihnen immanenzontologisch den gleichen Wirklichkeitswert hat, dann kann keine von diesen Situationen als Gegeninstanz gegen die anderen auftreten und sie für bloße Erscheinungen erklären. Ein solches Verhältnis ließe sich unter diesen Umständen ebensogut umkehren. Denn die auf solche Weise für eine bloße Erscheinung erklärten Meinungsbasen könnten ihrerseits mit demselben Rechte als Gegeninstanzen gegen die anderen Meinungsbasen auftreten und nunmehr diese letzteren für eine bloße Erscheinung erklären. Wir haben daher in unserer immanenten Wahrnehmungssystematik überhaupt kein Kriterium dafür, ob eine und welche von unseren Wahrnehmungen Erscheinungen oder Außenwirklichkeitsbestände sind. Unter diesen Umständen bleiben uns für die ontologische Auffassung unserer immanenten Außenwelt nur zwei in sich folgerichtige Maßnahmen übrig. Entweder wir müssen alle sich als naturgesetzlich gebenden Wahrnehmungen trotz ihres wechselseitigen Widerspruches in gleicher Weise für außenwirklich erklären; oder wir müssen sie alle wegen ihres wechselseitigen Widerspruches in gleicher Weise als Erscheinungen auffassen. Den ersteren Weg schlägt die auf unsere Wirklichkeitspraxis zugeschnittene Immanenzontologie ein. Den zweiten Weg wählt die auf die theoretische Folgerichtigkeit unserer Begriffe eingestellte Transzendenzontologie. Für beide ist das von ihnen eingeschlagene Verfahren charakteristisch. Denn in unserer Wirklichkeitspraxis kommt es uns nur darauf an, ob sich unsere Wahrnehmungsbestände uns gegenüber in dem erforderlichen Maße naturgesetzlich verhalten, so daß wir wissen, woran wir mit ihnen sind. Ist dies der Fall, so ist uns die Frage,
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ob bei der Annahme ihrer Außenwirklichkeit logische Widersprüche entstehen, und ob unser Wirklichkeitsbegriff also theoretisch fehlerhaft oder einwandfrei ist, in der Praxis von verhältnismäßig geringerem Belange. Dagegen kommt es uns in der Transzendenzontologie als einer durchgeführten Theorie der Wirklichkeit nicht sowohl darauf an, was wir praktisch an unseren Wahrnehmungsbeständen haben, als vielmehr darauf, daß unsere auf die Außenwirklichkeit gemünzten Begriffe mit dem Ansichbestande dieser letzteren im Sinne der früher geschilderten Teilhabe ontologischer Bestände an Begriffsbedeutungen identisch sind und daher wie die Außenwirklichkeit selbst ein eindeutiges und in sich widerspruchsfreies System bilden. Der Unterschied zwischen der immanenzontologischen und der transzendenzontologischen Stellungnahme zu der Wahrnehmungswelt ist insoweit ein Unterschied zwischen praktischen und theoretischen Erfordernissen. Daher macht sich auf diesem Gebiete zugleich jener Unterschied zwischen praktischer und theoretischer Begriffsbildung geltend, den wir in der ersten Einleitung zu diesem Buche geschildert haben. Kennzeichnend für die hier hervorgehobenen praktischen Tendenzen in der Immanenzontologie ist der gesamte von uns geschilderte Aufbau der immanenzontologischen Wirklichkeit. Ohne Zweifel findet in ihm eine Fülle von Maßnahmen statt, die auf die Einheit unseres Wirklichkeitsbildes abgestellt sind. A b e r diese Einheit ist keine auf eine Widerspruchslosigkeit der inneren Systematik abzielende logische Einheit, wie sie für jede theoretisch eindeutige Begriffsbildung über den ontologischen Ansichbestand von Wirklichkeitsgebilden erfordert wird. Sie dient vielmehr lediglich dazu, ein in Wahrheit nur den transzendenten Beständen zukommendes kausales Ineinanderübergreifen der artverschiedenen außenwirklichen und bewußtseinswirklichen Immanenzbestände für den praktischen Bereich des täglichen Lebens möglichst handgreiflich zu veranschaulichen. Dementsprechend sind auch die zu diesem Behufe von der Immanenzontologie angewandten Methoden von denen der Transzendenzontologie grundsätzlich verschieden. Denn die Transzendenzontologie gelangt wie jede theoretisch eingestellte Wissenschaft zu der logischen Einheit ihres Gegenstandsgebietes dadurch, daß sie die in diesem auftretenden Widersprüche beseitigt, indem sie den Wahrheitsanspruch der einander widersprechenden Urteilsmeinungen und Deutungen g a n z oder teilweise, einseitig oder allseitig aufhebt. Dagegen läßt die Immanenzontologie die einander widersprechenden Wahrheitsansprüche unserer Wahrnehmungsdeutungen fortbestehen und sucht sie nur für den Bereich unserer alltäglichen P r a x i s unwirksam zu machen. Dies er-
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reicht sie auf verschiedene Weisen. Einerseits dadurch, daß sie jene Widersprüche einfach unbeachtet läßt und als nicht vorhanden betrachtet oder, wo sie sich dennoch aufdrängen, als rätselhafte Eigentümlichkeiten unserer Außenwirklichkeit selbst auffaßt. Anderseits dadurch, daß sie sie mildert, indem sie die uns vorliegenden Tatbestände durch Umdeutungen modifiziert, wodurch dann freilich neue Widersprüche von anderer Art heraufbeschworen werden. Durch dieses System von Verschleierungen kann das Ziel einer theoretisch eingestellten Ontotogie, die logische Widerspruchsfreiheit unseres Wirklichkeitsbildes, nicht erreicht werden. Wohl aber kommt dadurch ein Gesamtgefüge zustande, das sich trotz seiner theoretischen Widersprüche im Rahmen des täglichen Lebens als praktisch brauchbar erweist. Das kann man sich an dem ebenso verwickelten und kunstvollen, wie gewaltsamen und widerspruchsvollen Aufbau unseres immanenzontologischen Wirklichkeitssystems leicht vergegenwärtigen. Theoretisch betrachtet stellt dieses System einen Versuch dar, die uns flächenhaft gegebenen Sichtbestände durch Umdeutung in eine dreidimensionale Raumwirklichkeit zu verwandeln; mit dieser sichthaften Raumwirklichkeit die anderen, von ihr artverschiedenen Wahrnehmungsbestände unter Ausschaltung ihrer eigenen räumlichen und energetischen Systematik zu einem einzigen, räumlich und naturgesetzlich einheitlichen Gesamtaußenwirklichkeitssysteme zu vereinigen; und der so beschaffenen Außenwirklichkeit die Bewußtseinswirklichkeiten trotz der Andersartigkeit ihrer inneren Systematik durch eine zwiefache Bezugsweise einzugliedern. Dieser Versuch, das Ungleichartige so zu behandeln, als wäre es nicht ungleichartig sondern von gleicher Art, mußte theoretisch an seinen inneren Widersprüchen scheitern. Praktisch aber hatte er den Wert «iner Fiktion, die den Bedürfnissen des täglichen Lebens gerecht wird. Und auf der Grundlage unserer Erörterungen über das Wesen des transzendenzontologischen Erscheinungstypus dürfen wir hinzufügen, daß zu einem in dem Bereiche unserer Praxis brauchbaren Wirklichkeitsbegriffe auch nur eine Fiktion dieser Art führen konnte. Denn, wenn sich unsere Wirklichkeitspraxis mit den ihr immanenten Beständen begnügen muß, und diese Bestände die Einheitlichkeit der transzendenten Wirklichkeit vermissen lassen, nichtsdestoweniger aber diese letztere Wirklichkeit für uns vorstellen sollen, dann kann ihnen jene Einheitlichkeit, die sie nicht haben, nur vermittels eines fiktiven Kunstgriffes beigemessen werden. Aber auch von dem transzendenzontologischen Standpunkte aus darf dieser eigentümliche Versuch der Immanenzontologie, über ihre eigenen Widersprüche hinweg zu kommen, nicht unterschätzt werden.
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Denn so widerspruchsvoll jener innere Aufbau unserer Wahrnehmungswelt auch sein mag, und so wenig unsere Wirklichkeitspraxis irgendein Repräsentationsverhältnis mit ihm beabsichtigt, so ist doch unverkennbar, daß das durch unser immanenzontologisches Verfahren zustandegebrachte Gesamtgebäude in seiner Konstruktion den entsprechenden Strukturverhältnissen in der transzendenten Außenwirklichkeit wesentlich näher steht als etwa das unseren Deutungen zu Grunde liegende Material der Empfindungen. Daher hat jenes Gebäude von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus beurteilt einen höheren Modellwert als dieses unverarbeitete Immanenzmaterial. Könnten wir die transzendente Außenwirklichkeit in concreto mit unserer immanenten Wahrnehmungswelt vergleichen, so würden wir dementsprechend finden, daß der größte Teil der immanenzontologischen Kunstgriffe zur Vereinheitlichung unseres Wirklichkeitsbildes zugleich einer Darstellung von Verhältnissen dient, die in der transzendenten Außenwirklichkeit tatsächlich bestehen, die aber in dem unverarbeiteten Immanenzmateriale nicht oder doch nicht angemessen zum Ausdrucke kommen. Daß dieses ohne Kenntnis der transzendenten Außenwirklichkeit zustandekommende und daher scheinbar merkwürdige Zusammentreffen kein zufälliges ist, sondern seine Begründung in den außenwirklichen, bewußtseinswirklichen und gnoseologischen Beziehungen findet, die zwischen der transzendenten Außenwirklichkeit und unseren Wahrnehmungsbeständen walten, wird in dem weiteren Verlaufe dieser Untersuchungen deutlich zu Tage treten. Dem auf praktische Ziele hinsteuernden immanenzontologischen Verfahren tritt auf Seiten der Transzendenzontologie, wie gesagt, eine rein theoretische Einstellung gegenüber. Dem entspricht es, daß hier der wechselseitige Widerspruch zwischen unseren immanenzontologischen Wahrnehmungsdeutungen nicht verschleiert, sondern aufgedeckt, und daß auf Grund dieses Widerspruches allen Immanenzbeständen ihr Außenwirklichkeitscharakter abgesprochen wird. Dabei ist es für den vollendeten Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt kennzeichnend, daß auch die Transzendenzontologie durch den inneren Aufbau der immanenzontologischen Systematik selbst nicht über dieses rein negative Ergebnis hinausgeführt wird. Denn, solange wir uns auf jenen inneren Aufbau beschränken, bewegen wir uns immer nur in dem geschlossenen Kreise unserer immanenten Bestandkomplexe als solcher, ohne je über diese hinaus und in transzendente Gebiete hinüberzugreifen. Zu demselben Ergebnisse führten unsere früheren eigenen Untersuchungen über den Aufbau der immanenten Wahrnehmungswelt. Nirgends stießen wir bei diesen Untersuchungen in
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positivem Sinne auf ein transzendenzontologisches Moment. Vielmehr mußten wir uns allenthalben mit der nur negativen Feststellung von inneren Widersprüchen begnügen. Nichtsdestoweniger werden wir in dem weiteren Verlaufe dieses Buches über solche Negationen hinaus zu einem positiven Aufbau der Transzendenzontologie gelangen. Aber das steht mit den soeben gekennzeichneten Verhältnissen nicht in Widerspruch. Denn ein solcher Schritt wird eben nur dadurch möglich, daß wir den immanenzontologischen und damit zugleich den Boden, auf den sich unsere praktische Außenwirklichkeitsauffassung beschränkt, grundsätzlich verlassen, indem wir gnoseologisch die Grenzen unserer sogenannten Erfahrung überschreiten. In der so von uns erkannten Außenwirklichkeit an sich aber fallen die soeben gekennzeichneten inneren Widersprüche, die mit dem Aufbau der immanenten Wahrnehmungswelt konstitutiv verbunden sind, nicht nur fort, sondern sie finden in dem Zusammenhange zwischen dieser letzteren und der transzendenten Außenwirklichkeit auch ihre Erklärung. Anderseits jedoch erweist sich unsere Wahrnehmungswelt von dieser Warte aus gesehen nicht als die Außenwirklichkeit, die sie zu sein beansprucht. Sie spielt vielmehr, wie wir wissen, die Rolle einer repräsentativen Erscheinung dieser letzteren und zwar die einer vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinung. Alle deutungserfüllten Meinungsbasen und daher auch alle Erscheinungen sind unseren früheren Erörterungen entsprechend auf Grund ihrer inneren Struktur mit einer doppelten Ansichfürunsbeziehung verbunden. Die eine dieser Beziehungen ist die zwischen der Meinungsbasis und dem Meinungsgegenstande waltende. Das ist in dem Falle der Erscheinung die Beziehung zwischen dem, was erscheint, und dem, wofür die Erscheinung gehalten wird. Auf diese Beziehung hat sich unsere bisherige Erörterung beschränkt. Daneben besteht das korrelative zweite Ansichfürunsverhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage. In dem Falle der Erscheinung macht sich dieses letztere Verhältnis darin geltend, daß jede Erscheinung nicht nur eine Erscheinung von dem ist, wofür sie gehalten wird, sondern außerdem auch eine Erscheinung von dem, was sie ontologisch an sich selbst ist, wofür sie aber nicht gehalten wird. So ist eine Panoramadarstellung eine Erscheinung nicht nur der Landschaft, die in dem Panorama dargestellt wird, sondern auch eine solche der farbenbedeckten Leinewand, die, ohne wahrgenommen zu werden, die ontologische Grundlage dieser Darstellung bildet. Oder ein Spiegel-
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bild ist nicht nur eine Erscheinung der Person, die sich in dem Spiegel erblickt, sondern auch eine Erscheinung des flächenhaften Bildes auf dem Spiegelglase, das als solches nicht von uns wahrgenommen wird. Dies ist die andere Bedeutung, die dem Begriffe der Erscheinung zukommt. Wollten wir versuchen, die verschiedenen Erscheinungstypen, die wir für das Verhältnis zwischen der erscheinenden Meinungsbasis und ihrem Meinungsgegenstande festgestellt haben, auf das soeben gekennzeichnete Verhältnis zwischen jener Basis und ihrer ontologischen Grundlage zu übertragen, so würden wir finden, daß sich in dieser Hinsicht alle über eine einfache Repräsentation hinausgehenden eigentlichen Erscheinungstypen auf einen einzigen Typus reduzieren, so daß sich hier nur der Typus der Erscheinung und der des einfachen Repräsentationsverhältnisses gegenüberstehen. Wir hätten also für das Verhältnis einer Erscheinung zu ihrer ontologischen Grundlage nur jene beiden Haupttypen zu konstatieren, deren charakteristischen Unterschied wir uns an den Beispielen einer Panoramadarstellung einerseits und der photographischen Wiedergabe einer Landschaft anderseits klargemacht haben. Der Grund dieses Sachverhaltes liegt darin, daß sich, wie wir früher gesehen haben, das Ansichfürunsverhältnis zwischen einer Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage nur auf ihre allgemeinbegriffliche Verschiedenheit erstreckt, während sie individualbegrifflich miteinander identisch sind. Dem entspricht es, daß sich in dieser Beziehung auch der Erscheinungscharakter der Meinungsbasis nur auf jene allgemeinbegriffliche Beschaffenheit unserer Deutung erstreckt. Eine solche Deutungsbeschaffenheit aber trat, wie wir erkannten, bei allen Erscheinungstypen ohne Unterschied auf. Und die Unterschiede ihrer Hemmung oder Vollendung betrafen nur ihre individualbegriffliche Identifikation mit dem Meinungsgegenstande. Dagegen wird das Verhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage von dieser Identifikation nicht berührt. Daher besteht für das letztere Verhältnis nur ein einziger Typenunterschied, eben der zwischen Repräsentation und Erscheinung. Und zwar liegt dieser Unterschied, unseren früheren Erklärungen entsprechend, darin, daß bei einem einfachen Repräsentationsverhältnisse die allgemeinbegriffliche Deutung des uns vorliegenden Bestandes unserer Willkür unterworfen ist, bei allen Typen einer eigentlichen Erscheinung dagegen zwangsläufig vor sich geht. Mit dem in dieser Hinsicht waltenden Verhältnisse zwischen der Erscheinung und ihrer ontologischen Grundlage hat es nun eine be-
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sondere, für die Transzendenzontologie wichtige Bewandtnis. Wir verbinden nämlich mit dem Begriffe der Erscheinung die eigentümliche Nebenbedeutung, daß an der Wirklichkeit einer solchen Erscheinung irgendetwas nicht stimmt. Und in der Tat verhält es sich so. Zwar hat jede Meinungsbasis, insoweit ihre ontologische Grundlage in Betracht kommt, dieselbe Wirklichkeit wie alle anderen ontologischen Bestände. Dagegen hat sie als das, als was wir sie unter Verkennung dieser Grundlage auffassen, also in unserem Falle als Erscheinung, ungeachtet ihrer konkreten Anwesenheit in unserem Bewußtsein, keine Wirklichkeit in dem eigentlichen ontologischen Sinne dieses Wortes. Zunächst ist offenbar, daß jeder Erscheinung die von ihr beanspruchte Außenwirklichkeit abgeht. Sie hat weder die Naturgesetzlichkeit noch die Raumstelle, auf die sie Anspruch erhebt. Wir können eine Panoramalandschaft zwar ansehen; aber wir können sie nicht durchwandern. Und wir können uns in einem Spiegel zwar erblicken; aber wenn wir hinter ihn greifen, so werden wir unseren Körper dort nicht finden. Dagegen ordnet sich die ontologische Grundlage dieser Erscheinungen, also die bemalte Leinewand oder die Spiegeloberfläche als solche dem räumlichen und naturgesetzlichen Zusammenhange der Außenwirklichkeit in jeder Hinsicht ein. Aber mit diesem ihrem Fiasko in der Außenwirklichkeit ist die ontologische Unwirklichkeit der Erscheinungen noch nicht erledigt. Sie betrifft auch deren ontologischen Bestand innerhalb des Bewußtseins. Denn, was den Erscheinungen fehlt, ist nicht nur eine an Naturgesetzlichkeit und Raumlage kennbare Außenwirklichkeit, sondern das Grundmerkmal aller Wirklichkeit überhaupt, der ontologische Ansichbestand. Eine Verfolgung dieses Umstandes bis in seine letzten Gründe ist ohne ein tieferes Eingehen auf die Transzendenzontologie des Bewußtseins nicht möglich und muß daher einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben. Hier soll nur erstmalig auf die intime Verwandtschaft aller Erscheinungen mit jenen ausschließlich gnoseologischen Meinungsgebilden hingewiesen werden, deren grundsätzlichen Unterschied von den im eigentlichen Sinne ontologischen Beständen unseres Bewußtseins wir in einem anderen Zusammenhange dargelegt haben. Diese Verwandtschaft ist von uns übrigens auch aus anderen Gesichtspunkten heraus schon betont worden. Denn wir haben in den Erörterungen dieses Kapitels wiederholt hervorgehoben, daß alle Meinungsbasen, also auch die Erscheinungen, ähnlich zu bewerten sind wie falsche Urteilsmeinungen, und daß sie nicht deshalb als nur für uns bestehende Gebilde betrachtet werden, weil sie bewußtseinswirklich wären, sondern deshalb, weil sie den gnoseologischen Charakter eines von einer falschen
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Urteilsmeinung abhängigen Sachbefundes tragen. Das gnoseologische Wesen dieses ihres Charakters tritt deutlich hervor, wenn wir es zunächst an solchen Meinungsbasen beobachten, die keine Erscheinungen sondern einfache Repräsentanten des von ihnen dargestellten Gegenstandes sind. Ich will zunächst ein Beispiel wählen, an dem der hier waltende Unterschied zwischen dem Gnoseologischen und dem Ontologischen besonders klar heraustritt. In der Sylvesternacht wird nach alter Volkssitte bei dem sogenannten Glückgießen ein geschmolzenes Stück Zinn so lange gedreht und gewendet, bis sich das Schattenbild als irgendein Gegenstand deuten läßt, der für das persönliche Schicksal des jeweils Beteiligten in dem neuen Jahre belangreich sein kann. Bei Deutungsspielen dieser Art leuchtet es jedermann ein, daß auch in der ontologischen Systematik des deutenden Bewußtseins zwischen dem tatsächlich erblickten Schatten als einer bewußtseinsontologisch an sich vorhandenen Grundlage und dem aus ihm erdeuteten Bestände als einer nur für uns bestehenden gnoseologischen Meinungsbasis ein Wirklichkeitsunterschied stattfindet. Den Schatten sehen wir unmittelbar vor uns. Den Gegenstand der Darstellung denken wir uns nur hinzu. Der Schatten ist in unserem Bewußtsein ontologisch vorhanden, ganz gleich ob wir ihn meinen oder nicht. Die erdeutete Meinungsbasis ist auf diese Weise in unserem Bewußtsein nicht vorhanden. Sie trägt die Züge eines gnoseologischen Gebildes und hängt von unserem jeweiligen auf den ontologischen Bestand des Schattens gerichteten Meinungsakte ab. In dieser Hinsicht besteht also auch innerhalb unserer Bewußtseinswirklichkeit zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage ein Unterschied der Wirklichkeitsweise. Aehnlich steht es, um auf unser früheres Beispiel zurückzugreifen, mit der photographischen Wiedergabe einer Landschaft. Hier freilich ist die bewußtseinswirkliche Verquickung zwischen ontologischen und gnoseologischen Faktoren schon wesentlich enger als bei jenen Schattenbildern. Nichtsdestoweniger wird auch bei einer solchen photographischen Wiedergabe niemand die dreidimensionale Deutung des Bildes, seine Beziehung auf Felder und Wälder, Dörfer und Straßen als eine Wirklichkeit in demselben ontologischen Sinne auffassen, wie die geschaute Bildfläche eine Wirklichkeit ist. Auch für die Systematik des Bewußtseins sind beide nicht in gleicher Weise wirklich: die Bildfläche sehen wir; die Landschaft denken wir wieder hinzu. Jene hat eine ontologische Bewußtseinswirklichkeit; diese ist auch hier von gnoseologischer Natur. Beide sind in unserem Bewußtsein anwesend; aber ihre Anwesenheit hat einen verschiedenen Wirklichkeitswert. 6
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In solchen Repräsentationen wie dem Schatten des gegossenen Zinns oder der Landschaftsphotographie ist uns der Wirklichkeitsunterschied zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir hinzudenken, deshalb ohne Weiteres klar, weil hier ein einfaches Repräsentationsverhältnis herrscht, kraft dessen wir den uns wirklich vorliegenden Bestand von dem, was wir deutend hinzudenken, scharf unterscheiden können. Mit den eigentlichen Erscheinungen steht es anders. Denn bei ihnen sind wir an unsere hinzugedachte Deutungserfüllung mit psychologischer Zwangsläufigkeit gebunden. Daher nehmen wir hier praktisch den gesamten also gedeuteten Bestand einschließlich seiner Deutung als ein Ganzes in ungeschiedener Einheit wahr. Dagegen nehmen wir den Bestand so, wie er abgesehen von unserer falschen Deutungserfüllung ist, nicht wahr. Dementsprechend werden wir hier zum Mindesten in Bezug auf die Bewußtseinswirklichkeit unserer Deutungserfüllungen weit zuversichtlicher als bei den bloßen Repräsentationen. Wir glauben,- die erscheinende Meinungsbasis auf dieselbe bewußtseinsontologische Weise unmittelbar vor uns zu haben, wie wir in jenen früheren Beispielen den ungedeuteten Schatten und die photographische Bildfläche vor uns hatten. Dagegen würde es uns als ein Widerspruch gegen die uns geläufige Auffassung des Sachverhaltes erscheinen, wenn jemand behaupten wollte: auch bewußtseinswirklich bestehe in einem Spiegelbilde oder in einer Panoramadarstellung zwischen unserer Deutungserfüllung dieser Dinge und ihrer ontologischen Grundlage ein Unterschied. Dennoch werden wir in einem späteren Kapitel unserer Untersuchung zu zeigen haben, daß dieser Unterschied tatsächlich besteht. Denn näher zugesehen hat es auch hier, ebenso wie bei jenen Repräsentationen, mit der Wirklichkeit unserer Deutungserfüllungen eine andere Bewandtnis als mit der ihrer ontologischen Grundlage. Beide sind, auch wenn wir nur die eine von ihnen bemerken, in unserem Bewußtsein anwesend, und beide sind insofern bewußtseinswirklich. Aber sie sind es auf eine verschiedene Weise. Die eine ist ontologisch wirklich und besteht unabhängig von allen gnoseologischen Deutungen an sich. Die andere ist auch hier nur gnoseologisch wirklich und besteht von DeutungserfüllUngen abhängig lediglich für uns. Daher sind die Erscheinungen, auch wenn wir von ihren Außenwirklichkeitsansprüchen absehen und sie ausschließlich nach ihrer Bewußtseinswirklichkeit betrachten, nicht in demselben Sinne wirklich, wie ontologische Bestände wirklich sind. Man kann sich den hier waltenden Sachverhalt auch durch folgende Erwägung klarmachen. Haben wir ein Schattenbild vor
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uns und deuten es auf einen beliebigen Gegenstand, so wird offenbar diese unsere Deutung auf das Schattenbild selber bezogen. Es verhält sich also nicht so, daß wir erstens das Schattenbild vor uns hätten und zweitens ein von ihm getrenntes anderes Gebilde, mit dem das Schattenbild verglichen würde; sondern wir beziehen die von uns hinzugedachte Deutung auf das Schattenbild selber. Es ist als identisch dasselbe Bild zweierlei zugleich, nämlich einmal ein dunkeles Flächenstück an der Wand und zum anderen der körperliche Gegenstand, als den wir dieses Flächenstück deuten. Nicht anders steht es mit jener Photographie einer Landschaft. Hier ist nicht erstens eine Papierfläche mit Lichtern und Schatten da und zweitens getrennt von ihr ein Landschaftsbild mit Tiefenausdehnung, welche beiden wiederum miteinander verglichen würden; sondern das, was auf der einen Seite eine Papierfläche ist, ist auf der anderen Seite zugleich jenes perspektivische Landschaftsbild. Mit anderen Worten: ein und derselbe Individualbestand hat innerhalb unserer Bewußtseinswirklichkeit zwei verschiedene Beschaffenheiten: eine, die wir als ungedeutet zu betrachten pflegen, und eine zweite gedeutete. Beide dieser Beschaffenheiten sind mit ihrer unmittelbaren Konkretheit in unserer Erlebniseinheit anwesend. Wir wollen es dahingestellt sein lassen, ob sie jemals zugleich von uns bemerkt werden. Die als deutungslos betrachtete Beschaffenheit aber ist auch dann, wenn sie nicht bemerkt sondern über der Deutungserfüllung von uns vernachlässigt wird, in unserem Bewußtsein vorhanden. Denn nachträglich darüber befragt wird der Deutende zum Mindesten in vielen Fällen zugeben müssen, daß, obwohl unbemerkt und unbeschadet seiner Deutungserfüllungen, eigentlich nur ein Schatten oder eine Lichtbildfläche in seiner Erlebniseinheit gewesen sei, und daß alles andere trotz seiner ebenfalls konkreten Anwesenheit in unserem Bewußtsein immerhin nur den Charakter einer Deutung getragen habe. Der hier in unserem Bewußtsein auftretende Bestand hatte also zu gleicher Zeit zwei verschiedene Seinsweisen. Er war doppeldeutig. Nun pflegen wir aber jeden Wirklichkeitsbestand, wenn anders «r als ein ontologischer an sich besteht, als etwas Eindeutiges aufzufassen. Das bildet eine unserer Grundvoraussetzungen jeder Wirklichkeitsbetrachtung. Wollen wir diese Voraussetzung in dem vorliegenden Falle nicht aufgeben, so kommen wir angesichts der Doppeldeutigkeit der hier auftretenden Bestände auch aus diesen Erwägungen heraus zu dem Schlüsse, daß unser Bewußtsein außer seiner ontologischen Wirklichkeit noch eine zweite hat, nämlich seine gnoseologische. Der doppelten Seinsweise eines und desselben Bestandes innerhalb 6*
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und außerhalb seiner Deutungserfüllung entspricht dann seine doppelte Zugehörigkeit zu der ontologischen und der gnoseologischen Wirklichkeit unseres Bewußtseins. Diese Wirklichkeitsduplizität tritt in den soeben genannten Beispielen einer einfachen Repräsentation deutlich zutage. Bei den eigentlichen Erscheinungen liegt, wie wir gesehen haben, der Sachverhalt insofern anders, als hier mit psychologischer Zwangsläufigkeit dauernd nur die eine der beiden Seinsweisen von uns bemerkt wird, die andere dagegen immer unbemerkt bleibt. Unter diesen Umständen erhebt sich die Frage: zu welcher der beiden Wirklichkeiten unseres Bewußtseins gehört die allein von uns bemerkte Beschaffenheit dieser Erscheinungen? zu der ontologischen oder zu der gnoseologischen? Wir haben uns in dem letzteren Sinne entschieden. Ist diese Entscheidung richtig, so kommt den Erscheinungen als nur gnoseologischen Deutungsgebilden auch innerhalb unseres Bewußtseins nicht der Ansichbestand der ontologischen Wirklichkeitsbestände zu. Auf diesem Umstände beruht die Nebenbedeutung einer inneren Unwirklichkeit, die dem Begriffe der Erscheinung, auch abgesehen von der Nichtigkeit ihrer Außenwirklichkeitsansprüche, im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Sprachgebrauche anhaftet. Zwar hat in ihrer Weise auch jede Erscheinung eine Wirklichkeit, denn sie ist ja in dem Bewußtsein dessen, dem sie erscheint, anwesend und ein ontologischer Bestand liegt ihr zu Grunde. Aber sie hat weder die Außenwirklichkeit, die wir ihr zuschreiben, noch ist sie innerhalb unserer Bewußtseinswirklichkeit an sich bestehend und ontologiach das, als was wir sie in gnoseologischer Deutung wahrnehmen. Insofern haben die Erscheinungen eine eigentümliche Zwitterstellung zwischen den von unserem Bewußtsein abwesenden und nur gnoseologisch gemeinten Beständen einerseits und den Beständen, die unserem Bewußtsein als rein ontologische unmittelbar vorliegen, anderseits. Von jenen uns nur gnoseologisch erreichbaren Beständen, deren Beziehungen zu dem meinenden Bewußtsein wir früher kennen gelernt haben, also zB. von Walther von der Vogelweide oder der Insel Ceylon als ontologisch von unserem Bewußtsein abwesenden Gegenständen unseres Meinens, unterscheiden sich die Erscheinungen dadurch, daß bei ihnen die gnoseologische Relation in der Form einer Deutungserfüllung an unmittelbar in unserem Bewußtsein anwesende ontologische Bestände anknüpft. Auf der anderen Seite aber unterscheiden sie sich von solchen rein ontologischen Beständen wieder dadurch, daß sie das, als was sie innerhalb dieser Deutungserfüllung auftreten, ebenso wie die uns nur gnoseologisch erreichbaren Bestände, nicht
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sowohl auf Grund ihres ontologischen Ansichbestandes in unserem Bewußtsein sind, sondern vielmehr auf Grund eines nur für uns bestehenden gnoseologischen Meinungsaktes über sie. Nach transzendenzontologischer Auffassung ist nun unsere gesamte Wahrnehmungswelt, wie wir sie uns imrnanenzontologisch erdeuten, eine Erscheinung. Und zwar ist sie das nicht nur im Unterschiede zu ihrem außenwirklichen Meinungsgegenstande, sondern auch im Unterschiede zu ihrer bewußtseinswirklichen ontologischen Grundlage. Unter diesen Umständen müßte auch unserer Wahrnehmungswelt die soeben von uns charakterisierte nichtontologische Wirklichkeitsweise zukommen. Sie wäre also nicht nur nicht außenwirklich, sondern sie wäre auch nicht in einem ontologischen Sinne bewußtseinswirklich. Vielmehr hätte sie jene eigentümliche Art der gnoseologischen Wirklichkeit, die wir hier nur andeutungsweise skizzieren konnten, und mit deren genauerer Struktur wir uns später eingehend zu beschäftigen haben. Dieser Auffassung des Sachverhaltes scheint zunächst ein naheliegendes Argument entgegenzustehen, nämlich das der offenbaren Naturgesetzlichkeit unserer deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände in ihrem Immanenzsysteme. Wir sagten: eine Panoramalandschaft erweist sich dadurch als eine Erscheinung, daß wir sie nicht durchwandern können. Nun, so könnte man erwidern, unsere Wahrnehmungswirklichkeit können wir durchwandern. Also ist sie keine Erscheinung, sondern eine Wirklichkeit in dem vollen ontologischen Sinne des Wortes und zwar die Außenwirklichkeit. Die Transzendenzontologie würde dieses Argument ablehnen. Sie würde leugnen, daß wir unsere immanente Wahrnehmungswelt durchwandern können. Aber sie würde nicht leugnen, daß wir die transzendente Außenwirklichkeit durchwandern. Und sie würde behaupten, daß diese transzendente Außenwirklichkeit durch unsere immanente Wahrnehmungswelt repräsentiert wird. Wir durchwandern nicht diese Repräsentationen. Das können wir nicht; denn sie sind nur bewußtseinswirklich; und auch das sind sie, wie wir gesehen haben, nicht auf eine ontologische, sondern nur auf eine gnoseologische Weise. Wohl aber durchwandern wir mit Hilfe unserer Wahrnehmungen die Außenwirklichkeit, die durch sie repräsentiert wird, und die uns nur in diesen Repräsentationen bekannt ist. Wie das im Einzelnen möglich ist. hat der weitere Verlauf unserer Untersuchungen zu zeigen. Es wird sich dort erweisen, daß unsere deutungserfüllte Wahrnehmungswelt, wenn man sie als eine selbständige Wirklichkeit betrachtet, zwar nur eine Erscheinung ist; daß sie aber,
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wenn man sie als eine Repräsentation der transzendenten Außenwirklichkeit betrachtet, die dort waltenden Verhältnisse in einer kunstvollen und für unser praktisches Verhalten angemessenen Weise darstellt. Sie ist also nur ein phaenomenon; aber ein phaenomenon bene fundatum. Wir haben in dem Gesamtverlaufe aller bisherigen Untersuchungen dasjenige als immanent bezeichnet, was in dem Bereiche unserer sogenannten Erfahrung liegt, also innerhalb unseres erlebniseinheitlichen Bezirkes als Bestandstück unserer ontologischen oder ontologisch fundierten gnoseologischen Bewußtseinswirklichkeit anwesend ist oder es doch sein kann. In diesem Sinne galt uns im besonderen die in den Ueberschneidungsbezirk unseres Bewußtseins hineinragende wahrnehmbare Außenwirklichkeit als immanent. Von dieser Außenwirklichkeit aber erkannten wir, daß sie so, wie sie innerhalb unserer Ueberschneidung auftritt, nach transzendenzontologischer Auffassung den Charakter einer nur für uns bestehenden Erscheinung trägt und daher nicht auf ontologische sondern auf gnoseologische Weise bewußtseinswirklich sein dürfte. Das für uns Bestehende, die Erscheinung als eine gnoseologische Bewußtseinswirklichkeit ist also hier das uns Immanente. Dagegen sind uns, wie schon aus den bisherigen Erörterungen geschlossen werden mag und im Laufe der weiteren Untersuchung immer klarer zutage treten wird, die dieser Erscheinung gegenüberstehenden Ansichbestände, also ihre beiden ontologischen Gegenglieder transzendent. Das gilt sowohl von dem Meinungsgegenstande unserer Wahrnehmungswelt als auch von ihrer ontologischen Grundlage. Auf dem Gebiete der Transzendenzontologie ist uns demnach alles ontologisch Wirkliche transzendent und nur das gnoseologisch Wirkliche immanent. Transzendente und ontologische Wirklichkeit als Ansichbestand, immanente und gnoseologische Wirklichkeit als Fürunsbestand sind hier einander korrelat. Diese Korrelation ist, wie wir erkennen werden, nur durch die besonderen in der Transzendenzontologie waltenden Verhältnisse bedingt. Dagegen bestehen zwischen Immanenz und Füruns, Transzendenz und Ansich, soweit diese Begriffsbildungen als solche in Frage kommen, keinerlei grundsätzliche Beziehungen, die ein derartiges Korrelatverhältnis implizierten. Wenn wir das Zustandekommen eines solchen Verhältnisses innerhalb der Transzendenzontologie verstehen wollen, so bedarf es unter diesen Umständen einer Klärung über den Bedeutungsgehalt der Begriffe Immanenz und Transzendenz und einer Untersuchung über die Struktur der durch solche Immanenz- und Transzendenzverhältnisse bedingten
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Situationen. Es wird sich dann zeigen, wie es kommt, daß unter gewissen Umständen die Strukturverhältnisse der Meinungsbasis mit den Strukturverhältnissen der Immanenz und Transzendenz zusammenfallen. Suchen wir den Bedeutungsgehalt der Begriffe Immanenz und Transzendenz näher zu bestimmen, so ist zunächst offenbar, daß eine Beschränkung desselben auf die Grenzen unserer sogenannten Erfahrung in jedem Falle zu eng ist. Seine Anwendung auf diese Grenzen wird zwar von der philosophischen Ueberlieferung bevorzugt, scheidet aber für unsere Zwecke aus, da sie nur den besonderen Fall einer allgemeineren Verwendungsmöglichkeit darstellt. Denn an und für sich haben die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz mit dem Begriffe der Erfahrung nichts zu tun. In der Praxis des wissenschaftlichen Sprachgebrauches pflegen wir von Immanenz im Allgemeinen dort zu sprechen, wo irgendein Bestand ganz oder teilweise innerhalb eines anderen liegt. Und demgemäß reden wir von Transzendenz dort, wo beide Bestände restlos außerhalb voneinander liegen. Ueber das wechselseitige Verhältnis einer solchen Immanenz und Transzendenz können wir uns leicht klar werden, wenn wir zu diesen beiden Begriffen als einen dritten Begriff noch den der Identität hinzunehmen. Wir erkennen dann, daß die Immanenz eine Zwischenstufe zwischen den beiden Grenzfällen der Identität und der Transzendenz darstellt. Denken wir uns nämlich die wechselseitige Immanenz zweier Bestände so gesteigert, daß es keinen Teil des einen Bestandes gibt, der nicht zugleich ein Teil des anderen wäre und umgekehrt, so hätte nunmehr ihre Immanenz als solche aufgehört, und sie wären stattdessen miteinander identisch geworden. Die Identität ist also ein Grenzfall der Immanenz. Denken wir uns gegenteils die wechselseitige Immanenz der beiden Bestände so vermindert, daß sie keinen Bestandteil mehr miteinander gemeinsam haben, so hätte die Immanenz dieser Bestände abermals aufgehört. Denn sie wären nunmehr einander transzendent. Die Transzendenz ist also der andere Grenzfall der Immanenz. Unter diesen Umständen können wir die Immanenz sowohl als eine unvollendete Identität als auch als eine unvollendete Transzendenz ansprechen. Der Sprachgebrauch, der nur Immanenz und Transzendenz, nicht aber Immanenz und Identität miteinander zu verbinden pflegt, weist uns jedoch darauf hin, daß als das Maßgebende an der Immanenz nicht ihre Beziehung zu der Identität, sondern ihre Beziehung zu der Transzendenz gilt. Das hat seine guten Gründe. Wir sprechen nämlich sowohl von Immanenz als auch von Transzendenz immer nur da, wo die in Frage stehenden Bestände als selbständige Gebilde auf-
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gefaßt werden. Diese ihre Selbständigkeit haben derartige Bestände in dem Grenzfalle ihrer Identität verloren. Denn zwei miteinander identische Bestände sind nicht zwei Bestände sondern einer. Dagegen tut der andere Grenzfall der Immanenz, die wechselseitige Transzendenz zweier Bestände einer Selbständigkeit dieser letzteren keinen Eintrag. Mit anderen Worten: nur in den Fällen der Immanenz und der Transzendenz wird die Selbständigkeit der in Frage stehenden Bestände erhalten. Dagegen wird sie in dem Falle ihrer Identität verloren. Hieraus wird es verständlich, warum wir uns nur jenes ersteren Begriffspaares zu bedienen pflegen und eine Verknüpfung der Immanenz mit der Identität im Allgemeinen außer Betracht lassen. Zugleich ergibt sich aus diesen Verhältnissen noch eine weitere Folge, deren Wesen deutlich zutage tritt, wenn man die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz auf eine etwas allgemeinere Form bringt. Man kann nämlich den Begriff der Immanenz als ein zwischen zwei Beständen waltendes Widerspruchsverhältnis mit einer Identitätsergänzung definieren. Aus dieser Definition ergibt sich ohne Weiteres die soeben gekennzeichnete Zwischenlage der Immanenz zwischen ihren beiden Grenzfällen. Wird das in ihr waltende Widerspruchsverhältnis gleich null, so kommen wir zu dem Grenzfalle einer Identität. Wird die in ihr waltende Identitätsergänzung gleich null, so kommen wir zu dem anderen Grenzfalle einer Transzendenz. Wenn wir nunmehr dem von uns gewonnenen Ergebnisse entsprechend den Grenzfall der Identität ausschalten, so fällt in die Augen, daß das der Immanenz und der Transzendenz Gemeinsame und daher das für ihre Korrelation Charakteristische ein Widerspruchsverhältnis ist. Die Immanenz ist ein Widerspruchsverhältnis mit und die Transzendenz ein solches ohne Identitätsergänzung. Das für beide Wesentliche ist also der Widerspruch und nicht die Identitätsergänzung. Nun ist es aber offenbar, daß die hier in Betracht kommende Art des Widerspruches mit dem Prinzip der Transzendenz identisch ist. Zwei einander transzendente Bestände stehen in einem restlosen wechselseitigen Widerspruchsverhältnisse. Zwei einander immanente Bestände sind freilich inbezug auf ihre Identitätsergänzung miteinander identisch. Dagegen stehen sie in ihren übrigen Teilen ebenfalls in einem wechselseitigen Widerspruchsverhältnisse und sind sich transzendent. Wir werden diese letzteren Transzendenzverhältnisse noch zu berühren haben. Es zeigt sich also, daß das Prinzip der Transzendenz nicht nur in der sogenannten Transzendenz selber auftritt, sondern auch in der sogenannten Immanenz, und daß dementsprechend in dem Begriffs-
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paare Immanenz und Transzendenz das für beide Wesentliche die Transzendenz ist und nicht die Immanenz. Diese Transzendenz haben wir als ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung definiert. Das ist insofern nicht ohne Belang, als wir früher erkannten, daß Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung nur in gewissen Systemzusammenhängen auftreten können, von anderen Systemzusammenhängen dagegen grundsätzlich ausgeschlossen sind. Es ist nun eine merkwürdige Tatsache, daß in diesen letzteren Systemen nicht nur der Begriff der Transzendenz sondern auch der Begriff der Immanenz nicht anwendbar ist. Man könnte geneigt sein, diesen Umstand daraus zu erklären, daß der Immanenzbegriff immer nur dort anwendbar sei, wo sich auch der Transzendenzbegriff anwenden lasse, da ja beide Begriffe in Korrelation stünden. Allein es läßt sich zeigen, daß dies nicht der Fall ist, und daß jener Umstand einen anderen Grund hat. Wäre nämlich die Korrelation zwischen Immanenz und Transzendenz daran schuld, daß wir in dem bezeichneten Falle den Begriff der Immanenz nicht anzuwenden pflegen, dann müßte das Entsprechende auch in dem umgekehrten Falle gelten. Es gibt Systemzusammenhänge, in denen eine Identitätsergänzung und daher eine Immanenz der einander transzendenten Bestände nicht nur tatsächlich nicht stattfindet, sondern auch grundsätzlich ausgeschlossen ist. Wenn jene Argumentation im Rechte wäre, so könnte in diesem Falle außer dem Begriffe der Immanenz nunmehr auch der Begriff der Transzendenz nicht angewendet werden, da ja die Anwendung seines Korrelatbegriffes unmöglich ist. Dennoch wenden wir in diesem letzteren Falle den Begriff der Transzendenz stets und ohne Bedenken an. Es kann also an der Korrelation zwischen Immanenz und Transzendenz nicht liegen, wenn wir diese Begriffe auf jene von uns gekennzeichneten ersteren Systemzusammenhänge nicht anwenden. Der wahre Grund ist ein anderer. Er besteht darin, daß die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz nur auf die Bezugsverhältnisse zwischen selbständigen Beständen anwendbar sind. Und eine solche Selbständigkeit lassen die in jenen Systemen auftretenden Bestände vermissen. Hierüber will ich mich kurz erklären. Die Systeme, in denen Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung grundsätzlich ausgeschlossen sind, sind eben damit solche, für deren Bestände eine wechselseitige Identitätsergänzung konstitutiv ist. Gerade durch diese Art ihrer Konstitution aber wird die Selbständigkeit solcher Bestände aufgehoben. Sie bestehen nicht aus eigenen Gnaden, sondern kraft ihrer Identitätsbeziehung zu den anderen Beständen ihrer Syste-
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matik. Wollte man diese ihre Identitätsbeziehung wegdenken, so hätte man eben damit die betreffenden Bestände selbst weggedacht. Denn ihre Identitätsbeziehung gehört zu ihrer Konstitution. Selbständig sind nur solche Bestände, denen eine Identitätsergänzung nicht konstitutiv ist, und die daher auch ohne eine solche gedacht werden können. Ohne Identitätsergänzung aber stehen derartige Bestände in wechselseitiger Transzendenz. Oder anders ausgedrückt: zu der Selbständigkeit zweier Bestände gehört es, daß sie sich in Transzendenz zueinander denken lassen. Und das ist bei denjenigen Beständen, bei denen ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung ausgeschlossen ist, nicht der Fall. Nun aber sahen wir, daß nur auf selbständige Bestände auch der Begriff der Immanenz anwendbar ist. Einander immanent können also nur solche Bestände sein, die sich auch als einander transzendent denken lassen. Aus diesen Erwägungen geht hervor, daß die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz eine verschiedene Reichweite haben. Denn der Begriff der Transzendenz kann auf Bestände ohne Identitätsergänzung in jedem Falle angewendet werden. Dagegen kann der Begriff der Immanenz auf Bestände mit Identitätsergänzung nur dann angewendet werden, wenn sich diese Bestände auch ohne Identitätsergänzung, also in Transzendenz denken lassen. Wir können die soeben gekennzeichnete einer Transzendenz nicht fähige Bestandsystematik als die logische, die einer Transzendenz fähige Systematik dagegen als die alogische kennzeichnen. Das Wesen der logischen Systematik liegt, wie wir früher erkannten, in einer Verkettung von Identitäts- und Widerspruchsbeziehungen. Dabei ist es in der Eigenart dieser Systematik begründet, daß die in ihr auftretenden Widerspruchsbeziehungen niemals ihren bloßen und lediglich ausschließenden Widerspruchscharakter haben, sondern stets mit Identitätsergänzungen durchsetzt sind. Die Identität ist also das beherrschende Prinzip der logischen Systematik. Daher gibt es keinen logischen Widerspruch, der nicht zugleich eine Identitätsergänzung in sich trüge. Von dieser Art ist das wechselseitige Verhältnis zwischen Allgemeinbegriffen und das Verhältnis zwischen Allgemeinbegriffen und konkreten Beständen, insofern diese an einem Allgemeinbegriffe teilhaben oder nicht teilhaben. Denn stets ist auch da, wo ein Allgemeinbegriff zu einem anderen oder ein konkreter Bestand zu einem Allgemeinbegriffe, an dem er nicht teilhat, in einem Widerspruchsverhältnisse steht, ein den einander widersprechenden Gebilden übergeordneter Begriff da, an dem sie beide teilhaben, und der ihre Identitätsergänzung bildet. Ausschließende
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Widersprüche in dem Sinne, daß die einander gegenüberstehenden Gebilde nichts miteinander gemeinsam hätten, gibt es in der logischen Systematik nicht. Daher ist in dieser Systematik auch kein Transzendenzverhältnis denkbar. Das aber heißt, wie unsere Erörterungen zeigten, zugleich, daß in ihr auch kein Immanenzverhältnis auftreten kann. Anders steht es mit der alogischen Systematik. War in der logischen Systematik das sie beherrschende Prinzip der Identität der Grund dafür, daß dort weder der Begriff der Transzendenz noch der der Immanenz zur Anwendung kommen konnte, so ist in der alogischen Systematik das diese beherrschende Prinzip des Widerspruches der Grund dafür, daß in ihr der Begriff der Transzendenz die maßgebende Rolle spielt. Das Charakteristikum der alogischen Systematik ist, wie wir früher gesehen haben, ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung. Die in dieser Systematik auftretenden Bestände können daher, insofern sie nicht miteinander identisch sind, immer nur in einem reinen Widerspruchsverhältnisse zueinander stehen, ohne daß zugleich auch eine Identität zwischen ihnen waltete. Unter diesen Umständen scheint in der alogischen Systematik nur eine Transzendenz von Beständen möglich, eine Immanenz derselben dagegen ebenso, wenn auch aus anderen Gründen, ausgeschlossen zu sein wie in der logischen Systematik. Denn das Prinzip der Immanenz erfordert jene Identitätsergänzung, die, wie wir soeben gesehen haben, der alogischen Systematik grundsätzlich abgeht. Dennoch tritt in diesen alogischen Systemen nicht nur das Transzendenz* sondern auch ein Immanenzverhältnis auf. Zum Verständnisse dieser Tatsache tut man gut, sich zu vergegenwärtigen, daß eine Transzendenz nicht nur zwischen einzelnen Beständen, sondern auch zwischen einem dieser Bestände und einem Systeme von mehreren Beständen bzw. zwischen verschiedenen solchen Systemen stattfinden kann. Sollte es daher ausgeschlossen sein, daß die einzelnen Bestände einer alogischen Systematik in Immanenzbeziehungen zueinander treten, und diese Immanenz ist in der Tat ausgeschlossen, so wäre immer noch die Möglichkeit zu erwägen, daß ein einzelner Bestand einem jener Systeme, bzw. daß jene Systeme einander immanent sein könnten. Auf dieser Möglichkeit beruht die Tatsache der in den alogischen Systemen vorkommenden Immanenzen. Nicht die wechselseitige Beziehung zwischen den Einzelbeständen nimmt hier die Form eines Immanenzverhältnisses an. Wohl aber kann der einzelne Bestand zu einem Bestandsysteme und können die Bestandsysteme untereinander in ein solches Verhältnis treten. Bedenkt man, daß jedes der dabei beteiligten Systeme selbst eine alogische Systematik hat, so kann man
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die hier auftretende Immanenz als ein Widerspruchsverhältnis mit Identitätsergänzung auffassen, das jedoch nur solche Systeme betrifft, deren Einzelbestände einander transzendent sind, dh. in einem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung zueinander stehen. Nachalledem ist der Bereich der Transzendenz in den alogischen Systemen umfassender als der der Immanenz. Denn während alle einander immanenten Bestände, wie wir erkannten, auch als einander transzendent denkbar sein müssen, können nicht umgekehrt alle Bestände, die einander transzendent sind, darum auch schon einander immanent sein. Dazu bedarf es vielmehr mindestens eines Systems von mehreren Beständen. So können zB. zwei konkrete, unendlich kleine Bestände, also etwa zwei Punkte, einander nur entweder transzendieren oder miteinander identisch sein. Dagegen können sie keine Immanenz eingehen. Denn zu dem Begriffe der Immanenz gehört es, daß die sich immanenten Gebilde teilweise miteinander identisch sind und teilweise in Widerspruch zueinander stehen. Dieses beides ist bei unendlich kleinen Beständen, da sie keine Teile haben, ausgeschlossen. Es zeigt sich demnach, daß das primäre und beherrschende Prinzip der alogischen Systematik die Transzendenz ist, während die Immanenz nur eine unter bestimmten Umständen eintretende sekundäre Komplikation der Transzendenz darstellt. Einander immanent können also nur bestimmte unter denjenigen Beständen sein, die einander transzendent sein können. Es muß, abgesehen von anderen Bedingungen, die wir später kennen lernen werden, zum Mindesten einer dieser Bestände eine endliche Größe und zwar ein System von mehreren untereinander in Widerspruch ohne Identitätsergänzung stehenden Beständen bilden. Denn nur dann kann ein Teil dieser Bestände, wie es die Struktur des Immanenzverhältnisses erfordert, mit dem anderen Bestände oder Systeme ganz oder teilweise identisch sein. Im Allgemeinen läßt sich das Wesen einer solchen Immanenz dahin beschreiben, daß identisch dieselben Einzelbestände sowohl zu dem einen als auch zu dem anderen zweier Immanenzglieder gehören, von welchen letzteren mindestens das eine ein System von Beständen ist und die Gesamtheit jener Einzelbestände überragt. Der jeweils in dieses eine System hineinragende Teil des anderen Immanenzgliedes ist dann jenem ersteren Systeme immanent. Dagegen sind alle Teile eines Systems, die in das andere Immanenzglied nicht hineinragen, diesem letzteren transzendent. Die hineinragenden Teile stellen demnach die Identitätsergänzung der Immanenz, die nicht hineinragenden Teile das mit ihr verbundene Widerspruchsverhältnis dar.
Die tatsächliche und die grundsätzliche Transzendenz
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Im Einzelnen können diese Immanenzbeziehungen zwei verschiedene Formen annehmen. Ueberragen sich beide Systeme wechselseitig, so stehen sie zueinander in einem Ueberschneidungsverhältnisse. Sie sind sich dann in Bezug auf ihren Ueberschneidungsbezirk gegenseitig immanent. Dagegen transzendieren sie sich in Bezug auf den Bezirk diesseits und jenseits der Ueberschneidung. Ueberragt nur das eine der beiden Systeme den in Frage stehenden Bestandkomplex und bildet dieser letztere das andere System selber, so tritt die einseitige Immanenz des Teiles im Ganzen ein. Jener Teil ist dann diesem Ganzen restlos immanent. Dagegen ist das Ganze dem Teile in demjenigen Bezirke, mit dem es über den Teil hinausragt, transzendent. Im Hinblicke auf die erlebniseinheitlichen Grenzen unseres Bewußtseins findet die erstere Art der Immanenz eine Illustration in der immanenzontologischen Theorie der Ueberschneidung. Ein Beispiel für die letztere Art der Immanenz bilden auf der anderen Seite diejenigen Bestände diesseits der Ueberschneidung, die lediglich einen erlebniseinheitlichen Charakter tragen und von uns selbst auch lediglich nach ihrer Bewußtseinswirklichkeit aufgefaßt werden. Ein Einblick in die Komplikationen, die die Transzendenzverhältnisse auf den verschiedenen Gebieten der Ontologie zeigen, lehrt, daß es eine Reihe von besonderen Arten der Transzendenz gibt. Man kann sich die Besonderheiten dieser Arten am einfachsten klarmachen, wenn man die verschiedenen Faktoren beachtet, die für die Situationen, in denen eine Transzendenz auftritt, von Bedeutung sind. Hier kommen zunächst die grundsätzlichen Eigenstrukturen der einander transzendenten Bestände selbst in Betracht. Die Beachtung dieser Strukturen führt zu einer Unterscheidung zwischen grundsätzlicher und tatsächlicher Transzendenz. Eine grundsätzliche Transzendenz findet überall dort statt, wo es die grundsätzliche Struktur eines der einander transzendenten Bestände oder beider ist, die ein wechselseitiges Eindringen des einen Bestandes in den anderen verhindert. Dagegen kann man von einer nur tatsächlichen Transzendenz überall da sprechen, wo die grundsätzliche Struktur der betreffenden Bestände das Eindringen des einen Bestandes in den anderen nicht verhindern würde und ihre Transzendenz also nicht durch jene Struktur sondern durch andere Umstände bedingt ist. Hieraus ergibt sich ohne Weiteres, daß eine Immanenz nur zwischen solchen Beständen stattfinden kann, die in tatsächlicher, nicht dagegen zwischen solchen Beständen, die in grundsätzlicher Transzendenz stehen.
Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Die hier gekennzeichnete Unterscheidung ist namentlich für das Verständnis der Verschiedenheit zwischen der immanenzontologischen und der transzendenzontologischen Außenwirklichkeitstranszendenz unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke gegenüber wichtig. Auch die Bestände der immanenten Außenwelt sind uns, insofern sie jenseits der Ueberschneidung liegen, in ihrer Weise transzendent. Aber sie sind es nach immanenzontologischer Auffassung nur tatsächlich und nicht grundsätzlich. Denn einerseits haben sie selber keine andere Struktur als die uns immanenten Bestände innerhalb des Ueberschneidungsbezirkes, und anderseits ist auch durch die Struktur unseres Bewußtseins ihr Eintritt in unseren Erfahrungsbereich nicht ausgeschlossen. Daher können wir ihre Transzendenz als eine von den beiderseitigen Strukturverhältnissen unabhängige und insofern zufällige betrachten. In diesem Sinne ist mir gegenwärtig ein Nebenzimmer hinter der Türe nur tatsächlich und nicht grundsätzlich transzendent. Denn ich brauche bloß die Türe zu öffnen und einzutreten, um seine Immanenz herbeizuführen. Und selbst solche Gegenstände, zu denen wir tatsächlich niemals gelangen können, wie die Rückseite des Mondes oder das Erdinnere oder, um ein Beispiel zeitlicher Transzendenz zu wählen, alles, was sich vor unserer Geburt auf Erden ereignet hat, sind uns darum doch nur tatsächlich und nicht grundsätzlich transzendent. Denn, wenn wir uns auf einen anderen kosmischen Standpunkt versetzt, oder wenn wir uns das Erdinnere aufgedeckt, oder wieder wenn wir uns in die Zeiten der Vergangenheit zurückversetzt denken, so ist das, was wir in einem solchen Falle sehen würden, demjenigen gleichgeartet zu denken, was wir heute sehen. Diese Dinge können uns zwar nicht tatsächlich immanent werden, grundsätzlich sind sie uns aber nicht verschlossen. Eher könnte man über die tatsächliche oder grundsätzliche Transzendenz solcher Bestände im Zweifel 3ein, die unterhalb oder oberhalb unserer Wahrnehmungsschwelle liegen, oder für die uns ein Sinneswerkzeug überhaupt fehlt. Wie steht es, so könnte man fragen, mit der Transzendenz der ultraroten oder der ultravioletten Strahlen? Wie mit der Transzendenz eines magnetischen Feldes? Sind uns die Bestände dieser Art grundsätzlich oder nur tatsächlich transzendent? Die Antwort scheint zunächst einfach zu sein. Denn, so könnte man argumentieren, hier ist die Transzendenz in der Struktur unseres Bewußtseins und seiner leiblichen Sinneswerkzeuge begründet. Sie ist daher eine grundsätzliche. Aber eine kurze Ueberlegung zeigt uns, daß dies nicht der Fall ist. Dächten wir uns nämlich unsere Wahr-
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nehmungsfähigkeit über ihre Schwellengrenzen erhöht oder dächten wir uns unser Bewußtsein mit neuen Sinnen begabt, so würden jene uns gegenwärtig transzendenten Bestände unserer Erfahrung in demselben Sinne immanent werden, wie die heute innerhalb unserer Wahrnehmungsgrenzen liegenden Ueberschneidungsbestände. Das Wahrnehmungsfeld unseres Bewußtseins wäre tatsächlich geändert; aber seine grundsätzliche Struktur wäre dieselbe geblieben. Denn dadurch, daß unser Bewußtsein die Bereiche seiner Erfahrung erweitert, wird zwar sein tatsächlicher Umfang, nicht aber seine grundsätzliche Struktur betroffen. Es bliebe seinem Wesen nach, was es war, und funktionierte in den ihm neu erschlossenen Gebieten in grundsätzlich derselben Weise, wie es in den Grenzen seiner heutigen Erfahrung arbeitet. Nichtsdestoweniger ist es natürlich sinnvoll, zwischen denjenigen Beständen, die uns nur infolge ihrer äußeren Lage transzendent sind, und denjenigen Beständen zu unterscheiden, deren Transzendenz auf den tatsächlichen Schranken unserer Wahrnehmungsfähigkeit beruht. Allein für die Transzendenzontologie ist diese letztere Unterscheidung von geringerem Belange. Anders steht es mit denjenigen Transzendenzen, die die grundsätzliche Struktur unseres Bewußtseins berühren. Wollte jemand zB. die Forderung stellen, daß wir nicht nur die uns jetzt unzugänglichen Außenwirklichkeitsbestände wahrnehmen sollten, sondern auch die Gesamtheit derjenigen Bestände, die in der Erlebniseinheit eines Fremdbewußtseins auftreten, so wäre eine solche Forderung nur durch eine grundsätzliche Aenderung der Struktur unseres Bewußtseins zu erfüllen. Denn das Bewußtsein eines Anderen könnte, wenn wir seine Erlebniseinheiten selber wahrnehmen und sie nicht nur durch das Verfahren der früher geschilderten Fremdbewußtseinsrealisation erfassen sollen, niemals auf dieselbe Weise in den ontologischen Bezirk unseres eigenen Bewußtseins eintreten, wie die Ueberschneidungsbestände der immanenten Außenwirklichkeit. Unser Bewußtsein müßte dementsprechend nicht nur um eine tatsächliche Erweiterung der ihm zugänglichen Bestandkomplexe sondern auch um eine grundsätzlich neue Art seiner Funktionen bereichert, eben damit aber in seiner grundsätzlichen Struktur geändert werden. Mit anderen Worten: die Transzendenz des Fremdbewußtseins ist im Unterschiede zu der Transzendenz der immanenzontologischen Außenwirklichkeitsbestände eine grundsätzliche und nicht nur eine tatsächliche. Dieselbe Art der grundsätzlichen Transzendenz proklamiert nun aber die Transzendenzontologie auch für das Verhältnis zwischen der
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
Außenwirklichkeit selbst und unserem Bewußtsein. Denn transzendenzontologisch betrachtet ist das Wesen auch dieser Transzendenz durch die grundsätzliche Struktur unseres Bewußtseins bedingt. Ist dies der Fall, so könnte eine Immanenz der transzendenten Außenwirklichkeit nur dann Zustandekommen, wenn unser Bewußtsein von Grund aus anders gebaut wäre, als es tatsächlich gebaut ist. Dagegen könnte uns angesichts der tatsächlich vorliegenden Struktur unseres Bewußtseins die transzendente Außenwirklichkeit selber niemals immanent werden. Vielmehr würde jede auch noch so feine Ausgestaltung unseres Bewußtseins im Rahmen seiner gegenwärtigen Struktur immer nur zu einer spezifisch bewußtseinswirklichen Repräsentation der transzendenten Außenwirklichkeit führen. Nachalledem charakterisiert sich die immanenzontologische Transzendenz der Außenwirklichkeit als eine nur tatsächliche, die transzendenzontologische dagegen als eine grundsätzliche. Nun pflegen wir aber den Begriff der Transzendenz in einem engeren Sinne dieses Wortes vorzugsweise auf grundsätzliche Transzendenzen anzuwenden. Daraus erklärt es sich, daß wir in der Immanenzontologie nicht nur den uns tatsächlich immanenten Ueberschneidungsbezirk, sondern auch die gesamte uns tatsächlich transzendente Außenwirklichkeit jenseits der Ueberschneidung als eine immanente zu bezeichnen pflegen. Diese Außenwirklichkeit jenseits der Ueberschneidung ist uns zwar tatsächlich transzendent. Grundsätzlich aber kann sie uns jederzeit immanent werden. Und auch in dem Zustande ihrer Transzendenz wird sie von uns als mit denselben Eigenschaften behaftet gedacht, wie die immanenten Bestände. Man könnte in dieser letzteren Hinsicht, wenn man den inneren Widerspruch einer solchen Redewendung in Kauf nehmen will, von einer gleichsam allgemeinbegrifflichen Immanenz der Außenwirklichkeit trotz einer individualbegrifflichen Transzendenz derselben sprechen. Sie trägt allgemeinbegrifflich dieselben Eigenschaften wie die Ueberschneidungsbestände, liegt aber individualbegrifflich bis auf den im Verhältnisse zum Ganzen verschwindend kleinen Ueberschneidungsteil, den wir wahrnehmen, jenseits unseres Bewußtseins. Im Uebrigen sei darauf hingewiesen, daß uns neben der hier behandelten und transzendenzontologisch besonders wichtigen Art der grundsätzlichen Transzendenz noch eine zweite Art dieser letzteren auf dem Gebiete unserer Wirklichkeitssystematik begegnen wird. Diese Transzendenz beruht, wie wir erkennen werden, nicht auf der grundsätzlichen Struktur des wahrnehmenden Bewußtseins selbst, sondern vielmehr auf der grundsätzlichen Struktur unserer
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Sinneswerkzeuge und der durch ihre Vermittelung wahrgenommenen Körperwelt. Nehmen wir an, daß alle physischen Körper innerhalb unseres Wahrnehmungsbereiches grundsätzlich undurchdringlich seien, dann ist offenbar, daß dieser Umstand die grundsätzliche wechselseitige Transzendenz solcher Körper bedingt. Wir können sie in noch so feiner Verteilung untereinander gemischt denken: niemals können sie sich in der Weise immanent werden, daß irgend ein Teil des einen Körpers an die Stelle irgendeines Teiles des anderen Körpers träte, ohne eben damit diesen anderen Teil von seinem alten Platze zu verdrängen. Vielmehr bliebe trotz jener Mischung jeder der beiden Körper in jedem seiner Teile den Teilen des anderen Körpers gegenüber grundsätzlich transzendent. — Der weitere Verlauf unserer Untersuchungen wird uns zeigen, welche Bedeutung dieses Prinzip für die Erklärung gewisser innerhalb unserer Wahrnehmungswelt selber auftretender Transzendenzen hat. Werden die besonderen Arten der Transzendenz einerseits durch die grundsätzlichen Strukturen der einander transzendenten Bestände selbst bedingt, so werden sie anderseits auch durch die Gesamtsituationen bestimmt, innerhalb deren solche Bestände stehen. Wenn wir uns nun diese Gesamtsituationen vergegenwärtigen, so erkennen wir, daß hier zwei verschiedene Transzendenztypen auftreten können. Für den einen dieser Typen ist es entscheidend, daß sich seine Bestände zwar transzendieren, unbeschadet ihrer Transzendenz aber in jenen Realbeziehungen miteinander stehen, die wir früher als charakteristisch für Systeme mit konkreten Beständen erkannt haben. Die Bestände des anderen Typus dagegen sind sich ohne solche gegenseitige Realbeziehung transzendent. Wir wollen den den ersteren Typus den der verbundenen und den zweiten Typus den der unverbundenen Transzendenz nennen. Als eine Zwitterbildung zwischen diesen beiden Typen endlich erweist sich eine dritte Art der Transzendenz, die unter bestimmten Umständen bei Systemen mit einer doppelten Seinsweise stattfindet. Solche Systeme scheinen dann anderen Systemen gegenüber mit der einen ihrer Seinsweisen in verbundener, mit der anderen dagegen in unverbundener Transzendenz zu stehen. Mit Rücksicht darauf, daß in diesen Fällen die hier auftretende verbundene Transzendenz den primären Faktor, die auf ihr fußende unverbundene Transzendenz dagegen nur einen sekundären Faktor darstellt, wollen wir diese Systeme als sekundär unverbundene bezeichnen und sie als einen besonderen Fall der verbundenen Transzendenz betrachten. 7
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Die Realbeziehung, die zwischen den in verbundener Transzendenz stehenden Systemen waltet, kann beliebige Formen annehmen. Jede als irgendwie kausal zu betrachtende Verbindung ist von dieser Art und zwar wäre sie es auch dann, wenn sie sich als unabhängig von Raum und Zeit denken ließe. In der Regel jedoch pflegt man die hier in Frage kommenden Realbeziehungen als an Raum und Zeit gebunden zu betrachten. Das bedeutet, daß die in einer solchen Transzendenz einander gegenüberstehenden Bestände innerhalb einer und derselben Kontiguitätsystematik auftreten. Die Kontiguitätsystematik aber stellt, wie wir früher erkannt haben, einen positiven Sonderfall des negativen und allgemeineren Prinzips eines Widerspruches ohne Identitätsergänzung dar. Eben damit erfüllt sie zunächst die Bedingungen der Transzendenz überhaupt. Und zwar würde sie dem Typus der unverbundenen Transzendenz angehören, wenn sie jenes Widerspruchsverhältnis nur in seiner negativen Form darstellte. Aber das ist nicht der Fall. Vielmehr liegt ihre Eigenart darin, daß sie durch ein positives Moment über jene bloße Negation hinausgeht. Und eben dieses positive Moment macht nun die Kontiguität zu einem ausgesprochenen Prinzip der verbundenen Transzendenz. Denn, was eine solche Kontiguität als einen positiven Sonderfall von jenem nur negativen Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung unterscheidet, das ist die bei ihr zutage tretende Realbeziehung der Benachbarung zwischen den miteinander in Widerspruch stehenden Beständen. Kraft dieser ihrer Benachbarung sind dieselben Bestände, die sich logisch wechselseitig ausschließen, ontologisch miteinander verbunden. Wir können daher die Kontiguitätsystematik als ein Musterbeispiel für die Strukturen ansehen, die den in verbundener Transzendenz stehenden Beständen zugrundeliegen. In diesem Sinne transzendieren sich zB. zwei räumlich voneinander getrennte Körper oder zwei zeitlich getrennte Phasen eines Vorganges. Anders steht es mit den unverbundenen Transzendenzen. Sie spielen, wie wir erkennen werden, eine nicht unerhebliche Rolle in den Bezugsverhältnissen der nur gedachten Bestände. Dagegen schließt es der Begriff einer Naturgesetzlichkeit unserer Wirklichkeit aus, daß die Bestände dieser letzteren de facto in eine unverbundene Transzendenz zueinander treten könnten. Denn alles, was innerhalb derselben Naturgesetzlichkeit steht, ist eben damit auch untereinander verbunden. Nur wenn es noch eine zweite Wirklichkeit gäbe, die zu der unserigen in keinerlei Realbeziehungen stünde, könnten auf ontologischem Gebiete zwischen den Beständen dieser und jener Wirklichkeit unverbundene Transzendenzen auftreten. Doch können wir über das Vor-
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handensein oder Nichtvorhandensein einer solchen zweiten Wirklichkeit nichts aussagen. Im Uebrigen sei darauf hingewiesen, daß ein Analogon der unverbundenen Transzendenz in dem Rahmen der Immanenzontologie auch innerhalb unserer eigenen Wirklichkeit aufzutreten schien. Denn die geschlossenen Immanenzsysteme zeigten, wenn wir sie nur nach ihrer Außenwirklichkeit beurteilten, in ihrem Simultanschnitte keinerlei gemeinsame Realbeziehung. Allein auch von dem Standpunkte der Immanenzontologie galt das nur für den Simultanschnitt solcher Systeme. Dagegen galt es nicht für ihren Sukzessivschnitt. Denn da alle Immanenzsysteme innerhalb einer und derselben Zeit stehen, so kann offenbar die eine Phase des einen Systems früher oder später sein als die andere Phase eines der anderen Systeme. Dh. zwischen verschiedenen Zeitphasen verschiedener Systeme waltet trotz der simultanen Unverbundenheit dieser letzteren dieselbe Art der verbundenen Transzendenz wie zwischen den verschiedenen Zeitphasen eines und desselben Systems. Der weitere Fortgang unserer Erörterungen wird uns darüber aufzuklären haben, wie dieser Sachverhalt von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus zu deuten ist. Sehen wir von den hier angedeuteten besonderen Situationen ab, so liegt das eigentliche Feld der unverbundenen Transzendenzen in den Bezugverhältnissen der nur gedachten Bestände. Diese letzteren haben unter anderem die Eigentümlichkeit, daß sie ihrem Bedeutungsgehalte nach großenteils als in isolierten Systemen stehend gedacht werden. Eben diese Isolation der gedachten Systeme bringt es mit sich, daß sie anderen Systemen und ihren Beständen in einer unverbundenen Transzendenz gegenübertreten. So besteht zB. zwischen der Welt eines Romans und der Welt der Wirklichkeit, oder zwischen den Welten zweier verschiedener Romane keinerlei Realbeziehung. In jeder dieser Welten sind zwar alle ihr zugehörigen Bestände kausal miteinander verbunden. A b e r kein Bestand der einen Welt hat eine Kausalbeziehung zu einem Bestände der anderen Welten. Auch spielt jede dieser Welten in einem Räume: aber jede in einem anderen. Jede dieser Welten endlich spielt in einer Zeit. A b e r ihre Zeiten sind in der gleichen Weise verschieden. Goethes Werther, Wilhelm Meister und Goethe selbst sind weder gleichaltrig, noch ist der eine jünger oder älter als der andere. Jeder von ihnen lebt in seiner eigenen Zeit, sei es der wirklichen oder einer nur gedachten; keiner in der des anderen. Infolge dieser Verhältnisse stehen solche gedachten Systeme sowohl zueinander als auch zu der Wirklichkeitssystematik in einem anderen Transzendenzverhältnisse als in dem, das etwa zwischen ver7*
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schiedenen Wirklichkeitsbeständen waltet. Denn diese letzteren sind durch Realbeziehungen miteinander verbunden. Dagegen stehen jene gedachten Systeme zueinander und zu der Wirklichkeit in einer unverbundenen Transzendenz. Durch die hier beschriebene Isolierung gedachter Systeme kann unter Umständen ein unverbundenes Transzendenzverhältnis auch zwischen allgemeinbegrifflichen und konkreten Beständen hergestellt werden. Da dieser Umstand zu gewissen vorangegangenen Erörterungen in einem Widerspruche zu stehen scheint und anderseits geeignet ist, unsere Einsicht in das Verhältnis zwischen allgemeinbegrifflichen und konkreten Beständen zu vertiefen, so möchte ich mich hierüber noch kurz erklären. Wir erkannten, daß auf das wechselseitige Verhältnis zwischen allgemeinbegrifflichen Beständen weder der Immanenz- noch der Transzendenzbegriff anwendbar ist, da diese Bestände infolge ihrer konstitutiven Identitätsergänzung der für ein Immanenz- oder Transzendenzverhältnis erforderlichen Selbständigkeit ermangeln. Auch die soeben behandelte Isolierung der gedachten Systeme kann hieran nichts ändern. Denn allgemeinbegriffliche Bestände lassen sich eben nicht gegeneinander isolieren. Vielmehr gehört ihre wechselseitige Identitätsergänzung zu ihrem Wesen. Daher können solche Bestände untereinander niemals in Transzendenz treten. Anders steht es mit dem Verhältnisse zwischen allgemeinbegrifflichen und konkreten Beständen. Auch dieses Verhältnis ist insofern ein logisches, als die konkreten Bestände an dem Bedeutungsgehalte der Allgemeinbegriffe teilhaben oder nicht teilhaben. Eben deshalb sind auf ein solches Teilhabeverhältnis die Begriffe der Immanenz und der Transzendenz wieder unanwendbar. Allein es ist zu beachten, daß dieses Teilhabeverhältnis einen anderen Charakter trägt als die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Allgemeinbegriffen. Denn während diese letzteren Beziehungen für den Bestand der Allgemeinbegriffe konstitutiv sind, ist jenes Teilhabeverhältnis weder für die Allgemeinbegriffe noch für die konkreten Bestände konstitutiv. Für die allgemeinbegrifflichen Bestände nicht: denn ihr Bedeutungsgehalt bleibt unberührt davon, ob es konkrete Bestände gibt, die an ihnen teilhaben oder nicht. Aber auch für die konkreten Bestände nicht: denn sie bleiben das, was sie sind, auch wenn wir von ihrem Teilhabeverhältnisse zu den allgemeinbegrifflichen Beständen absehen. Unter diesen Umständen können wir uns die allgemeinbegrifflichen und die konkreten Bestände sowohl in dem Identitätsverhältnisse der Teilhabe als auch von diesem befreit, dh. sowohl in einem
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logischen als auch in einem alogischen Bezugsverhältnisse denken. Das letztere findet dann statt, wenn wir von der früher geschilderten Verkörperung der Allgemeinbegriffe in den konkreten Beständen absehen und sie nach ihrer gegenstandstheoretischen Selbständigkeit als ein Reich zeitloser Bestände auffassen. Eben damit heben wir jede Identitätsbeziehung zwischen den allgemeinbegrifflichen und den konkreten Beständen auf. Zwischen ihnen besteht dann nur noch ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung. Das aber heißt: das eine System ist dem anderen transzendent geworden. Und zwar steht es zu ihm in einer unverbundenen Transzendenz. Denn offenbar schließt die Natur der Allgemeinbegriffe eine zwischen ihnen und anderen Beständen waltende Realverbindung aus. Solche Realverbindung gibt es nur zwischen konkreten Beständen. Daher ist eine verbundene Transzendenz auch nur zwischen konkreten Beständen möglich. Neben dem Typus der verbundenen und dem der unverbundenen Transzendenz trat als eine Zwitterbildung zwischen beiden jener eigentümliche Typus auf, den wir als den der sekundär unverbundenen Transzendenz bezeichneten, und der, wie wir später sehen werden, in der Transzendenzontologie eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Man kann sich das Wesen dieser Zwitterbildung am einfachsten an der wechselseitigen Transzendenz zwischen zwei Bewußtseinssystemen klarmachen. Seinem Simultanschnitte nach tritt jedes Bewußtseinssystem, soweit seine inneren Systemcharaktere in Frage kommen, mit dem Ansprüche auf, in sich geschlossen zu sein. Wir wollen die in der Immanenzontologie von uns aufgeworfene Frage, wie es sich dann mit den Ueberschneidungsbezirken verhalte, einmal ausschalten. Nehmen wir an, zwei Personen schlafen und jede von ihnen träumt etwas. Ein solches träumendes Bewußtsein hat seiner erlebniseinheitlichen Systematik nach keinerlei Realbeziehungen außerhalb seiner selbst. Weder kausal noch räumlich steht das, was es träumt, mit irgend etwas anderem als den Beständen der träumenden Bewußtseinswirklichkeit in Verbindung. Hat also jede der beiden Personen ihren eigenen Traum, so stehen sich die beiden Traumwelten in einer unverbundenen Transzendenz gegenüber. Es gibt kein zwischen ihnen vermittelndes Medium. Sie sind daher in einem ähnlichen, wenn auch, wie wir sogleich sehen werden, nicht in demselben Sinne, wie zwei Romanwelten gegeneinander isoliert. Allein, so stellt sich der Sachverhalt nur dann dar, wenn wir ihn von dem Standpunkte der erlebniseinheitlichen Systematik unseres Bewußtseins betrachten. Er gewinnt ein anderes Aussehen, wenn wir
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nunmehr zu dem Systemcharakter der Außenkausalität des Bewußtseins übergehen. Einander transzendent freilich sind die beiden Bewußtseinssysteme auch von dem Standpunkte dieses letzteren. Aber ihre Transzendenz erscheint jetzt nicht mehr als eine unverbundene, sondern als eine verbundene. Denn kraft seiner Außenkausalität steht sowohl das eine Bewußtsein als auch das andere mit der Außenwirklichkeit in Realbeziehungen. Von diesem Standpunkte aus sind daher die beiden Bewußtseinssysteme selbst Außenwirklichkeitsfaktoren. Sie stehen dementsprechend unbeschadet der Geschlossenheit und des eigentümlichen Wesens ihrer erlebniseinheitlichen Systematik in einer ähnlichen Art der wechselseitig verbundenen Transzendenz wie andere Außenwirklichkeitsbestände. Man erkennt hieraus deutlich, worin die Besonderheit der sekundär unverbundenen Transzendenz besteht. Sie besteht darin, daß einer oder beide der einander transzendenten Bestände zwei verschiedene Seinsweisen haben, und daß die eine dieser Seinsweisen der anderen gegenüber geschlossen ist. In dem soeben geschilderten Falle der Bewußtseinstranszendenzen beruht diese Doppelung der Seinsweisen auf einer Doppelung der hier ins Spiel tretenden Systemcharaktere. In anderen Fällen, die wir noch kennen lernen werden, beruht sie auf anderen Faktoren. Im Uebrigen sei hier noch darauf hingewiesen, daß in allen Fällen der sekundär unverbundenen Transzendenz deren Unverbundenheit wieder nur dem Simultanschnitte der einander transzendenten Bestände eignet, nicht dagegen ihrem Sukzessivschnitte. So stehen die zeitlich verschiedenen Phasen jener träumenden Bewußtseinssysteme unbeschadet ihrer sonstigen Unverbundenheit innerhalb einer und derselben Zeitsystematik. Das eine Traumereignis des einen Bewußtseins kann daher früher oder später als ein anderes Traumereignis in dem anderen Bewußtsein sein. Eben hierauf beruht auch der Unterschied zwischen der wechselseitigen Isolierung zweier Romanwelten und einer entsprechenden Isolierung der Träume in zwei Bewußtseinssystemen. Jene Romanwelten haben kraft ihrer primären Unverbundenheit eine verschiedene Zeit. Dagegen haben diese Träume infolge ihrer nur sekundären Unverbundenheit eine und dieselbe Zeit. Es liegt auf der Hand, daß die hier geschilderte Zeitgebundenheit der sekundär unverbundenen Systeme grundsätzlich der früher geschilderten Zeitgebundenheit gleicht, die wir für die scheinbar unverbundene Transzendenz zwischen den geschlossenen Immanenzsystemen feststellten. Unter diesen Umständen liegt die Vermutung nahe, daß auch diese letztere den Charakter einer nur sekundär unverbundenen Transzen-
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denz trägt. Wie es sich damit tatsächlich verhält, wird der weitere Verlauf unserer Untersuchungen zu zeigen haben. Ueberblickt man die hier dargelegten Sachverhalte, so erkennt man ohne Weiteres, daß die Unterscheidung zwischen verbundener und unverbundener Transzendenz von der anderen Unterscheidung zwischen tatsächlicher und grundsätzlicher Transzendenz in jeder Beziehung unabhängig ist. Das tritt schon darin zu Tage, daß sich die in unverbundener Transzendenz stehenden Bestände keineswegs immer grundsätzlich zu transzendieren brauchen, und daß umgekehrt die sich grundsätzlich transzendierenden Bestände oft genug in verbundener Transzendenz stehen. Es darf eben nicht übersehen werden, daß die Unterscheidung zwischen tatsächlicher und grundsätzlicher Transzendenz auf die Struktur der einander transzendenten Bestände selbst geht, während die Unterscheidung zwischen verbundener und unverbundener Transzendenz von den Gesamtsituationen handelt, innerhalb deren die einander transzendenten Bestände auftreten. Beides sind vollständig verschiedene Dinge. Der Typus der verbundenen Transzendenz gewinnt dadurch eine eigene Bedeutung, daß er zwei verschiedene Arten der Betrachtung ermöglicht. Wir können uns nämlich einerseits auf den Standpunkt der einander transzendenten Bestände stellen. In diesem Falle tritt die Tatsache der hier waltenden Transzendenz in den Vordergrund, und die Tatsache ihrer Verbundenheit tritt verhältnismäßig zurück. Anderseits aber können wir uns auch auf den Standpunkt des Mediums stellen, durch das die sich transzendenten Bestände miteinander verbunden sind, und von dessen Systematik sie gewöhnlich als Teile im Ganzen umfaßt werden. Dann tritt die Verbundenheit solcher Bestände in den Vordergrund, während die Tatsache ihrer wechselseitigen Transzendenz zurücktritt. Diese letztere Betrachtungsweise ist für diejenigen Transzendenzen belangreich, die innerhalb der Felder unseres Bewußtseins auftreten. Denn, wenn zwei einander transzendente Bestände in die Bereiche unseres Bewußtseins gelangen, dann wird ihre Transzendenz in jedem Falle durch die hier auftretenden eigentümlichen Bezugsweisen überbrückt. Unser Bewußtsein spielt demnach die Rolle eines Mediums, durch das jede in seinen Bereich tretende Transzendenz zu einer besonderen Art der verbundenen Transzendenz wird. Und zwar kann diese Verbindung in zwiefacher Weise stattfinden: nämlich einmal durch erlebniseinheitliche Beziehungen, wenn die Transzendenz in den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins selbst fällt; und zum anderen
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durch gnoseologische Beziehungen, wenn es sich um eine außerhalb jenes Bewußtseinsbezirkes und nur in unserem gnoseologischen Felde liegende Transzendenz handelt. Wenn wir uns zunächst zu den Ueberbrückungsfunktionen unserer Erlebniseinheit wenden, so können wir an jene Erörterungen anknüpfen, die uns in einem früheren Zusammenhange zu dem Begriffe einer erlebniseinheitlichen Ueberdeckung der Bewußtseinsbestände führten. Wir fanden dort, daß zum Mindesten einzelne unter unseren erlebniseinheitlichen Beständen in einer räumlichen Kontiguitätssystematik stehen, welche von ihrer erlebniseinheitlichen Ueberdeckung unabhängig ist. Solche Bestände sind sich eben damit wechselseitig transzendent. So besteht eine Transzendenz dieser Art zwischen einem Gegenstande an der rechten und einem an der linken Grenze meines Sichtfeldes. Eine andere Art der Transzendenz besteht zwischen einem Schalle, den ich höre, und einer Tastempfindung an meinem Finger. Und wieder besteht eine Transzendenz zwischen meinen Vorstellungen und meinen Wahrnehmungen. Wie in jenen früheren Erörterungen, so wollen wir es auch hier dahingestellt sein lassen, ob alle diese einander transzendenten Bestände, dem ersten Anscheine zuwider, auch wechselseitig in Raumbeziehungen stehen. Zwischen einigen von ihnen, zB. zwischen jenen verschiedenen Beständen in demselben Sichtfelde bestehen jedenfalls solche Raumbeziehungen. Und das ist insofern wichtig, als es uns zeigt, daß zum Mindesten gewisse Bestände unserer Erlebniseinheit in einer doppelt verbundenen Transzendenz stehen. Denn ihre Transzendenz ist nunmehr erstens räumlich und zweitens erlebniseinheitlich verbunden. Die Erlebniseinheit kann also zu anderen Transzendenzverbindungen hinzukommen und sie überdecken. Daß sie dabei wesentlich andere Systemzusammenhänge schafft, als die in einer ihr zugrundeliegenden Raumsystematik bestehenden, haben wir schon in unseren früheren Erörterungen erkannt. Die Ueberbrückungsfunktion dieser erlebniseinheitlichen Systematik ist uns allen aus der unmittelbaren Erfahrung bekannt. Ihre allgemeinbegriffliche Bestimmung dagegen stößt auf Schwierigkeiten. Wir können zwar gewisse Eigenschaften angeben, die sie mit anderen Systemzusammenhängen gemeinsam hat; aber ihre besondere Eigenart entzieht sich der begrifflichen Bestimmung. Unter diesem Vorbehalte darf man die Erlebniseinheit als überbrückendes Medium zunächst durch das Merkmal der Ganzheit charakterisieren. Dieses Merkmal teilt sie mit der Mehrzahl aller ontologischen Systeme. Und zwar gehört es zu der besonderen Art der
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erlebniseinheitlichen Ganzheit, daß sie etwas anderes ist als die Summe ihrer Teile. Im Anschlüsse an unsere frühere Unterscheidung zwischen der bewußtseinswirklichen Darbietung und ihrem erlebniseinheitlichen Bemerktwerden dürfen wir diesen Sachverhalt dahin kennzeichnen, daß die erlebniseinheitliche Ganzheit zu der Summe der ihr dargebotenen Teile als etwas von ihnen Verschiedenes hinzutritt und sich als eine Systematik höherer Ordnung über ihnen aufbaut. Hiermit ist zugleich gesagt, daß diese eigentümliche die bewußtseinswirkliche Darbietung in sich aufnehmende Ganzheit nicht etwa als eine bloße Umgrenzung von Beständen aufzufassen ist, die ihre erlebniseinheitliche Eigenart auch ohne diese Umgrenzung hätten. Sie bildet vielmehr einen spezifisch ontologischen und aktiv wirksamen Faktor, der den ihr dargebotenen Beständen ein besonderes Gepräge gibt. Auf diese Weise wird hier eine neue wirkliche Realbeziehung zwischen den unserem Bewußtsein dargebotenen Beständen geschaffen. Eben hierauf beruht die spezifische Ueberbrückungsfunktion der Erlebniseinheit. Das kann man sich an jeder beliebigen Wahrnehmungssituation klarmachen, in der zwei verschiedene Bestände gleichzeitig erfaßt werden. Dadurch daß wir sie erfassen, wird zwischen ihnen ein neuer Zusammenhang gestiftet, der ohne unsere Wahrnehmung nicht da wäre. Sie werden eben damit von derselben Erlebniseinheit umfangen, die zu ihrem Eigenbestande hinzukommt, und durch deren Fortfall die eigentümliche Ueberbrückung ihres gemeinsamen Erfaßtwerdens verloren ginge. In diesem Sinne ist nach immanenzontologischer Auffassung eine und dieselbe Wahrnehmungswelt in unserem Ueberschneidungsbezirke mit, in dem Bezirke jenseits der Ueberschneidung dagegen ohne erlebniseinheitliche Ueberbrückung enthalten. Die erlebniseinheitliche Ueberbrückung tritt hier also als dasjenige auf, was den Wahrnehmungsbeständen im Unterschiede von ihrer außenwirklichen Daseinsform die Bewußtseinswirklichkeit verleiht. Mit dem Ganzheitscharakter der Erlebniseinheit hängt auch ihre eigentümliche Unteilbarkeit zusammen. Das Wesen dieser Unteilbarkeit liegt nicht darin, daß wir die Gesamtheit der uns dargebotenen Bestände nicht teilen könnten. Wir können sie vielmehr beliebig teilen. Aber so scharf wir diese Teilung auch durchführen mögen, niemals gelangen wir durch sie zu einer Halbierung unserer Erlebniseinheit oder zu zwei verschiedenen Erlebniseinheiten. Denn es sind immer nur die sich darbietenden Bestände, die der Teilung unterliegen. Dagegen kann die erlebniseinheitliche Systematik selbst, in der solche Bestände auftreten, niemals geteilt werden. Vielmehr gehört es zu dem Wesen der Erlebniseinheit, daß sie alle durch solche Teilung geschaffenen Trans-
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zendenzen, ohne irgendwie von ihnen berührt zu werden, mit ihrer ganzheitlichen Systematik überbrückt. Zu beachten bleibt ferner, daß sich diese ganzheitliche Systematik auf ein begrenztes Feld erstreckt. Eben hierauf beruht die Geschlossenheit unseres Bewußtseins. Es steht ihm immer nur ein bestimmter ontologischer Bezirk zur Verfügung, innerhalb dessen die einander transzendenten Bestände auftreten, auf den die erlebniseinheitliche Systematik beschränkt ist, und über den wir infolgedessen ontologisch nicht hinausgelangen. Durch solche allgemeinbegrifflichen Bestimmungen lassen sich einige Züge der Erlebniseinheit als eines überbrückenden Mediums beschreiben. Das darf uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Beschreibungen nicht erschöpfend sind, und daß sie die Hauptsache, nämlich dasjenige, was die Erlebniseinheit vor allen anderen Systemzusammenhängen auszeichnet, ihre spezifische Bewußtheit nicht treffen. Dieser Bewußtheitscharakter unserer Erlebniseinheiten ist aus guten Gründen nicht mehr beschreibbar. Er läßt sich nur dadurch kenntlich machen, daß man jeden auf seine eigenen Erlebniseinheiten verweist. Denn wir sind die Reihe unserer Erlebniseinheiten selber. Das, was jeder von uns als sein Ich bezeichnet, ist in jeder seiner Simultanphasen zugleich der erlebniseinheitliche Systemzusammenhang, durch den die in ihm auftretenden Transzendenzen überbrückt werden. In diesem Sinne pflegen wir alle von der Ueberbrückungsfunktion unserer eigenen Erlebniseinheit zu sagen: ich bin es, der meine Bewußtseinsbestände erlebt. Wir selbst sind das sie umfassende Medium. Wir sind also nicht die bloße Summe der einzelnen Bestände, die in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins auftreten und sich wechselseitig transzendieren. Wir sind vielmehr die alle diese Bestände erfassende ganzheitliche Systematik, das Medium, durch das ihre Transzendenz eine besondere Art der Verbundenheit empfängt. Ebendeshalb tritt für uns die erlebniseinheitliche Verbundenheit dieser Bestände weitaus in den Vordergrund. Daß sie sich abgesehen von dieser Verbundenheit auch wechselseitig transzendent sind, kommt uns gewöhnlich nicht zu Bewußtsein. Denn uns ist die Hauptsache ihre Immanenz in unserem eigenen ontologischen Bezirke. Um Transzendenzverhältnisse aber pflegen wir uns erst da zu kümmern, wo wir nicht mehr auf dem Standpunkte des verbindenden Mediums stehen, sondern selber einen Bestand bilden, dem ein anderer Bestand transzendent gegenübersteht. Fälle dieser Art können wir nicht mehr erlebniseinheitlich sondern nur noch gnoseologisch überbrücken.
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Die gnoseologische Art der Ueberbrückung ist von der erlebniseinheitlichen grundsätzlich verschieden. Diese letztere charakterisierte sich als eine ausgesprochen ontologische Beziehung. Dagegen wissen wir aus unseren früheren Erörterungen, daß die gnoseologische Ueberbrückung keine ontologische Beziehung ist. Jene fand innerhalb des ontologischen Bezirkes unseres Bewußtseins statt. Diese greift weit über unsere eigene Wirklichkeit hinaus in die Gebiete jenseits ihrer Grenzen. Daher hat die gnoseologische Ueberbrückungsfunktion für uns einen weniger intimen Charakter als die erlebniseinheitliche. Zwar sind auch hier wir selber diejenigen, die die Bestände in dem gnoseologischen Felde meinend erfassen. Aber die gemeinten Bestände als solche sind von unserem Bewußtsein abwesend und ihm transzendent. Dieser Sachverhalt bedingt es, daß sich die Ueberbrückungsfunktion in unserem gnoseologischen Felde, insoweit sie für die Transzendenzontologie von Bedeutung ist, auf zwei verschiedene Formen der Transzendenz beziehen kann. Von den einander transzendenten Beständen kann nämlich entweder der eine diesseits und der andere jenseits unseres ontologischen Bewußtseinsbezirkes liegen, oder sie können sich beide jenseits dieses Bezirkes in unserem gnoseologischen Felde transzendent sein. In dem ersteren Falle sind wir an der Transzendenz beteiligt und schlagen eine gnoseologische Verbindung zu uns selbst. In dem zweiten Falle sind wir unbeteiligt und schlagen die Verbindung zwischen zwei zu uns selbst nicht gehörigen Beständen. Der erstere dieser beiden Fälle ist von der Transzendenzontologie aus dem schon angedeuteten Grund vornehmlich beachtet worden. Es wird sich aber zeigen, daß auch dem zweiten unter bestimmten Voraussetzungen eine erhebliche Bedeutung zukommen kann. Anders steht es mit einer ebenfalls in unserem gnoseologischen Felde auftretenden dritten Art der Transzendenz, deren Bedeutung aber, wiewohl auch sie ontologisch und gnoseologisch fundiert ist, mehr auf dem Gebiete der Erkenntnislehre als auf dem der Ontologie liegt, und die daher von uns nur in ihren allgemeinsten Zügen charakterisiert werden kann, nämlich der Transzendenz gewisser Bestände und Bestandzüge zu dem Bereiche unserer Erkenntnis. Das Eigentümliche dieser Art der Transzendenz besteht darin, daß sie auf der einen Seite der ersten der beiden von uns gekennzeichneten Transzendenzarten gleicht, auf der anderen Seite aber der zweiten. Der ersten: denn da die gnoseologischen Erkenntnisrelationen von uns selbst gesetzt und auf uns selbst bezogen werden, so sind wir mit der Wirklichkeit unseres Bewußtseins an den Transzendenzen zu
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unserem Erkenntnisbereiche beteiligt. Und der zweiten: denn, wie wir aus unseren früheren Darlegungen wissen, kann nicht nur der von uns unerkannte, sondern auch der von uns erkannte Bestand und daher auch ihre wechselseitige Transzendenz in unserem gnoseologischen Felde jenseits der Grenzen unserer Bewußtseinswirklichkeit stattfinden. Mit den Transzendenzen gemeinter Bestände unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke gegenüber haben wir uns schon in einem früheren Zusammenhange beschäftigt. Nur das, was sich innerhalb dieses ontologischen Bezirkes abspielt, können wir wahrnehmen, vorstellen oder sonst nach seinem eigenen Sein unmittelbar innewerden. Alles andere ist unserer Bewußtseinswirklichkeit transzendent. Meinen dagegen können wir auch dasjenige, was jenseits unserer selbst liegt. In diesem Sinne wird die Transzendenz zwischen unserem Bewußtseinsbezirke und den jenseits seiner Grenzen liegenden Beständen durch die gnoseologische Relation des Meinens überbrückt. Anderseits ist unter den Vorbehalten unserer früheren Erörterungen hierüber nichts erfindlich, was dem gnoseologischen Felde selbst transzendent sein könnte. Es gibt daher nichts, was wir nicht meinen und durch diese Meinungsfunktion überbrücken könnten. Auch ist es für die Ueberbrückungsfunktion unseres gnoseologischen Meinens gleichgültig, ob die von uns gemeinten Bestände unserem Bewußtseinsbezirke nur in tatsächlicher oder auch in grundsätzlicher, und ob sie ihm in verbundener oder unverbundener Transzendenz gegenüberstehen. Denn wir werden in unserer meinenden Erfassung solcher Bestände durch die eine Transzendenz ebenso wenig behindert wie durch die andere. Insbesondere sei im Anschlüsse an unsere früheren Darlegungen hier noch daran erinnert, daß nicht nur die wirklichen, sondern auch die bloß gedachten Bestände dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins transzendent zu sein pflegen. Es bildet dies einen besonderen Fall der von uns schon behandelten unverbundenen Transzendenz zwischen nur gedachten und wirklichen Beständen. Nicht bloß einem anderen wirklichen Bestände sondern auch dem denkenden Bewußtsein selbst pflegt der Bedeutungsgehalt dessen, was es denkt, transzendent zu sein. Das gilt sowohl von konkreten als von allgemeinbegrifflichen Gedankengebilden. Zwar sind dabei immer wir selbst die Denkenden. Daher tragen alle Denkakte sowie die sie etwa begleitenden Vorstellungen einen ontologischen Charakter und sind dem Bezirke unseres Bewußtseins immanent. Aber diese Akte und Vorstellungen sind nicht das, was wir in unseren Gedanken meinen. Vielmehr ist das von uns Gemeinte im Allgemeinen etwas zu dem onto-
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logischen Bezirke unseres Bewußtseins nicht Gehöriges, eben damit aber ihm Transzendentes. Denn der Begriff der Transzendenz schließt, wie wir gesehen haben, keineswegs so etwas wie eine räumliche Entfernung zwischen den sich transzendenten Beständen ein. Er besagt vielmehr nur, daß zwischen ihnen ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung herrscht. Und ein solcher Widerspruch pflegt zwischen unserem Bewußtsein und dem Bedeutungsgehalte seiner Gedanken zu herrschen. Denke ich jetzt an Goethes Werther oder an den Pythagoreischen Lehrsatz, so gehört kein Teil dieser gedachten Gebilde zu dem Bestände meines Bewußtseins und kein Teil meines Bewußtseins zu dem Bedeutungsgehalte der gedachten Gebilde. Sie schließen sich wechselseitig aus und sind einander transzendent. Für die zwischen unserem denkenden Bewußtsein und den von uns gedachten Beständen herrschende Transzendenz ist es also gleichgültig, ob diese Bestände als von uns abwesende wirklich bestehen, oder ob sie nur von uns gedacht sind, und in dem letzteren Falle, ob sie von konkreter oder nur von allgemeinbegrifflicher Natur sind. Auf dieser Transzendenz der gedachten Bestände, ganz gleich ob sie Wirklichkeit haben oder nicht, beruht es, daß sie als identisch dieselben von verschiedenen Personen gemeint werden können. Nicht nur Ceylon oder Walther von der Vogelweide als wirkliche Bestände, sondern auch Goethes Werther oder der Pythagoreische Lehrsatz als Gedankengebilde bleiben, wenn sie von verschiedenen Personen gemeint werden, ein und derselbe Bestand und werden nicht etwa zu so vielen Beständen, als Personen da sind, von denen sie gemeint werden. Verhielte es sich anders, wären die von uns gedachten Bestände auch ihrem Bedeutungsgehalte nach dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins immanent, dann könnte von verschiedenen Bewußtseinssystemen ein und derselbe Bedeutungsgehalt solcher Bestände nicht erfaßt werden. Nur die Transzendenz der Gedankengebilde zu unserem ontologischen Bezirke ermöglicht es also, daß wir ihren Sinn gemeinsam erfassen und uns wechselseitig über sie verständigen können. Anders als mit der Transzendenz gnoseologisch gemeinter Bestände zu dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins steht es mit jener zweiten Transzendenz, die ebenfalls unser Verhältnis zu dem gnoseologischen Felde, jedoch nicht den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins, sondern die Grenze unseres Erkenntnisbereiches betrifft Wir haben früher gesehen, daß unser Erkenntnisbereich einerseits über die Enge unseres ontologischen Bezirkes hinaus- und in das gnoseologische Feld hineinragt, anderseits aber die unbegrenzte
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Ausdehnung dieses letzteren Feldes nicht erreicht. Seine Grenze liegt also zwischen unserer ontologischen Grenze und unserer gnoseologischen Unbegrenztheit. Dementsprechend gibt es in unserem gnoseologischen Felde solche Bestände und Bestandeigentümlichkeiten, die wir nicht nur meinen sondern auch erkennen können, und andere, deren Erkenntnis uns verschlossen ist, die wir aber nichtsdestoweniger meinen können. Diese letzteren Bestände liegen dann zwar in unserem gnoseologischen Felde, sind aber dem Bereiche unserer Erkenntnis transzendent. Und unsere Frage lautet nun: welche Bedingungen sind dafür maßgebend, daß gewisse Bestände und Bestandeigentümlichkeiten unserem Erkenntnisbereiche immanent, andere ihm transzendent sind? Die Antwort auf diese Frage fällt verschieden aus, je nachdem die zu erkennenden Bestände ontologisch an sich bestehen oder nur gedacht sind. Wenden wir uns zunächst zu jenen ersteren Beständen, so ist offenbar, daß uns alles von dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins abwesende Wirkliche insoweit erkennbar werden kann, als sich sein individualbegriffliches Vorhandensein und seine allgemeinbegriffliche Natur mittelbar aus dem Verhalten der erlebniseinheitlichen Bestände erschließen läßt. Und ein solches Erschließen ist grundsätzlich in dem Umfange möglich, in dem zwischen den zu erkennenden und den erlebniseinheitlichen Beständen ein naturgesetzlicher Zusammenhang waltet. Das System dieses naturgesetzlichen Zusammenhanges aber ist die ganze Außenwirklichkeit einschließlich der zu ihr gehörigen Bewußtseinssysteme. Daher fallen innerhalb unseres gnoseologischen Gesamtfeldes die Grenzen unserer Wirklichkeitserkenntnis mit den Grenzen dieser Außenwirklichkeit grundsätzlich zusammen. Tatsächlich freilich sind unsere Erkenntnisgrenzen wesentlich enger gezogen. Hieraus geht hervor, daß unserem Erkenntnisbereiche alle diejenigen Wirklichkeitsbestände immanent sind,, die zu dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins in verbundener Transzendenz stehen, und daß ihm diejenigen Bestände transzendent sind, die zu jenem Bezirke in unverbundener Transzendenz stehen. Denn wenn nur diejenigen Wirklichkeitsbestände in den Bereich unserer Erkenntnis treten können, die mit dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins in Realbeziehungen stehen, so liegen andere Wirklichkeitssysteme, ganz gleich ob es solche Systeme gibt oder nicht, außerhalb unseres Erkenntnisbereiches, insofern sie unserer eigenen Wirklichkeit in unverbundener Weise transzendent sind und infolgedessen keinerlei Realbeziehungen zu ihr und dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins haben.
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Aber nicht nur die wirklichen sondern auch die nur gedachten Bestände können unserem Erkenntnisbereiche gegenüber den Charakter einer Transzendenz tragen. Das ist zunächst für solche Bestände offensichtlich, die ihrem Bedeutungsgehalte nach von konkreter Natur sind und nicht von uns selbst geschaffen werden, sondern nur durch sprachliche Mitteilung zu unserer Kenntnis gelangen. So kann ich von den Situationen eines Romans, den ich lese, immer nur soviel erkennen, als mir der Dichter mitteilt oder aus diesen Mitteilungen durch analytische Urteile erschließbar ist. Alles Andere bleibt meinem Erkenntnisbereiche nicht nur tatsächlich, sondern auch grundsätzlich transzendent. Wenn mir daher der Dichter verschweigt, wann und wo sein Held geboren ist, so vermag ich dieses meinerseits auf keine Weise zu ermitteln. Man ersieht hieraus, daß die uns von Fremden übermittelten konkreten Gedankengebilde unserem Erkenntnisbereiche gegenüber eine eigentümliche Rolle spielen. Sie sind uns nur in dem Umfange zugänglich, in dem uns solche wirklichen Bestände zugänglich sein würden, von denen einige Züge oder Teile zu dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins in verbundener, andere dagegen in unverbundener Transzendenz stünden. Auf die Gründe dieses eigentümlichen Sachverhaltes soll hier nicht näher eingegangen werden. Neben die uns von Fremden übermittelten treten die von uns selbst geschaffenen konkreten Gedankengebilde. Um einzusehen, daß auch diese etwas für unseren Erkenntnisbereich Transzendentes an sich haben können, muß man sich freilich dahin verständigen, daß unsere Erkenntnis aller von uns selbst geschaffenen Gedankengebilde mit unseren eigenen begrifflichen Bestimmungen dieser Gebilde zusammenfällt. Der Erkenntnis ist hier also dasjenige transzendent, was an dem gedachten Gebilde von uns nicht bestimmt worden ist. Aus diesem Gesichtspunkte heraus wird man sich leicht darüber klar werden, daß wir vieles an dem Bedeutungsgehalte der von uns geschaffenen konkreten Gedankengebilde bald als nur tatsächlich von uns unerkannt, bald aber auch als uns grundsätzlich unerkennbar zu denken pflegen. So kann nicht nur mir als dem Leser sondern auch dem Dichter selber Datum und Ort der Geburt seines Helden tatsächlich unbekannt sein. Dh. er hat diese Dinge nicht bestimmt, obwohl er sie hätte bestimmen können. Aber auch grundsätzlich kann ihm Manches in seiner Erzählung unerkennbar bleiben. E r wird sich zB. die in ihr vorkommenden Situationen nach dem Muster der Wirklichkeit denken und daher genötigt sein, alles dasjenige in diesen Situationen als grundsätzlich unerkennbar zu betrachten, was uns auch in der Wirklichkeit grundsätzlich unerkennbar wäre. So
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wird er sich alle in der Erzählung vorkommenden physischen Körper als so beschaffen denken müssen, daß wir ihr sogenanntes Innere, über dessen ontologische Struktur und grundsätzliche Unerkennbarkeit wir noch in einem späteren Zusammenhange handeln werden, nicht zu erfassen vermögen. Der Dichter läßt dieses Innere nicht nur tatsächlich unbestimmt; sondern er kann es auch grundsätzlich nicht bestimmen. Er kann es zwar meinen; aber er kann es nicht erkennen. Es liegt in seinem gnoseologischen Felde, aber nicht in seinem Erkenntnisbereiche. Es gibt also auch auf dem Gebiete der von uns selbst geschaffenen Gedankengebilde unserem Erkenntnisbereiche gegenüber grundsätzliche Transzendenzen. Allein dieses gilt, wie wir sogleich sehen werden, nur von den konkreten Beständen, die wir uns denken, nicht von den allgemeinbegrifflichen. Denn die konkreten Bestände werden von uns als solche gedacht, die ebenso wie die ontologischen an sich bestehen, wenn ihr Ansichbestand auch nur ein fingierter ist. Infolgedessen pflegen diese konkreten Gedankengebilde so beschaffen zu sein, daß sie mehr enthalten als das, was wir begrifflich an ihnen bestimmen. Unsere Urteile über ihre begrifflich nicht bestimmten Merkmale tragen daher einen synthetischen Charakter. Dagegen sind, wie wir früher erkannt haben, unsere Urteile über allgemeinbegriffliche Bestände, wenn sie richtig sein sollen, ausschließlich von analytischer Natur. Unter diesen Umständen kann es wohl geschehen, daß wir psychologisch manches von der Bedeutungsfülle solcher Bestände nicht erkennen. Logisch aber gibt es nichts, was nicht aus ihrem Begriffe abgeleitet werden könnte. Es kann also vieles von solchen allgemeinbegrifflichen Beständen unserem Erkenntnisbereiche tatsächlich transzendent sein. Wir können zB. ein System von allgemeinbegrifflichen Axiomen aufstellen, ohne damit schon alle Folgerungen dieses Systems durchschaut zu haben. Begrifflich aber sind alle seine Folgerungen durch ein solches System schon bestimmt. Daher mögen diese Folgerungen unserem Erkenntnisbereiche zwar tatsächlich, sie können ihm aber niemals grundsätzlich transzendent sein. Denn eine grundsätzliche Transzendenz zwischen allgemeinbegrifflichen Beständen und unserem Erkenntnisbereiche gibt es nicht. Die Transzendenzen der gnoseologischen Feldbestände sowohl unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke als auch dem Bereiche unserer Erkenntnis gegenüber haben dies gemeinsam, daß in beiden Fällen wir selber diejenigen sind, denen die Transzendenz gilt. Anders steht es mit solchen Transzendenzen, die sich in unserem gnoseolo-
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gischen Felde abspielen, ohne daß wir an ihnen beteiligt wären. Denn offenbar können wir auch ohne Rücksicht auf ihre Beziehungen zu uns selbst gleichzeitig zwei verschiedene Bestände meinen, die beide jenseits der Grenzen unseres ontologischen Bewußtseinsbezirkes bzw. auch unseres Erkenntnisbereiches liegen und sich ihrerseits wechselseitig transzendent sind. Denke ich zB. an den räumlichen Abstand zwischen der Sonne und dem Sirius oder an den zeitlichen Abstand zwischen den Jahren 1800 und 1900, oder denke ich an die Beziehungen zwischen Marlowes und Goethes Faust, so stehen sich die hier durch Denken erfaßten Gebilde nach ihrem gemeinten Ansichbestande teils in verbundener, teils in einer unverbundenen Transzendenz gegenüber. Diese Transzendenz wird dadurch, daß die betreffenden Bestände zusammen von uns gemeint werden und also für uns in demselben Felde stehen, gnoseologisch überbrückt. Es gibt einen besonderen Fall dieser Art der gnoseologischen Ueberbrückung, der für die Transzendenzontologie wichtig wird. Er betrifft die Beziehungen zwischen dem Bedeutungsgehalte einer falschen Urteilsmeinung und dem ihm entsprechenden wahren Sachverhalte, bzw. die zwischen den Bedeutungsgehalten verschiedener einander widersprechender Urteilsmeinungen waltenden Beziehungen. Ueber die mit diesen Bezugsverhältnissen zusammenhängenden Transzendenzen, die uns von einem anderen Gesichtspunkte aus noch in der Ontologie der Ideen beschäftigen werden, möchte ich mich näher erklären. Wir haben früher erkannt, daß das Wesen der Wahrheit in einer Identität zwischen dem Bedeutungsgehalte einer Urteilsmeinung und dem von ihr gemeinten Sachverhalte besteht. Als das Wesen der Falschheit erwies sich demgegenüber ein entsprechendes Widerspruchsverhältnis zwischen diesen Beständen. Der wahre Sachverhalt und der Bedeutungsgehalt einer falschen Urteilsmeinung über ihn, bzw. die Bedeutungsgehalte zweier verschiedener falscher Urteilsmeinungen schließen sich gegenseitig aus. Die Urteilsmeinung mag nun aber wahr oder falsch sein, in jedem Falle kann ihr Bedeutungsgehalt seinem eigenen Ansprüche gemäß als ein an sich bestehendes Gebilde behandelt werden. Denn zu den Eigentümlichkeiten aller Urteilsmeinungen gehört es, wie wir früher gesehen haben, daß sie ihren Bedeutungsgehalt als etwas Selbständiges und von dem Urteilsakte Unabhängiges hinstellen. Dieser Maßgabe folgend können wir den Bedeutungsgehalt einer falschen Urteilsmeinung ebenso wie den ihr entsprechenden wahren Sachverhalt oder die Bedeutungsgehalte zweier verschiedener falscher Urteilsmeinungen so behandeln, als 8
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wären sie an sich bestehende und von uns unabhängige Gebilde, die in ein wechselseitiges Widerspruchsverhältnis treten. Ein solches Widerspruchsverhältnis nimmt den Charakter einer besonderen Art der Transzendenz an, sobald die sich gegenübertretenden Bestände von einem gewissen noch näher zu beleuchtenden Standpunkte aus betrachtet keine Identitätsergänzung miteinander haben. Das tritt unter anderem dann ein, wenn die falsche Urteilsmeinung einem konkreten Bestände gilt. Denn der Bedeutungsgehalt einer solchen Urteilsmeinung ist, wie aus unseren früheren Erörterungen hervorgeht, selber ein Konkretum, wenn auch ein nur von dem Urteilenden und zwar fälschlich gedachtes. Als solches steht es zu dem ebenfalls konkreten wahren Sachverhalte oder zu dem Bedeutungsgehalte anderer falscher Urteilsmeinungen über ihn, wenn wir die Situation von dem soeben erwähnten Standpunkte aus betrachten, in einem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung, also in Transzendenz. Die bei dieser Art der Transzendenz auftretenden besonderen Umstände wollen wir uns an einem Beispiele vergegenwärtigen. Jemand fälle das falsche Urteil: der Brocken ist ein Berg von 4810 m Höhe. Individualbegrifflich sei in diesem Urteile ausdrücklich der auch sonst mit dem Namen des Brocken bezeichnete Berg im Harz gemeint. Dieser Berg als wirklicher Bestand und das, was gemeint wird, ist also identisch dasselbe. Allgemeinbegrifflich aber ist die wahre Höhe des Brocken nicht die angegebene, sondern sie beträgt 1142 m. Wie verhält sich, so könnte man nunmehr fragen, der Bedeutungsgehalt der gnoseologisch von uns gesetzten falschen Urteilsmeinung, mithin die falsche Höhe des Brocken zu seiner richtigen Höhe, also zu dem tatsächlichen Sachverhalte? Auf den ersten Blick erscheint dieses Verhältnis als eine Transzendenz gewöhnlicher Art, wie sie auch sonst zwischen zwei verschiedenen konkreten Beständen auftreten kann. Der wirkliche Brocken als ein 1142 m hoher Berg und der den Bedeutungsgehalt des falschen Urteils bildende Brocken als ein Berg von 4810 m Höhe wären dann zwei verschiedene konkrete Bestände, von denen der eine ohne Identitätsergänzung jenseits des anderen liegt. Wir werden sogleich erkennen, daß es einen Standpunkt gibt, von dem aus diese Auffassung der Sachlage richtig ist. Aber dieser Standpunkt ist nicht der einzig mögliche; und daher ist jene Auffassung einseitig. Sie läßt nämlich den Umstand außer Acht, daß das, was in dem falschen Urteile gemeint wird, nicht ein anderer Berg ist, sondern der in dem Harzgebirge liegende Brocken
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selbst. Trotz der Differenz der Höhenangabe ist daher der wirkliche und der gemeinte Brocken identisch derselbe Bestand. Hierin liegt die Eigenart dieser Form der Transzendenz. Wir brauchen, um uns das zu vergegenwärtigen, nur vorauszusetzen, daß der die Höhe des Brocken falsch Beurteilende andere Eigenschaften dieses Berges in vorausgehenden Urteilen richtig dargestellt habe. Richtige Urteilsmeinungen sind, wie wir wissen, mit dem tatsächlichen Sachverhalte, soweit er an ihnen teilhat, in diesem Falle also mit dem Brocken und seinen wirklichen Eigenschaften identisch. Wenn daher nunmehr zu den richtigen Urteilen über den Brocken ein falsches Urteil über seine Höhe hinzukommt, so müßte, da das neue und die alten Urteile identisch denselben Gegenstand betreffen, durch die Falschheit des neuen Urteils, wenn dieses nicht den Brocken selbst zum Gegenstande hätte, auch die Identität der alten Urteilsmeinungen mit dem Brocken, also ihre Richtigkeit aufgehoben werden. Das aber ist nicht der Fall. Es kann daher keinem Zweifel unterliegen, daß von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet der Bedeutungsgehalt einer falschen Urteilsmeinung und der ihm entsprechende wahre Sachverhalt nicht ohne Weiteres als zwei verschiedene konkrete Bestände aufgefaßt werden können, sondern auf einen und denselben Bestand zu beziehen sind. Dabei ist es das Eigentümliche dieser Lage, daß in den für die Transzendenzontologie in Frage kommenden Fällen die soeben gekennzeichnete Identität nur die individualbegriffliche Bestimmung des in dem falschen Urteile gemeinten Gegenstandes betrifft, während der die Falschheit eines solchen Urteils ausmachende Widerspruch zwischen ihm und dem wahren Sachverhalte die allgemeinbegrifflichen Eigenschaften dieses Gegenstandes angeht. So meinte in unserem Beispiele das falsche Urteil individualbegrifflich identisch denselben Brocken, der in der Wirklichkeit vorhanden ist. Dagegen besteht zwischen der wirklichen und der in dem Urteile gemeinten Höhe dieses Berges ein allgemeinbegrifflicher Widerspruch. Wir stehen also vor der eigentümlichen Lage, daß ein Widerspruchsverhältnis hier nicht sowohl zwischen zwei verschiedenen konkreten Beständen waltet, als vielmehr zwischen zwei verschiedenen Beschaffenheiten eines und desselben konkreten Bestandes. Einen Fingerzeig zum Verständnisse dieser Situation gibt uns die Erwägung, daß, wie wir früher gesehen haben, in allen Urteilen das Urteilssubjekt den gemeinten und zu beurteilenden Bestand festlegt, während das Urteilsprädikat eine Charakteristik dieses festgelegten Bestandes liefert. Offenbar liegen dabei stets die beiden Glieder des Urteils, Subjekt und Prädikat, innerhalb der gnoseologi8*
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sehen Sphäre des Urteilenden. Hierin sind sich alle Urteile gleich. Dagegen ergeben sich Unterschiede zwischen ihnen im Hinblicke auf die Identitäts- und Widerspruchsverhältnisse, die zwischen jenen in dem gnoseologischen Felde des Urteilenden liegenden beiden Urteilsgliedern einerseits und den von ihnen gemeinten, aber in einem anderen Felde liegenden Sachverhalten anderseits herrschen. Unter Umständen können nämlich beide, sowohl das Subjekt als auch das Prädikat des Urteils ausschließlich in der gnoseologischen Sphäre des Urteilenden liegen. Das geschieht dann, wenn der Urteilsgegenstand nur von uns selber gedacht wird und daher nur kraft unserer eigenen gnoseologischen Setzung, nicht aber unabhängig von ihr an sich besteht. Unter anderen Umständen wieder können beide, Subjekt und Prädikat nicht nur in unserer eigenen gnoseologischen Sphäre, sondern zugleich auch innerhalb der von uns unabhängigen ontologischen Sphäre liegen. Das ist der Fall, wenn Urteile über Wirklichkeitsbestände wahr sind. Denn Wahrheit ist, wie wir gesehen haben, die Identität der Urteilsmeinung mit dem gemeinten Sachverhalte, das aber heißt, wenn dieser ein wirklicher ist: mit dem gemeinten Wirklichkeitsbestande selber. Und es kann drittens vorkommen, daß der Bedeutungsgehalt des Urteilssubjekts sowohl in der gnoseologischen als auch in der wirklichen Sphäre liegt, also mit dem von ihm gemeinten wirklichen Bestände identisch ist, während der Bedeutungsgehalt des Urteilsprädikats nur in der gnoseologischen Sphäre, in der wirklichen dagegen nicht liegt, also mit dem gemeinten wirklichen Sachverhalte in Widerspruch steht. Dieser Fall ist typisch für die falschen Urteile über Wirklichkeitsbestände, und er ist zugleich der für die von uns behandelte Situation maßgebende Fall. Die hierbei auftretende Lage läßt sich dahin charakterisieren, daß unser gnoseologischer Bereich inbezug auf das Urteilssubjekt kraft der Identität dieses letzteren mit dem von uns gemeinten wirklichen Bestände in die ontologische Sphäre hineinragt, dagegen inbezug auf das Urteilsprädikat infolge des Widerspruches zwischen diesem und dem wirklichen Bestände außerhalb der ontologischen Sphäre liegt. Oder umgekehrt ausgedrückt: daß die ontologische Sphäre einerseits in unsere gnoseologische Sphäre hineinragt, anderseits aber außerhalb dieser letzteren bleibt. Man kann ein solches Verhältnis unter gewissen Vorbehalten als eine Ueberschneidung zwischen unserem gnoseologischen Bereiche und der ontologischen Sphäre kennzeichnen. Denn der durch das Urteilssubjekt festgelegte Bestand ist hier ontologisch und gnoseologisch identisch derselbe. Er bildet eben damit gewissermaßen den Ueberschneidungsbezirk.
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Der Bedeutungsgehalt des Urteilsprädikats dagegen liegt zwar innerhalb der gnoseologischen, dafür aber außerhalb der ontologischen Sphäre und bildet somit den Bezirk diesseits der Ueberschneidung. Und die dem Urteilsprädikate in Wahrheit entsprechende Eigenschaft des wirklichen Bestandes liegt wieder innerhalb der ontologischen, dafür aber außerhalb der gnoseologischen Sphäre. Sie bildet daher den Bezirk jenseits der Ueberschneidung. In alledem gleicht die hier behandelte Situation der früher von uns beschriebenen immanenzontologischen Ueberschneidungsstruktur. In anderen Beziehungen weicht sie von dieser grundsätzlich ab. Doch würde es zu weit führen, hierauf im Einzelnen einzugehen. Wohl aber will ich auf eine mit diesen Abweichungen in Zusammenhang stehende Eigentümlichkeit der hier beschriebenen Verhältnisse eingehen, die für die Transzendenzontologie wichtig ist. Es zeigt sich nämlich, daß das Verhältnis zwischen dem Bedeutungsgehalte einer falschen Urteilsmeinung und dem wirklichen Sachverhalte zwei verschiedene Seiten hat. Bisher haben wir nur die eine dieser beiden Seiten kennen gelernt. Die andere Seite tritt klar heraus, wenn wir uns ausschließlich in eine der einander überschneidenden Sphären hineinversetzt denken. Wir erkennen dann, daß von jeder dieser beiden Sphären aus betrachtet die jeweils andere Sphäre ausfällt. Das ist dadurch bedingt, daß jede dieser beiden Sphären beansprucht eindeutig zu sein. Offenbar können nämlich Bestände mit zwei sich wechselseitig ausschließenden Eigenschaften in einer und derselben Sphäre, wenn diese eindeutig sein soll, nicht vorkommen. Daher gehört, solange zwischen den beiden Sphären, wie in unserem Falle, ein Widerspruch besteht, kein Teil der einen Sphäre zu der anderen und umgekehrt. Für den wahren Sachverhalt besteht die falsche Urteilsmeinung nicht. Und für die falsche Urteilsmeinung besteht der wahre Sachverhalt nicht. Es findet also von hier wie von dort aus betrachtet keine Ueberschneidung statt, sondern vielmehr ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung. Die beiden Sphären sind sich dementsprechend von ihrem eigenen Standpunkte aus wechselseitig transzendent. Diese Transzendenz kommt darin zum Ausdrucke, daß in jeder der einander transzendenten Sphären, von ihrem eigenen Standpunkte aus gesehen, von der Bestandsystematik der anderen Sphäre nichts zu finden ist. Einem ähnlichen Verhältnisse sind wir schon in der immanenzontologischen Ueberschneidungsstruktur begegnet, die eben darin ein von den normalen Ueberschneidungen abweichendes Wesen zeigte. Wir erkannten nämlich, daß dort, wie übrigens bei allen intentionalen
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Strukturen dieser Art, eine Ueberschneidung nur von dem Standpunkte der Bewußtseinswirklichkeit aus stattfand, nicht aber von dem Standpunkte der Außenwirklichkeit. Denn von jenem ersteren Standpunkte aus gesehen ragte die Außenwirklichkeit in unser Bewußtsein hinein und war diesem immanent. Dagegen ragte unser Bewußtsein von dem Standpunkte der Außenwirklichkeit aus gesehen in diese nicht hinein und war ihr transzendent. Eine solche Art der Transzendenz findet in dem Widerspruchsverhältnisse zwischen der falschen Urteilsmeinung und dem wahren Sachverhalte von dem Standpunkte jedes der beiden Faktoren aus gesehen statt. Die ontologische Wirklichkeit schließt hier das gnoseologisch gemeinte falsche Wirklichkeitsbild aus und umgekehrt. So hat in jener der Brocken keine Höhe von 4810 m und in diesem keine Höhe von 1142 m. Daher sind sich hier die einander widersprechenden Systeme von ihrem eigenen Standpunkte aus gesehen transzendent. Aus diesem Standpunkte rechtfertigt sich jene schon einmal von uns berührte aber als einseitig bezeichnete Ansicht, daß der Bedeutungsgehalt einer falschen Urteilsmeinung und der wahre Sachverhalt in demselben Transzendenzverhältnisse stünden, wie zwei restlos außerhalb voneinander liegende konkrete Bestände. Wir bezeichneten diese Ansicht damals als einseitig. Denn ihre Eigentümlichkeit besteht darin, daß sie nur für den beschränkten Standpunkt der einander widersprechenden Systeme selbst Gültigkeit hat, und daß die von ihr behauptete Art der Transzendenz von einem anderen übergeordneten Standpunkte aus betrachtet jener von uns beschriebenen eigentümlichen Ueberschneidungsstruktur und damit einer wechselseitigen Immanenz zwischen Urteilsmeinung und Sachverhalt weichen muß. Wenn wir uns das Wesen dieses letzteren Standpunktes zur Klarheit bringen wollen, so können wir zunächst davon ausgehen, daß er nicht innerhalb der beiden Systeme selbst, sondern vielmehr jenseits von ihnen liegt und zwar innerhalb eines gnoseologischen Gesamtfeldes, von dem sowohl der wirkliche Sachverhalt als ontologischer Bestand als auch der Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsmeinung als gnoseologisches Gedankengebilde umfaßt wird. Ein solches mehrere zu verschiedenen Gegenstandsgebieten gehörige Bestände umfassendes gnoseologisches Gesamtfeld pflegt die Eindeutigkeit jedes dieser Gebiete intakt zu lassen, für seine eigene Feldsystematik aber keine Eindeutigkeit zu beanspruchen. Dh. während in jedem jener Gebiete jeder Bestand an einem und demselben Orte zu einer und derselben Zeit nur einmal vorkommen und jede seiner
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Eigenschaften in einer und derselben Hinsicht nnr eine Beschaffenheit zeigen kann, darf in unserem mehrere Gebiete umfassenden gnoseologischen Gesamtfelde ein und derselbe Bestand mehrfach vorkommen und verschiedene, sich in einem eindeutigen Systeme wechselseitig ausschließende Eigenschaften haben. Ein solcher Bestand ist also in diesem gnoseologischen Gesamtfelde nicht mehr an seine Eindeutigkeit gebunden, sondern kann mehrdeutig sein. Die von uns geschilderte Ueberschneidungsstruktur zwischen einer falschen Urteilsmeinung und dem wahren Sachverhalte beruht auf dieser Mehrdeutigkeit unseres gnoseologischen Gesamtfeldes als auf ihrer Voraussetzung. Weder in der Wirklichkeit als einem ontologischen Systeme noch in jenem falschen Wirklichkeitsbilde als einem gnoseologischen Systeme kann der Brocken zwei verschiedene Höhen zugleich haben. In unserem beide Systeme umfassenden gnoseologischen Gesamtfelde hat er beide Höhen. Nur unter dieser Voraussetzung sind wir überhaupt in der Lage, eine Falschheit von Urteilen festzustellen. Denn, wenn wir sagen: in Wahrheit ist der Brocken 1142 m hoch; aber in der Meinung jenes Urteilenden hat er eine Höhe von 4810 m, so ist der Sinn einer solchen Redewendung nur dann erfüllbar, wenn wir den Brocken als einen in unserem gnoseologischen Gesamtfelde doppeldeutigen Bestand auffassen und zwar so, daß er in jedem der beiden Gebiete, denen er zugeschrieben wird, eindeutig ist. Es ist identisch derselbe Brocken, von dem wir sprechen. In jedem jener beiden Gebiete hat er nur eine Höhe; in beiden zusammen dagegen zwei sich sonst wechselseitig ausschließende. Daher sind diese beiden Gebiete von dem Standpunkte ihrer eigenen eindeutigen Systematik aus gesehen einander transzendent. Dagegen sind sie von dem Standpunkte des sie umfassenden mehrdeutigen Gesamtfeldes aus gesehen einander immanent und stehen in der von uns beschriebenen Ueberschneidung. Die Einsicht in diese eigentümlichen Verhältnisse wird uns dadurch erschwert, daß wir gewohnt sind, den Bedeutungsgehalt einer falschen Urteilsmeinung ausschließlich auf das in sich eindeutige System zu beziehen, zu dem der wahre Sachverhalt gehört. Dieser Denkgewohnheit gemäß erscheint uns die Aufgabe, einem Bestände an demselben Orte, zu derselben Zeit und in derselben Hinsicht zwei verschiedene Eigenschaften zuzuschreiben als in sich widerspruchsvoll. Um dieses Widerspruches willen nennen wir den Bedeutungsgehalt einer dem Sachverhalte widersprechenden Urteilsmeinung falsch. Ihre Falschheit ist mit einem solchen Widerspruche identisch. Doch dürfen wir nicht vergessen, daß dieser Widerspruch nur solange besteht, als
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wir die falsche Urteilsmeinung auf den wahren Sachverhalt und seine eindeutige Systematik beziehen. Geben wir dagegen diese Bezugsweise zu Gunsten einer doppeldeutigen Systematik in unserem gnoseologischen Gesamtfelde auf, so hört eben damit die Duplizität der sich in dem einzelnen und eindeutigen Systeme des wahren Sachverhaltes gegenseitig ausschließenden Eigenschaften auf, einen Widerspruch zu enthalten. Denn das Wesen jedes Widerspruches hängt von der Deutigkeit, wenn man diesen Ausdruck zulassen will, seines Systems ab. In den eindeutigen Systemen, mit denen wir es in der vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Praxis gewöhnlich zu tun haben, kann jeder Bestand an demselben Orte, zu derselben Zeit und in derselben Hinsicht nur eine Eigenschaft haben, in einem doppeldeutigen Systeme zwei, in einem drei- und mehrdeutigen Systeme drei und mehr. Mit anderen Worten: die Zahl der Eigenschaften, die wir einem Bestände an demselben Orte, zu derselben Zeit und in derselben Hinsicht zuschreiben dürfen, richtet sich nach dem Zahlenwerte der Deutigkeit desjenigen Systems, zu dem ein solcher Bestand gehört. Ein Widerspruch tritt erst dann ein, wenn die Zahl jener Eigenschaften den Zahlenwert dieser Deutigkeit überschreitet. In unserer Praxis haben wir es fast allenthalben mit nur eindeutigen Systemen zu tun. Diese Eindeutigkeit müssen wir aufgeben, wenn wir die Strukturverhältnisse der falschen Urteilsmeinungen verstehen wollen. Wir müssen stattdessen eine Doppeldeutigkeit einführen, und wenn es sich um zwei oder mehr verschiedene falsche Urteilsmeinungen handelt, sogar eine Drei- oder Mehrdeutigkeit. Doch wird dieser letztere Fall in der Transzendenzontologie nicht aktuell. Daher wollen wir uns hier mit einer einzigen falschen Urteilsmeinung und der durch sie bedingten Doppeldeutigkeit unseres gnoseologischen Gesamtfeldes begnügen. Wir können die soeben beschriebene Beziehung zwischen dem Bedeutungsgehalte einer falschen Urteilsmeinung und dem entsprechenden wahren Sachverhalte in der Form, die sie in unserem gnoseologischen Gesamtfelde annimmt, als ein allgemeinbegriffliches Widerspruchsverhältnis zweier sich wechselseitig ausschließender Beschaffenheiten an identisch demselben Bestände charakterisieren. Diese Charakteristik erinnert uns an das früher ausführlich behandelte Ansichfürunsverhältnis zwischen einer Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage. Denn auch das letztere Verhältnis beruhte darauf, daß individualbegrifflich identisch derselbe Bestand zwei sich allgemeinbegrifflich ausschließende Beschaffenheiten aufwies. Und, so
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können wir nunmehr hinzufügen, auch dort war die individualbegriffliche Identität eines solchen Bestandes nur von einem jene beiden Beschaffenheiten umspannenden und Mehrdeutigkeit zulassenden gnoseologischen Gesamtfelde aus erkennbar. Dagegen stehen sich, wie wir noch sehen werden, von ihrem eigenen Standpunkte aus betrachtet die beiden Träger solcher Beschaffenheiten, also die Meinungsbasis und ihre ontologische Grundlage dort wie hier in einem individualbegrifflichen Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung und daher transzendent gegenüber. Nachalledem dürfte das von uns beschriebene Transzendenzverhältnis zwischen einer falschen Urteilsmeinung und dem wahren Sachverhalte auf der einen Seite mit dem Ansichfürunsverhältnisse zwischen einer Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage auf der anderen Seite eng zusammenhängen. Und ein ähnlicher Zusammenhang trifft, wie wir nunmehr sehen werden, auch für das zweite der beiden Ansichfürunsverhältnisse einer Meinungsbasis zu: nämlich für die Beziehung zwischen dieser letzteren und ihrem Meinungsgegenstande. Um uns hierüber klar zu werden, wollen wir das von uns gewählte Beispiel durch die Annahme erweitern, daß die falsche Höhenangabe des Brocken auf einer Verwechselung desselben mit dem Montblanc beruhte. Dann zeigt es sich, daß in den hier auftretenden Transzendenzverhältnissen der Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsmeinung dieselbe Bolle spielt wie eine Meinungsbasis, der ihm entsprechende wahre Sachverhalt die Rolle der zu dieser Meinungsbasis gehörenden ontologischen Grundlage und derjenige Sachverhalt, auf dessen Verwechselung die falsche Urteilsmeinung beruhte, die Rolle des Meinungsgegenstandes. Demnach wäre in unserem Beispiele die falsche Höhenangabe von 4810 m für den Brocken unsere Meinungsbasis, seine wahre Höhe von 1142 m die zugehörige ontologische Grundlage und 4810 m als die Höhe des Montblanc der Meinungsgegenstand des falschen Urteils. Sieht man von der sprachlichen Unangemessenheit dieser für eine solche allgemeinere Situation nicht geprägten Ausdrücke ab, so erkennt man in den hier auftretenden und sogleich näher zu beschreibenden Transzendenzen deutlich jene Widerspruchsverhältnisse wieder, die in den früher von uns geschilderten Ansichfürunsbeziehungen einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis enthalten sind. Die Gründe dieses Zusammenhanges liegen auf der Hand. Denn wir haben früher erkannt, daß das Wesen jeder uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis in falschen Urteilen zwar nicht besteht, wohl
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aber durch solche Urteile zu begründen ist, ganz gleich ob wir um diese Urteile wissen oder nicht. Und wir erkannten auch, daß die Ansichfürunsbeziehungen der Meinungsbasis nur einen besonderen Fall der allgemeineren Widerspruchsverhältnisse darstellen, die mit jeder auf einer Verwechselung beruhenden falschen Urteilsmeinung über Wirklichkeitsbestände verbunden sind. Der Unterschied in der beiderseitigen Sachlage aber beruhte darauf, daß es sich in dem letzteren Falle um eine theoretische Beurteilung uns nicht unmittelbar vorliegender sondern von uns abwesender und nur in unserem gnoseologischen Felde gemeinter Bestände zu handeln pflegt, während in dem Falle der Meinungsbasis in dem engeren Sinne dieses Wortes an die Stelle einer falschen Urteilsmeinung die auf ihr begründete praktische Umdeutung eines uns in seiner Konkretheit unmittelbar vorliegenden Bestandes tritt. Die Widerspruchsverhältnisse einer auf Verwechselung beruhenden falschen Urteilsmeinung über Wirklichkeitsbestände sind also in beiden Fällen das logisch und ontologisch Maßgebende. Hieraus erklärt es sich, daß die mit diesen Widerspruchsverhältnissen verbundenen Transzendenzen den Ansichfürunsverhältnissen einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis korrespondieren. Das können wir uns zunächst für das Transzendenzverhältnis zwischen dem einer solchen falschen Urteilsmeinung entsprechenden wahren und demjenigen Sachverhalte klarmachen, auf dessen Verwechselung sie beruhte. Dieses, also das zwischen der ontologischen Grundlage unserer Meinungsbasis und ihrem Meinungsgegenstande waltende Verhältnis ist bei den hier auftretenden Situationen das relativ einfachste. Es charakterisiert sich als das einer verbundenen Transzendenz zwischen Wirklichkeitsbeständen. So sind sich in unserem Beispiele der Brocken als die ontologische Grundlage und der Montblanc als der Meinungsgegenstand der falschen Urteilsmeinung kraft ihrer räumlichen Entfernung voneinander transzendent. Aber sie gehören als ontologische Bestände einer und derselben Wirklichkeit an, durch deren naturgesetzliche und raumzeitliche Systematik ihre Transzendenz überbrückt wird. Anders steht es mit dem Verhältnisse zwischen der Meinungsbasis selbst und ihrem Meinungsgegenstande. Auch der Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsmeinung und der Bestand, auf dessen Verwechselung sie beruht, schließen sich ohne Identitätsergänzung aus und stehen in Transzendenz. Aber da jener einen nur gnoseologischen Bestand darstellt und dieser ein ontologischer Bestand ist, so liegen sie in einem verschiedenen gegenstandstheoretischen Felde.
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Ihre Transzendenz ist daher eine unverbundene. Zwischen dem Brocken mit einer Höhe von 4810 m als einem bloßen und zwar falschen Gedankengebilde und dem Montblanc mit derselben Höhe als einem wirklichen Bestände waltet keine Realverbindung. Das Entsprechende endlich gilt von dem Transzendenzverhältnisse zwischen dem Bedeutungsgehalte einer falschen Urteilsmeinung und dem in Widerspruch zu ihm stehenden wahren Sachverhalte, also zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage in dem allgemeineren Sinne dieser Begriffe. Hier herrscht, wie wir gesehen haben, die Identität eines Individualbestandes bei einem Widerspruchsverhältnisse seiner allgemeinbegrifflichen Merkmale. Da jene Identität aber nur von der übergeordneten Warte eines sowohl den wahren Sachverhalt als auch die falsche Urteilsmeinung umfassenden gnoseologischen Feldes in die Erscheinung tritt, dagegen von dem Standpunkte dieser beiden Bestände selbst aus gesehen fortfällt, so waltet von diesem letzteren Standpunkte aus gesehen auch hier ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung, also eine Transzendenz und zwar ebenfalls eine unverbundene. Denn auch hier liegt der Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsmeinung als Meinungsbasis in seinem nur gedachten Felde; dagegen liegt der die zugehörige ontologische Grundlage bildende wahre Sachverhalt in der Wirklichkeitssphäre. Wir können die hier geschilderten Transzendenzverhältnisse einer auf Verwechselung beruhenden falschen Urteilsmeinung zusammenfassend dahin charakterisieren, daß ein ausschließlich in dem gnoseologischen Felde des falsch Urteilenden gelegener und daher nur gedachter Bestand zu zwei nicht nur gedachten sondern wirklichen und sich außerdem wechselseitig transzendenten Beständen in einem doppelten Transzendenzverhältnisse steht, so daß die Gesamtsituation einen in sich geschlossenen Ring von drei einander transzendenten Beständen bildet. Hierbei liegt der gnoseologische Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsmeinung als ein nur gedachter Bestand in einem anderen gegenstandstheoretischen Gebiete als seine beiden der Wirklichkeit angehörenden ontologischen Gegenglieder. Daher walten zwischen jenem Bedeutungsgehalte und diesen Gegengliedern zwei unverbundene Transzendenzen. Dagegen stehen die Gegenglieder untereinander, da sie demselben gegenstandstheoretischen Felde unserer Wirklichkeit angehören, in verbundener Transzendenz. Wenden wir uns nun von den hier beschriebenen Transzendenzverhältnissen einer Meinungsbasis in dem allgemeineren Sinne der falschen Urteilsmeinung überhaupt zu den besonderen Transzendenz^
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Verhältnissen, die durch die Ansichfürunsbeziehungen einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis bedingt sind, so finden wir dort eine Situation vor, die auf der einen Seite mit der bisher geschilderten übereinstimmt, auf der anderen Seite aber in einer charakteristischen Weise von ihr abweicht. Die Uebereinstimmung beruht darauf, daß ebenso wie bei den falschen Urteilsmeinungen die uns unmittelbar vorliegende Meinungsbasis im Unterschiede zu ihren ontologischen Gegengliedern einen gnoseologischen Charakter trägt. Und die Abweichungen sind dadurch begründet, daß in diesem besonderen Falle an die Stelle des theoretischen falschen Urteils über einen abwesenden Sachverhalt die praktische falsche Deutung eines uns unmittelbar vorliegenden Sachverhaltes tritt. Was zunächst jene Uebereinstimmung betrifft, so kann man sich ihren Charakter an unserem früheren Beispiele von der Panoramadarstellung einer uns bekannten Gegend klarmachen. Diese Gegend selbst als der Meinungsgegenstand und die farbenbedeckte Leinewand als die ontologische Grundlage der Panoramadarstellung stehen, wie in unserem anderen Beispiele der Brocken und der Montblanc, in der einfachen durch dieselbe Zeit, denselben Raum und dieselbe Naturgesetzlichkeit verbundenen Transzendenz, die für das wechselseitige Verhältnis aller Außenwirklichkeitsbestände kennzeichnend ist. Diese Art der Transzendenz ist also in beiden Fällen die gleiche. Aber auch die Transzendenz zwischen der Meinungsbasis und ihren ontologischen Gegengliedern zeigt, obgleich, wie wir bald erkennen werden, nicht nach jeder Hinsicht, beiderseits verwandte Züge. Wir sahen, daß der Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsmeinung über den Brocken als ein nur gnoseologisches Gebilde in einem anderen gegenstandstheoretischen Gebiete lag als der wirkliche Brocken und der Montblanc, und daß er demgemäß zu diesen letzteren beiden Beständen in einer unverbundenen Transzendenz stand. Etwas Entsprechendes gilt von dem Transzendenzverhältnisse zwischen unserer Panoramadeutung und ihren ontologischen Gegengliedern. Denn, wenn auch nicht in demselben Sinne wie jene Urteilsmeinung, so trägt doch auch diese Deutung einen gnoseologischen Charakter und liegt daher in einem anderen gegenstandstheoretischen Gebiete als die zu ihr gehörenden wahren Sachverhalte. Daher waltet auch zwischen unserer Deutung und diesen Sachverhalten eine Art der Transzendenz, die, wenn auch nicht in allen, so doch in gewissen Hinsichten einer unverbundenen Transzendenz gleicht. Typisch hierfür ist es zB., daß aus der erdeuteten Panoramadarstellung kein Weg in die farbenbedeckte Leinewand bzw. in die uns bekannte wirkliche Landschaft führt, wie es
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auch umgekehrt von der Außenwirklichkeit als solcher keinen Weg in unsere Panoramadarstellung gibt. Wie es nun auch sonst mit dieser letzteren Art der Transzendenz bestellt sein mag: in jedem Falle zeigen die hier angedeuteten Uebereinstimmungen, daß nach ihrer allgemeinen Struktur die Transzendenzverhältnisse einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis den entsprechenden Transzendenzverhältnissen einer falschen Urteilsmeinung wesensverwandt sind. Im Einzelnen jedoch besteht zwischen ihnen ein charakteristischer Unterschied. Dieser hängt, wie schon angedeutet wurde, damit zusammen, daß bei einer Meinungsbasis in dem engeren Sinne dieses Wortes der Sachverhalt, auf den sie gemünzt wird, unmittelbar in unserer Erlebniseinheit anwesend ist. Das war bei jenem falschen Urteile über die Höhe des Brocken anders. Denn dort lag der durch das Urteilssubjekt festgelegte Bestand dem Urteilenden selber nicht vor. Seine Urteilsprädikation wurde also durch keinerlei unmittelbaren Augenschein beeinflußt. Dagegen ist in unserer Panoramadeutung dieser Augenschein vorhanden. Hätten wir das unserer Deutung hier zugrundeliegende falsche Urteil zu formulieren, so würde es etwa so lauten: das, was unserem Bewußtsein unmittelbar vorliegt, nämlich die von uns wahrgenommenen Farben mit ihren Lichtern und Schatten sind keine bloßen Farben, sondern bilden eine wirkliche nach der Tiefe ausgedehnte Landschaft. Das Besondere der hier auftretenden Lage besteht also zunächst darin, daß der durch das Urteilssubjekt festgelegte Sachverhalt nicht abwesend ist, sondern vielmehr unmittelbar wahrgenommen wird. Hieraus ergibt sich als zweite Eigentümlichkeit einer solchen Meinungsbasis, daß unsere Urteilsmeinung bei ihr in eine praktische Deutung übergeht. Denn wenn der wahre Sachverhalt selber anwesend ist und nichtsdestoweniger im Widerspruche zu ihm eine falsche Urteilsmeinung besteht, welche ihrerseits beansprucht, wahr, dh. mit jenem Sachverhalte identisch zu sein, so muß, wenn dieser Widerspruch auch für den Urteilenden klar zutage liegt, entweder jene Urteilsmeinung zugunsten des Sachverhaltes, da der letztere zugegen ist und sie Lügen straft, aufgegeben werden, oder es muß umgekehrt der wahre Sachverhalt zugunsten der falschen Urteilsmeinung geändert werden. Wir haben schon bei einer früheren Gelegenheit gesehen, daß in dem Falle unserer Meinungsbasis der letztere Weg beschritten wird. Statt in seiner wahren Beschaffenheit wird der uns unmittelbar vorliegende Sachverhalt in einer solchen Beschaffenheit gesehen, die dem Bedeutungsgehalte der falschen Urteilsmeinung entspricht. Dabei kann entweder die wahre Beschaffenheit des Sachverhaltes
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wie in dem Falle der echten Erscheinung verdrängt werden; oder sie kann wie in dem Falle der einfachen Repräsentation neben der falschen Deutung fortbestehen. Dieser letztere Fall ist insofern lehrreich, als er uns zeigt, wie tatsächlich durch die wahre Beschaffenheit des Sachverhaltes unsere falsche Deutung Lügen gestraft werden kann. Denn wenn wir, um auf eines unserer früheren Beispiele zurückzugreifen, eine Photographie perspektivisch als Landschaft deuten, so wissen wir, da hier der wahre Sachverhalt gleichzeitig erkannt wird, daß diese Deutung nur fiktiv und falsch ist, und daß uns in Wahrheit nur eine Lichtbildfläche vorliegt. Daher tritt in solchen Fällen das nur gnoseologische Wesen unserer Meinungsbasis ihrer ontologischen Grundlage gegenüber deutlich heraus. Der Unterschied zwischen einer Meinungsbasis in dem engeren Sinne dieses Wortes und einer falschen Urteilsmeinung besteht also darin, daß sich diese letztere in der Hegel auf einen abwesenden Bestand bezieht und lediglich gedacht wird, während jene erstere nicht nur gedacht wird, sondern uns in der Form einer gnoseologischen Wirklichkeit an einem uns unmittelbar vorliegenden Sachverhalte sinnfällig vor Augen tritt, ja unter Umständen, wie in dem Falle der echten Erscheinung, den wahren Sachverhalt verdrängt. Wir werden in dem weiteren Verlaufe unserer Erörterung erkennen, daß dieser Unterschied für die Transzendenzverhältnisse zwischen der Meinungsbasis und ihren ontologischen Gegengliedern wichtig wird, und daß er eine erhebliche Rolle innerhalb der Transzendenzontologie spielt. Auf der anderen Seite sind die hier auftretenden besonderen Verhältnisse geeignet, uns die eigentümliche Art der Transzendenz, die wir zwischen einer falschen Urteilsmeinung und dem wahren Sachverhalte feststellten und bisher nur theoretisch erörtern konnten, nunmehr auch anschaulich vorzuführen. Wir versuchten seinerzeit zu zeigen, daß eine solche Transzendenz den Charakter eines allgemeinbegrifflichen Widerspruchsverhältnisses an individualbegrifflich identisch demselben Bestände trägt, und daß eben damit dieser Bestand kraft seiner Teilhabe sowohl an einem ontologischen als auch an einem gnoseologischen Bereiche doppeldeutig wird. Diese Doppeldeutigkeit stellt nun die Meinungsbasis eines uns unmittelbar vorliegenden Bestandes sinnfällig dar. Denn hier ist ein solcher Bestand nicht nur in seiner ontologischen, sondern auch in seiner gnoselogischen Beschaffenheit wahrnehmbar gegenwärtig. Wie identisch derselbe Brocken von dem Standpunkte jenes umfassenden gnoseologischen Gesamtfeldes aus betrachtet erstens seine wahre und zweitens seine falsche Höhe hatte, so hat von einem entsprechenden überge-
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ordneten Standpunkte aus gesehen und zwar innerhalb unserer eigenen Erlebniseinheit identisch dieselbe Leinewand erstens den Charakter einer farbenbedeckten Fläche und zweitens den Charakter einer Landschaft mit Tiefenausdehnung. Dieselbe Doppeldeutigkeit identisch desselben Bestandes, deren Vergegenwärtigung uns bei einer theoretischen falschen Urteilsmeinung ungewohnt war und seltsam erschien, läßt sich also bei der praktischen Deutung einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis durch Augenschein verifizieren. Zu beachten aber bleibt, daß auch hier diese Doppeldeutigkeit nur von einem übergeordneten Standpunkte aus gesehen in die Erscheinung tritt. Stellen wir uns dagegen auf den Standpunkt der einander gegenübertretenden Beschaffenheiten selbst, so waltet nunmehr, ähnlich wie in dem Falle der falschen Urteilsmeinung, zwischen ihnen ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung und daher eine Transzendenz. Denn hier wie dort liegen zwei verschiedene Systemzusammenhänge vor, die beide, obwohl sie aD identisch demselben Bestände auftreten, miteinander nichts zu tun haben und sich daher wechselseitig verleugnen. Stelle ich mich auf den Standpunkt der ontologischen Wirklichkeit, zu der die Leinewandfläche gehört, so sind auf ihr nur Farbentöne vorhanden, nicht aber die körperlichen Bestände einer Landschaft. Und stelle ich mich umgekehrt auf den Standpunkt der gnoseologischen Wirklichkeit, zu der die Landschaftsdeutung gehört, so sind in ihr nur die körperlichen Bestände vorhanden und nicht jene Farbentöne auf einer Fläche. Wir kommen also in dieser Hinsicht für die Transzendenzverhältnisse der Meinungsbasis in dem engeren Sinne des Wortes zu demselben Ergebnisse, zu dem unsere früheren Erörterungen über die Transzendenzverhältnisse der falschen Urteilsmeinung führten. Eine Doppeldeutigkeit identisch desselben Bestandes tritt auch hier nur in einem übergeordneten Gesamtfelde in die Erscheinung, das sowohl die ontologische als die gnoseologische Wirklichkeit eines solchen Bestandes in sich aufnimmt. Dagegen ist dieser Bestand sowohl in der einen wie in der anderen seiner beiden Wirklichkeitsweisen eindeutig. Von ihrem eigenen Standpunkte aus gesehen sind sich daher seine ontologische und seine gnoseologische Wirklichkeit wechselseitig transzendent. Dieses eigentümliche Doppelverhältnis zwischen der gnoseologischen Wirklichkeit einer Meinungsbasis und der Wirklichkeit ihrer ontologischen Grundlage spielt, wie sich später zeigen wird, in der Transzendenzontologie des Bewußtseins eine wichtige Rolle. Wir
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wollen uns daher die Einzelheiten dieses Verhältnisses noch genauer vergegenwärtigen. Zu diesem Zwecke haben wir zunächst festzustellen, in welchen besonderen Hinsichten sich jene beiden Wirklichkeiten voneinander unterscheiden. Wir werden dann erkennen, daß dieser Unterschied in manchen Beziehungen tiefer greift, als es auf den ersten Blick scheinen könnte, und daß eben dadurch die wechselseitige Transzendenz beider Wirklichkeiten ihr charakteristisches Gepräge erhält. Das gilt zunächst von dem Bestandmateriale, dem wir die in einer solchen Meinungsbasis auftretenden Wahrnehmungsqualitäten zuschreiben. In dem Falle einer Panoramadarstellung besteht dieses Bestandmaterial, insoweit die Wirklichkeit der ontologischen Grundlage in Betracht kommt, aus einem einfachen Stücke Leinewand. In der gnoseologischen Wirklichkeit der erdeuteten Landschaftsdarstellung dagegen besteht es aus Wäldern und Feldern, Dörfern, Bergen und einem blauen Himmel. Kein Bestandteil dieser Landschaft ist in jener Leinewand, und kein Bestandteil jener Leinewand in dieser Landschaft enthalten. Im Hinblick auf ihr Bestandmaterial haben also die beiden Wirklichkeiten, obwohl sie als Träger derselben Sinnesqualitäten auftreten von dem Standpunkte ihrer eigenen eindeutigen Systematik aus gesehen keinerlei Identitätsergänzung miteinander. Sie schließen sich wechselseitig aus. Das Gleiche gilt von ihren Raumverhältnissen und zwar zunächst von den Dimensionen ihrer Räume. Die farbenbedeckte Leinewand ist eine Fläche. Die wahrgenommene Landschaft ist eine dreidimensionale Manichfaltigkeit. Dabei liegt der Sachverhalt nicht etwa so, daß die Leinewandfläche in den Panoramaraum miteinginge. Sie ist nicht etwa eine durchsichtige Vorderfläche, hinter der sich die Landschaft, wie hinter einer Glasscheibe, nach der Tiefe hin ausdehnte. Vielmehr fällt innerhalb des Panoramaraumes die Flächenhaftigkeit der Leinewand fort. Jeder Flächenteil in ihr wird zu einem Raumteile, der an seine Stelle tritt. Es besteht hier also nicht eine Farbenfläche und außerdem ein dreidimensionaler Raum, sondern jene Fläche löst sich restlos in diesen Raum auf. In der gnoseologischen Systematik der Panoramadarstellung ist daher die Fläche nicht vorhanden; und umgekehrt fehlt in der ontologischen Systematik unserer Außenwirklichkeit der Raum der Panoramadarstellung. Mit anderen Worten: auch inbezug auf die Dimensionen ihrer Räume schließen sich die farbenbedeckte Leinewand und die erdeutete Landschaft wechselseitig aus. Es gilt dies aber nicht nur von den Dimensionen der beiderseitigen Raumverhältnisse, sondern auch von den in ihnen auftreten-
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den Größenbestimmungen. Um uns hierüber klar zu werden, wollen wir statt der Panoramadarstellung, da diese nach der sogenannten Lebensgröße strebt, als Beispiel ein Gemälde wählen, das eine weithin ausgedehnte Landschaft in verkleinertem Maßstabe darstelle. Hat dieses Gemälde in unserer ontologischen Außenwirklichkeit eine Größe von wenigen Quadratdezimetern, so hat die gnoseologische Wirklichkeit der aus ihm erdeuteten Landschaft einen Raumgehalt von mehreren Kubikkilometern. Man wende nicht ein, daß das Gemälde als solches trotzdem so klein bleibe, wie es ist. Relativ zu dem Zimmer, in dem es hängt, bleibt es in der Tat so klein. Aber zu seiner gnoseologischen Wirklichkeit gehört diese Relation eben nicht. Das können wir uns leicht dadurch klarmachen, daß wir unser Gemälde mit einer erheblich verkleinerten Kopie von ihm vergleichen. Das, was wir uns erdeuten, ist dann nicht einmal eine größere und einmal eine kleinere Landschaft; sondern diese letztere ist in beiden Fällen gleich groß. Ihr Maßstab ist nicht die Größe der ontologischen Fläche, auf der sie dargestellt ist, verglichen mit der Größe anderer Bestände in der Außenwirklichkeit, sondern vielmehr die wechselseitige Korrelation der dargestellten Bestände in ihrer eigenen gnoseologischen Wirklichkeit. Denn ob etwas groß ist oder klein, das hängt, wie wir schon bei einer früheren Gelegenheit gesehen haben, lediglich von der Größe derjenigen Bestände ab, die mit dem zu vergleichenden Bestände in demselben Räume stehen. Dagegen ist das, was in einem anderen Räume steht, für das Größenmaß eines zu beurteilenden Bestandes' gleichgültig. In Raumbeziehungen aber steht, wie wir gesehen haben, jeder Bestand einer Gemäldedarstellung nur mit den zu dieser letzteren gehörigen anderen Beständen seiner eigenen gnoseologischen Wirklichkeit, nicht dagegen mit der Fläche, auf der das Gemälde dargestellt ist, und den übrigen Beständen der ontologischen Wirklichkeit. Sinngemäß ist also die Größenbeziehung zwischen den Räumen dieser beiden Wirklichkeiten aufzuheben. Daß wir diese Aufhebung in der Praxis nicht durchzuführen pflegen, ist darin begründet, daß in allen hier in Betracht kommenden Fällen innerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes neben unserer gnoseologischen Deutung auch ontologische Bestände auftreten und wir an die Größenmaßstäbe dieser letzteren gewöhnt sind. Wir pflegen unter diesen Umständen gegenüber der Größe von dargestellten Bildbeständen eine eigentümlich schwankende Haltung einzunehmen, die für die hier gekennzeichneten Verhältnisse charakteristisch ist. Einerseits erscheinen uns solche Bestände nämlich so groß, wie es ihr ontologischer, und anderseits doch wieder so groß, wie es ihr gno9
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seologischer Maßstab erfordert. Daher bestehen für uns in der für einen übergeordneten Standpunkt kennzeichnenden Doppeldeutigkeit beide Größen nebeneinander. In der eindeutigen Systematik des ontologisch bzw. des gnoseologisch wirklichen Feldes aber kommt immer nur entweder die eine Größe in Betracht oder die andere. Dagegen treten in keinem der beiden Systeme beide Größen zugleich auf. Mit anderen Worten: auch inbezug auf ihre Größenverhältnisse schließen sich die ontologische und die gnoseologische Wirklichkeit wechselseitig aus. Die Duplizität der hier geschilderten Raumverhältnisse kommt besonders deutlich zum Ausdruck, wenn wir darauf achten, daß die gnoseologische Wirklichkeit eines Gemäldes, also in unserem Falle die Landschaftsdarstellung ihrer Bedeutung entsprechend nicht als dort aufhörend gedacht wird, wo ontologisch der Rahmen das Bild abschneidet, sondern daß wir sie uns weit über die Rahmengrenzen hinaus als ebenso unendlich denken wie unsere eigene durch die Enge des wahrgenommenen Zimmerraumes ebenfalls nicht begrenzte ontologische Wirklichkeit, deren gnoseologische Darstellung sie ist. Der gnoseologische Gemälderaum liegt also nicht innerhalb des Zimmers, in dem das Gemälde hängt; sondern er ist ebenso groß wie der ontologische Raum der Außenwirklichkeit, zu dem das Zimmer gehört, und mit dem er in Konkurrenz tritt. Schließen sich auf diese Weise die gnoseologische und die ontologische Wirklichkeit von dem Standpunkte ihrer eigenen eindeutigen Systematik aus betrachtet als zwei einander transzendente Systeme wechselseitig aus, so besteht zwischen ihnen auf der anderen Seite von dem übergeordneten Standpunkte eines sie beide umfassenden, ihre Eindeutigkeit nicht antastenden und daher selbst doppeldeutigen Gesamtfeldes aus gesehen jenes früher geschilderte eigentümliche Ueberschneidungsverhältnis an identisch demselben Bestände. Dieser Bestand wurde in dem von uns zuvor gekennzeichneten Wahrnehmungsurteile durch das Urteilssubjekt als das unserem Bewußtsein unmittelbar Vorliegende bestimmt. Er besteht in unserem Beispiele aus Farbenkomplexen mit Lichtern und Schatten. Diese bilden von jenem übergeordneten Standpunkte aus gesehen das in den beiden Wirklichkeitssystemen Identische. In Verbindung hiermit werden dann aber zwischen den beiden Systemen noch weitere Zusammenhänge erkennbar, die insgesamt auf der Abhängigkeit der gnoseologischen Wirklichkeit von ihrer ontologischen Grundlage beruhen. Ein solcher Zusammenhang besteht zunächst im Hinblicke auf die ihnen gemeinsame Zeit. Denn die gnoseologische Wirklichkeit
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einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis hat nicht wie die gedachte Welt einer Erzählung ihre eigene Zeit; sondern sie hat, obwohl sie selbst nur gnoseologisch wirklich ist, die ontologische Zeit ihrer außenwirklichen Grundlage. Das ist ohne Weiteres verständlich, wenn wir bedenken, daß die Welt einer Erzählung einschließlich ihrer Zeitlage als etwas von uns Abwesendes und uns Transzendentes frei von uns geschaffen wird, während bei einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis unser Eigenwerk nur in einer Deutung besteht, der zu deutende Bestand aber ontologisch zugegen ist. Unter diesen Umständen fällt die Zeit jeder gnoseologischen Wirklichkeit mit derjenigen Zeit zusammen, in der ihre ontologische Grundlage auftritt und eine Deutung erfährt, während die Zeit einer frei geschaffenen Erzählung von derjenigen Zeit, in der sie erdacht wird, grundsätzlich unabhängig ist. Daher kann ich einen Roman in jeder beliebigen Zeit spielen lassen. Dagegen ist die Landschaftsdarstellung eines Panoramas oder eines Gemäldes nur zu derjenigen ontologischen Zeit gnoseologisch wirklich, in der die Farben der Leinewand da sind und von unserem wahrnehmenden Bewußtsein ausgedeutet werden. Aber auch räumlich erweisen sich infolge dieser Verhältnisse die beiden Systeme, sobald man sie von jenem übergeordneten Standpunkte aus betrachtet, als aneinander gebunden. Beide sind inbezug auf den von uns wahrgenommenen Teil ihrer Ausdehnung in jedem Falle räumlich dort, wo wir sie wahrnehmen. Zwar haben wir zu einer Feststellung dieses ihres gemeinsamen Ortes keinen die Räume beider Systeme in sich einbegreifenden Gesamtraum. Wohl aber können wir von jenem übergeordneten Standpunkte aus erkennen, daß ebendort, wo von der ontologischen Wirklichkeit aus gesehen eine Fläche ist, von der gnoseologischen Wirklichkeit aus gesehen ein Landschaftsraum besteht, und umgekehrt. Wir können daher den begrenzten Flächenteil in der ontologischen und den begrenzten Raumteil mit Tiefenausdehnung in der gnoseologischen Wirklichkeit angeben, der beiden Systemen, freilich mit einer verschiedenen Deutung der Sachlage, gemeinsam ist. Auch ist es offenbar, daß in diesem beiden Systemen gemeinsamen flächenhaften oder räumlichen Bezirke alle Konturen und sonstigen geometrischen Eigentümlichkeiten, die in der einen Wirklichkeit wahrnehmbar sind, in der anderen Wirklichkeit mit einer entsprechenden Bedeutung ebenfalls auftreten. Und wieder hängt in diesen räumlichen Bezugsverhältnissen die gnoseologische Wirklichkeit von ihrer ontologischen Grundlage ab, während eine umgekehrte Abhängigkeit nicht besteht. 9»
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Endlich findet drittens zwischen beiden Systemen ein naturgesetzlicher Zusammenhang statt. Zwar erhält auch diese Naturgesetzlichkeit in beiden Fällen eine verschiedene Deutung. Nichtsdestoweniger aber ist jeder naturgesetzliche Vorgang in dem einen Systeme von einem zugeordneten Vorgange in dem anderen Systeme begleitet. Und auch hier wieder sind die gnoseologisch wirklichen Vorgänge durch die ontologisch wirklichen bedingt, nicht aber umgekehrt. So mag in der erdeuteten Gebirgslandschaft einer Panoramadarstellung ein scheinbares Alpenglühen dadurch verursacht sein, daß die farbenbedeckte Leinewand in der zugrundeliegenden ontologischen Wirklichkeit mit rotem Lichte beleuchtet wird. Oder es tritt in der gnoseologischen Wirklichkeit einer Filmvorführung dasjenige als Bewegung auf, was in der ontologischen Wirklichkeit der Projektionen ein rascher Wechsel der Bilder ist. Usw. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß die gnoseologische Wirklichkeit einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis und die Wirklichkeit ihrer ontologischen Grundlage von ihrem eigenen Standpunkte aus betrachtet einander ausschließen und sich wechselseitig transzendieren; daß aber beide Systeme von dem Standpunkte einer übergeordneten Warte aus gesehen einander an identisch demselben Bestandkomplexe, an dem sie gemeinsam teilhaben, in der von uns geschilderten eigentümlichen Weise überschneiden, und daß diese Ueberschneidung zugleich einen engen Zusammenhang zwischen den zeitlichen, räumlichen und naturgesetzlichen Verhältnissen beider Wirklichkeiten bedingt. Dabei offenbart sich allenthalben eine Abhängigkeit der gnoseologischen Wirklichkeit von der Wirklichkeit ihrer ontologischen Grundlage, die ihre Voraussetzung bildet, und über der sie sich als ein System höherer Ordnung aufbaut. Im Uebrigen sei noch darauf hingewiesen, daß in diesen Zusammenhängen die beiden Systemen gemeinsame Zeit in einer charakteristischen Weise von den anderen genannten Faktoren abweicht. Während nämlich in jedem der beiden Systeme die ihnen gemeinsamen räumlichen und naturgesetzlichen Verhältnisse unbeschadet ihrer individualbegrifflichen Identität eine andere Deutung erfahren, trifft dies auf die ihnen gemeinsame Zeit nicht zu. Die letztere ist vielmehr in beiden Wirklichkeiten eine und dieselbe. Dieser Umstand hängt mit der schon mehrfach erörterten Sonderstellung der Zeit auf allen Immanenzgebieten zusammen und ist dadurch bedingt, daß, wie wir früher gesehen haben, die Ueberschneidungsbestände und daher auch die ontologischen Grundlagen unserer Meinungsbasen unserem Bewußtsein keine eigene Zeit darbieten, sondern ihre Zeiteingliederung gemein-
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schaftlich aus demselben Bezirke diesseits der Ueberschneidung empfangen. Gedeutet aber wird und daher gnoseologisch wirklich ist immer nur dasjenige, was sich als ontologisch gegeben einer solchen Deutung darbietet. Die Zeit der ontologischen Grundlage unserer Meinungsbasen ist nicht auf diese Weise gegeben. Sie ist vielmehr auf die seinerzeit von uns gekennzeichnete Weise in jenem Bezirke diesseits der Ueberschneidung als ein ontologisch gültiger Faktor selbst erst gnoseologisch erschlossen. Daher schreiben wir in dem Falle einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis eben diese von uns erst erschlossene Zeit sowohl der ontologischen als auch der gnoseologischen Wirklichkeit zu. Ueberblicken wir die hier geschilderten Verhältnisse, so gewinnen wir zugleich einen tieferen Einblick in das Wesen derjenigen Transzendenz, die wir früher als die sekundär unverbundene bezeichnet haben. Wir haben in den soeben beschriebenen Beziehungen zwischen der Meinungsbasis und ihrer ontologischen Grundlage einen neuen eigenartigen Transzendenztypus kennen gelernt, den wir als den einer doppelten Seinsweise identisch desselben Bestandes charakterisieren können. Die Eigenart dieses Typus besteht in dem von uns behandelten Falle darin, daß zwei voneinander gegenstandstheoretisch verschiedene und sich wechselseitig transzendente Systeme in einem von uns wahrgenommenen eng begrenzten Bezirke ihres Gesamtfeldes durch individualbegriffliche Identität miteinander verkoppelt sind, jedoch so, daß diese Identität innerhalb der Eigensystematik jedes der beiden Systeme nicht zum Ausdruck kommt. Jener begrenzte Bezirk hat daher kraft seiner Teilhabe an beiden Systemen eine doppelte Seinsweise. Mit diesen Verhältnissen hängt die früher von uns beschriebene sekundär unverbundene Transzendenz zusammen. In einer solchen Transzendenz stehen nämlich alle Bestände des einen Systems zu allen Beständen des anderen, es sei denn, daß sie beiderseits in jenem begrenzten beiden Systemen gemeinsamen Bezirke liegen, in dem zwischen ihnen eine individualbegriffliche Identität waltet. Oder anders ausgedrückt: sind zwei Systeme in einem begrenzten Bezirke durch eine doppelte Seinsweise identisch derselben Bestände miteinander verkoppelt, so herrscht zwischen ihren wechselseitigen Beständen dann eine sekundär unverbundene Transzendenz, wenn mindestens einer dieser Bestände außerhalb jenes Bezirkes liegt, in dem die beiden Systeme miteinander verkoppelt sind. Insbesondere läßt sich das Verhältnis zwischen der Meinungsbasis und ihrem Meinungsgegenstande als eine sekundär unverbundene Transzendenz von dieser Art auffassen. Denn die Meinungsbasis
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Die transzendenzontologiscben Grundbegriffe
liegt in einer gnoseologischen, der Meinungsgegenstand dagegen in der ihr transzendenten ontologischen Wirklichkeit und zwar außerhalb des Bezirkes ihrer ontologischen Grundlage, zu der jener seinerseits in einer verbundenen Transzendenz steht. Wir können uns dieses Verhältnis leicht an unserem Panoramabeispiele klarmachen. Hier liegt die erdeutete Landschaft als gnoseologische Wirklichkeit in einem anderen Systemzusammenhange als die uns bekannte Landschaft als ontologische Wirklichkeit. Daher führt, wie schon einmal bemerkt wurde, aus der einen Landschaft kein W e g in die andere und aus der anderen kein Weg in die eine. Nichtsdestoweniger sind sie beide miteinander verbunden: aber nicht unmittelbar sondern mittelbar, insofern nämlich die farbenbedeckte Leinewand als die ontologische Grundlage der Panoramalandschaft mit jener uns bekannten Landschaft als dem ebenfalls ontologischen Meinungsgegenstande in einem und demselben Systemzusammenhange unserer Wirklichkeit liegt. Wir werden später erkennen, daß dieser Art der Transzendenz eine erhebliche Bedeutung in den Strukturverhältnissen der Transzendenzontologie zukommt. Die dort auftretende Situation wird aber noch durch einen weiteren Umstand kompliziert, der ebenfalls mit einem Transzendenzverhältnisse zusammenhängt, und über dessen Wesen ich mich hier erklären will. Das Charakteristische in den soeben beschriebenen Transzendenzverhältnissen einer gnoseologischen Wirklichkeit bestand darin, daß sich zwei an identisch demselben Bestände auftretende Seinsweisen und die mit ihnen verbundenen Systemzusammenhänge durch das Wesen ihrer materiellen Träger, durch ihre Raumverhältnisse und durch die Art ihrer Naturgesetzlichkeit voneinander unterschieden, während sie beide an identisch denselben Sinnesqualitäten teilhatten. Es gibt aber noch eine andere Art der Transzendenz, die ebenfalls zwei verschiedene Seinsweisen an identisch demselben Bestände betrifft, und bei der sich das soeben beschriebene Verhältnis umkehrt. Denn Material, Raum und Naturgesetzlichkeit des Bestandes bleiben bei dieser letzteren Art der Transzendenz unangetastet. Dagegen bezieht sie sich auf zwei verschiedene Beschaffenheiten eben jener diesem Bestände zukommenden Sinnesqualitäten, also gerade auf denjenigen Faktor, der in den Transzendenzverhältnissen der gnoseologischen Wirklichkeit nicht verschieden war, sondern derselbe blieb. Wir wollen diese andere Art der Transzendenz aus noch zu erläuternden Gründen als die einer gestaltsqualitativen Zusammenfassung bezeichnen.
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Um uns über das Wesen dieses eigentümlichen Transzendenztypus klar zu werden, können wir von jenem schon mehrfach behandelten halbtranszendenzontologiachen Zugeständnisse ausgehen, zu dem wir seinerzeit auf dem Gebiete der Immanenzontologie gezwungen wurden. Die Konsequenzen der Ueberschneidungslehre führten uns dort zu der Annahme, daß die Außenwirklichkeit in unseren immanenten Wahrnehmungsbeständen zwar individualbegrifflich vorliege, aber ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit nach nicht adäquat in ihnen zum Ausdrucke komme, sondern sich uns in einer asymptotischen Annäherung nur schrittweise enthülle, ohne daß wir sie jemals erreichten. Es hätte also individualbegrifflich identisch derselbe Bestand nach seinem außenwirklichen Wesen eine andere allgemeinbegriffliche Beschaffenheit als in seiner bewußtseinswirklichen Auffassung. So wären zB. die Gegenstände, die wir aus der Ferne erblicken, als außenwirkliche und bewußtseinswirkliche identisch dieselben. Aber in ihrer außenwirklichen Beschaffenheit wären sie nicht so verschwommen, wie sie sich unserem Fernblicke darstellen, sondern hätten vielmehr die scharfen Konturen, die wir aus der Nähe an ihnen erkennen. Eine genauere Untersuchung würde dann aber zeigen, daß ihrer Außenwirklichkeit auch diejenigen Beschaffenheiten nicht zukommen, die sie bei unserer Beobachtung mit unbewaffnetem Auge in der Nähe darbieten, sondern daß an deren Stelle wieder andere Beschaffenheiten treten, die wir nur unter dem Mikroskop erkennen. Und auch diese Beschaffenheiten wären nicht die außenwirklichen, sondern abermals andere nur noch vorstellbare und nicht mehr wahrnehmbare Beschaffenheiten von Molekülen. Die Beschaffenheiten dieser letzteren aber müßten wieder durch die der Atome ersetzt werden. Usf. ad indefinitum. Alle diese Beschaffenheiten kämen der immanenzontologischen Interpretation zufolge den verschiedenen bewußtseinswirklichen oder doch als bewußtseinswirklich vorstellbaren Daseinsformen eines und desselben Bestandes zu, und zugleich hätte er als identisch derselbe noch seine außenwirkliche Beschaffenheit, der wir uns mit unserer Bewußtseinswirklichkeit in der hier dargelegten Weise Schritt für Schritt annäherten, ohne sie jemals erreichen zu können. Daß diese Interpretation des immanenzontologischen Sachverhaltes in sich widerspruchsvoll ist, haben wir bei der Erörterung der Ansichfürunsverhältnisse der Meinungsbasen dargelegt. Nichtsdestoweniger ist der soeben geschilderte Tatbestand, auf den sie sich stützt, ohne Zweifel vorhanden, wenn er auch einer anderen Auslegung
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
bedarf. Wir können diesen Tatbestand allgemein dahin charakterisieren, daß die Wahrnehmungsbeschaffenheiten, die in unserer Bewußtseinswirklichkeit als mehr oder minder homogene Ganzheiten auftreten, ihrer von uns als außenwirklich angesprochenen Natur nach diese Art der Homogenität nicht haben, sondern Bestandgefüge darstellen, die sich aus einer Reihe von heterogenen Teilfaktoren zusammensetzen. Hierüber möchte ich mich, um das Problem deutlich heraustreten zu lassen, etwas näher erklären. Und zwar will ich mich dabei auf den Anteil beschränken, den die spezifische Systematik unseres Bewußtseins an jenem Tatbestande hat. Daß außer dieser letzteren auch noch andere Faktoren an ihm beteiligt sind, wird der spätere Verlauf unserer Untersuchungen zu zeigen haben. Dessenungeachtet spielt unsere Bewußtseinssystematik bei jenen soeben von uns geschilderten Verhältnissen eine erhebliche Rolle. Es gehört nämlich zu den transzendenzontologisch wichtigen Zügen unseres Bewußtseins, daß es seine erlebniseinheitlichen Bestände allenthalben in einer eigentümlichen Weise als Ganzheiten auffaßt und niemals über eine solche ganzheitliche Auffassung hinausgelangt. Blicke ich zB. jetzt auf den vor mir liegenden Teil meines Zimmers, so stellt er sich mir als ein Bild in eigentümlich ganzheitlicher Fassung dar. In dieses Ganze gliedern sich alle Einzelbestände Schreibtisch, Lampe, Bilder usw. ein. Eben damit aber verlieren diese letzteren in größerem oder geringerem Maße ihre Selbständigkeit. Denn die Eigentümlichkeit der erlebniseinheitlichen Eingliederung von Einzelbeständen in ein Gan2es liegt darin, daß das alle Bestände umfassende Ganze als solches in meinem Bewußtsein betont ist, während jene einzelnen Bestände für sich selber auf Kosten der Ganzheit mehr oder minder zurücktreten. Und zwar verlieren die Einzelbestände im Allgemeinen umso mehr ihr Eigenwesen, je größer unser Wahrnehmungsfeld ist. Es ist gewissermaßen so, als wäre in unserer Erlebniseinheit nur eine beschränkte Haushaltungssumme da, von der alle Einzelbestände der Ganzheit gespeist werden müssen. Je größer die Zahl dieser Bestände ist, umso weniger von der Haushaltungssumme fällt für jeden einzelnen Bestand ab. Daß dabei eine solche Haushaltungssumme nicht auf alle Bestände gleichmäßig verteilt zu werden braucht, sondern daß wir gewöhnlich irgendeinen besonderen Bestand bevorzugen, indem wir ihm ein größeres Maß von Aufmerksamkeit schenken, sei hier nur nebenher erwähnt. Bekanntlich machen sich die Maler diese Art der Ganzheiten zunutze und führen die verschiedenen Bestände ihrer Gemälde nur in dem Maße aus, als es
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ihrer Rolle innerhalb der beabsichtigten Ganzheitssystematik der Gemälde entspricht. Auf solche Ganzheiten sind wir im Hinblicke auf alle ontologischen Bestände, die innerhalb unserer Bewußtseinswirklichkeit auftreten, angewiesen. Dabei ist es nach quantitativer Hinsicht ein wichtiges Charakteristikum dieser Ganzheiten, daß sie im Größten wie im Kleinsten an das sogenannte Endliche gebunden sind. Wir können deshalb ontologisch weder das Unendlichgroße noch das Unendlichkleine mit unserer Erlebniseinheit erfassen. Daß wir das Unendlichgroße nicht durch Wahrnehmung erfassen können, ist schon durch die endliche Größe unserer Sinneswerkzeuge bedingt. Wir können es uns aber auch nicht vorstellen. Denn soweit wir in der Vorstellung unsere Wahrnehmungsschranken auch überschreiten mögen, niemals gelangen wir über endliche Bestände hinaus. Das gilt sowohl von unseren räumlichen als auch von unseren zeitlichen Vorstellungen. Zwar wissen wir, daß die Grenzen unserer Wahrnehmung oder Vorstellung nicht zugleich die Grenzen der wahrgenommenen und vorgestellten Räume oder Zeiten sind, ja daß es sinnwidrig wäre, die letzteren an diesen Grenzen aufhören zu lassen. Nichtsdestoweniger vermögen wir dieses unser Wissen anschaulich niemals zu realisieren. Denn ontologisch sind wir an unsere Endlichkeitsgrenzen gebunden. Daher können wir unendliche Räume und unendliche Zeiten nur dadurch denken, daß wir gnoseologisch die ontologischen Schranken unseres Bewußtseins überschreiten. Noch auffälliger ist es,' daß unsere Erlebniseinheit auch dem Unendlichkleinen gegenüber an seine Endlichkeit gebunden ist. Umso auffälliger, als dieses Unendlichkleine im Unterschiede zu dem Unendlichgroßen in unseren Wahrnehmungsfeldern selbst enthalten ist. Hierin tritt das ganzheitliche Wesen unserer Erlebniseinheit besonders klar zutage. Ueberall, wo endliche Bestände in unserer Erlebniseinheit enthalten sind, sind eben damit auch unendlichkleine Bestände in ihr enthalten. Denn alles Endliche bildet eine Summe des Unendlichkleinen. Das gehört zu dem Begriffe des Endlichen. Nichtsdestoweniger sind wir in Wirklichkeit außerstande, das Unendlichkleine als solches zu erfassen. Die endlichen Größen, die wir wahrnehmen, sind demnach in der Praxis unserer erlebniseinheitlichen Auffassung nicht etwa die Additionen unendlich vieler unendlichkleiner Bestände, als die wir sie theoretisch betrachten müssen; sondern es sind solche Ganzheiten, die als Teile selbst wieder nur Ganzheiten enthalten, und die daher tatsächlich nicht unendlich, sondern nur endlich teilbar sind. Theoretisch ist das Unendlichkleine in ihnen
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
enthalten; praktisch ist es in ihnen nicht realisierbar. Oder anders ausgedrückt: die infinitesimalen Größen sind zwar da; sie können aber nur in mehr oder minder groben Integrationen erfaßt werden. Das kann man sich leicht vergegenwärtigen, indem man, ganz gleich auf welchem Wahrnehmungs- oder Vorstellungsgebiete, den kleinsten Bestand aufsucht, zu dessen Erfassung wir noch fähig sind. Man wird dann stets finden, daß dieser Bestand eine endliche Größe hat, über deren Kleinheit wir nicht hinauskommen. Jeder Versuch, innerhalb eines solchen kleinsten Bestandes noch weitere Einzelbestände festzustellen, scheitert, weil wir hier an der unteren Grenze unserer ganzheitlichen Auffassung angelangt sind. Wir sind also inbezug auf die ontologischen Bestände, die innerhalb unserer Erlebniseinheit auftreten, an endliche Ganzheiten gebunden. In ihrer Endlichkeit äußert sich das quantitative Wesen solcher Ganzheiten. Daneben haben diese letzteren aber noch ein besonderes qualitatives Wesen, das für unser Problem ebenfalls von Bedeutung ist. Dieses ihr qualitatives Wesen hängt mit jener schon angedeuteten Eigentümlichkeit der erlebniseinheitlichen Ganzheiten zusammen, daß die einzelnen Teile in ihnen ihre selbständige Eigennatur in größerem oder geringerem Ausmaße zugunsten des Ganzen aufgeben. Geht diese Selbstauigabe der Teile so weit, daß sie sich völlig in die Ganzheit verlieren, dergestalt daß sie als Einzelteile nicht mehr wahrgenommen werden, sondern nur noch die Ganzheit erfaßt wird, in der sie auftreten, so nimmt nunmehr diese Ganzheit eine entsprechende neue qualitative Beschaffenheit an, die als solche in keinem ihrer Teile enthalten ist, sondern vielmehr eine aus der Synthese aller Teilbeschaffenheiten hervorgegangene Resultante darstellt. Wir können dann die bloße additive Summe der Teilbeschaffenheiten auf der einen Seite und die in unserer Erlebniseinheit daraus hervorgehende neue gestaltsqualitative Ganzheitsbeschaffenheit auf der anderen Seite als zwei tatsächlich verschiedene Qualitäten einander gegenüberstellen. Hierfür bietet die Psychologie der Wahrnehmungen eine Fülle von Beispielen. So gibt es bekanntlich gewisse Gemälde, die von nahem gesehen nur eine bunte Fülle kleiner Farbenflecke darbieten. Tritt man aber etwas weiter zurück, so daß die einzelnen Flecke entsprechend kleiner werden und sich in unserer Ganzheitsauffassung von größeren Bildbeständen verlieren, so verschwinden jene Einzelflecke in unserem Sichtfelde und statt ihrer treten nunmehr mit besonderen Lichtwirkungen die beabsichtigten neuen Farben heraus. Was hier im Groben vor sich geht, findet bei den Farbenmischungen
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auf der Palette in feineren Strukturen statt. Kleine gelbe und blaue Farbpartikel durcheinandergemengt werden nicht mehr in ihren Eigenfarben wahrgenommen, sondern erscheinen in unserer Ganzheitsauffassung als ein gleichmäßiges Grün. Aehnliches gilt für andere Sinnesgebiete. So treten in dem Bereiche der Tonwahrnehmungen gewisse Akkorde namentlich für das ungeübte Ohr als in sich einheitliche und von den in ihnen enthaltenen Einzeltönen verschiedene Klanggebilde auf. Oder auf dem Gebiete des Geschmacks ist die Mehrzahl der dort auftretenden scheinbar einheitlichen Wahrnehmungen in Wahrheit eine ganzheitliche und von den Teilfaktoren verschiedene Synthese von Geruch-, Geschmack-, Temperatur- und Tastwahrnehmungen. Ueberall bedingt hier die Ganzheitsauffassung unserer Wahrnehmungen neue Qualitäten, die in den Qualitäten der einzelnen Teilfaktoren nicht enthalten sind. Dabei gilt das, was hier für Simultanzusammenfassungen gezeigt ist, entsprechend auch für Sukzessivzusammenfassungen. Eine rasche Folge von Farben führt, wie uns der Farbenkreisel zeigt, zu ähnlichen Mischfarben, wie sie der Maler durch Vermengung der kleinen Pigmentpartikel auf der Palette zuwege bringt. Ebenso führt auf dem Schallgebiete eine schnelle Folge von Teiltönen zu einem scheinbar in sich einheitlichen neuen Tone. Und Versuche auf dem Gebiete der Tastwahrnehmungen zeigen uns, daß auch hier duroh eine Beschleunigung der Reizfolgen neue Tastqualitäten entstehen. In allen solchen Fällen erweist sich das, was wir als eine neue Wahrnehmungsqualität ansprechen, in einem ähnlichen Sinne wie bei den Simultanzusammenfassungen als eine gestaltsqualitative Ganzheit von verschiedenen, nur in diesem Falle sukzessiven Faktoren. Diese Faktoren werden bei rascher Folge als einzelne nicht mehr erfaßt, wohl aber erfassen wir die Ganzheit ihrer Sukzession. Die einzelnen kleinsten Teilphänomene vermögen wir also wie in dem Räume, so auch in der Zeit nicht zu erfassen. Aber wir integrieren in beiden Fällen ihre Summe. Und in beiden Fällen weist die Integration als Ganzheitsauffassung eine andere qualitative Beschaffenheit auf als die einzelnen Faktoren, die in einer solchen Ganzheit zusammengefaßt werden. Ueberblicken wir die hier gegebenen Beispiele, so ist ersichtlich, daß wir uns von derjenigen Beschaffenheit der Wahrnehmungsbestände, die wir als die außenwirkliche anzusprechen pflegen, umso weiter entfernen, je mehr die ganzheitliche Auffassung unseres Bewußtseins fortschreitet. So sind immanenzontologisch gesprochen auf der Leinewand jenes Gemäldes nur die einzelnen Farbfleckchen außenwirklich; nicht mehr außenwirklich dagegen ist die aus diesen Farbfleckchen resul-
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
tierende ganzheitliche Farbe. Ebenso pflegt man bei einer Farbenmischung wohl die Farben der einzelnen Pigmente als außenwirklich zu betrachten, nicht dagegen die aus ihrer Verbindung gestaltsqualitativ gewonnenen neuen Farben. Usw. Es soll hier nicht das zu einer Kritik der Immanenzontologie gehörende Problem angeschnitten werden, ob in solchen Fällen die komponierenden Teilqualitäten selber mit Recht als außenwirkliche angesprochen werden. Wie man darüber auch denken möge, jedenfalls ist offenbar, daß wir uns von der außenwirklichen Struktur der Wahrnehmungsbestände umso weiter entfernen, je weiter wir in unserer ganzheitlichen Auffassung derselben fortschreiten, dh. je größer die Zahl der verschiedenartigen Teilbestände ist, die wir durch Integration mit einer neuen Gesamtqualität versehen. Und es ist ferner offenbar, daß wir umgekehrt den außenwirklichen Beschaffenheiten umso näher kommen, je mehr wir jene ganzheitlichen Gestaltsqualitäten abbauen, also von der jeweils ganzheitlichen zu derjenigen Beschaffenheit übergehen, die den Teilbeständen als solchen zukommt. Hierauf beruht ein wichtiger Teil des analytischen Verfahrens in der Wissenschaft und zwar im Besonderen in der Naturwissenschaft. Eine der Hauptaufgaben dieser letzteren besteht in der Auflösung derjenigen erlebniseinheitlichen Ganzheitsqualitäten, die in unseren Wahrnehmungen, bzw. in unseren über die Wahrnehmung hinausgehenden Vorstellungen von dem Wesen der Außenwirklichkeit enthalten sind. Dieser Auflösungsprozeß schreitet, wie es jenes erste von uns geschilderte Beispiel deutlich zeigte, immer weiter fort, je tiefer wir in die Feinstrukturen der Außenwirklichkeit eindringen. Dabei hört teilweise schon in den molaren, vollends aber in den molekularen und atomistischen Strukturverhältnissen der Außenwirklichkeit, selbst wenn wir an einer immanenzontologischen Auffassung dieser letzteren festhalten, dasjenige, was wir als Wahrnehmungsqualitäten kennen, auf und wird durch Simultan- und Sukzessiwerbände von Teilfaktoren anderer Art ersetzt, deren Eigenqualität uns unbekannt ist. Diese Teilfaktoren haben als außenwirkliche keinen gestaltsqualitativen Ganzheitscharakter mehr. Sie sind vielmehr naturgesetzlich verbundene Komplexe von noch kleineren Teilfaktoren und zwar letzten Endes von unendlichkleinen. Unter diesen Umständen liegt es nahe, alle ganzheitlichen Qualitäten als lediglich bewußtseinswirklich, ihre ins Unendliche gehende Differenzierung dagegen als außenwirklich und den schrittweisen aber nie vollendeten Abbau unserer ganzheitlichen Auffassungen als eine asymptotische Annäherung der bewußtseinswirklichen Strukturen an die außenwirklichen zu betrachten.
Die Transzendenzverhältnisse der gestaltsqualitativen Zusammenfassung
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In dieser Auffassung der Sachlage liegt ohne Zweifel etwas Richtiges. Und zugleich steckt in ihr der berechtigte Kern jener an und für sich nicht haltbaren Notauskunft der Immanenzontologie, nach der sich uns in den Wahrnehmungsbeständen die Beschaffenheit der Außenwirklichkeit in schrittweiser Annäherung enthüllen soll. Auf der anderen Seite aber erscheint eine solche Auffassung dadurch in Frage gestellt, daß die Unterscheidung von ganzheitlicher und differenzierter Beschaffenheit nicht nur auf unsere Wahrnehmung der Außenwirklichkeit zutrifft, sondern auch auf diejenigen Bestände unserer Erlebniseinheit übergreift, die wir als ausschließlich bewußtseinswirkliche zu betrachten pflegen. Das gilt auch hier sowohl für die Simultan- wie für die Sukzessiverlebnisse. Für den Ganzheitscharakter und die Differenzierbarkeil der ersteren bietet die Psychologie der Denkvorgänge, der Gemütsbewegungen und der Willensakte eine Fülle von Belegen. Denn allenthalben zeigt eine Analyse dieser Bestandarten, daß dasjenige, was bei ihnen in ganzheitlicher Zusammenfassung als ein mehr oder minder einheitlicher Vorgang erlebt wird, in Wahrheit diese Einheitlichkeit nicht besitzt, sondern vielmehr eine Komplikation von verschiedenen Teilfaktoren darstellt, die, ohne als solche bemerkt zu werden, in unsere ganzheitliche Synthese eingehen. Aber auch mit dem Zeitverlaufe unserer reinen Bewußtseinsvorgänge sind offenbar gestaltsqualitative Ganzheitsauffassungen verbunden. Das wird klar, wenn man bedenkt, daß wir auch im Hinblicke auf sie nicht imstande sind, beliebig kleine Zeiteinheiten als solche zu erfassen, sondern stets auf gewisse endliche Zeitganzheiten angewiesen bleiben, in denen noch kleinere Zeiteinheiten, ohne als solche bemerkt zu werden, enthalten sind. Könnten wir daher mit derselben Genauigkeit, mit der wir bei diesen Vorgängen etwa eine Sekunde als eine deutlich erfaßbare Zeitganzheit innewerden, auch ein tausendstel Sekunde auffassen und zwar so, daß eine Sekunde für uns eine Strecke von tausend deutlich voneinander unterscheidbaren Zeitganzheiten bildete, nach ihrem Inhaltsreichtum e also einer Zeitstrecke von sechzehn bis siebzehn Minuten gleichkäme, so würde das, was wir jetzt als den Bruchteil eines Denkvorganges, einer Gemütsbewegung usw. innerhalb einer Sekunde erleben, ein wesentlich anderes Gepräge tragen. Es würde keine einfache Zeitganzheit mehr darstellen, sondern sich als eine umfangreiche und verwickelte Folge von Teilakten erweisen. Und abermals würde sich das Bild verschieben, wenn wir uns jede tausendstel Sekunde eines solchen reinen Bewußtseinserlebnisses wieder in tausend deutlich voneinander unter-
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
scheidbare Zeiteinheiten aufgeteilt dächten. Das Ziel einer solchen Differenzierung läge auch hier wieder im Unendlichen. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß der Unterschied zwischen Ganzheit und Komplikation keineswegs auf das Verhältnis zwischen Bewußtsein und Außenwirklichkeit als zwischen zwei voneinander trennbaren Systemen beschränkt ist, sondern sich vielmehr auch innerhalb des scheinbar einheitlichen Systems unseres Bewußtseins als solchen findet. Diesen Ergebnissen entsprechend dürfen wir feststellen, daß alle in unserer Erlebniseinheit auftretenden Bewußtseinsbestände ohne Ausnahme erstens einen ganzheitlichen Charakter tragen und zweitens eine von diesem Ganzheitscharakter überwucherte Komplikation enthalten. Dabei ist zu beachten, daß diese Komplikation, die, wie wir gesehen haben, bis in das Unendlichkleine führt, in ihren gröberen Formen unter Umständen neben dem sie überwuchernden Ganzheitscharakter noch innerhalb des erlebniseinheitlichen Bewußtseins bemerkt werden kann, in ihren feineren Formen dagegen tatsächlich nicht mehr bemerkt wird und in ihrer infinitesimalen Struktur auch grundsätzlich außerhalb des Bereiches unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens, damit aber zugleich auch außerhalb einer bewußtseinsontologischen Realisierbarkeit überhaupt liegt. So können wir bei jenem von uns geschilderten Gemälde unter Umständen einerseits noch die einzelnen Farbenflecke erkennen und anderseits doch schon ihre Ganzheitsqualität erfassen; oder wir können in einem Akkorde sowohl die einzelnen Töne als auch ihren einheitlichen Zusammenklang hören; oder wir können bei einem Affekte einerseits das Akterlebnis und die begleitenden Organempfindungen unterscheiden und ihn anderseits doch als einen ganzheitlichen Bewußtseinsvorgang erleben. Usw. Aber tiefer geht unsere Analyse solcher Bewußtseinsganzheiten innerhalb des erlebniseinheitlichen Rahmens nicht. Ihre weitere und vollends ihre infinitesimale Auflösung liegt vielmehr jenseits unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens. Wie sich nun dieser Sachverhalt auch erklären mag, jedenfalls ist es das Nächstliegende und der Eigentümlichkeit der hier auftretenden Situationen auch am meisten Entsprechende, wenn wir die gestaltsqualitative Ganzheitsauffassung und die ihr gegenüberstehende andersartige Komplikation als zwei sich wechselseitig ausschließende allgemeinbegriffliche Beschaffenheiten in individualbegrifflicher Hinsicht auf einen und denselben Bestand beziehen. Dementsprechend hätten wir zB. bei jenem Gemälde sowohl seine ganzheitliche Farbe als auch die differenzierten Farben der einzelnen Fleckchen, und
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zwar nicht nur in der außenwirklichen sondern auch in der bewußtseinswirklichen Systematik auf einen und denselben Bestand zu beziehen. Oder in dem Falle des Akkordes hätten wir sowohl den scheinbar einheitlichen Zusammenklang als auch die Komplikation der ihn zusammensetzenden Töne als ein und dasselbe akustische Gebilde zu betrachten. Dieses Verfahren wird von uns nicht nur in der vorwissenschaftlichen sondern auch in der wissenschaftlichen Praxis allgemein befolgt; und spätere Untersuchungen werden uns zeigen, daß es, allerdings nur unter gewissen Vorbehalten, ontologisch in der Tat berechtigt ist. Vollziehen wir aber eine solche Identifikation, so gelangen wir auch hier zu einer wechselseitigen Transzendenz zweier verschiedener an identisch demselben Bestände verkoppelter Systeme. Denn wenn die gestaltsqualitative Ganzheit und die andersartige Komplikation zwei sich ausschließende Beschaffenheiten eines und desselben Bestandes sein sollen, so können diese beiden Beschaffenheitsausgaben, da sie eine entsprechende Doppeldeutigkeit jenes ihnen zugehörigen Bestandes voraussetzen, nicht in einem und demselben eindeutigen Systemzusammenhange vorkommen. Es stehen sich vielmehr auch hier zwei verschiedene solche Systeme gegenüber, die sich ebenso wie jene beiden Beschaffenheiten wechselseitig ausschließen. Hat der Bestand in dem einen dieser Systeme eine ganzheitliche Homogenität, dann hat er in eben diesem Systeme nicht die andersartige Komplikation und umgekehrt. Der Sachverhalt liegt hier insofern ähnlich wie bei den Transzendenzverhältnissen der gnoseologischen Wirklichkeit. Und auch darin gleichen sich diese beiden Transzendenzen, daß ihr doppeldeutiges Wesen innerhalb derselben Erlebniseinheit enthalten ist. Das hängt damit zusammen, daß sich die gestaltsqualitative Ganzheitsauffassung ebenso wie die gnoseologische Wirklichkeit als ein Phänomen höherer Ordnung über einer anderen Grundlage erhebt. Ist also jenes Phänomen höherer Ordnung da, so ist stets auch diese seine Grundlage anwesend. In dem Falle der gnoseologischen Wirklichkeit bestand ihre Grundlage aus den Beständen, die eine Deutung erfuhren. In dem Falle der gestaltsqualitativen Ganzheit besteht sie aus den letzten Endes unendlichkleinen Gebilden, die eine Zusammenfassung erfahren. Diese Gebilde werden in ihrer unendlichen Kleinheit von uns nicht bemerkt. Nichtsdestoweniger sind sie in den von uns bemerkten Zusammenfassungen enthalten und daher anwesend. Aehnliches fand bei der gnoseologischen Wirklichkeit ebenfalls statt. Denn auch hier konnte die ontologische Grund-
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Die transzendenzoDtologischen Grundbegriffe
läge unserer Deutung, wie namentlich in dem Falle aller echten Erscheinungen, unbemerkt bleiben. Dem Umstände aber, daß in anderen Fällen, zB. bei der einfachen Repräsentation, die ontologische Grundlage unserer Deutung tatsächlich bemerkt wird, entspricht es bei der gestaltsqualitativen Zusammenfassung, daß, wie wir gesehen haben, gelegentlich auch hier gewisse Komplikationen neben den ganzheitlichen Qualitäten aufgefaßt werden. Endlich erweist sich die gestaltsqualitative Ganzheitstranszendenz mit dem Transzendenztypus der gnoseologischen Wirklichkeit auch insofern verwandt, als sie beide eine mit einer falschen Urteilsmeinung verbundene uns unmittelbar vorliegende Meinungsbasis darstellen. In dem Falle der gestaltsqualitativen Ganzheitstranszendenz liegt die Falschheit der mit ihr verbundenen Urteilsmeinung darin, daß die als ganzheitlich aufgefaßte Beschaffenheit mit der von ihr verschiedenen Komplikation identifiziert wird. Das mit dieser Art der Meinungsbasis verbundene Wahrnehmungsurteil würde also lauten: der in unserem Bewußtsein unmittelbar anwesende Bestand hat die ganzheitliche Beschaffenheit, die wir wahrnehmen. In Wahrheit hätte dieser Bestand aber nicht eine solche Beschaffenheit sondern eine kompliziertere. Wie also bei der gnoseologischen Wirklichkeit die Meinungsbasis mit ihrer ontologischen Grundlage, so wird in unserem Falle die ganzheitliche Beschaffenheit mit der ihr zugrundeliegenden Komplikation kraft einer falschen Urteilsmeinung identisch gesetzt. Individualbegrifflich ist eine solche Identität ohne Zweifel vorhanden, allgemeinbegrifflich aber findet sie hier ebenso wenig statt wie in dem Falle der gnoseologischen Wirklichkeit. Hier wie dort handelt es sich darum, daß das, was unserem Bewußtsein dargeboten ist, nicht in der Beschaffenheit aufgefaßt wird, die ihm zukommt, sondern in einer anderen. Wie in dem Falle der gnoseologischen Wirklichkeit eine Farbenfläche als Landschaft, so wird in dem Falle der gestaltsqualitativen Zusammenfassung eine infinitesimale Komplikation als ganzheitliche Beschaffenheit mißverstanden. Ist insofern die gestaltsqualitative Ganzheitsauffassung als eine mit einer falschen Urteilsmeinung verbundene und uns unmittelbar vorliegende Meinungsbasis der gnoseologischen Wirklichkeit nahe verwandt, so bestehen auf der anderen Seite zwischen diesen beiden Arten der Meinungsbasis charakteristische Unterschiede. Zunächst ist es eine Eigentümlichkeit jener Ganzheitsphänomene, daß sie weder nur gedachte noch auch gnoseologisch gedeutete Bestände sind, sondern selbst als ontologische Gebilde ohne gnoseologische Beimengungen in unserer Erlebniseinheit auftreten und sich
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von anderen ontologischen Gebilden nur dadurch unterscheiden, daß sie jenes ganzheitliche Wesen zeigen. Es wird sich also fragen: welchen Wirklichkeitswert hat ein solches ganzheitliches Wesen? Wenn es keinen gnoseologischen Charakter trägt, trägt es dann einen ontologischen? Und wenn dies der Fall sein sollte, hat dann nicht der gestaltsqualitativ auftretende Bestand im Widerspruche zu unserer bisherigen Darstellung der ontologischen Systematik als eines eindeutigen Zusammenhanges auch ohne falsche Urteilsmeinung ein doppeldeutiges Wesen? Oder läßt sich das Verhältnis zwischen der gestaltsqualitativen Beschaffenheit und der in ihr enthaltenen Komplikation noch auf eine andere Weise erklären? Der spätere Verlauf unserer Untersuchungen wird sich bemühen, auf diese Frage eine Antwort zu erteilen. Wie aber im Einzelnen diese Antwort auch ausfallen möge, in jedem Falle zeigt nach der hier angedeuteten Hinsicht die gestaltsqualitative Ganzheitsauffassung als Meinungsbasis einen von den gnoseologischen Wirklichkeiten wesentlich verschiedenen Charakter. Denn zu der Eigenart der letzteren gehörte es, daß sie durch eine falsche Urteilsmeinung erst begründet wurden und dieser ihr Dasein verdankten. Die gestaltsqualitativen Zusammenfassungen dagegen verdanken ihr Dasein nicht erst der falschen Urteilsmeinung, die wir mit ihnen verbinden, sondern treten, ganz gleich wie es mit der Doppeldeutigkeit ihres Bestandes bestellt sein mag, auch ohne Urteilsmeinungen auf. Sie führen also nach dieser Hinsicht zu anderen Problemen als die gnoseologischen Wirklichkeiten. Es gibt aber auch sonst noch Züge, in denen sie sich von diesen letzteren unterscheiden. Hierzu gehört zunächst die Art und Weise, in der mit der ganzheitlichen Auffassung, wie schon angedeutet wurde, stets auch die von ihr tatsächlich verschiedene Komplikation des aufgefaßten Bestandes innerhalb derselben Erlebniseinheit anwesend ist. Etwas Aehnliches fand, wie wir sahen, bei der gnoseologischen Wirklichkeit ebenfalls statt. Denn auch hier war neben dieser letzteren ihre ontologische Grundlage in unserem Bewußtsein immer vorhanden. Und doch liegt der Sachverhalt in beiden Fällen verschieden. Denn jene ontologische Grundlage war stets als solche in unserer Erlebniseinheit entdeckbar. Alle Sinnesqualitäten, alle Raumverhältnisse und alle naturgesetzlichen Beziehungen der ontologischen Grundlage ließen sich, wenn auch mit einer anderen Deutung in unserer gnoseologischen Wirklichkeit auffinden. Dagegen vermögen wir die in unserer ganzheitlichen Zusammenfassung enthaltene und ihrerseits nicht mehr ganzheitliche Komplikation als 10
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Die transzendenzontologischen Grundbegriffe
solche niemals zu entdecken. Zwar können auch hier, wie wir gesehen haben, gelegentlich gewisse Komplikationen neben der ganzheitlichen Auffassung bemerkbar werden. Aber das sind immer nur mehr oder minder grobe tfQd selbst noch ganzheitlichen Charakter tragende Annäherungen an diejenige Komplikation, die wir als die unserer Ganzheitsauffassung endgültig zugrundeliegende anzusehen haben. Diese endgültige Komplikation hat keinen ganzheitlichen Charakter mehr, sondern ist von infinitesimaler Natur und liegt daher, wie wir gesehen haben, grundsätzlich außerhalb unseres bewußtseinswirklichen Fassungsvermögens. Sie bildet gewissermaßen eine unserem Bewußtsein für immer transzendente Konstante, und das, was in unserer Erlebniseinheit bemerkt wird, sind Variable, die sich dieser Konstanten mehr oder minder nähern, sie aber niemals erreichen. Endlich sei noch ein dritter Unterschied zwischen der gestaltsqualitativen Zusammenfassung und der gnoseologischen Wirklichkeit hervorgehoben. In den Transzendenzverhältnissen dieser letzteren traten, wiewohl dies auch hier nicht unbedingt notwendig war, drei verschiedene Faktoren auf: die Meinungsbasis, ihre ontologische Grundlage und der Meinungsgegenstand. In den Transzendenzverhältnissen der gestaltsqualitativen Zusammenfassung dagegen kommen nur zwei Faktoren in Betracht, nämlich die gestaltsqualitative Ganzheit und die ihr zugrundeliegende Komplikation. Dagegen fällt hier ein besonderer Meinungsgegenstand als dritter Faktor fort. Das ist verständlich, wenn wir bedenken, daß in dem Falle der gnoseologischen Wirklichkeit das Auftreten eines besonderen Meinungsgegenstandes dadurch bedingt war, daß die falsche Deutung des uns vorliegenden Bestandes auf einer Verwechselung desselben mit einem anderen Bestände beruhte, während für die gestaltsqualitative Ganzheitsauffassung eine solche Verwechselung nicht in Frage kommt, da sie von Deutungen unabhängig ist. Wir haben es daher in dem Falle dieser letzteren nur mit der von ihr geschaffenen Ganzheit selbst und mit der ihr zugrundeliegenden Komplikation als mit zwei verschiedenen Beschaffenheiten eines und desselben Bestandes zu tun. Nachalledem sind die Transzendenzverhältnisse der gnoseologischen Wirklichkeit und die der gestaltsqualitativen Zusammenfassung auf der einen Seite nahe miteinander verwandt, auf der anderen aber wesentlich verschieden. Dabei wird es transzendenzontologisch wichtig, daß diese beiden innerhalb der Erlebniseinheit bestehenden Transzendenzverhältnisse bestimmte Verbindungen miteinander eingehen können. Für das Wesen dieser Verbindungen ist es maßgebend, daß sich die
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gestaltsqualitative Zusammenfassung, wie aus unseren bisherigen Erörterungen hervorgeht, auf die Beschaffenheit unserer Sinnesqualitäten erstreckt. Bedenken wir nun, daß diese Sinnesqualitäten in der ontologischen Grundlage enthalten sind, über der sich die gnoseologische Wirklichkeit erhebt, so wird offenbar, daß unter Umständen das Ergebnis einer gestaltsqualitativen Zusammenfassung zu dem Gegenstande niederer Ordnung gehören kann, über dem sich eine gnoseologische Wirklichkeit als Gegenstand höherer Ordnung aufbaut. So bildet in dem von uns beschriebenen Gemälde die Zusammenfassung der einzelnen Farbenfleckchen zu ganzheitlichen Qualitäten die Voraussetzung dafür, daß dieses Gemälde auf die in ihm dargestellten Gegenstände gedeutet wird. Wir würden es in einem solchen Falle also mit einer Staffelung zu tun haben, in der sich die gestaltsqualitative Zusammenfassung über der ihr zugrundeliegenden Komplikation und die gnoseologische Wirklichkeit über der gestaltsqualitativen Zusammenfassung erhebt. Der spätere Verlauf unserer Untersuchungen wird uns zeigen, daß diese Art der Staffelung in den transzendenzontologischen Strukturverhältnissen unseres Bewußtseins eine wichtige Rolle spielt. Sehen wir auf die Untersuchungen dieses Kapitels zurück, so gewinnen wir nunmehr einen Einblick in die allgemeinste Struktur der für den Aufbau der Transzendenzontologie maßgebendenBezugsverhältnisse. Die Außenwirklichkeit wird in der Transzendenzontologie als eine Wirklichkeit an sich bezeichnet. Unseren Erörterungen zufolge heißt dies, daß die so bezeichnete Außenwirklichkeit allein auf diesen letzteren Namen Anspruch hat. Denn das Prädikat des Ansich kommt, wie wir gesehen haben, stets dem Bedeutungsgehalte der jeweils von uns angewandten Begriffe zu. Dieser Bedeutungsgehalt aber ist von unseren Meinungsakten und damit auch von dem jeweiligen Stande unserer Erkenntnis unabhängig. Wenden wir daher den Begriff der Außenwirklichkeit an, so ist dasjenige, dem dieser Begriff zukommt, die Außenwirklichkeit an sich. Nun kommt nach transzendenzontologischer Auffassung unserer Wahrnehmungswelt der Begriff der Außenwirklichkeit nicht zu. Wird sie trotzdem mit dieser identifiziert, so gilt diese Identifikation nicht an sich, sondern nur für uns und stellt eine Verwechselung zwischen dem, was wir wahrnehmen, einerseits und dem, was unter dem Begriffe der Außenwirklichkeit zu verstehen ist, anderseits dar. Eine derartige auf einer Verwechselung beruhende Identifikation hat den Wert einer falschen Urteilsmeinung und trägt als solche keinen ontologischen sondern einen gnoseologischen Charakter. 10»
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Die transzendenzontologischen Grandbegriffe
Wie aus unseren Darlegungen hervorgeht, tritt bei der nur für uns bestehenden Wahrnehmungswelt an die Stelle einer rein theoretischen falschen Urteilsmeinung die praktische falsche Deutung eines uns unmittelbar vorliegenden Sachverhaltes. Unsere Wahrnehmungswelt trägt daher den Charakter einer gnoseologisch wirklichen Meinungsbasis und zwar im Besonderen den einer Erscheinung: dh. wir sind hier mit psychologischer Zwangsläufigkeit an unsere falschen Deutungen gebunden. Im Uebrigen zeigten unsere Erörterungen, daß kraft dieser Bindung unsere Wahrnehmungswelt zugleich der Urtypus aller anderen Erscheinungen ist. Wie zu jeder auf einer Verwechselung beruhenden Meinungsbasis, so gehören auch zu unserer Wahrnehmungswelt die zwischen einer solchen Meinungsbasis und ihren beiden ontologischen Gegengliedern waltenden Ansichfürunsverhältnisse. Dabei bilden die in diesen letzteren enthaltenen Widerspruchsbeziehungen im Verein mit der außerdem zwischen jenen ontologischen Gegengliedern selbst bestehenden Widerspruchsbeziehung einen in sich geschlossenen Ring von drei verschiedenen Transzendenzen. Der weitere Verlauf unserer Untersuchungen wird uns zeigen, daß dieser Ring für die transzendenzontologische Situation, in der unsere Wahrnehmungswelt steht, charakteristisch ist. Unter Transzendenz ist, wie wir feststellten, ein zwischen verschiedenen Beständen waltendes Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung zu verstehen; unter Immanenz dagegen eine partielle Identitätsergänzung zwischen transzendenzfähigen Beständen und solchen Systemen, deren Teilbestände sich ihrerseits wechselseitig transzendieren. In diesem Sinne ist die Wahrnehmungswelt als Meinungsbasis dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins immanent. Dagegen sind diesem Bezirke, der soeben genannten dreigliedrigen Widerspruchssystematik entsprechend, die zu jener Meinungsbasis gehörenden beiden ontologischen Gegenglieder grundsätzlich transzendent. Und außerdem waltet eine solche Transzendenz auch zwischen den beiden Gegengliedern selber. Wir haben das Wesen dieser drei Transzendenzen im Einzelnen untersucht und gefunden, daß jede von ihnen einen anderen Charakter trägt. Das gilt auch für die transzendenzontologische Bezugssystematik unserer Wahrnehmungswelt. So waltet zwischen jeder Meinungsbasis und ihrem Meinungsgegenstande, also in unserem Falle zwischen der gnoseologischen Wahrnehmungswelt und der ihr entsprechenden ontologischen Außenwirklichkeit eine sekundär unverbundene Transzendenz. In der herkömmlichen Ontologie ist dieses letztere Ver-
Die Grundstruktur der transzendenzontologischen Situation
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hältnis vielfach allein beachtet worden. Es kann aber in seinem strukturellen Wesen nur dann verstanden werden, wenn man die mit ihm zusammenhängenden beiden anderen Transzendenzen ebenfalls aufsucht. Denn in ihnen findet, wie wir gesehen haben, die sekundär unverbundene Transzendenz ihre Erklärung. Die eine dieser letzteren beiden Transzendenzen betrifft das Verhältnis unserer Wahrnehmungswelt als einer Meinungsbasis zu ihrer ontologischen Grundlage. Ein solches Verhältnis trägt, wie wir gesehen haben, stets den Charakter einer Transzendenz zwischen zwei individualbegrifflich verkoppelten Systemen. Die andere Transzendenz betrifft das Verhältnis jener ontologischen Grundlage zu dem Meinungsgegenstande. Zwischen diesen beiden herrschte eine durch dieselbe Wirklichkeitssystematik verbundene Transzendenz. Damit ist der dreigliedrige Ring der mit einer Meinungsbasis verbundenen Transzendenzen geschlossen. In dem besonderen Falle der transzendenzontologischen Einbettung unserer Wahrnehmungswelt wird dieser Ring aber noch durch eine vierte Transzendenz kompliziert, die wir als die der gestaltsqualitativen Zusammenfassung charakterisiert haben. Die ontologische Stellung dieser Transzendenz in jenem Ringe kann erst später zu voller Klarheit kommen. Wir sahen aber schon, daß sie denselben Bestand betreffen kann, der die ontologische Grundlage unserer Wahrnehmungswelt bildet, und daß sie dann gewissermaßen eine Grundlage dieser Grundlage darstellt. Die Aufgabe der nun folgenden Untersuchungen wird darin bestehen, diese allgemeinen Strukturverhältnisse an den konkreten Tatbeständen unserer Wirklichkeitssystematik im Einzelnen nachzuweisen und damit einer Reihe von Problemen aufzulösen, die mit unserem landläufigen Wirklichkeitsbegriffe verbunden sind. — Bevor wir uns dieser Aufgabe zuwenden, haben wir aber noch eine von der transzendenzontologischen wesentlich abweichende Auffassung der transzendenten Außenwirklichkeit zu untersuchen, die mehr oder minder klar formuliert in dem naturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriffe der letzten Jahrzehnte eine Rolle gespielt hat.
DIE LEHRE VON DER GEDACHTEN AUSSENWIRKLICHKEIT
Unsere früheren Untersuchungen haben gezeigt, daß der Aufbau der immanenten Wahrnehmungswelt an inneren Widersprüchen krankt und daher theoretisch falsch ist. Auf der anderen Seite aber sahen wir, daß er unseren praktischen Zwecken in weitem Umfange genügt und daher offenbar gewisse Züge trägt, kraft deren er mit der Außenwirklichkeit, die wir in ihm zu finden glauben, übereinstimmt. Nachalledem bildet der Aufbau unserer Wahrnehmungswelt eine eigentümliche Verquickung von Falschem und Richtigem. Eben damit weist er über sich selbst hinaus. Betrachten wir die in dieser Wahrnehmungswelt enthaltenen Widersprüche näher, so erkennen wir, daß sie insgesamt dadurch bedingt sind, daß wir mit unseren immanenzontologischen Deutungserfüllungen über das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen hinausgehen. Das Wesen dieser Deutungserfüllungen aber besteht darin, daß wir unsere Empfindungen als Außenwirklichkeitsbestände interpretieren. Unsere Wahrnehmungswelt ist also deshalb in sich widerspruchsvoll, weil wir unseren Empfindungen gewisse Außenwirklichkeitsprädikate beilegen, die ihnen an sich nicht zukommen. Oder anders ausgedrückt: jene Widersprüche entstehen aus einer falschen Identifikation zwischen den uns vorliegenden Empfindungen einerseits und dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes anderseits. Zu Widersprüchen dieser Art führt zB. der Umstand, daß wir flächenhafte Empfindungsgegebenheiten als dreidimensionale Räume deuten. So bilden, wie wir früher gesehen haben, unsere deutungslos gegebenen Sichtempfindungen an sich nur eine Fläche. Daß wir sie im Sinne eines dreidimensionalen Raumes deuten, liegt also nicht an ihnen selbst. Wohl aber liegt es daran, daß ein solcher Raum zu der Außenwirklichkeit gehört, mit der wir unsere Sichtempfindungen
Der Grundfehler der immanenten Außenwirklichkeit
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identifizieren. Hier entsteht also dadurch ein Widerspruch, daß wir die Raumverhältnisse, die wir der Außenwirklichkeit zuschreiben, auf die von ihnen verschiedenen geometrischen Verhältnisse des uns vorliegenden Materials übertragen. Noch widerspruchsvoller wird unsere Wahrnehmungswelt dadurch, daß wir qualitativ voneinander verschiedene Immanenzbestände, insoweit sie sich wechselseitig zugeordnet sind, individualbegrifflich miteinander identifizieren und sie dementsprechend an einer und derselben Stelle eines und desselben Immanenzraumes, trotz der Eindeutigkeit dieses letzteren, unterbringen. So sind, um ein früher benutztes Beispiel wieder aufzunehmen, die Sicht-, Tast- und Schallempfindungen, die wir an einer schwingenden Saite wahrnehmen, zwar einander zugeordnete aber qualitativ verschiedene Bestände; und außerdem würde es dem folgerichtigen Aufbau unserer immanenten Wahrnehmungswelt entsprechen, wenn wir jeden dieser Bestände einem anderen Raumsysteme eingliederten. Nichtsdestoweniger pflegen wir in unserer immanenzontologischen Deutung, wie wir früher gesehen haben, alle drei Empfindungen als einen und denselben Bestand anzusprechen und sie alle in einen und denselben Bezirk eines und desselben dreidimensionalen Raumes hineinzuverlegen, nämlich im normalen Falle an diejenige Stelle des Sichtraumes, an der wir die schwingende Saite sehen. Der hierdurch bedingte innere Widerspruch unserer Wahrnehmungswelt hängt abermals mit dem Außenwirklichkeitscharakter unserer immanenzontologischen Deutungen zusammen. Denn jene Empfindungen haben als solche weder eine dreidimensionale Räumlichkeit, noch sind sie miteinander identisch. Wohl aber ist ihr außenwirkliches Aequivalent dreidimensional und für alle drei Empfindungen ein und dasselbe. Auch in diesem Falle beruht also der in unserer Immanenzwelt auftretende Widerspruch darauf, daß wir die in unseren Empfindungen vorliegenden Verhältnisse mit denjenigen Verhältnissen, die dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes entsprechen, identifizieren. In einen weiteren Widerspruch zu unseren Empfindungen setzen wir uns dadurch, daß wir in unsere Wahrnehmungswelt Bestände hineinverlegen, die nicht nur tatsächlich in ihr nicht vorhanden sind, sondern auch grundsätzlich nicht in ihr vorhanden sein können. So bringen wir in unserer Sichtwirklichkeit elektrische, magnetische, Gravitationsfelder usw. unter, obwohl wir wissen, daß wir solche Felder weder anzuschauen, noch auch sonst auf irgendeine Weise wahrzunehmen vermögen. Offenbar ist auch diese Unterbringung nicht durch das eigene Wesen unserer Empfindungen bedingt, sondern
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Die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit
durch den Begriff der Außenwirklichkeit, den wir an jene Empfindungen heranbringen. Aus diesen Beispielen, die sich leicht vermehren ließen, geht deutlich hervor, daß die in unserer immanenten Wahrnehmungswelt auftretenden Widersprüche grundsätzlich dadurch bedingt sind, daß sich das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen auf der einen Seite und der mit ihnen identisch gesetzte Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes auf der anderen Seite nicht reimen. Dieser Sachverhalt hat etwas Anormales an sich. Das wird deutlich, wenn wir bedenken, daß es sich in ihm um einen Widerspruch zwischen den uns unmittelbar vorliegenden Tatsachen und ihrer Interpretation handelt. Einen solchen Widerspruch pflegt man zugunsten der Tatsachen zu entscheiden. Hier dagegen entscheiden wir ihn, obwohl uns die Tatsachen vorliegen, zugunsten der Interpretation. Wir glauben im Rechte zu sein, wenn wir unsere sichthaften Wahrnehmungsbestände nicht als eine Fläche, sondern als einen dreidimensionalen Raum beurteilen; wenn wir die Manichfaltigkeit unserer artverschiedenen Empfindungen nicht als eine solche Manichfaltigkeit auffassen, sondern sie miteinander identifizieren und insgesamt einem und demselben Systeme eingliedern; oder wenn wir in dieses System auch solche Bestände hineinverlegen, die weder wahrgenommen werden noch auch wahrgenommen werden können. Der Grund dieses unseres anormalen Verhaltens liegt in jener psychologischen Zwangsläufigkeit unserer praktischen Außenwirklichkeitseinstellung, auf Grund deren unsere immanente Wahrnehmungswelt den Urtypus aller Erscheinungen bildet. Kraft dieser Einstellung kommt es uns in unserem praktischen Verhalten unseren Empfindungen gegenüber nicht sowohl auf das Eigenwesen dieser letzteren an als vielmehr darauf, wie wir mit ihrer Hilfe unserer außenwirklichen Umwelt habhaft werden können. Als das Charakteristikum dieser Umwelt aber erkannten wir ihren naturgesetzlichen Zusammenhang. Ein solcher Zusammenhang ist in dem deutungslos Gegebenen unserer Empfindungen zwar in gewissen Ansätzen, die eben damit den Ausgangspunkt unserer immanenzontologischen Deutungen bilden, vorhanden. Aber diese Ansätze zeigen nicht die besondere Ausprägung der Naturgesetzlichkeit, die wir der Außenwirklichkeit als solcher zuschreiben, und sie sind ebenso bruchstückhaft wie ungenau. Wir müssen daher, wenn wir den Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes in unseren Empfindungen selber realisieren wollen, diese letzteren auf eine andere Systematik hin umdeuten und ergänzen. Hierauf laufen alle jene Aenderungen und Erweiterungen hinaus,
Der Grundfehler der immanenten Außenwirklichkeit
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durch die wir unser deutungslos gegebenes Empfindungsraaterial bearbeiten, und aus denen die inneren Widersprüche unserer Wahrnehmungswelt hervorgehen. Der Grundfehler der immanenten Außenwirklichkeit liegt nachalledem darin, daß in ihr mittels einer falschen Urteilsmeinung unsere Empfindungen als der uns ontologisch vorliegende Bestand auf der einen Seite und eine hinzugedachte Außenwirklichkeit als der gnoseologische Bedeutungsgehalt unserer falschen Urteilsmeinung auf der anderen Seite miteinander identisch gesetzt werden. Hat man diesen Grundfehler, auf dem alle Widersprüche unserer Wahrnehmungswelt beruhen, erkannt, so ist eben damit auch der Weg vorgezeichnet, der zu der Aufhebung ihrer Widersprüche führt. Sie lassen sich dadurch beseitigen, daß wir unsere Empfindungen und den Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitbegriffesvoneinandertrennen. Diese Trennung wird von der Transzendenzontologie auf die ihr eigene Weise vollzogen. Die Physik der letzten Jahrzehnte aber hat versucht, sie auf eine andere Weise durchzuführen. Da die letztere Art der Trennung mit bebesonderen ontologischen Voraussetzungen verbunden ist und diese Voraussetzungen zugleich geeignet sind, von der immanenzontologischen zu der transzendenzontologischen Auffassung der Außenwirklichkeit hinüberzuleiten, so haben wir uns hier mit der Eigenart einer solchen Trennungsweise näher zu beschäftigen. Man wird die sachlichen Motive, die für sie maßgebend gewesen sind, am besten verstehen, wenn man bedenkt, daß in dem letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts fast alle Wissenschaften von einer ausgesprochenen Abneigung gegen jede Art der Transzendenz beherrscht wurden und ihre Hauptaufgabe in einer Beschränkung auf die sogenannte Erfahrung erblickten. In diesem Sinne glaubte man im Besonderen auch die Physik als eine reine Erfahrungswissenschaft auffassen zu sollen. Wurden hierbei unter Erfahrung die nackten und von jeder theoretischen oder praktischen Deutung unabhängigen Tatsachen verstanden, die unserer Kenntnis von dem Wesen der Außenwirklichkeit zugrundeliegen, so ließ es sich leicht zeigen, daß als solche Tatsachen nur die deutungslos gegebenen Empfindungen unserer Wahrnehmungsbestände in Betracht kommen. In diesen Empfindungen glaubte man daher den eigentlichen Gegenstand der Physik als einer reinen Erfahrungswissenschaft gefunden zu haben. Dementsprechend wurde die Aufgabe dieser letzteren dahin formuliert, daß sie auf eine möglichst einfache Weise die zwischen unseren Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen möglichst vollständig zu beschreiben habe.
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Die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit
Mit dieser Forderung hatte man offenbar einen entscheidenden Schritt zu jener Trennung zwischen dem uns unmittelbar vorliegenden Materiale und dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes vollzogen. Denn man verzichtete nunmehr auf die in unserer Wahrnehmungswelt enthaltenen Deutungen und damit auf die Hineinverlegung der Außenwirklichkeit in unsere Empfindungen. Den inneren Widersprüchen der Immanenzontologie war damit die Grundlage entzogen. Denn jene Widersprüche beruhten auf der in unseren Deutungen enthaltenen falschen Urteilsmeinung über das Wesen des uns vorliegenden Materials. Auf dieses Material selbst dagegen, also auf unsere Empfindungen als solche findet der Begriff eines inneren Widerspruches keine Anwendung mehr. Indem man sich auf diese Empfindungen beschränkte, war das eine der beiden ungleichartigen Bestandstücke, die in unserer immanenten Wahrnehmungswelt zu einer falschen Einheit verbunden werden, aus dieser Verbindung herausgelöst. Zugleich war eben damit aber auch das andere Bestandstück, der Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes frei geworden. Für diesen letzteren scheint in einer reinen Erfahrungswissenschaft zunächst kein Raum zu sein. Denn, wenn wir uns auf die Erfahrung beschränken sollen, diese aber nur Empfindungen kennt und unser Außenwirklichkeitsbegriff zu den letzteren in einem Widerspruchsverhältnisse steht, so ist offenbar, daß die Außenwirklichkeit als solche aus jener reinen Erfahrungswissenschaft verbannt werden muß. Das geschieht auch. Tatsachen sind für die Physik der reinen Erfahrung nur unsere Empfindungen und die zwischen ihnen waltenden Beziehungen. Alles andere dagegen und damit auch der Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes fällt aus dem Rahmen solcher Tatsachen hinaus. Allein damit ist noch nicht gesagt, daß jener Außenwirklichkeitsbegriff in einer solchen Physik der reinen Erfahrung bedeutungslos sei. Im Gegenteile: er hat auch in ihr eine große Tragweite. Nur ist die Rolle, die ihm hier zugewiesen wird, von seiner immanenzontologischen und, wie wir später sehen werden, auch von seiner transzendenzontologischen Rolle wesentlich verschieden. Um dies zu verstehen, hat man sich zu vergegenwärtigen, daß unsere Empfindungen als solche angesichts ihres ungenauen und bruchstückhaften Charakters keine hinreichenden Handhaben liefern, um die zwischen ihnen waltenden konstanten Beziehungen, den Forderungen jener Erfahrungsphysik entsprechend, vollständig und doch einfach zu beschreiben. Das ist eine Schwierigkeit, die es zu überwinden gilt. Zu diesem Zwecke bedient sich die Erfahrungsphysik eines Kunstgriffes. Sie konstruiert
Der Begriff der gedachten Außenwirklichkeit
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ein System, das in unseren Empfindungen als solchen zwar nicht vorliegt, wohl aber geeignet ist, die konstanten Beziehungen, die in jenen Empfindungen nur bruchstückhaft und ungenau zutagetreten, in einem vollständigen und genauen Zusammenhange darzustellen. Das, was wir unter der sogenannten Außenwirklichkeit zu verstehen pflegen, ist ein solches System. Es hat den Zweck, die zwischen unseren Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen auf eine möglichst einfache Weise vollständig zu beschreiben. Die These der Erfahrungsphysik ist es nun, daß der Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes in eben diesem Zwecke vollständig aufgeht, und daß es auf einem Mißverständnisse beruht, wenn wir einer solchen Außenwirklichkeit denselben ontologischen Wert beimessen, wie dem Tatsachenmateriale unserer Empfindungen. In dieser Hinsicht wäre demnach sowohl die immanenzontologische als auch die transzendenzontologische Auffassung der Außenwirklichkeit in einem Irrtume befangen. Denn während nach den letzteren Auffassungen die sogenannte Außenwirklichkeit denselben ontologischen Wert zu beanspruchen hat wie unsere Empfindungen, hat sie nach der Auffassung jener reinen Erfahrungsphysik im Unterschiede zu den Empfindungen nur den Wert einer gedachten Hilfskonstruktion von ausschließlich idealem Gepräge. Wir wollen dementsprechend diese Hilfskonstruktion als die gedachte Außenwirklichkeit bezeichnen. Mit der Aufstellung einer solchen gedachten Außenwirklichkeit ist der zweite Schritt in der Trennung jener beiden ungleichartigen Bestandstücke vollzogen, deren immanenzontologische Verbindung zu den von uns geschilderten Widersprüchen innerhalb unserer Wahrnehmungswelt führte. Beide Bestandstücke, das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen auf der einen Seite und der Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes auf der anderen Seite treten sich nunmehr gesondert gegenüber. Sie stehen zwar in einem Bezugsverhältnisse zueinander; aber sie bilden keine ontologische Einheit mehr, gehören vielmehr zu verschiedenen gegenstandstheoretischen Gebieten und spielen grundsätzlich verschiedene Rollen. Den Nachteilen, die aus jener immanenzontologischen Verbindung zwischen unseren Empfindungen und dem Außenwirklichkeitsbegriffe hervorgehen, stehen bei dieser ihrer Trennung im Sinne der Lehre von der nur gedachten Außenwirklichkeit gewisse Vorteile gegenüber. Zunächst ist offenbar, daß eine solche nur gedachte Wirklichkeit, da sie an die Gegebenheiten unserer Empfindungen nicht mehr gebunden ist, sondern nach freiem Ermessen konstruiert werden kann, die unserer Wahrnehmungswelt anhaftenden inneren Wider-
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Die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit
spräche zu vermeiden imstande ist. Sie hat keinen aus einer Fläche erst erdeuteten, sondern einen vonvornherein dreidimensional konstruierten Raum. Sie braucht nicht artverschiedene Empfindungen auf Grund von Zuordnungsverhältnissen miteinander zu identifizieren und •dadurch Mehrdeutigkeiten hervorzurufen, sondern bildet ein in sich schlechthin eindeutiges Bestandsystem. Sie braucht sich nicht durch Bestände zu ergänzen, die nicht zu ihrer Systematik gehören, sondern vermag in dieser alles zu umfassen, was für den ihr zugeschriebenen naturgesetzlichen Zusammenhang erforderlich ist. Usw. Außerdem vermeidet sie diejenigen Mängel, die nicht sowohl mit den inneren Widersprüchen unserer Wahrnehmungswelt als vielmehr mit der konstitutiven Unvollkommenheit des in dieser letzteren verarbeiteten Empfindungsmaterials zusammenhängen. So können wir bei ihrem Bestandmateriale von den Schranken unserer Ganzheitsauffassung, sowie von allen Sinnesqualitäten überhaupt absehen, können ihr unendliche Größe verleihen, sie auf der anderen Seite als eine Zusammensetzung aus dem Unendlichkleinen betrachten, den in ihr auftretenden Beständen jeden beliebigen Grad der Genauigkeit erteilen. Usw. Vor allem aber hätte eine solche nur gedachte Außenwirklichkeit den Vorteil, daß man mit ihr nach Gutdünken schalten und walten kann. Das ist weder bei der immanenzontologischen noch bei der transzendenzontologischen Auffassung der Außenwirklichkeit der Fall. Denn bei diesen letzteren beiden Auffassungen hat die Außenwirklichkeit einen von uns unabhängigen Ansichbestand. Und über solche von uns unabhängigen Gebilde können wir füglich keine beliebigen Aussagen machen, sondern nur solche, die ihrem Ansichbestande zukommen. Denn wir sind hier an das Prinzip der Wahrheit gebunden. Mit der gedachten Außenwirklichkeit steht es anders. Sie beansprucht nicht, an sich zu bestehen. Sie will nur für uns bestehen. Daher gibt es für sie auch kein Prinzip der Wahrheit. Sie befolgt nur das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Ihr Zweck, die zwischen unseren Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen einfach und vollständig zu beschreiben ist der einzige Grund ihrer Konstruktion und daher auch der einzige Wertmaßstab, mit dem man ihr gerecht werden kann. Erfüllt sie diesen Zweck, so ist damit alles geleistet, was von ihr verlangt werden darf. Erfüllt sie ihn nicht, so haben wir sie entsprechend abzuändern oder durch eine andere Konstruktion zu ersetzen. Hieraus geht hervor, und auch dies wird als ein Vorteil der gedachten Außenwirklichkeit betrachtet, daß wir für sie nicht, wie in dem Falle einer ontologisch an sich bestehenden Außen Wirklichkeit,
Die Konkretheit der gedachten Außenwirklichkeit
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an ein einziges System gebunden sind, sondern daß wir beliebig viele solcher Systeme aufstellen und unter ihnen dasjenige auswählen können, das unserem wissenschaftlichen Zwecke jeweils am besten entspricht. Es liegt auf der Hand, daß es sich mit einem solchen frei von uns gewählten, in jeder Hinsicht bildsamen und von unserem Belieben abhängigen Außenwirklichkeitssysteme wesentlich einfacher und leichter arbeiten läßt als mit dem schwerfälligen Rüstzeuge einer dogmatischen Theorie, die nicht beliebig wählen darf, sondern darauf ausgeht, ihrem Bedeutungsgehalte nach mit einer einzigen, von uns unabhängigen und an sich bestehenden Außenwirklichkeit identisch und daher nicht sowohl zweckmäßig als vielmehr wahr zu sein. Suchen wir uns das Wesen der gedachten Außenwirklichkeit im Einzelnen klarzulegen, so ist zunächst zu beachten, daß sie als gedachte nicht etwa einen Inbegriff von nur allgemeinbegrifflichen Bestimmungen darstellt, an denen tatsächlich vorhandene Wirklichkeitsbestände teil- oder nicht teilhaben können. Sie wird vielmehr ähnlich wie unsere immanente Außenwirklichkeit als ein System von konkreten Beständen gedacht, die ihrerseits als Träger solcher allgemeinbegrifflichen Bestimmungen auftreten. Das geht schon daraus hervor, daß die Aussagen, die über die gedachte Außenwirklichkeit gemacht werden, insgesamt voraussetzen, daß diese letztere grundsätzlich dieselben Bezugsverhältnisse aufweist wie die ontologischen Systeme. Ihre Bestände stehen daher in einer alogischen und zwar wie die der immanenten Außenwirklichkeit in einer raumzeitlichen Kontiguitätssystematik, also in Widerspruchsbeziehungen ohne Identitätsergänzung. Dagegen steht jeder Inbegriff von nur allgemeinbegrifflichen Bestimmungen in einer logischen Systematik, dh. in Widerspruchsbeziehungen, die mit Identitätsergänzungen durchsetzt sind. Der Umstand, daß die gedachte Außenwirklichkeit als ein konkretes System zu betrachten ist, hat zwei für sie wichtige Folgen. Die erste betrifft ihr Verhältnis zu jenen Empfindungen, die durch sie in angemessener Weise beschrieben werden sollten. Mit den Einzelheiten dieses Verhältnisses werden wir uns später noch genauer beschäftigen. Im Allgemeinen aber geht daraus, daß sowohl jene gedachte Außenwelt als auch diese Empfindungen konkrete Bestände sind, hervor, daß jedes Identitätsverhältnis zwischen ihnen ausgeschlossen ist, und daß sie wie alle konkreten Bestände auch ihrerseits in einem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung zueinander stehen. Da sie beide in verschiedenen gegenstandstheoretischen Gebieten liegen, so ist ferner offenbar, daß zwischen ihnen keine Real-
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beziehungen stattfinden. Sie können daher zueinander, abgesehen von der zwischen ihnen waltenden gnoseologischen Verbindung, nur in dem idealen Verhältnisse einer Zuordnung stehen, die sich auf gewisse ihnen gemeinsame allgemeinbegriffliche Bestimmungen stützt. Eine unserer Aufgaben wird dementsprechend darin bestehen, den Charakter dieser Zuordnungsverhältnisse zu prüfen. Die zweite Folge, die mit der Konkretheit der gedachten Außenwirklichkeit verbunden ist, betrifft ihre Beziehungen zu dem sie denkenden Bewußtsein. Auch hier wollen wir auf die Einzelheiten der damit verbundenen Problematik vorläufig noch nicht eingehen und nur im Allgemeinen feststellen, daß überall, wo wir uns konkrete Bestände denken, die uns in unmittelbarer Erfahrung nicht vorgelegen haben, diese eben damit ihrem individualbegrifflichen Wesen nach als uns unbekannte gedacht werden. Denn die einzigen Konkreta, deren Individualität wir kennen, sind die erlebniseinheitlichen Bestände unseres eigenen Bewußtseins. Denken wir uns daher andere Bestände, dh. solche, die nach ihrem eigenen Sein dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins fremd sind, so können wir diese nur als uns individualbegrifflich unbekannte denken. Auch das hängt damit zusammen, daß alle konkreten Bestände nach ihrer Individualität in einem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung zueinander stehen. Das können wir uns an einem Beispiele klarmachen. Denke ich jetzt an ein Bild, das ich vor wenigen Minuten gesehen habe, so ist mir der Gegenstand dieses meines Denkens individualbegrifflich bekannt. Denke ich mir dagegen eine genaue Kopie jenes Bildes, so ist mir diese, da sie in meiner Erlebniseinheit niemals vorgelegen hat und als konkreter Bestand zu meinen erlebniseinheitlichen Gebilden in einem Widerspruche ohne Identitätsergänzung steht, individualbegrifflich unbekannt, obwohl sie allgemeinbegrifflich identisch dieselben Züge trägt wie jenes mir bekannte Bild. In ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit sind also beide Bilder, sobald wir ihre Konkretheit aufgehoben denken, miteinander identisch. Daher ist mir, wenn ich die Beschaffenheit des einen Bildes kenne, auch die des anderen bekannt. In ihrem individualbegrifflichen Bestände dagegen schließen sie sich ohne Identitätsergänzung wechselseitig aus. Deshalb kann mir die Individualität des einen Bildes bekannt sein, während mir die des anderen unbekannt bleibt. In einem solchen Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung steht ihrem individualbegrifflichen Bestände nach auch die gedachte Außenwirklichkeit zu allem, was jemals in unserem erlebniseinheitlichen Bewußtsein vorgelegen hat. Sie ist uns daher individual-
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begrifflich unbekannt. Allgemeinbegrifflich kann sie, wie wir soeben gesehen haben, nichtsdestoweniger Züge tragen, die uns bekannt sind. Aber auch diese allgemeinbegrifflichen Züge können wir, wenn wir wollen, als uns unbekannte denken. Und in dem Falle der gedachten Außenwirklichkeit machen wir hiervon Gebrauch. Das gilt im Besonderen von dem unanschaulichen Charakter der gedachten Außenwirklichkeit. Die Aufgabe dieser letzteren verbietet es nämlich, daß wir sie uns ebenso beschaffen denken wie die uns bekannten Immanenzsysteme, und speziell, daß wir sie uns nach dem Vorbilde unserer Sichtwelt als der uns am nächsten liegenden Wirklichkeitsausgabe anschaulich vorstellen. Hätte sie einen solchen anschaulichen Charakter, so wäre sie eben damit ein, wenn auch vervollkommnetes Duplikat unserer Sichtwirklichkeit. Das aber soll gerade vermieden werden. Denn wenn die gedachte Außen Wirklichkeit anschaulich gedacht wird, so kann sie von den der Sichtwirklichkeit nicht nur tatsächlich sondern auch grundsätzlich anhaftenden Mängeln und Lücken, wie sie in einem früheren Zusammenhange geschildert worden sind, nicht befreit werden. Entweder sie ist mit einem der uns bekannten Immanenzsysteme artgleich und dann ist sie vorstellbar, hat aber auch, wenngleich nicht notwendig an allen tatsächlichen, so doch an allen grundsätzlichen Lücken und Mängeln solcher Immanenzsysteme teil. Oder wieder sie ist von den uns bekannten Immanenzsystemen artverschieden. Dann kann sie zwar von jenen Lücken und Mängeln befreit werden, ist aber nicht mehr vorstellbar. Eines von beidem ist nur möglich. Und da es eine der Aufgaben der gedachten Außenwirklichkeit ist, jene Lücken und Mängel zu überwinden, so muß die letztere Möglichkeit gewählt werden. Die gedachte Außenwirklichkeit wird also als ebenso konkret und raumzeitlich wie die uns bekannten Immanenzsysteme gedacht, jedoch von ihnen allen artverschieden und daher unvorstellbar. Nach dieser Maßgabe ist als eine bloße Gedankenkonstruktion die Wirklichkeit der Physik aufgebaut. In ihr gibt es keine Farben, wohl aber etwas, dem die Farbenqualitäten zugeordnet werden können, nämlich elektromagnetische Schwingungen eines nicht wahrzunehmenden, noch vorzustellenden, jedoch konkreten Trägers dieser Schwingungsvorgänge. Es gibt in ihr auch keine Schälle, wohl aber Schallschwingungen der Luft usw. Diese Luft aber wieder ist weder etwas Sichtbares noch Tastbares noch überhaupt Vorstellbares; jedoch ist sie ein als konkret gedachtes Gas, für welches alle die chemischen und physikalischen Formeln gelten, die bei der Beobachtung der wahrnehmbaren Luft berechnet sind. Usw.
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Dementsprechend verhalten wir uns zu der Konkretheit der gedachten Außenwirklichkeit ähnlich, wie sich der Blindgeborene zu der ihm unbekannten Anschaulichkeit der Sichtwirklichkeit und der Taubgeborene zu der ihm unbekannten Hörbarkeit der Schallwirklichkeit verhält. Er kann diese Wirklichkeiten denken. Er kann auch denken, daß sie konkret seien. Aber er kennt sie nicht. Denn er kann sie nicht wahrnehmen, und daher kann er sie sich auch nicht vorstellen. Ebenso können wir uns die gedachte Außenwirklichkeit zwar denken und sie in Gedanken auch mit Konkretheit ausstatten. Aber wir können sie weder wahrnehmen noch vorstellen. Wir kennen sie nicht, obwohl wir sie denken. Es geht hieraus hervor, daß die zwischen unseren Empfindungen und der gedachten Außenwirklichkeit bestehenden Zuordnungsverhältnisse nirgends den Charakter einer Gleichheit tragen können. Sie bestehen vielmehr in Aehnlichkeitsbeziehungen, aber nicht in dem volkstümlichen sondern in einem wissenschaftlichen Sinne dieses Wortes. Dh. unsere Empfindungen und die gedachte Außenwirklichkeit haben gemeinsam an dem Bedeutungsgehalte solcher Allgemeinbegriffe teil, die den Begriffen ihrer besonderen Beschaffenheiten übergeordnet sind. Oder anders ausgedrückt: die besonderen Beschaffenheiten unserer Empfindungen einerseits und die entsprechenden Beschaffenheiten der in der gedachten Außenwirklichkeit vorkommenden Bestände anderseits bilden den Bedeutungsgehalt von verschiedenen Artbegriffeu, die einem ihnen gemeinsamen Gattungsbegriffe untergeordnet sind. Sie stellen als konkrete Gebilde verschiedene Arten derselben Gattung dar. Der Bedeutungsgehalt der ihnen übergeordneten allgemeinbegrifflichen Bestimmungen, an denen sie beide teilhaben, aber bildet das Prinzip ihrer Zuordnung. Ein solches aller Konkretheit entkleidetes Zuordnungsprinzip läßt sich nur durch Denken erfassen. Das gilt auch von dem hier behandelten Begriffe der ihnen gemeinsamen Konkretheit selber. Unmittelbar bekannt ist uns, wie wir soeben gesehen haben, nur eine Konkretheit, nämlich die unserer erlebniseinheitlichen Bestände. Aber damit ist noch keineswegs gesagt, daß alles Konkrete eine solche erlebniseinheitliche Natur haben müsse. Wir nennen vielmehr auch solche Bestände konkret, die weder selbst erlebniseinheitlich sind, noch auch in unsere Erlebniseinheit eintreten können. So kommt zB. auch solchen Außenwirklichkeitsbeständen eine Konkretheit zu, die unserer Wahrnehmung grundsätzlich unzugänglich sind. Der Begriff der Konkretheit ist also ein übergeordneter Gattungsbegriff, an dessen Bedeutungsgehalt als eine besondere Art der konkreten Bestände unsere Erlebniseinheit teilhat.
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An diesem übergeordneten Gattungsbegriffe der Konkretheit, nicht dagegen an seiner besonderen Art der erlebniseinheitlichen Ausprägung hat auch die gedachte Außenwirklichkeit teil. Die Konkretheit dieser letzteren ist uns daher aus unseren erlebniseinheitlichen Beständen nur nach ihrem allgemeinen Wesen, nicht dagegen nach ihrem besonderen Gepräge bekannt. Wir müssen freilich auch der gedachten Außenwirklichkeit ein besonderes Gepräge ihrer Konkretheit beilegen. Denn eine Konkretheit im Allgemeinen ohne besonderes Gepräge gibt es nicht. Aber da wir die gedachte Außenwirklichkeit als von unseren eigenen Erlebniseinheiten grundsätzlich verschieden zu denken haben, so sind wir wieder gezwungen, jenes besondere Gepräge ihrer Konkretheit, obwohl wir es selbst erdenken, als etwas uns Unbekanntes zu betrachten. Die hier für die Konkretheit der gedachten Außen Wirklichkeit im Allgemeinen dargelegten Grundsätze gelten im Besonderen auch für ihren Raum und für ihre Zeit: für diese letztere freilich, wie sich zeigen wird, nur mit Vorbehalt. Es muß einem späteren Teile dieser Untersuchungen überlassen bleiben, die systematische Einheit zwischen dem, was wir als Raum, und dem, was wir als Zeit zu bezeichnen pflegen, im Einzelnen nachzuweisen und die Struktur einer solchen Einheit zu prüfen. Soviel aber ist vonvornherein ersichtlich, daß die Eindeutigkeit unserer Wirklichkeitssystematik eine wechselseitige, freilich, wie sich später offenbaren wird, nicht durch den Raum sondern nur durch die Zeit bedingte Ergänzung zwischen Raum und Zeit erfordert. Denn in unserer Wirklichkeit ist jeder Bestand eines Raumes durch die Systematik dieses letzteren jeweils nur in einem, nicht aber in verschiedenen Zeitaugenblicken bestimmt. Dh. er kann zwar in einem einzelnen Zeitaugenblicke immer nur eine Raumstelle, dagegen kann er in verschiedenen Zeitaugenblicken verschiedene Raumstellen einnehmen. Die Raumsystematik unserer Wirklichkeit bedarf also, wenn sie eindeutig sein soll, der Ergänzung durch eine Zeitsystematik. Und ebenso bedarf diese letztere der Ergänzung durch eine Raumsystematik. Denn zwei miteinander gleichzeitige Bestände sind, wie wir früher erkannten, durch ihren zeitlichen Abstand, da dieser gleich null ist, nicht eindeutig bestimmt. Wohl aber liegt eine solche Bestimmtheit dann vor, wenn beide Bestände außerdem einen räumlichen Abstand haben. In dieser Hinsicht erwies sich die Struktur der immanenten Außenwirklichkeit als mangelhaft. Denn in ihr traten verschiedene Räume auf, zwischen denen es keine eindeutige Simultansystematik ll
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gab. Daher blieb hier das individualbegriffliche Bezugsverhältnis zwischen den Beständen der verschiedenen Räume unbestimmt. Mit diesem Mißstande der Immanenzontologie hat die gedachte Außenwirklichkeit aufzuräumen. Denn zu ihren Aufgaben gehört es, daß sie die zwischen unseren Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen in einer schlechthin eindeutigen Systematik darstelle. Wir haben ihr daher außer ihrer Zeit nur einen einzigen Raum zuzuschreiben. Für die Charakteristik dieses der gedachten Außenwirklichkeit zukommenden Raumes und ihrer Zeit gelten dieselben Grundsätze, die wir für die ihr zukommende Konkretheit überhaupt festlegten. Denn das, was unter Raum und Zeit als wirklichen Gebilden zu verstehen ist, gehört zu dieser Konkretheit. Sie bilden in ihrer wechselseitigen Ergänzung die Realbezugsysteme, die einerseits zwischen den Beständen der gedachten Außenwirklichkeit und anderseits zwischen unseren Empfindungen walten. Individualbegrifflich sind diese beiden Systeme, zum Mindesten was ihren Raum betrifft, voneinander getrennt. Das ist schon durch ihre gegenstandstheoretische Verschiedenheit bedingt. Unsere Empfindungen liegen nicht in dem Räume der gedachten Außenwirklichkeit, und die Bestände dieser letzteren liegen nicht in der Räumlichkeit unserer Empfindungen. Ob beide innerhalb derselben Zeit liegen, mag im Augenblicke noch dahingestellt bleiben. Unbeschadet dieser ihrer individualbegrifflichen Trennung aber walten zwischen ihnen bestimmte allgemeinbegriffliche Identitäten. Denn beide sind Kontiguitätsysteme von gleicher, bzw. von verwandter Struktur. Das diesen Strukturen gemeinsame Begriffsystem kommt in den auf Raum und Zeit anwendbaren mathematischen Bezugsverhältnissen zum Ausdruck. Um die hiermit verbundene Problematik nicht unnötig zu komplizieren, wollen wir einmal die, wie wir noch sehen werden, auch sachlich gerechtfertigte Annahme machen, die Zuordnung der gedachten Außenwirklichkeit bezöge sich nicht sowohl auf das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen als vielmehr auf ein einzelnes unter unseren Immanenzsystemen und zwar speziell auf unsere Sichtwirklichkeit. Es stünde also dem Raumzeitsysteme dieser letzteren ein entsprechendes Raumzeitsystem der gedachten Außenwirklichkeit gegenüber. Dann würde für diese beiden Systeme im einfachsten Falle dieselbe Geometrie gelten. Aber diese Geometrie folgte wieder den Grundsätzen, die wir für die Beziehungen zwischen der anschaulich gegebenen und der nur gedachten Wirklichkeit dargelegt haben. Sie wäre nämlich im
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Sinne der neueren Bestrebungen der Mathematik nicht als eine anschauliche sondern als eine unanschauliche zu verstehen. Denn an anschaulichen Beschaffenheiten hat, wie wir gesehen haben, die gedachte Außenwirklichkeit nicht teil. Es wäre also unter einem Dreiecke nicht das Sichtbild zu verstehen, das wir als Dreieck auf einem Blatte Papier erblicken. Zu dem mathematischen Begriffe des Dreiecks gehört eine solche Anschauung auch nicht. Zwar hat das anschauliche Dreieck als eine besondere, wenngleich mathematisch belanglose Art der Dreiecke an dem Begriffe dieser letzteren teil. Aber deshalb braucht noch nicht jedes Dreieck auch anschaulich zu sein. Der für die gedachte Außenwirklichkeit allein in Betracht kommende mathematische Begriff des Dreiecks ist vielmehr ein allen anschaulichen Dreiecken übergeordneter Gattungsbegriff, zu dessen Merkmalen eine Anschaulichkeit nicht gehört. Das kann man sich leicht klarmachen, wenn man bedenkt, daß, wie wir anschauliche, so der Blindgeborene ertastete Dreiecke hat. Es gibt also ebenso, wie es eine Sichtausgabe von Dreiecken gibt, auch eine Tastausgabe derselben. Diesen beiden Ausgaben ist abgesehen von ihren spezifisch geometrischen Beschaffenheiten zweierlei gemeinsam, nämlich erstens daß es sich um einen konkreten Bestand handelt, und zweitens daß dieser konkrete Bestand erfahren wird, dh. dem ontologischen Bezirke eines Bewußtseins vorliegt. Für den Begriff eines Dreiecks als solchen ist dieses zweite Moment gleichgültig. Denn das Wahrgenommenwerden und daher auch die besondere Art einer solchen Wahrnehmung gehört zu diesem Begriffe nicht. Darauf beruht es, daß der Sehende und der Blinde trotz der Artverschiedenheit ihrer Wahrnehmungen von demselben Dreiecke handeln. Die Frage, ob das erstere Moment, also die Konkretheit des Dreiecks zu seinem Begriffe gehört, aber braucht uns hier nicht zu kümmern. Denn der gedachten Außenwirklichkeit kommt eine solche Konkretheit zu. Dagegen kommt ihr eine Anschaulichkeit in dem weiteren Sinne der Wahrnehmbarkeit nicht zu. Von dieser Wahrnehmbarkeit haben wir daher für die der immanenten und der gedachten Außenwirklichkeit gemeinsame Geometrie abzusehen. Wir kommen also unter dem schon angedeuteten Vorbehalte zu dem Ergebnisse, daß für die Raumzeitsystematik der gedachten und der immanenten Außenwirklichkeit grundsätzlich dieselben Begriffsverhältnisse gelten wie die für ihre Konkretheit dargelegten. Denn wie der beiden Wirklichkeiten übergeordnete Begriff einer unanschaulichen Konkretheit, so ist die den beiden Raumzeitsystemen dieser Wirklichkeiten übergeordnete unanschauliche Geometrie von dem besonderen li*
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und in beiden Wirklichkeiten verschiedenen Gepräge wie dort ihrer Konkretheit so hier ihrer Raumzeitsystematik unabhängig. Oder anders ausgedrückt: sowohl nach ihrer Konkretheit im Allgemeinen als auch nach der Beschaffenheit ihrer Raumzeitsystematik im Besonderen stellen beide Wirklichkeiten verschiedene Arten einer und derselben Gattung dar, deren allgemeinbegriffliche Identität dort durch den Begriff einer Konkretheit überhaupt und hier durch die Geometrie ihrer Raumzeitsystematik zum Ausdrucke gebracht wird. Daher sind auf die Raumzeitsystematik der gedachten Außenwirklichkeit die geometrischen, aber auch nur die geometrischen, nicht dagegen die anschaulichen Raumzeitverhältnisse der uns bekannten Immanenzsysteme anwendbar. Wir haben uns bisher mit der einfachen Voraussetzung begnügt, daß für die Raumzeitsysteme der gedachten und der immanenten Außenwirklichkeit eine schlechthin gleiche geometrische Struktur gelte. Es ist aber nicht unbedingt notwendig, daß wir diese Voraussetzung machen. Es wäre vielmehr auch denkbar, daß die Geometrie der Immanenzsysteme eine euklidische, die der gedachten Außenwirklichkeit dagegen eine nichteuklidische sei, oder daß jene mehr bzw. weniger Dimensionen als diese hätte. Die erstere dieser beiden Möglichkeiten wird durch gewisse Erwägungen über die Verteilung der Masse im Weltenraume nahegelegt. Die zweite würde für das Zuordnungsverhältnis zwischen dem dreidimensionalen Räume der gedachten Außenwirklichkeit auf der einen Seite und der Flächenhaftigkeit unserer deutungslos gegebenen Empfindungen auf der anderen Seite in Frage kommen. Durch solche komplizierteren Verhältnisse wird die soeben beschriebene Zuordnungsstruktur grundsätzlich nicht geändert, wohl aber insofern verschoben, als nunmehr das Prinzip der Zuordnung noch allgemeiner als in jenem ersteren Falle wird. Denn Zuordnungen bestehen auch zwischen euklidischen und nichteuklidischen, zwei- und dreidimensionalen Geometrien. Aber die zu ihnen gehörigen Bestände unterscheiden sich nun nicht mehr nur durch ihr mathematisch belangloses Konkretheitsgepräge, sondern auch durch ihre mathematisch belangreichen geometrischen Sondereigenschaften. So sind zB. ein ebenes Dreieck in der immanenten Sichtwirklichkeit und ein sphärisches Dreieck in dem Weltenraume der gedachten Außenwirklichkeit beides Dreiecke. Sie haben daher beide an den geometrischen Eigenschaften der Dreiecke überhaupt teil. Aber in ihren besonderen mathematischen Eigenschaften unterscheiden sie sich. Und ebenso verhält es sich mit der Geometrie verschiedener Dimensionen. So haben ein in den zwei Dimensionen unserer deutungslos gegebenen Sichtempfindungen
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auftretender Kreis und eine ihm in den drei Dimensionen der gedachten Außen Wirklichkeit etwa entsprechende Kugel einerseits gemeinsame, anderseits aber auch verschiedene mathematische Eigenschaften. Sie lassen sich einander zuordnen; aber das Prinzip ihrer Zuordnung wird umso allgemeiner, je größer ihre geometrischen Verschiedenheiten sind. In diesem Sinne wird auch die geometrische Zuordnung zwischen den Raumzeitsystemen hier der gedachten und dort der immanenten Außen Wirklichkeit bzw. den deutungslos gegebenen Empfindungen eine umso allgemeinere, je weiter sich diese beiden Systemzusammenhänge nach ihrer geometrischen Beschaffenheit voneinander entfernen. Sind Raum und Zeit in der gedachten Außenwirklichkeit nach ihren geometrischen Eigenschaften nahe miteinander verwandt und eng miteinander verbunden, so wird auf der anderen Seite ein Unterschied in ihrem Verhältnisse zu dem Räume und der Zeit unserer immanenten Außenwirklichkeit dadurch bedingt, daß wir die Zeit, wie wir früher gesehen haben, auf eine andere Weise erkennen als den Raum. Hierüber will ich mich noch kurz erklären. Der Grund, um dessen willen wir der gedachten Außenwirklichkeit die besondere Beschaffenheit unserer Immanenzräume nicht beilegen konnten, lag darin, daß diese letzteren aus dem Empfindungsmateriale unserer Ueberschneidungsbestände erdeutet sind und daher an den hierdurch bedingten Mängeln leiden. Als einen dieser Mängel erkannten wir es, daß sich die artverschiedenen Wahrnehmungsbestande nicht in einem ihnen allen gemeinsamen Räume unterbringen lassen. Solche Nachteile der Immanenzräume gingen mit dem Vorteile ihrer Anschaulichkeit Hand in Hand. Einen konkreten von unseren Empfindungsqualitäten ablösbaren Immanenzraum, der mit diesen Mängeln nicht behaftet wäre, und in dem sich Bestände jeder Art unterbringen ließen, haben wir nicht. Wir können zwar, wie unsere Erörterungen soeben gezeigt haben, einen solchen allen möglichen Beständen gemeinsamen Raum denken. Er wäre aber in unserer Wahrnehmungswelt nicht in concreto vorhanden, sondern bildete nur den abstrakten Bedeutungsgehalt eines den artverschiedenen Immanenzräumen übergeordneten Gattungsbegriffes. Mit der Zeit unserer immanenten Wirklichkeit steht es anders. Sie wird nicht aus einem uns unmittelbar vorliegenden Empfindungsmateriale erdeutet, sondern in der früher geschilderten Weise aus der Tatsache von Erinnerungen und Vorwegnahmen durch reine Gnoseologie erschlossen. Daher können wir unsere Zeit weder sehen, noch tasten, noch hören, noch sie auf irgendeine andere Weise wahrnehmen.
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Wohl aber können wir uns ihrer entsinnen. Unter diesen Umständen sind wir im Hinblicke auf sie auch nicht an ein bestimmtes Empfindungsmaterial gebunden, sondern können sie als eine und dieselbe konkrete Bezugsystematik allen Wirklichkeitsbeständen ohne Unterschied zuschreiben. Das kommt unter anderem darin zum Ausdrucke, daß alle artverschiedenen Immanenzsysteme ebenso wie unsere reinen Bewußtseinsbestände diesseits der Ueberschneidung an einer und derselben Zeit teilhaben. Auf Grund dieser ihrer Universalität dürfen wir unsere Zeit im Unterschiede zu den Immanenzräumen als ein schlechthin neutrales Bezugsystem ansprechen. Denn sie hat zwar eine bestimmte Konkretheit, aber eine solche, die von allen für die Immanenzräume geltenden Bindungen unabhängig ist. Der hier waltende und für den Aufbau der gedachten Außeriwirklichkeit wichtige Unterschied liegt darin, daß für jene Immanenzräume nur der Bedeutungsgehalt eines ihnen übergeordneten Gattungsbegriffes, also ein sogenanntes Abstraktum neutral ist, während unsere Zeit schon in der ihr eigenen Konkretheit diese Neutralität besitzt. Bei jenen Räumen müssen wir dementsprechend, um ein für sie alle gültiges Raumsystem zu erhalten, von ihrer artverschiedenen Konkretheit absehen. Dagegen brauchen wir zu diesem Zwecke bei unserer Zeit von ihrer Konkretheit nicht abzusehen, sondern können sie als ein reales Bezugsgefüge betrachten, das unbeschadet seines konkreten Wesens nicht nur allen Immanenzsystemen, sondern allen Wirklichkeitsbeständen überhaupt gemeinsam ist. Offenbar ist dieses Moment für den Aufbau der gedachten Außenwirklichkeit von Bedeutung. Wir erkennen jetzt nämlich, daß das, was wir früher für die gesamte Raumzeitsystematik der gedachten Außenwirklichkeit ausgeführt haben, in gewissen Hinsichten nur für ihren Raum, nicht aber für ihre Zeit gilt. Darauf bezogen sich unsere damaligen Vorbehalte. Denn wenn unsere Zeit an ein besonderes Konkretheitsgepräge der in ihr auftretenden Bestände nicht gebunden ist, sondern in ihre Bezugsystematik Bestände von jeder beliebigen Konkretheit aufnehmen kann, so sind wir auch nicht gezwungen, die Zeit der gedachten Außenwirklichkeit als mit einem anderen Gepräge behaftet zu denken als die Zeit unserer immanenten Wirklichkeit. Wir können uns vielmehr die Zeiten beider Wirklichkeiten nach den allgemeinbegrifflichen Eigenschaften ihrer Konkretheit als gleichgeartet denken. In dieser Hinsicht nimmt die Zeit der gedachten Außenwirklichkeit im Gegensatze sowohl zu ihrem Räume als auch ihrer gesamten sonstigen Konkretheit eine Ausnahmestellung ein.
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Auf der anderen Seite freilich werden wir später erkennen, daß es gewisse Gründe gibt, die uns dazu führen werden, ungeachtet der hier geschilderten Verhältnisse auch der Zeit der gedachten Außenwirklichkeit ein anderes Konkretheitsgepräge zuzuschreiben als dasjenige, das uns in unserem immanenten Wirklichkeitsbereiche geläufig ist. Für die Zeit der gedachten Außenwirklichkeit liegen also zwar nicht dieselben Gründe vor, die uns verhinderten, ihren Raum mit den entsprechenden Immanenzräumen gleichzustellen. Wohl aber gibt es andere Gründe, die zu einer allgemeinbegrifflichen Differenzierung zwischen der gedachten und der immanenten Zeit führen können. Macht man diese letzteren Gründe geltend, so fällt unser Vorbehalt über die Sonderstellung der Zeit nunmehr fort. Nicht nur der Raum sondern auch die Zeit der gedachten Außenwirklichkeit ist dann von der uns bekannten Raumzeitsystematik allgemeinbegrifflich verschieden. Auf einem anderen Blatte steht die Frage, ob die Zeit der gedachten Außenwirklichkeit auch individualbegrifflich mit der Zeit unserer Immanenzwirklichkeit zu identifizieren sei. Oder anders ausgedrückt: ob die gedachte Außenwirklichkeit als mit uns in derselben oder als in einer anderen Zeit stehend zu denken sei. Hält man an der allgemeinbegrifflich gleichen Beschaffenheit beider Zeiten fest, so kann sowohl der eine als auch der andere Weg eingeschlagen werden. Merkwürdigerweise aber stehen beide Wege, wie wir später erkennen werden, auch dann offen, wenn man aus den soeben angedeuteten Gründen der gedachten Außenwirklichkeit eine Zeit von anderer als der uns bekannten Beschaffenheit zuschreibt. Unseren Denkgepflogenheiten entsprechender ist der erste der beiden Wege. Daher denkt man sich die gedachte Außenwirklichkeit gewöhnlich als mit der unserigen gleichzeitig. Konsequenter aber wäre der zweite Weg. Denn wenn der gedachten Außenwirklichkeit als einer bloßen Hilfskonstruktion jeder ontologische Charakter abgesprochen werden soll, so darf man sie folgerichtigerweise auch nicht an dem ontologischen Bezugsysteme unserer Zeit teilnehmen lassen. Zudem würde dadurch, daß wir der gedachten Außenwirklichkeit eine eigene Zeit verleihen, auch der für die neueren Bestrebungen der Physik nicht unwesentliche Vorteil gewonnen werden, daß wir einer solchen nur gedachten Zeit trotz der Gleichartigkeit ihres konkreten Gepräges andere geometrische Eigenschaften beilegen könnten als der wirklichen Zeit unserer immanenten Wahrnehmungswelt. Vollziehen wir aber diesen Schritt, so wird eben damit die gedachte Außenwirklichkeit für uns in einem ähnlichen, wenn auch nicht in demselben Sinne zeitlos, wie es die allgemeinbegrifflichen Bestände
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sind. Sie hätte dann nämlich wie diese keine Zeit relativ zu der Zeit unserer eigenen Wirklichkeit. Sie wäre wie der Begriff der Treue oder der Pythagoreische Lehrsatz weder heute noch morgen, noch würde sie mit der Zeit, nämlich mit unserer eigenen Zeit älter und wäre früher jünger gewesen, sondern sie stünde zu unserer eigenen Wirklichkeit außerhalb jeder zeitlichen Relation, obwohl sie zu jeder Zeit dadurch, daß wie sie meinen, in unseren gnoseologischen Bereich treten könnte. Anderseits aber würde sich diese relative Zeitlosigkeit der gedachten Außenwirklichkeit von der absoluten Zeitlosigkeit jener Allgemeinbegriffe nicht nur dadurch unterscheiden, daß ihre Bestände konkret wären, sondern auch dadurch, daß diese Bestände ihrerseits, wenn auch nicht in unserer eigenen, so doch in einer ihnen beizulegenden anderen Zeit stünden. Eine ähnliche relative Zeitlosigkeit kommt, wie schon in dem vorangegangenen Kapitel angedeutet wurde, dem Bedeutungsgehalte mancher Erzählungen zu, die ebenfalls in ihrer eigenen und nicht in der Zeit unserer Wirklichkeit spielen. Im Hinblicke auf ihren Raum und ihre Zeit sind die gedachte und die immanente Außenwirklichkeit in gewisser Hinsicht einander gleichwertig. In beiden Wirklichkeiten ist nämlich die Raumzeitsystematik, insoweit die geometrische Struktur dieser letzteren in Betracht kommt, in gleicher Weise lückenlos und vollständig. Das hängt, wie wir früher gesehen haben, damit zusammen, daß sich die geometrische Systematik des Raumes und der Zeit aus wenigen Gegebenheiten lückenlos und vollständig konstruieren läßt. Wir bedürfen nur vier nicht in einer Ebene liegender Raumpunkte, um aus diesen den zu ihnen gehörigen Raum, und nur zwei verschiedener Zeitaugenblicke, um hieraus die zu ihnen gehörige Zeit, den euklidischen Charakter dieser Bezugsysteme vorausgesetzt, restlos ableiten zu können. Anders steht es mit den zu solchen Bezugsystemen gehörigen Beständen. Diese lassen sich, wie wir früher gesehen haben, aus der Systematik ihres Raumes und ihrer Zeit nicht ableiten, stellen vielmehr, wenn wir von gewissen, sogleich noch zu berührenden Ansätzen zu einer Vereinheitlichung von Raum, Zeit und Beständen absehen, von ihnen unabhängige Gebilde dar. Dem entspricht es, daß sich unsere Immanenzsysteme trotz der geometrischen Vollständigkeit ihrer Raumzeitstruktur als mehr oder minder lückenhaft in ihrer Bestandsystematik erwiesen. Diese Lückenhaftigkeit machte sich nicht nur darin geltend, daß einige unter diesen Immanenzsystemen mehr Bestände enthielten als andere, sondern vor allem auch darin, daß
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die Bestandsystematik keines von ihnen eine restlos geschlossene Naturgesetzlichkeit aufwies. Es gehört zu den Aufgaben der gedachten Außenwirklichkeit, auch diesen Mangel zu heilen. Daher wird die Bestandsystematik dieser letzteren im Unterschiede zu der der Immanenzsysteme als eine restlos vollständige gedacht und zwar mit der Maßgabe, daß sie nicht mehr und nicht weniger Bestände zu enthalten habe, als es durch die Forderung einer vollkommen geschlossenen Naturgesetzlichkeit der in ihr auftretenden Vorgänge bedingt ist. Es kann in der gedachten Außen Wirklichkeit also keinerlei Ereignis vorkommen, dessen Bedingungen sich nicht restlos in ihr nachweisen ließen. Unter diesen Umständen läßt sich jeder Bestand und jedes Ereignis, das in irgendeinem der Immanenzsysteme vorkommt, einem entsprechenden Bestände und Ereignisse in der gedachten Außenwirklichkeit zuordnen. Dagegen läßt sich nicht umgekehrt auch jedem Bestände und jedem Ereignisse in der gedachten Außenwirklichkeit ein entsprechender Bestand und ein entsprechendes Ereignis in einer der Immanenzwirklichkeiten zuordnen. Es gibt vielmehr Fälle, in denen das nicht möglich ist, da, wie wir soeben sahen, unsere Immanenzsysteme Lücken aufweisen. In diesen Fällen können wir zwar innerhalb des betreffenden Immanenzsystems die Raum- und Zeitstelle aufweisen, die sich der entsprechenden Raum- und Zeitstelle in der gedachten Außenwirklichkeit zuordnen läßt. Aber wir finden an jener Raum- und Zeitstelle in der immanenten Wahrnehmungswelt keinen dem entsprechenden Sachverhalte in der gedachten Außenwirklichkeit zuzuordnenden Tatbestand. Die gedachte Außenwirklichkeit hat aber nicht nur eine ihrer Naturgesetzlichkeit entsprechende Vollständigkeit an Beständen aufzuweisen, sondern diese Bestandfülle auch in einer Form darzubieten, die ihre allseitige und möglichst einfache Beschreibung gestattet. Dem entspricht es, daß die bunte Manichfaltigkeit unserer Wahrnehmungswelten in der gedachten Außenwirklichkeit durch eine eigentümliche Einförmigkeit aller hier auftretenden Bestände ersetzt wird, dergestalt daß sich ihre ganze Systematik als eine an verschiedenen Raum- und Zeitstellen verschiedenartige Komplikation einer und derselben Bestandart darstellt. Der Weg, der hierzu führt, ist der in dem vorangegangenen Kapitel geschilderte einer Auflösung von ganzheitlichen Gestaltsqualitäten in ihre Komponenten. Alles, was wir in unserer immanenten Wirklichkeit als qualitativ verschiedenartig betrachten, erscheint dieser Maßgabe entsprechend in der gedachten Außenwirklichkeit als eine nur durch verschiedenartige Lagen und Be-
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wegungszustände, also nur durch Raum- und Zeitverhältnisse kleinster und zwar lezten Endes unendlich kleiner Teile bedingte Zusammensetzung eines und desselben Bestandmaterials. Fragt man aber nach dem besonderen Charakter dieses einheitlichen Bestandmaterials, so fällt die Beantwortung dieserFrage nicht mehr derOntologie sondern der Physik zu. Dagegen ist für die Ontologie ebenso wie für die Physik eine andere Frage von Bedeutung. Wenn nämlich der gedachten Außenwirklichkeit ein einheitliches Bestandmaterial zugeschrieben wird, so kommen in ihr immerhin noch drei verschiedene Faktoren vor: ihr Raum, ihre Zeit und ihr einheitliches Material. Nun aber ist es, wie wir soeben gesehen haben, eine Aufgabe der gedachten Außenwirklichkeit, die ihr eigene Systematik in einer möglichst einfachen Form darzustellen. Hieraus ergibt sich die Folgerung, daß ihr Ziel erst dann vollständig erreicht sein wird, wenn es gelingt, auch diese letzten drei Faktoren noch aufeinander zurückzuführen, also Raum und Zeit als ein und dasselbe Bezugsystem darzustellen und dieses Bezugsystem mit dem Charakter seines Bestandmateriales zu identifizieren. Es ist bekannt, welche Ansätze zur Erreichung dieses Zieles die Physik der letzten Jahrzehnte gestellt hat. Die ontologische Bedeutung dieser Ansätze werden wir in einem späteren Teile unserer Untersuchungen zu prüfen haben. So einfach aber auch die Grundstruktur der gedachten Außenwirklichkeit gestaltet werden mag, niemals sind wir imstande, ihre eigentliche Bestandweise zu erkennen. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, daß wir, unseren Erörterungen über die Konkretheit und die Raumzeitsystematik der gedachten Außenwirklichkeit entsprechend, nur zwei Faktoren aus unserer immanenten Wahrnehmungswelt auf die gedachte Außenwirklichkeit übertragen dürfen: nämlich erstens die Tatsache ihrer Konkretheit und zweitens die geometrische Struktur ihrer Bezugsverhältnisse. Aus diesem Grunde sind wir weder in der Lage anzugeben, wie die Bestände in der gedachten Außenwirklichkeit beschaffen sind, noch welchen Charakter ihr Raum und eventuell auch ihre Zeit abgesehen von jener geometrischen Struktur tragen. Wir können zwar sagen, daß ihre Bestände irgendeine Beschaffenheit haben, und daß das zwischen diesen waltende Raumzeitgefüge abgesehen von seinen geometrischen Eigenschaften noch etwas anderes, nämlich ein Realbezugsystem sei. Aber wir sind nicht in der Lage zu sagen, worin jene Beschaffenheit und dieses Realbezugsystem besteht. Unsere Angaben über die in der gedachten Außenwirklichkeit stattfindenden besonderen Verhältnisse beziehen sich daher nur auf die zwischen ihren Beständen waltenden abstrakt geometrischen Strukturen.
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Diesem Umstände entspricht die merkwürdige Tatsache, daß alle Gleichungen der Physik bei Lichte besehen ausschließlich das physikalisch bedingte geometrische Verhalten der einzelnen Bestände inner? halb der gedachten Raumzeitsystematik und weiter nichts beschreiben. Dabei ist allerdings zu beachten, daß zu dieser Geometrie des physikalischen Verhaltens der gedachten Bestände auch ihre in der sogenannten Kinematik behandelten Bewegungen gehören. Wir vermögen also immer nur zu bestimmen, wie die gedachten Bestände in einem abstrakt geometrischen Sinne räumlich und zeitlich aufeinander be-r zogen sind. Dagegen vermögen wir nicht zu sagen, was sie und ihre Raumzeitbezüge abgesehen von solchen geometrischen Strukturen an sich selbst sind. Auf der anderen Seite aber bleibt zu beachten, daß es eben diese an sich selbst von uns nicht beschreibbaren Bestände und Raumbezüge sind, denen wir jene geometrischen Verhältnisse beilegen. Diese Bestände und ihre Raumzeitbezüge gehen also nicht etwa in den von uns beschriebenen geometrischen Verhältnissen auf, sondern bilden vielmehr Unbekannte, an denen die uns in abstracto bekannten geometrischen Verhältnisse vorkommen. So bestehen in der gedachten Außenwirklichkeit beispielsweise weder der positive Kern eines Atoms mit seinen Ladungen noch die zu ihm gehörigen Elektronen aus dea zwischen ihnen waltenden Lagen-, Größen- und Bewegungsverhältr nissen. Aber die geometrische bzw. kinematische Struktur dieser Lagen-, Größen- und Bewegungsverhältnisse ist das einzige, was wir über jenes Atom auszusagen vermögen. Die gedachte Außenwirklichkeit stellt also einen jener Fälle dar, in denen der von uns gemeinte Bestand als solcher in unserem gnoseologischen Felde jenseits unserer Erkenntnisgrenzen liegt, während gewisse unter seinen Eigenschaften, in unserem Falle die geometrische Struktur der gedachten raumzeitlichen Relationen, innerhalb dieser Grenzen liegen. Wie in allen solchen Fällen muß daher bei der gedachten Außenwirklichkeit sorgfältig zwischen dem, was wir meinen, und dem, was wir von dem Gemeinten erkennen, unterschieden werden. Die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit gründet sich, wie wir gesehen haben, auf die Voraussetzung, daß die zwischen unseren Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen den eigentlichen Gegenstand bilden, auf dessen Beschreibung die gedachte Außenwirklichkeit zugeschnitten ist, und dem ihre Zuordnung gilt. Nichtsdestoweniger sind wir im Laufe unserer Erörterungen dazu übergegangen, nicht sowohl jene deutungslosen Empfindungen als
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Die Lehre von der gedachten Auäenwirklichkeit
vielmehr eine der deutungserfüllten Wahrnehmungswelten und zwar im besonderen unsere Sichtwirklichkeit als den Zuordnungsgegenstand der gedachten Außenwirklichkeit zu behandeln. Unter diesen Umständen erwächst uns die Aufgabe, diese letztere Maßnahme zu rechtfertigen und jene erstgenannten Voraussetzungen zu prüfen. Wir haben uns also erstens zu fragen, ob die Zuordnung der gedachten Außenwirklichkeit tatsächlich dem deutungslos Gegebenen der Empfindungen oder ob sie unseren Immanenzsystemen gilt, und zweitens ob es richtig ist, daß ihre Aufgabe darin besteht, die zwischen jenen Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen zu beschreiben, oder welche Aufgabe sie sonst hat. Betrachten wir das Verhältnis zwischen der gedachten Außenwirklichkeit und dem deutungslos Gegebenen unserer Empfindungen näher, so ist es zunächst ohne Zweifel richtig, daß hier eine Zuordnung stattfindet. Jedoch ist nicht die gedachte Außenwirklichkeit als Ganzes unseren Empfindungen zugeordnet, sondern nur ein verschwindend kleiner Bruchteil von ihr. Bei diesem aber fällt es auf, daß das Aequivalent unserer Empfindungen in der gedachten Außenwirklichkeit nicht wie jene Empfindungen selbst eine zweidimensionale, sondern der gedachten Raumstruktur entsprechend eine dreidimensionale Größe darstellt. Weitere Unterschiede werden wir sogleich noch kennen lernen. Aber schon ein oberflächlicher Vergleich zwischen den hier einander gegenübergestellten beiden Zuordnungsgliedern zeigt, daß sie beiderseits verschiedene Grundstrukturen tragen. Auf der anderen Seite ist auch leicht erkennbar, daß sich die Verschiedenheit dieser Grundstrukturen im Wesentlichen mit jener Verschiedenheit deckt, die zwischen den deutungslos gegebenen Empfindungen und unserer immanenten Wahrnehmungswelt herrscht. Denn diese letztere überragt unsere Empfindungen in demselben Umfange und in derselben Weise, wie die gedachte Außenwirklichkeit das ihr zugehörige Aequivalent unserer Empfindungen überragt. Und ebenso wie die gedachte Außenwirklichkeit ist unsere immanente Wahrnehmungswelt im Unterschiede zu der Flächenhaftigkeit der Empfindungen eine dreidimensionale Manichfaltigkeit. Mit anderen Worten: im Hinblicke auf ihre Grundstruktur verhält sich die gedachte Außenwirklichkeit zu unseren deutungslos gegebenen Empfindungen ebenso, wie sich unsere deutungserfüllte Wahrnehmungswelt zu diesen verhält. Daher ist die Zuordnung zwischen der gedachten Außenwirklichkeit und unserer Wahrnehmungswelt eine wesentlich engere als die zwischen dieser letzteren und unseren dentungslos gegebenen Empfindungen.
Der Zuordnungsgegenstand der gedachten Außenwirklichkeit
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Unter diesen Umständen können wir die in der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit aufgestellte These, daß es der Zweck dieser Außenwirklichkeit sei, die zwischen unseren Empfindungen waltenden konstanten Beziehungen zu beschreiben, auf eine einfache Weise prüfen. Denn, wenn die Grundstrukturen der gedachten Außenwirklichkeit mit denen unserer Wahrnehmungswelt übereinstimmen, so müßte man annehmen, daß auch diese letztere den freilich weniger vollkommen von ihr erreichten Zweck einer solchen Beschreibung von Empfindungen habe. Wir werden uns also zu fragen haben, ob dies tatsächlich der Fall ist; und wenn es nicht der Fall sein sollte, welchen anderen Zweck unsere Wahrnehmungswelt den ihr zugrundeliegenden Empfindungen gegenüber habe. Es wird sich dann voraussichtlich zeigen, daß dieselben Maßgaben, die für das Verhältnis unserer Wahrnehmungswelt zu den Empfindungen charakteristisch sind, mit entsprechenden Abänderungen auch die Maßgaben für das Verhältnis der gedachten Außenwirklichkeit zu diesen Empfindungen bilden. Nun haben alle unsere Untersuchungen gezeigt, daß unsere Wahrnehmungswelt tatsächlich nicht den Zweck hat, die ihr zugrundeliegenden Empfindungen selber zu beschreiben, sondern daß sie vielmehr eine Außenwirklichkeit darstellen will, die von unseren Empfindungen grundsätzlich verschieden ist. Denn diese letzteren bilden zentrale an Gehirnerregungen gebundene Gegebenheiten. Die Außenwirklichkeit, die wir in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung zu erfassen glauben, dagegen besteht aus peripheren und ultraperipheren Beständen, die an unsere Gehirnerregungen nicht gebunden und mehr oder minder weit von ihnen entfernt sind. Alle Widersprüche der Immanenzontologie ließen sich, wie wir in der Einleitung zu diesem Kapitel sahen, darauf zurückführen, daß dieser Zwiespalt zwischen den Empfindungen und der aus ihnen erdeuteten Außenwirklichkeit verkannt und beide miteinander identifiziert wurden. Diese immanenzontologische Identifikation ist, wie aus den Erörterungen des vorangegangenen Kapitels hervorgeht und später noch im Einzelnen dargelegt werden soll, ein besonderer Fall des von uns beschriebenen Phänomens einer uns unmittelbar vorliegenden Meinungsbasis und ihrer Deutungserfüllung. Dementsprechend verhält sich unsere Wahrnehmungswelt zu den von ihr gedeuteten Empfindungen wie eine gnoseologische Wirklichkeit zu ihrer ontologischen Grandlage. Das Verhältnis zwischen diesen beiden Bestandgefügen ist ausführlich von uns untersucht worden. Wir erkannten, daß sie beide von einem übergeordneten Standpunkte aus gesehen individualbegrifflich miteinander identisch sind, und daß auf Grund dieser Identität
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zwischen ihnen ein festes Zuordnungsverhältnis herrscht. Auf der anderen Seite erkannten wir aber auch, daß beide Bestandgefüge nach ihrer allgemeinbegrifflichen Konstitution grundsätzlich verschieden aufgebaut waren, und daß sie sich von ihrem eigenen Standpunkte aus gesehen auch individualbegrifflich als zwei voneinander gesonderte Systeme wechselseitig ausschlössen. Für die Frage nach der Bedeutung unserer Wahrnehmungswelt als eines Mittels zur Beschreibung unserer Empfindungen ist dieses letztere Moment von entscheidender Bedeutung. Denn wenn unsere Empfindungen nach ihrer eigenen Systematik aus der Systematik unserer Wahrnehmungswelt grundsätzlich ausgeschlossen sind, so geht daraus hervor, daß diese letztere in keiner Weise imstande ist, jene ersteren zu beschreiben. Das Mindeste, was zu diesem Zwecke erfordert wird, ist nämlich dies, daß die Empfindungen dem Zusammenhange, in dem sie beschrieben werden sollen, angehören. Ist das nicht der Fall und gehört statt ihrer etwas grundsätzlich anderes zu jenem Zusammenhange, so können durch diesen letzteren die Empfindungen als solche auch nicht beschrieben werden. Ebenso wie daher die Landschaftsdarstellung eines Panoramas als gnoseologische Wirklichkeit nicht sowohl die ihrer Deutung zugrundeliegende ontologische Farbenfläche auf der Leinewand beschreibt, sondern vielmehr etwas anderes, was diese Farbenfläche nicht ist: ebenso beschreibt unsere Wahrnehmungswelt als gnoseologische Wirklichkeit nicht unsere Empfindungen, sondern etwas von ihnen Verschiedenes. Man könnte hiergegen einwenden, daß der Fall der Wahrnehmungswelt deshalb anders läge als der Fall eines Panoramas, weil zu der Außenwirklichkeit, die wir mit unseren Wahrnehmungen erdeuten, in gewisser Weise auch unser eigenes Bewußtsein und damit zugleich die deutungslosen Empfindungen dieses letzteren gehörten. Allein unsere früheren Ausführungen haben gezeigt, daß gerade an diesem Probleme die Immanenzontologie scheitert. Denn ihre falsche Identifikation zwischen unseren Empfindungen und der immanenten Außenwirklichkeit verbietet es, jene in diese hineinzuverlegen. Es ist in sich widerspruchsvoll, das deutungslos Gegebene der Empfindungen aus der gnoseologischen Wirklichkeit unserer Wahrnehmungswelt dadurch hinauszudrängen, daß man es mit peripheren und ultraperipheren Beständen identifiziert, und es trotzdem in dieser gnoseologischen Wirklichkeit unterbringen zu wollen, indem man es zugleich als einen Komplex zentraler Bestände auffaßt. Zentral sind unsere Empfindungen nur in dem Bereiche ihrer ontologischen, nicht dagegen in dem ihrer gnoseologischen Wirklichkeit. Der Versuch, unsere imma-
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nente Wahrnehmungswelt als ein Mittel zur Beschreibung unserer Empfindungen als solcher aufzufassen, ist daher unter allen Gesichtspunkten undurchführbar. Kehren wir von diesen Erwägungen aus zu der gedachten Außenwirklichkeit zurück, so erkennen wir, daß die letztere nur dann als ein Mittel zur angemessenen Beschreibung unserer Empfindungen als solcher betrachtet werden könnte, wenn das in ihr auftretende Aequivalent unserer Empfindungen der Eigenstruktur dieser letzteren entspräche. Dagegen könnte sie den Charakter eines solchen Beschreibungsmittels nicht tragen, wenn sie statt der Eigenstruktur unserer Empfindungen vielmehr die sie ausschließende Struktur unserer immanenten Wahrnehmungswelt trüge. Das aber ist, wie wir gesehen haben, der Fall. In ihrem tatsächlichen Aufbau bildet die gedachte Außenwirklichkeit kein nach der Analogie unserer Empfindungen eingerichtetes System, sondern sie ist ein verbessertes Konkurrenzsystem zu unserer immanenten Wahrnehmungswelt. Das in ihr auftretende Aequivalent unserer Empfindungen zeigt nicht die Struktur dieser letzteren, sondern die Struktur der aus ihnen erdeuteten Wahrnehmungsbestände. Nicht von zentral gegebenen Flächen handelt die gedachte Außenwirklichkeit, sondern von ultraperipheren Körpern. Und das Verhalten dieser, nicht das jener unterliegt ihrer naturgesetzlichen Systematik. Nicht verschiedene Bestände treten dort in ihr auf, wo wir einen und denselben Außenwirklichkeitsbestand auf artverschiedene Weisen wahrnehmen und empfinden, sondern ein einziger Bestand. Usw. Mit anderen Worten: der Gegenstand, mit dem es die gedachte Außenwirklichkeit zu tun hat, hat die Struktur derjenigen Außenwirklichkeit, die wir aus unseren Empfindungen erdeuten; nicht dagegen hat er die Struktur dieser Empfindungen selber. Was aber den Vorzug betrifft, den die gedachte Außenwirklichkeit unserer immanenten Wahrnehmungswelt gegenüber genießt, so besteht er nicht etwa darin, daß jene erstere auf das räumliche und naturgesetzliche Wesen unserer Empfindungen als solcher zurückginge, sondern vielmehr darin, daß sie an die Stelle der in der Wahrnehmungswelt enthaltenen Empfindungsqualitäten ein anderes Bestandmaterial setzt, das die spezifischen Mängel jener Empfindungsqualitäten aufhebt und damit zugleich die Unvoll ständigkeit unserer Immanenzrepräsentationen korrigiert. Im Uebrigen jedoch macht sie alle Struktureigentümlichkeiten unserer Wahrnehmungswelten mit. Unter diesen Umständen krankt im Besonderen die gedachte Außenwirklichkeit, wenn sie als ein Darstellungsmittel der Empfindun-
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gen selbst gelten will, auch an grundsätzlich denselben inneren Widersprüchen, die unserer Wahrnehmungswelt im Hinblicke auf die psychophysische Problemstellung anhaften. Denn entweder ist das gedachte Aequivalent der Empfindungen ein Komplex von peripheren und ultraperipheren Außenwirklichkeitsbeständen; oder es ist das Gegenstück von zentralen Empfindungsgegebenheiten. Es kann aber nicht beides zugleich sein. Ist jenes Aequivalent ultraperipher, dreidimensional und bei verschiedenen Weisen unserer Wahrnehmung ein einziger Bestand, dann ist es nicht zentral, zweidimensional und eine Mehrheit von verschiedenen Beständen: und umgekehrt. Die gedachte Außenwirklichkeit verwickelt sich also in dieselben grundsätzlichen Widersprüche wie unsere Wahrnehmungswelt, solange sie in ihren Empfindungsäquivalenten zentrale und periphere bzw. ultraperiphere Bestände miteinander identifiziert. Bedenken wir, daß alle inneren Widersprüche der immanenten Wahrnehmungswelt auf ihrer Identifikation mit unseren Empfindungen beruhten, und daß der Vorteil der gedachten Außen Wirklichkeit ursprünglich darin bestehen sollte, daß sie diese Identifikation aufhob und sich von den Empfindungen trennte, so erkennen wir nunmehr, daß dieser Vorteil hinfällig wird, wenn die gedachte Außenwirklichkeit nichtsdestoweniger wieder als ein Mittel zur Beschreibung der Empfindungen angesehen wird. Denn wenn ein bestimmter in der gedachten Außenwirklichkeit auftretender Komplex, obwohl er die Struktur der peripheren und ultraperipheren Bestände zeigt, doch nicht als ein Aequivalent dieser lezteren sondern als ein solches der Empfindungen aufgefaßt wird, so kehren offenbar alle jene Widersprüche, die mit der immanenten Wahrnehmungswelt verbunden sind, in der gedachten Außenwirklichkeit wieder. Der ursprüngliche Vorteil, der aus einer Trennung dieser letzteren von den Empfindungen erwuchs, wird damit rückgängig gemacht. Aber auch wenn wir auf jene Identifikation verzichten könnten, wäre die gedachte Außenwirklichkeit außerstande, ein Aequivalent der deutunglos gegebenen Empfindungen in ihre Systematik aufzunehmen. Denn der Aufbau der gedachten Außenwirklichkeit ist ein ausschließlich außenwirklicher. Unsere Empfindungen dagegen sind spezifische Bewußtseinsbestände. Dementsprechend könnte die gedachte Außenwirklichkeit im besten Falle zwar Aequivalente für die unseren Empfindungen zugrundeliegenden außenwirklichen Gehirnerregungen liefern, nicht aber Aequivalente für unsere bewußtseinswirklichen Empfindungen als solche. Das gedachte Aequivalent dieser letzteren könnte nämlich, wenn es das bewußtseinswirkliche Wesen
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der Empfindungen angemessen darstellen soll, nicht anders beschaffen sein als die Empfindungen selber. Das aber bedeutet, daß unsere Empfindungen als bewußtseinswirkliche Bestände keines gedachten Aequivalentes bedürfen. Denn sie sind so, wie sie uns gegeben sind. Nur für die Außenwirklichkeitsbestände, da sie uns nicht gegeben sind, bedarf es der Gedankenkonstruktionen. Unter diesen Umständen wäre die gedachte Außenwirklichkeit zu einer angemessenen Erklärung der Empfindungen nur dann imstande, wenn sie uns lehrte, wie diese letzteren mit den Gehirnvorgängen zusammenhängen. Darüber aber lehrt sie uns nichts, kann uns auch nichts darüber lehren, weil ihren rein physikalischen Strukturen das geistige Band des Bewußtseins fehlt. Alle unsere Erwägungen führen demnach zu der Folgerung, daß der Anspruch der gedachten Außenwirklichkeit, ein Beschreibungsmittel für die deutungslosen Empfindungen zu bilden, nicht berechtigt ist. Sie erweist sich vielmehr als ein frei geschaffenes Konkurrenzsystem zu unserer nicht frei geschaffenen, sondern aus den Empfindungsgegebenheiten erdeuteten Wahrnehmungswelt. Ist das aber der Fall, so geraten wir nunmehr in eine Schwierigkeit. Denn der ursprüngliche Vorteil der gedachten Außenwirklichkeit bestand ja darin, daß sie die ihrer inneren Widersprüche wegen unhaltbare immanente Wahrnehmungswelt ausschaltete, um sich stattdessen an den in sich widerspruchsfreien deutungslos gegebenen Empfindungen zu betätigen. Zeigt es sich nun, daß es mit dieser Betätigung nichts ist, und will man bei der Ablehnung einer transzendenten Außenwirklichkeit verharren, so steht man fortan vor einem Dilemma. E s bleibt nämlich nur übrig, daß man entweder auch weiter auf die immanente Wahrnehmungswelt verzichtet, oder daß man sie wieder einführt. Beide Maßnahmen aber haben ihre Nachteile. Denn ohne immanente Wahrnehmungswelt ist die gedachte Außenwirklichkeit sinnlos, da sie die deutungslosen Empfindungen nicht darstellen kann und es etwas anderes, das sie darstellen könnte, nicht geben soll. Erkennt man aber die immanente Wahrnehmungswelt wieder an, so kehren eben damit auch alle die Widersprüche, die man vermeiden wollte, zurück. Unter diesen Umständen erhebt sich die Frage, ob man nicht besser tut, den Widerstand gegen die Annahme einer transzendenten Außenwirklichkeit aufzugeben und die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit mit dieser letzteren Annahme zu verbinden. Jn dieselbe Richtung führt eine weitere Erwägung, nämlich die, daß unserer tatsächlichen Gestaltung der gedachten Außenwirklichkeit mit fortschreitender Erkenntnis immer engere Grenzen gezogen werden. 12
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Es gehört, wie wir gesehen haben, zu den Thesen der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit, daß diese letztere nicht nur auf eine Weise gedacht werden könne sondern auf beliebig viele. Denn wenn die gedachte Außenwirklichkeit lediglich den Zweck hat, ein praktisches Beschreibungsmittel für unsere Empfindungen zu sein, so ist offenbar, daß zu diesem Zwecke verschiedene Mittel dienen können. Dagegen würde es nur eine einzige gedachte Außenwirklichkeit geben, wenn diese den Anspruch erhübe, wahr, dh. mit einem einzelnen und unabhängig von ihr an sich bestehenden Wirklichkeitssysteme identisch zu sein. Unter diesen Umständen wird für uns die Frage von Bedeutung, ob es tatsächlich beliebig viele gedachte Außenwirklichkeiten gibt oder nur eine. Ist das erstere der Fall, so würde dadurch jene These, daß die gedachte Außenwirklichkeit eine freie nur auf Zweckmäßigkeit angelegte Gedankenkonstruktion sei, bestätigt werden. In dem letzteren Falle dagegen verhielte sie sich ebenso wie ein System, das auf eine an sich bestehende Wirklichkeit gemünzt und daher auf Wahrheit angelegt ist. Nun steht es außer Zweifel, daß wir uns unendlich viele Arten von Außenwirklichkeiten denken könnten, wenn diesem unseren Denken keine bestimmten Bedingungen gestellt würden. Das einzige Moment, das allen solchen Wirklichkeiten gemeinsam wäre, bestünde dann in ihrer Konkretheit. Sonst aber könnten sie sich nicht nur individualbegrifflich, sondern auch allgemeinbegrifflich voneinander unterscheiden. Beschränkt würde diese Freiheit bereits werden, wenn von allen jenen Wirklichkeiten eine raumzeitliche Naturgesetzlichkeit gefordert würde. Denn diejenigen Wirklichkeitsformen, die dieser Forderung nicht genügten, fielen eben damit aus. Immerhin ließen sich auch unter dieser Bedingung noch unendlich viele verschiedene Wirklichkeiten denken. Anders steht es, wenn nunmehr die weitere Bedingung gestellt wird, daß die raumzeitliche Naturgesetzlichkeit der gedachten Außenwelt so beschaffen sein müsse, daß sich ihr unsere deutungslos gegebenen Empfindungen bzw. auch unsere deutungserfüllten Wahrnehmungen restlos zuordnen lassen. Individualbegrifflich sind auch unter dieser Bedingung unendlich viele Wirklichkeiten möglich. Aber es fragt sich, ob sie dann noch allgemeinbegrifflich voneinander unterschieden sind. Die tatsächliche Entwicklung der Physik zeigt uns nun, daß dies nicht der Fall ist. Wir können vielmehr beobachten, daß das physikalische Weltbild mit dem Fortschritte unserer Erkenntnisse immer einheitlicher und geschlossener wird, daß immer mehr Differenzen seiner Gestaltung als unbrauchbar ausgeschieden werden, und daß es den Anschein gewinnt, als ob es letzten Endes nur eine einzige
Die Einzigkeit der gedachten Außenwirklichkeit
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gedachte Außenwirklichkeit gibt, die den Anforderungen der Physik genügt. Diese Tatsache hängt mit der Bedingung, daß die gedachte Außenwirklichkeit unseren Empfindungen zugeordnet sein müsse, eng zusammen. Das wird leicht verständlich, wenn man bedenkt, daß sich •das, was uns unsere Empfindungen darbieten, durch immer wieder andere Beobachtungen kontrollieren und unter experimentelle Bedingungen stellen läßt. Jeder Willkür in der Gestaltung der gedachten Außenwirklichkeit wird damit ein Riegel vorgeschoben. Denn es wird nunmehr verlangt, daß sich alle Eigenschaften, die wir der gedachten Außenwirklichkeit zuschreiben, in ihren Konsequenzen durch Beobachtungen und Experimente auf dem Zuordnungsgebiete der Empfindungen bestätigen lassen. Und die Praxis solcher Beobachtungen und Experimente zeigt uns, daß sich unter allen möglichen Eigenschaften, die wir der gedachten Außenwirklichkeit in irgendeiner bestimmten Hinsicht beilegen, auf die Dauer immer nur eine einzige halten läßt. Mit anderen Worten: die These, daß es beliebig viele gedachte Außenwirklichkeiten gäbe, erweist sich, ganz gleich ob sie theoretisch haltbar ist oder nicht, als praktisch unhaltbar. Vielmehr kennt die Physik in Wahrheit nur eine einzige gedachte Außenwirklichkeit. Dann aber mag es wohl richtig sein, daß diese letztere ein praktisches Hilfsmittel zur Beschreibung unserer Empfindungen bzw.Wahrnehmungen bildet. Zugleich jedoch verhält sie sich kraft ihrer Einzigkeit ebenso wie ein System, das den Anspruch erheben könnte, auf eine an sich bestehende Außenwirklichkeit zuzutreffen, dh. in dem von uns bezeichneten Sinne wahr zu sein. Im Uebrigen sei hier noch darauf hingewiesen, daß man im Hinblicke auf die angebliche Manichfaltigkeit der gedachten Außenwirklichkeit zweierlei nicht miteinander verwechseln darf. Es ist nämlich unter Umständen möglich, eine und dieselbe Eigenschaft identisch desselben Bestandes auf verschiedene Weisen zu beschreiben, dh. verschiedene Begriffe auf sie anzuwenden. Inwieweit solche verschiedenen Beschreibungsweisen voneinander unabhängig sind, das soll hier nicht näher untersucht werden. In jedem Falle kann die Möglichkeit, in diesem Sinne auch die gedachte Außenwirklichkeit auf verschiedene Weisen zu beschreiben, ohne Weiteres eingeräumt werden. Aber man darf die Verschiedenheit der Beschreibung eines und desselben Bestandes nicht mit einer Verschiedenheit dieses Bestandes selber verwechseln. Die Verschiedenheit einer Beschreibung der gedachten Außenwirklichkeit zugegeben, bleibt daher diese Außenwirklichkeit selbst, die ihrerseits wieder ein Beschreibungsmittel sein soll, nichtsdestoweniger als eine einzige bestehen. 12*
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Ist so der auf einer angeblichen Multiplizität der gedachten Außenwirklichkeit begründete Unterschied zwischen dieser und der transzendenten Außenwirklichkeit praktisch hinfällig, so zeigt es sich auf der anderen Seite, daß auch die Voraussetzung, man könne durch die Einführung einer nur gedachten Außenwirklichkeit ohne Transzendenz auskommen, auf einem Irrtume beruht. Die in der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit aufgestellte Behauptung, eine solche nur gedachte Konstruktion gehöre mit zu der Erfahrung, leidet an offenbaren Unklarheiten. Denn daß das, was dort als eine angebliche Hilfskonstruktion gedacht wird, nicht in demselben Sinne eine sogenannte Erfahrung bildet wie das deutungslos Gegebene der Empfindungen, fällt auch bei einer oberflächlichen Betrachtung des Sachverhaltes in die Augen. Aus unseren früheren Erörterungen geht hervor, daß diese Unklarheit auf eine Verwechselung zwischen dem ontologischen Bezirke und dem gnoseologischen Bereiche unseres Bewußtseins beruht. Die gedachte Außenwirklichkeit liegt nicht in jenem sondern nur in diesem. Sie liegt wie alle bloß gedachten Bestände nicht innerhalb sondern jenseits des ontologischen Bezirkes unseres Bewußtseins. Und zwar liegt sie nicht nur tätsächlich sondern auch grundsätzlich jenseits dieses Bezirkes. Eben hierauf beruhte es, daß wir sie weder wahrnehmen noch vorstellen konnten. Dieses letztere müßte der Fall sein, wenn die gedachte Außenwirklichkeit zu unserer Erfahrung gehörte. Sie gehört aber nicht zu ihr, steht vielmehr, wie wir sahen, zu allen erfahrbaren Beständen in einem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung. Daher ist sie uns nicht immanent sondern transzendent. Daran wird durch den Umstand, daß sie nur von uns gedacht werden soll, nichts geändert. Fragt man aber, wie man auf die Annahme kommen konnte, die gedachte Außenwirkliehkeit gehöre mit zu unserer Erfahrung, so liegt auf der Hand, daß es sich hier um eine Verwechselung zwischen Denken und Gedachtem handelt. Denn unser Denken der gedachten Außenwirklichkeit liegt als ein psychischer Akt allerdings in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins. Dagegen liegt die gedachte Außenwirklichkeit selber als der Gegenstand eines solchen Denkens außerhalb dieses Bezirkes. Sie ist nicht etwa das Denken, durch das sie erfaßt wird, sondern das von diesem Denken Erfaßte. Zu diesem Erfaßten als solchem gehört das in unserer Erfahrung auftretende Denken in keiner Weise. Es ist freilich richtig, daß solchen nur gedachten Beständen kein von unserem Denken unabhängiges ontologisches Sein zukommt. Sie haben vielmehr nur ein ideales
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Sein. Aber daraus, daß ein solches ideales Sein von unserem Denken gesetzt wird, geht noch nicht hervor, daß es wie dieses von psychischer Natur und uns immanent sei. Es wird im Gegenteile als etwas gedacht, das an sich selbst mit psychischen Beständen nichts zu tun hat und uns transzendent ist. Mit der Vermeidung einer Transzendenz durch die gedachte Außenwirklichkeit ist es also nichts. Sie ist unserem Bewußtseinsbezirke als ein ideales System ebenso transzendent, wie es die transzendente Außenwirklichkeit als ein ontologisches ist. Allein, so könnte noch eingewandt werden, die gedachte Außenwirklichkeit hat dennoch einen Vorzug. Denn da sie von uns selbst gesetzt ist, so brauchen wir nichts von ihr zu behaupten als das, was wir ihr aus freiem Ermessen zuschreiben. Sie ist uns daher insoweit erkennbar. Dagegen ist uns eine transzendente Außenwirklichkeit, da sie von unserem freien Ermessen unabhängig ist, um ihrer Transzendenz willen schlechterdings unerkennbar. Oder anders ausgedrückt: die gedachte Außenwirklichkeit transzendiert zwar den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins, nicht aber den Bereich unserer Erkenntnis. Dagegen ist die transzendente Außenwirklichkeit auch diesem letzteren Bereiche transzendent. Ein solcher Einwand wäre unzutreffend. Denn erstens ist es nicht richtig, daß wir mit der gedachten Außenwirklichkeit nach freiem Ermessen schalten können. Vielmehr erkannten wir, daß uns in ihrer Gestaltung bestimmte Bedingungen gestellt sind, die unserer Willkür einen Riegel vorschieben und tatsächlich nur eine einzige gedachte Außenwirklichkeit zulassen, bei deren Ausgestaltung wir durch die Vorschrift einer Zuordnung zu unseren Empfindungen in ähnlicher Weise gebunden sind wie bei der Ausgestaltung einer von uns unabhängigen wirklichen Welt. Zweitens aber wäre es auch falsch anzunehmen, daß wir uns die gedachte Außenwirklichkeit in beliebigem Grade erkennbar machen könnten. Wir haben sie uns vielmehr, wie wir sahen, so zu denken, daß wir lediglich ihre abstrakt geometrischen Bezugsverhältnisse erkennen können. Und drittens endlich ist es nicht richtig, daß eine uns transzendente Außenwirklichkeit eben deshalb auch unerkennbar sei. Vielmehr kann, wie wir gesehen haben, auch das uns ontologisch Transzendente erkennbar sein, da der Bereich unserer Erkenntnis in jedem Falle über den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins hinausragt. Der weitere Verlauf unserer Untersuchungen aber wird uns zeigen, daß wir die uns transzendente Außenwirklichkeit in demselben Umfange und in denselben Hinsichten erkennen können, wie die gedachte Außenwelt. Ist das der Fall, so besteht auch nach dieser Richtung zwischen der gedachten und der uns
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Die Lehre von der gedachten AuBenwirklichkeit
transzendenten ontologischen Außenwirklichkeit kein grundsätzlicher Unterschied. Im Hinblicke auf ihre Einzigkeit und auf ihre Transzendenz sind die gedachte und die transzendente Außenwirklichkeit einander gleichwertig. In anderen Hinsichten ist die transzendente Außenwirklichkeit der nur gedachten überlegen. Das trat schon bei unseren Erörterungen über die Hilflosigkeit dieser letzteren den deutungslosen Empfindungen gegenüber zutage. Noch krasser zeigt die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit ihre Kehrseiten, wenn wir die Frage stellen, worin denn eigentlich die ontologische Wirklichkeit bestehen solle, wenn unsere immanente Wahrnehmungswelt versagt, wenn es eine transzendente Außenwirklichkeit nicht geben soll, und wenn die Außenwirklichkeit, von der die Physik spricht, nur ein Gedankengebilde ist. Die Antwort, die uns auf diese Frage erteilt wird, lautet zunächst, daß eben nur die deutungslos gegebenen Empfindungen als wirklich angesehen werden könnten. Von diesen Empfindungen aber sahen wir, daß sie zwar gewisse Ansätze zu einer Naturgesetzlichkeit boten, daß diese Ansätze dagegen nicht dazu hinreichten, um einen in sich geschlossenen Zusammenhang konkreter Bestände zu bilden. Und unsere Untersuchungen haben uns außerdem gezeigt, daß es, um dies zu erreichen, nicht nur einer Ergänzung, sondern auch einer grundsätzlichen Umwandelung der uns gegebenen Empfindungen bedarf. Denn in einen geschlossenen Naturzusammenhang paßten nur die gedachten Aequivalente unserer Empfindungen hinein, nicht dagegen diese selbst. Wir hätten also als das ontologisch allein Wirkliche ein Empfindungschaos zu betrachten, das zwar auf einen naturgesetzlichen Zusammenhang hinweist, in sich selbst aber einen solchen Zusammenhang weder tatsächlich besitzt noch grundsätzlich seiner fähig ist. Eine solche Auffassung des ontologisch Wirklichen hat wenig für sich. Und zwar umso weniger, als sich unsere von diesem Empfindungschaos wesentlich verschiedenen immanenten Wahrnehmungsdeutungen in der Praxis des täglichen Lebens immer wieder bewähren. Wie das kommt, vermag die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit nicht zu erklären. Wohl aber ist umgekehrt offenbar, daß eine solche Bewährung durch die ausschließliche Wirklichkeit eines bloßen Empfindungschaos verhindert werden müßte. Vor eine verwandte Schwierigkeit sieht sich die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit durch die Frage nach der Wirklichkeit des Fremdbewußtseins gestellt. Es gehört zu den Thesen jener Lehre,
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daß auch das Bewußtsein nur eine besondere Art des Zusammenhanges zwischen deutungslos gegebenen Empfindungen sei. Ob diese These haltbar ist, bleibe hier unerörtert. Jedenfalls führt das Auftreten von verschiedenen Bewußtseinssystemen, wenn man alles Transzendente als bloße Gedankenkonstruktionen betrachtet, zu eigentümlichen Schwierigkeiten. Denn das Fremdbewußtsein ist uns, wie unsere früheren Untersuchungen zeigten, nicht nur tatsächlich sondern auch grundsätzlich transzendent. Sollen wir dementsprechend annehmen, das Bewußtsein des anderen sei unsere bloße Gedankenkonstruktion, nicht aber etwas an sich selbst Wirkliches? Diese Annahme würde dazu führen, daß der andere von uns als jemand gedacht werden müßte, der seinerseits auch unser eigenes Bewußtsein als seine bloße Gedankenkonstruktion ausgibt. Und doch wissen wir, daß wir auch ohne die Gedanken des anderen wirklich sind. Wir wären also zu der seltsamen These gezwungen, daß die Methodik unserer Fremdbewußtseinsrealisation zwar für uns selbst richtig, für die gedachten anderen Wesen dagegen falsch sei. Es erübrigt sich, die Konsequenzen, die sich aus den ontologischen Voraussetzungen der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit ergeben, weiter auszuspinnen. Denn unter welchen Gesichtspunkten man sich auch mit diesen Voraussetzungen beschäftigen mag, überall führt ihre nähere Untersuchung zu Wirklichkeitsbildern, die den Stempel ihrer Haltlosigkeit an der Stirne tragen. Fragt man nach den Ursachen dieses Fehlschlages, so offenbaren sie sich in dem Umstände, daß diejenigen Bestände, die in der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit als selbständige Gebilde angesprochen werden, einer solchen Selbständigkeit tatsächlich ermangeln und sich vielmehr als unselbständige Bruchstücke eines sie überragenden ontologischen Gesamtgefüges geben. Dieses Gesamtgefüge, insoweit seine Außenwirklichkeitssystematik in Betracht kommt, darzustellen, war die Aufgabe der gedachten Außen Wirklichkeit. Aber da die letztere als eine nur gedachte in einem anderen gegenstandstheoretischen Felde liegt als ihre ontologischen Voraussetzungen, so kann sie diesen auch nicht die ontologische Ergänzung geben, deren sie als in sich unselbständige Bruchstücke bedürfen. Dazu wäre es vielmehr nötig, daß die gedachte Außenwirklichkeit nicht nur gedacht würde, sondern vielmehr zugleich ein ontologisch an sich bestehendes System bildete, und daß unsere deutungslos gegebenen Empfindungen in einem Realzusammenhange mit ihr stünden. Mit anderen Worten: um zu einem vollständigen und in sich geschlossenen Wirklichkeitsbilde zu gelangen, haben wir die Annahme,
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daß die gedachte Außenwirklichkeit eine nur gedachte sei, aufzugeben und sie stattdessen als ein System von demselben ontologischen Charakter zu betrachten wie jene deutungslosen Empfindungen, zu deren blosser Beschreibung sie dienen sollte. In diesem Sinne pflegt in der physikalischen Praxis die gedachte Außenwirklichkeit auch stets verwertet zu werden. Man behandelt sie hier nicht wie ein bloßes Gedankengebilde, sondern weist ihr vielmehr die Aufgabe zu, das Verhalten der von uns beobachteten Bestände kausal zu erklären. Dh. man stellt sie mit den deutungslos gegebenen Empfindungen in einen und denselben Realzusammenhang und betrachtet sie daher als ebenso wirklich wie diese selbst. Vollzieht man aber diesen Schritt, so identifiziert man eben damit, wie der weitere Verlauf unserer Untersuchungen zeigen wird, die gedachte mit der transzendenten Außenwirklichkeit. Die letztere, die Bewußtseinssysteme, die in diesen auftretenden deutungslosen Empfindungen und die immanente Wahrnehmungswelt bilden dann einen komplexen Gesamtzusammenhang, in dem sich diejenigen Bestände, die die ontologischen Voraussetzungen der gedachten Außenwirklichkeit bildeten, mit dem Bedeutungsgehalte dieser letzteren selbst als einem ebenfalls ontologischen Systeme wechselseitig ergänzen und erklären. Die gedachte Außenwirklichkeit führt uns das, was unsere Wahrnehmungswelt mangelhaft und unvollständig darbietet, fehlerfrei und vollendet vor. Insofern spielt sie gewissermaßen die Rolle eines Ideals, dem unsere immanente Wahrnehmungswelt zustrebt, ohne es zu erreichen. Sie ist ein vervollkommnetes Modell dieser letzteren. Wird ein solches Modell aber nur gedacht, und besteht zwischen ihm und den Mängeln der Wahrnehmungswelt keine Realverbindung, wird also keine transzendente Außenwirklichkeit angenommen, so erhebt sich nunmehr neben der Frage nach den ontologischen Voraussetzungen zugleich die andere Frage nach dem greifbaren Sinne der gedachten Außenwirklichkeit. Ist sie nur ein Ausdruck für unsere intellektuelle Unzufriedenheit mit den Mängeln der Wahrnehmungswelt? Dann wäre sie eine Utopie und stünde unserer Wahrnehmungswelt so gegenüber wie die Utopie eines vollkommenen Staates den Mängeln der wirklichen Staaten gegenübersteht. Die Utopie eines vollkommenen Zustandes aber dient weder zur Beschreibung noch zur Erklärung der unvollkommenen Zustände. In derselben Lage befinden wir uns mit einer nur gedachten Außen Wirklichkeit, wenn ihre Identität mit der transzendenten Welt geleugnet wird. Sie zeigt
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uns dann wohl, wie die Wahrnehmungswelt beschaffen sein müßte, wenn man sie von ihren Unvollkommenheiten befreien könnte. Sie zeigt uns aber nicht, wie es kommt, daß unsere Wahrnehmungswelt tatsächlich anders beschaffen ist. Daher kann sie dann auch nicht dazu dienen, die tatsächliche Beschaffenheit der letzteren zu beschreiben, geschweige denn sie zu erklären. Zu diesem Zwecke bedürfte es, wie wir soeben gesehen haben, vielmehr der Einführung einer mit unserer Wahrnehmungswelt in Realverbindung stehenden transzendenten Außenwirklichkeit. Auch unter dieser Voraussetzung könnte man aber geneigt sein, das Prinzip der gedachten Außenwirklichkeit noch beizubehalten. Man hätte dann den Sachverhalt dahin zu interpretieren, daß eine solche Außenwirklichkeit nun zwar kein Modell mehr für unsere Empfindungen oder für die immanente Wahrnehmungswelt sei, wohl aber ein solches für die transzendente Außenwirklichkeit. Wir beanspruchen, so könnte man argumentieren, mit unseren Gedankenkonstruktionen nicht die transzendente Außenwirklichkeit selber zu beschreiben, denn von ihr wissen wir nichts; wohl aber wollen wir etwas bieten, das an die Stelle der transzendenten Außenwirklichkeit gesetzt werden kann. Denn diese letztere mag beschaffen sein, wie sie wolle, in jedem Falle verhalten sich die von uns beobachteten Empfindungsbestände so, als ob sie mit dem von uns gedachten Systeme in einem kausalen Zusammenhange stünden. Mit dieser Auffassung der Sachlage könnte sich die Transzendenzontologie nach mancher Hinsicht zufriedengeben. Sie würde sie aber für eine durch ein Mißverständnis logischer Bezugsverhältnisse bedingte Verwechselung zwischen Modell und Urteilsmeinung erklären. Der Begriff des Modells ist der Technik entnommen. In dieser dient das Modell als eine Vorlage, nach der ein anderer Gegenstand hergestellt wird. Es würde sich also fragen, ob die gedachte zu der transzendenten Außenwirklichkeit in einem solchen Verhältnisse steht. Die Antwort hierauf lautet, daß dies nicht der Fall ist. Denn nicht die transzendente sondern die gedachte Außenwirklichkeit wird hergestellt. Es müßte also nicht diese ein Modell jener sein, sondern umgekehrt jene ein Modell dieser. Aber auch das ist nicht möglich, da uns die transzendente Außenwirklichkeit nicht vorliegt. Eher könnte man davon sprechen, daß in diesem Sinne die immanente Außenwirklichkeit ein Modell der gedachten sei. Denn tatsächlich pflegen wir die letztere nach dem Muster unserer Wahrnehmungswelt zu denken. Doch das soll uns hier nicht weiter kümmern. Jedenfalls stehen die gedachte und die transzendente Außenwirklichkeit nicht
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insofern in einem Modellverhältnisse, als ob die eine nach dem Muster der anderen hergestellt würde. Allein man könnte versuchen, die Anwendung des Modellbegriffes auf dieses Verhältnis noch nach einer anderen Richtung hin ¿u rechtfertigen. Denn, so könnte man sagen, wie Modell und Ausführung nicht ein und derselbe Gegenstand sind, sondern zwei zwar allgemeinbegrifflich einander mehr oder minder ähnliche, individualbegrifflich aber voneinander verschiedene Gegenstände, so sind auch die gedachte und die transzendente Außenwirklichkeit nicht ein und dasselbe System, sondern zwei voneinander zu unterscheidende. Eine kurze Erwägung zeigt jedoch, daß dies nicht der Fall ist. Und zwar deshalb nicht, weil, wie soeben dargelegt wurde, die gedachte Außenwirklichkeit ihren Sinn verliert und zu einer bloßen Utopie wird, wenn wir nicht den ontologischen Tatbestand unserer Beobachtungen in ihren Kausalzusammenhang hineinstellen. Tun wir dies aber, so behandeln wir die gedachte Außenwirklichkeit als dasjenige ontologische Wirklichkeitssystem, zu dem auch unsere Empfindungen als solche gehören, und dieses System ist die transzendente Außenwirklichkeit selber. Tun wir es dagegen nicht, so können wir das Verhalten unserer Empfindungen durch die gedachte Außenwirklichkeit, wie wir soeben gesehen haben, auch nicht erklären. Es gehört also zu dem Sinne dieser letzteren als eines Erklärungsprinzips, daß sie kein bloßes Modell der transzendenten Außen Wirklichkeit ist, sondern vielmehr darauf ausgeht, diese selbst zu beschreiben. Wir wollen, um die hier waltenden Verhältnisse genauer zu verstehen, der physikalischen Theorie von dem Wesen der Modelle noch weiter nachgehen. Fragt man nach den sachlichen Motiven, die zu der Lehre von der gedachten als einem bloßen Modelle der transzendenten Außenwirklichkeit führen konnten, so findet man, daß den Anlaß hierzu in erster Linie eine Art von wissenschaftlicher Bescheidenheit bot. Denn die Entwicklung der Physik zeigt uns, daß ihre Theorien immer wieder umgewandelt bzw. auch durch andere Theorien ersetzt werden müssen. Man sagte sich daher, daß der Bedeutungsgehalt solcher Theorien und die uns transzendente Außenwirklichkeit selber nicht miteinander identisch sondern wie Modell und Ausführung einander höchstens ähnlich sein können. Damit hatte man die eine Seite des Sachverhaltes ohne Zweifel richtig gekennzeichnet. Aber man übersah die andere Seite, nämlich die, daß nichtsdestoweniger alle solche Theorien auf die transzendente Außenwirklichkeit selber gemünzt sind, daß also zwischen ihnen und dieser jene eigentümlichen Identitäts- und Widerspruchsverhält-
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nisse walten, die für die Beziehungen jeder falschen Urteilsmeinung zu dem wahren Sachverhalte charakteristisch sind, und deren logische Struktur wir in dem vorangegangenen Kapitel ausführlich behandelt haben. Demnach ist der Bedeutungsgehalt einer physikalischen Theorie mit dem entsprechenden Sachverhalte in der transzendenten Außenwirklichkeit individualbegrifflich stets identisch, denn sonst verlöre jene Theorie ihren Sinn. Allgemeinbegrifflich aber kann sie mehr oder minder von ihm abweichen. Und der Fortschritt unserer physikalischen Erkenntnis besteht darin, daß sich diese Abweichungen verringern. Insoweit sie noch vorhanden sind, ist der Bedeutungsgehalt unserer Theorien falsch. Insoweit sie geschwunden sind, ist er mit dem transzendenten Sachverhalte nunmehr nicht nur individualbegrifflich sondern auch allgemeinbegrifflich identisch und daher wahr. Mit anderen Worten: die Lehre von dem bloßen Modellcharakter der physikalischen Theorien beruht auf einem Mißverständnisse über das logische Wesen der falschen Urteilsmeinungen. Aus der Tatsache des allgemeinbegrifflichen Widerspruches zwischen jeder falschen Urteilsmeinung und dem wahren Sachverhalte schloß man, daß zwischen ihnen zugleich auch eine individualbegriffliche Differenz bestehen müsse, und daß sich daher der Bedeutungsgehalt physikalischer Theorien, insoweit sie falsch sind, zu den ihnen entsprechenden wirklichen Sachbefunden im günstigsten Falle so verhalte, wie sich ein Modell zu seiner Ausführung verhält. Dieser Schluß lag nahe, war aber nichtsdestoweniger unzutreffend. Denn trotz jenes allgemeinbegrifflichen Widerspruches ist, wie wir seinerzeit dargetan haben, der Bedeutungsgehalt jeder falschen Urteilsmeinung mit dem von ihr gemeinten Sachverhalte individualbegrifflich identisch. Er tritt zu diesem also nicht in das Verhältnis einer bloß modellartigen Zuordnung, sondern vielmehr in das jener merkwürdigen Ueberschneidung, deren logische Struktur wir in dem vorangegangenen Kapitel beschrieben haben. Hiervon machen auch die in der Physik ebenso wie in anderen Wissenschaften gelegentlich benutzten Bilder und Vergleiche keine Ausnahme. Sie dienen dazu, die wahren Sachverhalte selbst zu veranschaulichen und sind wie die unmittelbaren Urteilsmeinungen in ihrem tertium comparationis eben auf diese Sachverhalte gemünzt. Sonst hätten sie keinen Sinn. Im Zusammenhange mit dem Bescheidenheitsmotive in der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit steht ein anderes Motiv, das sich mit dem soeben geschilderten logischen Mißverständnisse berührt und aus der bekannten Verwechselung zwischen dem ontologischen
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Bezirke und dem gnoseologischen Bereiche unseres Bewußtseins hervorgeht. Die transzendente Außenwirklichkeit ist eine solche, die jenseits unseres Bewußtseinsbezirkes an sich besteht. Die gedachte Außenwirklichkeit dagegen besteht, ganz gleich wie es sich mit ihrer Lage zu unserem Bewußtseinsbezirke verhält, jedenfalls für uns. Wie aber kann, so mag man argumentieren, das jenseits unseres Bewußtseinsbezirkes an sich und das für uns Bestehende miteinander identisch sein? Das ist nicht möglich. Daher muß dieses als von jenem verschieden und, insoweit zwischen beiden ein Zuordnungsverhältnis herrscht, als sein Modell betrachtet werden. Aus unseren früheren Erörterungen über die Gnoseologie des Bewußtseins und den Begriff der Wahrheit geht hervor, daß auch diese Argumentation auf einem Irrtume beruht. Das, was gnoseologisch für uns besteht, also auch der Bedeutungsgehalt physikalischer Theorien, kann nichtsdestoweniger unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke transzendent und mit einem jenseits von ihm liegenden Ansichbestande identisch sein. Wäre es anders, so könnten wir immer nur unsere eigenen Bewußtseinsbestände meinen. Jede Rede von einer Außenwirklichkeit wäre dann unmöglich. Daß sie trotzdem möglich ist, zeigt uns, daß jener grundsätzliche Widerstand gegen eine Identität zwischen Ansich und Füruns nicht zu Recht besteht. Die Einführung einer gedachten Außenwirklichkeit als eines bloßen Modells ist also auch in dieser Beziehung unbegründet. Endlich liegt der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit noch ein drittes Motiv zugrunde. Dieses Motiv hängt mit der Erkenntnis zusammen, daß sowohl unsere deutungslos gegebenen Empfindungen als auch unsere immanente Wahrnehmungswelt schon wegen der in ihnen auftretenden eigentümlichen Sinnesqualitäten und Ganzheitsphänomene einen grundsätzlich anderen Charakter tragen und daher auch ontologisch einem anderen Bereiche angehören dürften als die Strukturen, die in der gedachten Außenwirklichkeit auftreten. An dieser Erkenntnis ist etwas Richtiges. Aber verfehlt wäre es, wenn man aus ihr schließen wollte, daß die der gedachten Außenwirklichkeit beigelegten Strukturen um ihres Unterschiedes von unseren Empfindungen und Wahrnehmungen willen nunmehr überhaupt nicht in der ontologischen Systematik unserer Wirklichkeit untergebracht werden könnten. Der Aufbau der Transzendenzontologie wird uns vielmehr zeigen, daß die in der gedachten Außenwirklichkeit geschilderten Strukturen zwar in einem anderen Felde liegen als unsere Empfindungen und Wahrnehmungen, aber demselben ontologischen Gesamtzusammenhange wie diese angehören. Es wird also auch
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durch die ontologische Artverschiedenheit zwischen unseren Sinnesgegebenheiten und der gedachten Außenwirklichkeit nicht begründet, daß diese letztere ein bloßes Gedankengebilde und als solches nur ein Modell der transzendenten Außenwirklichkeit sei. In Wahrheit hat das, was die Physik als gedachte Außenwirklichkeit einführt, den Wert einer mit dem Vorbehalte des Irrtums versuchten Beschreibung der transzendenten Außen Wirklichkeit selber. Hierin schlägt die Physik grundsätzlich kein anderes Verfahren ein als andere Wissenschaften auch. Keine Wissenschaft behauptet, unfehlbar zu sein. Alle behalten sich die Möglichkeit eines Irrtums vor. Aber darum behaupten sie noch nicht, mit bloßen Modellen zu arbeiten, münzen ihre Theorien vielmehr auf den von ihnen gemeinten Sachverhalt selber. So muß sich zB. auch der Historiker oft genug mit Vermutungen begnügen, von denen er weiß, daß sie den geschichtlichen Tatsachen möglicherweise nicht entsprechen. Aber er betrachtet deshalb seine Geschichtsdarstellung nun nicht etwa als ein bloßes Modell des wahren Sachverhaltes. Er stellt seine Vermutungen auch nicht etwa auf, um das ihm vorliegende Aktenmaterial möglichst zweckmäßig zu beschreiben. Er will mit ihnen vielmehr, wenn auch mit dem Risiko des Irrtums, den historischen Sachverhalt als solchen treffen. Der Physiker befindet sich in derselben Lage. Er konstruiert seine gedachte Außenwirklichkeit nicht, um mit ihr das ihm vorliegende Empfindungsmaterial möglichst zweckmäßig zu beschreiben, sondern er schildert durch sie die Sachverhalte in der transzendenten Außenwirklichkeit selber, wenn er sich auch vorbehalten muß, daß nicht alles, was er schildert, richtig ist und manches nur zur Veranschaulichung dient. Auch seine Theorien sind daher keine bloßen Modelle sondern Versuche, die Wahrheit selbst zu treffen. Blicken wir auf die Erörterungen dieses Kapitels zurück, so wird nunmehr deutlich, was der gedachten und der transzendenten Außenwirklichkeit gemeinsam ist, und was sie voneinander unterscheidet. Gemeinsam ist ihnen zunächst, daß sie beide die Außenwirklichkeitsansprüche unserer Wahrnehmungswelt ablehnen, als spezifisch ontologischen Faktor in ihr nur die Empfindungen anerkennen und die Außenwirklichkeit als ein von diesen individual- und allgemeinbegrifflich verschiedenes System auffassen. Gemeinsam ist ihnen ferner der gesamte innere Aufbau dieses Systems. Denn die gedachte und die transzendente Außenwirklichkeit tragen dasselbe unanschauliche Wesen ihrer Konkretheit, dieselbe Raum- und Zeitsystematik, dieselbe Vollständigkeit ihres Bestandmaterials und dieselbe Ge-
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schlossenheit ihres naturgesetzlichen Zusammenhanges. Sie gleichen einander ferner in allem, was an ihnen erkennbar und unerkennbar ist. Und sie gleichen sich endlich in ihrem Zuordnungsverhältnisse zu unseren Empfindungen bzw. zu unseren Wahrnehmungen. Wir haben daher in den Grundzügen der gedachten zugleich auch die Grundzüge der transzendenten Außenwirklichkeit kennen gelernt. Auf der anderen Seite aber erkannten wir, daß zwischen diesen beiden Wirklichkeitstypen ein entscheidender Unterschied besteht. Er betrifft ihre gegenstandstheoretische Stellung. Nach der Lehre •von der gedachten Außenwirklichkeit ist diese letztere eine lediglich für uns bestehende Gedankenkonstruktion. Dagegen ist sie nach transzendenzontologischer Auffassung zugleich ein ontologisch an sich bestehendes System, zu dem unsere Gedankenkonstruktionen als Urteilsmeinungen, insoweit sie wahr sind, in dem Verhältnisse der Identität und, insoweit sie falsch sind, in dem von uns gekennzeichneten Ueberschneidungsverhältnisse stehen. Dem entspricht es, daß in jener ersteren Lehre die gedachte Außenwirklichkeit, da sie in einem anderen gegenstandstheoretischen Felde liegt, gegen unsere Empfindungen isoliert ist. Dagegen stehen nach transzendenzontologischer Auffassung Außenwirklichkeit und Empfindungen in einem und demselben ontologischen Gesamtzusammenhange. Infolgedessen werden die Zuordnungsverhältnisse zwischen der Außenwirklichkeit und unseren Empfindungen bzw. Wahrnehmungen in der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit willkürlich von uns gesetzt. Dagegen sind sie nach transzendenzontologischer Auffassung durch Kausalbeziehungen begründet. In allen Fragen, die mit diesen Differenzen der Auffassungsweise zusammenhängen, tritt die Transzendenzontologie zu den Grundforderungen der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit in Widerspruch. Im besonderen leugnet sie die angebliche Unerkennbarkeit des Transzendenten und lehnt unsere Beschränkung auf die Erfahrung im Hinblicke auf die Erkennbarkeit der Außenwirklichkeitsbestände ab. Sie betrachtet die letzteren vielmehr als grundsätzlich außerhalb unseres Erfahrungsbereiches liegend. Daher hat es nach ihrer Auffassung die Physik ausschließlich mit der transzendenten Außenwirklichkeit zu tun, auf welche letztere alle physikalischen Gleichungen gemünzt sind. Anderseits leugnet die Transzendenzontologie nicht, daß wir nur auf der Grundlage unserer Erfahrung und zwar speziell auf der unserer Empfindungen bzw. Wahrnehmungen zu einer Erkenntnis der transzendenten Außenwirklichkeit gelangen können. Denn, wie wir früher gesehen haben, können wir das uns ontologisch Transzendente nur
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in dem Umfange erkennen, in dem es sich durch kausale Beziehungen mittelbar innerhalb unseres Bewußtseinsbezirkes geltend macht. Die in diesem Bewußtseinsbezirke auftretenden Empfindungen oder Wahrnehmungen bilden daher unseren Erkenntnisgrund für die transzendenten Bestände. Dagegen bilden diese Bestände selbst kraft ihrer kausalen Beziehungen zu uns den Realgrund und zugleich den Gegenstand unserer Erkenntnis. Es ist also richtig, daß unsere Empfindungen oder Wahrnehmungen das Mittel für unsere Erkenntnis der Außenwirklichkeit sind. Sie sind darum aber nicht auch der Gegenstand dieser Erkenntnis, nämlich die Außenwirklichkeit selber. Dieses beides miteinander verwechselt zu haben, ist der Grundfehler der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit. Sie verwechselt die Fragestellung der Erkenntnislehre mit der Fragestellung der Ontologie. Jene fragt nach den Kriterien, die uns für die Erkenntnis der Außenwirklichkeit zur Verfügung stehen. Diese fragt nach dem Charakteristikum der zu erkennenden Außenwirklichkeit selber. Stellt man die erstere Frage, so ist es richtig, daß wir uns nur mit Empfindungen und Gedankenkonstruktionen weiterhelfen können. Diese sind darum aber nicht etwa die Außenwirklichkeit als solche. Denn stellt man die zweite Frage, so erweist es sich, daß von dem Bedeutungsgehalte des Außenwirklichkeitsbegriffes sowohl jene Empfindungen als auch der bloße Fürunsbestand von Gedankenkonstruktionen ausgeschlossen sind, und daß ihm ein außerhalb unseres Erfahrungsbereiches liegender ontologischer Ansichbestand zukommt. Ist das aber der Fall, so erkennen wir, daß durch die Lehre von der transzendenten Außenwirklichkeit jene Forderung erfüllt wird, die wir in der Einleitung zu diesem Kapitel gestellt haben, und die die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit nicht zu erfüllen imstande war. Denn es wird sich nunmehr zeigen, daß die in der immanenten Wahrnehmungswelt fälschlich miteinander identifizierten Faktoren, die Empfindungen und der Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes zwei zwar demselben Gesamtzusammenhange angehörige, aber in verschiedenen ontologischen Feldern liegende und daher voneinander gesonderte Komplexe bilden, deren wechselseitiges Bezugsverhältnis sowohl das Zustandekommen unserer immanenten Wahrnehmungswelt als auch die ihr anhaftenden Eigentümlichkeiten und inneren Widersprüche erklärt. Der näheren Darlegung dieser Beziehungen sind die nun folgenden Ausführungen gewidmet.
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Man pflegt die Transzendenz der Außenwirklichkeit unserem wahrnehmenden Bewußtsein gegenüber als eine ausgesprochen metaphysische Beziehung zu betrachten. Angesichts dessen haben wir uns zu fragen, was man in diesem Falle unter dem Begriffe des Metaphysischen versteht. Die nächstliegende Antwort darauf lautet, daß in dem hier bezeichneten Sinne als metaphysisch dasjenige betrachtet wird, was in der weitesten Bedeutung des Wortes grundsätzlich außerhalb des Bereiches unserer Erfahrung liegt. Diese Antwort ist richtig. Sie bedarf aber einer Erläuterung. Wenn man nämlich den hier gebrauchten Begriff eines Bereiches der Erfahrung prüft und diesen Begriff in jenem weitesten Sinne des Wortes nimmt, so findet man, daß zu einem solchen Bereiche nicht nur das uns tatsächlich oder wenigstens grundsätzlich Erfahrbare gehört, sondern daß in ihm auch gewisse Bestände auftreten, die uns schlechthin unerfahrbar sind. Es gehört zu ihm nämlich alles dasjenige, was mit den von uns tatsächlich erfahrenen Beständen in einem und demselben naturgesetzlichen Systemzusammenhange steht. Und in diesem Systemzusammenhange steht mancherlei, was uns tatsächlich wie grundsätzlich unerfahrbar bleibt. Dieser naturgesetzliche Zusammenhang, nicht aber die Gesamtheit der uns erfahrbaren Bestände wird hier unter dem Begriffe eines Bereiches der Erfahrung verstanden. Alles, was innerhalb dieses Systemzusammenhanges liegt, darf daher nicht als uns in einem metaphysischen Sinne des Wortes transzendent betrachtet werden, und zwar auch dann nicht, wenn es uns nach seinem individualbegrifflichen Bestände grundsätzlich transzendent und nach seiner allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit grundsätzlich unbekannt ist. Auf eine metaphysische Weise transzendent ist uns dagegen dasjenige, was zwar wirklich ist, aber als außerhalb des naturgesetzlichen Zusammenhanges unserer Wahrnehmungswelt stehend gedacht wird.
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Das wollen wir uns an einigen Beispielen klarmachen. Niemand wird von dem Standpunkte unserer Wahrnehmungswelt aus ein Gravitationsfeld als etwas Metaphysisches bezeichnen. Und doch ist uns, wie wir gesehen haben, ein derartiges Feld als solches unerfahrbar. Es ist uns sowohl transzendent als auch unbekannt. Denn es fehlt uns an einem Sinneswerkzeuge, vermittels dessen wir es wahrnehmen könnten. Wir vermögen es uns daher auch nicht einmal vorzustellen. An seiner Unerfahrbarkeit liegt es also nicht, wenn wir diesem Felde einen metaphysischen Charakter absprechen. Das hat einen anderen Grund. Das Schwerefeld erweist sich nämlich als ein Bestandstück desjenigen naturgesetzlichen Zusammenhanges, zu dem nach immanenzontologischer Auffassung auch die von uns beobachteten Wahrnehmungsbestände gehören. Sehen wir zB. ein Gewicht zur Erde fallen, so bringen wir seine von uns beobachtete Fallbewegung zu jenem tatsächlich nicht von uns beobachteten Gravitationsfelde in eine unmittelbare Kausalbeziehung und stellen eben damit dieses Feld in den Rahmen des geschlossenen naturgesetzlichen Zusammenhanges, den wir, wenn auch, wie sich früher zeigte, zu Unrecht unserer Wahrnehmungswelt zuschreiben. Dem entspricht es, daß wir diesem Schwerefelde außerdem eine bestimmte Stelle in dem von uns wahrgenommenen Räume anweisen, nämlich denjenigen Bezirk, innerhalb dessen der Fall des Gewichtes beobachtet wird. Das Schwerefeld als solches liegt freilich außerhalb unserer Immanenzsysteme. Aber da der naturgesetzliche Zusammenhang der letzteren ohne Schwerefeld lückenhaft wäre, so wird dieses durch eine fiktive Maßnahme von uns trotzdem in unsere Wahrnehmungswelt eingeführt und bildet dort gewissermaßen ein als zu dieser gehörend betrachtetes, im übrigen uns aber unbekanntes Aequivalent für das, was wir nicht beobachten können. Hierauf beruht es, daß wir solche Felder, trotz ihrer Transzendenz, in dem weitesten Sinne des Wortes zu dem Bereiche unserer Erfahrung rechnen und sie nicht als metaphysische Faktoren außerhalb, sondern als physische Faktoren innerhalb unserer Wahrnehmungswelt behandeln. Etwas Aehnliches gilt von unserem Verhältnisse zu den Bewußtseinssystemen der anderen Lebewesen. Diese letzteren sind uns, wie wir wissen, nicht nur tatsächlich sondern auch grundsätzlich transzendent. Ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit glauben wir allerdings durch die Methode der Fremdbewußtseinsrealisation mittelbar erschließen zu können. Wir glauben uns daher auch vorstellen zu können, was der andere erlebt. Individualbegrifflich aber können wir in sein Bewußtsein niemals eindringen, und keine auch noch so 13
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große Verfeinerung unserer Sinneswerkzeuge würde uns dazu verhelfen. Es kommt hinzu, daß das Bewußtsein des anderen wie unser eigenes Bewußtsein, insoweit seine inneren Systemcharaktere in Betracht kommen, außerdem keinen physischen, sondern einen überphysischen Charakter trägt. Wir können daher diese Transzendenz des Fremdbewußtseins auch nicht einmal als eine im eigentlichen Sinne physische, sondern müssen sie als eine überphysische ansehen. Trotzdem pflegen wir auch das Fremdbewußtsein nicht als einen metaphysischen Faktor zu betrachten. Der Grund hierfür liegt nicht darin, daß wir glauben, uns seine Beschaffenheit vorstellen zu können. Es ließen sich vielmehr auch metaphysische Wesen denken, deren Bewußtseinssysteme uns in gleicher Weise vorstellbar wären. Wohl aber ist das nichtmetaphysische Wesen des Fremdbewußtseins dadurch begründet, daß dieses letztere kraft der ihm eigenen und von seiner inneren Systematik de facto nicht trennbaren Außenkausalität wie alle anderen Außenwirklichkeitsbestände in unsere Wahrnehmungswelt eingreift. Alle uns bekannten Bewußtseinssysteme bilden insofern, wie wir früher gesehen haben, selber Außenwirklichkeitsfaktoren und scheinen als solche mit zu jenem naturgesetzlichen Zusammenhange zu gehören, zu dem auch die magnetischen und die Schwerefelder gehörten. Daher stehen sie zu uns trotz ihrer grundsätzlichen und überphysischen Transzendenz in keiner metaphysischen Beziehung. Denn dazu würde es gehören, daß sie außerhalb des von uns gekennzeichneten naturgesetzlichen Zusammenhanges stünden. Und das ist nicht der Fall. Anders verhielte es sich zB. mit dem Begriffe eines Gottes, dessen Reich nicht von dieser Welt wäre. Ein solcher Gott wäre als ein spezifisch metaphysisches Wesen gedacht. Zwar könnte auch diesem Gotte die Eigenschaft beigelegt werden, daß er in das Geschehen unserer Wahrnehmungswirklichkeit eingreift; ja es könnte ihm eine Allgegenwart in dieser letzteren zugeschrieben werden. Trotzdem wäre er kein physisches sondern ein metaphysisches Wesen. Denn in unserer Wahrnehmungswelt wäre er als solcher weder beobachtbar, noch würde er einen Teilfaktor in ihr bilden, der ihren naturgesetzlichen Zusammenhang ergänzte, und dem wir daher eine bestimmte Raumstelle in ihr zuweisen könnten. Er stünde vielmehr, trotz seines Eingreifens in das Geschehen unserer Wahrnehmungswelt, außerhalb ihres naturgesetzlichen, und trotz seiner Allgegenwart, außerhalb ihres räumlichen Zusammenhanges. Zu erklären, wie das in diesem Falle zu verstehen sei, bleibt eine Aufgabe der Theologie. Wir werden aber sogleich erkennen, daß ähnliche Verhältnisse
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auch in philosophischen Begriffsbildungen vorausgesetzt werden, und daß sie in der Transzendenzontologie ebenfalls auftreten. Wie es aber auch mit jenen theologischen Erklärungen bestellt sein mag, in jedem Falle wird Gott in der hier beschriebenen Fassung seines Begriffes von den Theologen als jemand gedacht, der gewissermaßen hinter unserer Wahrnehmungswirklichkeit steht, wobei der Begriff des Dahinterstehens natürlich nicht in einem immanenzräumlichen Sinne verstanden werden darf. Eben dies bedeutet es, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei. Eine funktionale Unabhängigkeit unserer Wahrnehmungswelt von diesem außerhalb ihrer stehenden und deshalb metaphysischen Reiche ist in einer solchen Begriffsbildung nicht eingeschlossen. Das wird deutlich, wenn wir auf verwandte Begriffsbildungen in der Geschichte der Philosophie zurückgreifen. Auch das platonische Reich der Ideen, wenn man es in einem ontologischen Sinne auffaßt, oder die Substanz Spinozas oder Kants Ding an sich oder Schopenhauers Wille sind gewissermaßen Reiche, die nicht von dieser Welt sind. Sie liegen außerhalb der Systematik unserer immanenten Wahrnehmungswirklichkeit und sind eben deshalb spezifisch metaphysische Gebilde. Das hindert aber nicht, daß unsere Wahrnehmungswelt von diesen metaphysischen Welten abhängt, ja angeblich mit ihnen identisch ist, und daß daher diese letzteren in dem Bereiche unserer Erfahrung eine Art von Allgegenwart haben. In diesem Sinne wird von jenen Denkern unsere Wahrnehmungswelt als eine Nachahmung der metaphysischen Wirklichkeit, als einer ihrer unendlichen Modi, als ihre Erscheinung, als ihre Vorstellung usw. aufgefaßt. Sie ist nach Maßgabe ihrer immanenzontologischen Ausgestaltung zwar in sich selbst naturgesetzlich wie räumlich geschlossen. Aber sie ist weder die einzige Wirklichkeit, noch ist sie selbständig. Denn in ihrem Hintergrunde und außerhalb ihrer Systematik liegen jene anderen Wirklichkeiten, von denen sie abhängt. Eben deshalb stehen diese letzteren zu ihr in keiner physischen, sondern in einer metaphysischen Beziehung. Aus diesen Erläuterungen wird nunmehr klar, weshalb wir auch in der Transzendenzontologie von der Außenwirklichkeit zu sagen pflegen, daß sie uns in einer metaphysischen Weise transzendent sei. Wir verstehen darunter, daß sie, ganz gleich wie es mit ihren Realbeziehungen zu unserer Wahrnehmungswelt bestellt sein mag, jedenfalls außerhalb der naturgesetzlichen und damit auch außerhalb der räumlichen Systematik dieser letzteren stehe. Interpretieren wir unsere Wahrnehmungswelt als ein System, das, wenn man die in ihm nicht 13*
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vorhandenen Faktoren durch jene unbekannten Aequivalente ergänzt, naturgesetzlich in sich geschlossen ist, und vergegenwärtigen wir uns, daß die Räume unserer Wahrnehmungswelten lückenlos und unendlich sind, so ist offenbar, daß die uns transzendente Außenwirklichkeit mit ihrer eigenen ebenfalls geschlossenen Naturgesetzlichkeit und mit ihrem ebenfalls unendlichen und lückenlosen Räume in keiner unserer Wahrnehmungswelten einen Platz findet. Aus unseren Immanenzsystemen führt daher zu der transzendenten Außenwirklichkeit weder energetisch noch räumlich irgendein Weg. Aber auch hier hindert dies nicht, daß unsere Wahrnehmungswelt trotzdem von der transzendenten Außenwirklichkeit funktional abhängt, und daß diese, insofern sie es ist, die wir in unseren immanenten Repräsentationen zu erfassen glauben, innerhalb unserer Wahrnehmungswirklichkeit eine Allgegenwart hat. Diese durch ihre Realbeziehungen zu uns nicht behinderte Stellung der transzendenten Außenwirklichkeit jenseits der gesamten naturgesetzlichen wie räumlichen Systematik unserer Wahrnehmungswelt ist der Grund, um dessenwillen wir sie als eine metaphysische zu betrachten pflegen. Es hängt mit dem hier beschriebenen Sachverhalte zusammen, daß, wenngleich nicht dieselben, so doch entsprechende naturgesetzliche und räumliche Bezugsverhältnisse wie die uns aus unseren Wahrnehmungswelten bekannten auch innerhalb der uns transzendenten Außenwirklichkeit vorkommen. Solche Bezugsverhältnisse sind als Bestandstücke dieser letzteren uns selbst zwar metaphysisch transzendent. Innerhalb der uns transzendenten Außenwirklichkeit als solcher aber sind es keine metaphysischen sondern physische Beziehungen. Denn sie stehen nicht außerhalb sondern innerhalb der Eigensystematik jener Außenwirklichkeit. Auf der anderen Seite steht unser wahrnehmendes Bewußtsein und mit ihm, wie wir soeben gesehen haben, unsere Immanenzwelt zu der uns transzendenten Außenwirklichkeit in funktionalen Abhängigkeitsbeziehungen. Unter diesen Umständen haben wir mit der Möglichkeit zu rechnen, daß in der transzendenzontologischen Situation, mit der es dieses Kapitel zu tun hat, unter anderem auch solche Beziehungen mitspielen, die zwar uns selbst, wie die gesamte transzendente Außenwirklichkeit, metaphysisch transzendent sind, die aber innerhalb der transzendenten Außenwirklichkeit als solcher lediglich einen physischen Charakter tragen. Eine genauere Untersuchung des Sachverhaltes zeigt uns, daß dies tatsächlich der Fall ist. Wenn wir uns nämlich die ontologischen Bezugsverhältnisse ansehen, die der Transzendenz zwischen der Außenwirklichkeit und
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unserem Bewußtsein zugrundeliegen, so läßt sich erkennen, daß ein Teil dieser Verhältnisse in dem soeben gekennzeichneten Sinne einen ausgesprochen physischen Charakter trägt. Dieser ihr physischer Charakter gehört seinem Wesen nach zu der transzendenten Außenwirklichkeit. Er ist aber, wenigstens teilweise, auch innerhalb der immanenten Repräsentationen unserer Wahrnehmungswelt zu beobachten. Wir stehen hier also vor der scheinbar paradoxen Situation, daß eben dieselben Bezugsverhältnisse, die, wie wir sehen werden, zu der Annahme einer metaphysischen Transzendenz der Außenwirklichkeit führen, nichtsdestoweniger als physische Bezugsverhältnisse innerhalb unserer immanenten Wahrnehmungswelt selber zur Darstellung gelangen. Mit diesen letzteren Verhältnissen werden wir es in dem hier vorliegenden Kapitel vornehmlich zu tun haben. Dagegen werden wir zwei weitere außerphysische Beziehungen, die sich innerhalb unserer transzendenzontologischen Situation mit jenen physischen Bezugsverhältnissen verbinden, nur insoweit behandeln, als es für das Verständnis der metaphysischen Konsequenzen erforderlich ist, die sich bereits aus jenen physischen Beziehungen ergeben, durch sie allein aber nicht erklärt werden können. Die Untersuchungen der beiden folgenden Kapitel werden uns dann zeigen, daß diese außerphysischen Beziehungen das eigentlich metaphysische Fundament der Transzendenzontologie bilden. Auch auf der Grundlage jener rein physischen Beziehungen aber läßt es sich schon zeigen, daß uns die Außenwirklichkeit als solche nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern daß wir sie nur mittelbar durch begriffliche Rekonstruktion erschließen können. Und es läßt sich ferner beweisen, daß ein großer Teil der dem immanenzontologischen Wirklichkeitsbilde anhaftenden Struktureigentümlichkeiten durch solche physischen Verhältnisse begründet ist. Eine nähere Untersuchung dieser unserer Außenwirklichkeitserkenntnis zugrundeliegenden physischen Beziehungen zeigt uns nun, daß durch sie nicht nur eine einzelne, sondern zwei verschiedene Arten der grundsätzlichen Transzendenz zwischen den Außenwirklichkeitsbeständen und unserem Bewußtseinsbezirke bedingt sind. Die eine dieser beiden Transzendenzen führt an und für sich noch nicht zu der von uns charakterisierten, jenseits unserer gesamten Wahrnehmungssystematik liegenden und uns daher metaphysisch transzendenten Außenwirklichkeit. Sie hat vielmehr das Besondere an sich, daß sie, wie jenes von uns behandelte Schwerefeld, für das uns keine Wahrnehmungen zur Verfügung stehen, mitten innerhalb unserer immanenten Außenwirklichkeitssysteme selber liegt und inso-
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fern keinen metaphysischen, sondern einen physischen Charakter trägt. Wir werden erkennen, daß mit dieser Art der Transzendenz eine besondere Form des Substanzproblems zusammenhängt, das sich insofern ebenfalls als ein nur scheinbar metaphysisches, in Wahrheit aber als ein physisches Problem erweist, während freilich eine weitere Ausgestaltung dieses Problems in metaphysische Gebiete führt. Eine Eigentümlichkeit der soeben charakterisierten Transzendenz ist es, daß sie einen uns unbekannten Gegenwert lediglich unserer Tast- und Sichtbestände betrifft. Dagegen betrifft die andere der genannten beiden Transzendenzen den Gegenwert aller Wahrnehmungsbestände ohne Unterschied und führt zu jener außerhalb unserer immanenten Systematik liegenden metaphysischen Außenwirklichkeit, deren Wesen wir gekennzeichnet haben, und die den eigentlichen Gegenstand der Transzendenzontologie bildet. In den nun folgenden Erörterungen werden wir uns zunächst mit der ersten Art dieser beiden Transzendenzen beschäftigen, um dann zu der Transzendenzontologie als solcher überzugehen. Bei unserer bisherigen Interpretation der Immanenzontologie haben wir stets vorausgesetzt, daß die in unserem Ueberschneidungsbezirke gemeinten außenwirklichen Bestände mit unseren deutungserfüllten Wahrnehmungen selbst identisch seien. Eine Nachprüfung dieser Voraussetzung zeigt uns nunmehr, daß dies, insoweit unsere Tast- und Sichtbestände in Betracht kommen, nicht zutrifft, und daß vielmehr das, was wir tatsächlich tasten und sehen, auch in dem Rahmen unserer Tast- und Sichtwirklichkeit selber, nicht die außenwirklichen Gegenstände sind, die wir auf diese Weise zu erfassen suchen, sondern eigentümliche, noch genauer von uns zu beschreibende Gebilde von anderer Art. Jene außenwirklichen Gegenstände selbst dagegen bleiben uns unbeschadet der Wahrnehmungen in unserer immanenzontologischen Ueberschneidung grundsätzlich transzendent. Wir wollen uns das zunächst auf dem Gebiete der Tastbestände klarmachen. Ich nehme eine Streichholzschachtel in die Hand, schließe die Augen und versuche die Schachtel als außenwirklichen Bestand durch reine Ertastung zu erfassen. Gewohnheitsgemäß werde ich dabei zunächst den Komplex meiner Tastempfindungen auf das von mir vorgestellte Sichtbild der Schachtel übertragen. Von dieser Gewohnheit haben wir uns befreit zu denken. Wir versuchen jetzt, die Schachtel in dem Tastsysteme selbst zu erfassen. Dann finden wir einen Tatbestand, der zu der landläufigen Interpretation der Ueberschneidungsbestände, wie sie bisher auch von uns vorausgesetzt wurde,
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in Widerspruch steht. Wir erkennen nämlich, daß die von uns getasteten Qualitäten nicht in demselben Sinne als Eigenschaften der wahrgenommenen Schachtel selbst angesprochen werden, wie wir etwa die von uns erschauten Farben eines Gegenstandes als seine Eigenschaften ansprechen. Denn von diesen Farben pflegen wir von dem Standpunkte unserer immanenten Wahrnehmungswelt aus zu sagen, daß sie den betreffenden Gegenständen als solchen beizulegen sind, und daß sie ihnen auch dann zukommen, wenn keiner sie sieht. Dagegen schreiben wir die wahrgenommenen Tastqualitäten dem ertasteten Gegenstande nicht zu, wenn keiner ihn ertastet. Ja wir schreiben sie ihm, näher zugesehen, überhaupt nicht zu. Denn sie sind keine Eigenschaften des ertasteten Gegenstandes selbst. Vielmehr fassen wir solche Tastqualitäten als etwas auf, das zwar von einem außenwirklichen Gegenstande verursacht wird, aber lediglich zu dem leiblichen Sinneswerkzeuge des Tastenden gehört. Eben damit aber verliert die Lehre von der Ueberschneidung solchen ertasteten Gegenständen gegenüber ihren ursprünglichen Sinn. Denn nun werden nicht die in unseren Tastwahrnehmungen gemeinten und von uns zu erfassenden ultraperipheren Gegenstände selber, sondern nur die Wirkungen dieser letzteren an unserem eigenen peripheren Tastsinneswerkzeuge von uns wahrgenommen. Daher treten als Wahrnehmungsbestand nur diese Wirkungen und nicht etwa jene Gegenstände selbst in unsere Ueberschneidung ein. Von dem ertasteten Gegenstande als solchem sagen wir nicht aus, daß er Tastqualitäten habe, wohl aber, daß in den Tastqualitäten seine Größe, seine Gestalt und sein Widerstand erkannt werde. Lassen wir Größe und Gestalt als geometrisch bestimmbare Eigenschaften vorläufig beiseite, so bleibt als eine spezifisch physische Eigenschaft des Gegenstandes sein Widerstand. Näher zugesehen ist es aber auch nicht dieser Widerstand, den wir durch unsere Tastwahrnehmung zu erschließen suchen, sondern vielmehr die innere Beschaffenheit jenes Gegenstandes selbst, durch die sein Widerstand bedingt ist. Denn wenn wir von dem Gegenstande als solchem sprechen, so meinen wir das, was ihm innerhalb seines eigenen Raumbezirkes zukommt, und was ihm daher auch dann eigen ist, wenn kein anderer Körper, gegen den er einen Widerstand zu leisten hätte, von außen an ihn herantritt. Diese seine innere Beschaffenheit ist der Grund seiner Widerstandsfähigkeit gegen andere Körper. Nicht aber ist eine solche Widerstandsfähigkeit der Grund jener Beschaffenheit. Daher ist diese Beschaffenheit unser eigentlicher Erkenntnisgegenstand, wenn wir den Körper selber ertasten wollen. Dagegen ist sein in unseren
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Tastwahrnehmungen erkannter Widerstand nur unser Erkenntnismittel hierzu. Was nun diese Beschaffenheit an sich selbst ist, das bleibt, da es in den Tastqualitäten als solchen nicht geschrieben steht, innerhalb des immanenten Tastwirklichkeitssystems selber grundsätzlich unbekannt. In diesem Systeme ist demnach der ertastete Gegenstand den Tastwahrnehmungen gegenüber transzendent. Oder anders ausgedrückt: die Tastbestände, die in unserem Ueberschneidungsbezirke auftreten, liegen jenseits des Gegenstandes, den wir aus ihnen erschliessen. Dabei sind unsere Tastwahrnehmungen auch nicht etwa als eine Erscheinung dieses Gegenstandes anzusehen. Sie wären es, wenn wir sie fälschlich für das ertastete Ding selbst hielten. Aber das ist nicht der Fall. Denn auch in unserer Wahrnehmungswelt gilt das ertastete Ding als etwas von der Summe unserer Tastempfindungen grundsätzlich Verschiedenes. Die Transzendenz des Gegenstandes wird hier also nicht von uns verschleiert, sondern liegt offen zutage. Fragt man nach der ontologischen Grundlage dieser Transzendenz, so zeigt es sich, daß sie weder metaphysisch ist noch etwas mit dem Wesen unseres Bewußtseins zu tun hat, sondern auf verhältnismäßig einfachen physischen Beziehungen beruht, die sich ausschließlich zwischen dem ultraperipheren Gegenstande und unserem peripheren Sinneswerkzeuge abspielen. Wir können uns den hier vorliegenden Sachverhalt deshalb auch an dem bloßen menschlichen Körper unter Ausschaltung seines Bewußtseins klarmachen. Ich denke mir ein solches nicht bewußtes Wesen, drücke ihm eine Streichholzschachtel in die Hand und lege seine Finger faustförmig herum. Dann habe ich an den von der Schachtel berührten Druckflächen seiner Handfläche ein, freilich lückenhaftes und unvollkommenes Negativ der Streichholzschachtel selbst. Dieses Negativ ist zwar von der Streichholzschachtel verursacht, nicht aber ist es das Positiv, die Schachtel als solche. Es gehört nicht zu dieser letzteren, liegt vielmehr, wenn auch in räumlicher Benachbarung, jenseits ihrer Grenzen und ist daher der Schachtel als solcher transzendent. Nun ist aber dieses Negativ für ein bewußtes Wesen die physische Grundlage seiner Tasterkenntnis. Die hier von uns beschriebene Transzendenz, die mit einer solchen Erkenntnis verbunden ist, beruht also auf der räumlichen Kontiguitätsbeziehung zwischen dem in der immanenten Ertastung gemeinten ultraperipheren Körper als dem zu erkennenden Gegenstande und unserem peripheren Tastwerkzeuge als dem zugehörigen Erkenntnismittel. Nur die negativen Gegebenheiten dieser
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Tastwerkzeuge sind uns immanent und bekannt. Dagegen ist uns der den Tastwerkzeugen anliegende positive Körper selbst transzendent und unbekannt. Der Grund, um dessenwillen die Transzendenz der wahrgenommenen Körper bei der Tasterkenntnis besonders deutlich heraustritt, liegt darin, daß wir unsere Tastempfindungen unmittelbar nur als Zustände unseres peripheren Sinneswerkzeuges ansprechen und den zu ertastenden Gegenstand aus diesen Zuständen erst erschließen. Das geschieht dadurch, daß wir aus dem Negativ unserer Tastempfindungen die in ihnen auftretenden Beschaffenheiten der Größe, der Gestalt und des Druckes durch komplementäre Zuordnung auf das gemeinte Positiv des Gegenstandes selbst übertragen. Liegt aber der auf diese Weise erschlossene Gegenstand jenseits unserer Tastempfindungen und werden diese nur als peripher betrachtet, so fehlt ihnen ebendamit ein Merkmal, das, wie wir früher gesehen haben, in dem Rahmen der Immanenzontologie für alle ultraperipheren Bestände und nur für diese charakteristisch ist, nämlich die Möglichkeit ihrer Erfassung durch andere. Zwar der ultraperiphere Gegenstand selbst, der aus unseren Tastwahrnehmungen erschlossen wird, ihnen aber transzendent bleibt, ist in derselben Weise auch für andere erschließbar. Dagegen sind die von uns wahrgenommenen Tastqualitäten, also unsere Empfindungen als die eigentlichen Ueberschneidungsbestände auch in dem Rahmen der Immanenzontologie für andere nicht erfaßbar. Denn da sie als periphere Zustände auftreten, ist unter Ausschluß aller anderen Bewußtseinssysteme immer nur das Bewußtsein des Wahrnehmenden selbst an sie angeschlossen. Endlich hängt mit den hier von uns beschriebenen physischen Verhältnissen noch ein weiteres Merkmal unserer Tasterkenntnis zusammen, das mit dem soeben behandelten Merkmale nicht verwechselt werden darf, nämlich dies, daß ein und dasselbe Flächenstück eines zu ertastenden Körpers zu einer und derselben Zeit immer nur von einem Einzelnen abgetastet werden kann. Die Ursache hierfür liegt auf der Hand. Denn immanente Beschaffenheiten, die sich nur durch unmittelbare Berührung erschließen lassen, sind zu derselben Zeit immer nur einem einzelnen Sinneswerkzeuge zugänglich, da infolge der wechselseitigen Undurchdringlichkeit materieller Körper zwei körperliche Sinneswerkzeuge nicht gleichzeitig einen und denselben Flächenteil eines Dinges berühren können. Das aber schließt natürlich nicht aus, daß zu verschiedenen Zeiten derselbe Flächenteil von verschiedenen Wahrnehmenden abgetastet und auf diese Weise ihr gemeinsamer Erkenntnisgegenstand werden kann.
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In allen diesen Hinsichten sind die Ansprüche, die wir dem sichthaft Außenwirklichen gegenüber stellen, wesentlich andere. Hier beziehen wir die Lichter und Farben, die wir sehen, nicht etwa auf das Auge als das periphere Sinneswerkzeug unserer Wahrnehmung, sondern unmittelbar auf den wahrgenommenen ultraperipheren Gegenstand selber. Nur ihm schreiben wir die erschauten Sichtqualitäten zu. Dagegen lassen wir die unsere Sicht vermittelnden- Vorgänge in unserem Auge außer Spiel. Sie kommen uns bei der normalen Sichtwahrnehmung überhaupt nicht zum Bewußtsein. So sehen wir, wenn wir zu dem Nachthimmel emporschauen, das weißliche, gelbliche und bläuliche Licht des Mondes und der Sterne nur an diesen Himmelskörpern. Niemandem aber fällt es ein, solche Licht- und Farbwahrnehmungen auf seine Netzhaut zu beziehen. Unsere immanenzontologische Deutungsweise der sichthaften Außenwirklichkeitsbestände ist also eine grundsätzlich andere als die der peripher erfaßten Tastwahrnehmungen. Auf diese Deutungsweise stützt sich mit Vorliebe jene von uns gekennzeichnete landläufige Interpretation der Ueberschneidungslehre. Denn nur wenn ich die wahrgenommenen Qualitäten den ultraperipheren Dingen selber zuschreibe, kann ich davon reden, daß sie diesen letzteren und dem Bewußtsein zugleich angehörten. Unter diesen Umständen werden nunmehr die Sichtqualitäten im Unterschiede zu den Tastqualitäten auch dahin gedeutet, daß sie von allen, die den sichtbaren Gegenstand wahrnehmen, als identisch dieselben aufgefaßt würden. Und endlich unterscheidet sich unsere Sichtwirklichkeit, wie wir sogleich erkennen werden, auch dadurch von unserer Tastwelt, daß die in ihr auftretenden Bestände einer großen Zahl von Wahrnehmenden gleichzeitig zugänglich sind. Angesichts dieser Sachlage sollte man annehmen, daß die von uns für die Tastwirklichkeit dargelegte Transzendenz der zu erfassenden Bestände in der Sichtwirklichkeit nicht stattfände. Allein eine nähere Prüfung des Sachverhaltes zeigt, daß dies dennoch der Fall ist. Um uns darüber klar zu werden, betrachten wir, wie dort bei den Tastbeständen, so hier bei den Sichtbeständen zunächst nur die physische Seite ihrer Beziehungen zu unserem Sinneswerkzeuge. Dementsprechend denken wir uns wieder ein Wesen, dessen Sinneswerkzeuge intakt seien, das aber kein wahrnehmendes Bewußtsein habe. Der physische Sachverhalt stellt sich dann so dar, daß von den einem solchen Wesen vor Augen liegenden ultraperipheren Körpern unmittelbar oder mittelbar elektromagnetische Lichtwellenzüge ausgehen und seine Netzhaut treffen. Die auf dieser entstehenden Reizbilder ent-
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sprechen in Verkleinerung und umgekehrter Anordnung den Ausgangspunkten der Lichtstrahlen an der Oberfläche des wahrzunehmenden Körpers, wobei die räumlichen Verhältnisse dieses letzteren in Flächenperspektive erscheinen und das gesamte Bild der leicht konkaven Form der Netzhaut folgt. Betrachten wir die Summe jener Ausgangspunkte von Lichtstrahlen an der Oberfläche des Körpers, so stellt ihre Gesamtheit, wenn wir von den besonderen Verhältnissen absehen, die bei den lichtdurchlässigen Körpern walten, in derselben Weise das Negativ eines solchen Körpers dar, wie unsere um die Streichholzschachtel gefalteten Tastflächen der Hand ein Negativ der Schachtel darstellten. Sie bilden gewissermassen einen Mantel, der sich um den Körper herumschlägt. In dem Falle der Tasterkenntnis war als aufnehmendes Sinneswerkzeug die tastende Hand selbst dieser Mantel. In dem Falle der Sichterkenntnis ist eine entsprechende Mantelfläche von dem Auge als dem hier aufnehmenden Sinneswerkzeuge mehr oder minder weit entfernt, wird aber von diesem durch Vermittelung der sich kugelförmig um den erschauten Körper ausbreitenden elektromagnetischen Strahlen in umgekehrter und verkleinerter Projektion abgebildet In beiden Fällen tritt nicht das in unserer Wahrnehmung gemeinte positive Ding selbst in unser Sinneswerkzeug und damit in unseren Ueberschneidungsbezirk ein, sondern vielmehr nur ein Negativ dieses Dinges bzw. die Projektion seines Negativs. Daher ist in beiden Fällen das Ding als solches unserem Ueberschneidungsbezirke transzendent und zwar zunächst in dem schlichten physischen Sinne dieses Wortes. Denn wie das physische Reizbild unseres Tastwerkzeuges, so ist das physische Netzhautbild unseres Auges nicht der aus der Wahrnehmung von uns erschlossene Körper selber, sondern es ist diejenige' Oberfläche bzw. eine Projektion derjenigen Oberfläche, von der jener Körper eingehüllt wird. Auf dem Umstände, daß in der Tasterkenntnis das Negativ des zu ertastenden Körpers unmittelbar in unsere Ueberschneidung eintritt, in der Sichterkenntnis dagegen nur die durch elektromagnetische Lichtstrahlen vermittelte Projektion eines solchen Negativs wahrgenommen wird, beruht es, daß im Unterschiede zu den Tastflächen eine und dieselbe Sichtfläche gleichzeitig von mehreren Beobachtern wahrgenommen werden kann. Auch diese Vervielfachung der Wahrnehmbarkeit ist also physisch bedingt. Sie findet nicht nur in der Sichtwirklichkeit, sondern überall da statt, wo von dem wahrzunehmenden Bestände in kugel-, halbkugel- oder sonst teilkugelförmiger Ausbreitung Radialstrahlen ausgehen, die, wenn sie das Sinneswerk-
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zeug des Beobachters treffen, von diesem ultraperipher gedeutet werden. Eine simultane Wahrnehmungsgemeinschaft tritt in diesem Falle dann ein, wenn sich die ultraperiphere Deutung der verschiedenen Beobachter auf einen und denselben Bestand, zB. wie in dem Falle der Sichtwahrnehmungen auf das betreffende Strahlungszentrum bezieht. Es bestehen demnach zwischen unserer Sicht- und Tastwahrnehmung, der Verschiedenheit ihrer physischen Grundlagen entsprechend, auf der einen Seite erhebliche Unterschiede. Auf der anderen Seite aber wird es durch die physische Grundlage beider bedingt, daß uns die von ihnen wahrzunehmenden Körper transzendent bleiben und wir statt ihrer nur eine negative, diese Körper umhüllende Mantelfläche erfassen. In der Praxis des täglichen Lebens sind wir an die Tatsache, daß uns in der Tast- und Sichtwahrnehmung nur das Negativ der Körperwelt zugänglich ist, so gewöhnt, daß wir kaum darauf achten. Nichtsdestoweniger unterliegt es keinem Zweifel, daß, wenn wir von den so wahrgenommenen Körpern als solchen sprechen, wir keineswegs das von uns wahrgenommene Negativ derselben meinen, sondern vielmehr jenes Positiv, das wir nicht wahrnehmen. Hier wie in anderen Fällen besteht also zwischen dem, was wir wahrnehmen, und dem, was wir tatsächlich meinen, ein Zwiespalt. Auf diesem Zwiespalte beruht es, daß wir im Hinblicke auf die ertasteten und erschauten Körper, aber auch nur im Hinblicke auf sie, nicht dagegen, wie wir noch sehen werden, im Hinblicke auf andere Wahrnehmungsbestände zu einer eigentümlichen Schwierigkeit gelangen, sobald wir über die Bedürfnisse der Praxis hinausgehen und uns einen Einblick in das Wesen der aus unserer Wahrnehmung erschlossenen Körper selbst zu verschaffen suchen. Man pflegt diese Schwierigkeit meist dahin zu formulieren, daß wir nicht imstande seien, in das Innere der Dinge einzudringen; daß sie uns vielmehr, um an die bekannten Worte Hallers zu erinnern, nur ihre Schale weisen, während uns ihr Kern verborgen bleibe. Eine weitere Vertiefung der vorangegangenen Erörterungen ist geeignet, die ontologischen Grundlagen dieser Schwierigkeit aufzudecken. Zunächst sei auf eine Eigentümlichkeit der hier von uns beschriebenen Transzendenz hingewiesen. Sie besteht darin, daß das, was uns bei ihr transzendent ist, nicht wie bei den metaphysischen Transzendenzen den Bestand eines zu unseren immanenten Systemen nicht gehörigen Faktors darstellt, sondern wie bei den physischen Transzendenzen als mitten in diesen Systemen selber liegend auf-
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gefaßt wird. Das ist durch den Charakter unserer Wahrnehmung als einer das betreffende Ding einhüllenden Mantelfläche bedingt. Denn offenbar liegt der von einer solchen Mantelfläche eingehüllte Körper in demselben Räume wie die Mantelfläche selber. Wenn ich eine Streichholzschachtel in meiner Faust umfasse, so liegt diese Schachtel in demjenigen Bezirke meiner Tastwirklichkeit, in dem auch die Tastflächen meiner Hand liegen. Alle Verbindungslinien zwischen den sich gegenüberliegenden unter diesen Tastflächen gehen daher mitten durch die Schachtel hindurch. Und das Entsprechende gilt von der Transzendenz der Sichtbestände. Wenn ich um einen erschauten Körper herumgehe und ihn von allen Seiten ansehe, so liegt dieser Körper, obwohl er mir als das positive Komplement zu dem von mir gesehenen Negativ grundsätzlich transzendent ist, dennoch mitten in meiner Sichtwirklichkeit. Auch hier führen alle Verbindungslinien zwischen den von mir wahrgenommenen Mantelflächen durch jenen Körper hindurch. Mit anderen Worten: die ertasteten und erblickten Körper liegen, obwohl sie ihrem Bestände nach unserer Wahrnehmung grundsätzlich transzendent sind, dennoch mitten in unserer immanenten Wahrnehmungswirklichkeit, sind also dem Räume dieser letzteren immanent. Ich will sie daher als phänomenal transzendente Dinge bezeichnen. Diese phänomenale Transzendenz ist durch die von uns beschriebenen physischen Verhältnisse bedingt. Das Halt, das das phänomenal transzendente Ding unserer Tast- und Sichtwahrnehmung gebietet, ist unmittelbar oder mittelbar durch die Unfähigkeit unserer körperlichen Sinneswerkzeuge verursacht, in die von ihnen zu erfassenden anderen Körper einzudringen. Sie können diese anderen Körper höchstens berühren und daher auch nur soviel von ihnen zu unserer Kenntnis bringen, als sich aus einer solchen Berührung ergibt. Es ist das nur ein Sonderfall der allgemeinen Erscheinung, daß sich physische Körper überhaupt nicht gegenseitig zu durchdringen, sondern höchstens zu berühren vermögen. Damit aber führt uns das Problem des phänomenal transzendenten Dinges zu einem schon einmal von uns behandelten Sachverhalte zurück. Ueber eine flächenhafte Berührung kommen nämlich zwei physische Körper in einem dreidimensionalen Räume nicht hinaus. Daher kann keine unserer Sinneswahrnehmungen, insofern sie mittelbar oder unmittelbar auf einer Berührung zwischen Körpern beruht, mehr als flächenhafte Gegebenheiten enthalten. Wir müßten, um unter solchen Umständen zu körperhaften Wahrnehmungsgegebenheiten zu gelangen, die ultraperipheren Körper mit unseren Sinnes-
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Werkzeugen in drei Dimensionen berühren können. Dazu aber müßten wir selbst vierdimensional sein. Auch dann freilich könnten wir sie nicht etwa durchdringen. Die physische Beschaffenheit ihrer wechselseitigen Undurchdringlichkeit bliebe vielmehr nach wie vor bestehen. Wohl aber könnten wir sie nunmehr geometrisch auf dieselbe, für uns freilich unvorstellbare Weise in ihrer Körperlichkeit berühren und daher auch körperhaft wahrnehmen, wie wir jetzt die Flächengebilde, die in ihrem Eigenbestande für uns ebenfalls undurchdringbar bleiben, in ihrer Fläche berühren und daher flächenhaft wahrnehmen können. Das Problem des phänomenal transzendenten Dinges hätte dann in der uns geläufigen Form aufgehört zu bestehen. Stattdessen würde jedoch ein neues phänomenal transzendentes Ding auftreten, dessen Problematik in der nur dreidimensionalen wechselseitigen Berührbarkeit der vierdimensionalen Gebilde bestünde. Usf. ad infinitum. Mit anderen Worten: das Problem des phänomenal transzendenten Dinges hängt mit der Geometrie der Dimensionen, nämlich mit dem Umstände zusammen, daß die Berührungszonen undurchdringlicher Gebilde in jedem Räume immer eine Dimension weniger zählen als der betreffende Raum selbst, und daß daher auch wir in dem deutungslos Gegebenen unserer Wahrnehmung auf eine zweidimensionale Erfassung der dreidimensionalen Körper beschränkt bleiben. In diesem Sinne ist die Unfähigkeit unserer Tasterkenntnis, den zu ertastenden physischen Körper als phänomenal transzendentes Ding körperhaft wahrzunehmen, durch die physische Körperlichkeit unserer Hand bedingt. Und Entsprechendes gilt, wenn auch unter komplizierteren Verhältnissen, von der Ausstrahlung oder Reflexion der Lichtwellen an den erschauten Dingen. Auf der anderen Seite hängt das Problem des phänomenal transzendenten Dinges mit den früher von uns besprochenen Beziehungen zwischen der Bestandfülle und der Raumsystematik unserer Wahrnehmungswelt zusammen. Wir erkannten, daß alle Immanenzsysteme in ihrer Bestandfülle Lücken aufwiesen, daß aber ihr Raamsystem nichtsdestoweniger lückenlos vollständig war, da es sich aus wenigen Daten frei konstruieren ließ, während von einer freien Konstruktion der immanenten Bestände selbst keine Rede sein konnte. Wir erkannten ferner, daß die Konstruktion der Immanenzräume dreidimensional aufgebaut ist, obwohl die deutungslosen Gegebenheiten der Tast- und Sichtwahrnehmung infolge der soeben beschriebenen Verhältnisse nur zwei Dimensionen zeigen. Unter diesen Umständen sind wir gezwungen, unsere zweidimensional gegebenen Wahrnehmungs-
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bestände in einem dreidimensional konstruierten Räume so unterzubringen, daß sie trotz ihres zweidimensionalen Charakters, den wir nicht ebenfalls durch freie Konstruktion zu einem wahrhaft dreidimensionalen erweitern können, die in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung gemeinten dreidimensionalen Körper dennoch repräsentieren. Das erreichen wir durch das Prinzip der Mantelflächen. Dreidimensional ist in unserem Tast- und Sichtsysteme näher zugesehen immer nur deren Raum, insofern wir ihn als einen leeren auffassen. Dagegen bleiben die in diesem Räume auftretenden Bestände, insoweit ihre tatsächliche Wahrnehmung in Betracht kommt, auch hier nur zweidimensional, jedoch nunmehr so, daß diese zweidimensionalen Wahrnehmungsflächen keine Ebenen, sondern der jeweiligen Form der Körper entsprechend in sich zurücklaufende gekrümmte Flächen bilden. Davon kann man sich an jedem beliebigen Beispiele leicht überzeugen. Wenn ich mich jetzt in meinem Zimmer umschaue, so ist das, was ich in deutungserfüllter Wahrnehmung sehe, nur insoweit tatsächlich dreidimensional, als es nicht von materiellen Körpern erfüllt wird. Diese Körper selbst dagegen werden nur als Flächen erfaßt. Die auf dem Fußboden stehenden Gegenstände zB., Tische, Stühle, Schränke usw. stülpen sich mir gewissermaßen aus der Ebene des Fußbodens als körperumhüllende Flächengebilde heraus. Mehr als diese Stülpflächen vermag ich von ihnen nicht wahrzunehmen. Und auch wenn man berücksichtigt, daß sie tatsächlich keine Ausstülpungen sind, sondern eine eigene Grundfläche haben, die den Fußboden nur berührt, so werden sie darum doch noch keine Körper, sondern bleiben, wenn auch nunmehr selbständige Flächengebilde, deren Selbständigkeit sich darin äußert, daß diese Flächen überall in sich selber zurücklaufen. Es ist also nicht richtig, daß wir in deutungserfüllter Wahrnehmung die Körper dreidimensional sähen. Wir sehen sie vielmehr zweidimensional. Und dasselbe gilt von unseren Tastwahrnehmungen. Denn der Umstand, daß diese zweidimensionalen Gebilde nicht als Ebenen sondern als Hüllflächen erschaut oder ertastet werden, ist für ihren zweidimensionalen Charakter belanglos. Es gibt bekanntlich auch solche Flächen, die keine Ebenen sind. Dabei hat man allerdings zwei wichtige Umstände zu berücksichtigen. Nämlich erstens, daß wir diese zweidimensionalen Gebilde nicht in der ihnen eigenen nichteuklidischen zweidimensionalen Räumlichkeit wahrnehmen, sondern in einem dreidimensionalen euklidischen Räume, innerhalb dessen ihre Zweidimensionalität auftritt. Und zweitens, daß sie für uns ontologisch, dh. ihrem Bedeutungsgehalte nach auch nicht
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den Wert von zweidimensionalen Flächen sondern vielmehr den von dreidimensionalen Körpern haben. Denn das, was wir meinen, und das, was wir wahrnehmen, ist, wie schon bemerkt wurde, in diesem Falle auch immanenzontologisch verschieden. Die hier von uns beschriebene Zweidimensionalität der wahrgenommenen Hüllflächen spielt also wieder nur die Rolle des Erkenntnismittels, nicht dagegen die des Erkenntnisgegenstandes, der vielmehr als ein echtes dreidimensionales Gebilde, nämlich als ein massiver Körper von uns gedacht wird, dessen bloße Außenfläche wir sehen oder tasten. Dies zu ermöglichen dient uns die freie Konstruktion des dreidimensionalen Raumes, innerhalb dessen die von uns beschriebenen Gebilde als die Mantelflächen auftreten, von denen die zwar nicht wahrnehmbaren, wohl aber von uns gemeinten Körper umschlossen werden. Der Umstand, daß dieser Raum im Unterschiede zu den physischen Beständen frei von uns konstruiert werden kann, hat die beachtenswerte Folge, daß uns in dem hier behandelten Sinne einer grundsätzlichen Unzugänglichkeit nur der physische Bestand des Dinges phänomenal transzendent ist, nicht dagegen seine geometrische Beschaffenheit. Zwar können wir auch diese letztere nicht unmittelbar wahrnehmen, wohl aber können wir sie unter Benutzung des von uns wahrgenommenen Negativs auch ohne anschauliche Erkenntnis von dem Inneren des Dinges jederzeit feststellen. Kenne ich die Mantelflächen eines Körpers, so ist mir eben damit dank mathematischer Konstruktion auch die Möglichkeit gegeben, jeden Punkt seines Innern geometrisch zu bestimmen. Die spezifisch mathematischen Eigenschaften der von uns wahrgenommenen Körper stehen also insofern außerhalb der Tatsache ihrer phänomenalen Transzendenz, als sie unabhängig von unserer Kenntnis des Körperinneren durch freie Konstruktion festgelegt werden können. Daher haben wir zu Beginn unserer Erörterungen diese mathematischen Eigenschaften des phänomenal transzendenten Dinges von seinen physischen Eigenschaften getrennt Die Tatsache, daß das phänomenal transzendente Ding mitten in dem Räume unserer Tast- und Sichtwirklichkeit selbst liegt, legt die Frage nahe, ob dieser Sachverhalt etwas Außergewöhnliches darstellt, oder ob er auf gleicher Stufe mit jenen zuvor von uns geschilderten Maßnahmen steht, kraft deren wir in unsere Immanenzsysteme auch sonst Bestände hineinverlegen, die ihnen grundsätzlich transzendent sind. So ist zB. schon darauf hingewiesen, daß wir auch magnetische oder Gravitationsfelder in unserer Sichtwelt unterzubringen und ihnen in dieser ebenfalls eine bestimmte Raumstelle
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anzuweisen pflegen, obwohl solche Bestände unserer Sichtwelt grundsätzlich transzendent sind. Auch von solchen Beständen könnte man daher sagen, daß sie unbeschadet ihrer grundsätzlichen Transzendenz mitten in unserer Wahrnehmungswelt selbst lägen. Verhält es sich mit den phänomenal transzendenten Dingen ebenso oder liegt hier der Sachverhalt anders? Wenn man diese Frage beantworten will, so ist zweierlei zu unterscheiden, nämlich einmal der in beiden Fällen tatsächlich vorliegende Befund und zweitens unsere immanenzontologische Bewertung desselben. In der ersteren Hinsicht liegen beide Fälle grundsätzlich gleich. Denn was in beiden Fällen wahrgenommen wird, sind lediglich die Wirkungen der von uns gemeinten Bestände, während uns diese selber grundsätzlich unzugänglich bleiben. Wenn wir zB. der Erde in unserer Sichtwelt ein Gravitationsfeld zuschreiben, so können wir ein solches Feld selbst nicht sehen, wohl aber sehen wir seine Wirkungen in den Fallerscheinungen der Körper. Und nur an diesen Wirkungen erkennen wir jenes Feld. In demselben Sinne können wir auch die phänomenal transzendenten Dinge nicht wahrnehmen, wohl aber erkennen wir ihre Wirkungen in dem Negativ unserer Tast- und Sichtwahrnehmungen. In beiden Fällen hat also der tatsächlich vorliegende Befund eine sachlich gleichartige Struktur. Daher stellt die Raumlage des phänomenal transzendenten Dinges mitten innerhalb unserer Wahrnehmungswelt insofern nichts Außergewöhnliches dar. Anders steht es mit unserer immanenzontologischen Bewertung der beiden Fälle. Hier besteht zwischen ihnen ein Unterschied. Das wird ohne weiteres klar, wenn wir beachten, daß wir in den Wahrnehmungswirkungen der phänomenal transzendenten Dinge immanenzontologisch diese selber zu erfassen glauben, während wir in jenen anderen Fällen die Wirkungen der transzendenten Bestände, also zB. der magnetischen und Gravitationsfelder, nicht als diese Bestände selbst sondern eben nur als die von ihnen ausgehenden Wirkungen betrachten. Niemandem fällt es ein, ein fallendes Gewicht oder ein von einem Magneten angezogenes Stück Eisen als das Gravitationsoder magnetische Feld anzusprechen, unter dessen Wirkungen jene Körper stehen. Dagegen betrachten wir das, was wir von einem Körper erschauen, immanenzontologisch als diesen Körper selber und nicht etwa als eine bloße Wirkung von ihm. Und wenn wir einen Körper ertasten, so betrachten wir zwar unsere Tastempfindungen als seine Wirkungen, beziehen aber nichtsdestoweniger diese Wirkungen 14
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auf den ertasteten Körper als auf das zu ihnen gehörige Komplement, auf das allein es ankommt, und zu dessen gunsten wir den Eigenwert unserer Tastempfindungen vernachlässigen. Auf dieser Bewertung und nicht auf jenem ontologischen Sachbefunde als solchem beruht die Sonderstellung, die die phänomenal transzendenten Körper anderen ebenfalls in unsere Wahrnehmungswelt hineinverlegten transzendenten Beständen gegenüber einnehmen. Nicht ihre bloßen Wirkungen sondern trotz ihrer phänomenalen Transzendenz sie selber sind das, was wir positiv oder negativ mit unseren Wahrnehmungsgegebenheiten zu erfassen glauben. Deshalb führen nur sie, nicht aber jene anderen Bestände zu den Problemen, die wir hier erörtert haben. Aus der Lehre von dem phänomenal transzendenten Dinge ergibt sich die Rechtfertigung einer in der philosophischen Tradition ehemals viel verhandelten, dann aber unter der Vorherrschaft positivistischer Gesichtspunkte beiseitegeschobenen Form des Substanzbegriffes. Wir haben in unseren früheren Untersuchungen bereits zwei Formen dieses Begriffes kennen gelernt. Von der einen dieser Formen, nach der die Substanz das Beharrende in dem Wechsel der Erscheinungen darstellen sollte, erwies es sich, daß sie auf einem Mißverständnisse unseres Begriffes der Identität ontologischer Bestände beruhte. Die andere Form lernten wir bei unserer Betrachtung der ontologischen Struktur des offenen Immanenzsystems kennen. Die Substanz trat dort als der gemeinsame und uns verborgene Träger von artverschiedenen Immanenzqualitäten auf. Mit der Gesamtbedeutung dieser letzteren Form des Substanzbegriffes werden wir uns in dem weiteren Verlaufe dieses Kapitels noch einmal zu beschäftigen haben. Hier haben wir es nur mit einer ihrer Seiten zu tun. Wir wollen einmal den Anspruch, daß jener Träger eine Reihe von artverschiedenen Immanenzqualitäten in sich vereinigen soll, vorläufig beiseite lassen und uns nur mit dem Umstände beschäftigen, daß er, auch wenn wir lediglich eine einzige unter seinen Immanenzqualitäten in Betracht ziehen, als ein uns verborgener Faktor angesehen wird. Es liegt auf der Hand, daß dieser Faktor dann, insoweit unsere Sicht- oder Tastwelt in Frage kommt, mit dem von uns beschriebenen phänomenal transzendenten Dinge identisch ist. Dieses letztere ist also dasselbe wie die uns unbekannte Substanz, die in der Sichtwelt als der Träger ihrer Farben und in der Tastwelt als der Träger ihres Oberflächenwiderstandes auftritt. In dem Rahmen der Immanenzontologie und, wie wir später sehen werden, auch von
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dem transzendenzontologischen Standpunkte aus besteht diese Form des Substanzbegriffes zu Recht. Sie ist von dem Begriffe eines physischen Körpers untrennbar. Denn das, was wir unter einem solchen Körper verstehen, ist, wie wir gesehen haben, etwas anderes als das, was wir von ihm erfassen. Das von uns Erfaßte sind nur die Eigenschaften der Substanz. Diese selbst dagegen bleibt uns als phänomenal transzendentes Ding unerfaßbar. Und doch ist es gerade dieses Ding, das wir meinen, wenn wir von den physischen Körpern sprechen. Der so verstandene Begriff einer uns verborgenen Substanz bildet also eine unentbehrliche Voraussetzung jedes Wirklichkeitssystems, das ungeachtet einer Zweidimensionalität seines Bestandmaterials mit physischen Körpern in einem dreidimensionalen Räume arbeitet. Dagegen ist der Ersatz, den die positivistische Tradition statt des Substanzbegriffes einführt, schweren Bedenken ausgesetzt, da er zu dem Begriffe der physischen Körper in Widerspruch steht. Denn wenn hier vorgeschlagen wird, an die Stelle der Substanz die Summe ihrer wahrgenommenen Eigenschaften als ein sogenanntes Bündel von Empfindungen zu setzen, so kann ein solches summatives Gebilde dem Bedeutungsgehalte, den wir mit dem Begriffe der physischen Körper verbinden, keine Rechnung tragen. Wäre nämlich ein solcher Körper mit der Summe der Färb- und Tastqualitäten, die wir an ihm wahrnehmen, identisch, so wären diese Qualitäten die Teile, aus denen er sich zusammensetzt. In Wahrheit aber sind sie nicht seine Teile, sondern an der jenseitigen Oberfläche des Körpers lokalisierte Bestände, die zu dem von uns gemeinten Körper als solchem nicht mehr gehören. Hierfür ist es charakteristisch, daß, wenn man mit jener positivistischen Forderung ernst machen und unsere Wahrnehmungen selbst an die Stelle der Substanz setzen wollte, das Ergebnis innerhalb der Tast- und Sichtwirklichkeit keine Körper wären, sondern die von uns geschilderten, in sich zurücklaufenden Flächengebilde, die, sobald man den Begriff der phänomenal transzendenten Substanz ausschaltet, nichts mehr umhüllen, sondern in ihrem Inneren leer sind. Es liegt auf der Hand, daß eine solche Welt voll hohler Flächengebilde zu dem tatsächlichen Bestände unserer Außenwirklichkeit in Widerspruch steht. Fragt man, worauf sich der positivistische Versuch, statt des Substanzbegriffes ein Bündel von Empfindungen einzuführen, gründet, so findet man, daß hier eine Verwechselung zwischen Erkenntnismittel und Erkenntnisgegenstand und damit eine Verwechselung zwischen erkenntnistheoretischen und ontologischen Gesichtspunkten vorliegt. 14»
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Unsere Empfindungen sowohl wie unsere deutungserfüllten Wahrnehmungen stellen in der Sicht- und Tastwelt lediglich das Erkenntnismittel dar, durch das wir die physischen Körper erfassen. Diese Körper selbst dagegen als unser eigentlicher Erkenntnisgegenstand liegen auch in dem Rahmen der Immanenzontologie grundsätzlich außerhalb unserer Erfahrung. Dieser Sachverhalt wird durch den Begriff einer uns verborgenen Substanz zum Ausdruck gebracht. Denn ein solcher Begriff besagt, daß der physische Körper, den wir meinen, mit den Beschaffenheiten, die wir wahrnehmen, nicht identisch sei, sondern jenseits derselben liege. Hiermit war eine von der erkenntnistheoretischen verschiedene ontologische Situation festgestellt. Diese Verschiedenheit wurde in der positivistischen Auffassung des Sachverhaltes verkannt und stattdessen die ontologische mit der entsprechenden erkenntnistheoretischen Situation identifiziert. Denn indem man davon ausging, daß uns tatsächlich nur Empfindungsqualitäten gegeben sind, nahm man nunmehr an, daß auch nur diese den ontologischen Bestand des wahrzunehmenden Körpers bilden könnten. Man verwechselte also das, was nur unser Erkenntnismittel zur Erfassung des Körpers darstellt, mit dem von uns zu erfassenden Körper selber. Auf diese Weise kam man zu der Lehre von den Empfindungsbändeln, die, wie wir gesehen haben, in einer dreidimensionalen Wirklichkeit zu jener unhaltbaren Welt voller Hohlflächen führt, und deren innerer Zusammenhang außerdem unerklärbar wird, wenn man von dem phänomenal transzendenten Dinge als der verborgenen Substanz absieht, deren gemeinsame Wirkungen unsere artverschiedenen Empfindungen sind, und zu deren mittelbarer Erfassung sie dienen. Der positivistische Ersatz der Substanz beruht demnach auf einer mißverstandenen Auffassung des in der Immanenzontologie verwendeten und in sich unselbständigen Erkenntnismittels als eines selbständigen ontologischen Gebildes. Wie wir bereits gesehen haben, gehört es zu der traditionellen Lehre von der Substanz, daß diese als der Träger nicht nur von Tast- und Sichtqualitäten, sondern zugleich auch von allen anderen Immanenzbeschaffenheiten betrachtet wird, da, wie wir früher erkannten, alle Immanenzbestände an das Auftreten von Körpern gebunden sind. Die Substanzen sind es, die in dem Rahmen der immanenzontologischen Wirklichkeitsauffassung den Schall erzeugen, die warm sind, duften, schmecken, Schmerz bereiten usw. Nichtsdestoweniger stellen, wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, nicht diese letzteren Beschaffenheiten sondern nur unsere Tast- und
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Sichtbestände die Substanz als solche dar. Das liegt daran, daß nur diese Bestände einer Wahrnehmung der physischen Körper dienen. Ja, wie unsere früheren Ausführungen dargelegt haben, sind es im Grunde nur die Tastbestände, die von solchen Körpern handeln. Denn von den Sichtbeständen erkannten wir, daß sie nicht in ihrer autonomen Eigenart als elektromagnetische Schwingungen erfaßt werden, sondern zu der durch den Tastsinn erschlossenen Wahrnehmungswelt in einem heteronomen Dienstverhältnisse stehen. Dagegen stehen die anderen Immanenzbestände zu der Tastwirklichkeit und damit zu der Welt der physischen Körper als phänomenal transzendenter Dinge nicht in einem Dienstverhältnisse dieser Art. Dh. unbeschadet ihres jeweiligen kausalen Zusammenhanges mit einem solchen Körper wird in ihnen nicht dieser letztere selber wahrgenommen oder erschlossen, sondern sie werden von uns als mehr oder minder selbständige und von den physischen Körpern unabhängige Gebilde behandelt. Daher findet auf sie selber der Begriff der Substanz in dem Sinne des phänomenal transzendenten Dinges keine Anwendung. Wenn also die traditionelle Lehre von der Substanz als Eigenschaften dieser letzteren alle Immanenzqualitäten ohne Unterschied betrachtet, so ist das nur in dem Sinne berechtigt, in dem tatsächlich alle Immanenzbestände an das Auftreten von physischen Körpern gebunden sind, nicht dagegen in dem Sinne, als ob nun auch alle Immanenzbestände lediglich auf solche Körper bezogen würden. Vielmehr stellen die nicht tast- und sichthaften Immanenzbestände in ihrem eigenen Wahrnehmungssysteme substanzlose Gebilde dar. Das gilt zunächst von den Schallbeständen. Für unsere immanenzontologische Deutung dieser letzteren sind die ihnen zugrundeliegenden physischen Bezugsverhältnisse maßgebend. Wie unser Auge, so reagiert auch unser Trommelfell und durch seine Vermittelung das innere Gehörorgan auf Schwingungsvorgänge. Diese aber tragen einen grundsätzlich anderen Charakter als die elektromagnetischen Lichtwellen. Und zwar ist es für ihre Wahrnehmungsdeutung wichtig, daß durch sie nicht wie durch die Lichtwellen die Oberflächengestaltung des schwingenden Körpers auf das wahrnehmende Sinneswerkzeug projiziert wird, sondern daß sie dem Gehör nur ihre eigene Komposition, Amplitude und Frequenz mitteilen, ohne daß sich hieraus die Beschaffenheit des schwingenden Körpers selbst bestimmen ließe. Das hat zur Folge, daß wir aus den uns durch unser Ohr vermittelten Schällen weder die Größe und Gestalt der schwingenden Körper noch etwa ihren Widerstand erschließen können. Nur über die durch sie erzeugten Schwingungsvorgänge, die als Tonqualitäten aufgefaßt werden, können wir etwas
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aussagen. Von dem schwingenden Körper selbst dagegen erfahren wir durch unsere Schallempfindungen nichts. Hierdurch ist es bedingt, daß wir diese letzteren auch nicht wie die erschauten und ertasteten Qualitäten als Eigenschaften eines wahrzunehmenden, in unserem Falle also des schallerregenden Körpers ansprechen, sondern sie immanenzontologisch wie selbständige Gebilde behandeln. Eine Gemäldegalerie ist eine Welt der Bilder und nicHt etwa eine Welt von Farbenempfindungen. Eine Skulptur ist auch für den Blinden ein gestalteter Körper und nicht etwa eine Summe von Tastempfindungen. Dagegen ist ein Konzert keine Welt der Instrumente, sondern «ine Welt der Töne. Es ist richtig, daß diese Töne durch die Instrumente erzeugt werden. Aber das erfahren wir nicht durch unser Ohr, sondern nur durch unser Auge und den Tastsinn. Eine gehörte Geige gibt es nicht. Daher betrachten wir immanenzontologisch die Schallbestände mit Ausnahme eines besonderen noch zu erwähnenden Falles auch niemals als Dingeigenschaften, sondern stets als dinglose autonome Gebilde. Auf der anderen Seite hat unsere Schallontologie eine merkwürdige Eigenschaft, mit der sie nur der Sichtontologie verwandt ist, und durch die sie sich von der Ontologie aller anderen Immanenzbestände unterscheidet. Sie besteht darin, daß wir, wie schon bei einer früheren Gelegenheit einmal angedeutet wurde, die Schallempfindungen in der Mehrzahl der Fälle nicht in unser peripheres Sinneswerkzeug also in unser Ohr hineinverlegen, sondern sie vielmehr in den Bereich des schallenden Körpers lokalisieren. Unser Ohr wird in diesem Falle, ebenso wie bei dem Sehen unser Auge, für die Wahrnehmungsdeutung ausgeschaltet. Die Schälle, zB. das Grollen des Donners, treten daher in ihrem Schallraume, ähnlich wie die erschauten Körper in ihrem Sichtraume, als von uns entfernte Gebilde auf, nur daß sie nach Gestalt, Größe und Lokalisation unbestimmter aufgefaßt werden. In diesem ihrem unbestimmten Eigensein aber kommen ihnen die Eigenschaften der Substanz als eines phänomenal transzendenten Dinges nicht zu. Sie stellen keine Gebilde dar, die als dreidimensionale aus einer zweidimensionalen Gegebenheit erschlossen würden. Sie werden vielmehr ihrer Beschaffenheit nach unmittelbar als das hingenommen, was sie sind. Von einem durch sie umhüllten und uns unzugänglichen Innenraume kann daher kaum gesprochen werden. Man könnte zu solchen Vorstellungen allenfalls kommen, wenn man sich, wie es bisweilen geschieht, die Schälle sichträumlich veranschaulicht. Aber eine Veranschaulichung dieser Art würde eben nur
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eine Uebertragung der sichtontologischen auf schallontologische Verhältnisse bedeuten und wäre unstatthaft. Denn die Substanzialität der sichträumlichen Gebilde kommt den Schällen als solchen nicht zu. Anders als zu den Schällen verhalten wir uns in unserer immanenzontologischen Deutung zu den Wärme- und Duftbeständen. Die physische Grundlage dieser letzteren ist mit der der Sicht- und Schallwahrnehmungen insofern verwandt, als es sich auch hier um Wirkungen auf unsere Sinneswerkzeuge handelt, die mittelbar von einem physischen Körper ausgehen, und deren Gesamtheit ein diesen Körper umgebendes Feld bildet. Dh. wie die Lichtstrahlen und Schallwellen von einem leuchtenden oder schallerregenden Körper, so gehen die Wärme- und Duftstrahlen von einem wärmenden oder duftenden Körper aus. Ihren physischen Grundlagen nach zeigen also diese wie jene Bestände eine verwandte Struktur. Unser immanenzontologisches Verhalten ihnen gegenüber aber ist ein verschiedenes. Denn bei Licht und Schall ignorieren wir deren Feld. Die Farben beziehen wir unmittelbar auf den erschauten Körper. Den Schall verlegen wir als ein in sich begrenztes selbständiges Gebilde in den Bereich des Schallerregers. Hier wie dort wird der Raum außerhalb des farbigen Körpers oder des Schallgebildes als nicht von Immanenzqualitäten dieser Art erfüllt, sondern als leer von ihnen gedacht. Mit anderen Worten: die Beziehung der Empfindungen auf ihre Reizquelle führt hier zu einer Vernachlässigung des die Quelle umgebenden Feldes, obwohl nur durch dieses jene Empfindungen vermittelt werden. In dieser Hinsicht verhalten wir uns den Duft- und Wärmebeständen gegenüber, wie wir sogleich sehen werden, grundsätzlich anders. Besteht so zwischen diesen letzteren und im besonderen auch den Schallwahrnehmungen ein wesentlicher Unterschied, so herrscht auf der anderen Seite insofern eine Verwandtschaft zwischen ihnen, als wir zum Unterschiede von den Sichtwahrnehmungen durch die Duftund Wärmestrahlen von der Oberflächengestaltung und dem Widerstande der duftenden und wärmenden Körper ebensowenig etwas erfahren wie durch die Schallwellen von den schallenden Körpern. Hier wie dort werden daher unsere Wahrnehmungsqualitäten nicht als Eigenschaften der sie verursachenden Körper aufgefaßt, sondern in dem von uns bezeichneten Sinne als von ihnen unabhängige und selbständige, gewissermaßen frei den Raum durchwaltende Gebilde. Wenn wir nichtsdestoweniger Duft und Wärme wesentlich anders als den Schall behandeln, so liegt dies an jenem Umstände, daß wir den Schall an die Reizquelle, also in den Bereich des schallenden
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Körpers lokalisieren und unser Ohr als peripheres Sinneswerkzeug ausschalten, während wir Wärme und Duft umgekehrt auf das periphere Sinneswerkzeug beziehen, den Wärme und Duft spendenden Körper dagegen als Reizquelle ignorieren. Wenn wir sagen: hier ist es warm und zwar umso wärmer, je mehr wir uns dem Ofen nähern; oder: hier duftet es nach Rosen und zwar um so stärker, je mehr wir uns dem Strauße nähern, so verlegen wir unseren unmittelbaren Wahrnehmungsbestand nicht an den Ofen oder den Strauß. Diesen können wir vielmehr mit unserem Wärme- oder Geruchsinne als solchem ebensowenig wahrnehmen, wie wir eine Geige als physischen Körper mit dem Gehör wahrnehmen können. Wir verlegen Duft und Wärme aber auch nicht wie den Schall als begrenzte Gebilde in den Bereich der Reizquelle; sondern den Duftbestand nehmen wir in dem Räume an unseren Riechlappen und den Wärmebestand in dem Räume an unserer Haut wahr und betrachten diesen Raum als ein Bruchteil desjenigen Raumes, den der Duft und die Wärme als selbständige immanente Wesenheiten mit zu- und abnehmender Intensität erfüllen. Mit anderen Worten: im Unterschiede zu unserer immanenzontologischen Deutung der Tast-, Sicht- und Schallbestände werden wir mit unseren Duft- und Wärmeempfindungen der physikalischen Struktur der Reizfelder als solcher gerecht. Unter diesen Umständen kann auch hier von einer diesen Immanenzbeständen eigenen Substanz nicht die Rede sein. Denn die Duft- und Wärmebestände werden unmittelbar nur in ihrer leiblichen Gegebenheit aufgefaßt, und ihre Deutung auf eine Erfüllung des außerleiblichen Raumes vollzieht sich erst dadurch, daß wir diesen letzteren in unserer Fortbewegung durchdringen. Mit dieser Durchdringung des duft- und wärmeerfüllten Raumes aber fällt das den Begriff der Substanz konstituierende Merkmal der wechselseitigen Undurchdringlichkeit physischer Körper fort. Die Behandlung des Substanzproblems bei den nicht tast- oder sichthaften Immanenzbeständen wird dadurch kompliziert, daß unser deutendes Verhalten diesen Beständen gegenüber ein verschiedenes ist, je nachdem sich unser Sinneswerkzeug in einiger Entfernung von der Reizquelle befindet oder dieser unmittelbar anliegt In dem ersteren Falle betrachten wir solche Bestände in dem soeben beschriebenen Sinne als selbständige Gebilde und, wenn wir sie durch Zuhilfenahme des Sicht- oder Tastsinnes mit dem sie verursachenden Körper in Beziehung bringen, so betrachten wir sie als mittelbare Wirkungen desselben. In dem zweiten Falle verfahren wir anders. Wenn nämlich der den Reiz verursachende Körper dem wahrnehmenden Sinneswerk-
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zeuge unmittelbar anliegt, so kommen wir zu der Vorstellung, daß die betreffende Immanenzqualität diesen Körper in derselben Weise durchdringe, wie sie außerhalb des Körpers den ihn umgebenden Raum durchwaltet. In diesem Falle sprechen wir dann nicht mehr von einer Wirkung der Substanz, sondern legen ihr jene Qualität als eine Eigenschaft bezw. als einen Zustand in demselben Sinne bei, wie wir dem ertasteten Körper seine uns unbekannte innere Beschaffenheit beilegen, die wir aus seinem Widerstande erschließen. Mit anderen Worten: dasselbe, was außerhalb der Grenzen des Körpers als seine Wirkung angesehen wird, wird hier innerhalb dieser Grenzen als seine Eigenschaft oder als sein Zustand betrachtet. Der Unterschied zwischen Eigenschaft oder Zustand auf der einen Seite und Wirkung auf der anderen ist in diesem Falle also nur ein Unterschied der Raumlage eines und desselben Bestandes. So ist, wenn wir uns eine Uhr dicht an das Ohr halten, diese selbst das, was tickt; oder, wenn wir uns eine Blume dicht an die Nase halten, so ist es diese selbst, die duftet; und wenn wir einen warmen Körper anfassen, so ist er selber warm. Nach dieser Hinsicht war also die traditionelle Substanzlehre im Rechte, wenn sie alle artverschiedenen Immanenzqualitaten als Eigenschaften der Substanzen auffaßte. Sie sind solche Eigenschaften, insoweit sie innerhalb der Substanz selbst auftreten. Außerhalb der Substanz dagegen sind sie, anders als die ertasteten und erschauten Bestände, nicht die Eigenschaften derselben, sondern nur ihre Wirkungen und werden immanenzontologisch an sich selbst als substanzlose Eigengebilde aufgefaßt. Aber auch als Eigenschaften innerhalb der Substanz tragen sie an und für sich keinen substantiellen Charakter. Sie zeigen uns nicht die Substanz selber; sie durchwalten sie nur. Denn sie sind, insoweit es nur auf sie ankommt, auch innerhalb der Substanz als durchdringlich gedacht. Das konstituierende Merkmal dieser letzteren, ihre Undurchdringlichkeit fehlt ihnen also. Hierfür ist es charakteristisch, daß wir zu dem Begriffe der Substanz, auch wenn sie in dieser selbst auftreten, durch diese anderen Immanenzqualitäten niemals gelangen. Wir müssen einen physischen Körper und damit die Substanz vielmehr immer erst sehen oder tasten, um jene nichtsubstantiellen Eigenschaften auf die Substanz zu beziehen. Denn substantiell ist nur die seinen Widerstand konstituierende Struktur eines Körpers. Und diese können wir nur durch den Tastsinn oder im Dienste des Tastsinnes durch den Gesichtssinn wahrnehmen. Aus diesen Gesichtspunkten heraus ist unsere immanenzontologische Deutung des Geschmackes zu verstehen. Seine Eigenart be-
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steht darin, daß er nur bei unmittelbarem Anliegen des Sinneswerkzeuges an dem schmeckenden Gegenstande wahrgenommen wird, in einem den schmeckenden Körper umgebenden Felde dagegen nicht auftritt. Daher treten die Geschmackswahrnehmungen stets mit Tastwahrnehmungen verbunden auf. Unter diesen Umständen pflegen wir ähnlich wie seine Wärme oder seinen Duft auch den Geschmack dem schmeckenden Körper selbst als seine Eigenschaft beizulegen, indem wir von ihm sagen, er sei süß oder sauer usw. Das substantielle Wesen dieses Körpers aber nehmen wir nur durch unseren Tastsinn wahr. Der Geschmack als solcher kann es uns nicht erschließen. Denn er hat mit Undurchdringlichkeiten nichts zu tun. Dächten wir uns daher ein System verschiedener Geschmackbestände, so würde, obwohl wir den Geschmack nur an Substanzen kennen, dennoch eine Substanz in diesem Systeme nicht vorkommen. Eine Betrachtung aller dieser manichfachen Formen der an sich selbst nicht substantiellen Immanenzbestände, die nur durch ihre Einlagerung innerhalb der Substanzen zu den Eigenschaften oder Zuständen dieser letzteren werden, führt uns zu der Frage, wie es sich denn mit diesen Immanenzbeständen verhält, wenn wir sie nicht auf unsere außerleibliche Umgebung deuten, sondern sie nach ihrer peripheren oder intraperipheren Gegebenheit auf das sie wahrnehmende leibliche Sinneswerkzeug beziehen. Es ist offenbar, daß für diese letztere Art der Auffassung des Sachverhaltes die Sichtwahrnehmungen fortfallen, da sie ausschließlich in ultraperipheren Deutungserfüllungen vorkommen und niemals auf unser Auge als solches bezogen werden. Zwar können grelle Beleuchtungen und dergleichen gelegentlich auch innerhalb unseres Auges Empfindungen hervorrufen; jedoch sind solche Empfindungen von anderer Natur als unsere Sichtbestände. Diese letzteren aber werden, wenn wir von den Erfahrungen der geheilten Blindgeborenen absehen, immer nur auf außerleibliche Gebiete bezogen. Alle anderen Wahrnehmungsbestände dagegen sind, auch wenn wir sie gewöhnlich in einem ultraperipheren Sinne deuten, zugleich einer peripheren bzw. intraperipheren Deutung fähig. Diese letztere Art der Deutung ist für die Frage nach dem Verhältnisse der Immanenzbestände zu der Problematik der Substanzlehre insofern lehrreich, als es sich zeigt, daß wir mit alleiniger Ausnahme des Tast- und Sichtsinnes als der eigentlichen Organe für das phänomenal transzendente Ding unsere gesamte außerleibliche Immanenzontologie auf einer einfachen Hinausverlegung leiblicher Immanenzbestände in außerleibliche Gebiete aufbauen.
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Das wird offensichtlich, wenn wir diese Bestände auf ihre innere Struktur in dem Rahmen ihrer peripheren oder intraperipheren Deutung untersuchen. Betrachten wir bei den Schallbeständen die sogenannten subjektiven Geräusche, das Klingen und Sausen in dem Ohre, oder sehen wir bei Wärme, Duft und Geschmack von einer Beziehung dieser Bestände auf ultraperiphere Gebiete ab, so erkennen wir, daß ihre innerleibliche Beschaffenheit der ihnen in außerleiblichen Gebieten zugeschriebenen Beschaffenheit gleich ist. Ein Klingen in meinem Ohre ist abgesehen von dieser Lokalisation in keiner Weise anders als das Klingen, das ich in einem Nebenzimmer höre, oder das ich in einen dicht an mein Ohr gehaltenen Gegenstand hineinverlege. Und ebenso haben Wärme, Duft und Geschmack auf mein wahrnehmendes Sinneswerkzeug bezogen dieselbe Beschaffenheit, die ich ihnen außerhalb meines Leibes zuschreibe. Denn diese letztere Beschaffenheit ist lediglich eine gedachte Fortsetzung des jeweiligen peripheren Bestandes in das ultraperiphere Gebiet. Es zeigt sich also, daß zwischen der innerleiblichen und der außerleiblichen Beschaffenheit dieser Bestände kein Unterschied besteht. Nun ist es aber allen diesen Beständen gemeinsam, daß sie bei ihrem Auftreten innerhalb unseres Leibes an sich selbst substanzlos sind und als flächenhaft oder dreidimensional das wahrnehmende Sinneswerkzeug durchziehend gedacht werden. Eben dies gilt auch von der Schmerzwahrnehmung und den inneren Organempfindungen. Sie treten an oder in unserem Leibe auf und erfüllen die ihnen hier zugewiesene Stelle mit ihrer ganzen Gegebenheit, ohne daß dabei von der phänomenalen Transzendenz eines uns unzugänglichen Dinges und daher von einer Substanz die Rede sein könnte. Sind aber alle innerleiblichen Wahrnehmungsgebilde substanzlos, so erkennen wir nunmehr, daß die nicht tast- und sichthaften Immanenzbestände in ihrem ultraperipheren Auftreten deshalb einen nicht substantiellen Charakter tragen, weil sie von uns nach der Maßgabe ihrer nicht substantiellen innerleiblichen Beschaffenheit in das außerleibliche Gebiet hinausverlegt werden. Hierin verhalten wir uns mit unserer immanenzontologischen Deutung der Tast- und in ihrem Dienste auch der Sichtbestände grundsätzlich anders. Nach ihrem Eigenwesen haben nämlich auch unsere Tast- und Sichtbestände nichts Substantielles an sich. Beziehe ich meine Tastwahrnehmungen nur auf die tastende Hautfläche oder betrachte ich meine Sichtwahrnehmungen nur nach ihrer flächenhaften Gegebenheit, so ist uns auch an diesen Beständen nichts mehr phänomenal transzendent. Sie sind ebenfalls substanzlos. Wenn wir trotz-
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dem durch sie zu dem Begriffe einer Substanz gelangen, so liegt das also nicht an ihnen selbst. Es liegt vielmehr daran, daß wir bei der Tastwahrnehmung von der peripheren Wahrnehmungsfläche zu einem ultraperipheren und bei der Sichtwahrnehmung von der ultraperipheren Wahrnehmungsfläche zu einem hinter dieser liegenden dreidimensionalen Bestände fortschreiten, obwohl sich der letztere in diesen Fällen für unsere Sinneswerkzeuge als undurchdringlich erweist und daher unserer Tast- und Sichterkenntnis unzugänglich ist. Dieser Tatsache tragen wir dadurch Rechnung, daß wir bei der Tast- und Sichtwahrnehmung nicht wie bei den anderen Immanenzbeständen die innerleiblichen Wahrnehmungsgegebenheiten in das ultraperiphere Gebiet einfach hinaustragen, sondern vielmehr in dem von uns dargelegten Sinne die unserer Wahrnehmung verschlossenen und jenseits unserer Immanenzbestände liegenden Körper als unbekannte Korrelate zu den tatsächlich von uns wahrgenommenen Beständen betrachten. Auf diese Weise gelangen wir in dem Bereiche der Tast- und Sichtwahrnehmung und nur in diesem Bereiche zu den uns phänomenal transzendenten Substanzen, die von unseren Wahrnehmungsbeständen als negativen Mantelflächen nur eingehüllt werden, während wir uns solche Substanzen von allen anderen Immanenzbeständen in derselben Weise wie unseren eigenen Körper oder ein als leer betrachtetes Raumgebiet einfach durchzogen denken. Als das entscheidende Merkmal für die Bildung des Substanzbegriffes erweist sich also immer wieder die Undurchdringlichkeit der substantiellen Bestände unserem Tastwerkzeuge und dem ihm dienstbaren Sichtwerkzeuge gegenüber. Es liegt auf der Hand, daß die hier geschilderte Form der Substanzlehre mit allen physikalisch nicht haltbaren Naivitäten behaftet ist, die der Immanenzontologie des täglichen Lebens auch sonst eigen sind. Nichtsdestoweniger darf die Bedeutung dieser Lehre nicht unterschätzt werden. Es wird sich vielmehr zeigen, daß sie ihr Gegenstück auch in der Transzendenzontologie hat, und daß in dieser ähnliche, wenn auch nicht dieselben Verhältnisse vorliegen, wie die hier von uns beschriebenen. Denn in der Transzendenzontologie tritt ebenso wie in unserer immanenten Wahrnehmungswelt das Problem einer Undurchdringlichkeit der physischen Körper auf, und dieses Problem ist, wie wir erkennen werden, auch für die physikalische Begriffsbildung nicht ohne Belang. Wir haben bisher unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf diejenige physische Transzendenz gerichtet, die zwischen dem ultra-
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peripheren Wahrnehmungsgegenstande und dem peripheren Sinneswerkzeuge waltet. Dabei gelangten wir zu dem Begriffe der Substanz als eines nur in unserer Tast- und Sichtwirklichkeit auftretenden und uns phänomenal transzendenten Dinges. Von diesem Dinge aber erkannten wir, daß es mitten in unserer Wahrnehmungswelt selbst liegt. Vor eine wesentlich andere Sachlage werden wir gestellt, wenn wir nunmehr einen Schritt weiter gehen und auf die ebenfalls physischen Transzendenzbeziehungen achten, die zwischen dem wahrgenommenen Gegenstande und seinen Projektionen in den Sinneszentren unseres Gehirns bestehen. Nehmen wir an, daß unser wahrnehmendes Bewußtsein an diese Sinneszentren gebunden sei, dagegen nicht in periphere geschweige denn ultraperiphere Gebiete hinüberreiche, so gelangen wir von hier aus zu einer Auffassung der Außenwirklichkeit, nach der uns diese nicht nur inbezug auf unsere Tast- und Sichtbestände sondern inbezug auf alle Wahrnehmungsbestände ohne Unterschied transzendent ist. Denn alle diese Bestände werden von uns mit peripheren und ultraperipheren Gebilden identifiziert. Und solche Gebilde haben in unseren Sinneszentren nur ihre Projektionen, liegen jedoch selber außerhalb unseres Gehirns und damit auch unseres Bewußtseins. Ist das aber der Fall, so erweist es sich ferner, daß die in unserer Wahrnehmung gemeinten Bestände uns unter solchen Umständen auch nicht bloß phänomenal transzendent sind. Sie liegen also nicht mehr innerhalb unserer Immanenzräume, sondern ihre Transzendenz ist von anderer Art. Die gesamte von uns gemeinte Außenwirklichkeit, die periphere ebenso wie die ultraperiphere, liegt dann nämlich außerhalb unserer Immanenzsysteme und ihrer Räume. Oder anders ausgedrückt: die Welt, die wir wahrnehmen, und die Außenwirklichkeit, die wir in unserer Wahrnehmung meinen, bilden nunmehr zwei verschiedene Systeme und sind sich nicht mehr physisch sondern metaphysisch transzendent. Wir werden also durch die Annahme einer Bindung unseres wahrnehmenden Bewußtseins an unsere Sinneszentren und durch die Tatsache der zwischen diesen letzteren und den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen waltenden Transzendenzverhältnisse aus der Immanenzontologie und ihren transzendenzontologischen Einschlägen zu einer durchgehenden Transzendenzontologie hinübergeführt. Bei diesem Schritte ist es wichtig», daß wir die hier angegebenen beiden Momente sorgfältig unterscheiden. Denn das eigentümliche Wesen der transzendenzontologischen Situation läßt sich nur dann verstehen, wenn wir auf die Verkettung achten, die zwischen den physischen Transzendenzbeziehungen unserer Sinneszentren zu den peripheren und ultra-
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peripheren Beständen einerseits und den außerphysischen Transzendenzbeziehungen unseres wahrnehmenden Bewußtseins zu den physischen durch jene Bestände verursachten Projektionen in unseren Sinneszentren anderseits waltet. In dem vorliegenden Kapitel werden wir diese letzteren Beziehungen, die, wie schon angedeutet wurde., das metaphysische Fundament der Transzendenzontologie bilden, nur streifen. Denn ihrer genaueren Untersuchung sind die beiden folgenden Kapitel gewidmet. Dagegen werden wir uns schon hier ausführlich mit den Konsequenzen zu beschäftigen haben, die für die Transzendenzontologie aus den rein physischen Beziehungen unserer Sinneszentren zu den peripheren und ultraperipheren Beständen folgen. Für diese physischen Beziehungen aber ist es charakteristisch, daß sie zwar nicht als solche innerhalb unserer immanenten Wahrnehmungswelt auftreten, denn sie sind uns transzendent, wohl aber durch diese Wahrnehmungswelt, wenn auch lückenhaft und unvollkommen, repräsentiert werden. Unter diesen Umständen können wir sie, wiewohl nicht selber, so doch in ihrer Wahrnehmungsrepräsentation einesteils unmittelbar beobachten, anderenteils können wir ihren Charakter, insoweit seine Repräsentation unserer Wahrnehmung nicht zugänglich ist, mittelbar aus anderen Beobachtungen erschließen. Wir wollen uns das Wesen dieser zwischen den peripheren und ultraperipheren Beständen einerseits und ihren Projektionen in den Sinneszentren des Wahrnehmenden anderseits waltenden Beziehungen an einer beliebigen Versuchsperson veranschaulicht denken. Lasse ich in der Nähe dieser Person ein Geräusch ertönen, so pflanzen sich die durch die Schwingungen des tönenden Gegenstandes bedingten periodischen Verdünnungen und Verdichtungen der Luft weiter fort, treffen das Trommelfell der Versuchsperson, werden in anderer Form auf ihr inneres Ohr übertragen und von dem Cortischen Organe durch den Hörnerv in das akustische Zentrum der Großhirnrinde geleitet. Auf ähnliche Weise, wenn auch in anderer Vermittelung, treffen die von einem erschauten Körper ausstrahlenden oder reflektierten elektromagnetischen Wellen die Netzhaut der Versuchsperson und werden von dem Sehnerv in das Sehzentrum übertragen. Oder in dem Tastgebiete registriert sich ein Druck auf die Hautfläche durch Vermittelung der Tastnerven in dem Tastzentrum. Usw. Alle unseren Wahrnehmungen zugrundeliegenden außenwirklichen Vorgänge landen also in den Sinneszentren unseres Gehirns. Man hat in dieser Hinsicht das Gehirn des Menschen eine Telephonzentrale genannt, zu der von allen Seiten her auf verschiedenem Wege Nachrichten gelangen.
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Vergleichen wir nun die unserer Wahrnehmung zugrundeliegenden zentralen Erregungen mit ihren Erregungsquellen als dem Gegenstande, den wir in der Wahrnehmung zu erfassen glauben, so finden wir in diesem Bezugsverhältnisse zwei für die Transzendenzontologie wichtige Momente. Nämlich erstens dies, daß zwischen den beiden Vergleichsgliedern nach individualbegrifflicher Hinsicht ein Widerspruchsverhältnis ohne Identitätsergänzung herrscht. Sie sind also einander transzendent, und zwar stehen sie in einer durch Kausalbeziehung innerhalb derselben Wirklichkeitssystematik verbundenen Transzendenz. Zweitens aber finden wir, daß mit dieser individualbegrifflichen Transzendenz nach allgemeinbegrifflicher Hinsicht ein auf Aehnlichkeitsbeziehungen beruhendes Zuordnungsverhältnis verbunden ist. Dh. zwischen der Erregungsquelle als dem in unserer Wahrnehmung gemeinten Gegenstande und seinen unserer Wahrnehmung unmittelbar zugrundeliegenden Projektionen in unseren Sinneszentren bestehen gewisse allgemeinbegriffliche Identitäten. Beide haben in dem früher von uns beschriebenen Sinne an dem Bedeutungsgehalte eines und desselben ihren besonderen Beschaffenheiten übergeordneten Allgemeinbegriffes teil. Das kann man sich unschwer vergegenwärtigen. So tritt, soviel wir wissen, in den Reizbildern unseres Sehzentrums unter anderem dieselbe geometrische Struktur auf, die auch dem entsprechenden ultraperipheren Bestände als der zugehörigen Reizquelle eigen ist, freilich mit dem Unterschiede, daß das, was hier eine euklidisch dreidimensionale Struktur ist, dort als eine nichteuklidisch zweidimensionale Struktur auftritt. Das in den beiden Bezugsgliedern allgemeinbegrifflich Identische ist also nicht die besondere Art der in ihnen vorhandenen geometrischen Struktur, sondern es sind gewisse ihren Strukturbesonderheiten übergeordnete allgemeinere Strukturmerkmale als der Bedeutungsgehalt eines Gattungsbegriffes, an dem sie beide teilhaben. Zu diesen ihnen gemeinsamen Strukturmerkmalen gehört es unter anderem, daß, dank der kausalen Bedingtheit dieser Zuordnung, mit jeder Aenderung in der geometrischen Struktur der Reizquelle innerhalb gewisser Schwellenwerte eine entsprechende Aenderung in der Struktur des zentralen Reizbildes verbunden ist. Bei den hier in Frage kommenden Zuordnungsverhältnissen aller Sinnesgebiete treten Begriffsgemeinschaften von dieser Art auf. Das ist für unsere transzendenzontologische Interpretation der Außenwirklichkeitsbestände, wie wir später sehen werden, von grundlegender Bedeutung. Nicht minder wichtig aber ist es für diese Interpretation, daß es eben nur gewisse allgemeine Züge sind, die die ultraperipheren
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Bestände mit unseren zentralen Projektionen gemeinsam haben, und daß sich nach anderen Hinsichten die Beschaffenheiten beider mehr oder minder voneinander unterscheiden. Das gilt in verschiedenem Maße und in verschiedener Weise für alle Sinnesgebiete. So sind zB. auch abgesehen von ihren schon genannten Unterschieden in der geometrischen Struktur die zentralen Projektionen der Netzhautbilder kleiner und anders gerichtet als die von der wahrnehmenden Versuchsperson gemeinten ultraperipheren Bestände. Die transzendenzontologische Lösung der hiermit zusammenhängenden und früher von uns behandelten Probleme wird später dargelegt werden. Oder auf dem Gebiete der Tastwahrnehmung ist das, was von dem peripheren Sinneswerkzeuge dem Tastzentrum übermittelt wird, nicht die den Widerstand leistende Struktur des ultraperipheren Gegenstandes, die uns vielmehr, wie wir gesehen haben, verborgen bleibt, sondern die auf diesen Widerstand erfolgende Reaktion der Tastkörperchen in unserer Haut. Kurzum: allenthalben projizieren sich in unseren Sinneszentren nicht die Strukturen der ultraperipheren Bestände selber, sondern nur unsere peripheren Reaktionen auf die Einwirkungen dieser Bestände. Und anderseits haben wir auch die zentralen Projektionen wieder als eine vielfach vermittelte weitere Reaktion auf die innerleiblichen Fortwirkungen der peripheren Reizbilder zu betrachten. Alles, was auf diesem Wege von dem ultraperipheren zu dem zentralen Bestände anders wird, ist insofern für die von uns beschriebene allgemeinbegriffliche Identität in der Zuordnung zwischen dem Sinneszentrum und dem wahrgenommenen Gegenstande verloren. Wir können uns die hier waltenden Verhältnisse anschaulich vorstellen, dh. wir können sie so betrachten, wie sie sich in ihrer Sichtrepräsentation darstellen würden. Allein wir hätten sie dann nicht in ihrer ontologischen Eigenwirklichkeit erfaßt. Daß diese letztere eine andere ist und außerhalb unserer immanenzontologischen Repräsentationen liegt, macht sich geltend, wenn wir versuchen, auf dem Boden einer solchen Sichtwelt aus den hier beschriebenen Verhältnissen die ontologischen Konsequenzen zu ziehen. Ist nämlich das wahrnehmende Bewußtsein der Versuchsperson ausschließlich an ihre zentralen Sinneserregungen gebunden, so erweist es sich nunmehr, daß alle ihre Aussagen über die von ihr wahrgenommene Außenwirklichkeit falsch sind. Behauptet sie einen vor ihr liegenden Gegenstand zu sehen, so würden wir ihr zu sagen haben, daß sie sich irre, und daß das, was sie sieht, tatsächlich nur eine Bewußtseinserfassung ihrer zentralen Sichterregungen ist. Und behauptet sie eine Geige zu hören, so hätten wir ihr zu sagen, daß
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sie in Wahrheit nur die akustischen Erregungen ihres Hörzentrums auffasse. Usf. Alle von der Versuchsperson als peripher und ultraperipher gedeuteten Immanenzbestände haben demnach in Wahrheit diesen peripheren und ultraperipheren Charakter nicht, sondern stellen Bewußtseinsauffassungen von ausschließlich zentralen Beständen dar. Die Versuchsperson ihrerseits aber kann den Spieß nunmehr in demselben Sinne auch umdrehen. Sie kann mir beweisen, daß ich nicht sehe, was ich zu sehen glaube, nicht höre, was ich zu hören glaube, und daß alle meine Wahrnehmungsbestände zentrale Gegebenheiten sind, nicht aber den peripheren und ultraperipheren Charakter tragen, den ich ihnen zuschreibe. Ist das der Fall, so betreffen offenbar auch meine anschaulichen Beobachtungen an der Versuchsperson selbst nicht den ontologischen Eigenbestand dieser letzteren, sondern stellen wieder nur eine bewußtseinswirkliche Erfassung der von dieser und ihrer ultraperipheren Umgebung in meinem Sehzentrum hervorgerufenen Reizkonfigurationen dar. Mit anderen Worten: die physischen Transzendenzverhältnisse, die zwischen einer Versuchsperson und ihrer angeblich von ihr wahrgenommenen ultraperipheren Umgebung walten, können von uns zwar anschaulich vorgestellt werden; aber, was wir uns vorstellen, ist dann nicht die ontologische Eigenwirklichkeit dieser Bestandkomplexe, sondern nur eine sichthafte Repräsentation derselben. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß die physische Transzendenz zwischen den in unserer Wahrnehmung gemeinten Beständen und ihren zentralen Projektionen in Verbindung mit der Annahme, daß unser wahrnehmendes Bewußtsein an diese Projektionen gebunden ist, zu der Konsequenz führt, daß eine tatsächliche Wahrnehmungsgemeinschaft zwischen verschiedenen Bewußtseinssystemen nicht möglich ist, sondern daß jeder einzelne Wahrnehmende seine Privatwahrnehmungswirklichkeit hat, und daß allen diesen Privatwahrnehmungswirklichkeiten die in ihnen gemeinte, uns gemeinsame Außenwirklichkeit transzendent ist. Diese uns transzendente Außenwirklichkeit wird dann zwar von allen jenen Privatwahrnehmungssystemen repräsentiert, ist aber nicht mit ihnen identisch. In diesem Ergebnisse erkennen wir die transzendenzontologische Bedeutung der beiden Merkmale, die wir für das Verhältnis zwischen den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen und ihren zentralen Projektionen geltend gemacht haben. Auf dem Umstände des zwischen ihnen bestehenden individualbegrifflichen Widerspruches ohne Identitätsergänzung beruht die Transzendenz unserer Außenwirklichkeit. Und auf dem Umstände der in ihrer wechselseitigen Zuordnung herrschenden allgemeinbegrifflichen Identität beruht ihre Repräsen16
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Die Trauszendenzontologie der Außenwirklichkeit
tationsfunktion, kraft deren, wie wir später erkennen werden, diese Außenwirklichkeit unbeschadet ihrer Transzendenz begrifflich für uns erkennbar ist. Die hier beschriebenen Transzendenz- und Zuordnungsverhältnisse zwischen den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen und ihren zentralen Projektionen tragen lediglich einen physischen Charakter. Wir könnten sie daher auch an entsprechend eingerichteten Instrumenten oder an einem Lebewesen demonstrieren, dessen körperliche Funktionen intakt blieben, dem aber jedes Bewußtsein und deshalb auch jede Sinneswahrnehmung fehlte. Mit der Beziehung zwischen den zentralen Erregungen und dem wahrnehmenden Bewußtsein dagegen verhält es sich anders. Sie trägt einen spezifisch außerphysischen Charakter. Denn das Bewußtsein bildet, wie wir früher erkannt haben, der Außenwirklichkeit gegenüber, trotz seiner außenkausalen Zusammenhänge mit dieser, ein eigenes nach seinen inneren Systemcharakteren ontologisch in sich abgeschlossenes System. Daher lassen sich seine Beziehungen zu dem außenwirklichen Bestände unserer Gehirnerregungen auch nicht an Instrumenten demonstrieren. Wir können diese Beziehungen, wie wir früher gesehen haben, auch nicht beobachten: und zwar nicht nur tatsächlich sondern auch grundsätzlich nicht. Unsere Methode, ihrer habhaft zu werden, ist demgemäß eine andere als die den physischen Beständen gegenüber von uns angewendete. Sie besteht in der seinerzeit von uns geschilderten Fremdbewußtseinsrealisation. Nur durch diese, nicht aber durch eine repräsentative Beobachtung wissen wir etwas von der Wahrnehmungswelt des anderen. In dieser weder durch uns zu beobachtenden noch auch überhaupt außenwirklichen Beziehung zwischen unserem wahrnehmenden Bewußtsein und den zentralen Erregungen unserer Sinnesgebiete besteht das alleinige Moment, um dessenwillen wir der Transzendenz der Außenwirklichkeit einen metaphysischen Charakter zuzuschreiben haben. Das metaphysische Wesen dieser Transzendenz beruht also lediglich auf dem durch seine innersystematische Geschlossenheit bedingten Verhältnisse unseres Bewußtseins zu unserem Leibe. Es wurzelt in dem psychophysischen Probleme. Nur daß das letztere Problem das umfassendere ist, da es nach dem Verhältnisse zwischen Leib und Seele im Allgemeinen fragt, während die Lehre von der metaphysisch transzendenten Außenwirklichkeit ihre Fragestellung auf die Beziehungen unseres wahrnehmenden Bewußtseins zu den zentralen Sinneserregungen beschränkt.
Die Erregung der Sinneszentren und die Wahrnehmungen
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Es muß einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben, das eigentümliche Wesen der hier angedeuteten Sachlage im Einzelnen klarzustellen. Vorläufig sei nur auf Folgendes hingewiesen. Aus unseren bisherigen Darlegungen geht hervor, daß die Transzendenz zwischen unseren zentralen Reizkonfigurationen und den kausal mit ihnen verbundenen peripheren und ultraperipheren Beständen an und für sich einen rein physischen und keinen metaphysischen Charakter trägt. Denn jene Reizkonfigurationen und diese Bestände gehören in der transzendenten Außenwirklichkeit ebenso wie in ihrer immanenten Repräsentation zu einem und demselben naturgesetzlichen und räumlichen Systemzusammenhange. Das metaphysische Moment kommt in die transzendenzontologische Situation erst dadurch hinein, daß an die Stelle jener physischen Reizkonfigurationen kraft ihrer bewußtseinswirklichen Auffassung unsere Privatwahrnehmungswirklichkeiten treten, die wir aus unseren Empfindungen konstruieren. Das Wesen dieser Privatwahrnehmungswirklichkeiten bringt es mit sich, daß aus ihrem Bereiche die gesamte Systematik der transzendenten Außenwirklichkeit ausgeschlossen ist. Daher liegt diese letztere in dem von uns dargelegten Sinne jenseits des Bereiches unserer Erfahrung und ist uns somit auf eine metaphysische Weise transzendent. Das methaphysische Moment in der transzendenzontologischen Situation liegt also in den Beziehungen, die zwischen unseren zentralen Reizkonfigurationen und ihrer bewußtseinswirklichen Auffassung walten. Bedenken wir, daß diese bewußtseinswirklich von uns aufgefaßten Reizkonfigurationen das einzige Bestandmaterial bilden, das innerhalb unserer Wahrnehmungswelt auftritt, daß sich also aus der Bewußtseinsausgabe dieser Erregungen unsere gesamte immanente Wahrnehmungswelt, insoweit sie innerhalb des Ueberschneidungsbezirkes liegt, aufbaut, so erkennen wir, daß die unmittelbare Transzendenz der Außenwirklichkeit mit der Transzendenz zwischen jenen zentralen Erregungen und ihrer Bewußtseinsauffassung identisch ist. Oder anders ausgedrückt: wir erkennen, daß das, was unserer immanenten Außenwirklichkeit unmittelbar transzendent ist, nicht etwa die von uns gemeinten peripheren und ultraperipheren Bestände selbst sind, sondern ausschließlich die in unserer Wahrnehmung bewußtseinswirklich aufgefaßten, aber in ihr als solche nicht gemeinten zentralen Sinneserregungen. Von dieser letzteren unmittelbaren Art der Transzendenz aber haben wir erkannt, daß sie zugleich auch die alleinige Grundlage für den metaphysischen Charakter der Außenwirklichkeitstranszendenz bilden. Dagegen trägt die Transzendenz zwischen jenen Gehirn15*
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
erregungen und den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen an und für sich, wie wir gesehen haben, keinen metaphysischen, sondern lediglich einen physischen Charakter. Ihren metaphysischen Charakter erhält diese physische Transzendenz für uns erst mittelbar, nämlich dadurch, daß sie sich in jenem naturgesetzlichen Systeme abspielt, das uns auf Grund der beschriebenen Sachverhalte metaphysisch transzendent ist, und mit dem wir nur durch unser psychophysisches Verhältnis zu den uns unmittelbar transzendenten Gehirnerregungen in Verbindung stehen. In der immanenzontologischen Struktur unserer Wahrnehmungswelt wird dieser Sachverhalt dadurch verdeckt, daß, wie wir mehrfach dargelegt haben, unser Bewußtsein seine Wahrnehmungen niemals auf die ihm unmittelbar zugrundeliegenden zentralen Erregungen als solche bezieht, sondern sie stets auf die zu diesen Erregungen nur in einem Zuordnungsverhältnisse stehenden und ihnen transzendenten peripheren und ultraperipheren Bestände deutet, nichtsdestoweniger aber diese letzteren so behandelt, als wären sie unserem Bewußtsein unmittelbar gegeben. In einer Klarstellung der transzendenzontologischen Bezugsverhältnisse ist dieses Verdeckungsmanöver zunächst wieder rückgängig zu machen. Wir haben hier also bei unserem wahrnehmenden Bewußtsein zwischen dem zu unterscheiden, was ihm tatsächlich ontologisch vorliegt, und dem, was es sich aus dem ihm ontologisch Vorliegenden gnoseologisch erdeutet. Der ganze hiermit zusammenhängende Fragenkomplex, der uns offenbar auf unsere Erörterungen über die transzendenzontologischen Grundbegriffe und auf den ebenfalls schon hervorgehobenen Zwiespalt zwischen unseren Empfindungen und dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes zurückweist, soll hier noch nicht angeschnitten werden. Soviel aber wird schon aus diesen vorläufigen Darlegungen klar, daß man zu einem Verständnisse der transzendenzontologischen Situation nur dann gelangen kann, wenn man einerseits die Fiktizität unserer peripheren und ultraperipheren Deutungen durchschaut und anderseits die metaphysische Transzendenz zwischen unserer bewußten Wahrnehmung und den ihr zugrundeliegenden Gehirnvorgängen von der physischen Transzendenz zwischen diesen letzteren und den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen unterscheidet. Die Prüfung der mit jener Fiktizität zusammenhängenden ontologischen Verhältnisse innerhalb unseres Bewußtseins selbst und eine Untersuchung der zwischen unserem Bewußtsein und den uns transzendenten Gehirnvorgängen waltenden Realbeziehungen muß den beiden folgenden Kapiteln vorbehalten bleiben. Wohl aber haben wir schon hier die Frage zu beantworten, wie es sich denn mit den
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idealen Beziehungen zwischen unseren bewußten Wahrnehmungen und den ihnen transzendenten Sinneserregungen verhält; ob jene Wahrnehmungen und diese Sinneserregungen, damit aber zugleich auch die den letzteren zugeordneten peripheren und ultraperipheren Bestände einander in jeder Beziehung heterogen sind, oder ob auch hier wieder ein auf Aehnlichkeitsbeziehungen beruhendes Zuordnungsverhältnis waltet. Diese Frage ist von einer Feststellung des Realkonnexes, durch den solche idealen Beziehungen begründet werden, unabhängig und läßt sich auch ohne diese Feststellung beantworten. Freilich in dem Sinne läßt sie sich nicht beantworten, ob als wir je imstande wären, unsere bewußten Wahrnehmungen mit den uns transzendenten Gehirnvorgängen unmittelbar zu vergleichen. Das ist durch die Natur der Sache ausgeschlossen. Wohl aber können wir das Verhältnis klarstellen, daß in immanenzontologischer Repräsentation zwischen unseren leiblichen Reizkonfigurationen und den mit ihnen verbundenen Wahrnehmungen waltet. Und wir können dann aus diesem Verhältnisse auf ein korrespondierendes Verhältnis zwischen unseren Wahrnehmungen und den mit ihnen verbundenen transzendenten Reizkonfigurationen schließen. Denn in Wahrheit ist unser wahrnehmendes Bewußtsein nur mit diesen letzteren, nicht aber mit ihren immanenten Repräsentationen kausal verbunden. Das ging schon aus unseren Erörterungen über den inneren Widerspruch hervor, der in dem Rahmen der Immanenzontologie mit der Stellung des psychophysischen Problems verbunden ist, und es wird in dem weiteren Verlaufe unserer Untersuchungen vollends zutagetreten. Wir können also jene Frage nach dem idealen Verhältnisse zwischen unserer bewußten Wahrnehmung und den ihr transzendenten Reizkonfigurationen nicht direkt, wohl aber können wir sie indirekt beantworten. Diese Beantwortung erfolgt dem schon angedeuteten Verfahren entsprechend dadurch, daß wir die peripheren und, soweit das durch indirekte Ermittelungen möglich ist, auch die zentralen Reizkonfigurationen an dem Körper einer Versuchsperson innerhalb unserer eigenen Wahrnehmungswelt beobachten und diese Beobachtungen unter Benutzung der Fremdbewußtseinsrealisation mit den entsprechenden Aussagen der Versuchsperson selbst über die durch solche Reize hervorgebrachten Vorgänge innerhalb der ihr eigenen Wahrnehmungswelt vergleichen. Ein solcher Vergleich lehrt uns dann, daß das deutungslos Gegebene unserer bewußten Wahrnehmungen durchgehends in einem engen Zuordnungsverhältnisse zu den peripheren und damit auch zu den zentralen Reizkonfigurationen unseres Leibes steht. Das
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
gilt sowohl von der qualitativen Beschaffenheit unserer Wahrnehmungsbestände als auch von ihren geometrischen Verhältnissen. Daß die qualitative Beschaffenheit unserer Wahrnehmungen zu den ihnen transzendenten peripheren und zentralen Reizkonfigurationen in einem festen Zuordnungsverhältnisse steht, zeigen uns ungezählte Erfahrungen des täglichen Lebens wie des naturwissenschaftlichen Experimentes. So entspricht die in unserem Bewußtsein auftretende Qualität eines Klanges nach jeder Hinsicht unserer physischen Handhabung des betreffenden musikalischen Instrumentes, welches seinerseits ebenfalls physisch auf das Ohr und das akustische Sinneszentrum des Hörenden einwirkt. Oder es rufen die chemischen Veränderungen einer Lösung vermittels der durch sie bedingten Einwirkungen auf unser Auge und unser Sehzentrum eine entsprechende Aenderung unserer Farbwahrnehmungen hervor. Usw. Die Untersuchung aller Empfindungen auf ihre außenwirkliche Bedingtheit führt nach dieser Hinsicht zu demselben Ergebnisse. So verschieden daher unsere Empfindungsqualitäten von den entsprechenden Beschaffenheiten der ihnen transzendenten Gehirnvorgänge auch sonst sein mögen, in jedem Falle stehen sie zu diesen letzteren in einem festen Zuordnungsverhältnisse, dergestalt daß mit bestimmten Reizkonfigurationen eines Sinneszentrums immer wieder dieselben Empfindungsqualitäten verbunden sind und jede Aenderung jener Reizkonfigurationen innerhalb gewisser Schwellenwerte von entsprechenden Aenderungen unserer Empfindungsqualitäten begleitet ist. Von den in diesen Empfindungsqualitäten auftretenden geometrischen Verhältnissen gilt das Gleiche. Alles, was nach dieser Hinsicht an unserer Netzhaut oder an unseren Tastflächen und dementsprechend auch in unserem Seh- oder Tastzentrum auftritt, findet sich in der geometrischen Struktur unserer zugehörigen bewußten Wahrnehmungen wieder. Auch hier kennen wir nicht das konkrete Wesen, das diese geometrischen Strukturen innerhalb der uns transzendenten Gehirnerregungen selbst tragen. Wohl aber können wir wieder feststellen, daß jede in immanenzontologischer Repräsentation beobachtbare oder indirekt zu ermittelnde Raumgestaltung in dem physischen Befunde unserer peripheren und zentralen Reizbilder innerhalb bestimmter Schwellenwerte von einer entsprechenden Raumgestaltung in unserer bewußten Wahrnehmung begleitet ist. Auch in dieser Hinsicht herrscht also zwischen unseren zentralen Reizkonfigurationen und unserer bewußten Wahrnehmungsauffassung derselben ein festes Zuordnungsverhältnis. Wir kommen also zu dem Gesamtergebnisse, daß das unserer deutungserfüllten Wahrnehmung zugrundeliegende deutungslos ge-
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gebene Empfindungsmaterial den zentralen Reizkonfigurationen als dem ihm metaphysisch unmittelbar transzendenten Sachverhalte gegenüber sowohl, was die Empfindungsqualitäten, als auch, was deren geometrische Verhältnisse angeht, nicht nach jeder Hinsicht heterogen ist, sondern vielmehr in einem festen Zuordnungsverhältnisse zu ihnen steht und daher in dem von uns erörterten Sinne mit ihnen gemeinsam an dem Bedeutungsgehalte identisch derselben, ihren Sonderbeschaffenheiten übergeordneten Allgemeinbegriffe teilhat. Ist dies aber der Fall, 30 erkennen wir, daß das Verhältnis zwischen der bewußten Wahrnehmung und den zentralen Reizkonfigurationen, ganz gleich durch welche Realbeziehungen es begründet sein mag, in idealer Hinsicht grundsätzlich denselben Charakter trägt, wie die physisch kausal begründeten Zuordnungsverhältnisse zwischen den ultraperipheren Beständen und den peripheren Reizbildern und wie die entsprechenden Zuordnungsverhältnisse zwischen diesen letzteren und den zentralen Erregungen. Das aber heißt: unsere bewußte Wahrnehmung bildet das in seiner Realbegründung zunächst noch unerklärte Endglied einer mehrfach vermittelten Zuordnungsreihe, deren Anfangsglied in der transzendenten Außenwirklichkeit derjenige Bestand ist, den wir in unserer Privatwahrnehmungswirklichkeit als einen peripheren oder ultraperipheren fälschlich unmittelbar zu erfassen glauben. Wir können das zwischen den einzelnen Gliedern und daher auch zwischen dem Anfangs- und dem Endgliede einer solchen Reihe waltende ideale Verhältnis als das einer Abbildung bezeichnen. Dabei wird unter diesem Begriffe natürlich nicht in dem volkstümlichen Sinne des Wortes eine sinnfällige Aehnlichkeit und besonders nicht eine Aehnlichkeit von Beständen innerhalb eines und desselben Immanenzsystems verstanden. Vielmehr ist der Begriff der Abbildung hier in dem Sinne des wissenschaftlichen Aehnlichkeitsbegriffes, dh. in dem Sinne gebraucht, daß die einander ähnlichen Gebilde an demselben Bedeutungsgehalte gewisser ihnen gemeinsamer Allgemeinbegriffe teilhaben. In diesem Sinne besteht dann zwischen den Beständen unserer immanenten Wahrnehmungswelt und den ihnen entsprechenden Beständen der transzendenten Außenwirklichkeit ein Abbildungsverhältnis. Damit wird die in der Philosophie der letzten Jahrzehnte zu Unrecht abgelehnte Lehre von der abbildenden Erkenntnis der Außenwirklichkeit durch unsere Wahrnehmungen in dem Rahmen der Transzendenzontologie wieder erneuert. Durch dieses Abbildungsverhältnis ist es bedingt, daß uns die transzendente Außenwirklichkeit trotz ihrer Transzendenz kein Rätsel
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
bleibt. Ihre konstitutiven Züge sind vielmehr an den entsprechenden Zügen unserer immanenten Wahrnehmungswelt ablesbar. Die Struktur der in unserer Wahrnehmung auftretenden Empfindungen und die uns transzendenten Strukturen der zentralen Sinneserregungen, der peripheren Reizbilder und der ultraperipheren Bestände sind mit den von uns geltend gemachten Einschränkungen eng miteinander verwandt. Wird also bei dieser Lage der Dinge die Frage nach der Möglichkeit einer Erkenntnis der uns transzendenten Außenwirklichkeit gestellt, so lautet die Antwort, daß eine solche Erkenntnis zwar nicht in dem Sinne einer unmittelbaren Beobachtung oder einer anschaulichen Vorstellung der transzendenten Außenwirklichkeit möglich ist. Denn die konkrete Beschaffenheit dieser letzteren bleibt uns unbekannt. Wohl aber ist sie in dem Sinne einer begrifflichen Erkenntnis, dh. einer Feststellung des Bedeutungsgehaltes derjenigen Allgemeinbegriffe möglich, an denen, wie unsere immanenten Wahrnehmungen, so auch die transzendente Außenwirklichkeit teilhat. Mit der weiteren Ausgestaltung dieser Art der Außenwirklichkeitserkenntnis werden wir uns in einem späteren Teile unserer Untersuchung noch zu beschäftigen haben. Schon hier aber sei darauf hingewiesen, daß sich eine solche Erkenntnis nicht auf die in unseren Empfindungen vorliegenden allgemeinbegrifflichen Verhältnisse allein beschränken kann, sondern zugleich auch gewisse Transformationen mit ihnen vornehmen muß, durch die sie den Abweichungen gerecht wird, in denen sich unsere zentralen Empfindungsgegebenheiten von den ihnen in der transzendenten Außenwirklichkeit entsprechenden peripheren und ultraperipheren Beständen unterscheiden. Als eine Vorarbeit hierzu ist die Umgestaltung zu betrachten, die wir mit dem deutungslos Gegebenen der Empfindungen in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung vollziehen. Insofern steht diese letztere zwischen jenen Empfindungen als einer bewußtseinswirklichen Auffassung unserer zentralen Reizkonfigurationen als solcher auf der einen Seite und einer konsequent durchgeführten Rückübersetzung dieser Empfindungen auf die durch sie abgebildeten peripheren und ultraperipheren Bestände in der transzendenten Außenwirklichkeit auf der anderen Seite. In diesem Sinne haben wir bei einer früheren Gelegenheit darauf hingewiesen, daß das deutungslos Gegebene unserer Wahrnehmung den peripheren und daher auch den zentralen Reizbildern, die deutungserfüllte Wahrnehmung selbst dagegen den ultraperipheren Beständen entspricht. Und wir können dem hier noch hinzufügen, daß wir die zentrale Gegebenheit unserer Empfindungen, insoweit wir diese in der deutungserfüllten Wahrnehmung an die
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Grenzen unseres Leibes verlegen, also in Bezug auf ihre Lokalisation, auch bei unseren als peripher aufgefaßten Sinneswahrnehmungen abändern. Die Leistung unserer immanenzontologischen Deutungen besteht also darin, daß wir unsere zentral bedingten Empfindungen so umgestalten, daß sie annähernd wieder der Struktur ihres transzendenten Originals, dh. des peripheren oder ultraperipheren Bestandes entsprechen. Das wird an dem immanenzontologischen Aufbau unserer Sichtwirklichkeit besonders deutlich. So ist die zentrale Reizkonfiguration in unserem Sehzentrum und ihr entsprechend das deutungslos Gegebene unserer Sichtempfindungen zwar ein Abbild des uns transzendenten ultraperipheren Bestandes, aber kein dreidimensional plastisches, sondern eine flächenhafte Projektion desselben. Diesem Sachverhalte gegenüber besteht die Leistung unserer immanenzontologischen Deutungserfüllung darin, daß sie jene Differenz wiederaufhebt, indem sie die Raumverhältnisse der flächenhaften Projektion durch Umgestaltung in die dreidimensional plastischen des ultraperipheren Bestandes zurückübersetzt. Oder: in dem deutungslos Gegebenen unserer Empfindungen sehen wir eine vor uns liegende Schneefläche in weiten Partien weiß, in anderen aber mehr oder minder tief bläulich schimmern. In solchen Fällen kann unsere deutungserfüllte Wahrnehmung diese Unterschiede zwar nicht aufheben; aber sie drängt ihre Bedeutung in den Hintergrund unseres Bewußtseins zurück, und in seinem Vordergrunde steht dann die uns geläufige Auffassung, daß an sich selbst der Schnee an den blauen Stellen ebenso beschaffen ist, wie an den weißen, sowie daß jene Farbverschiedenheiten des Schnees mit seiner Raumlage unter bestimmten Beleuchtungsverhältnissen zusammenhängen. Auch hier besteht also die Leistung der mit unserer Wahrnehmung verbundenen Deutungserfüllung in einer umgestaltenden Rückübersetzung von zentral bedingten Empfindungsverhältnissen auf die entsprechenden anderen Verhältnisse in dem ultraperipheren Bestände. Es ist hieraus ersichtlich, daß der gnoseologische Einschlag in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung auf eine Erkenntnis derjenigen peripheren und ultraperipheren Verhältnisse abzielt, die uns nicht als solche innerhalb des Bewußtseins gegeben sind, die wir aber aus anderen Erfahrungen direkt oder indirekt ermitteln, und die den in der uns transzendenten Außenwirklichkeit bestehenden Verhältnissen entsprechen. Auf der anderen Seite bilden unsere deutungslos gegebenen Empfindungen eine Darstellung der uns ebenfalls transzendenten zentralen Reizkonfigurationen, jedoch ohne daß wir darauf
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
ausgingen, mit ihrer Hilfe diese Reizkonfigurationen in einer ähnlichen Weise wie die peripheren und ultraperipheren Bestände abzubilden. Daher haben jene Empfindungen als solche, insoweit wir uns ihrer überhaupt bewußt werden, nichts Gnoseologisches mehr für uns, sondern stellen sich uns nur als das dar, was sie als ontologische Gebilde an sich selbst sind. Im Hinblicke auf die hier von uns gewählten Beispiele können wir uns den Unterschied zwischen jenem gnoseologischen Wahrnehmen und diesem ontologischen Empfinden an dem verschiedenartigen Verhalten des Alltagsmenschen und des Künstlers veranschaulichen. In dem Sehen des täglichen Lebens, das auf die praktische Erfassung der in der transzendenten Außenwirklichkeit waltenden und in der immanenten Wahrnehmungswelt repräsentierten physischen Verhältnisse ausgeht, wird die ontologische Eigenbeschaffenheit unserer Empfindungen einer Erfassung jener physischen Verhältnisse geopfert. Daher sehen wir gnoseologisch. In dem Sehen des Malers dagegen wird, der Technik seiner Kunst entsprechend, von einer Erfassung der uns nicht gegebenen und uns in Wahrheit transzendenten physischen Verhältnisse abgesehen und die eigene Beschaffenheit unserer Empfindungen als solcher wiederhergestellt. Daher sieht der Maler ontologisch. Er beobachtet das Flächenhafte in unserer Perspektive, die bläulichen Töne in dem Schnee, die weißlichen Töne in dem grünen Laube usw. Natürlich ist auch ihm unsere immanente Wahrnehmungsdeutung in dem Sinne einer Einstellung auf die physischen Außenwirklichkeitsverhältnisse geläufig. Aber seine Kunst erfordert es, daß er von dieser Einstellung absieht und ohne gnoseologische Beimengungen den ontologischen Bestand unserer Empfindungsgegebenheiten selbst erfaßt. Dieser künstlerischen Wahrnehmungsweise gegenüber besteht die Leistung der uns in dem praktischen Leben geläufigen Deutungserfüllung unserer Empfindungen darin, daß die Differenzen, die zwischen den uns transzendenten peripheren und ultraperipheren Beständen einerseits und ihrer bewußtseinswirklichen Abbildung in unseren Empfindungen anderseits bestehen, durch eine Umgestaltung der letzteren teilweise wieder aufgehoben werden. Mit diesem Verfahren ist unsere immanente Deutungserfüllung auf dem Wege von einer Erfassung der bloßen Empfindungen als solcher zu einer Erkenntnis der Verhältnisse, die in der uns transzendenten Außenwirklichkeit walten. Sie geht aber diesen Weg nicht zuende. Denn sie hebt nicht alle jene Differenzen auf und zwar besonders die eine nicht, nämlich die Differenz, die zwischen dem uns unmittelbar vorliegenden und dem transzendenten Materiale selbst besteht. In dem Sinne des früher
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von uns dargelegten Prinzips der vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinung sind wir in unserer praktischen Wahrnehmungsdeutung vielmehr zwangsläufig daran gebunden, das uns vorliegende Empfindungsmaterial und daher auch, abgesehen von den schon angedeuteten Modifikationen, die ihm anhaftende Art der Konkretheit individualbegrifflich mit den von uns gemeinten außenwirklichen Beständen selbst zu identifizieren. Unsere Wahrnehmungsdeutung vernachlässigt also den Umstand, daß sich die peripheren und ultraperipheren Bestände in den uns vorliegenden Empfindungen nur abbilden, ihrem materialen Bestände nach aber von ihnen verschieden und uns transzendent sind. Auf dieser Halbheit des in unserer Wahrnehmungsdeutung eingeschlagenen Erkenntnisverfahrens beruhen die inneren Gebrechen der Immanenzontologie. Das ist derselbe Grundfehler dieser letzteren, den wir in der Einleitung zu dem vorangegangenen Kapitel dargelegt haben. Wir erkannten dort, daß jener Fehler nur dadurch wieder gutgemacht werden kann, daß man die in unserer immanenten Außenwelt vollzogene individualbegriffliche Identifikation aufhebt und den Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes von der Empfindnngsgrundlage unserer Wahrnehmungen trennt. Eine solche Trennung, die sich, wie wir gesehen haben, mit den Prinzipien der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit nicht durchführen läßt, wird von der Transzendenzcntologie auf der Grundlage der hier dargelegten Verhältnisse in einem ontologischen Sinne vollzogen. Auf dieser Grundlage ist die Transzendenzontologie imstande, nicht nur die der Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit anhaftenden Fehler zu vermeiden, sondern auch das Zustandekommen unserer immanenten Wahrnehmungswelt zu erklären und die in dieser letzteren vorkommenden Struktureigentümlichkeiten, die in der Immanenzontologie selber unerklärt bleiben, auf ihre Ursache zurückzuführen. Um uns davon zu überzeugen, wollen wir zunächst wieder von der durch uns beschriebenen physischen Grundlage der Außenwirklich keitstranszendenz ausgehen. Die Betrachtung dieser letzteren hat uns gezeigt, daß die unseren Empfindungen zugrundeliegenden und uns transzendenten zentralen Erregungen in der Großhirnrinde zu den uns ebenfalls transzendenten peripheren und ultraperipheren Beständen in einem kausalen Abhängigkeitsverhältnisse stehen, und zwar dergestalt daß sich jene Erregungen als mittelbare Abbildungen dieser Bestände darstellen. Unsere Großhirnrinde spielt insofern die Rolle eines Registrierapparates für allerlei Einwirkungen der peripheren
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und ultraperipheren Außenwirklichkeit auf unsere Sinneszentren. Man könnte sich daher, soweit die rein physischen Bedingungen unserer Außenwirklichkeitserkenntnis in Frage kommen, den menschlichen Leib auch durch einen anderen künstlich hergestellten und in mancher Hinsicht vielleicht feiner arbeitenden Registrierapparat mit verschiedenartigen Aufnahmestellen ersetzt denken. Was ein solcher Apparat registriert, ist dann mit den Originalvorgängen in den außerhalb von ihm liegenden Beständen als den zugehörigen Erregungsquellen, deren Verhalten wir von ihm ablesen, individualbegrifflich nicht identisch. Und anderseits brauchen die Registrierungen, die er vornimmt, mit jenen originalen Erregungsvorgängen auch allgemeinbegrifflich nicht schlechthin gleichartig zu sein. Sie können vielmehr einen grundsätzlich anderen Charakter tragen. Immer aber besteht zwischen den Vorgängen in einem derartigen Apparate und den zugehörigen Originalvorgängen irgendeine allgemeinbegriffliche Identität, die den Gegenstand der Registrierung bildet, und auf die es ankommt. So kann ein solcher Apparat beispielsweise Luftdruckänderungen durch graphische Kurven auf einem Blatte Papier darstellen. Jene Aenderungen und diese Kurven sind offenbar nicht nur nach ihrem individualbegrifflichen Bestände sondern auch nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit verschiedene Gebilde. Und doch wird jede Aenderung des Luftdruckes durch eine entsprechende Aenderung der Kurve zum Ausdruck gebracht. Zwischen beiden besteht in dem von uns beschriebenen Sinne einer Teilhabe an dem Bedeutungsgehalte identisch derselben Allgemeinbegriffe ein festes Zuordnungsverhältnis. In ähnlicher Weise könnte ich mir in jenem Registrierapparate die Stelle des Lichtsinnes etwa durch eine photographische Platte, die Stelle des Hörsinnes durch eine phonographische Walze, die Stelle des Wärmesinnes durch ein Thermometer usw. ersetzt denken. Wenn die photographische Platte eine Landschaft aufnimmt, so sind offenbar die chemischen Reaktionen auf dieser Platte nicht auch in der photographierten Landschaft selber vor sich gegangen. Indi/idualbegrifflich wie allgemeinbegrifflich sind vielmehr beide verschieden. Wohl aber gleichen sie sich in Gestaltung und Lichtverteilung. Und wenn die phonographische Walze eine Deklamation aufnimmt, so sind die Furchen in dem Wachse der Walze, weder was ihren Bestand, noch was ihre Gestalt betrifft, mit den Schallgebilden des registrierten Vortrags identisch. Aber alle Phasen des letzteren kehren in jenen Furchen wieder. Oder, wenn das Thermometer steigt und fällt, so ist dieses Steigen und Fallen nach Lage und
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Beschaffenheit etwas anderes als die in der Umgebung des Thermometers stattfindende Temperaturzu- und abnahme. Es registriert sie jedoch. Kurzum, in allen diesen Fällen ist die Registrierung an sich nicht dasjenige, was durch sie registriert werden soll. Aber es bedeutet dieses für uns. Und es kann das zu Registrierende bedeuten, weil es zu ihm in einem kausal bedingten festen Zuordnungsverhältnisse steht. Ich will jetzt einmal annehmen, ich wäre seit meiner Geburt in eine Kammer gebannt, deren einziges Fenster durch die hintere Mattglasscheibe eines photographischen Apparates verschlossen wäre, und das außerhalb meiner Kammer liegende Objektiv dieses Apparates richtete sich auf eine belebte Straße. Unter diesen Umständen könnte ich von den Vorgängen auf der Straße selbst unmittelbar niemals etwas sehen. Nichtsdestoweniger wäre ich auf Grund der Registrierungen in meiner Mattglasscheibe imstande, allerlei über das dort Vorsichgehende auszusagen. Hielte ich mich lediglich an das, was ich sehe, so könnte ich freilich über etwas außerhalb meiner Kammer Vorsichgehendes nichts feststellen. Ich würde vielmehr nur ein flächenhaftes Spiel kennen, dessen Beschreibung zwar von einem Dritten als Projektion des Straßenbildes erkannt werden könnte, das von mir selber jedoch in diesem Sinne nicht verstanden würde. Aber nehmen wir nun einmal an, daß einige unter meinen Registrationen mit gewissen Ereignissen zusammenhingen, die meiner Kammer selbst zustoßen, zB. mit einem Transporte derselben oder dergleichen, und daß ich anderseits aus dem Inneren der Kammer mit Hilfe meiner Registrationen die mir durch sie dargestellte Außenwelt zu beeinflussen vermöchte. In diesem Falle könnte ich zu der Erkenntnis einer ursächlichen Verbindung zwischen dem Gegenstande jener Registrationen und meiner Behausung, zu einer Erkenntnis der auch zwischen jenen Außenbeständen selbst stattfindenden Kausalbeziehungen, und ich könnte auf diese Weise schließlich dahin gelangen, meine Registrationen im Sinne eines naturgesetzlichen dreidimensional räumlichen Geschehens in einer richtigen Beurteilung der Sachlage auf die Vorgänge zu deuten, die außerhalb meiner Kammer tatsächlich stattfinden. Die hier dargestellte Situation liegt deshalb besonders günstig, weil in diesem Falle die Registrierung eine sichthafte Darstellung des uns ebenfalls gerade in der Sichtwirklichkeit geläufigen Straßenbildes als des zu registrierenden Bestandes ist. Anders steht es, wenn in jener Kammer ein Phonogramm aufgenommen wird. Ich nehme an, ich wäre taub und zwar seelentaub, sodaß ich keiner Gehörvorstellungen fähig wäre. Dafür hätte ich aber scharfe Augen und könnte
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in meiner durch die Vorführungen auf der Mattglasscheibe erhellten Kammer die Erhöhungen und Vertiefungen in den Furchen jenes Phonogramms während der Aufnahme desselben beobachten. Ich könnte dann zwar nichts über die aufgenommenen Töne als Schallgebilde aussagen. Wohl aber könnte ich, wenn ich durch meine Mattglasvorführungen über das Vorhandensein einer Welt außerhalb meiner Kammer unterrichtet bin, feststellen, daß irgendetwas in dieser Welt vorgeht, und welche Aenderungen dieses Etwas in jedem Augenblicke durchmacht. Auch auf diesem Gebiete wäre ich also über das, was außerhalb meiner Kammer geschieht, insoweit unterrichtet, obwohl es mir nicht nur nach seinem individualbegrifflichen Bestände, sondern in diesem Falle auch nach seiner allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit grundsätzlich unbekannt bliebe. Und ebenso verhielte es sich mit den Thermometerverschiebungen. Fehlte mir der Wärmesinn, aber ich hätte ein mit der Außenwelt verbundenes Thermometer in meiner Kammer, an dem ich alle draußen stattfindenden Temperaturveränderungen ablesen könnte, so bliebe ich zwar wiederum außerstande, die Temperatur außerhalb der Kammer selber zu erfassen oder sie mir auch nur in dem Sinne unserer Wärmeund Kälteempfindungen vorzustellen. Aber ich könnte trotzdem ihr Vorhandensein und ihren jeweiligen Stand an den Verschiebungen meines Thermometers erkennen. In jedem Registrierapparate von dieser oder ähnlicher Art ist das, was durch ihn registriert wird, seiner Registrierung als solcher gegenüber physisch transzendent. Nichtsdestoweniger ist bei einem solchen Apparate gerade das zu Registrierende und ihm Transzendente dasjenige, um dessenwillen für uns die Registrierung da ist. Nicht die Registrierungen selber sondern das durch sie Registrierte, nicht das, was sie an sich sind, sondern das, was sie für uns bedeuten, bildet unseren Erkenntnisgegenstand. Und unsere Veranschaulichung zeigt uns, daß wir den Bedeutungsgehalt solcher Registrierungen auch dann erfassen können, wenn wir die außerhalb des Apparates liegenden Sachverhalte als solche weder nach ihrem individualbegrifflichen Bestände noch auch nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit jemals zu erfassen vermögen. Wir können in diesem Falle von ihnen freilich nur soviel sagen, daß sie konkret sind, daß sie in einem Kausalverhältnisse zu uns und zueinander stehen, und daß sie an dem Bedeutungsgehalte derjenigen Allgemeinbegriffe teilhaben, die sich aus der Art der uns zugänglichen Registrierungen ablesen lassen. Dies aber können wir feststellen, freilich nur in dem Sinne einer begrifflichen, nicht dagegen in dem Sinne einer anschaulichen Erkenntnis.
Der immanenzontologische Ausbau der zentralen Registrierungen
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Im Allgemeinen wird sich nun ein Lebewesen, das in der von uns beschriebenen Weise lebenslänglich in jene Kammer eingesperrt bleibt, nicht auf solche rein begrifflichen Erkenntnisse einlassen. Es wird vielmehr in dem Sinne der früher von uns erläuterten praktischen Begriffsbildung nur diejenigen Bestände zu dem Gegenstande seines Wirklichkeitsbegriffes machen, mit denen es unmittelbar in Berührung tritt. Das aber sind die ihm anschaulich vorliegenden Registrierungen als solche. Diese bilden somit für den Gesichtskreis seiner Praxis die einzige Welt, die es als die seine kennt. Wir wollen nun einmal annehmen, daß ein solches Wesen in derselben Weise wie wir zwangsläufig an diese praktische Ausdeutung seiner Wahrnehmungsbestände gebunden sei. Es wird in einem solchen Falle seine Registrierungen in demselben Sinne, wie wir es mit unseren Empfindungen tun, zu einem immanenten Außenwirklichkeitssysteme ausbauen. Diese seine Wahrnehmungswelt würde dann von der unseren tatsächlich freilich abweichen; grundsätzlich aber wäre sie nach ähnlichen Prinzipien konstruiert. Und sie wäre in dem Bereiche seines Tuns und Lassens die einzige Wirklichkeit, die für ein solches Wesen bestünde. Sie würde von ihm daher innerhalb dieses Bereiches mit psychologischer Zwangsläufigkeit an die Stelle der ihm in ihrer Konkretheit unbekannten transzendenten Außenwirklichkeit gesetzt und trüge dementsprechend in demselben Sinne wie in unserer Praxis die immanente Außenwirklichkeit den Charakter einer vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinung. Unter diesen Umständen brauchen wir unseren Registrierapparat nunmehr nur durch den menschlichen Leib zu ersetzen, um zu erkennen, daß die eigentümliche Situation, in der wir uns der transzendenten Außenwirklichkeit gegenüber befinden, nicht nur durch die metaphysische Beziehung unseres Bewußtseins zu den Gehirnvorgängen, sondern auch durch die physische Beziehung zwischen diesen letzteren und den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen bedingt ist. Wenn ich mir daher einen Menschen denke, dessen Sinnesapparate normal funktionierten, jedoch ohne daß er ein wahrnehmendes Bewußtsein hätte, und ich dächte mir nun einen Zuschauer, der lebenslänglich auf die Beobachtung der zentralen Sinneserregungen eines solchen Menschen beschränkt, zu diesen Beobachtungen aber auch befähigt wäre, so würde ein solcher Zuschauer, ohne die peripheren und ultraperipheren Erregungsquellen der von ihm beobachteten Sinneszentren zu kennen, nichtsdestoweniger alles das an jenen Erregungsquellen feststellen können, was sich von ihnen in den ihm allein beobachtbaren Sinneszentren registriert. Er würde unter diesen
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Umständen diese ihm vorliegenden Gehirnregistrationen in demselben Sinne zu einer immanenten Wahrnehmungswelt als einer für seine Praxis vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinung ausbauen, wie wir das für jenes Wesen in der Registrierkammer dargelegt haben. Das von jenem Wesen in der Registrierkammer ebenso wie von diesem Beobachter dabei befolgte Verfahren würde einen Schluß von den jeweils vorliegenden Registrationen als Wirkungen auf die ihnen zugeordneten Ursachen in sich schließen. Ein solcher Schluß wäre in dem Falle unseres Beobachters, anders als bei jenem Wesen in der Kammer, insofern noch besonderen Irrtümern unterworfen, als nicht jede Erregung der von ihm beobachteten Sinneszentren die periphere oder ultraperiphere Ursache zu haben braucht, auf die von dem Beobachter in der Regel geschlossen wird. Die zB. bei dem normalen bewußten Menschen zu einem Traume oder zu einer Halluzination führenden Gehirnerregungen hätten, wie bei diesem, so auch bei dem hier beobachteten bewußtseinsloseu Leibe andere Ursachen. Nichtsdestoweniger wären die auf periphere und ultraperiphere Bestände gehenden Schlüsse, die unser Beobachter vollzieht, in der Mehrzahl der Fälle berechtigt; und er besäße auch gewisse Kontrollmittel, an deren Hand er die angedeuteten Schlußfehler vermeiden bzw. korrigieren kann. Denn die tatsächlich von den peripheren oder ultraperipheren Erregungsquellen stammenden Reizbilder zeigen in späteren Registrierungen gewisse naturgesetzliche Folgen, die die aus den zentralen Erregungsquellen stammenden Registrierungen nicht aufweisen. An der Hand dieses Kriteriums, dessen Bedeutung für den Aufbau unserer eigenen immanenten Wahrnehmungswelt wir in früheren Auseinandersetzungen dargelegt haben, wäre ein solcher Beobachter in der Lage, die echten Registrationen der peripheren und ultraperipheren Bestände von den unechten und in Wahrheit zentral erregten Registrierungen jederzeit zu unterscheiden. Wir haben hier angenommen, ein fremder Beobachter betrachte unsere Gehirnerregungen. Diese Annahme können wir uns ersparen. Denn unser eigenes Bewußtsein ist im Hinblicke auf die seiner Wahrnehmung zugrundeliegenden Empfindungen in derselben Weise wie jener fremde Beobachter an eine bewußtseinswirkliche Auffassung unserer zentralen Sinneserregungen gebunden und auf sie allein beschränkt. Wir selbst sind also jener Beobachter unserer Gehirnvorgänge. Wir erblicken sie zwar nicht wie der fremde Zuschauer mit unserem Auge; aber unsere artverschiedenen Empfindungsgegebenheiten bilden ein Aeqaivalent für das, was der Fremde er-
Die Ueberschneidungsstraktur in der Transzendenzontologie
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blickte. Und wie er aus seiner Schau, so erbauen wir uns aus der Manichfaltigkeit unseres Empfindungsmaterials als ein Gegenstück zu der uns transzendenten Außenwirklichkeit die Erscheinungswelt unserer eigenen Immanenzsystematik. Alles Material, das uns in unserer Wahrnehmungswelt vorliegt, besteht demgemäß nach der Auffassung der Transzendenzontologie aus den in das Bewußtseinswirkliche übersetzten Registrierungen uns transzendenter peripherer und ultraperipherer Gestände in den uns ebenfalls transzendenten Sinneszentren unseres Gehirns. Kraft dieser Registrierungen sind wir auf Grund der hier geschilderten Sachlage imstande, die uns metaphysisch transzendente Außenwirklichkeit zwar nicht an sich selbst, wohl aber repräsentativ zu erfassen. Für uns liegt dabei der Wert unserer Wahrnehmungen, der Zwangsläufigkeit unserer Immanenzinterpretationen entsprechend, ausschließlich in ihrer Außenwirklichkeitsbedeutung. Dh. wir glauben in ihnen nichts anderes als jene peripheren und ultraperipheren Bestände zu sehen, die uns in Wahrheit zwar transzendent sind, die wir aber praktisch mit unseren Wahrnehmungsbeständen identifizieren. Was diese letzteren abgesehen von einer solchen Bedeutungserfüllung an sich selbst also als Empfindungen sind, das ist für uns so gut, als wäre es kaum vorhanden. In den ursächlichen Bezugszusammenhang der mit unseren Wahrnehmungen identifizierten peripheren und ultraperipheren Bestände stellt sich unser wahrnehmendes Bewußtsein nach seiner eigenen Einschätzung selbst hinein. Dazu ist es, insoweit die uns transzendenten Bestände in Betracht kommen, nach transzendenzontologischer Auffassung berechtigt. Denn, wenn unser Bewußtsein in seinen metaphysischen Beziehungen zu der Großhirnrinde an die Vorgänge dieser letzteren einerseits aufnehmend gebunden ist, anderseits aber, wie wir später sehen werden, auch von sich aus unser Gehirn und durch seine Vermittelung die uns transzendente periphere und ultraperiphere Welt beeinflußt, so kommt ihm in der Tat jene Rolle eines Außenwirklichkeitsfaktors zu, die es sich selbst den von ihm wahrgenommenen Beständen gegenüber zuschreibt. Der innere Widerspruch, der mit dieser Selbstbeurteilung unseres Bewußtseins, wie wir früher dargelegt haben, in dem Rahmen der Immanenzontologie verbunden war, wird lediglich dadurch bedingt, daß unser Bewußtsein seine Wahrnehmungen mit den von ihnen nur repräsentierten peripheren und ultraperipheren Beständen als solchen identifiziert. Es muß einer späteren Untersuchung vorbehalten werden, die mit diesem Widerspruche verbundenen immanenzontologischen Probleme von dem Standpunkte der 16
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Transzendenzontologie aus aufzulösen. Schon hier aber kann gezeigt werden, wie auf Grund solcher Verhältnisse die gesamte immanenzontologische Ueberschneidungsstruktur durch die physischen Beziehungen zwischen unseren Sinneszentren und jenen peripheren oder ultraperipheren Beständen bedingt ist. Zu diesem Zwecke haben wir zunächst kurz zu formulieren, worin das Richtige und worin das Falsche dieser Ueberschneidungslehre liegt. Richtig ist es, daß den Beständen unseres Ueberschneidungsbezirkes eine Außenwirklichkeitsbedeutung zukommt. Denn als Registrationen der peripheren und ultraperipheren Bestände weisen sie auf diese letzteren hin. Unrichtig dagegen ist es, daß unsere Ueberschneidungsbestände diese von ihnen nur registrierten außerleiblichen Gebilde selber seien. An sich selbst sind sie vielmehr lediglich Bewußtseinsbestände. Hieraus ergibt sich, daß die immanenzontologische Form der Ueberschneidungslehre nicht haltbar ist. Denn nach seinem ontologischen Ansichbestande gehört keines unserer Wahrnehmungsgebilde zu der von uns gemeinten Außenwirklichkeit als solcher. Nichtsdestoweniger ist, wie wir bei der Erörterung der transzendenzontologischen Grundbegriffe gesehen haben, auch von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus die Ueberschneidungslehre nicht sinnlos. Sie erhält hier die Bedeutung, daß die Bestände innerhalb und jenseits der Ueberschneidung auf Außenwirklichkeitsbestände hinweisen, während die Bestände diesseits der Ueberschneidung einen solchen Hinweis nicht enthalten. Wir können diesen Sachverhalt, wenn wir von den Beständen jenseits der Ueberschneidung absehen und nur die Ueberschneidungsbestände selbst berücksichtigen, auch dahin formulieren, daß diese Ueberschneidungsbestände etwas anderes sind als das, was sie bedeuten. In dieser Dualität ihres Seins und ihres Bedeutens liegt dann das eigentliche Wesen ihres Ueberschneidungscharakters. Nach dem, was sie sind, gehören sie ausschließlich zu dem Systeme unseres Bewußtseins. Nach dem, was sie bedeuten, aber gehören sie ebenso ausschließlich zu dem außenwirklichen Systeme der von ihnen dargestellten peripheren und ultraperipheren Bestände. Wir haben hier also nicht, wie es in der Immanenzontologie erschien, eine reale Ueberschneidung vor uns, dh. eine wirkliche Zugehörigkeit derselben Bestände zu zwei verschiedenen ontologischen Systemen; sondern vielmehr eine repräsentative Ueberschneidung, dh. eine durch Registrierung ermöglichte Abbildung der Bestände des einen Systems durch die Bestände des anderen. Wie die meisten Grundlagen der Transzendenzontologie, so ist auch die hier vorgetragene transzendenzontologische Auffassung der
Die Ueberschneidungsstruktur in der Transzendenzontologie
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Ueberschneidungslehre nicht erst durch das metaphysische Verhältnis zwischen dem wahrnehmenden Bewußtsein und den ihm zugrundeliegenden zentralen Sinneserregungen bedingt, sondern bereits in dem physischen Verhältnisse zwischen diesen letzteren und den peripheren oder ultraperipheren Beständen vorbereitet. Denn wie bei allen physischen Befunden, die sich als Registrationen auffassen lassen, so führt auch bei den Sinneserregungen unserer Großhirnrinde ihre registrative Struktur, sobald man sie als Gegenstand einer möglichen Beurteilung betrachtet, zu einer Dualität zwischen ihrem Sein und ihrem Bedeuten. Daher tragen schon diese Gehirnvorgänge den Charakter von Beständen, die in dem von uns beschriebenen Sinne als innerhalb einer repräsentativen Ueberschneidung stehend betrachtet werden können. Das kann man sich an einem Beispiele klarmachen. Das zentrale Reizbild der von uns erblickten Bestände bildet jeweils einen Bestandteil unserer Großhirnrinde. Das hindert aber nicht, daß das eigentümliche Verhalten dieses Reizbildes nicht aus der physiologischen Selbsttätigkeit unserer Großhirnrinde hervorgeht, sondern durch das Verhalten von außerleiblichen Beständen bedingt ist, die unser Sehzentrum mittelbar erregen. Unter diesen Umständen könnten wir schon von diesen Reizbildern sagen, daß sie zwar nach ihrem eigenen Sein zu der Großhirnrinde gehören, sich jedoch nach ihrer repräsentativen Bedeutung auf die außerleiblichen Gegenstände beziehen lassen, die von ihnen registriert werden, und die nach ihrem Eigenbestande etwas anderes sind. Das Ueberschneidungsverhältnis zwischen dem Sein und der Bedeutung unserer Wahrnehmungsbestände ist also für die Sichtwirklichkeit bereits in den physischen Erregungen des Sehzentrums dadurch vorgezeichnet, daß sich diese als Registrationen von peripheren und ultraperipheren Beständen darstellen. Der Sachverhalt liegt hier ähnlich wie bei den Spiegelungen auf dem Sucher eines photographischen Apparates, bei denen das Bild seinem Sein nach zwar zu dem Sucher gehört, auf dem es sich spiegelt, seiner Bedeutung nach aber einen jenseits des Suchers liegenden Gegenstand darstellt. Das Entsprechende gilt mutatis mutandis von der physiologischen Grundlage aller anderen Sinneswahrnehmungen. Auch die Erregungen unseres akustischen Zentrums gehören ihrem Sein nach zu der Großhirnrinde. Ihr Darstellungsgegenstand aber sind die von uns als Schallgebilde aufgefaßten Schwingungen, die von dem tönenden Bestände außerhalb unseres Leibes ausgehen. Und ebenso ist, um ein Beispiel aus den rein peripheren Erregungen zu nehmen, das einem Schmerze entsprechende Reizbild in unserer Großhirnrinde seinem eigenen Sein nach nur dieser letzteren zugehörig. Allein das Ver16*
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
halten jenes Reizbildes wird von den Veränderungen an der schmerzenden Leibesstelle diktiert, und in dem Hinweise auf diese Leibesstelle liegt seine Bedeutung für uns. Haben wir so festgestellt, daß schon in physischen Registrationen ein und derselbe Sachverhalt seinem Sein nach ein anderer Bestandkomplex sein kann als derjenige, auf den er bezogen wird, so finden wir nunmehr keine Schwierigkeit darin, daß sich entsprechende Bezugsverhältnisse auch in unseren Wahrnehmungen abspielen, und zwar umso weniger, als diese Wahrnehmungen ihrer Empfindungsgrundlage nach an die zentralen Sinneserregungen gebunden sind, deren Repräsentationsstruktur wir uns hier veranschaulicht haben. Wie jene physischen Sinneserregungen selber, so können also auch unsere Wahrnehmungen als bewußtseinswirkliche Auffassungen solcher Erregungen, unbeschadet ihrer ontologischen Zugehörigkeit zu unserer Erlebniseinheit in ihrem Bedeutungsgehalte andere Bestände darstellen, die als außenwirkliche unserem Bewußtsein grundsätzlich transzendent sind. Auf diesem Sachverhalte beruht nach transzendenzontologischer Auffassung das Wesen der immanenzontologischen Ueberschneidungsstruktur. Aus den physischen Verhältnissen, die unserer Wahrnehmung in der transzendenten Außenwirklichkeit zugrundeliegen, erklärt sich in einfacher Weise ein Problem, mit dem die Immanenzontologie ohne Einbuße an der Folgerichtigkeit ihrer eigenen Prinzipien nicht fertig zu werden vermochte. Es ist das Problem der simultanen Wahrnehmungsgemeinschaft verschiedener Beobachter eines und desselben Bestandes. Die Schwierigkeit, die der Immanenzontologie hier entgegentrat, bestand darin, daß ein und derselbe Bestand von verschiedenen Beobachtern zu gleicher Zeit in verschiedener Beschaffenheit wahrgenommen wurde. Das ist, wenn dieser Bestand auch seiner Beschaffenheit nach als außenwirklicher und bewußtseinswirklicher identisch derselbe sein soll, nicht möglich. Um dieser Situation zu entgehen, mußte die Immanenzontologie ihre Zuflucht zu jenem früher von uns geschilderten halbtranszendenzontologischen Zugeständnisse nehmen, dessen innere Schwäche wir schon mehrfach berührt haben. In der Transzendenzontologie sind nach dieser Hinsicht alle Schwierigkeiten beseitigt. Denn hier sind das, was wir wahrnehmen, nicht die gemeinten außenwirklichen Bestände als solche, sondern nur ihre bewußtseinswirklichen Repräsentationen. Jene Bestände selber aber liegen in der transzendenten Außenwirklichkeit und sind außerdem den unserer Wahrnehmung unmittelbar zugrundeliegende»
Die Wahrnehmungsgemeinschaft in der Transzendenzontologie
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zentralen Sinneserregungen physisch transzendent. Aus diesen Verhältnissen erklärt sich sowohl der Umstand, daß mehrere Personen denselben Bestand gleichzeitig beobachten können, als auch der damit verbundene Umstand, daß nichtsdestoweniger die Beschaffenheit ihrer Wahrnehmungen mehr oder minder differiert. Was das erstere betrifft, so geht aus unseren früheren Hinweisen hervor, daß auf Grund unserer physischen Wahrnehmungsbedingungen ein und derselbe Bestand nur dann von verschiedenen Personen gleichzeitig beobachtet werden kann, wenn er ihnen gegenüber eine ultraperiphere Lage hat und sich alle Beobachter in seinem kugel-, halbkugel- oder sonst teilkugelförmigen Erregungsfelde befinden. In einem solchen Erregungsfelde wird jeder Wahrnehmende unmittelbar mit seiner peripheren und mittelbar mit seiner zentralen Sinnesapparatur von einem anderen Teile jenes Feldes betroffen. Jeder von ihnen nimmt also im Hinblicke auf das individualbegriffliche Bestandmaterial der Reize etwas anderes wahr. Nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit jedoch sind die von allen Beobachtern aufgenommenen Felderregungen insoweit gleichartig, als sie von einem und demselben Bestände in einer und derselben Weise verursacht sind. Die physischen Grundlagen einer solchen simultanen Wahrnehmungsgemeinschaft ermöglichen demnach keine individualbegriffliche Identität des von den verschiedenen Beobachtern empfangenen Bestandmaterials, wohl aber ein auf der Gleichartigkeit der Reize beruhendes Zuordnungsverhältnis zwischen ihren verschiedenen Wahrnehmungen. Auf dieser Zuordnung beruht es, daß in einem solchen Falle alle Beobachter einen und denselben Bestand gemeinsam wahrzunehmen glauben. Zugleich aber beruhen auf den Mängeln dieser Zuordnung die Zwischen den Wahrnehmungen der einzelnen Beobachter bestehenden individuellen Differenzen. Denn das Maß jener Zuordnung ist, abgesehen von der rein psychischen Verschiedenheit der wahrnehmenden 'Bewußtseinssysteme, erstens durch die räumliche Stellung der Beobachter relativ zu der gemeinsamen Erregungsquelle und zweitens durch die größeren oder geringeren Abweichungen zwischen den physischen Reaktionen ihrer peripheren und zentralen Sinnesorgane bestimmt. So hängt das, was wir von einem Konzerte hören, abgesehen von unserer musikalischen Begabung, sowohl von der Akustik unseres Platzes als auch von der Beschaffenheit unseres Gehörwerkzeuges und dem Zustande unserer zentralen Erregungen ab. Usw. Die Differenzen zwischen den Wahrnehmungen verschiedener Beobachter desselben Bestandes, die in der Immanenzontologie deshalb zu Schwierigkeiten führten, weil in dieser die wahrgenommenen und
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
die außenwirklichen Bestände miteinander identifiziert wurden, erklären sich also in der Transzendenzontologie aus den physischen Grundlagen unserer Wahrnehmung. Denn kraft dieser Grundlagen sind unsere Wahrnehmungsbestände individualbegrifflich tatsächlich verschieden und auch allgemeinbegrifflich einander nur mehr oder minder ähnlich. Jenes immanenzontologische Mißverständnis dieses Sachbefundes aber wird durch das deutende Verhalten der Beobachter selbst, nämlich dadurch herbeigeführt, daß die letzteren die von ihnen wahrgenommenen Bestände nicht nach ihrer zentralen Gegebenheit erfassen, sondern sie als ultraperiphere Gebilde ansprechen und mit der allen Beobachtern gemeinsamen außerleiblichen Erregungsquelle identifizieren. Nimmt man die ultraperipheren Deutungen dieser Beobachter ernst, so steht man eben damit mitten in jener unhaltbaren Situation, mit der die Immanenzontologie nicht fertig zu werden vermochte. In der Praxis des täglichen Lebens wie auch der Fachwissenschaften pflegen wir uns über die ontologische Schwierigkeit dieser letzteren Lage nicht immer klar zu sein. Denn daß unsere Wahrnehmungsgemeinschaft und die in ihr auftretenden Differenzen durch die von uns geschilderten physischen Verhältnisse bedingt sind, das ist uns geläufig. Dagegen ist es uns nicht geläufig, daß sich diese physischen Verhältnisse lediglich in der transzendenten Außenwirklichkeit abspielen. Vielmehr pflegen wir dem immanenzontologischen Wesen unseres praktischen Außenwirklichkeitsbegriffes entsprechend die von uns wahrgenommenen oder wahrnehmhaft vorgestellten leiblichen und außerleiblichen Verhältnisse als solche für jene Differenzen verantwortlich zu machen. Und doch ist eine solche Auffassung des Sachverhaltes, wie wir früher gesehen haben, in sich widerspruchsvoll. Denn die Differenzen zwischen den Wahrnehmungsbeständen verschiedener Beobachter werden nicht durch die Verhältnisse bedingt, die wir wahrnehmen, sondern durch die von uns nicht wahrgenommenen und in unserer praktischen Wirklichkeitsauffassung stets vernachlässigten Gegenwerte dieser Verhältnisse in der transzendenten Außenwirklichkeit Es gehört zu den Eigentümlichkeiten unserer immanenten Wahrnehmungswelt, daß in ihrem Strukturzusammenhange jene seltsamen Zuordnungsverhältnisse zwischen den artverschiedenen Wirklichkeitssystemen auftreten, die, wie wir sehen, in dem Rahmen der Immanenzontologie selbst unerklärbar bleiben. Ein solcher Zustand ist umso bedenklicher, als diese Unerklärbarkeit hier einen grundsätzlichen
Die Zuordnung der Immanenzsysteme in der Transzendenzontologie
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Charakter trägt. Zwischen den einander zuzuordnenden Wahrnehmungswelten lassen sich nämlich immanenzontologisch nicht nur tatsächlich keine ursächlichen Zusammenhänge auffinden, sondern es ist nach den Grundsätzen der Immanenzontologie auch nicht sinnvoll, anzunehmen, daß solche ursächlichen Zusammenhänge zwischen ihnen bestehen. Wir hätten hier also im Widerspruche zu dem für unseren Außenwirklichkeitsbegriff grundlegenden Prinzip eines durchgängigen naturgesetzlichen Zusammenhanges zwischen allen außenwirklichen Faktoren anzunehmen, daß neben der kausalen Realverbindung zwischen den Beständen jedes einzelnen Wahrnehmungssystems in den Zuordnungsverhältnissen zwischen diesen Systemen selbst noch eine andere und zwar nicht kausal begründete Idealverbindung bestünde. Das Vorhandensein von Zuordnungsverhältnissen in der Wirklichkeit soll natürlich nicht bestritten werden. Sie treten überall auf und zwar nicht nur zwischen ontologischen Systemen, sondern auch zwischen physischen und psychischen Beständen innerhalb eines und desselben ontologischen Systems. So sind sich die Bewegungen der Zeiger an zwei Zifferblättern derselben Kirchturmuhr wechselseitig zugeordnet. Oder es lassen sich die einzelnen Exemplare einer Tierspezies nach ihren anatomischen und physiologischen Merkmalen einander zuordnen. Oder es sind sich gewisse Gedanken zugeordnet, die verschiedene Personen in einem und demselben Kulturkreise haben. Usw. Zuordnungen also gibt es allenthalben. Sie sind überall da, wo Aehnlichkeiten auftreten. Aber solche Aehnlichkeiten pflegen nicht zufällig zu sein, sondern ihre Gründe zu haben. Dh. es pflegt zwischen den einander ähnlichen Gebilden ein ursächlicher Zusammenhang zu bestehen, durch den das zwischen ihnen waltende ideale Zuordnungsverhfiltnis real bedingt ist. So sind jene Uhrzeiger durch dasselbe Gangwerk, die Exemplare einer Tierspezies durch dieselbe Abstammung, jene Gedanken verschiedener Personen etwa durch Mitteilungsgemeinschaft kausal miteinander verbunden. Usw. Wir haben keinen Anlaß anzunehmen, daß es mit den Zuordnungsverhältnissen zwischen unseren Wahrnehmungswelten anders bestellt sei. Vielmehr werden wir auch hier zu fragen haben: wo liegt der ursächliche Zusammenhang, dem diese Zuordnungen zu verdanken sind? Die Immanenzontologie selbst vermoehte auf diese Frage keine Antwort zu geben. In der Transzendenzontologie wird sie gegeben. Die Schwierigkeiten, die mit der wechselseitigen Zuordnung zwischen den artverschiedenen Immanenzsystemen verbunden waren, hingen mit dem Ansprüche dieser letzteren zusammen, auch unab-
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
hängig von ihrem Auftreten in einem wahrnehmenden Bewußtsein die Außen Wirklichkeit selbst zu sein. Dieser Anspruch wird in der Transzendenzontologie hinfällig. Denn hier sind die Immanenzsysteme bloße Repräsentationen der Außenwirklichkeit Als solche aber sind sie nur bewußtseinswirklich. Und sie sind es auch nur insoweit, als sie in dem Ueberschneidungsbezirke des Wahrnehmenden auftreten. Denn die Bestände jenseits dieses Bezirkes liegen zwar in dem gnoseologischen Bereiche, jedoch außerhalb der ontologischen Grenzen des wahrnehmenden Bewußtseins. Aber auch bei der Bewußtseinswirklichkeit unserer Immanenzsysteme in dem Bezirke der Ueberschneidung muß zwischen dem deutungslos Gegebenen unserer Empfindungen und ihrer gnoseologischen Deutungserfüllung unterschieden werden. Denn es geht schon aus unseren früheren Untersuchungen hervor und wird durch die Erörterungen des folgenden Kapitels vollends deutlich werden, daß in jedem wahrnehmenden Bewußtsein eine ontologische Wirklichkeit nur jenen Empfindungen und nicht dieser Deutungserfüllung zukommt. Ist das aber der Fall, so brauchen wir mit unseren Immanenzsystemen nur auf die in ihnen enthaltenen Empfindungen zurückzugehen, um zu erkennen, daß ihre Artverschiedenheit auf der Artverschiedenheit jener zentralen Registrierungen beruht, die durch unsere Empfindungen in das Bewußtseinswirkliche übersetzt werden. Betrachten wir das Gehirn in dem besprochenen Sinne als eine Regia trierkammer, so ist also die verschiedene Art unserer Empfindungen durch die Verschiedenheit der in dieser Kammer vereinigten Registrierapparate und ihrer Aufzeichnungen bedingt. Unter diesen Umständen erklärt sich die Zuordnung zwischen unseren artverschiedenen Immanenzbeständen auf eine einfache Weise durch die der transzendenzontologischen Situation zugrundeliegenden physischen Beziehungen. Sie ist dadurch verursacht, daß ein und derselbe ultraperiphere Bestand in der transzendenten Außenwirklichkeit die verschiedenen Sinneswerkzeuge des Wahrnehmenden in verschiedener Art erregt und sich damit in verschiedenen Zentren unserer Großhirnrinde registriert, welche Verschiedenheit durch die Verschiedenheit unserer Empfindungen zum Ausdruck gebracht wird. So manichfaltig solche Registrierungen dann auch ausfallen mögen, so stimmen sie doch alle inbezug auf ihre Zuordnung zu dem durch sie registrierten Sachverhalte als ihrer gemeinsamen Ursache und daher auch untereinander überein. Denn Bestände, die ein Zuordnungsmoment mit einen dritten Bestände gemeinsam haben, haben eben dieses Zuordnungsmoment auch miteinander gemeinsam.
Die Zuordnung der Immanenzsysteme in der Transzendenzontologie
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In dieser Hinsicht stehen also die Zuordnungsverhältnisse zwischen unseren artverschiedenen Empfindungen unter ähnlichen Bedingungen, wie andere Zuordnungen. Nehmen wir eine Tonfolge gleichzeitig mit Notenschrift, mit einer phonographischen Walze und mit einer tanzenden Gasflamme auf, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn alle drei Aufnahmen trotz ihrer Verschiedenheit in ihrem Zuordnungsmomente miteinander übereinstimmen. Für unsere artverschiedenen Empfindungen gilt das Gleiche. Wenn dieselbe schwingende Saite in der transzendenten Außenwirklichkeit sowohl meine Netzhaut und mein Sehzentrum als auch mein Cortisches Organ und mein Hörzentrum als auch endlich die Tastkörperchen meiner Haut und mein Tastzentrum erregen, so darf ich mich nicht wundern, wenn, der Verschiedenheit dieser zentralen Erregungen entsprechend, in meinem Bewußtsein verschiedene Empfindungen auftreten, zwischen denen ein Zuordnungsverhältnis herrscht. Eine Besonderheit wird in diese Situation nun aber durch die erlebniseinheitliche und gnoseologische Systematik unseres Bewußtseins hineingebracht. Denn während die physischen Registrationen in den Sinneszentren unseres Gehirns räumlich voneinander getrennt bleiben, werden die ihnen entsprechenden Empfindungen, unbeschadet einer auch zwischen ihnen waltenden Trennung, in unserem wahrnehmenden Bewußtsein auf überphysische Weise miteinander vereint. Diese Vereinigung charakterisiert sich zunächst nur als ein gemeinsames Erlebtwerden. Das letztere aber bildet dann wieder die Grundlage für eine weitergehende Vereinigung der artverschiedenen Empfindungen durch ihre gnoseologische Deutungserfüllung. Denn in dieser werden sie nunmehr auf Grund ihrer wechselseitigen Zuordnung als verschiedene Eigenschaften eines und desselben ultraperipheren Bestandes interpretiert. Auf diese Weise schaffen wir aus ihnen in unserer immanenten Wahrnehmungswelt eine Bestandeinheit, die der Einheit des uns transzendenten ultraperipheren Gegenstandes, der in den verschiedenen Sinneszentren registriert wurde, annähernd entspricht. Die zwischen dem transzendenten Bestände und seiner immanenten Repräsentation waltenden Bezugsverhältnisse stellen sich dann als eine Zerstreuung und Wiedervereinigung der physischen und psychischen Wirkungen des wahrzunehmenden Gegenstandes dar. Wie die sich zerstreuenden Lichtstrahlen einer Kerze durch eine Linse zu einem zweiten Kerzenbilde wieder gesammelt werden können, so werden die von einem und demselben uns transzendenten Bestände ausgehenden und in unserem Gehirn zerstreuten Wahrnehmungsregistrationen zu einem zweiten immanenten Bilde dieses Bestandes wieder gesammelt.
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Es liegt auf der Hand, daß sich unsere immanenzontologische Deutung mit diesem Verfahren wieder auf dem Wege zu jener teilweisen Rückübersetzung der bloßen Empfindungsgegebenheiten in solche Verhältnisse befindet, die der transzendenten Sachlage entsprechen. Hierfür ist es charakteristisch, daß wir die von uns geschaffene immanente Bestandeinheit mit einer Fülle von Eigenschaften versehen, die in Wahrheit nicht dem immanenten sondern nur dem uns transzendenten Bestände zukommen. Nicht minder charakteristisch ist es freilich, daß wir dem immanenten Bestände in dieser Situation mit einem Pleonasmus, der für die hierdurch bedingte Vermengung von immanenz- und transzendenzontologischen Gesichtspunkten typisch ist, erstens seine eigentlich immanenten und zweitens gewisse andere Eigenschaften zuschreiben, die mit diesen immanenten Eigenschaften konkurrieren und das Surrogat für solche Eigenschaften bilden, die nur dem transzendenten Bestände zukommen, dem immanenten Bestände aber deshalb nicht zugeschrieben werden können, weil er statt ihrer eben seine spezifisch immanenten Eigenschaften hat. Auf diese Weise dringt in unsere immanente Wirklichkeitsauffassung eine bemerkenswerte aber nicht immer bemerkte Duplizität ein. Das kann man sich leicht veranschaulichen. Wir sagen einerseits: die vor uns stehende Rose ist rot. Anderseits aber sagen wir: es sind die von der erschauten Rose ausgehenden Lichtstrahlen, die unser Auge treffen, und deshalb sehen wir sie. Offenbar ist diese letztere Redeweise in sich widerspruchsvoll. Denn, wenn wir die Rose erst dadurch sehen, daß sie Lichtstrahlen in unser Auge wirft, so kann die Rose, die wir sehen, als Wirkung offenbar nicht mit derjenigen Rose identisch sein, von der die Lichtstrahlen ausgehen, und die also die Ursache unserer Schau ist Doch lassen wir diesen Widerspruch, der uns zu den immanenzontologischen Schwierigkeiten dem psychophysischen Probleme gegenüber zurückführen würde, hier beiseite. Denn jetzt kommt es auf etwas anderes, nämlich darauf an, daß in unserer Deutung der immanenten Bestände jeweils ihre immanente und die dieser entsprechende transzendente Eigenschaft nebeneinander hergehen. Daß jene Rose eine rote Farbe hat, das ist als reine Deutungserfüllung meiner Farbempfindungen ihre echte immanente und zwar nur eine immanente Eigenschaft. Die transzendente Rose hat keine solche Farbe. Dagegen ist eine Reflexion von Lichtstrahlen keine eigentliche Eigenschaft der immanenten Rose als solcher. Denn diese hat stattdessen eben ihre rote Farbe, die eine Wirkung der Lichtstrahlen darstellt Wohl aber gehen diese letzteren von ihrem transzendenten Gegenstücke aas. Nichtsdestoweniger pflegen
Die Substanz und ihre Wirkungen in der Transzendenzontologie
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wir keinen Anstand zu nehmen, auch der erschauten Rose außer ihrer Farbe noch die Reflexion jener Lichtstrahlen beizulegen, sie also außer mit ihrer eigenen immanenten auch noch mit der Eigenschaft ihres transzendenten Gegenstückes auszustatten. Bei den Sichtbeständen treten diese Verhältnisse besonders deutlich heraus, weil uns hier die elektromagnetischen Strahlen, die von den erschauten Körpern ausgehen oder reflektiert werden, auf Grund der früher dargelegten Sachlage unwahrnehmbar bleiben. Auf anderen Immanenzgebieten wird die Duplizität zwischen den eigentlich immanenten und den in Wahrheit transzendenten Eigenschaften, die wir den wahrgenommenen Beständen beilegen, dadurch verschleiert, daß in ihnen erstens jene eigentlich immanenten Eigenschaften auftreten, zweitens aber außerdem auch die in Wahrheit transzendente Kausalbeziehung zwischen dem ultraperipheren Gegenstande und dem peripheren Sinneswerkzeuge eine immanente Repräsentation findet. Das kann man sich zB. an unseren Tastbeständen vergegenwärtigen. Wenn ich einen physischen Körper berühre, so ist an der Berührungsfläche meiner Hand tasthaft nur eine Tastfläche da. Wäre ich auf diese Tastfläche allein angewiesen, so wären meine Tastempfindungen und nur diese der mir hier vorliegende Immanenzbestand. Nichtsdestoweniger beziehen wir, wie schon aus unseren Erörterungen über das phänomenal transzendente Ding hervorging, unsere Tastempfindung zugleich auf das ertastete Ding als auf seine Ursache. Auch in diesem Falle kommt die letztere Relation in Wahrheit nicht dem immanenten Bestände als solchem, sondern nur dem transzendenten Gegenstücke des ertasteten Körpers zu. Aber sie ist hier nicht nur in der transzendenten Außenwirklichkeit vorhanden, sondern hat außerdem eine Wahrnehmungsrepräsentation in unserer immanenten Sichtwelt, nämlich in der Kausalbeziehung zwischen den erschaubaren Druckveränderungen an unserer Hand und der ebenfalls erschaubaren Mantelfläche des berührten Körpers. Und auch tasthaft könnten wir uns von diesem Sachverhalte überzeugen, wenn wir mit der anderen Hand solche Druckveränderungen als Wirkung eines Anliegens unserer Hautzellen an jener Mantelfläche abtasten. Etwas Entsprechendes gilt von der Rede, daß ein schmeckender Körper erstens selber schmecke und zweitens den Geschmack verursache. Das erste ist seine lediglich immanente Eigenschaft. Das zweite ist die seinem transzendenten Gegenstücke allein zukommende Eigenschaft, die in diesem Falle zugleich durch den Tastsinn in dem Munde des Schmeckenden und gegebenenfalls auch durch den Gesichtssinn repräsentiert wird. Aehnllch verfahren wir bei Schall- und
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Duftbeständen. Erstens schallt und duftet der Körper, wenn wir ihn uns dem Sinneswerkzeuge unmittelbar anliegend denken, selbst, nämlich als immanenter Bestand, und zweitens verursacht er Schall und Duft, nämlich als Vertreter des transzendenten Bestandes, wobei diese Verursachung bei dem schallerzeugenden Körper durch dessen Bewegung außerdem auch immanenzontologisch repräsentiert ist. In dieser Weise läßt sich, freilich unter Berücksichtigung des verschiedenartigen Charakters unserer Immanenzbestände, an jedem dieser letzteren zeigen, daß wir ihn mit dem Körper, an dem er auftritt, in doppelter Weise in Verbindung bringen und zwar so, daß die eine dieser Weisen den eigentlich immanenzontologischen Sachverhalt darstellt, die andere aber einen spezifisch transzendenzontologischen Sachverhalt repräsentiert. Es ist leicht ersichtlich, daß uns diese Verhältnisse wieder zu dem Substanzprobleme zurückführen. Wir ließen bei der Behandlung des phänomenal transzendenten Dinges die Frage, inwiefern die Substanz als der gemeinsame Träger artverschiedener Eigenschaften auftritt, zunächst beiseite und stellten nur fest, daß mit Ausnahme der Tast- und Sichtwahrnehmungen alle anderen Immanenzbestände das phänomenal transzendente Ding durchziehen. In dem Zusammenhange der eigentlichen Transzendenzontologie erkennen wir nunmehr, wie es sich mit der Beziehung der Substanz zu ihren artverschiedenen Eigenschaften des näheren verhält. Denn in der transzendenten Außenwirklichkeit ist die Substanz derjenige Bestand, von dem als Ursache unsere artverschiedenen Wahrnehmungsbestände mittelbar bewirkt werden. Demgegenüber ist die Substanz in der immanenten Außenwirklichkeit erstens der Träger der von dem transzendenten Bestände verursachten Wahrnehmungsgebilde, die in dem Falle der Tast- und Sichtqualitäten als seine Mantelfläche auftreten, während die übrigen Wahrnehmungsbestände diesen Träger nur durchziehen und auch ohne ihn vorkommen können; zweitens aber erhält nun die immanente Substanz zugleich die Funktionen ihres Gegenstückes in der transzendenten Außenwirklichkeit. Sie tritt daher nicht nur als der Träger jener verursachten Immanenzbestände, sondern außerdem selbst auch als die Ursache dieser letzteren auf. Durch diese Vermengung von immanenz- und transzendenzontologischen Gesichtspunkten verliert der Begriff der immanenten Substanz seine Eindeutigkeit und wird in sich widerspruchsvoll. Wenn wir nun die dem transzendenten Bestände zukommenden Bezugsverhältnisse mit denjenigen Beziehungen vergleichen, die der immanenten Substanz in ihrer Funktion als Vertreterin eines trans-
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zendenten Gegenstückes beigelegt werden, so fällt zunächst auf, daß sich die vermeintlichen Wirkungen der immanenten Substanz als artverschiedene Qualitäten darstellen, während dem transzendenten Gegenstücke dieser Wirkungen solche Qualitäten nicht zukommen. Das kann man sich an beliebigen Beispielen vergegenwärtigen. So ist bei jener schwingenden Saite die immanente Substanz das, was die Tastqualität an unserer Hand, die Schallqualität in einem über der Saite liegenden Raumbezirke, die Sichtqualität durch Strahlung in einem Bezirke erzeugen soll, der jedenfalls nicht wie die eigentliche Immanenzqualität an der Oberfläche der erschauten Saite liegt, von dem man aber, wie wir später sehen werden, aus guten Gründen nicht sagen kann, wo er eigentlich liegen soll, in dem wahrnehmbaren Auge oder in dem als wahrnehmbar vorgestellten Gehirn, oder wo man ihn sonst hinverlegen will: es ist alles gleich falsch. Ebenso wird die immanente Substanz als die Erzeugerin der sie umgebenden Wärmequalität, des von ihr ausgehenden Duftes angesehen usw. Kurzum: die mittelbaren Wirkungen, die der immanenten Substanz als der Vertreterin des transzendenten Bestandes zugeschrieben werden, sind unsere Wahrnehmungsqualitäten selber. Anders steht es mit dem transzendenten Gegenstücke der immanenten Substanz. Es hat eine uns unbekannte Konkretheit, von deren Beschaffenheit wir annehmen dürfen, daß sie von den uns bekannten Immanenzqualitäten grundsätzlich abweicht. Will man ihr aber das unbekannte Analogon einer solchen Qualität zuschreiben, so hat sie jedenfalls nur eine einzige Beschaffenheit dieser Art und nicht wie die ans bekannten Immanenzbestände mehrere artverschiedene Qualitäten. Die transzendenten Gegenstücke dieser letzteren erweisen sich vielmehr als Ruhe- und Bewegungszustände, die dem Körper selbst oder seinen Teilen, den verschiedenen Größenordnungen dieser letzteren entsprechend, zukommen und sich dem wahrnehmenden Sinneswerkzeuge gegenüber geltend machen. So ist das, was wir als einen Körper ertasten oder von ihm hören, sein Ruhe- oder Bewegungszustand in molaren Dimensionen; das, was wir als seine Wärme auffassen, ein Bewegungszustand seiner Teile in molekularen Dimensionen; das, was wir als Licht und Farbe an ihm erblicken, ein Bewegungszustand von inneratomistischeo, Beständen. Usw. An die Stelle der immanenten Qualitäten treten also in der transzendenten Außenwirklichkeit Ruhe- und Bewegungszustände in verschiedenen Größenordnungen. Und das gilt nicht nur von dem wahrzunehmenden Bestände selber, sondern auch von seinen Wirkungen in unseren uns transzendenten Wahrnehmungsorganen, den peripheren Sinneswerk-
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
zeugen und den zentralen Reizkonfigurationen. Denn auch in diesen treten solche Wirkungen nicht als verschiedene Qualitäten auf, sondern nur als verschiedene Bewegungszustände, deren Natur uns freilich zum größten Teile unbekannt ist. Während sich also die immanenten Beschaffenheiten und Wirkungen der Substanz als artverschiedene Wahrnehmungsqualitäten darstellen, können die ihnen entsprechenden transzendenten Beschaffenheiten und Wirkungen nur als verschiedene Zustandsweisen einer und derselben Bestandart angesehen werden. Jene Qualitäten aber machen sich erst innerhalb der Bewußtseinswirklichkeit geltend. In dieser sind sie scheinbar etwas den soeben beschriebenen transzendenten Ruhe- und Bewegungszuständen schlechthin Heterogenes. In Wahrheit aber sind sie, wie schon aus unseren bisherigen Erörterungen hervorging und später noch genauer erläutert werden soll, mit diesen Ruhe- und Bewegungszuständen nahe verwandt und ihnen zugeordnet. Sie stellen nur ihre spezifisch bewußtseinswirkliche Auffassung dar. Der Unterschied zwischen den dem transzendenten Bestände tatsächlich zukommenden Funktionen und den Eigenschaften, die der immanenten Substanz als Vertreterin des transzendenten Bestandes beigelegt werden, ist also weniger erheblich, als es auf den ersten Blick scheint. Denn wenn man die hier angedeutete Verwandtschaft zwischen unseren immanenten Qualitäten und ihren transzendenten Gegenwerten in Rechnung zieht, so stellt das, was wir der immanenten Substanz als ihre ursächliche Leistung zuschreiben, annähernd das dar, was der transzendente Bestand wirklich leistet, nur daß diese Leistungen durch die Immanenzontologie für unsere Wahrnehmungswelt in die Sprache ihrer qualitativen Bewußtseinsauffassung übersetzt werden. Für die immanente Substanz, insoweit sie als Vertreterin des transzendenten Bestandes aufgefaßt wird, ist es charakteristisch, daß sie von dem normalen Menschen mit den Sichtbeständen und von dem Blindgeborenen mit den Tastbeständen identifiziert wird. Das hängt zunächst mit dem, wie wir sogleich sehen werden, auch für die Transzendenzontologie belangreichen Umstände zusammen, daß nur die sieht- und tastbaren Körper phänomenal transzendente Dinge sind, sodann aber auch mit der Beobachtung, daß alle Wirkungen, die sich mittelbar oder unmittelbar in der Außenwelt wahrnehmen lassen, von solchen Körpern ausgehen. Wirkungen, die nicht an physische Körper gebunden wären, sind uns unbekannt. Ob es sie gibt, bleibe dahingestellt. Unter diesen Umständen ist es für den transzendenzontologischen Einschlag in unserer Immanenzontologie kennzeichnend, daß wir alle Funktionen, die dem transzendenten Bestände zukommen,
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den erschauten Körpern aufzubürden pflegen. In ihrer Rolle als immanente Substanzen sind sie es, die sich betasten lassen, die den Schall erzeugen, duften, schmecken, wärmen usw. Die von uns bevorzugte Immanenzausgabe der Außenwelt wird also, wie schon bei einer früheren Gelegenheit bemerkt wurde, den anderen Immanenzausgaben nicht gleichgestellt, sondern erhält ein Primat über sie. Welche besondere Bedeutung dieses Primat von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus gesehen hat, wird aus unseren Ausführungen nunmehr ersichtlich. Die in dem Dienste der Tastwirklichkeit stehende Sichtwelt als die Welt der substantiellen Körper wird nämlich auf Grund der soeben dargelegten Verhältnisse von uns zu dem Hauptvertreter der transzendenten AuQenwirklichkeit gemacht. Dementsprechend werden die anderen Immanenzbestände, insoweit die erschauten Körper die Funktion der transzendenten Bestände übernehmen, zu dieser Sichtwelt in eine solche Abhängigkeit gebracht, die der Abhängigkeit unserer gesamten Wahrnehmungswelt von der transzendenten Außenwirklichkeit entspricht. Das ist der tiefere Grund für unsere schon bei einer früheren Gelegenheit einmal erwähnte Gepflogenheit, die Sichtausgabe unserer Wahrnehmungswelt als sogenannte objektive Außenwirklichkeit und die anderen Immanenzbestände als von ihr verursachte und bloß subjektive Gebilde zu behandeln. So sagen wir wohl, der Duft einer Rose sei etwas bloß Subjektives, die Rose selbst dagegen, nämlich die erschaute rote Blüte sei objektiv. Damit meinen wir, daß zwar die erschaute Rose unabhängig von unserem Bewußtsein an sich bestehe, ihr Duft dagegen lediglich eine ihrer Wirkungen in unserem Bewußtsein sei. Daß diese Bevorzugung der Sichtwirklichkeit immanenzontologisch unhaltbar ist, liegt auf der Hand. Dies geht schon daraus hervor, daß, wie wir früher gesehen haben, die artverschiedenen Immanenzbestände kein Kausalverhältnis zueinander haben. Außerdem ist soeben von uns angedeutet worden, in welche Verlegenheit wir geraten, wenn wir nun genötigt werden, auch die Sichtbestände als subjektiv aufzufassen und sie also zu sich selber in kausale Abhängigkeit zu bringen. Sinnvoll aber wird ein solches Verfahren, wenn wir die Sichtwirklichkeit nicht als das betrachten, was sie immanenzontologisch tatsächlich ist, sondern sie als die Hauptvertreterin der transzendenten Außenwirklichkeit auffassen. Von dieser jedoch hängen als bloße Repräsentationen alle Immanenzsysteme einschließlich der Sichtwirklichkeit selber ab. Die in dem Dienste des Tastsinnes stehende Sichtwirklichkeit ist die Welt der substantiellen Körper als phänomenal transzendenter
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Dinge. Fragt man unter diesen Umständen, wie es denn innerhalb der transzendenten Außen Wirklichkeit mit dem phänomenal transzendenten Dinge bestellt sei, so ist hierauf zu erwidern, daß ein Gegenstück zu diesem auch dort besteht. Das geht schon daraus hervor, daß unsere physischen Sinneswerkzeuge und die physischen Körper, die von ihnen nicht durchdrungen werden können, ihrem ontologischen Eigenbestande nach nicht in der immanenten Außenwelt liegen, in der sie vielmehr nur repräsentiert werden, sondern in der transzendenten Außen Wirklichkeit als solcher. Wir dürfen daher sagen: das phänomenal transzendente Ding ist so, wie es in der Wahrnehmungswelt auftritt, nur die immanente Repräsentation eines ähnlichen Sachverhaltes, der sich tatsächlich in der transzendenten Außenwirklichkeit abspielt. Und nur dieser transzendente Sachverhalt, nicht dagegen seine immanente Repräsentation ist für die eigentümliche Lage verantwortlich, die uns in dem phänomenal transzendenten Dinge entgegentritt. Dh. phänomenal transzendent ist uns der physische Körper, weil wir in der transzendenten Außenwirklichkeit mit unseren physischen Sinneswerkzeugen nicht in ihn eindringen können. Demgemäß ist das, was uns in den Wahrnehmungsgebilden der immanenten Wirklichkeit als negative Mantelfläche bekannt ist, nur eine bewußtseinswirkliche Auffassung derjenigen Mantelfläche bzw. der Projektion derjenigen Mantelfläche, von der in der transzendenten Außenwirklichkeit der ultraperiphere Bestand umhüllt wird, und die sich dort in unseren Sinneswerkzeugen bzw. in unseren zentralen Reizkonfigurationen abbildet. In der transzendenten Außenwirklichkeit liegt also das eigentliche Original des phänomenal transzendenten Dinges. Ich will dieses Original das metaphänomenal transzendente Ding nennen. Es ist als solches zugleich das Urbild der Substanz als des verborgenen Trägers unserer Tast- und Sichtqualitäten, von denen die immanente Substanz umschlossen wird. Das metaphänomenal transzendente Ding als die transzendente Substanz wird freilich nicht von solchen Qualitäten, wohl aber von dem tastenden Sinneswerkzeuge bzw. von den Lichtwellen umschlossen, die von seiner Oberfläche ausgehen. Aus diesem transzendenten Sachverhalte und nicht aus seiner immanenten Repräsentation ist es zu erklären, daß uns das Innere der physischen Körper innerhalb unserer Wahrnehmungswelt unerfaßbar bleibt. Zugleich erstreckt sich unter solchen Umständen diese Art der Unerfaßbarkeit aber auch auf die transzendente Außenwirklichkeit selbst. Denn auch in ihr können wir die physische Struktur der Körper, sie mögen auch noch so klein gedacht werden, immer nur nach ihren äußeren Grenz-
Der Begriff des metaphänomenal transzendenten Dinges
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flächen bestimmen. Dagegen bleibt uns das, was zwischen diesen Grenzflächen vor sich geht, nach seinem physischen Wesen verborgen, wenn wir auch die geometrische Struktur dieses Inneren, da sie von physischen Bestandverhältnissen unabhängig ist, in dem von uns dargelegten Sinne frei konstruieren und daher restlos festlegen können. Angesichts dieser Verhältnisse könnte man die Frage stellen, wodurch sich denn das phänomenal und das metaphänomenal transzendente Ding, die immanente und die transzendente Substanz voneinander unterscheiden, wenn uns beide in gleicher Weise unbekannt sind. Die Antwort hierauf lautet folgendermaßen: es ist an und für sich wohl möglich, sich beide ihrer Beschaffenheit nach als gleichartig zu denken, freilich mit dem Vorbehalte, daß sie mit dieser ihrer gleichartigen Beschaffenheit sowohl in den Raum der transzendenten als auch in den der Sicht- und in den unserer Tastwelt hineinpassen. Ob diese Anforderung erfüllt werden kann, bleibe noch dahingestellt. Wie es aber auch mit dieser ihrer Beschaffenheit bestellt sein mag, in jedem Falle unterscheiden sich die beiden Substanzen durch ihre Lage in verschiedenen Bereichen. Denn das metaphänomenal transzendente Ding liegt in keiner der Wahrnehmungswelten, da die Welt der transzendenten Außenwirklichkeit, wie schon angedeutet wurde, außerhalb aller Immanenzsysteme steht. Und ebenso liegt das phänomenal transzendente Ding der Sichtwelt nicht in dem Bereiche der Tastwelt und das der Tastwelt nicht in dem Bereiche der Sichtwelt, noch liegen beide in dem Bereiche der transzendenten Außenwirklichkeit. Vor allem aber: das phänomenal transzendente Ding ist von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus betrachtet überhaupt kein in der ontologischen Bedeutung des Wortes wirkliches Gebilde. Es hat vielmehr nur den Bestand eines gedachten Dinges. Als solches liegt es lediglich in dem gnoseologischen Bereiche unseres Bewußtseins. Dagegen liegt es weder in dem ontologischen Bezirke dieses letzteren, noch auch sonst in irgendeinem ontologischen Gebiete. Im Unterschiede hierzu liegt das metaphänomenal transzendente Ding in dem Gebiete der uns transzendenten und ontologisch an sich bestehenden Außenwirklichkeit Das phänomenal transzendente Ding verhält sich demnach zu dem metaphänomenal transzendenten Dinge ähnlich, wie sich etwa ein magnetisches oder ein Gravitationsfeld, das wir fiktiv in unsere Sichtwirklichkeit hineinverlegen, das aber in dieser nicht vorhanden ist, zu dem ihm entsprechenden und tatsächlich vorhandenen Felde in der transzendenten Außenwirklichkeit verhält. Spielt so der Begriff der Substanz als eines metaphänomenal transzendenten Dinges auch in der Transzendenzontologie eine Rolle, 17
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so darf auf der anderen Seite die ontologische Bedeutung dieser Rolle nicht überschätzt werden. Es ist nämlich zu beachten, daß wie in der Immanenzontologie so auch in der Transzendenzontologie der Begriff der Substanz kein ontologisch in sich selbständiger ist, sondern eine Beziehung gewisser ontologischer Bestände, die wir Körper nennen, zu den physischen Grundlagen unserer Erkenntnis darstellt. Von Substanzen kann also immer nur da die Rede sein, wo gefragt wird: welche Außenwirklichkeitsbestände sind dem Menschen auf Grund der physischen Bedingungen seiner Erkenntnis durch immanente Repräsentation grundsätzlich zugänglich und welche nicht? Diese Frage ist zwar insofern eine ontologische, als sie von den ontologischen Grundlagen unserer Erkenntnis handelt und damit gewisse Phänomene aufklärt, die mit den Strukturverhältnissen der Immanenzontologie zusammenhängen. Dagegen ist sie keine ontologische in dem engeren und eigentlichen Sinne dieses Wortes. Denn die als solche in Wahrheit ontologisch allein an sich bestehende transzendente Außenwirklichkeit ist von der Beziehung ihrer Bestände zu den ontologischen Bedingungen unserer Erkenntnis unabhängig. Fragt man daher, ob es Substanzen auch unabhängig von unseren Erkenntnisbeziehungen zu der transzendenten Außenwirklichkeit gäbe, so lautet die Antwort: nein. Denn der Begriff der Substanz verliert seine Bedeutung, wenn man in diesem Sinne von ontologischen Beständen als solchen redet. Das wird ohne Weiteres klar, wenn man bedenkt, daß der Begriff der Substanz auf einen unbekannten Träger bekannter Qualitäten geht. Daher ist dieser Begriff nur solange sinnvoll, als in ihm die Beziehung des Trägers zu einem kennenden und nicht kennenden Bewußtsein miteinbegriffen ist. Ist dies nicht der Fall, so tritt an die Stelle der Substanz einfach der physische Körper selbst, den wir zwar meinen, wenn wir von der Substanz sprechen, den wir aber nur deshalb mit diesem Begriffe bezeichnen, weil uns das Innere eines solchen Körpers unbekannt bleibt. Wir können die hier geschilderte Sachlage auch dadurch charakterisieren, daß wir auf den Unterschied zwischen dem Bereiche unseres Erkennens und dem Bereiche unseres Meinens verweisen. Die Substanz ist etwas, das wir meinen, ohne es tatsächlich zu erkennen, und auch ohne es grundsätzlich erkennen zu können. Die Einsicht in diese grundsätzliche Unerkennbarkeit des Gemeinten wird durch den Begriff der Substanz als eines verborgenen Trägers zum Ausdruck gebracht. Sollte es sich aber einmal erweisen, daß diese Unerkennbarkeit nur scheinbar eine grundsätzliche, in Wahrheit aber eine nur tatsächliche ist, und sollte es gelingen, das, was wir heute als Substanz bezeichnen,
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zu erkennen, so würde eben damit auch der Begriff der Substanz als solcher fortfallen. Der physische Körper wäre dann ebensowenig eine Substanz, wie wir seine uns erkennbaren geometrischen Strukturverhältnisse als substantielle Eigenschaften betrachten. Im Zusammenhange mit diesen Erwägungen sei schließlich noch eine letzte Frage beantwortet. Wir haben in dem Verlaufe unserer Untersuchungen zwei verschiedene Begriffe der Substanz kennen gelernt. Der eine ist der hier behandelte. Nach ihm ist die Substanz der physische Körper als ein unbekannter Träger verschiedener Eigenschaften, bzw. als dasjenige, von dem diese Eigenschaften als verschiedene Wirkungen ausgehen. Der zweite Begriff ist ein anderer. Denn die Substanz gilt dort als das Beharrende in dem Wechsel der Erscheinungen. Unter diesen Umständen erhebt sich die Frage, ob diese beiden Begriffe ihrem Bedeutungsgehalte nach voneinander unabhängig sind, oder ob sie miteinander zusammenhängen. Sucht man diese Frage zu beantworten, so ist offenbar, daß an und für sich beide Begriffe zunächst auf einen verschiedenen Sachverhalt gehen. Denn der Begriff der Substanz als eines unbekannten Trägers der immanenten Wahrnehmungsqualitäten bzw. als transzendenter Ursache dieser letzteren geht auf Simultanverhältnisse. Dagegen geht der Begriff der Substanz als eines Beharrenden in dem Wechsel der Erscheinungen auf Sukzessivverhältnisse. Ihrer engeren Bedeutung nach sind also diese beiden Begriffsbestimmungen klar voneinander unterschieden. Zu einem anderen Ergebnisse kommt man, wenn man danach fragt, ob der von beiden Begriffen vorausgesetzte Bestand und seine Strukturverhältnisse ebenfalls verschiedene sind. In dieser Hinsicht können wir zunächst feststellen, daß in beiden Begriffen unter Substanz, wenn wir von der sogenannten Seelensubstanz absehen und nur die außenwirklichen Substanzen in Betracht ziehen, lediglich die physischen Körper als solche verstanden werden. Das ist in dem ersten der beiden Begriffe ausdrücklich ausgesprochen. Stillschweigend wird es aber auch in dem zweiten Begriffe vorausgesetzt. Niemand wird den Raum oder die Zeit als solche oder ein in der Zeit sich stetig gleichbleibendes Gravitationsfeld abgesehen von dem schweren Körper, den es umgibt, als Substanzen bezeichnen, obwohl auch diese Gebilde im Wechsel der Erscheinungen beharren. Substanzen sind also in beiden Fällen nur die physischen Körper als solche. Fragt man aber, was denn in dem zweiten Substanzbegriffe unter den wechselnden Erscheinungen verstanden wird, so findet man, daß diese 17*
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letzteren mit jenen immanenten Eigenschaften der Substanz identisch sind, die auch in dem ersten der beiden Begriffe auftauchten. Und fragt man ferner, wie sich denn das Beharrende in der Substanz zu diesen Erscheinungen verhalte, so erkennt man, daß dieses Beharrende mit dem unbekannten Träger der immanenten Eigenschaften identisch ist. Mit anderen Worten: der zweite Substanzbegriff wie der erste handeln von dem physischen Körper als dem uns unbekannten Träger unserer immanenten Wahrnehmungsqualitäten. Dieses Verhältnis wird von dem ersten der beiden Substanzbegriffe ausdrücklich klargestellt und von dem zweiten stillschweigend vorausgesetzt. Wir dürfen daher sagen, daß der zweite Substanzbegriff die Merkmale des ersten miteinschließt. Von diesem zweiten Substanzbegriffe haben wir nun aber früher gesehen, daß er auf einem Mißverständnisse der Identität ontologischer Bestände beruht. Was in dem Wechsel der Erscheinungen tatsächlich beharrt, jedoch nicht in einem ontologisch zeitlichen, sondern in einem logisch zeitlosen Sinne, das ist nicht ein besonderes substantielles Einzelwesen, an dem die Erscheinungen ihr Schattenspiel vorführen, sondern es ist die begriffliche Identität des physischen Gesamtbestandes, der als immer wieder derselbe gemeint wird, wenn wir von einem Körper als solchem sprechen. Unter diesen Umständen wäre zunächst zu fragen, ob diese Identität des ontologischen Bestandes mit dem Begriffe des physischen Körpers als eines unbekannten Trägers seiner Eigenschaften zusammenhängt. Eine kurze Erwägung zeigt uns, daß das in beiden Fällen Gemeinte ein und dasselbe ist. Denn die wechselnden Erscheinungen dh. die uns immanenten Eigenschaften des physischen Körpers sind eben nicht das, was wir meinen, wenn wir von diesem letzteren sprechen. Der Körper als solcher ist vielmehr das unbekannte phänomenal transzendente Ding, das zwischen den Mantelflächen unserer Tast- und Sichtwahrnehmungen liegt. Daher ist dieses Ding im Unterschiede zu jenen Eigenschaften das Beharrende in dem Wechsel der Erscheinungen. Es beharrt zwar nicht in einem physischen Sinne, verändert sich vielmehr nach mancher Hinsicht. Aber es ist immer wieder identisch derselbe Gesamtbestand, und diesen meinen wir, wenn wir von solchen Körpern sprechen. Wir erkennen also, daß die Substanz als das Beharrende in dem Wechsel der Erscheinungen das logisch mit sich selbst stets identisch bleibende phänomenal transzendente Ding des physischen Körpers ist, das als immer wieder dasselbe unter seinen wechselnden immanenten Eigenschaften verstanden wird.
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Ist dies der Fall, so würde sich nunmehr die zweite Frage erheben, ob eine solche Identität auch abgesehen von den Zeitbeziehungen einer Sukzession in unserem Begriffe der Substanz als eines unbekannten Trägers seiner immanenten Eigenschaften mitspielt, also zB. auch für ihren Simultanbestand in Betracht kommt. Daß diese Frage zu bejahen ist, wird deutlich, wenn man bedenkt, daß jener unbekannte Träger in seinem Simultan- wie in seinem Sukzessivbestande sowohl durch Tast- als auch durch Sichtwahrnehmungen ermittelt und mit allen anderen Immanenzqualitäten ausgestattet werden kann. So verschieden dann diese Wahrnehmungsweisen auch untereinander sein mögen, so ist doch der Gegenstand, der durch sie zu ermitteln oder mit ihnen auszustatten ist, immer wieder derselbe, nämlich der physische Körper als solcher. Daß dies möglich ist, beruht auf der phänomenalen bzw. metaphänomenalen Transzendenz der Substanzen. Denn wäre uns der in den verschiedenen Wahrnehmungsweisen gemeinte Gegenstand nicht transzendent sondern immanent, und hätten wir ihn dementsprechend mit unseren Wahrnehmungen zu identifizieren, so müßte bei der Artverschiedenheit dieser letzteren mit jeder von ihnen etwas anderes gemeint sein. Die Identität der Substanz der Verschiedenheit unserer Wahrnehmungen gegenüber ist also nur durch ihre Transzendenz ermöglicht. Die Probe auf dieses Exempel geben unsere früheren Versuche, die Immanenzontologie ohne Transzendenzen folgerichtig durchzuführen. Ihr Ergebnis war es, daß wir zu einer Identität der in unserer Wahrnehmung gemeinten Bestände nicht gelangten, sondern uns stattdessen mit der wechselseitigen Zuordnung von artverschiedenen Immanenzqualitäten begnügen mußten. Dieser Zustand wird in der Lehre von der Substanz als einem phänomenal oder metaphänomenal transzendenten Dinge aufgehoben, indem nunmehr erklärt wird, daß wir in unseren artverschiedenen Wahrnehmungsbeständen nicht sowohl diese selber, also immer wieder etwas anderes, sondern vielmehr einen von ihnen verschiedenen dritten Bestand meinen, der uns grundsätzlich transzendent und daher unbekannt ist, und dessen Identität der Verschiedenheit unserer Wahrnehmungen gegenübersteht. Wenn wir also soeben feststellen konnten, daß der zweite jener beiden Substanzbegriffe die Merkmale des ersten, nämlich das Vorhandensein eines unbekannten Trägers miteinschloß, so können wir dem jetzt hinzufügen, daß auch das Umgekehrte zutrifft, dh. daß der erste der beiden Substanzbegriffe seinerseits die Merkmale des zweiten, nämlich die Identität der Substanz gegenüber der Manichfaltigkeit ihrer Erscheinungen miteinschließt.
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Unter diesen Umständen kommen wir zu dem Ergebnisse, daß der erste und der zweite Begriff der Substanz, wenn auch unter Hervorhebung verschiedener Merkmale tatsächlich denselben Sachverhalt bezeichnen. Beide Begriffe gehen auf die Substantialität der physischen Körper. Dabei wird in dem einen von ihnen das Merkmal des verborgenen Trägers und in dem anderen das Merkmal seiner logischen Identität stillschweigend übergangen. Aber in beiden Begriffen sind beide Merkmale nichtsdestoweniger miteingeschlossen. Wollen wir angesichts dessen diese beiden Substanzbegriffe durcheinander ergänzen, so können wir sagen: die Substanz ist der physische Körper als ein uns verborgenes phänomenal oder metaphänomenal transzendentes Ding, das, auf welche Weise und zu welcher Zeit wir es auch erfassen mögen, stets als identisch derselbe, uns selbst freilich nur mittelbar zugängliche und daher unbekannte Bestand gemeint wird. Wir haben hier mit Rücksicht auf den Zusammenhang dieses Kapitels nur von der außenwirklichen Substanz gesprochen. Es sei aber darauf hingewiesen, daß für die sogenannte Seelensubstanz etwas Entsprechendes gilt. Denn auch bei ihr ist das, was als der unbekannte Träger der Bewußtseinsbestände gedacht wird, und das, was in dem Wechsel dieser letzteren als der Erscheinungen beharren soll, ein und derselbe Bestand. Diese Uebereinstimmung beruht darauf, daß der Begriff einer Seelensubstanz nach dem Muster des außenwirklichen Substanzbegriffes gebildet ist. Aus unseren früheren Erörterungen geht jedoch hervor, daß im Allgemeinen unsere Uebertragungen der für die Außenwirklichkeit bestimmten Kategorien auf die eigentümlichen Verhältnisse des Bewußtseins nicht berechtigt sind. Und diese Regel dürfte auch für die Uebertragung des außenwirklichen Substanzbegriffes auf die Struktur unseres Bewußtseins gelten. Der Fall der immanenten Substanz als eines weder in unserer Tast- noch in unserer Sichtwelt zu repräsentierenden und uns daher phänomenal transzendenten Dinges gehört in die Gruppe derjenigen Fälle, in denen unsere immanente Wahrnehmungswelt grundsätzliche Lücken aufweist. Wir haben in einem früheren Zusammenhange die durch das Auftreten solcher Lücken bedingte energetische Unvollständigkeit aller Immanenzsysteme geschildert und gezeigt, daß nichtsdestoweniger die Räume dieser Immanenzsysteme in ihrer geometrischen Stetigkeit und Unendlichkeit lückenlos vollständig sind. Wie das Substanzproblem im Besonderen, so finden die dort dargelegten Verhältnisse im Allgemeinen durch die von uns behandelten physi-
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sehen Beziehungen, die unserer Wahrnehmung in der transzendenten Außenwirklichkeit zugrundeliegen, ihre abschließende Erklärung. Ich denke mir unter der Annahme, daß die Helmholtzsche Theorie des Hörens im Wesentlichen richtig sei, an der Stelle unseres inneren Ohres einen der Basilarmembran ähnlichen Apparat mit abgestimmten Saiten, die die ihnen gemäßen periodischen Schallschwingungen mitmachen. Man könnte sich einen solchen Apparat so vervollkommnet denken, daß er weit über die Schwellenwerte unserer Gehörempfindungen hinaus auf Schwingungen von jeder beliebigen Frequenz und Intensität reagierte. Aber so vollkommen er auch sein mag, stets bleibt ein solcher Apparat in der Art seiner Registrierung an bestimmte, sich in molaren Größenverhältnissen abspielende Vorgänge gebunden, und die anderen Bestände der transzendenten Außenwirklichkeit entgehen ihm. Alles zB., was sich relativ zu unserem Apparate in Ruhe befindet, würde sich nicht auf ihm verzeichnen. Auf elektromagnetische Wellenvorgänge, auf Temperaturzu- und abnahme, auf Verschiebungen seines Schwerefeldes, auf Duftstrahlen usw. würde er in der Weise seiner spezifischen Reaktionen nicht antworten. Natürlich könnte er unter Umständen auch durch solche anderen Einflüsse verändert werden. Wesentlich erhöhte Temperaturen könnten ihn zB. zum Schmelzen bringen. Aber er würde diese Veränderungen durchmachen, ohne darum notwendigerweise zu schwingen. Wollten wir uns also auf eine Registrierung dieser seiner Schwingungen beschränken, so würden wir damit nur einen verhältnismäßig geringen Bruchteil aller Außenwirklichkeitsbestände kennen lernen. Unsere Schallwirklichkeil ist die deutungserfüllte Wahrnehmungsedition der uns durch unsere Sinneszentren vermittelten Aufzeichnungen eines solchen, jedoch weniger vollkommenen Apparates. Wenn daher ein auf seine Schallwirklichkeit allein eingestelltes und keiner anderen Wahrnehmungsart fähiges Wesen behaupten wollte, das, was es höre und sich durch Vorstellungen nach Analogie des Gehörten zu ergänzen vermöge, sei die ganze Außenwirklichkeit, so befände es sich in einem Irrtume. Denn seine Schallwelt bildete erstens überhaupt nicht die Außenwirklichkeit, sondern bestünde aus einer bewußtseinswirklichen Deutungserfüllung von außenwirklichen Registrationen, und zweitens wären diese Registrationen nicht nur tatsächlich sondern auch grundsätzlich unvollständig. Sie verzeichneten daher nur einen gewissen Ausschnitt aus der transzendenten Außenwirklichkeit. Das könnte jenes Gehörwesen unter anderem daran erkennen, daß seine Schallwelt kein naturgesetzliches Ganzes bildete. Seine Töne kämen und gingen; aber es könnte nicht sagen, woher und wohin. Das in
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Ruhe übergegangene Instrument seines eigenen Gehörs, von dessen Schwingungen die Töne ausgehen, bliebe ihm grundsätzlich unerfaßbar. Usw. Seine Schallwelt bestünde also trotz der lückenlosen Vollständigkeit ihres Raumsystems aus lauter abgerissenen Bruchstücken, die für jenes Wesen selbst aus einem Nichts kämen und in ein Nichts verschwänden. Wir haben schon früher angedeutet, daß dieses Nichts in einem solchen Falle kein absolutes sondern ein relatives ist. Kraft unserer Einsicht in die physischen Grundlagen der Transzendenzontologie erkennen wir nunmehr, wie das zu verstehen ist. Die Schallwelt unseres Hörwesens bildet für dieses ein in sich geschlossenes Immanenzsystem, in dem alles Schallhafte aber auch nur dieses enthalten gedacht wird; in das daher nichts anderes herein-, und aus dem nichts hinausgelangen kann. Der tiefere Grund dieser These wird uns später klarwerden. Wird sie aber aufgestellt und ist unser Wesen auf seine Schallwelt beschränkt, so ist ihm eben damit alles, was in dieser nicht enthalten ist, ein Nichts. Auf der anderen Seite kann das so als ein Nichts Betrachtete in der transzendenten Außenwirklichkeit, die auf Grund der geschilderten physischen Verhältnisse durch eine Schallwelt nur lückenhaft repräsentiert wird, tatsächlich vorhanden sein. Jenes Nichts ist also kein absolutes, dh. es betrifft nicht ein Fehlen innerhalb unserer Gesamtwirklichkeit, sondern es ist nur ein relatives, dh. es betrifft ein Fehlen innerhalb eines bestimmten Bereiches, der von einem Wesen, das auf diesen Bereich angewiesen ist, zu Unrecht als die Gesamtwirklichkeit betrachtet wird. Angesichts der hier dargelegten Verhältnisse stehen unserem Gehörwesen für den Ausbau seiner Schallwirklichkeit zwei verschiedene Wege offen: entweder es beschränkt sich auf das, was in seinem Wahrnehmungssystem repräsentierbar ist, und muß dann auf eine geschlossene Naturgesetzlichkeit dieses letzteren verzichten; oder es stellt diese geschlossene Naturgesetzlichkeit her und muß dann auf jene Beschränkung verzichten. Wir wollen einmal annehmen, daß es diesen zweiten Weg einschlägt. Es kann dann trotzdem bei dem Raumsysteme seiner Schallwirklichkeit verbleiben. Denn dieses Raumsystem ist ebenso lückenlos vollständig wie das der transzendenten Außenwirklichkeit selbst. Aber es muß nun in seinem Schallraume Ctobilde unterbringen, von denen es sich zu sagen hat, daß sie keinen Schallcharakter tragen und daher eigentlich in jenen Raum auch nicht hineingehören. Da wo wir physische Körper zu erschauen glauben, Wärme- und Kälteempfindungen haben, Duftbestände erfassen usw., wäre in dem Räume unseres Schallwesens nichts vorhanden. Aber es würde an solchen
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Raumstellen nichtsdestoweniger fiktiv ein ihm unbekanntes Aequivalent für das einsetzen, was es als die Ursache seiner Schallbestände anspräche. Und es würde hierzu berechtigt sein, da in der durch sein Schallsystem repräsentierten transzendenten Außen Wirklichkeit an den entsprechenden Raumstellen physische Bestände tatsächlich vorhanden wären. Die Unvollständigkeit solcher lückenhaften Immanenzsysteme findet also ihre Heilung durch eine Einführung von Beständen, die an und für sich dem betreffenden Systeme artfremd sind, für die aber nichtsdestoweniger an den entsprechenden Raumstellen des Systems ein als unbekannt betrachteter Gegenwert aufgestellt wird. In dieser Lage befinden wir selber uns im Hinblicke auf die uns nicht wahrnehmbaren Bestände der transzendenten Außenwirklichkeit. Denn wie der Wahrnehmungsinstrumentur jenes Schallwesens, so sind auch unserer eigenen Wahrnehmungsinstrumentur allerlei Bestandarten der transzendenten Außenwirklichkeit verschlossen. Infolgedessen weist auch unsere Immanenzsystematik Lücken auf. Wir werden also vor dasselbe Dilemma gestellt wie jenes Schallwesen. Und da wir unserem Begriffe von dem Charakter der Außen Wirklichkeit entsprechend eher auf eine Vorstellbarkeit gewisser unter ihren Beständen als auf ihre geschlossene Naturgesetzlichkeit verzichten können, so sind auch wir darauf angewiesen, in unserer Wahrnehmungswelt für das uns Fehlende gewisse als unbekannt betrachtete Aequivalente einzusetzen, denen wir dann zwar eine Raumstelle zuweisen können, die wir aber weder wahrzunehmen noch vorzustellen vermögen, und die daher eigentlich in die Systematik unserer Wahrnehmungswelt nicht hineingehören. Von solchen Aequivalenten haben wir anzunehmen, daß ihre Gegenstücke in der transzendenten Außenwirklichkeit an den entsprechenden Raumstellen tatsächlich vorhanden sind, daß es uns aber infolge der physischen Mängel unserer Sinneswerkzeuge an einer geeigneten Repräsentation für sie fehlt. Ein Beispiel dieser Art haben wir soeben an der Substanz als dem phänomenal und metaphänomenal transzendenten Dinge kennen gelernt. Infolge der wechselseitigen Undurchdringlichkeit der physischen Körper sind diese nach ihrer spezifisch dreidimensionalen Raumerfüllung in unserer Wahrnehmungswelt nicht repräsentierbar. Angesichts dessen müssen wir uns innerhalb dieser letzteren damit begnügen, für die Erfüllung der Körper an den ihnen zustehenden Raumstellen ein uns unbekanntes Aequivalent einzusetzen, das von den uns bekannten Tast- und Sichtbeständen umhüllt wird. Dieses Aequivalent haben wir in unserem besonderen Falle als das phänomenal transzendente Ding oder die immanente Substanz bezeichnet.
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In unserer Wahrnehmungswelt ist tatsächlich nichts von einer solchen Substanz zu entdecken. Sie wird von uns nur hinzugedacht. Wohl aber haben wir anzunehmen, daß ihr Gegenwert in der transzendenten Außenwelt nämlich in der Gestalt des metaphänomenalen Dinges oder der transzendenten Substanz wirklich vorhanden ist. Die Einführung der phänomenal transzendenten Dinge erweist sich also als eine Hilfsmaßnahme zur Ausfüllung einer Repräsentationslücke in unserer Wahrnehmungswelt. In dem Falle der Substanzen hat die Undurchdringlichkeitsstruktur der uns hier fehlenden Bestände das Besondere an sich, daß diese auf fest begrenzte Raumbezirke, die wir Körper nennen, beschränkt sind. Es gibt in der transzendenten Außenwirklichkeit aber auch andere Bestände, die in unserer Wahrnehmungswelt ebenfalls nicht repräsentierbar sind, und bei denen eine solche Begrenzung nicht stattfindet. Zwar sind auch die Bestände dieser letzteren Art an das Auftreten eines physischen Körpers gebunden; sie pflegen aber über die Grenzen desselben hinauszureichen und bilden dann ein den Körper umgebendes Feld. Hierzu gehören zB. die elektrischen, die magnetischen, die Schwerefelder usw. Diese Felder selbst können wir in unserer Wahrnehmungswelt nicht feststellen. Wir können zB. den für die wechselseitige Anziehung der schweren Körper maßgebenden Faktor weder sehen noch tasten noch hören noch sonst auf irgendeine Weise wahrnehmen. In jedem der uns bekannten Immanenzsysteme wäre daher zwischen einem schlechthin leeren und einem Gravitationsfelde keinerlei Unterschied. Nichtsdestoweniger können wir an dem gravitierenden Verhalten unserer Wahrnehmungsbestände erkennen, daß in dem durch unser Beobachtungsfeld repräsentierten Raumbezirke der transzendenten Außenwirklichkeit irgendetwas vorhanden sein muß, was jenes Gravitieren hervorruft. Wir sehen zB., daß sich die Körper unserer Umgebung im freien Falle nach der Erde hinbewegen. Hierfür liegt in den Beständen, die wir wahrnehmen können, kein Grund vor. Wollten wir uns daher auf unsere Wahrnehmungswelt beschränken, so hätten wir hier im Widerspruche zu der unserer Außenwirklichkeit zugeschriebenen Naturgesetzlichkeit ein ursachloses Geschehen festzustellen. Um dies zu vermeiden, setzen wir in dem Raumgebiete, in dem der Fall der Körper vor sich geht, für die transzendente Außenwelt einen wirkenden Faktor an, den wir wegen der physischen Unvollständigkeit unserer Sinneswerkzeuge als für uns nicht repräsentierbar betrachten. Diesen Faktor nennen wir das Schwerefeld und verlegen ein unbekanntes Aequivalent für dieses Feld in den entsprechenden
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Bezirk unseres Sichtwirklichkeitsraumes. Unrepräsentierbare und daher unbekannte Faktoren dieser Art pflegen wir in dem spezifisch ontologischen Sinne dieses Wortes als Kräfte und daher jene Felder als Kraftfelder zu bezeichnen. Dabei ist wohl zu beachten, daß es sich hier nur um den freilich auch für den Physiker unentbehrlichen ontologischen und nicht um den im eigentlichen Sinne physikalischen Begriff der Kraft handelt. Denn physikalisch ist Kraft ohne Rücksicht auf ihr Verhältnis zu unseren Wahrnehmungsrepräsentationen alles das, was der Trägheit entgegen den Bewegungszustand eines Körpers ändert. Dagegen verstehen wir ontologisch unter Kraft dasjenige, was abgesehen von den Substanzen in den naturgesetzlichen Zusammenhang unserer Wahrnehmungswelt hineinspielt, ohne doch in ihr repräsentiert werden zu können. Offenbar sind diese beiden Begriffe der Kraft grundsätzlich verschieden. Aber ihr Bedeutungsgehalt bringt es mit sich, daß das, was in der Physik als Kraft in dem einen Sinne auftritt, es streng genommen stets zugleich auch in dem anderen ist. Unter diesen Umständen kann es nicht wundernehmen, wenn beide Begriffe in der physikalischen Praxis gelegentlich miteinander vermengt werden. In dem vorliegenden Zusammenhange haben wir es nur mit dem ontologischen, nicht dagegen mit dem physikalischen Begriffe der Kraft zu tun. Ontologisch aber verstehen wir unter Kraft einen nicht substantiellen Faktor, der in unserer Wahrnehmungswelt nicht repräsentiert werden kann und daher durch ein unbekanntes Wahrnehmungsäquivalent ersetzt werden muß. Diese Auffassung des Sachverhaltes steht im Gegensatze zu einer verbreiteten Anschauung, nach der in einem bestimmten Falle auch das Wesen der Kraft in dem Bereiche unserer Erfahrung läge. Zwar, so wird uns gesagt, sehen und in der außerleiblichen Wirklichkeit wahrnehmen können wir die Kraft nicht, Wohl aber können wir sie in unserem eigenen Leibe spüren, zB, wenn wir unseren Körper gegen eine Wand stemmen, oder wenn wir ein schweres Gewicht anheben. Eine unmittelbare Beobachtung der Kraft wäre uns demnach nur bei den außerleiblichen Immanenz^ beständen verschlossen. In den innerleiblichen Wahrnehmungen unseres sogenannten Muskelsinnes dagegen wäre sie uns eröffnet. Diese Argumentation scheint auf den ersten Blick einleuchtend. Näher zugesehen aber steht sie auf schwachen Füssen. Denn wenn wir den Psychologen nach dem Wesen des Muskelsinnes und seiner Empfindungen fragen, so zeigt er uns, daß das, was wir bei dem Anstemmen gegen eine Wand oder bei dem Anheben eines Gewichtes erleben, nicht das ist, was in dem gangbaren Sinne unter Kraft ver-
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Die Transzendenzontologie der AuBenwirklichkeit
standen wird, sondern daß hierbei nur gewisse Gestaltveränderungen unserer Muskulatur und entsprechende Lageveränderungen unserer Gelenke erfaßt werden. Das aber sind Geschehnisse, die ihrem Wesen nach unseren außerleiblichen Sicht- und Tasterfahrungen ebenso zugänglich sein könnten, wie sie den Erfahrungen unseres Muskelsinnes zugänglich sind. Dagegen können wir die sich in unserer Muskulatur auswirkende Kraft selber durch unsere Muskel- und Gelenkempfindungen ebensowenig beobachten wie durch unsere übrigen Wahrnehmungsweisen. Anders stünde es, wenn in jenen Fällen statt der Muskelempfindungen die eigentliche Außenkausalität des Bewußtseins als solche, also das wahrgenommen würde, was geschieht, wenn mein Bewußtsein ein Anstemmen des Körpers oder ein Anheben des Gewichtes in den motorischen Zentren meiner Großhirnrinde veranlaßt. In diesem Falle könnte man von der Wahrnehmung einer Kraft in der Tat sprechen. Es wäre dies zugleich die einzige Kraft, die bei jenen Tätigkeiten unserem Bewußtsein selber zukommt. Allein wir haben früher erkannt, daß uns gerade die Außenkausalität unseres Bewußtseins unbekannt bleibt. Mit der Beobachtung unserer eigenen Kraft ist es also ähnlich bestellt, wie mit der Beobachtung der außerleiblichen Kräfte. Denn in dem einen wie in dem anderen Falle können wir nur die Wirkungen der Kraft beobachten, nicht dagegen diese selber. Aber nehmen wir einmal an, wir könnten auf irgend eine Weise tatsächlich die Kraft unseres eigenen Bewußtseins oder die unseres Leibes wahrnehmen. Auch dann wäre uns damit für die Wahrnehmung der außerleiblichen Kräfte noch nicht gedient. Denn wenn wir nunmehr das, was wir an uns selbst erführen, auf die anderen Körper übertragen wollten, so wäre dies nicht durch eine einfache Ausdehnung unserer innerleiblichen Wahrnehmungen auf die außerleiblichen Bereiche, sondern nur dadurch möglich, daß wir das, was wir an uns selbst beobachten, als ein inneres Erlebnis auch den anderen Kräften beimäßen. Wir hätten also auf dem Wege der Fremdbewußtseinsrealisation allen kraftbegabten Körpern und nicht nur diesen sondern auch ihren Kraftfeldern ein Analogon unseres Bewußtseins zuzuschreiben. Auf diese Weise aber kämen wir zu einem Panpsychismus, der angesichts der früher erörterten Sonderstellung unserer psychischen Innensystematik zu einer physischen Erklärung der Kraftbestände nichts beitragen würde. Die Physik bedient sich daher einer solchen Auffassung des Kraftbegriffes auch nicht ernstlich. Sie arbeitet vielmehr mit dem Begriffe der Kraft als eines Faktors, dessen Feldstruktur sich zwar geometrisch
Die Kraftfelder und die nicht substantiellen Immanenzqualitäten
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bestimmen läßt, dessen ontologisches Eigenwesen uns jedoch unbekannt bleibt. Näher zugesehen kommen in ihrem gesamten Weltbilde überhaupt nur solche Bestände der transzendenten Außenwirklichkeit vor, die in unserer immanenten Wahrnehmungswelt unrepräsentiert bleiben, und für die wir daher jene unbekannten Wahrnehmungsäquivalente einsetzen. Denn die Physik handelt ausschließlich von den physischen Körpern als metaphänomenalen Dingen und von ihren Kraftfeldern. Unter diesen Umständen haben wir uns die transzendenzontologischen Unterschiede zwischen den Phänomenen der Substanz und der Kraft genauer zu vergegenwärtigen. Diese Unterschiede liegen zunächst in der von uns dargelegten Differenz ihrer räumlichen Ausdehnung. Die Substanzen sind an bestimmte Grenzen gebunden, die Kraftfelder nicht Ein weiterer Unterschied liegt darin, daß die Substanzen als solche für undurchdringlich gelten, während die Kraftfelder als durchdringlich gedacht werden. Wir nehmen zB. nicht an, daß ein Körper, während er zur Erde fällt, durch die ihm im Wege stehenden Teile des Gravitationsfeldes irgendwie behindert wird, sondern lassen ihn dieses Feld widerstandslos durcheilen. Daher kommt zwar für unsere Wahrnehmung der Substanzen, nicht aber für die der Kräfte das Prinzip der Mantelflächen zur Anwendung. Denn das Auftreten solcher Mantelflächen hing mit der Undurchdringlichkeit der physischen Körper zusammen. Nicht minder wichtig ist es, daß sich alle uns bekannten Kraftfelder als durch das Auftreten von Substanzen bedingt erweisen, während umgekehrt die Substanzen selbst, wenn nicht aller, so doch gewisser Kraftfelder entbehren können, also an das Auftreten dieser letzteren nicht gebunden sind. Das kommt unter anderem darin zum Ausdruck, daß bestimmte Kräfte in die Substanzen gewissermaßen einziehen und auch wieder aus ihnen ausziehen zu können scheinen, wie das zB. die Magnetisierung und Entmagnetisierung von Körpern zeigt. Immer aber sind es solche Körper und nur sie, die in dieser Weise ihre Kräfte erhalten und verlieren. Hiermit hängt es zusammen, daß wir die Substanzen als die Ursache der Kraftfelder und diese als ihre Wirkungen betrachten. Infolgedessen wird die Kraft von uns in die Substanz als deren Eigenschaft hineinverlegt. Sie bildet dort gewissermaßen einen Originalbestand, während das, was in dem umgebenden Kraftfelde als die Eigenschaft dieses letzteren auftritt, nur als eine sekundäre Fortpflanzung jenes Originalbestandes gilt. Die nähere Betrachtung dieser Verhältnisse zeigt uns, daß wir in unserer ontologischen Begriffsbildung mit dem hier beschriebenen,
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
als Kraft bezeichneten und uns unbekannten Wahrnehmungsäquivalente ähnlich verfahren, wie mit gewissen früher von uns beschriebenen, aber uns bekannten nicht substantiellen Immanenzqualitäten. Diese Uebereinstimmung ist nicht zufällig, sondern beruht darauf, daß die als Kraftfelder bezeichneten und uns transzendenten Gebilde, wie jene Immanenzqualitäten, einerseits an das Auftreten von Substanzen gebunden sind, anderseits aber räumlich über diese hinausragen und selbst keinen substantiellen Charakter tragen. Auf Grund dieser Sachlage könnten wir die uns transzendenten Kräfte als ein unrepräsentierbares Analogon solcher nicht substantiellen Immanenzqualitäten und diese letzteren als ein wahrnehmbares Analogon jener Kräfte behandeln. Denn in ihrer grundsätzlichen Struktur sind die nicht substantiellen Immanenzqualitäten mit den uns transzendenten Kräften nahe verwandt. Das gilt zB. von dem, was wir als Duft oder als Wärme ansprechen. Auch hier können wir von einem Duft- oder Wärmefelde reden, das die duftende oder wärmende Substanz umgibt. Auch hier ist diese letztere an bestimmte Grenzen gebunden, unser Wahrnehmungsfeld dagegen nicht. Und wie die krafterfüllte, so ist die duftende oder wärmende Substanz als solche undurchdringlich, während wir ihr Feld durchdringen zu können glauben. Daher kommt auch in diesem Falle nur für die Substanz, nicht aber für ihr Feld das Prinzip der Mantelflächen zur Anwendung. Und wie in dem Falle des Kraftfeldes, so erweist sich auch in dem Falle des Duft- oder Wärmefeldes die Substanz als die Ursache dieses letzteren, das Feld selbst dagegen als ihre Wirkung. Dabei kann wie dort die Kraft, so hier der Duft und die Wärme in die Substanz ein- und aus ihr ausziehen. Endlich entspricht es jener ursächlichen Bedeutung der Substanz, daß wir ihr wie die Kraft, so den Duft und die Wärme als solche Eigenschaften beilegen, die nur in der Substanz selbst den Charakter eines Originalbestandes tragen, während uns die entsprechenden Eigenschaften außerhalb der Substanz wie bei den Kraftfeldern, so bei den Duft- und Wärmefeldern als sekundäre Bestände gelten, die sich aus den originalen Eigenschaften der Substanz selbst herleiten. Die ontologischen Bezugsverhältnisse zwischen den Substanzen und den nicht substantiellen Immanenzqualitäten sind also nahezu dieselben wie die entsprechenden Bezugsverhältnisse zwischen den Substanzen und ihren Kraftfeldern. Fragt man, inwiefern sich angesichts dieser Uebereinstimmung solche Wahrnehmungsqualitäten wie die soeben geschilderten in ihrer immanenzontologischen Darbietung von den Kraftfeldern unterscheiden, so lautet die Antwort hierauf folgendermaßen. Wie die Kraft-
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felder, so erkennen wir auch die Duft- und Wärmefelder, insoweit ihr Bestand in der transzendenten Außenwirklichkeit in Frage kommt, nur an ihren Wirkungen. Aber in dem Falle der Duft- und Wärmefelder sind unsere Sinneswerkzeuge als solche der Gegenstand, an dem sich jene Wirkungen vollziehen. Auch können wir in der Fortbewegung unseres Leibes durch diese Felder hindurchgehen und sie auf solche Weise mit unserer Wahrnehmung durchdringen. Daher betrachten wir die Felder dieser letzteren Art als immanente Gegebenheiten und führen kein unbekanntes Wahrnehmungsäquivalent für sie ein. Anders steht es mit den Kraftfeldern. Denn bei ihnen bilden den Gegenstand ihrer wahrnehmbaren Wirkung nicht unsere eigenen Sinneswerkzeuge, denen diese Felder vielmehr verschlossen bleiben, sondern andere von uns wahrgenommene Bestände, deren Beeinflussung durch das Kraftfeld wir an ihrem Verhalten mittelbar beobachten, ohne daß wir unmittelbar irgendetwas von dem Felde wahrnehmen könnten. Wir haben dementsprechend für diese letztere Art der Felder keine eigene Immanenzqualität. Daher sind wir genötigt, an ihrer Stelle ein uns unbekanntes Aequivalent in unsere Wahrnehmungswelt einzusetzen. So fehlt uns zB. ein Sinn für Schwerefelder. Wohl aber haben wir unseren Gesichtsinn, mit dem wir die fallenden Körper zu beobachten vermögen; und wir können aus deren Verhalten dann mittelbar auf das Vorhandensein eines Schwerefeldes in der transzendenten Außenwirklichkeit schließen. Dagegen bleibt ein solches Feld selbst unserer unmittelbarer Beobachtung verschlossen und muß daher durch ein Wahrnehmungsäquivalent ersetzt werden. Im Unterschiede hierzu bedürfen wir für die Duft- und Wärmefelder keines unbekannten Aequivalentes, da wir das Vorhandensein dieser Bestandarten nicht erst mittelbar aus dem Verhalten anderer Wahrnehmungsgebilde zu erschließen brauchen, sondern sie unmittelbar mit unseren eigenen Sinneswerkzeugen gewahrwerden können. Vergleichen wir im Hinblicke auf das hier eingeschlagene Verfahren unsere immanenzontologische Bewertung der Substanzen mit der der Kraftfelder einerseits und der der Duft- und Wärmefelder anderseits, so erkennen wir, daß in dieser Beziehung die Substanz als phänomenal transzendentes Ding gewissermaßen eine Mittelstellung zwischen jenen beiden Feldarten einnimmt. Einerseits nämlich ist die Substanz unserer unmittelbaren Wahrnehmung ebenso unzugänglich wie die Kraft. Es fehlt uns ein Sinneswerkzeug, mit dem wir ihrer habhaft werden könnten. Denn da sie undurchdringlich ist, läßt sie uns nicht wie die Duft- und Wärmefelder in ihr Inneres eintreten.
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Die Transzendenzontologie der Außen Wirklichkeit
Auf der anderen Seite aber haben wir als unmittelbare Wahrnehmungen die früher geschilderten Mantelflächen der Tast- und Sichtbestände zu unserer Verfügung, durch die wir die Substanz, in deren Inneres wir nicht eindringen können, wenigstens von außen zu umhüllen vermögen. Und diese Tast- und Sichtbestände dienen uns ausschließlich zu dem letzteren Zwecke. Daher betrachten wir die Substanzen als unbekannte Wahrnehmungsäquivalente von einer besonderen Art und bewerten sie, wie wir früher gesehen haben, im Unterschiede zu den Kraftfeldern als etwas, das trotz seiner phänomenalen Transzendenz in dem eigentlichen Sinne des Wortes zu unserer Wahrnehmungswelt gehört. Will man die hier von uns beschriebenen Unterschiede zwischen der Substanz und ihren Kraftfeldern als nicht für das eigentliche Wesen des Kraftbegriffes belangreich ansehen und als maßgebend für den letzteren nur den Umstand betrachten, daß er einen in der transzendenten Außenwirklichkeit vorhandenen Faktor bezeichne, der in unserer Wahrnehmungswelt als solcher nicht repräsentiert werden kann, sondern sich nur an seinen Wirkungen erkennen läßt, so hätte man die Kraftfelder und die Substanzen unter den gemeinsamen Begriff der Kraft zusammenzufassen. Man könnte von hier aus noch einen Schritt weitergehen und darauf hinweisen, daß außerdem auch diejenigen Bestände der transzendenten Außenwirklichkeit, die durch unsere Wahrnehmungen repräsentiert werden, in diesen letzteren nur nach ihren Wirkungen erfaßt werden können, im übrigen uns aber ebenfalls unbekannt bleiben. Eine solche Formulierung der Sachlage würde für den Gesamtbestand der transzendenten Außenwirklichkeit zu einem Kraftmonismus führen. Denn es gäbe nun in dieser letzteren überhaupt nur das, was wir Kraft nennen. Das Wirklichkeitsbild eines solchen Monismus wäre scheinbar einheitlich. Aber seine Einheitlichkeit erwiese sich als illusorisch. Denn in dem hier gebrauchten Sinne ist der Begriff der Kraft negativ. Er besagt nur, daß ein aus seinen Wirkungen zu erschließender Bestand da ist, den wir nicht kennen. Kennten wir ihn, so hätten wir ihn auch nicht in diesem Sinne als Kraft zu bezeichnen. Zu behaupten, daß die ganze transzendente Außenwirklichkeit Kraft sei, heißt also insofern nur behaupten, daß sie wirksam und uns lediglich aus ihren Wirkungen bekannt, an sich selbst dagegen uns unbekannt sei. Mit dieser negativen Bestimmung aber ist wenig gewonnen. Es gilt vielmehr festzustellen, wie dieses Unbekannte, das sich in unserer Wahrnehmungswelt wirksam repräsentiert, positiv beschaffen ist, wodurch sich die einzelnen in ihm auftretenden Kräfte voneinander unter-
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scheiden, was ihnen gemeinsam ist, und wie sie ineinander übergreifen. Darüber ist jedoch aus dem bloßen Begriffe der Kraft nichts zu entnehmen. Geht man solchen Fragen im Einzelnen nach, so gelangt man nicht zu dem Monismus einer und derselben Kraft, sondern zu einem Pluralismus verschiedener Kräfte. Man erkennt dann, daß wie den Duftund Wärme-, Schall- und Lichtfeldern, so auch den in unserer Wahrnehmungswelt nicht repräsentierten Kraftfeldern in der transzendenten Außenwirklichkeit verschiedenartige Strukturen zugrundeliegen. Diese nachzuweisen ist die Aufgabe der Physik. Allerdings führt die Entwicklung der letzteren zu einer Vereinheitlichung auch jener Verschiedenheiten. Aber die Vereinheitlichung erfolgt hier nicht durch den Begriff der Kraft als eines Faktors, dessen ontologisches Charakteristikum seine immanente Unbekanntheit ist, sondern durch die Angabe anderer Faktoren, für die die Tatsache ihrer immanenzontologischen Unbekanntheit belanglos ist, und als deren Komplikationen sich die verschiedenen Kräfte erweisen. Die Wege, die zu einer solchen Vereinheitlichung führen, liegen in dem gegenwärtigen Stadium der Physik auf dem Gebiete der Elektrodynamik. Ob dieses Stadium als endgültig zu betrachten ist, bleibe dahingestellt. Wie es sich damit aber auch verhalten möge, in jedem Falle ist es die Aufgabe der Physik, auf dem Wege zu ihrer Vereinheitlichung die ihr heute freilich noch unentbehrlichen, aber für die physikalische Forschung schon längst nicht mehr zureichenden Begriffe der Substanz und der Kraft als für uns nicht repräsentierbarer und daher unbekannter Bestände nicht nur nicht zur Grundlage ihres Gegenstandsbereiches zu machen, sondern sie vielmehr vollständig aus diesem auszuschalten. Denn die Physik hat es ausschließlich mit denjenigen Beständen und ihren Beziehungen zu tun, die in der transzendenten Außenwirklichkeit als solcher bestehen. In dieser letzteren aber gibt es weder Substanzen noch Kräfte in dem hier behandelten Sinne des Wortes. Und zwar deshalb nicht, weil diese Gebilde keinen rein transzendenzontologischen Charakter tragen, sondern auf den Bezugsverhältnissen zwischen der transzendenten Außenwirklichkeit und unserer immanenten Wahrnehraungswelt beruhen. Mit diesen Bezugsverhältnissen aber hat es die Physik nicht zu tun. Sie gehören zwar zu den Erkenntnismitteln, von denen sie ausgeht. Aber sie gehören nicht zu dem Erkenntnisgegenstande, auf den sie hinzielt. Hieraus erklärt es sich, daß auf den früheren Entwicklungsstufen der Physik, auf denen sie an ihre immanenten Erkenntnismittel noch weitgehend gebunden war, die Begriffe der Substanz und der Kraft eine erheb18
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
liehe Rolle spielten, um dann nach und nach anderen Begriffsbildungen zu weichen. Ueberwunden sind jene Begriffe freilich auch heute noch nicht. Doch wird es schon gegenwärtig immer offenbarer, daß in der transzendenten Außenwirklichkeit als dem physikalischen Gegenstandsbereiche die uns in unserer Wahrnehmungswelt so geläufige und früher auch der Physik als selbstverständlich erscheinende scharfe Unterscheidung zwischen Substanz und Kraft, wie zwischen Masse und Energie in dieser Weise kaum zu Recht bestehen dürfte, so wichtig sie auch im Hinblicke auf die ontologischen Bedingungen unserer Erkenntnis sein mag. Ist das aber der Fall, so muß damit gerechnet werden, daß es der Physik in absehbarer Zeit gelingen dürfte, in dieser Hinsicht neue Kategorien zu schaffen, die den Begriffen der Substanz und der Kraft, wie denen der Masse und der Energie übergeordnet sind, und die dann als die eigentlichen Grundkategorien der Außenwirklichkeit an die Stelle jener älteren Begriffsbildungen zu treten hätten. Zu den aus der philosophischen Ueberlieferung stammenden Begriffsbildungen, die wie die Begriffe der Substanz und der Kraft ihr Heimatsrecht in den Beziehungen haben, die zwischen der transzendenten Außenwirklichkeit und ihrer Repräsentation in der immanenten Wahrnehmungswelt herrschen, gehört die namentlich durch Descartes und Locke zur Geltung gebrachte Unterscheidung zwischen den primären und den sekundären Qualitäten der Wirklichkeitsbestände. Physikalisch belanglos besteht diese Unterscheidung gleich jenen Begriffen der Substanz und der Kraft ontologisch zu Recht. John Locke verstand unter primären Qualitäten diejenigen Eigenschaften eines außenwirklichen Bestandes, die diesem abgesehen von seinen Beziehungen zu einem wahrnehmenden Bewußtsein zukommen. Sekundär dagegen nannte er die an eine solche Beziehung gebundenen Eigenschaften. Von den Gesichtspunkten der Transzendenzontologie aus können wir diese Unterscheidung auch dahin formulieren, daß die dem transzendenten Gegenstande zukommenden Eigenschaften seine primären Qualitäten sind, und daß die immanente Repräsentation dieser Eigenschaften seine sekundären Qualitäten bilden. Denn unabhängig von unserem wahrnehmenden Bewußtsein besteht nach transzendenzontologischer Auffassung nur die transzendente, nicht aber die immanente Außenwirklichkeit. Hieraus geht zunächst hervor, daß sich die Träger der primären und die der sekundären Eigenschaften, damit zugleich aber auch diese Eigenschaften selber ihrem individualbegrifflichen Wesen nach stets
Die primären und sekundären Qualitäten in der Transzendenzontologie
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voneinander unterscheiden. Denn die primären Eigenschaften kommen als solche eben nur in der transzendenten Außenwirklichkeit vor und die sekundären nur in der immanenten. Wollte man daher die Lehre von den primären Qualitäten dahin verstehen, daß gewisse Beschaffenheiten unserer Wahrnehmungsbestände nach ihrer eigenen Wirklichkeit zugleich die Beschaffenheiten der von uns unabhängigen Außenwirklichkeitsbestände selbst seien, so wäre diese Interpretation der Sachlage nach transzendenzontologischer Auffassung nicht haltbar. Aber auch in allgemeinbegrifflicher Hinsicht gäbe es nach dieser Auffassung nur sekundäre und keine primären Beschaffenheiten für unsere Wahrnehmung, solange man unter solchen Beschaffenheiten die Qualitäten in derjenigen Gestalt versteht, die sie als konkrete Gegebenheiten in der immanenten Außenwelt einerseits und in der transzendenten anderseits tragen. Denn in dieser ihrer Konkretheit hat keine Beschaffenheit unserer Wahrnehmungsbestände denselben primären Charakter, der den Beschaffenheiten der transzendenten Bestände zukommt. Und anderseits kommt bei diesen letzteren eine sekundäre Qualität ohnehin nicht in Frage. Auch insofern kann daher von primären Qualitäten innerhalb unserer Erfahrung keine Rede sein. Anders steht es, wenn man als die Qualitäten unserer Wahrnehmungsbestände nicht nur diejenigen Beschaffenheiten betrachtet, die sie uns in concreto darbieten, sondern auch diejenigen Beschaffenheiten, die als die Bedeutungsgehalte übergeordneter Allgemeinbegriffe in ihnen vorkommen. Von einer individualbegrifflichen Identität zwischen immanenten und transzendenten Qualitäten könnte freilich auch dann keine Rede sein, wohl aber von einer allgemeinbegrifflichen. Denn wir haben früher gesehen, daß ein Teil der unseren Immanenzqualitäten übergeordneten Allgemeinbegriffe seinem Bedeutungsgehalte nach zugleich auch in den entsprechenden transzendenten Beschaffenheiten auftritt. Daher haben, insoweit dies der Fall ist, unsere Wahrnehmungsbestände solche Qualitäten, die den von uns gemeinten und uns transzendenten Außenwirklichkeitsbeständen unabhängig von unserem wahrnehmenden Bewußtsein ebenso zukommen. Oder anders ausgedrückt: in der Konkretheit aller von uns wahrgenommenen sekundären Eigenschaften sind als der abstrakte Bedeutungsgehalt übergeordneter Allgemeinbegriffe stets auch primäre Züge enthalten. Das gilt zunächst von den in der philosophischen Ueberlieferung mit Vorliebe als primär bezeichneten geometrischen Beschaffenheiten unserer Immanenzbestände einschließlich ihrer zeitlichen Verhältnisse, zB. ihrer Bewegungen. Auch diese geometrischen Verhältnisse sind, wie wir früher gesehen haben, in ihrer unmittelbaren Konkretheit 18*
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nicht nur nach ihrem individualbegrifflichen Bestände, sondern auch nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit von den entsprechenden Verhältnissen in der transzendenten Außenwirklichkeit verschieden und daher sekundär. Aber der abstrakte Bedeutungsgehalt der geometrischen Sätze, die auf unsere Wahrnehmungswelt anwendbar sind, gilt auf Grund der früher dargelegten Beziehungen innerhalb gewisser Fehlergrenzen auch für die zugehörigen Bestände in der transzendenten Außenwirklichkeit. Daher stellt die abstrakt geometrische Beschaffenheit unserer Wahrnehmungsbestände eine primäre Qualität dieser letzteren dar. Grundsätzlich dasselbe trifft nun aber auch auf die in der philosophischen Ueberlieferung für ausschließlich sekundär erklärten sogenannten Sinnesqualitäten zu, also zB. auf unsere Farben, Töne, Tastqualitäten, Gerüche usw. In der transzendenten Außenwirklichkeit kommen diese Sinnesqualitäten als solche freilich nicht vor. Wohl aber haben die dort auftretenden Bestände andere Beschaffenheiten, denen die von uns wahrgenommenen Sinnesqualitäten zugeordnet sind, dergestalt daß jede Aenderung einer immanenten Bestandqualität durch die entsprechende Aenderung der Beschaffenheit eines transzendenten Bestandes bedingt wird. Auch hier haben also beide Beschaffenheiten an einem ihnen übergeordneten Allgemeinbegriffe gemeinsam teil. Und der Bedeutungsgehalt dieses Allgemeinbegriffes bildet dann wieder den primären, aber nur in abstracto gegebenen Faktor der uns nach ihrer unmittelbaren Konkretheit als sekundär vorliegenden Wahrnehmungsbeschaffenheit. Endlich hat die philosophische Ueberlieferung zu den primären Qualitäten unserer Wahrnehmungswelt die Undurchdringlichkeit der Substanzen gerechnet. Wir können dem auch noch die Beschaffenheit der Kräfte beifügen. Von diesen Bestandarten haben wir gesehen, daß sie nur in einem weiteren Sinne des Wortes zu dem Bereiche unserer Erfahrung gehören, da sie nicht selber wahrgenommen werden können, sondern als unbekannte Wahrnehmungsäquivalente in unsere Immanenzsysteme hineinverlegt werden. Unter diesen Umständen lassen sich die Beschaffenheiten dieser letzteren Bestandarten nur insofern als sekundär ansprechen, als sie sich nach ihrem individualbegrifflichen Auftreten innerhalb der Wahrnehmungswelt von ihren transzendenten Gegenwerten unterscheiden. Ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit nach aber können wir sie uns unter dem früher geltend gemachten Vorbehalte diesem ihrem Gegenwerte gleichgeartet denken. Sie dürfen also nach dieser Hinsicht in einem besonderen Sinne für primär erklärt werden.
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Fragt man, warum in der philosophischen Ueberlieferung neben der Undurchdringlichkeit der Substanzen gerade die geometrischen Eigenschaften unserer Wahrnehmungsbestände für primär, und warum die Sinnesqualitäten für ausschließlich sekundär erklärt worden sind, so findet man, daß der Grund hierfür nicht in den uns vorliegenden Beschaffenheiten als solchen liegt. Denn diese sind in dem einen wie in dem anderen Falle grundsätzlich gleich sekundär und auch gleich primär. Wohl aber besteht zwischen beiden Fällen ein Unterschied in unserer Begriffsbildung. Und diese, nicht dagegen die uns auf der einen und auf der anderen Seite vorliegende Beschaffenheit als solche ist, auch ohne daß dies in der philosophischen Ueberlieferung zu einem klaren Ausdrucke gekommen ist, dafür maßgebend gewesen, daß man die einen Beschaffenheiten für primäre, die anderen dagegen für sekundäre Qualitäten ausgab. Wenn man nämlich unsere auf die Sinnesqualitäten gemünzte Begriffsbildung betrachtet, so wird auf den ersten Blick ersichtlich, daß in ihr die spezifisch bewußtseinswirklichen Eigentümlichkeiten dieser Qualitäten miteinbegriffen sind. Die Begriffe rot und grün, laut und leise, hart und weich usw. bezeichnen lauter Beschaffenheiten, die als solche nur innerhalb eines wahrnehmenden Bewußtseins auftreten können. Daher ist hier das sekundäre Moment dieser Qualitäten schon in unserem Begriffe von ihnen enthalten. Dagegen ist der Bedeutungsgehalt unserer geometrischen Begriffe von der spezifischen Wahrnehmungsbeschaffenheit der ihnen entsprechenden und von uns erschauten Gebilde unabhängig. E s gibt zwar auch sichthafte Dreiecke oder Würfel. Aber der Bedeutungsgehalt jener geometrischen Begriffe bleibt auch dann bestehen, wenn an die Stelle einer Sichtwahrnehmung der von ihnen gemeinten Beschaffenheiten etwa deren Tastwahrnehmung tritt, oder wenn jede Wahrnehmung fortfällt und die dreieckigen oder würfelförmigen Gebilde in ihrem ontologischen Ansiclibestande gemeint werden. Daher finden im Unterschiede zu unseren Begriffen von den Sinnesqualitäten solche geometrischen Begriffe nicht nur auf unsere Wahrnehmungswelt, sondern auch auf die transzendente Außenwirklichkeit Anwendung. Das ist der Grund, weshalb sie ohne Abänderung ihrem Bedeutungsgehalte nach für primär erklärt werden konnten. Und das Entsprechende gilt, wiewohl unter anderen Voraussetzungen, auch von der Undurchdringlichkeit der Substanzen sowie von den Kräften. Denn der Bedeutungsgehalt unserer auf diese Bestandarten gemünzten Begriffe ist schon deshalb von jeder Wahrnehmungseigentümlichkeit unabhängig, weil jene Bestände unserer Wahrnehmung grundsätzlich
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Die Transzendenzontologie der Anßenwirklichkeit
entzogen sind, sich daher nur begrifflich denken lassen und durch ein bloßes Wahrnehmungsäquivalent ersetzt werden müssen. Wir kommen nachalledem zu dem Ergebnisse, daß die Unterscheidung zwischen den primären und den sekundären Qualitäten mit der Unterscheidung zwischen den transzendenten und den immanenten Beschaffenheiten zusammenfällt; daß alle immanenten Beschaffenheiten in ihrer unmittelbaren Konkretheit sekundär sind, aber auch alle ein primäres Moment enthalten; und daß die Unterscheidung zwischen einem primären Charakter der geometrischen Eigenschaften und einem sekundären Charakter der Sinnesqualitäten nicht sowohl durch die Eigentümlichkeiten der uns vorliegenden Beschaffenheiten selbst, als vielmehr durch die Eigentümlichkeiten unserer auf diese Beschaffenheiten gemünzten Begriffsbildung bedingt sind, während der primäre Charakter der Substanzen und Kräfte damit zusammenhängt, daß wir solche Gebilde überhaupt nicht wahrzunehmen, sondern nur begrifflich zu erfassen vermögen. Wir haben die Transzendenz zwischen unserer immanenten und der transzendenten Außenwirklichkeit als eine ausgesprochen metaphysische charakterisiert. Das metaphysische Wesen dieser Transzendenz schließt es ein, daß beide Wirklichkeiten wie nach ihrer naturgesetzlichen, so namentlich auch nach ihrer räumlichen Systematik gegeneinander geschlossen sind. Unter diesen Umständen gilt jedes der beiden Systeme in dem Bereiche des anderen als nicht vorhanden. Sie stehen zueinander in dem Verhältnisse eines korrelativen Nichts. Stelle ich mich daher auf den Standpunkt der Wahrnehmungswelt und betrachte diese als die einzig wirkliche, so erscheint nunmehr die transzendente Außenwirklichkeit als etwas, das nicht da ist. Und stelle ich mich umgekehrt auf den Standpunkt der transzendenten Außenwirklichkeit und betrachte sie als allein wirklich, so verschwindet meine immanente Wahrnehmungswelt in das Nichts. Dieser Sachverhalt macht sich in der negativen Stellung geltend, die wir der transzendenten Außenwirklichkeit gegenüber in der Praxis des täglichen Lebens einnehmen. In dieser spielt unsere Wahrnehmungswelt als vollendete und grundsätzlich unhemmbare Erscheinung die Rolle der einzig in Betracht kommenden Außenwirklichkeit. Daher gilt uns alles, was in dieser Außenwelt nicht untergebracht werden kann, eben damit auch als nicht vorhanden. Nach dieser Richtung hat die uns transzendente Außenwirklichkeit infolge des metaphysischen Charakters ihrer Transzendenz für unsere Praxis eine andere Art der NichtWirklichkeit als andere in unserer
Der Ort der transzendenten Außen Wirklichkeit
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Wahrnehmungswelt ebenfalls fehlende Bestände, die uns jedoch nur physisch transzendent sind. So gibt es, wie wir gesehen haben, tatsächlich in keinem der Immanenzsysteme die Substanzen und die Kräfte. Wohl aber läßt sich in jedem dieser Systeme der bestimmte Ort angeben, an dem die Wahrnehmungsäquivalente solcher Fehlbestände eingesetzt werden können. Daher betrachten wir diese letzteren trotz ihres tatsächlichen Ausfalls so, als bestünden sie dennoch in unserer Wahrnehmungswelt. Anders steht es mit der uns metaphysisch transzendenten Außenwirklichkeit. An Repräsentationen für sie fehlt es uns nicht. Vielmehr ist unsere gesamte Wahrnehmungswelt eine einzige repräsentative Darstellung dieser transzendenten Außenwirklichkeit. Aber gerade deshalb ist für den Eigenbestand der letzteren in unserer immanenten Wirklichkeit nirgends ein Ort. Sie liegt im Unterschiede zu jenen uns nur physisch transzendenten und daher durch Aequivalente ersetzbaren Partialbeständen als metaphysisch transzendenter Gesamtbestand grundsätzlich außerhalb unserer Wahrnehmungswelt. Fragt man unter diesen Umständen, wo in unserer Wahrnehmungswelt als dem für unsere Praxis allein vorhandenen Wirklichkeitssysteme die transzendente Außen Wirklichkeit sei, so lautet die Antwort: nirgends. Näher zugesehen erweist sich eine solche Frage auch als sinnwidrig. Denn wenn sowohl die transzendente Außenwirklichkeit als auch unsere immanente Wahrnehmungswelt jede für sich ihr eigenes Raumsystem hat und beider Raumsysteme gegeneinander geschlossen sind, so kann von einem örtlichen Verhältnisse der einen Wirklichkeit relativ zu der anderen nicht die Rede sein. Setzt doch ein solches Verhältnis voraus, daß die Bestände, deren örtliche Lage zueinander bestimmt werden soll, einem und demselben ihnen gemeinsamen Raumsysteme angehören. Und ein solches Raumsystem, das die immanente und die transzendente Außenwirklichkeit zugleich umschlösse, ist nicht vorhanden. Daher kann es in dem strengen und eigentlichen Sinne des Wortes eine örtliche Lage der transzendenten Außenwirklichkeit relativ zu unserer Wahrnehmungswelt nicht geben. Dennoch drängt sich uns die Frage nach der räumlichen Lage der transzendenten Außenwirklichkeit relativ zu unserer Wahrnehmungswelt immer wieder auf. Und das liegt nicht nur daran, daß der Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt für uns vollendet und unhemmbar ist, dergestalt daß wir alles als außenwirklich zu Bezeichnende in ihren Raum hineinverlegen zu müssen glauben, sondern es hat auch seine sachlichen Gründe, die mit den physischen Bedingungen unserer Wahrnehmung zusammenhängen.
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Dies offenbart sich, wenn wir alle anderen mit der hier angedeuteten Problemlage verbundenen Fragen, deren Klärung einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben soll, vorläufig beiseiteschieben und nur nach demjenigen räumlichen Orte suchen, der innerhalb der transzendenten Außenwirklichkeit den physischen Grundlagen unserer eigenen Privatwahrnehmungswelt zukommt. Dieser Ort läßt sich relativ zu seiner Umgebung ohne weiteres bestimmen. Denn jene Grundlagen sind die Sinneserregungen in unserer Großhirnrinde und diese haben zu den Beständen, die unser Gehirn umgeben, ein festes räumliches Verhältnis. Angesichts dieser Tatsache dürfen wir sagen, daß die in unserer Wahrnehmungswelt gemeinten peripheren und ultraperipheren Bestände innerhalb der transzendenten Außenwirklichkeit räumlich jenseits derjenigen Sinneserregungen liegen, die ihrerseits die Grundlage unserer Privatwahrnehmungswirklichkeit bilden. Es ist also, insoweit die physischen Grundlagen unserer immanenten Wahrnehmungswelt in Betracht kommen, nicht so sinnlos, wie es zunächst schien, wenn man nach einem räumlichen Orte der in unserer Wahrnehmung gemeinten transzendenten Bestände relativ zu den immanenten Beständen unserer Wahrnehmung selbst fragt. Dabei ist es richtig, daß es sich hier zunächst nur um eine Ortsangabe für die physischen Grundlagen unserer Wahrnehmungswelt handelt. Aber wie es sich auch mit dem Verhältnisse zwischen dieser letzteren und jenen physischen Grundlagen im einzelnen verhalten möge, in jedem Falle ist unsere Wahrnehmungswelt an diese Grundlagen gebunden und ihnen zugeordnet. Daher gelten nach Maßgabe dieser Zuordnung die unseren Gehirnerregungen zukommenden Raumverhältnisse auch für unsere Wahrnehmungswelt selber. Eine eigentümliche Verwicklung wird in die hier geschilderte Sachlage durch den Umstand hineingebracht, daß die uns transzendenten räumlichen Beziehungen zwischen unseren zentralen Reizkonfigurationen und den peripheren bzw. ultraperipheren Beständen in unserer eigenen Wahrnehmungswelt repräsentiert werden. Wir alle sehen, daß die Gegenstände in unserer Umgebung und die Sinneserregungen an den Grenzen unseres Leibes räumlich jenseits unseres Schädelinneren liegen. Und gerade diese Situation ist der Grund dafür, daß wir immer wieder nach einem räumlichen Orte der uns transzendenten Außenwirklichkeit auch innerhalb unserer Wahrnehmungswelt als solcher fragen, obwohl diese Frage, wenn sie so gestellt wird, zu einem inneren Widerspruche führt. Wir wollen uns diese Lage an einem Beispiele verdeutlichen. Ich sitze im Theater und betrachte eine Person, die dem Schauspiele
Der Ort der transzendenten Außenwirklichkeit
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aufmerksam folgt. Was diese Person erblickt, ist individualbegrifflich nicht dasselbe wie das, was ich erblicke. Sie hat ihre PrivatwahrnehmungsWirklichkeit. Diese letztere aber ist an die physischen Sinneserregungen ihrer Großhirnrinde gebunden. Da ich mir nun dieses ihr Großhirn sichthaft vorstellen kann, so liegt für mich die Versuchung nahe, ihre bewußte Schau des Schauspieles ebenfalls irgendwie in den Raumbezirk ihrer Großhirnrinde hineinzuverlegen. Es ist offenbar, daß sich das im Ernste nicht durchführen läßt. Denn das Bewußtsein des anderen gehört nicht zu meiner Sichtwirklichkeit. Immerhin könnte ich fiktiv diese Hineinverlegung vollziehen und mich dabei auf die analogen Hineinverlegungen der Substanzen und Kräfte in unsere Sichtwirklichkeit berufen. Tue ich dies, so liegt offenbar die von jener Person erschaute Bühne räumlich jenseits des Ortes, den ich ihrem Bewußtsein angewiesen habe. Allein schon in diesem Falle führt eine solche Situation zu gewissen Schwierigkeiten. Während nämlich die Substanzen und Kräfte in ihrem Wahrnehmungsäquivalente auf den räumlichen Bezirk beschränkt zu denken sind, in den sie hineinverlegt werden, stellt das Bewußtsein jenes Zuschauers im Theater den Anspruch, weit über die Grenzen seines Großhirns hinauszureichen und die vor seinem Leibe liegende Bühne mitzuumfassen. Diesen Anspruch muß ich, wenn ich auf der Bindung eines solchen Bewußtseins an seine Großhirnrinde bestehe, für nichtig erklären. Das aber ist eine zweischneidige Maßnahme. Denn ich habe nunmehr dieselben Prinzipien auch auf mich selbst anzuwenden. Und eben dieses Unterfangen führt mich zu der in sich widerspruchsvollen Frage nach dem Orte der transzendenten Außenwirklichkeit innerhalb meiner Wahrnehmungswelt als solcher. Denn, wenn die von mir erschaute Bühne jenseits des Bewußtseins jenes fremden Zuschauers liegt, und sein Anspruch, dieselbe Bühne in seinem Bewußtsein mitaufzufassen, nichtig ist, so liegt sie auch jenseits meines eigenen Bewußtseins, und mein eigener Anspruch, die Bühne zu erschauen, ist ebenfalls nichtig. Ich wäre also gezwungen, meine eigene Schau der Bühne ebenso hinter dieser meiner Schau zu suchen, wie ich sie hinter der Schau jener anderen Person gesucht habe. Eine solche Forderung ist in sich selbst widerspruchsvoll. Es ist leicht erkennbar, daß der Widerspruch, in den wir uns hier verwickeln, auf einer Verwechselung zwischen den räumlichen Verhältnissen in unserer Wahrnehmungsrepräsentation und den entsprechenden räumlichen Verhältnissen in der durch sie repräsentierten transzendenten Außenwirklichkeit beruht. Nicht die Bühne, die ich sehe, liegt räumlich jenseits der Schau jener fremden Person, ge-
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
schweige denn jenseits meiner eigenen Schau. Wohl aber liegt die Bühne in der transzendenten Außenwirklichkeit räumlich jenseits unserer beiden Großhirnrinden, und insofern unser Bewußtsein an unsere Großhirnrinden gebunden ist, auch räumlich jenseits unserer bewußten Wahrnehmung. Wie dieser Sachverhalt mit dem Umstände zu vereinigen ist, daß zwischen unseren Wahrnehmungswelten und der transzendenten Außenwirklichkeit als Gesamtsystemen eine Raumbeziehung nicht stattfindet, das kann erst in einem späteren Kapitel klargestellt werden. Hier genügt es darauf hinzuweisen, daß in das an und für sich metaphysische und daher unräumliche wechselseitige Verhältnis zwischen unseren immanenten Wahrnehmungswelten und der transzendenten Außenwirklichkeit dennoch räumliche Beziehungen mithineinspielen, und daß diese Raumbeziehungen mit den physischen Strukturverhältnissen zusammenhängen, die unserer Wahrnehmung in der transzendenten Außenwirklichkeit zugrundeliegen. Blicken wir auf die Erörterungen des vorliegenden Kapitels zurück, so erkennen wir, daß der innere Aufbau unserer Wahrnehmungswelt allenthalben von Einschlägen durchsetzt ist, die nicht dieser selbst entstammen sondern durch ihr Bezugsverhältnis zu der transzendenten Außenwirklichkeit bedingt sind. Das betrifft sowohl ihre allgemeine Struktur als auch bestimmte unter ihren Einzelfaktoren. In die erstere Richtung weist uns schon unsere Auffassung der immanenten Außenwelt als eines unabhängig von unserem Bewußtsein an sich bestehenden Systems, unsere dreidimensionale Deutung dieses letzteren, unsere Annahme, daß seine Bestände einen in sich geschlossenen naturgesetzlichen Zusammenhang bilden, und unsere Beziehung artverschiedener Wahrnehmungsgegebenheiten auf einen und denselben Außenwirklichkeitsbestand. Alle diese allgemeinen Strukturverhältnisse kommen tatsächlich nicht unseren Wahrnehmungsgegebenheiten als solchen, sondern nur der von ihnen vertretenen transzendenten Außenwirklichkeit zu. Im Einzelnen aber tritt der transzendenzontologische Einschlag unserer immanenten Wirklichkeit an jenen in dieser letzteren enthaltenen besonderen Beständen zutage, die, obwohl sie unserer Wahrnehmung verschlossen sind, dennoch von uns so behandelt werden, als ob sie zu dem Bereiche unserer Erfahrung gehörten. In diese Richtung weist uns unser Begriff der Substanzen und Kräfte als unbekannter Wahrnehmungsäquivalente und die eigentümliche Sonderstellung, die, wie wir soeben gesehen haben, die fremden Privatwahrnehmungen innerhalb unserer eigenen Wahmehmungswelt einnehmen. In dieser
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letzteren sind solche Bestandarten tatsächlich nicht gegeben. Wohl aber gehören sie als unrepräsentierbare Gebilde zu der transzendenten Außenwirklichkeit, die sich in unserer Wahrnehmungswelt darstellt. Aus diesen ihren transzendenzontologischen Einschlägen lassen sich alle die Absonderlichkeiten und inneren Widersprüche erklären, die wir in unserer immanenten Außenwelt vorfinden, sobald wir versuchen, sie ohne Rücksicht auf ihre Beziehungen zu der transzendenten Außenwirklichkeit als ein in sich selbständiges System zu betrachten. Eine solche Selbständigkeit kommt unserer Wahrnehmungswelt tatsächlich nicht zu. Sie erweist sich vielmehr als ein heteronomes System, das nicht in seinen eigenen, sondern in den Diensten der transzendenten Außenwirklichkeit steht. Dieser Sachverhalt könnte auf den ersten Blick befremden. Denn, so könnte man fragen, wie kommen wir zu einer solchen Heteronomie, da wir doch die transzendente Außenwirklichkeit als solche nicht kennen? Hierauf ist zunächst zu antworten, daß wir mit dieser letzteren, obwohl sie uns unbekannt ist, weit vertrauter sind, als wir glauben. Sie ist uns zwar metaphysisch transzendent. Aber irrig wäre es, sie deshalb als etwas uns in irgendeinem, zB. in einem räumlichen, wenn auch nicht sichträumlichen Sinne Fernliegendes zu betrachten. Daß: dies nicht der Fall ist, geht schon daraus hervor, daß auch unser eigener Leib und die unserer Wahrnehmung unmittelbar zugrundeliegenden zentralen Reizkonfigurationen unseres Gehirns der transzendenten Außenwirklichkeit angehören. Diese letztere ist uns daher ebensa nahe und vertraut, wie es jener Leib und sein Gehirn sind. Wir haben in unseren Erörterungen wiederholt darauf hin-i gewiesen, daß uns praktisch die immanente Wahrnehmungswelt allein bekannt sei. Das ist dahin zu verstehen, daß diese Welt die einzige ist, die in den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins eintritt. Fragt man dagegen, mit welcher Wirklichkeit wir es ohne Rücksicht auf diese Art der Wahrnehmungsbekanntheit in unserem praktischen Handeln zu tun haben, so lautet die Antwort: mit der transzendenten Außenwirklichkeit. Denn nur sie und nicht unsere Wahrnehmungswelt ist es, die auf unser Bewußtsein, und auf die seinerseits dieses letztere einwirkt. Wir beobachten solche wechselseitigen Einwirkungen freilich nur in unseren immanenten Repräsentationen. Als außenwirkliche finden sie aber nicht in diesen, sondern in der transzendenten Außenwirklichkeit statt. Oder anders ausgedrückt: wir sind mit unserer Wahrnehmung an die Darstellungen der immanenten, mit unserem Handeln dagegen an die Realitäten der transzendenten Außenwirklichkeit ge-. bunden.
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Man kann diesen Sachverhalt auch dahin charakterisieren, daß wir dem doppelten Systemcharakter unseres Bewußtseins entsprechend mit zwei verschiedenen Arten der Außenwirklichkeit umgehen. Insoweit nämlich die innere Systematik und damit die Ueberschneidungsstruktur unseres Bewußtseins in Frage kommt, haben wir es praktisch mit der immanenten Wahrnehmungswelt zu tun. Dagegen gehen wir, was die Außenkausalität unseres Bewußtseins betrifft, mit der transzendenten Außenwirklichkeit praktisch um. Daß uns die letztere nichtsdestoweniger transzendent ist, liegt von diesem Standpunkte aus gesehen daran, daß nur die innere Systematik unseres Bewußtseins in unseren Erlebniseinheiten auftritt, seine Außenkausalität dagegen aus ihnen herausfällt. Bedenkt man, daß sich jene beiden Wirklichkeiten, mit denen wir umgehen, nicht gleichgeordnet sind, sondern daß die Welt unserer innersystematischen zu der anderen Welt unserer außenkausalen Praxis in dem Dienstverhältnisse einer Repräsentation steht, so wird nunmehr leicht ersichtlich, wie wir dazu kommen, uns mit jener Welt nach dieser zu richten. Denn was sich auf der einen Seite in der inneren Systematik unserer Ueberschneidungsstruktur darstellt, steht auf der anderen Seite unter der Kontrolle der außenkausalen Handlungen unseres Bewußtseins. Wir sind also in unseren immanenzontologischen Deutungen keineswegs frei, sondern durch unsere außenkausalen Beziehungen zu der transzendenten Außenwirklichkeit gehalten, den Eigentümlichkeiten dieser letzteren in der Handhabung unserer Wahrnehmungen gerecht zu werden. Wir verhalten uns in dieser Hinsicht nach unserer Weise ebenso, wie sich nach seiner Weise das von uns beschriebene Wesen in der Registrierkammer verhalten würde. Denn auch dieses Wesen würde aus der Anschauung nur seine Registrationen kennen. Dagegen würde sich sein praktisches Handeln auf die ihm transzendente und unmittelbar unbekannte Umwelt erstrecken. Es würde sich daher ebenfalls mit der Deutung seiner Registrationen nach den Ergebnissen zu richten haben, die sein praktisches Handeln in jener Umwelt hat, und die ihrerseits in seinen Registrationen wieder ihre Darstellung finden. Die Außenwirklichkeit, auf die wir, ähnlich wie jenes Wesen auf seine Umwelt, mit unseren Wahrnehmungsdeutungen abzielen, ist also tatsächlich nicht die immanente sondern die transzendente. Aber in dem engen Bereiche unseres praktischen Lebens und unter stillschweigendem Inkaufnehmen mancher Inkonsequenzen können wir auf Grund ihrer Repräsentationsfunktionen die immanente Außenwelt so behandeln, als ob sie die transzendente selbst sei. Mehr als dies
Die Beweisbarkeit der transzendenten Außenwirklichkeit
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bedeutet die Immanenz unseres alltäglichen Außenwirklichkeitsbegriffes nicht. Es ist daher nur die eine Hälfte der Wahrheit, wenn die Verfechter der Immanenzontologie zu behaupten pflegen, die von ihnen geübte Beschränkung auf die bloßen Wahrnehmungen als solche sei zugleich die Wirklichkeitsauffassung des täglichen Lebens. Sie haben insofern recht, als es die immanente Wahrnehmungswelt ist, mit der wir die transzendente Außenwirklichkeit im täglichen Leben identifizieren. Unrecht jedoch haben sie insofern, als es eben die transzendente und nicht die immanente Außenwelt ist, die wir in unseren Wahrnehmungen suchen und zu finden glauben. Dabei liegt die Schwäche dieser unserer Identifikation der beiden verschiedenen Welten offenbar in unserem Haften an dem uns gegebenen Immanenzmateriale, also gerade in demjenigen Einschlage unserer Wahrnehmungswelt, der von jenen Empiristen als der allein maßgebende betrachtet wird. Denn daß eine Gegebenheit des Bestandmateriales zu dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes nicht gehört, zeigte uns schon unsere erste Untersuchung der immanenzontologischen Außenwirklichkeitsdefinition sowie der gesamte weitere Verlauf unserer einschlägigen Erörterungen. Dagegen liegt die starke Seite jener Identifikation in ihrem transzendenzontologischen Einschlage. Denn nur die transzendente Außenwirklichkeit ist das unabhängig von unserem Bewußtsein an sich bestehende und naturgesetzlich vollständige System, das wir meinen, wenn wir von einer Außenwirklichkeit sprechen. Der transzendenzontologische Einschlag in unserem alltäglichen Wirklichkeitsbegriffe ist also keineswegs, wie bisweilen behauptet worden ist, der Ueberrest einer fetischistischen oder animistischen Weltanschauung, hat vielmehr mit Magik oder Allbeseelung nichts zu tun, sondern bedeutet einen ersten Schritt auf dem Wege zu der Erkenntnis, daß das, was wir unter der Außenwirklichkeit verstehen, nicht unsere Wahrnehmungswelt als immanente, sondern ein von ihr nur repräsentiertes, uns transzendentes System ist. In der philosophischen Wissenschaftstheorie wird die Lehre von der transzendenten Außenwirklichkeit häufig als eine gewagte und unbeweisbare Hypothese dargestellt. Der Grund hierfür liegt in dem metaphysischen Charakter der Außenwirklichkeitstranszendenz. Es sei, so wird uns gesagt, das Ideal aller Wissenschaften, nur das Erfahrbare zu beschreiben, Hypothesen über das Unerfahrbare aber zu vermeiden. Nun liegt die transzendente Außenwirklichkeit, so weit wir auch den Begriff der Erfahrung spannen mögen, grundsätzlich
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außerhalb der Erfahrung. Daher wären wir außerstande, mit wissenschaftlicher Gültigkeit irgendetwas über ihr Vorhandensein geschweige denn über ihre Struktur auszusagen. Auf den ersten Blick erscheint eine solche Argumentation einleuchtend. Der Verlauf unserer Erörterungen zeigt uns jedoch, daß sie nicht zutrifft. Zunächst ist es nicht richtig, daß es unser Wissenschaftsideal sei, nur die Erfahrung zu beschreiben und Hypothesen zu vermeiden. Sehen wir von den Idealwissenschaften ab, die es mit der Erfahrung überhaupt nicht zu tun haben, so würde in den Realwissenschaften Bine Beschränkung auf die Erfahrung, wie unsere Untersuchungen beweisen, niemals zu einem Außen Wirklichkeitsbegriffe führen. Ja, wir würden, wenn wir mit dem Begriffe der Erfahrung ernst machten und den hypothetischen Charakter auch unserer eigenen Erinnerungen beachteten, nicht einmal zu der Wirklichkeit eines in sich zusammenhängenden Bewußtseins gelangen, sondern nur zu deutungslos gegebenen Augenblickserlebnissen, deren Wirklichkeit, sobald sie in die Vergangenheit eingerückt sind, schon hypothetisch werden müßte. Eine hypothesenfreie Erfahrung ist daher weder der Gegenstand, noch das Ideal einer Wissenschaft. Wird aber durch das Wesen der Realwissenschaften die Aufstellung von Hypothesen erfordert, so haben wir uns im Hinblicke auf das Anwendungsfeld dieser letzteren nicht nach unseren zufälligen Erfahrungsmöglichkeiten zu richten, sondern nach der Eigenstruktur des zu erschließenden Wissenschaftsgebietes selbst. Denn dieses besteht unabhängig von unseren Erkenntnisbedingungen an sich und schreibt demgemäß unserer Hypothesenbildung ihr Gesetz vor. An diesem Maßstabe gemessen enthält die Proklamation der Erfahrung als unseres angeblichen Wissenschaftsideals eine der schon öfter berührten Verwechselungen zwischen unseren Erkenntnismitteln und dem Erkenntnisgegenstande. Darüber nämlich, daß sich alle Realwissenschaften der Erfahrung bedienen müssen, um zu ihrem Gegenstande zu gelangen, besteht kein Zweifel. Aber es darf nicht übersehen werden, daß dieser Gegenstand in solchen Erfahrungen nicht aufgeht, sondern sie entweder überragt oder überhaupt jenseits unserer Erfahrungen liegt. Daher besteht das Ideal der Realwissenschaften nicht etwa darin, sich auf die Erfahrung zu beschränken und Hypothesen zu vermeiden, sondern im Gegenteile darin, die als solche wissenschaftlich unbrauchbare Erfahrung durch Hypothesen wissenschaftlich brauchbar zu machen. Jene Argumentation gegen den hypothetischen Charakter der transzendenten Außenwirklichkeit beruhte insofern auf einer irr-
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tümlichen Voraussetzung über das Verhältnis der Erfahrung zu den Realwissenschaften. Sie schließt aber noch einen anderen Irrtum ein. Dieser liegt in ihrer Voraussetzung, daß der metaphysische Charakter der transzendenten Außenwelt einen Maßstab ihrer Verifikationsmöglichkeit bilde. In Wahrheit hat die Verifikationsmöglichkeit einer Hypothese mit der besonderen Weise, in der uns der hypothetische Bestand transzendent ist, nichts zu tun. Ob dieser unsere Erfahrung metaphysisch oder nur physisch, ob er sie tatsächlich oder auch grundsätzlich transzendiert, ist für seine Beweisbarkeit gleichgültig. Wichtig aber ist es für diese, in welcher Weise und in welchem Umfange der uns transzendente Bestand auf den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins einwirkt. Und diese Art der Einwirkungen hängt nicht von jener besonderen Weise der Transzendenz sondern von den kausalen Beziehungen ab, die zwischen dem uns transzendenten Bestände und unserem Erfahrungsbereiche bestehen. Das zeigt sich zB. darin, daß Bestände, die uns nur tatsächlich, nicht aber grundsätzlich transzendent sind, deren Einwirkung auf den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins aber praktisch gleich null ist, wie die Beschaffenheit des Erdinneren, die Rückseite des Mondes, Gestirne jenseits unserer Reichweite, Ereignisse in der prähistorischen Vergangenheit oder in der Zukunft usw. für uns einen weit hypothetischeren Charakter tragen als andere Bestände, die uns grundsätzlich transzendent sind, aber in intimen Kausalbeziehungen zu uns stehen, und deren Beschaffenheit wir daher leicht ermitteln können, wie zB. die Gedanken eines Fremdbewußtseins, die wir aus der Rede oder der Schrift des anderen ablesen. Messen wir den hypothetischen Charakter der transzendenten Außenwirklichkeit an diesem Maßstabe, so erkennen wir, daß ihre Verifikationsmöglichkeit, wie dies auch aus dem Gange unserer Untersuchung hervorgeht, durch das metaphysische Wesen ihrer Transzendenz nicht beeinträchtigt wird. Denn wenn sie auch kein Bestandstück unseres Erfahrungsbereiches bildet und jenseits desjenigen naturgesetzlichen Zusammenhanges liegt, den wir irrtümlich unserer Wahrnehmungswelt zuschreiben, so hängt doch tatsächlich diese letztere mit allen ihren Beständen in dem Bezirke unserer Ueberschneidung kausal von ihr ab. Wir können daher sagen, daß der Gesamtbestand dessen, was uns in unseren Wahrnehmungen unmittelbar vorliegt, durch die transzendente Außenwirklichkeit verursacht ist. Ist das aber der Fall, so sind eben damit auch die Bedingungen für eine Verifikationsmöglichkeit dieser letzteren gegeben.
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Der gesamte Verlauf unserer Untersuchungen stellt eine solche Verifikation dar. Dabei liegt das Schwergewicht unserer Beweisführung in dem Hinweise auf die psychophysischen Beziehungen zwischen unseren Wahrnehmungen und den ihnen zugrundeliegenden zentralen Reizkonfigurationen, welche letzteren, wie wir gesehen haben, den eigentlichen uns unmittelbar transzendenten Gegenwert unserer Wahrnehmungswelt bilden. Solche Beziehungen muß auch die Immanenzontologie annehmen. Aber sie kann, wie seinerzeit dargelegt wurde, von sich aus mit dieser Annahme nicht zurechtkommen. Daher läßt sich, sobald wir nach jener psychophysischen Beziehung fragen, aus dem eigenen Tatbestande unserer Wahrnehmungswelt der Beweis führen, daß uns diese selbst zu der Annahme einer transzendenten Außenwirklichkeit zwingt. Denn setzen wir einmal voraus, unsere Wahrnehmungswelt sei zugleich die Außenwirklichkeit selber. Dann läßt sich unter entsprechenden Versuchsbedingungen an dem Verhalten der wahrnehmenden Personen nachweisen, daß sie nicht unmittelbar die peripheren und ultraperipheren Bestände erfassen, die sie zu erfassen glauben; daß vielmehr diese Bestände den zentralen Reizkonfigurationen, von denen psychophysisch die verschiedenen Wahrnehmungen unmittelbar abhängen, physisch transzendent sind; und daß diese Reizkonfigurationen mittelbar durch jene Bestände verursacht werden. Durch Fremdbewußtseinsrealisation ließ sich ferner auch auf immanenzontologischem Boden indirekt nachweisen, daß die Außenwirklichkeitswahrnehmungen aller Beobachter ihren zentralen Erregungen so zugeordnet sind, als ob sie auch ihrerseits kausal von diesen abhingen. Und endlich läßt sich zeigen, daß die Wahrnehmungen verschiedener Beobachter kausal von demselben Außenwirklichkeitsbestande abhängen können. Alles dies läßt sich, auch ohne daß man eine transzendente Außenwirklichkeit voraussetzt, in dem Rahmen der immanenten Wahrnehmungswelt als solcher feststellen. Damit aber desavouiert diese letztere ihren Außenwirklichkeitsanspruch selber. Denn aus jenen Feststellungen geht hervor, daß unsere Wahrnehmungen die von uns gemeinten außenwirklichen Bestände tatsächlich nicht enthalten, daß diese in ihnen vielmehr nur auf Grund von mittelbaren Kausalbezügen repräsentiert werden und daher wie unserem Bewußtsein so auch den ihm zugrundeliegenden zentralen Erregungen transzendent sind. Die Lehre von der transzendenten Außenwirklichkeit hat insofern das Paradoxe an sich, daß ihre Annahme, auch abgesehen von den anderen in diesen Untersuchungen dargelegten Gründen, durch die in unserer immanenten
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Wahrnehmungswelt selbst beobachtbaren Verhältnisse erzwungen wird, sobald wir der psychophysischen Beziehung zwischem unserem Gehirn und dem wahrnehmenden Bewußtsein Rechnung tragen. Aber auch wenn diese Beweisführung nicht vorhanden wäre, wären die Realwissenschaften gezwungen, eine uns transzendente Außenwirklichkeit anzunehmen. Das wird klar, wenn man bedenkt, daß jede Realwissenschaft von der Voraussetzung ausgeht, daß die Außenwirklichkeit ein unabhängig von unserem wahrnehmenden Bewußtsein an sich bestehendes und naturgesetzlich vollständiges System sei. Von unserer Wahrnehmungswelt aber läßt sich nachweisen, daß sie weder das eine noch das andere ist. Sie verhält sich zwar so, als ob ihr etwas unabhängig von uns an sich Bestehendes zugrundeläge. Sie selbst aber besteht nicht an sich, sondern ist von unserem Bewußtsein abhängig. Und sie weist auf der anderen Seite zwar durch die Art ihrer bruchstückhaften Verknüpfungen auf die Vollständigkeit eines ihr zugrundeliegenden naturgesetzlichen Zusammenhanges hin. Aber ihr eigener Zusammenhang ist nicht vollständig, sondern lückenhaft. Wir müssen daher entweder auf die Annahme einer Außenwirklichkeit überhaupt verzichten, oder wir müssen das, was wir unter der Außenwirklichkeit verstehen, in einem Bereiche jenseits unserer Wahrnehmungswelt suchen. Das aber ist gleichbedeutend mit der Annahme einer uns transzendenten Außenwirklichkeit. Keine Realwissenschaft, die sich mit der Außenwirklichkeit beschäftigt, wählt den ersteren Weg. Vielmehr setzen sie alle voraus,, daß ihr Gegenstandsgebiet als ein naturgesetzlich vollständiger Zusammenhang unabhängig von unserem Bewußtsein an sich besteht. Daher setzen alle diese Realwissenschaften wissentlich oder unwissentlich: das Vorhandensein einer uns transzendenten Außenwirklichkeit voraus. Diese Voraussetzung bildet für jene Realwissenschaften eine Grundhypothese, auf der alle ihre Spezialhypothesen über das besondere Verhalten von Einzelbeständen in unserer Außenwirklichkeit fußen, und ohne deren Gültigkeit diese Spezialhypothesen in sich zusammenbrächen. Dabei ist es für das Verhältnis der Realwissenschaften zu der Ontologie charakteristisch, daß sie das Vorhandensein einer an sich bestehenden und naturgesetzlich vollständigen Außenwirklichkeit zwar voraussetzen, die Berechtigung und den Sinn, dieser Voraussetzung aber ihrerseits nicht mehr prüfen und sich daher vielfach über den Unterschied und die Beziehungen zwischen der von ihnen vorausgesetzten Außenwirklichkeit und unserer Wahrnehmungswelt nicht im Klaren sind. Hierüber Klarheit zu schaffen ist die besondere Aufgabe der Ontologie, die eben damit jenen Real19
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Wissenschaften gegenüber die Stellung einer Grundwissenschaft einnimmt. Die Ontologie aber zeigt uns, daß die für den Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes konstitutiven Merkmale des von unserem Bewußtsein unabhängigen Ansichbestandes und der naturgesetzlichen Vollständigkeit nicht sowohl unserer Wahrnehmungswelt zukommen sondern einer uns transzendenten Außenwirklichkeit. Man könnte den wissenschaftstheoretischen Unterschied zwischen der Immanenz- und der Transzendenzontologie dahin bestimmen, daß jene, indem sie von der Ueberschneidungsstruktur ausgeht, ihren Ansatz darauf einstellt, wie sich die Außenwirklichkeit in dem Bezirke unseres wahrnehmenden Bewußtseins ausnimmt, während diese, von dem psychophysischen Bezugsverhältnisse ausgehend, ihren Ansatz darauf einstellt, wie sich unser wahrnehmendes Bewußtsein als Außenwirklich keitsfaktor ausnimmt. Bedenkt man nun, daß unsere Wahrnehmungen den Erkenntnisgrund für unseren Außenwirklichkeitsbegriff bilden, die Außenkausalität unseres Bewußtseins dagegen der Realgrund unserer Wahrnehmungen ist, und daß diese letzteren von der transzendenten Außenwirklichkeit gespeist werden, so kann man jenen Unterschied auch dahin charakterisieren, daß die Immanenzontologie bei den Mitteln unserer Außenwirklichkeitserkenntnis einsetzt, indem sie danach fragt, wie wir unseren Außenwirklichkeitsbegriff aus der Wahrnehmung gewinnen, während die Transzendenzontologie bei dem Gegenstande unserer Außenwirklichkeitserkenntnis einsetzt, indem sie danach fragt, was unsere Außen Wirklichkeit ist, und wie unsere Wahrnehmung durch sie begründet wird. Ist das aber der Fall, so stellt sich die Immanenzontologie, wenn sie diese Wahrnehmungen mit der Außenwirklichkeit selbst identisch setzt, als eine Verwechselung von erkenntnistheoretischen und ontologischen Motiven dar, während die Transzendenzontologie einen rein ontologischen Charakter trägt. Mit diesem ihrem rein ontologischen Charakter führt uns die Transzendenzontologie in einem ähnlichen Sinne wie die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit in ein nur begrifflich erfaßbares und unanschauliches Gebiet. Hierin verhält sie sich zu der Immanenzontologie wie auf anderem Felde die reine zu der erkenntnistheoretischen Logik und die abstrakte zu der anschaulichen Geometrie. Denn wie sich die reine Logik von allen der erkenntnistheoretischen Logik anhaftenden psychologischen Einschlägen befreit und den Bedeutungsgehalt unserer Begriffe, Urteile und Schlüsse als etwas von unseren Denkakten Unabhängiges bearbeitet, so befreit sich die Transzendenzontologie von allen immanenzontologischen und damit psychisch be-
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dingten Einschlägen unseres Wirklichkeitsbildes und bearbeitet den Bedeutungsgehalt unseres Außenwirklichkeitsbegriffes als etwas von unseren Wahrnehmungen grundsätzlich Verschiedenes. Und wie sich die abstrakte Geometrie unter Ausschaltung alles Anschauungsmäßigen mit einer rein begrifflichen Erfassung der geometrischen Axiome begnügt, so begnügt sich die Transzendenzontologie ihrerseits damit, das Wesen der Außenwirklichkeit unter Ausschaltung aller Wahrnehmungsbeschaffenheiten rein begrifflich zu bestimmen. Die Frage nach dem Bedeutungsgehalte ihrer Begriffe führt also die Transzendenzontologie wie die reine Logik und die reine Geometrie zu einer Ausscheidung aller jener psychischen Faktoren, die in der Immanenzontologie ähnlich wie in der erkenntnistheoretischen Logik und der anschaulichen Geometrie noch enthalten sind, und die nicht dem Erkenntnisgegenstande dieser Wissenschaften angehören, sondern ihrem Erkenntnismittel. Zugleich bringt es diese Uebereinstimmung der drei Wissenschaften mit sich, daß ihre Zusammengehörigkeit nicht nur in der hier gekennzeichneten Verwandtschaft ihrer Methodik zutage tritt, sondern sich auch in ihren wechselseitigen Bezugsverhältnissen dokumentiert. Denn die Transzendenzontologie kann, eben weil sie sich von allen psychischen Einschlägen befreit, wie unsere Ausführungen über ihre logischen Grundlagen gezeigt haben, nur mit einer reinen Logik, und wie unsere Ausführungen über die gedachte Außenwirklichkeit gezeigt haben, nur mit einer unanschaulichen Geometrie arbeiten. Dagegen bedarf die Immanenzontologie, da sie die aus ihren Erkenntnismitteln stammenden psychischen Einschläge beibehält, dieser strengen Bindungen nicht, kommt vielmehr auch mit einer erkenntnistheoretischen Logik und einer anschaulichen Geometrie aus. Im Hinblicke auf die Unanschaulichkeit des transzendenzontologischen Gegenstandsgebietes haben wir unsere ursprüngliche immanenzontologisch orientierte Außen Wirklichkeitsdefinition nunmehr durch eine andere zu ersetzen. Denn für die Transzendenzontologie ist die Außenwirklichkeit der naturgesetzliche Zusammenhang nicht des Gegebenen in dem Bezirke unserer Ueberschneidung, sondern vielmehr derjenigen nicht gegebenen Bestände, zu denen unser Bewußtsein als ein außenkausaler Faktor gehört. Diese Definition ist allgemeinbegrifflich insofern erschöpfend, als sie alle Momente enthält, die dafür maßgebend sind, daß wir etwas als außenwirklich betrachten. Und sie ist anderseits individualbegrifflich eindeutig. Denn es gibt nur ein einziges naturgesetzliches System, zu dem die Außenkausalität unseres Bewußtseins gehört. 19*
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Die Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit
Man wende gegen diese individualbegriffliche Bestimmung nicht ein, daß sie für unseren Begriff der Außenwirklichkeit nicht wesentlich, und daß sie anthropomorph sei. Dieser Einwand wäre nicht stichhaltig. Denn eine Angabe der sogenannten wesentlichen Merkmale fällt, wie wir früher gesehen haben, nur allgemeinbegrifflichen Definitionen zu, während individualbegriffliche Bestimmungen ausschließlich die Eindeutigkeit ihres Gegenstandes zu verbürgen haben. Was aber den Anthropomorphismus betrifft, der mit der Einführung des Bewußtseins in unsere Definition der Außenwirklichkeit verbunden zu sein scheint, so hätte für die individualbegriffliche Bestimmung dieser letzteren auch ein beliebiges anderes Merkmal gewählt werden können. Das wäre für die Feststellung eines Einzelbestandes in der Außenwirklichkeit unter Umständen vorteilhafter gewesen. Für die individualbegriffliche Bestimmung der Außenwirklichkeit selbst dagegen erfüllt unser Bewußtsein denselben Zweck. Und seine Einführung hat zwei Vorzüge. Denn einmal ist es der einzige Wirklichkeitsbestand, der seinerseits nicht indirekt von uns bestimmt zu werden braucht, sondern uns in unmittelbarer Konkretheit vorliegt. Und zum anderen hat dieser uns allein unmittelbar vorliegende Bestand vor anderen Beständen, die wir immanenzontologisch ebenfalls zu erfassen meinen, den Vorteil, daß er mit der uns transzendenten Außenwirklichkeit unmittelbar zusammenhängt. Unter diesen Umständen erweist sich die Einführung unseres Bewußtseins für die individualbegriffliche Bestimmung der Außenwirklichkeit nicht als ein Mangel sondern als ein Vorzug. Ist unsere Definition nach dieser Hinsicht grundsätzlich gerechtfertigt, so bleibt auf der anderen Seite zu beachten, daß gerade die Einführung des Bewußtseins in unseren Außenwirklichkeitsbegriff mit Problemen verbunden ist, die in diesem Kapitel, das sich auf das Wesen der Außenwirklichkeit selbst beschränkte, vorläufig zurückgestellt wurden. Dieses Versäumnis haben wir nunmehr nachzuholen. Dabei wird es sich einerseits zeigen, daß es mit der Wirklichkeit unseres Bewußtseins seine besondere Bewandtnis hat, und anderseits, daß die Frage nach seinem kausalen Zusammenhange mit der Außenwelt zu einer Vertiefung unserer bisherigen Untersuchungen über das Verhältnis zwischen der immanenten und der transzendenten Außenwirklichkeit führt.
DIE TRANSZENDENZONTOLOGIE DES BEWUSSTSEINS.
Wir haben uns in dem vorangehenden Kapitel mit der Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit beschäftigt und unsere Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Beziehungen gerichtet, die zwischen unserem wahrnehmenden Bewußtsein und jenen peripheren oder ultraperipheren Beständen walten, welche wir in unserer Wahrnehmung als außenwirkliche zu erfassen glauben, obwohl sie uns in Wahrheit grundsätzlich transzendent sind. Auf diese letzteren Bezugsverhältnisse pflegt die philosophische Ueberlieferung die Begriffe der Transzendenz und der Immanenz mit Vorliebe zu beschränken. Aber eine solche Beschränkung besteht nicht zu Recht. Denn wir werden in den nun folgenden Kapiteln zeigen, daß nicht nur zwischen der Außenwirklichkeit und unserem Bewußtsein sondern auch innerhalb dieses letzteren selber eigentümliche Transzendenzbeziehungen stattfinden, und daß es dementsprechend nicht nur eine Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit, sondern auch eine solche des Bewußtseins gibt. Näher zugesehen erweisen sich die in unserem Bewußtsein selbst auftretenden Transzendenzen als zum größten Teile durch die soeben von uns behandelte Transzendenz der Außenwirklichkeit bedingt, dergestalt daß die Transzendenzontologie des Bewußtseins mit der Transzendenzontologie der Außenwirklichkeitals eine zu dieser gehörige Ergänzung in gesetzmäßigem Zusammenhange steht. Im Einzelnen aber wird es sich zeigen, daß die dem Bewußtsein als solchem eigenen Transzendenzverhältnisse einerseits von der Art sind, daß sie sich innerhalb des Rahmens unserer Erlebniseinheit selber abspielen, anderseits aber aus diesem Rahmen hinausführen und auf die Beziehungen zwischen unserem Bewußtsein und dem Gehirn hinweisen. Nur die ersteren dieser beiden Transzendenzverhältnisse sollen in dem hier vorliegenden Kapitel behandelt werden. Die letzteren werden uns in dem nächstfolgenden Kapitel beschäftigen. Der Transzendenzontologie des Bewußtseins steht seine früher von uns behandelte Immanenzontologie gegenüber. Die Immanenz,
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um die es sich dabei handelte, war die der sogenannten Erfahrung. Denn wie die immanente Außenwelt durch die Wahrnehmungsbestände gebildet wird, die wir in unserer Erfahrung als außenwirkliche ansprechen, so besteht die immanente Bewußtseinswirklichkeit aus denjenigen erlebniseinheitlichen Beständen, die in unserer Erfahrung als bewußtseinswirkliche angesprochen werden. Dabei zeigte uns der Gang unserer Untersuchung, daß innerhalb des Bezirkes der Ueberschneidung die als außenwirklich und die als bewußtseinswirklich angesprochenen Erfahrungsbestände miteinander identisch sind. Aber wie uns diese erfahrbaren Wahrnehmungsbestände durch ihre eigene Struktur dazu führten, eine jenseits unserer Erfahrung liegende und uns daher transzendente Außenwirklichkeit anzunehmen, so führt uns die erfahrbare Struktur aller erlebniseinheitlichen Bestände überhaupt zu der Annahme gewisser jenseits unserer Erfahrung liegender und uns daher ebenfalls transzendenter Schichten innerhalb unseres eigenen Bewußtseins. Das trat bereits in unserer immanenzontologischen Untersuchung dieses letzteren zutage. Denn hier zeigten sich allerlei Bewußtseinsschichtungen, die in ihrem eigentlichen Wesen unserer Erfahrung nicht zugänglich sind. Ich erinnere nur an die Tatsache, daß die Außenkausalität unseres Bewußtseins für die erlebniseinheitliche Systematik unerfaßbar ist, oder an die eigentümlichen Verhältnisse, die mit der ganzheitlichen Struktur unserer Erlebniseinheit zusammenhängen. In dieselbe Richtung wiesen uns die Unterschiede, die zwischen der bewußtseinswirklichen Darbietung und ihrem erlebniseinheitlichen Bemerken bestehen. Besonders wichtig aber wird nach dieser Hinsicht der Unterschied zwischen dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins und seinem gnoseologischen Bereiche, sowie namentlich der hiermit zusammenhängende Unterschied zwischen den in unserem Bewußtsein auftretenden deutungslos gegebenen Beständen und ihrer peripheren oder ultraperipheren Deutungserfüllung. Mit den durch diese letzteren Unterschiede bedingten Bezugsverhältnissen werden wir uns in dem hier vorliegenden Kapitel vorzugsweise zu beschäftigen haben. Sie hängen damit zusammen, daß wir infolge der repräsentativen Funktionen unseres Bewußtseins alle ontologisch zu diesem gehörigen Bestände gnoseologisch auf dasjenige deuten, was sie für uns repräsentieren, und sie infolgedessen niemals als das nehmen, was sie abgesehen von ihrer repräsentativen Funktion ontologisch an sich selber sind. Das gilt sowohl für unsere Meinungen über abwesende Bestände als auch für solche Bestände, die wir in ihrer konkreten Anwesenheit erfassen.
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Zu diesen in ihrer Anwesenheit von uns erfaßten Beständengehören in erster Linie unsere Wahrnehmungen. Von solchen Wahrnehmungen aber sahen wir, daß sie in dem Bezirke unserer Ueberschneidung stehen und daher in der sogenannten Erfahrung sowohl zu der immanenten Außenwirklichkeit als auch zu der immanenten Bewußtseinswirklichkeit gerechnet werden. Der weitere Verlauf unserer Untersuchung wird uns nun zeigen, daß auf eben dieser Duplizität unserer Wahrnehmungsbestände jener zuvor erwähnte komplementäre Zusammenhang beruht, der zwischen der Transzendenzontologie der Außenwirklichkeit und der unseres Bewußtseins waltet. Näher zugesehen gehören nämlich die Transzendenzverhältnisse unserer Wahrnehmungswelt zu demselben Typus, den wir früher in der Strukturlage einer uns konkret vorliegenden Meinungsbasis kennen gelernt haben. Denn wie die Panoramadarstellung einer uns bekannten Landschaft, so bildet unsere Wahrnehmungswelt als eine Darstellung der uns unbekannten transzendenten Außenwirklichkeit unsere Meinungsbasis. Wie dort die wirklich bestehende Landschaft selbst, so ist hier die wirklich bestehende Außenwelt der zu dieser Basis gehörende Meinungsgegenstand. Und wie dort die deutungserfüllte Panoramalandschaft in der farbenbedeckten Leinewand ihre ontologische Grundlage hatte, so hat ihrerseits auch unsere Wahrnehmungswelt eine solche Grundlage. Denn wenn die Äußenwirklichkeit, wie es die Transzendenzontologie erfordert, etwas anderes als das ist, was wir in unseren Wahrnehmungsbeständen zu erfahren glauben, dann sind auch diese letzteren nach ihrem ontologischen Eigenwesen etwas anderes als das, wofür wir sie halten. Hier wie dort wird also durch die Unrichtigkeit unserer Deutung nicht nur der von uns gemeinte Gegenstand, sondern auch der uns konkret vorliegende ontologische Bestand selbst betroffen. Das eine hat das andere unmittelbar im Gefolge. Insofern folgt unsere Wahrnehmungswelt dem früher von uns dargelegten allgemeinen Prinzip, daß jede uns konkret vorliegende Meinungsbasis, wenn sie uns zu einer Repräsentation von anderen wirklich vorhandenen Beständen dient, zwei verschiedene ontologische Gegenglieder hat, deren eines durch den zu repräsentierenden Gegenstand, und deren anderes durch das zur Repräsentation dienende Bestandmaterial gebildet wird. Wir haben früher erkannt, daß zwischen solchen auf diese Weise miteinander verkoppelten Beständen, also zwischen einem Meinungsgegenstande, seiner Meinungsbasis und der ontologischen Grundlage dieser letzteren ein in sich geschlossener Ring von drei verschiedenen Transzendenzen waltet. Das gilt dementsprechend auch von der trans-
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zendenzontologischen Situation, in der wir uns mit unserer deutungserfüllten Wahrnehmungswelt befinden. Wir haben hier also ebenfalls drei miteinander verbundene verschiedenartige Transzendenzen zu unterscheiden. Jedoch wird uns der weitere Verlauf unserer Untersuchung zeigen, daß diese Ringsystematik bei unserer Wahrnehmungswelt insofern eine etwas kompliziertere Struktur aufweist, als sich unsere deutungserfüllten Wahrnehmungen nicht auf einer einzelnen ontologischen Grundlage aufbauen, sondern auf mehreren Bewußtseinsschichten, die sich als Phänomene höherer Ordnung übereinander staffeln. Legen wir diese kompliziertere Struktur unserer Darstellung jener Situation zugrunde, dann spielt die in dem vorangegangenen Kapitel von uns behandelte Transzendenz zwischen den peripheren oder ultraperipheren Beständen unserer Umwelt und den durch sie bedingten zentralen Reizkonfigurationen unseres Gehirns die Rolle desjenigen Bezugsverhältnisses, das zwischen unserem Meinungsgegenstande und der ersten jener sich übereinander staffelnden ontologischen Grundlagen unserer Wahrnehmungswelt waltet. Demgegenüber werden wir in dem hier vorliegenden Kapitel von einer anderen Transzendenz handeln, nämlich von derjenigen, die zwischen unserer Wahrnehmungswelt und der letzten, ihr zunächststehenden unter ihren ontologischen Grundlagen auftritt. Die Aufgabe des dann folgenden Kapitels wird es sein, die Lücke, die unter solchen Umständen zwischen jener ersten und dieser letzten ontologischen Grundlage unserer Wahrnehmungen noch bestehen bleibt, durch den Nachweis weiterer Staffelungen auszufüllen und auf diese Weise die mit der transzendenzontologischen Einbettung unseres Bewußtseins verbundene Ringsystematik zu schließen. Wenn man davon spricht, daß uns die Außenwirklichkeit transzendent sei, und daß das, was wir in unserer Wahrnehmung als Außenwirklichkeit ansprechen, in Wahrheit nur eine Bewußtseinswirklichkeit habe, so wird dieser Sachverhalt häufig dahin verstanden, daß sich die Außenwirklichkeitsbestände und unsere bewußtseinswirklichen Wahrnehmungen gewissermaßen als ebenbürtige Parteien gegenüberstünden. Dabei wird imbesonderen vorausgesetzt, daß unsere Wahrnehmungen Wirklichkeitsgebilde von derselben ontologischen und in sich eindeutigen Struktur seien wie die ihnen entsprechenden Bestände der uns transzendenten Außenwirklichkeit. Wäre dies der Fall, dann wäre die transzendenzontologische Situation, in der wir uns mit unseren Wahrnehmungen befinden, Verhältnis-
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mäßig einfach. Sie ließe sich dann dahin charakterisieren, daß wir kraft falscher Urteilsmeinung für unsere Ueberschneidungsbestände sowohl eine Bewußtseinswirklichkeit als auch eine Außenwirklichkeit beanspruchten, daß aber in Wahrheit diesen Beständen nur eine Bewußtseinswirklichkeit zukomme. Der Umstand, daß ihnen eine Außenwirklichkeit nicht zukommt, würde in diesem Falle ihre bewußtseinswirkliche Beschaffenheit nicht weiter berühren. Wir könnten also ihren Außenwirklichkeitsanspruch einfach abstreichen, ohne daß ihre Bewußtseinswirklichkeit dadurch geändert würde. Oder anders ausgedrückt: durch die Aberkennung ihres Außenwirklichkeitscharakters verlören unsere Wahrnehmungen zwar einen ihrer individualbegrifflichen Ansprüche; aber sie behielten ihre allgemeinbegriffliche Natur. Diese Auffassung der Sachlage ist weit verbreitet. Dennoch ist sie nicht haltbar. Sie würde nämlich nur dann zu Recht bestehen, wenn unsere Wahrnehmungsbestände so geartet wären, daß sie in ihrer Rolle als Außenwirklichkeits- und als Bewußtseinsgebilde eine und dieselbe Beschaffenheit trügen. Dann freilich bestünde zwischen jenen beiden Rollen ein lediglich individualbegrifflicher und kein allgemeinbegrifflicher Unterschied. Aber der tatsächliche Sachverhalt ist ein anderer. Es stellt sich nämlich heraus, daß unsere Wahrnehmungen, wenn sie in ihrer reinen Bewußtseinswirklichkeit erfaßt werden, bestimmte Beschaffenheiten aufweisen, die von den ihnen zugeschriebenen außenwirklichen Eigenschaften grundsätzlich abweichen. Daher ist es nicht so, daß unsere Wahrnehmungswelt in dem Augenblicke, in dem wir von ihrem Außenwirklichkeitscharakter absehen, nur einen individualbegrifflichen Anspruch verliert, sondern sie wird dadurch auch nach allgemeinbegrifflicher Hinsicht von tiefgreifenden Wandelungen betroffen. Diese Wandelungen sind von einer doppelten Art. Sie betreffen nämlich erstens den Fortfall einer Reihe von Gebilden, die in der Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen an und für sich nicht gegeben sind, sondern zum Behufe unserer Außenwirklichkeitsdeutungen ergänzend von uns erst hinzugedacht werden. Und sie betreffen zweitens unsere Interpretation derjenigen Bestände, die uns zwar in konkreter Anwesenheit gegeben sind, die wir aber nicht in ihrer spezifisch bewußtseinswirklichen Beschaffenheit erfassen sondern so umdenken, wie es den durch sie repräsentierten Außenwirklichkeitsbeständen entspricht. Wir werden in dem weiteren Verlaufe des vorliegenden Kapitels auf die Methodik jenes Hinzudenkens und dieses Umdenkens noch näher einzugehen haben. Hier soll nur die Tatsache selbst festgestellt und auf Grund dieser Feststellung gezeigt
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werden, daß die Aufhebung des Außenwirklichkeitsanspruches unserer Wahrnehmungen mit tiefgreifenden Aenderungen auch für die Eigenschaften ihrer Bewußtseinswirklichkeit verbunden ist. Man kann sich diesen Sachverhalt am deutlichsten an den Strukturverhältnissen unserer Sichtwahrnehmungen vergegenwärtigen. Hier ist zunächst evident, daß das außenwirkliche Material, das wir den von uns erschauten Beständen beilegen, in diesen nicht tatsächlich gegeben ist, sondern von uns ergänzend zu ihnen hinzugedacht wird. Das zeigt uns jedes beliebige Beispiel. Wenn ich jetzt auf meinen Tisch sehe, so weiß ich zwar, daß seine Platte aus Holz besteht, und daß auf dieser Papiere liegen. Aber das sehe ich nicht, sondern ich denke es mir zu meiner Sicht hinzu. Denn in meiner Wahrnehmung selbst sind nur Lichter und Farben vorhanden, nicht dagegen jene außenwirklichen Holz- und Papierstoffe, denen ich diese Lichter und Farben als ihre Oberflächenbeschaffenheit beilege. Alles Material, das wir in solcher Weise unseren Sichtwahrnehmungsbeständen zuschreiben, gehört also nicht zu unseren Wahrnehmungsgegebenheiten selbst, sondern bildet eine von uns erst hinzugedachte und daher nicht in unserem ontologischen Bezirke, sondern nur in unserem gnoseologischen Bereiche liegende Ergänzung dessen, was in unserem Bewußtsein tatsächlich anwesend ist. Nun ist aber dieses Hinzudenken eines außenwirklichen Bestandmaterials offenbar nur solange sinnvoll, als unseren Wahrnehmungsbeständen eine Außenwirklichkeit zugeschrieben wird. Dagegen wird es sinnlos, sobald wir uns mit der reinen Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen begnügen. Denn in einer solchen Bewußtseinswirklichkeit gibt es weder Holz noch Papier. Wenn wir also zu der Einsicht gelangen, daß unsere Wahrnehmungsbestände keine Außenwirklichkeit, sondern nur eine Bewußtseinswirklichkeit haben, so müssen wir es im Gegensatze zu unserer tiefeingewurzelten Gepflogenheit unterlassen, zu ihnen ein außenwirkliches Bestandmaterial hinzuzudenken. Bewußtseinswirklich ist etwas anderes da als dieses Bestandmaterial. In unserem Falle sind es jene Lichter und Farben. Auch diese können wir in dem weiteren Sinne des Wortes als ein Material betrachten. Aber es ist offenbar, daß es mit einem solchen lediglich bewußtseinswirklichen Materiale eine andere Bewandtnis haben dürfte als mit dem, was wir in der Außenwirklichkeit als Material zu bezeichnen pflegen. Aus dieser Betrachtung geht bereits hervor, daß in einer nur bewußtseinswirklichen Wahrnehmungswelt jene eigentümlichen Wahr-
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nehmungsäquivalente, die mit einem solchen hinzugedachten Materiale zusammenhängen, und die wir unter den Begriffen der phänomenal transzendenten Dinge und der Kräfte zusammenfaßten, ebenfalls keinen Platz haben. Denn auch diese Gebilde werden nur zum Behufe einer Außenwirklichkeitsdeutung unserer Wahrnehmungen zu den letzteren ergänzend von uns hinzugedacht. Ist es daher mit der Außenwirklichkeit unserer Wahrnehmungen nichts, dann haben wir auch diese Ergänzungen zu streichen. Das aber heißt, daß die reine Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen keine massiven Körper enthält, sondern mit jenen leeren Hüllflächen erfüllt ist, deren Wesen wir früher beschrieben haben. Aber wir werden, wenn wir uns auf eine solche Bewußtseinswirklichkeit beschränken wollen, noch einen weiteren Schritt zurückgedrängt. Jene Hüllflächen haben dann nämlich nur ihre uns zugekehrte Seite. Denn ihre uns abgekehrte Seite fehlt abermals in unserer Bewußtseinswirklichkeit. Sie wird wieder nur aus Gründen der immanenzontologischen Außenwirklichkeitsauffassung von uns hinzugedacht Wenn ich jetzt meine Lampe anschaue, so sehe ich nur ihre Front. Ihre Rückseite liegt immanenzontoiogisch gesprochen jenseits meiner Ueberschneidung. Betrachte ich den Wahrnehmungsbestand, den ich von der Lampe habe, als einen außenwirklichen Körper, so ist jene Rückseite tatsächlich vorhanden. Bewußtseinswirklich aber liegt sie nicht vor. Daher muß ich, sobald ich mich auf die Bewußtseinswirklichkeit meiner Wahrnehmungen beschränke, von dieser Rückseite absehen. Wir werden also, sobald wir unseren Sichtwahrnehmungen gegenüber mit der Aberkennung ihres Außenwirklichkeitscharakters ernst machen, aus der Welt der außenwirklichen Stoffe in die Welt eines andersartigen Bewußtseinsmaterials, aus der Welt der massiven Körper in eine Welt der Hüllflächen und aus der Welt der geschlossenen in eine Welt der halboffenen Hüllflächen zurückgedrängt. Und zwar ist dieser Rückzug dadurch bedingt, daß wir alle Positionen aufgeben müssen, die wir nur kraft eines immanenzontoiogisch orientierten Hinzudenkens von Außenwirklichkeitsstrukturen behaupten können. Denn die in dieser Weise hinzugedachten Strukturen liegen nur in dem gnoseologischen Bereiche, nicht dagegen in dem ontologischen Bezirke dh. nicht in der eigentlichen Wirklichkeitssphäre unseres Bewußtseins. Indessen ist unser Rückzug mit diesen Maßnahmen noch nicht beendet. Denn im Interesse unserer immanenzontologischen Außenwirklichkeitserkenntnis denken wir nicht nur allerlei Ergänzungen zu unseren Wahrnehmungsbeständen hinzu, sondern wir denken uns an
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diesen letzteren auch gewisse Umformungen vollzogen. Und wie jene Ergänzungen, so haben diese Umformungen ihren ausschließlichen Sinn und Gegenstand in dem Außenwirklichkeitscharakter, den wir unseren Wahrnehmungen zuschreiben. Wenn wir daher diesen letzteren ihren Außenwirklichkeitscharakter absprechen und nach ihrer reinen Bewußtseinswirklichkeit fragen, so haben wir solche Umformungen in einem ähnlichen Sinn wie jene Ergänzungen rückgängig zu machen. Dabei ist zu beachten, daß durch diese Umformungen in unser immanenzontologisch orientiertes Bewußtsein eine grundsätzlich andere Wirklichkeitsstruktur hineingetragen wird als durch jene Ergänzungen. Denn die letzteren fügen zu unseren eigentlichen Wahrnehmungen nur etwas hinzu. Aber sie treten in keinen Widerspruch zu ihnen. Sie werden vielmehr so gedacht, daß sie als Bestände jenseits des Ueberschneidungsbezirkes mit den innerhalb dieses letzteren liegenden Beständen einen ontologisch in sich eindeutigen Außenwirklichkeitskomplex bilden. In dieser Hinsicht verhält es sich mit unseren Umformungen anders. Denn diese stellen keine einfache Hinzufügung neuer Gegenständlichkeiten dar, sondern ihren Gegenstand bilden die in unserer Bewußtseinswirklichkeit anwesenden Ueberschneidungsbestände selbst. Das Wesen einer solchen Umformung aber besteht darin, daß wir uns die reine Bewußtseinswirklichkeitsstruktur unserer Wahrnehmungen durch eine andere ihnen nicht zukommende Außenwirklichkeitsstruktur ersetzt denken. Hierdurch wird eine neue Situation bedingt. Denn infolge dieser Maßnahme haben nunmehr identisch dieselben Wahrnehmungsbestände in ihrer vermeintlichen Außenwirklichkeit nicht mehr dieselbe Beschaffenheit wie in ihrer tatsächlichen Bewußtseinswirklichkeit. So kommt es, daß unser wahrnehmendes Bewußtsein in der Gestalt, in der wir es aus unserer immanenzontologisch eingestellten Erfahrung kennen, einen in sich widerspruchsvollen und mehrdeutigen Strukturzusammenhang bildet. Und zwar sind die in ihm auftretenden Widersprüche, wie wir sogleich sehen werden, teils von tatsächlicher, teils von grundsätzlicher Natur. An und für sich sind es erst diese Widersprüche und nicht schon jene Ergänzungen, die das von uns erfahrene Wahrnehmungsbewußtsein seines ontologischen Charakters und daher seiner Ebenbürtigkeit mit den Beständen der transzendenten Außenwelt berauben. Anderseits freilich lehrt uns ein Eindringen in den Sachverhalt, daß auch jene Ergänzungen die Umformung unserer Wahrnehmungen voraussetzen und somit ebenfalls in die mehrdeutige und widerspruchsvolle Struktur unseres Bewußtseins verstrickt sind.
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Es läßt sich leicht zeigen, daß diese Bewußtseinsstruktur das typische Wesen der früher von uns beschriebenen gnoseologischen Wirklichkeiten trägt, und daß die ontologische Grundlage dieser letzteren hier durch dasjenige gebildet wird, was wir als die reine Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen anzusprechen haben. Nur diese ist eindeutig und in dem eigentlichen ontologischen Sinne wirklich. Auf sie müssen wir daher zurückgehen, wenn sich die Bestände der transzendenten Außen Wirklichkeit und die unseres wahrnehmenden Bewußtseins in dem angedeuteten Sinne als ebenbürtige Parteien gegenübertreten sollen. Dagegen bilden unsere Wahrnehmungen so, wie sie von uns erfahren werden, keine widerspruchslose, eindeutige und rein ontologische, sondern eine in sich widerspruchsvolle, mehrdeutige und nur gnoseologische Wirklichkeit. Wir wollen uns diesen Sachverhalt zunächst an den in unserer deutungserfüllten Sichtwelt auftretenden Größenverhältnissen klarmachen, die mit den entsprechenden bewußtseinswirklichen Größenverhältnissen in Widerspruch stehen. Blicken wir aus dem Inneren unseres Zimmers zum Fenster hinaus, so glauben wir in der Straßenflucht, den Häusern, Bäumen und Wolken lauter Bestände zu sehen, die größer als unser Fenster sind. Eine genauere Beachtung des tatsächlichen Sachverhaltes aber lehrt uns, daß diese Größe der erschauten Gegenstände nur eine scheinbare ist, und daß wir in Wahrheit Straße, Häuser, Bäume und Wolken kleiner als unser Fenster sehen. Denn in unserer Sichtwahrnehmung werden alle diese Bestände von dem Fensterrahmen mitumspannt. Ja wir könnten unschwer feststellen, daß alles, was wir sehen, so groß es uns auch erscheinen mag, nicht größer als unsere Netzhaut und kleiner als ein Brillenglas ist, durch das wir blicken. Die Täuschungen, denen wir hier unterworfen sind, und deren Natur wir schon in unseren früheren Erörterungen über die angebliche Vergrößerung der Netzhautbilder dargelegt haben, beruhen darauf, daß wir dasjenige, was wir sehen, nicht als das hinnehmen, was es nach seiner reinen Bewußtseinswirklichkeit ist, sondern es für die mit unserer Netzhaut verglichen unverhältnismäßig größere Außenwirklichkeit halten, die es tatsächlich nicht ist. Auch hier wieder liegt also das Motiv unseres Eingriffes in die bewußtseinswirkliche Beschaffenheit der Wahrnehmungen bei unserer Außenwirklichkeitsdeutung dieser letzteren. Aber während wir in den zuerst von uns beschriebenen Fällen die anwesenden Ueberschneidungsbestände durch ein Hinzudenken von abwesenden und jenseits der Ueberschneidung liegenden Gebilden nur ergänzten, wagen wir uns hier an jene Ueber-
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schneidungsbestände selbst und ersetzen die ihnen zukommenden durch andere ihnen nicht zukommende Beschaffenheiten. Dieses Verfahren haben wir rückgängig zu machen, wenn wir zu der reinen Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen vordringen wollen. Denn in dieser verlieren jene Außenwirklichkeitsdeutungen ihren Sinn. Dementsprechend sind unsere Sichtbestände nach ihrer reinen Bewußtseinswirklichkeit nur so groß wie unsere Netzhaut. Und zwar sind diejenigen Bestände, die wir bei unserer Außenwirklichkeitsdeutung als uns zunächst liegend betrachten, die bewußtseinswirklich größeren und die für weiter abliegend gehaltenen die bewußtseinswirklich kleineren. Hieraus geht hervor, daß die falsche Größenschätzung unserer Sichtbestände grundsätzlich mit ihrer Raumdeutung verknüpft ist. Denn zu dieser unserer Raumdeutung gehört es, daß sich die außenwirkliche Größe der in ihr enthaltenen Bestände gleichbleibt, während deren bewußtseinswirkliche Größe mit ihrer abnehmenden oder zunehmenden Entfernung von uns wächst oder sich vermindert. Dieser Umstand ist an und für sich zufällig. Denn er hängt zwar mit dem Tatbestande der repräsentativen Funktion, nicht aber mit der bewußtseinswirklichen Beschaffenheit unserer Sichtwahrnehmungen zusammen. Dementsprechend wäre es beispielsweise denkbar, daß wir auch einen solchen Raum anzuschauen vermöchten, in dem die gesehenen Bestände nicht nur als außenwirkliche sondern auch als bewußtseinswirkliche ihre Größe beibehielten, ganz gleich ob sie uns nahe oder fern wären. Die in einem solchen Räume auftretenden Größenverhältnisse würden uns dann so vorkommen, als wären sie den uns gewohnten entgegengesetzt. Wenn wir nämlich mit unseren gegenwärtigen Interpretationsgepflogenheiten in diesen Raum hinein-, versetzt würden, so müßten wir, da die uns bekannten Größenänderungen dort nicht stattfinden, den Eindruck haben, daß seine Bestände mit ihrer Annäherung an uns immer kleiner und mit ihrer Entfernung von uns immer größer würden; daß also das Umgekehrte von dem vor sich ginge, was in der Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen unter normalen Umständen stattfindet. Solche Raumverhältnisse wären uns zwar ungewohnt. Sie würden von dem Befunde unseres eigenen Wahrnehmungsraumes abweichen. Aber sie stünden zu den bewußtseinswirklichen Bedingungen unseres Sehens in einem nur tatsächlichen, nicht dagegen in einem grundsätzlichen Widerspruche, und sie könnten daher, wenn überhaupt ein Raum angeschaut werden kann, ebenso gut wahrgenommen werden wie die uns gewohnten Raumverhältnisse.
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Anders steht es mit dieser letzteren Frage, nämlich mit der, ob die bewußtseinswirkliche Beschaffenheit unserer Sichtwahrnehmungen die anschauliche Erfassung eines Raumes überhaupt zuläßt. Die Bejahung dieser Frage bildet für die volkstümliche Auffassung des Sachverhaltes eine Selbstverständlichkeit. Dieser Auffassung haben auch wir uns bisher gefügt und wiederholt von einem anschaulichen Sichtraume gesprochen. Ein tieferes Eindringen in die hier waltenden Verhältnisse lehrt uns aber, daß jene Frage verneint werden muß, und daß eine Raumanschauung zu der bewußtseinswirklichen Beschaffenheit unserer Sichtwahrnehmungen in einem grundsätzlichen Widerspruche steht. Dem entspricht es, daß wir allem Anscheine zuwider einen anschaulichen Raum weder wahrnehmen noch vorstellen noch auch zu einer solchen Wahrnehmung oder Vorstellung imstande sind: und das, obwohl wir dauernd von einem solchen Sichtraume umgeben zu sein und ihn ständig vor Augen zu haben glauben. Hierüber will ich mich näher erklären. Ich gehe dabei von jenen Erwägungen aus, mit denen wir unsere Erörterungen über die Lehre von der gedachten Außenwirklichkeit einleiteten. Wir erkannten dort, daß in unserer deutungserfüllten Wahrnehmungswelt gewisse Widersprüche vorhanden sind, und daß diese Widersprüche auf einer falschen Identifikation zwischen dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes und der Struktur des uns deutungslos vorliegenden Empfindungsmateriales beruhen. Eben diese Widersprüche haften nun aber nicht nur unserer außenwirklichen Wahrnehmungswelt an, sondern ebenso auch unserer eigenen Bewußtseinswirklichkeit, da in dieser letzteren unsere deutungserfüllte Wahrnehmungswelt auftritt. Denn immanenzontologisch sind Außenwelt und Bewußtsein als deutungserfüllte Bestandkomplexe innerhalb des Bezirkes der Ueberschneidung miteinander identisch. Daher gilt das, was in jenen früheren Erörterungen für die wahrgenommene Außenwelt dargelegt wurde, auch für unser wahrnehmendes Bewußtsein selbst. In diesem sind kraft falscher Urteilsmeinung zwei heterogene Gebilde miteinander identisch gesetzt: nämlich in unserem Falle die dreidimensionale Raumstruktur, die wir der Außenwirklichkeit zuschreiben, und die unserem Netzhautbilde entsprechende Fläche der deutungslos gegebenen Sichtempfindungen. Dieser Identifikation gemäß fassen wir in unserer immanenzontologischen Praxis die Struktur unserer Sichtempfindungen so auf, als wäre sie jene dreidimensionale Raumstruktur selber. Infolgedessen leben wir unter dem Eindrucke, als hätten wir diese letztere unmittelbar vor uns. Das aber ist angesichts des zwischen jenen beiden Gebilden herrschenden wider-
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spruchsvollen Verhältnisses nicht möglich. Denn in der Wahrnehmung, dh. in dem uns konkret vorliegenden Strukturzusammenhange bleibt die Fläche unserer deutungslos gegebenen Sichtempfindungen auch dann flächenhaft, wenn wir ihr die Eigenschaften eines dreidimensionalen Raumes zuschreiben. Das können wir uns nicht nur an den soeben beschriebenen Größenverschiebungen sondern auch daran klar machen, daß in dem Räume, den wir zu sehen vermeinen, seiner Euklidischen Dreidimensionalität entsprechend alle frontal vor uns liegenden Linien und Flächen ihre geometrische Beschaffenheit behalten sollen, wenn wir sie aus dieser Front herausdrehen. Wäre dies nicht der Fall, so wäre unser Sichtfeld auch nicht das, wofür wir es halten, nämlich jener dreidimensionale Euklidische Raum. Nun ist es aber bekannt, daß unsere Sichtwahrnehmungen diese Bedingung nicht erfüllen. Vielmehr sehen wir, sobald wir eine Linie oder Fläche aus ihrer uns zugewandten Front herausdrehen, nur noch ihre Projektion auf diese letztere. Das aber heißt: wir sehen überhaupt keinen Raum sondern nehmen nur eine frontale Fläche, nämlich die unserer Netzhaut entsprechende Sichtfläche unserer deutungslos gegebenen Empfindungen wahr. Alles andere wird von uns nicht in dem Sinne einer konkreten Anschauung wahrgenommen, sondern lediglich gedacht. Es liegt demzufolge nicht in dem ontologischen Bezirke sondern nur in der gnoseologischen Reichweite unseres Bewußtseins. Wir haben also dieses beides, das Wahrgenommene und das Gedachte, das in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke Vorliegende und das in unserem gnoseologischen Bereiche zwar Gemeinte, uns aber nicht konkret Vorliegende scharf voneinander zu unterscheiden. Der Umstand, daß wir dies in unserer alltäglichen Wahrnehmungspraxis nicht tun, führt uns zu jenem falschen Glauben, daß wir einen dreidimensionalen Sichtraum anschaulich vor Augen hätten. In Wahrheit haben wir ihn nicht vor Augen und sind auch dank unserer Bindung an die Sichtfläche des deutungslos Gegebenen grundsätzlich außerstande, einen Sichtraum wahrzunehmen oder ihn uns auch nur vorzustellen. Denn dazu müßten wir in der Lage sein, nicht nur alle Bestände in einer sich gleichbleibenden Größe zu erschauen, ohne Rücksicht darauf wie weit sie von uns entfernt sind; sondern wir müßten auch zu der gleichen Zeit alle Fronten der sichthaften Körper in ihrer vollen Frontausdehnung sehen können. So etwas aber können wir uns zwar denken; es wahrzunehmen oder auch nur vorzustellen, dagegen hindert uns die flächenhafte Beschaffenheit unserer Sichtempfindungen. Kein Mensch hat infolge dieses Sachverhaltes jemals
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einen echten Raum sehen oder ihn sich anschaulich vorstellen können. Trotzdem glauben wir alle, einen solchen Raum dauernd um uns her zu erblicken. Für diese Situation ist es charakteristisch, daß es geometrisch zwar den dreidimensional Euklidischen Raum gibt, den wir der Außenwirklichkeit in Gedanken zuschreiben, nicht aber ein solches in sich widerspruchsvolles Zwittergebilde, wie es der angebliche Sichtraum unserer deutungserfüllten Wahrnehmungswelt darstellt. Denn die Geometrie kennt keinen Raum, dessen Bestände mit wachsender Entfernung von einem Beobachter kleiner werden, zugleich aber größer werden, wenn sie sich in eben derselben Bewegung einem anderen Beobachter nähern. Sie kennt auch keinen Raum, dessen Tiefenausdehnung einerseits seiner jeweiligen Frontalausdehnung entspricht und anderseits doch nur gleich seiner Projektion auf dieser letzteren ist, wobei sich außerdem dieses Verhältnis auch noch je nach dem Standpunkte des Beobachters verschiebt. Solche Widersinnigkeiten sind in der Struktur, die wir unseren Sichtraum nennen, an der Tagesordnung. Geometrisch aber sind sie nicht möglich. Es liegt auf der Hand, daß diese geometrischen Unmöglichkeiten weder an der Struktur unserer deutungslos gegebenen Sichtempfindungen noch an dem Euklidischen Räume liegen, den wir der Außenwirklichkeit zuschreiben, sondern lediglich durch die falsche Identifikation dieser beiden Faktoren verschuldet werden. Diese Identifikation findet nun darin einen gewissen Rechtsgrund, daß unsere deutungslos gegebenen Sichtempfindungen zwar nicht selbst einen dreidimensionalen Raum bilden, wohl aber die ihnen entsprechenden Raumverhältnisse der transzendenten Außenwirklichkeit in einer ähnlichen Weise wiedergeben, wie dies durch unsere Netzhaut oder etwa durch den Sucher eines photographischen Apparates geschieht. Hierin finden die soeben beschriebenen Größen- und Projektionsverschiebungen in unserer Sichtwahrnehmung ihre durch die Ausführungen des vorangegangenen Kapitels bereits vorbereitete einfache Erklärung. Wir können in diesem Sinne zwar nicht von einer Räumlichkeit, wohl aber von einer Raumsymbolik unserer Sichtwahrnehmungen sprechen. Jedoch liegt diese Symbolik nicht in den Wahrnehmungsbeständen als solchen. Denn diese haben als ontologische Komplexe keine über sie hinausgreifende Bedeutung, sondern sind einfach das, was sie sind. Ihr Symbolismus wird vielmehr erst von uns geschaffen und zwar dadurch, daß wir die in unserem Bewußtsein ontologisch anwesenden Wahrnehmungsstrukturen als Zeichen für die ihnen entsprechenden abwesenden, aber gnoseologisch von uns gemeinten Außen20
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Wirklichkeitsstrukturen verwenden. Dabei bildet es einen durch den Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt mit psychologischer Zwangsläufigkeit bedingten Mißbrauch dieser Symbolik, daß wir das zu symbolisierende Abwesende an die Stelle des als Symbol dienenden Anwesenden setzen und auf diese Weise beides miteinander identifizieren. Bedenken wir nun, daß diese Identifikation wiederum lediglich einer Außenwirklichkeitsdeutung unserer Sichtwahrnehmungen zu verdanken ist, und daß wir sie dementsprechend aufzuheben haben, wenn wir zu der reinen Bewußtseinswirklichkeit solcher Wahrnehmungen vordringen wollen, so erkennen wir, daß diese letztere mit dem deutungslos Gegebenen unserer Empfindungen zusammenfällt. Nach ihrer Bewußtseinswirklichkeit stellen also unsere Sichtwahrnehmungen nur noch eine unseren Netzhautbildern entsprechende Fläche dar. Wir haben demgemäß jene zuvor von uns beschriebenen halboffenen Hüllflächen, auf die wir uns aus der deutungserfüllten Wahrnehmung zurückziehen mußten, abermals aufzugeben. Denn auch diese sehen wir nicht. Wir erblicken vielmehr nur jene in einer leicht konkaven Fläche liegenden deutungslosen Empfindungen. Alles andere, dh. alles, was irgendwie an eine Deutung heranstreift, trägt nicht mehr den ontologischen Charakter der Bewußtseinswirklichkeit, sondern den nur gnoseologischen Charakter einer auf Außenwirklichkeitsverhältnisse zugeschnittenen Interpretation der Bewußtseinswirklichkeit. Dieses Ergebnis ist insofern bemerkenswert, als es ein Gegenstück zu unseren früheren Erörterungen über die gedachte Außenwirklichkeit bildet. Damals stellten wir fest, daß wir, um zu dem Bedeutungsgehalte eines einwandfreien Außenwirklichkeitsbegriffes zu gelangen, von seiner Identifikation mit den deutungslos gegebenen Empfindungen als spezifisch bewußtseinswirklichen Beständen absehen müssen. Umgekehrt stellen wir nunmehr fest, daß wir, um zu dem Bedeutungsgehalte eines einwandfreien Bewußtseinswirklichkeitsbegriffes zu gelangen, von der Identifikation jener Empfindungen mit dem Bedeutungsgehalte unseres Außenwirklichkeitsbegriffes ebenfalls abzusehen haben. Eine Identifikation dieser beiden Faktoren ist also mit dem Begriffe einer Wirklichkeit unseres Bewußtseins und dem Begriffe einer Wirklichkeit der Außenwelt in gleicher Weise unerträglich. Zur Erläuterung der hier vorgetragenen Lehre mögen noch zwei Bemerkungen dienen, die geeignet sind, den negativen Einschlag unserer Darlegungen in einem positiven Sinne zu ergänzen. Es ist nämlich erstens zu beachten, daß sich unsere Unfähigkeit zu einer Raumanschauung nur auf das simultane Sichtfeld erstreckt, nicht aber auf die Sukzession unserer Sichtfelder. Denn sukzessiv durchmessen
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wir mit unseren Sichtwahrnehmungen, wenn wir uns in bestimmterWeise bewegen, zB. wenn wir eine Straße entlanggehen oder uns um unsere Achse drehen, in der Tat einen Raum und zwar einen Sichtraum, der aus der Summe aller während der Bewegung von uns erschauten Flächen besteht. Auf die ontologische Tragweite dieses Prinzips, das uns in einem anderen Zusammenhange näher beschäftigen soll, kann hier noch nicht eingegangen werden. Nur darauf sei schon jetzt hingewiesen, daß sich durch Sukzession in der hier angedeuteten Weise jede nächsthöhere Dimensionalität grundsätzlich durch die nächstniedere, also in unserem Falle der Raum durch die Fläche, kraft bestimmter Bewegungen bewältigen läßt, und daß dieser Umstand mit der in der Zeit enthaltenen Struktur unserer Wirklichkeit zusammenhängt. Ein anderes noch zu beachtendes Moment liegt darin, daß sich unsere Identifikation desAußenwirklichkeitsraumes mit unserer flächenhaften Sichtwahrnehmung, so widerspruchsvoll sie auch theoretisch sein mag, doch in dem Sinne einer praktischen Fiktion bewährt und insofern berechtigt ist. Denn wenn auch unseren Wahrnehmungsbeständen selbst die ihnen zugedachten Raumverhältnisse nicht zukommen, so kommen diese doch, wie soeben schon angedeutet wurde, den Beständen der transzendenten Außenwirklichkeit zu, die immanenzontologisch durch unsere Wahrnehmungen repräsentiert wird, und innerhalb deren wir selber leben. Diesem Sachverhalte wird unsere Raumdeutung der Sichtwahrnehmungen in ihrer Weise gerecht. Das können wir zB. durch die soeben genannten Bewegungen oder dadurch feststellen, daß wir um die von uns erschauten Körper herumgehen bzw. umgekehrt diese Körper vor uns herumdrehen. Wir erkennen nämlich, daß dann das, was wir zuerst nur in einer mehr oder minder verkürzten Projektion erschauten, zu seiner vollen Frontalausdehnung gelangt, und daß umgekehrt das, was ursprünglich diese volle Frontalausdehnung hatte, zu einer schmalen Projektion zusammenschmilzt. Aus diesen und ähnlichen Verifikationsmaßnahmen wird es auch in dem Rahmen der immanenzontologischen Weltbetrachtung offenkundig, daß zwar nicht das Erkenntnismittel, wohl aber der Erkenntnisgegenstand unserer Sichtwahrnehmungen, nämlich die Außen Wirklichkeit, die wir mit Hilfe dieser letzteren zu erfassen suchen, und innerhalb deren unsere Bewegungen stattfinden, eine dreidimensionale Manichfaltigkeit bildet. E s geht aus den hier dargelegten Bezugsverhältnissen hervor, daß unsere Sichtwahrnehmungen in ihrem rein bewußtseinswirklichen Zustande nicht die Struktur tragen, die wir ihnen in ihrem deutungserfüllten Zustande zuschreiben. Betrachten wir diese letztere Struktur, 20*
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so erkennen wir, daß sie keinen rein ontologischen und in sich einheitlichen Bestandzusammenhang bildet, sondern in einer durch falsche Urteilsmeinung bedingten Verkoppelung zweier gegenstandstheoretisch verschiedener Feldgebiete besteht, die sich in der für falsche Urteilsmeinungen charakteristischen und früher von uns geschilderten Weise an identisch demselben Bestände überschneiden. Das eine dieser Feldgebiete wird von unseren deutungslos gegebenen Sichtempfindungen erfüllt, die allein anwesend und bewußtseinswirklich sind, die als reale Bestände einen von allen Urteilsmeinungen unabhängigen ontologisch an sich bestehenden Charakter tragen und als selbständige Gebilde keiner Deutungen bedürfen. In dem anderen Feldgebiete liegen unsere Deutungserfüllungen, deren Gegenstand eine von uns abwesende Außenwirklichkeit bildet, die als ideale, von unserer Urteilsmeinung gnoseologisch gesetzte Gebilde nur für uns bestehen und sich als unselbständige Phänomene höherer Ordnung über jenen deutungslos gegebenen Empfindungen aufbauen. Durch die von uns gekennzeichnete und unserer immanenzontologischen Wahrnehmungspraxis entsprechende falsche Urteilsmeinung werden diese beiden nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit sich gegenseitig ausschließenden Feldgebiete individualbegrifflich miteinander identifiziert. Dadurch wird in unser wahrnehmendes Bewußtsein, so wie wir es aus unserer Erfahrung kennen, jene Duplizität hineingetragen, die wir früher als charakteristisch für den Aufbau aller nur gnoseologischen Wirklichkeiten erkannt haben. Dementsprechend kann das uns aus der Erfahrung bekannte Wesen unseres Bewußtseins, insoweit unsere Sichtwahrnehmungen an ihm beteiligt sind, als in dem früher geschilderten Sinne nur gnoseologisch, nicht dagegen als ontologisch wirklich betrachtet werden. Die ontologische Grundlage dieser unserer gnoseologischen Bewußtseinswirklichkeit aber bilden in unserem Falle die uns deutungslos gegebenen Sichtempfindungen, die, wie wir gesehen haben, allein als bewußtseinswirklich in der ontologischen Bedeutung dieses Wortes angesehen werden können. Dieses dem transzendenzontologischen Sachverhalte gerecht werdende Ergebnis ist dazu angetan, unsere früheren auf immanenzontologischen Voraussetzungen beruhenden Erörterungen über das Wesen der gnoseologischen Wirklichkeit und ihrer ontologischen Grundlage nach einer bestimmten Richtung zu modifizieren. In jenen früheren Erörterungen führten wir nämlich als ontologische Grundlage der gnoseologischen Wirklichkeiten gewisse außenwirkliche Bestandkomplexe ein. So galt uns als die ontologische Grundlage unserer Panoramalandschaft eine farbenbedeckte Leinewand. Oder es galt uns
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ein flächenhaftes Bild auf dem Spiegelglase als die ontologische Grundlage der hinter dem Spiegel erschauten Raumwelt. Wäre diese Auffassung der Sachlage, die der uns geläufigen immanenzontologisch orientierten Wirklichkeitsbetrachtung entspricht, richtig, dann kämen wir angesichts der soeben dargelegten Strukturverhältnisse unserer deutungserfüllten Wahrnehmung zu dem Ergebnisse, daß solche gnoseologischen Wirklichkeiten wie die Panoramalandschaft und das Bild hinter dem Spiegel zwei verschiedene ontologische Grundlagen hätten: eine außenwirkliche und eine bewußtseinswirkliche. Denn neben der farbenbedeckten Leinewand und der Bildfläche auf dem Spiegelglase als außenwirklichen Beständen hat nunmehr auch das deutungslos Gegebene unserer Sichtempfindungen als ein spezifisch bewußtseinswirklicher Bestandkomplex einen Anspruch darauf, als die ontologische Grundlage jener Panoramalandschaft und der Raumwelt hinter dem Spiegel zu gelten. Eine Nachprüfung dieser Situation zeigt uns jedoch, daß die hier geforderte Duplizität der ontologischen Grundlagen für eine und dieselbe Deutungserfüllung mit einem Widerspruche belastet wäre. Denn zu dem Wesen aller ontologischen Bestände gehört es, daß sie in sich eindeutig sind. Und da das, was wir als die außenwirkliche ontologische Grundlage jener Deutungserfüllung ansprechen, individualbegrifflich mit dem identisch ist, was wir als ihre bewußtseinswirkliche ontologische Grundlage kennen gelernt haben, beide Grundlagen sich aber nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit voneinander unterscheiden, dergestalt daß für ihre individualbegriffliche Identität eine Doppeldeutigkeit eines und desselben Bestandes erfordert würde, so kann in Wahrheit nur die eine von ihnen den Charakter einer ontologischen Grundlage tragen. Die andere dagegen muß etwas anderes sein. Denn ein und derselbe ontologische Bestand kann kraft seiner Eindeutigkeit zu derselben Zeit, an demselben Orte und in derselben Hinsicht nur eine allgemeinbegriffliche Beschaffenheit haben und nicht zwei verschiedene. Zu einer Klärung der hier waltenden Situation gelangen wir, wenn wir bedenken, daß wir als die ontologische Grundlage einer gnoseologischen Wirklichkeit dasjenige zu betrachten pflegen, was nach unserer Meinung der uns jeweils vorliegende Bestand in Wahrheit ist. Nach immanenzontologischer Auffassung hat nun jeder unserer Wahrnehmungsbestände, abgesehen von seiner Bewußtseinswirklichkeit, in Wahrheit auch eine bestimmte außenwirkliche Beschaffenheit. Ob diese vermeintlich außenwirkliche Beschaffenheit vorliegt oder nicht, erkennen wir, unseren früher geschilderten Verifikationsmethoden ent-
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sprechend, daran, wie sich die von uns wahrgenommenen Bestände naturgesetzlich verhalten. Daher pflegen wir von dem Standpunkte der Immanenzontologie aus als gnoseologische Wirklichkeiten nur diejenigen Wahrnehmungskomplexe anzusehen, die zu der, wenn auch unvollkommenen, Naturgesetzlichkeit unserer immanenten Außenwirklichkeit in einem handgreiflichen Widerspruche stehen. Als das wahrhaft außenwirkliche Gegenstück einer solchen gnoseologischen Wirklichkeit dagegen gilt uns derjenige Wahrnehmungskomplex, der statt unserer falschen Deutungserfüllung jener Naturgesetzlichkeit gerecht wird. So galt uns die Panoramadarstellung oder das Raumbild hinter dem Spiegel als eine ausgesprochen gnoseologische Wirklichkeit. Dagegen galten uns die farbenbedeckte Leinewand und das flächenhafte Bild auf dem Spiegelglase als wahrhaft außenwirkliche Bestände. Diese letzteren betrachteten wir dementsprechend in unserer immanenzontologischen Praxis als die ontologischen Grundlagen jener gnoseologischen Wirklichkeiten. Von dem transzendenzontologischen Standpunkte aus erscheint die hier geschilderte Situation in einem anderen Lichte. Denn von diesem Standpunkte gesehen haben nicht nur solche Sachverhalte wie die soeben genannten, sondern auch alle immanenzontologisch als außenwirklich aufgefaßten Wahrnehmungsbestände den Charakter einer gnoseologischen Wirklichkeit. Daher sind transzendenzontologisch nicht nur die Panoramalandschaft und die Raumwelt hinter dem Spiegel sondern auch die farbenbedeckte Leinewand und das flächenhafte Bild auf dem Spiegelglase gnoseologische Deutungsphänomene. Als die ontologische und zwar als die allein ontologische Grundlage aller dieser Deutungsphänomene aber erweist sich hier das deutungslos Gegebene unserer Sichtempfindungen, also ein spezifisch bewußtseinswirklicher Bestandkomplex. Nach dieser Auffassung verhält sich dementsprechend die Panoramalandschaft zu der farbenbedeckten Leinewand und die Raumwelt hinter dem Spiegel zu dem flächenhaften Bilde auf dem Glase nicht wie eine gnoseologische Wirklichkeit zu ihrer ontologischen Grundlage, sondern wie die eine Deutungserfüllung einer und derselben in unseren deutungslos gegebenen Sichtempfindungen vorliegenden ontologischen Grundlage zu einer anderen Deutuiigserfüllung derselben. Stellt man sich auf den Boden dieser transzendenzontologischen Auffassung des Sachverhaltes, so wird offensichtlich, daß die Immanenzontologie das gegenseitige Verhältnis zweier falscher Deutungen mit dem Verhältnisse einer falschen Deutung zu ihrer ontologischen Grundlage verwechselt. Das Zustandekommen dieser Verwechselung
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aber erklärt sich zunächst daraus, daß in beiden Verhältnissen an individualbegrifflich identisch demselben Bestände zwei verschiedenartige allgemeinbegriffliche Beschaffenheiten auftreten. Denn wie nach allgemeinbegrifflicher Beschaffenheit die einzelne Deutungserfüllung von ihrer ontologischen Grundlage, so weichen zwei verschiedene Deutungserfüllungen dieser letzteren voneinander ab. Und da anderseits jede der beiden Deutungserfüllungen mit derselben ontologischen Grundlage individualbegrifflich identisch ist, so sind sie beide auch miteinander identisch. Nach allgemeinbegrifflicher wie nach individualbegrifflicher Hinsicht tragen insofern die beiden hier miteinander verwechselten Bezugsverhältnisse den gleichen Charakter. Dazu kommt nun, daß wir in unserer immanenzontologischen Praxis die eine der beiden Deutungserfüllungen wegen ihres naturgesetzlichen Charakters bevorzugen und sie auf Grund dieses Vorzuges als ein ontologisch an sich bestehendes außenwirkliches Gebilde ansehen. Es wird also nur die eine der beiden miteinander konkurrierenden Deutungserfüllungen von uns als die gnoseologische Wirklichkeit erkannt, die sie ist, während wir die andere allgemeinbegrifflich von ihr verschiedene, individualbegrifflich aber mit ihr identische Deutungserfüllung als einen ontologischen Bestandkomplex ansprechen. Auch in dieser Hinsicht verhält sich also die eine Deutungserfüllung zu der anderen, wie sich eine ontologische Grundlage zu ihr verhalten würde. Damit ist die immanenzontologische Verwechselung der genannten beiden Bezugsverhältnisse besiegelt. Unter diesen Umständen erhebt sich nunmehr die Frage: worauf beruht die hier zwischen der Immanenzontologie und der Transzendenzontologie waltende Verschiedenheit des Verfahrens? Wie kommt es, daß wir in unserer immanenzontologischen Praxis für eine bestimmte Deutungserfüllung unserer Sichtempfindungen den Anspruch auf Wahrheit erheben und sie als die ontologische Grundlage einer anderen für falsch erkannten Deutungserfüllung betrachten, dagegen die für die Transzendenzontologie maßgebende und allein echte ontologische Grundlage beider Deutungserfüllungen, das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen außer Acht lassen? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich, wenn wir bedenken, daß die Transzendenzontologie in den uns jeweils vorliegenden Wahrnehmungen etwas anderes sucht als die Immanenzontologie. Beide fragen danach, was der uns vorliegende Bestand in Wahrheit sei. Aber die Transzendenzontologie betrachtet als seine wahre nur diejenige Beschaffenheit, die dieser Bestand an sich selbst und abgesehen von jeder Deutungserfüllung hat. Denn sie hält jede Deutung,
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wenn sie einen Bestand für etwas anderes ausgibt als für das, was er ohne Deutung an sich selbst ist, für falsch. Dagegen fragt die Immanenzontologie nicht danach, welche Beschaffenheit der uns vorliegende Bestand in seiner Deutungslosigkeit hat, sondern welche unter seinen Deutungen zutreffe. Denn sie hält diejenige Deutungserfüllung unserer Sichtempfindungen, die den Anforderungen des immanenten Außenwirklichkeitsbegriffes entspricht, nicht für falsch, sondern für richtig und betrachtet dementsprechend den also gedeuteten Bestand als ein ontologisch an sich bestehendes außenwirkliches Gebilde. Sehen wir näher zu, so erkennen wir, daß dieser Unterschied der Betrachtungsweise damit zusammenhängt, daß die Transzendenzontologie auf die Wahrnehmungsmittel zurückgeht, die unserer repräsentativen Erfassung der außenwirklichen Verhältnisse zugrundeliegen, während die Immanenzontologie auf den Wahrnehmungsgegenstand, nämlich auf eine korrekte Durchführung jener Repräsentation ausgeht. An und für sich kann die Stellung dieser letzteren Aufgabe auch von dem Standpunkte der Transzendenzontologie als gerechtfertigt gelten. Denn die von der Immanenzontologie bevorzugte und als wahr angesprochene Deutungserfüllung zeichnet sich vor der als falsch angesprochenen dadurch aus, daß sie vertretungsweise Verhältnisse darstellt, die in der transzendenten Außenwirklichkeit tatsächlich bestehen, während uns die als falsch erkannte Deutungserfüllung solche Verhältnisse vorführt, die den transzendenten Sachverhalten nicht entsprechen. Insoweit ist also unsere immanenzontologische Stellungnahme gerechtfertigt. Dagegen ist es transzendenzontologisch nicht gerechtfertigt, daß wir jene korrekte Darstellung der Außenwirklichkeitsverhältnisse mit diesen letzteren selber identisch setzen und sie dementsprechend als ein ontologisch an sich bestehendes Gebilde auffassen, während sie in Wahrheit den Charakter einer nur für uns bestehenden gnoseologischen Wirklichkeit trägt. Infolge dieser Verwechselung gerät die Immanenzontologie in jene schon gekennzeichnete widerspruchsvolle Situation in der sie für eine und dieselbe von ihr als falsch erkannte Deutnngserfüllung zwei verschiedene ontologische Grundlagen annehmen muß. Will sie sich aus dieser Situation befreien, so muß sie die eine jener beiden Grundlagen verleugnen. In der Praxis des täglichen Lebens tun wir dies in der Tat. Wir verleilgnen hier nämlich das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen. Theoretisch aber ist gerade diese Verleugnung nicht durchführbar. Denn unsere Untersuchung der deutungserfüllten Wahrnehmung hat ergeben, daß uns eine Aufhebung aller gnoseologischen Momente in dieser letzteren zu dem ontologischen Bestände
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jener deutungslosen Empfindungen hinführt, und daß dieser Empfindungsbestand die tatsächliche ontologische Grundlage unserer Deutungserfüllungen bildet. Der von der Immanenzontologie eingeschlagene Weg ist also nicht gangbar. Die Transzendenzontologie schlägt den umgekehrten Weg ein. Sie leugnet, daß jene korrekte Deutungserfüllung den Charakter einer ontologischen Grundlage trägt und betrachtet die korrekte ebenso wie die für nicht korrekt befundene Deutungserfüllung als eine lediglich gnoseologische Wirklichkeit, die sich über dem ontologischen Bestände unserer deutungslos gegebenen Empfindungen erhebt. Daß diese transzendenzontologische Auffassung des Sachverhaltes im Unterschiede zu seiner falschen immanenzontologischen Auffassung zu Recht besteht, geht aus dem Verlaufe unserer Erörterungen hervor und wird in deren weiterem Verfolge immer klarer zutage treten. Zur Illustration der hier dargelegten Verhältnisse mag endlich noch ein Beispiel dienen, an dem das Wesen der von uns geschilderten Verwechselung zwischen gewissen Deutungserfüllungen und der ontologischen Grundlage anderer für falsch erkannter Deutungserfüllungen unmißverständlich zum Vorscheine kommt. Ich denke mir ein Zimmer, in dem ein Gemälde hängt, und zwar stelle dieses Gemälde einen Menschen dar, der in einen Spiegel schaut, dergestalt daß man auf dem Bilde seine Rückseite und das Spiegelbild seines Antlitzes erblickt. In diesem Falle hat nach transzendenzontologischer Auffassung alles, was ich sehe, das Zimmer, in dem das Gemälde hängt, die Gemäldedarstellung mit der Rückseite des Menschen und in ihr das Spiegelbild mit seinem Antlitze eine in einem und demselben Bezirke liegende ontologische Grundlage, nämlich das deutungslos Gegebene unserer Sichtempfindungen. Nach der immanenzontologischen, den Intentionen des Malers gerecht werdenden Auffassung der Sachlage dagegen findet hier eine eigentümliche Staffelung von Deutungserfüllungen statt, und zwar mit der Maßgabe, daß jede jeweils vorangehende Deutungserfüllung zugleich die Rolle einer ontologischen Grundlage für die ihr folgende Deutungserfüllung übernimmt. Dabei liegt diesem Verfahren das Prinzip zugrunde, daß alles, was aus dem naturgesetzlichen oder quasinaturgesetzlichen Rahmen der gerade in Frage stehenden gnoseologischen Wirklichkeit herausfällt, in dieser letzteren nur seine ontologische Grundlage hat, selbst aber eine neue gnoseologische Wirklichkeit bildet. Die hieraus hervorgehende Kette von Deutungserfüllungen hat ihr Vorbild in unserer immanenzontologischen Gepflogenheit einer Vertauschung zwischen gnoseologischen Wirklichkeiten und ontologischen
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Grundlagen. Der besondere Vorzug der hier geschilderten Verhältnisse aber liegt darin, daß sie das durch den Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt sonst verdeckte Schema einer solchen Vertauschung unzweideutig herausstellen. Das erkennt man, wenn man sich die Staffelung der in dem Gemälde erforderten Deutungen im Einzelnen klarmacht. Zunächst erweist sich dann das erschaute Bild des Antlitzes hinter dem Spiegel als eine zwar innerhalb der Gemäldedarstellung auftretende, über diese jedoch hinausgreifende und in sich selbständige gnoseologische Eigenwirklichkeit, deren ontologische Grundlage die gemalte Spiegelfläche bildet. Diese selbst aber sowie die Rückansicht jenes Menschen und was sonst noch in dem Gemälderaume zu erblicken ist, stellt ihrerseits wieder eine neue innerhalb unserer immanenten Wahrnehmungswelt auftretende und über diese hinausgreifende gnoseologische Eigenwirklichkeit dar, als deren ontologische Grundlage nunmehr die farbenbedeckte Leinewand gilt. Nach immanenzontologischer Auffassung ist diese letztere so, wie wir sie sehen, ein echter Außenwirklichkeitsbestand. Nach transzendenzontologischer Auffassung dagegen hat auch sie nur den Wert einer gnoseologischen Wirklichkeit, und die eigentliche ontologische Grundlage wie des Gemäldes so des Zimmers, in dem wir das Gemälde sehen, bildet das deutungslos Gegebene unserer Sichtempfindungen. Aus diesen Bezugsverhältnissen wird klar ersichtlich, auf welche Weise wir in einer Staffelung von Deutungserfüllungen das, was selbst eine gnoseologische Wirklichkeit ist, anderseits doch zu der scheinbaren ontologischen Grundlage einer weiteren gnoseologischen Wirklichkeit machen, während die wahre ontologische Grundlage aller dieser Deutungserfüllungen innerhalb eines und desselben Bezirkes unserer deutungslos gegebenen Sichtempfindungen liegt. Ueberall wo wir in der Praxis des täglichen Lebens den Erscheinungscharakter einer gnoseologischen Wirklichkeit durchschauen und an ihrer Stelle eine außenwirkliche ontologische Grundlage feststellen zu können glauben, liegt in Wahrheit eine solche Staffelung von Deutungserfüllungen auf der Grundlage unserer deutungslosen Sichtempfindungen vor. Daß unser wahrnehmendes Bewußtsein, so wie es uns aus unserer alltäglichen Erfahrung bekannt ist, keinen im eigentlichen Sinne ontologischen sondern einen nur gnoseologischen Wirklichkeitscharakter trägt, haben wir bisher lediglich an unseren Sichtbeständen dargelegt Es läßt sich aber auch für unsere Erfahrung aller nicht sichthaften Wahrnehmungen nachweisen. Dabei wollen wir, um die mit diesem Nachweise verbundene Problemlage nicht zu komplizieren, die an und
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für sich naheliegende Frage beiseite lassen, ob und inwieweit wir die nicht sichthaften Wahrnehmungsbestände inbezug auf ihre Dimensionalität und ihre Größe zum Zwecke unserer Deutungserfüllung in einer ähnlichen Weise umgestalten wie die Sichtbestände. Es wäre denkbar, und innerhalb gewisser Grenzen ist es sogar wahrscheinlich, daß wir auch hier flächenhafte Bestände als räumliche und kleinere Bestände als größere auffassen. Aber nehmen wir einmal an, dies wäre nicht der Fall, sondern wir faßten in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung alle nicht sichthaften Bestände in eben derselben Gestalt und Größe auf, die sie auch in ihrem deutungslosen Zustande haben. Nichtsdestoweniger würden wir auch dann kraft unserer gnoseologischen Deutungserfüllung den ontologischen Eigenbestand dieser nicht sichthaften Bestände verkennen. Wir verlegen sie nämlich, der früher geschilderten Strukturanlage unserer immanenten Wahrnehmungswelt entsprechend, in die peripheren oder ultraperipheren Bezirke unserer Sichtwirklichkeit und schreiben ihnen damit erstens eine andere Räumlichkeit und zweitens in dieser eine andere Lage als diejenige zu, die sie nach ihrem ontologischen Eigenbestande besitzen. Denn in ihrer deutungslosen Gegebenheit haben jene Bestände keine sichträumliche Beschaffenheit sondern eine Raumnatur von anderer Art. Und in dieser ihrer anderen Räumlichkeit, die, wie wir später sehen werden, zu dem Räume der transzendenten Außenwirklichkeit gehört, haben sie keine periphere oder ultraperiphere sondern eine zentrale Lage. Wir mögen daher die nicht sichthaften Wahrnehmungsbestände in allem übrigen nach ihrer deutungslosen Beschaffenheit als bekannt betrachten: ihre Raumnatur und ihre räumliche Lage ist uns nur nach der inadäquaten Form bekannt, mit der sie in unserer gnoseologisch erdeuteten Wirklichkeit auftreten. Dagegen bleibt uns diejenige Raumnatur und diejenige Lage, die ihrem ontologischen Eigenbestande zukommt, unbekannt. Wie unsere Tastwahrnehmungen, Schälle, Gerüche, Wärmeempfindungen, Schmerzen usw. räumlich beschaffen sind, und wie sie liegen, wenn wir von ihrer Hineinverlegung in den Raum unserer immanenten Sichtwirklichkeit absehen und nach ihren ontologischen Grundlagen fragen, das vermögen wir aus der Erfahrung unseres wahrnehmenden Bewußtseins nicht anzugeben. Unter diesen Umständen kennen wir auch im Hinblicke auf unsere nicht sichthaften Wahrnehmungsbestände immer nur dasjenige, was unsere Bewußtseinswirklichkeit nach ihrem ontologischen Eigenbestande nicht ist. Dagegen kennen wir nicht das, was sie ist. Die Frage nach der zentralen Lage nicht nur der hier behandelten nicht sichthaften Wahrnehmungen sondern aller Bewußtseinsbestände
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überhaupt wird uns noch in einem späteren Zusammenhange beschäftigen. Daher wollen wir uns nach dieser Hinsicht mit der vorläufigen Feststellung begnügen, daß unseren nicht sichthaften Wahrnehmungsbeständen in ihrer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit die periphere oder ultraperiphere Lage, die wir ihnen in deutungserfüllter Wahrnehmung beilegen, nicht zukommt. Wir beschränken uns also im Folgenden unter vorläufiger Ausschaltung dieser Lageverhältnisse auf die allgemeinere Frage nach dem Unterschiede zwischen unserer gnoseologischen Wahrnehmung jener Bestände und der ontologischen Beschaffenheit ihrer Raumnatur überhaupt. Eine Beobachtung der für die Beantwortung dieser Frage maßgebenden Situationen zeigt uns dann, daß bei den nicht sichthaften Wahrnehmungsbeständen unser soeben geschildertes Nichtwissen um ihre ontologische Bewußtseinswirklichkeit ein anderes Gepräge trägt als bei unseren Sichtwahrnehmungen. Während nämlich das deutungslos Gegebene der letzteren in ihrer Deutungserfüllung selber verwertet wird und sich daher aus dieser in der von uns beschriebenen Weise durch Aufhebung alles Hinzugedachten und Umgedachten ermitteln läßt, befinden wir uns inbezug auf die Raumnatur der nicht sichthaften Bestände in einer schwierigeren Situation. Denn die Eigenräumlichkeit dieser letzteren ist in der Deutungserfüllung unserer Wahrnehmungen nicht mitenthalten. Sie wird hier vielmehr durch einen sichthaften Gegenwert ersetzt, der an die Stelle der nicht sichthaften Raumbeschaffenheit tritt und die letztere restlos verdrängt. Diese eigentümliche Art der gnoseologischen Verdrängung des ontologisch Vorhandenen ist für die Struktur des uns erfahrbaren Bewußtseins auch sonst charakteristisch und wird uns in dem weiteren Verlaufe dieser Erörterung noch mehrfach begegnen. In unserem Falle ist es einer solchen gnoseologischen Verdrängung zu verdanken, daß die eigene Raumbeschaffenheit der nicht sichthaiten Wahrnehmungsbestände in dem uns erfahrbaren Gebiete unseres Bewußtseins überhaupt nicht zu Geltung kommt. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man nur den Versuch zu machen, einen beliebigen nicht sichthaften Wahrnehmungsbestand auf seine Raumbeschaffenheit hin zu beobachten. Ich lege zB. meine flache Hand auf die Tischplatte. Daß die dabei erlebten Tastwahrnehmungen flächenhaft sind und jedenfalls nicht als unräumlich betrachtet werden können, unterliegt keinem Zweifel. Und es gilt uns in der Praxis des täglichen Lebens als selbstverständlich, daß sie sich in unserem Sichtraume befinden. Denn sie sind nach immanenzontologischer Auffassung da, wo ich meine Hand sehe, und scheinen dem-
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entsprechend die Raumgestalt der dort sichthaft vorliegenden Berührungsfläche zu haben. Unsere früheren Untersuchungen haben uns aber gezeigt, daß diese uns selbstverständlich dünkende Auffassung des Sachverhaltes theoretisch nicht haltbar ist. Denn eine Sichtwahrnehmung der Tastbestände ist grundsätzlich ausgeschlossen, und wäre sie möglich, dann wäre es immer noch ausgeschlossen, daß ein Sichtund ein Tastbestand als zwei verschiedene ontologisch in sich eindeutige Gebilde zu derselben Zeit und in derselben Hinsicht an einer und derselben Stelle eines und desselben Raumes liegen. Dieser eine, der sichthafte Raum ist aber kraft seiner lückenlosen Vollständigkeit und Unendlichkeit der einzige, der uns für unsere deutungserfüllte Wahrnehmung und damit für die gnoseologische Wirklichkeit unseres wahrnehmenden Bewußtseins zur Verfügung steht. Daher kommt hier eine andere als jene sichthafte Räumlichkeit für unsere Tastbestände auch nicht in Betracht. Und doch müssen diese letzteren, wie wir soeben gesehen haben, eine andere nicht sichthafte Raumnatur besitzen. Wir haben daher anzunehmen, daß diese ihre eigene ontologische Raumnatur durch die ihnen gnoseologisch zugeschriebene Sichträumlichkeit aus dem Bereiche unserer Erfahrung verdrängt worden ist. Dabei ist es für das nur gnoseologische und nicht ontologische Wesen dieser Verdrängung charakteristisch, daß wir jene Tastempfindungen zwar mit Sicherheit an der bezeichneten Stelle unterbringen, trotzdem aber, sobald wir uns die Frage ihrer Lokalisation ernstlich vorlegen, die Unmöglichkeit einer solchen Unterbringung auch von dem Standpunkte unserer Wahrnehmung selbst zugeben müssen. Das gilt nun aber nicht nur für unsere Tastbestände sondern entsprechend auch für alle übrigen nicht sichthaften Wahrnehmungsgebilde, die wir in unsere Sichtwirklichkeit hineinverlegen. Auch bei ihnen ist es grundsätzlich ausgeschlossen, daß sie in ihrem ontologischen Eigenbestande an derselben Raumstelle liegen wie die ihnen zugeordneten Sichtbestände, also die mehrdeutige und in sich widerspruchsvolle Raumstruktur aufweisen, die wir ihnen in der Gnoseologie unseres wahrnehmenden Bewußtseins zuschreiben. Vielmehr haben wir vorauszusetzen, daß sie ebenfalls eine von unserer deutungserfüllten Wahrnehmung abweichende eigene, nicht sichthafte Raumnatur besitzen, und daß bei allen diesen Beständen der mehrdeutigen und in sich widerspruchsvollen Situation, die sich unserer gnoseologischen Bewußtseinswirklichkeit darbietet, eine andere eindeutige und in sich widerspruchslose Situation zugrundeliegt, die zu unserer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit gehört.
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Nachalledem kommen wir zu dem Ergebnisse, daß unser eigenes Bewußtsein so, wie wir es aus der Erfahrung kennen, nicht nur im Hinblicke auf seine Sichtbestände sondern auch im Hinblicke auf seine nicht sichthaften Wahrnehmungen den Charakter einer nur gnoseologischen Wirklichkeit trägt, und daß hier wie dort der ontologische Bestand unseres Bewußtseins ein anderer ist als der, den wir kennen, wobei sich dieser sein ontologischer Bestand für die Räumlichkeit unserer nicht sichthaften Wahrnehmungsbestände im Unterschiede zu der Räumlichkeit der Sichtbestände aus unserer deutungserfüllten Bewußtseinswirklichkeit auch nicht ermitteln läßt. Die Eigenart dieser Lage macht sich geltend, wenn wir in unserer sichthaften Wahrnehmungswelt, in der wir die nicht sichthaften Bestände unterzubringen pflegen, alle jene schon gekennzeichneten Strukturen, die wir kraft gnoseologischer Deutungserfüllung zu unseren Empfindungen hinzugedacht und an ihnen umgedacht haben, in Gedanken wieder rückgängig machen. Wir gelangen dann lediglich zu der mehrfach von uns beschriebenen Sichtfläche und finden auf dieser an demselben Orte wie die Sichtbestände und mit ihnen konkurrierend auch unsere nicht sichthaften Wahrnehmungsgegebenheiten. Zugleich machen sich in dieser Bestandverknüpfung eigentümliche Komplikationen geltend, deren strukturelles Wesen uns jetzt aber nicht näher beschäftigen soll. Denn uns kommt es hier auf etwas anderes an, nämlich darauf, daß wir auch dann, wenn wir in der geschilderten Weise auf das deutungslos Gegebene unserer Walirnehmungswelt zurückgehen, im Hinblicke auf die nicht sichthaften Bestände keineswegs zu einem eindeutigen, in sich widerspruchslosen und daher als ontoIogisch anzusprechenden Grundbestande unseres Bewußtseins gelangen, sondern vielmehr eine Situation vorfinden, in der sich ähnlich wie in unserer gnoseologischen Wahrnehmungswelt die sichthaften und die nicht sichthaften Bestände dieselben Raumstellen streitig machen. Das aber heißt, daß nach dieser Hinsicht auch das sonst deutungslos Gegebene unserer Wahrnehmungen noch nicht deren ontologische Bewußtseinswirklichkeit darstellt, sondern daß infolge der von uns geschilderten Verdrängung des ontologisch Vorhandenen auch dieser für uns ermittelbare Grundbestand unseres Bewußtseins noch einen gnoseologischen Einschlag enthält, dessen Gegenstand eben jene verdrängte Eigenräumlichkeit der nicht sichthaften Bestände ist. Die gnoseologische Umdeutung dieser letzteren liegt also tiefer als die der Sichtbestände. Wir werden in einem späteren Teile unserer Untersuchungen sehen, welche nähere Bewandtnis es hiermit hat. Zugleich wird es sich
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dort offenbaren, daß unsere sichthaften und die nicht sichthaften Wahrnehmungsbestände inbezug auf ihre Raumbeschaffenheit zwar unter bestimmten, nicht aber unter allen Umständen miteinander inkommensurabel sind. Was wir hier für die nur gnoseologische Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungsbestände dargelegt haben, gilt in einem ähnlichen Sinne auch für die Bewußtseins Wirklichkeit unserer Vorstellungen. Auch diese sind wie unsere Wahrnehmungen dem erlebniseinheitlichen Bezirke unseres Bewußtseins unmittelbar gegenwärtig und unterscheiden sich dadurch von den nur in unserem gnoseologischen Bereiche liegenden Beständen, die wir als abwesende meinen. Aber wie jene Wahrnehmungen, so werden auch diese Vorstellungen nicht in ihrem ontologischen Eigenbestande sondern nur in ihrer gnoseologischen Verhüllung von uns erfahren. Denn alle jene Methoden der Deutungserfüllung, die wir bei unseren sichthaften und nicht sichthaften Wahrnehmungsbeständen kennen gelernt haben, treten, wie aus unseren früheren Erörterungen über die immanenzontologische Verwendung der peripheren und ultraperipheren Deutungen hervorgeht, auch unseren Vorstellungen gegenüber in Kraft. Das gilt zunächst für diejenigen Vorstellungen, die eine unseren Wahrnehmungen gleichgeartete Beschaffenheit zeigen, also zB. für unsere Träume, für Halluzinationen, für die Anschauungsbilder der Eidetiker usw. Alle diese Vorstellungen weisen in ihrer Deutungserfüllung denselben mit hinzugedachten Ergänzungen und mit inneren Widersprüchen durchsetzten gnoseologischen Wirklichkeitscharakter auf wie unsere echten Wahrnehmungen. Sie werden zwar nicht wie die letzteren nach ihrem individualbegrifflichen Bestände für außenwirklich gehalten. Es ist das jedenfalls nicht notwendig. Wohl aber werden sie nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit, wie eine frühere Untersuchung gezeigt hat, von uns stets mit den als außenwirklich geltenden Wahrnehmungsbeständen auf eine Stufe gestellt und daher nach denselben Maßgaben wie diese von uns ausgedeutet. So kommt es, daß wir auch solche Vorstellungen immer nur in einer gnoseologischen Verkleidung erfahren, die nicht zu ihnen gehört, niemals dagegen in derjenigen ontologischen Bewußtseinswirklichkeit, die ihnen tatsächlich zukommt. Das Entsprechende gilt auch für die eigentlich sogenannten Vorstellungen, die dem normalen Erwachsenen in dem Alltagsleben geläufig sind, und die sich scheinbar von unseren Wahrnehmungen scharf unterscheiden. Wir werden diese letztere Art der Vorstellungen
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dahin interpretieren dürfen, daß sie in der Regel Begleiterscheinungen von rein gnoseologischen Meinungen sind, mit deren bewußtseinswirklicher Grundlage wir uns noch zu beschäftigen haben, und daß sie als solche Begleiterscheinungen schwache Ansätze zu Bildern darstellen, die in derselben Weise wie die originalen Wahrnehmungen, aber eben nur als Anfangsstadien dieser letzteren in unserem erlebniseinheitlichen Bezirke anwesend sind. Wenn ich mir jetzt in solcher Weise ein Landhaus vorstelle, so beweisen alle Eigenschaften, die ich diesem Vorstellungsbilde leibe, einschließlich der Eigenschaft, daß ich es mit einem nach der Tiefe ausgedehnten Sichtraume begäbe, daß mein Vorstellungsbestand in demselben Sinne wie das ihm etwa entsprechende echte Wahrnehmungsbild des Landhauses den Charakter einer nur gnoseologischen Wirklichkeit trägt. Das kommt zB. darin zum Ausdrucke, daß solche Vorstellungsbilder inbezug auf die ihnen zugedachten stofflichen und räumlichen Verhältnisse dieselben inneren Widersprüche aufweisen, die wir bei unseren echten Sichtwahrnehmungen kennen gelernt haben. Wir haben daher auch für diese Vorstellungen zwischen ihrer rein bewußtseinswirklichen, nur flächenhaft gegebenen ontologischen Grundlage und ihrer raumhaften, nach außenwirklichem Schema aufgebauten gnoseologischen Deutungserfüllung zu unterscheiden. Als ein für ihre nur gnoseologische Bewußtseinswirklichkeit charakteristischer besonderer Zug kommt außerdem zu allen unseren Vorstellungen noch hinzu, daß wir sie mit den früher geschilderten Vorbehalten mitten in den Sichtraum unserer Wahrnehmungswelt hineinzuverlegen pflegen, obwohl ihnen als diesseits der Ueberschneidung gelegenen Beständen eine solche Raumlokalisation auch in dem Rahmen der Immanenzontologie nicht zukommt. Es tritt hier also in anderer Form wieder jene Mehrdeutigkeit in die Erscheinung, die wir als charakteristisch für die Raumsystematik der gnoseologischen Wirklichkeiten erkannt haben. Dabei ist es für unsere Vorstellungsbilder typisch, daß wir uns bei ihnen auf Grund der früher von uns geschilderten Verhältnisse dieser besonderen Art des Widerspruches klar bewußt sind und sie dementsprechend nur als quasiaußenwirklich behandeln. Nicht minder typisch aber ist es für die Zwangslage, in der wir uns kraft des Erscheinungscharakters unserer Wahrnehmungswelt und ihrer Monopolisierung durch den Sichtraum befinden, daß wir unserer besseren Einsicht zuwider daran gebunden sind, unsere Vorstellungen in dem Räume der Sichtwirklichkeit auf solche Weise unterzubringen. Denn für unsere Erfahrung ist, wie wir früher gezeigt haben, dieser Raum der Ort aller derjenigen Bestände, die wir als in irgendeiner
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Weise zu unserer Wirklichkeit gehörig betrachten, ganz gleich ob sie in den Sichtraum hineinpassen oder nicht. Wir kommen nachalledem zu dem Ergebnisse, daß das, was wir für die gnoseologische Wirklichkeit unserer sichthaften und nicht sichthaften Wahrnehmungen dargelegt haben, in einem ähnlichen Sinne auch für unsere Vorstellungen gilt. Bedenkt man nun, daß der gesamte in dem Bezirke der Erlebniseinheit anwesende Bestand unseres Bewußtseins, insoweit er nach seiner inhaltlichen Beschaffenheit in den Bereich unserer Erfahrung tritt, ausschließlich aus solchen Wahrnehmungen und Vorstellungen besteht, so erkennt man, daß dieser gesamte uns inhaltlich bekannte Bewußtseinsbestand lediglich einen gnoseologisch und nicht einen ontologisch wirklichen Charakter trägt. Das haben wir in dem Rahmen des hier vorliegenden Kapitels zunächst nur an dem simultanen Zusammenhange der in unserem Bewußtsein anwesenden erlebniseinheitlichen Bestände nachweisen können. In Ergänzung hierzu werden wir uns in einem späteren Kapitel mit einer verwandten und doch wieder andersartigen Gnoseologie beschäftigen, die mit unserer sukzessiven Erfassung der erlebniseinheitlichen Bestände zusammenhängt, und auf der die nur gnoseologische Wirklichkeit des uns erfahrbaren Bewußtseins ebenfalls beruht. Wie es sich damit nun aber auch verhalten mag, in jedem Falle geht schon aus unseren bisherigen Erörterungen hervor, daß uns in dem Rahmen der Erfahrung die eigentliche, nämlich die ontologische Wirklichkeit unseres eigenen Bewußtseins nach ihrer inhaltlichen Beschaffenheit unbekannt bleibt. Dieses Ergebnis steht zu einer weit verbreiteten Auffassung des Sachverhaltes in einem gewissen Gegensatze. Es wird nämlich häufig behauptet, daß es keine Bestände gäbe, deren Wirklichkeit gewisser sei als die Wirklichkeit unserer eigenen Bewußtseinsbestände. Die letzteren, so argumentiert man, seien die einzige Wirklichkeit, die wir in ihrer unmittelbaren Gegenwart zu erfassen vermöchten. Und in Verbindung mit diesem Argumente pflegt man weiter darauf hinzuweisen, daß bei jeder Erscheinung dasjenige, was erscheint, unter allen Umständen etwas Wirkliches sein müsse. Denn sonst könne es nicht erscheinen und damit in dem erlebniseinheitlichen Bezirke unseres Bewußtseins anwesend sein. In diesen Argumentationen steckt etwas Richtiges. Aber sie geben zu naheliegenden Mißverständnissen Anlaß und bedürfen der Ergänzung. Es trifft nämlich ohne Zweifel zu, daß die in unserem Bewußtsein anwesenden Bestände nicht erfahren werden könnten, wenn 21
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sie nicht wirklich wären, und daß daher auch alles, was wir als Erscheinung betrachten, in irgendeinem Sinne seine Wirklichkeit haben muß. Nicht aber ist damit schon gesagt, daß diese Bestände in ihrer eigenen Wirklichkeit auch diejenigen Beschaffenheiten haben müßten, die wir an ihnen zu erfahren glauben. Im Gegenteile, wenn die von uns als Erscheinungen erkannten Bewußtseinsbestände in ihrer Eigenwirklichkeit diejenigen Beschaffenheiten hätten, die wir ihnen in unserer Wahrnehmung zuschreiben, dann wären sie eben keine Erscheinungen in dem früher» von uns erläuterten Sinne dieses Wortes. Denn zu dem Begriffe einer solchen Erscheinung gehört es, daß dasjenige, was erscheint, seiner eigenen Wirklichkeit nach und zwar nicht sowohl in individualbegrifflicher als gerade in allgemeinbegrifflicher Hinsicht etwas anderes ist als dasjenige, wofür es gehalten wird. Das gilt auch für die Bewußtseinswirklichkeit unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen, wenn diese ihrer transzendenzontologischen Auffassung entsprechend als Erscheinungen zu betrachten sind. Sie sind dann ohne Zweifel wirklich. Aber in dem eigentlichen ontologischen Sinne des Wortes kommt diese ihre Wirklichkeit nur denjenigen individualbegrifflich mit ihnen identischen, allgemeinbegrifflich aber von ihnen verschiedenen Bestandgefügen zu, die wir als ihre in sich widerspruchsfreie eindeutige ontologische Grundlage und damit zugleich als das allein Bewußtseinswirkliche an den in unserer Erfahrung auftretenden und gnoseologisch verbrämten Wahrnehmungen und Vorstellungen erkannt haben. Dagegen kommt diesen gnoseologisch verbrämten Gebilden selbst, da ihre Beschaffenheit so, wie sie von uns erfahren wird, den Charakter einer Erscheinung trägt, dh. in Wirklichkeit etwas anderes ist als das, wofür wir sie halten, keine Wirklichkeit in dem eigentlichen Sinne eines ontologischen und von unseren Urteilsmeinungen unabhängigen Ansichbestandes zu. Sie sind vielmehr, insoweit sie von ihrer ontologischen Grundlage abweichen, nur gedachte und nicht tatsächlich vorhandene Gebilde. Wenn daher aus gewissen philosophischen Erwägungen heraus die Frage aufgeworfen ist, ob wir überhaupt berechtigt seien, von dem deutungslos Gegebenen als von etwas an sich Wirklichem zu sprechen, da doch in unserer Bewußtseinswirklichkeit immer nur die deutungserfüllte Wahrnehmung erfahren werde und das deutungslos Gegebene ein bloßes Abstraktionsprodukt daraus bilde, so antworten wir hierauf, daß diese Fragestellung auf einer falschen Auffassung von der Wirklichkeit unseres Bewußtseins beruht. Denn die Wirklichkeit dieses letzteren ist mit dem, was wir von ihm in der Erfahrung zu erfassen glauben, eben nicht identisch. In Wahrheit ist, wie wir ge-
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sehen haben, die angeblich von uns erfahrene Bewußtseinswirklichkeit kein in sich einheitlicher und rein ontologischer Bestandkomplex, wie es der Fall sein müßte, wenn jene Fragestellung zu Recht bestünde; sondern sie stellt ein Ineinanderübergreifen zweier gegenstandstheoretisch verschiedener Feldgebiete dar, von denen nur das eine einen ontologischen Wirklichkeitscharakter trägt, während das andere dem gnoseologischen Bereiche der lediglich gedachten Gebilde angehört. Auf Grund dieses Sachverhaltes kommen wir zu einer Antwort, die dem Sinne jener Fragestellung entgegengesetzt ist. Wir behaupten nämlich nicht nur, daß das deutungslos Gegebene unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen in der Tat wirklich ist; sondern wir fügen außerdem noch hinzu, daß ihnen allein eine solche Wirklichkeit zukommt, und daß unsere deutungserfüllte Wahrnehmung, insoweit ihre Deutungserfüllung in Betracht kommt, obwohl wir die letztere in ihrer unmittelbaren Gegenwart zu erfahren glauben, dennoch keinen Anspruch darauf hat, als bewußtseinswirklich in dem eigentlichen und ontologischen Sinne dieses Wortes zu gelten. Unsere Erfahrung und die Wirklichkeit unseres Bewußtseins lassen sich also nicht ohne weiteres miteinander identisch setzen; vielmehr greift in unserem Falle die erstere mit ihren gnoseologischen Einschlägen über den ontologischen Bestand der letzteren hinaus. Zugleich sei darauf hingewiesen, daß uns die Annahme, nur unser deutungserfülltes Bewußtsein sei wirklich, das deutungslos Gegebene dagegen sei ein unwirkliches Abstraktionsprodukt, angesichts der hier dargelegten Verhältnisse vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellen würde. Denn wir würden dann erstens nachzuweisen haben, wie es möglich sei, daß etwas Wirkliches in sich selbst mehrdeutig und widerspruchsvoll ist. Und es würde zweitens von uns aufgeklärt werden müssen, in welchem Verhältnisse das für nicht wirklich gehaltene deutungslos Gegebene zu der für wirklich gehaltenen deutungserfüllten Wahrnehmung steht. Daß die erste dieser beiden Aufgaben unlösbar ist, geht schon daraus hervor, daß eine Eindeutigkeit und innere Widerspruchsfreiheit zu unserer Begriffsbestimmung der wirklichen Bestände gehört. Aber auch die zweite Aufgabe läßt sich nicht lösen. Jeder Versuch in dieser Richtung führt vielmehr zu Widersinnigkeiten. Das gilt zB. schon von der Frage, was denn unter der Unwirklichkeit des deutungslos Gegebenen zu verstehen sei. Wie kann dasjenige unwirklich sein, was den Gegenstand niederer Ordnung bildet, über dem sich das angeblich Wirkliche erhebt, und ohne das auch dieses letztere nicht vorhanden wäre? Oder, um eine andere Frage herauszugreifen, wenn in unserer deutungserfüUten Wahrnehmung 21*
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als einer angeblich echten Wirklichkeit die von dem Inneren unseres Zimmers aus erblickten Häuser, Bäume und Wolken größer sind als der Fensterrahmen, wie erklären wir dann von dieser Wirklichkeit aus die Tatsache, daß wir alle jene Gebilde innerhalb des Fensterrahmens sehen? Diese letztere Tatsache gehört nicht zu der deutungserfüllten Wahrnehmung, der sie vielmehr widerspricht, sondern zu dem für unwirklich erklärten deutungslos Gegebenen unserer Sichtempfindungen, läßt sich aber, wie das auch für andere Fälle dieser Art gilt, nichtsdestoweniger innerhalb der deutungserfüllten Wahrnehmung selber nachweisen. Kurzum: welche Frage man auch stellen mag, immer wieder stößt man auf ungereimte und unlösbare Probleme, sobald man die deutungserfüllte Wahrnehmung für das Wirkliche hält und aus ihrer Wirklichkeit das deutungslos Gegebene als etwas Unwirkliches verständlich machen will. Dagegen werden alle diese Probleme sinnvoll und lösbar, sobald wir den umgekehrten Weg einschlagen und in der von uns beschriebenen Weise das deutungslos Gegebene als das eigentlich Wirkliche, die Deutungserfüllung dagegen als etwas in diesem Sinne nicht Wirkliches, sondern nur Gedachtes betrachten. Das zu zeigen war die Aufgabe unserer bisherigen Erörterungen. Aber auch diese letzteren lassen gewisse Probleme noch ungeklärt und zwar vor allem das eine, dessen unrichtige Auffassung uns immer wieder dazu verführt, unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen mit Einschluß ihrer Deutungserfüllung für bewußtseinswirklich in dem ontologischen Sinne dieses Wortes zu halten. Wenn nämlich die Deutungserfüllung unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen nur gnoseologisch ist und somit in einem anderen gegenstandstheoretischen Feldgebiete liegt als die ontologische Gegebenheit der deutungslosen Empfindungen, so erhebt sich nunmehr die Frage, wie es dann möglich ist, daß wir trotzdem solche Bestände in ihrer vollen Deutungserfüllung als etwas uns unmittelbar und konkret Vorliegendes zu erleben glauben. Um dies zu verstehen, müssen wir unsere Einsicht in die Beziehungen zwischen der Gnoseologie und der Ontologie unseres Bewußtseins noch weiter vertiefen. Zu diesem Zwecke wenden wir uns zunächst zu den Strukturverhältnissen, die für unser Bewußtsein maßgebend sind, wenn wir an abwesende Bestände denken. Dabei bezeichnen wir als abwesend alles dasjenige, was nicht in dem ontologischen Bezirke unseres denkenden Bewußtseins vorhanden ist. Nur hierauf kommt es für den Begriff einer Abwesenheit von gedachten Beständen an. Dagegen ist es für diesen Begriff gleichgültig, ob die auf solche Weise von
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uns abwesenden Bestände an sich selbst wirkliche oder nur erdachte sind, ob sie konkret sind oder nur allgemeinbegrifflich, und ob wir uns ihresgleichen vorstellen können oder nicht. Denn durch diese letzteren Unterscheidungen wird zwar die besondere Art, nicht aber die allgemeine Tatsache einer Abwesenheit solcher gedachten Bestände von unserem denkenden Bewußtsein betroffen. Das grundsätzliche Wesen unseres Denkens an abwesende Bestände und die dabei waltenden Beziehungen zwischen der Ontologie und der Gnoseologie unseres Bewußtseins haben wir schon in einem früheren Zusammenhange kennen gelernt. Diese Beziehungen unterscheiden sich von den Strukturverhältnissen, die für unsere Erfassung von anwesenden Beständen, also zB. für unsere auf anwesenden Empfindungen beruhenden deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen maßgebend sind, dadurch daß der abwesende Bestand, an den wir denken, mit keinem Bestände innerhalb der Grenzen unseres ontologischen Bewußtseinsbezirkes identisch ist, sondern jenseits dieser Grenzen und lediglich in unserer gnoseologischen Reichweite liegt. Hieraus ergibt sich für die Frage nach der Bewußtseinszugehörigkeit der von uns gemeinten abwesenden Bestände eine eigentümliche Situation. Denn offenbar gehört zu der Wirklichkeit unseres Bewußtseins nur dasjenige, was innerhalb seiner ontologischen Grenzen, also in dem Bereiche unserer eigenen Wirklichkeitssphäre auftritt. In diesem Bereiche aber treten die von uns gemeinten abwesenden Bestände, da sie abwesend sind, nicht auf. Sie können daher, obwohl sie von uns gemeint werden, nicht zu der Wirklichkeit unseres sie meinenden Bewußtseins gehören. Dementsprechend können sie auch weder eine ontologische Bewußtseinswirklichkeit haben wie unsere deutungslos gegebenen Empfindungen, noch eine ontologisch fundierte gnoseologische Bewußtseinswirklichkeit wie unsere deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen. Vielmehr müssen sie als rein gnoseologische Gebilde ohne Bewußtseinswirklichkeit betrachtet werden. Angesichts dieser eigentümlichen Situation erheben sich für uns drei Fragen. Nämlich erstens die: was eine solche rein gnoseolologiache und auf keine Weise bewußtseinswirkliche Seinsform gemeinter Bestände sei. Mit dieser Frage werden wir uns in einem späteren Kapitel des vorliegenden Buches zu beschäftigen haben. Zweitens fragt es sich: was in unserer Bewußtseinswirklichkeit an der Stelle der in ihr nicht vorhandenen und nur gnoseologisch gemeinten Bedeutungsgehalte stünde und diese gewissermaßen fundiere. Denn daß etwas derartiges vorhanden sein muß, ist offenbar, da wir die
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von uns abwesenden Bestände nicht meinen könnten, wenn nicht irgend etwas Wirkliches in unserem Bewußtsein anwesend wäre, kraft dessen wir sie meinen. Und endlich würde es sich drittens fragen: welches besondere Bezugsverhältnis zwischen jenem gnoseologischen Bedeutungsgehalte unserer Meinungen und dieser ihrer ontologischen Grundlage in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins walte. Auch auf diese letztere Frage werden wir erst in einem späteren Zusammenhange eingehen können. Dagegen soll uns die zweite Frage schon hier beschäftigen. Wir können, um uns die Lage zu vergegenwärtigen, auf gewisse schon früher von uns benutzte Beispiele nochmals zurückgreifen. Der von uns gemeinte abwesende Bestand sei Walther von der Vogelweide oder die Insel Ceylon; er sei die uns unvorstellbare transzendente Außenwirklichkeit; er sei als ein nur gedachtes, aber konkretes und vorstellbares Gebilde Goethes Faust oder als ein ebenfalls nur gedachtes, zugleich aber abstraktes und unvorstellbares Gebilde der Bedeutungsgehalt einer algebraischen Gleichung. In allen diesen Fällen ist das, was von uns gemeint wird, ein räumlich, zeitlich, ontologisch oder gegenstandstheoretisch von dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins abwesender und uns nur gnoseologisch zugänglicher Bestand. Ist das aber der Fall, so muß in unserem Bewußtsein auf der anderen Seite irgendetwas vorhanden sein, kraft dessen wir als ontologische Wesen hier und jetzt die von uns abwesenden Bestände meinen. Denn wenn auch nicht das, woran wir denken, in unserem Bewußtsein wirklich auftritt, so tritt doch unser Denken selber als etwas Wirkliches in ihm auf. Es würde sich also fragen: was ist das in unserem Bewußtsein Anwesende, das als ontologische Funktion unser Meinen der von uns gedachten abwesenden Bestände vollzieht? Gehen wir dieser Frage nach, so finden wir in vielen Fällen, in denen wir an abwesende Bestände denken, eine Situation vor, die geeignet ist, uns über die wahre Sachlage hinwegzutäuschen. Es pflegen sich nämlich in diesen Fällen als Vertreter der von uns gemeinten abwesenden Bestände gewisse mit ihnen mehr oder minder verwandte Vorstellungen in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke einzustellen. So mag, um unsere Beispiele wiederaufzunehmen, die bekannte Miniatur Walthers auf dem Steine oder das Bild der Hafenstadt Colombo auf Ceylon vor uns aufsteigen; oder wir mögen uns die an sich unvorstellbare transzendente Außenwirklichkeit in anschaulicher Symbolik vergegenwärtigen; oder wir können die Gestalt des Faust vor uns sehen, wie sie sich über das Buch des Nostradamus beugt; oder wieder wir mögen die Buchstabenzeichen jener algebrai-
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sehen Gleichung vor Augen haben. Es unterliegt keinem Zweifel, daß solche Vorstellungen, wenn wir an abwesende Bestände denken, für unser meinendes Bewußtsein eine erhebliche Rolle spielen. Und jeder von uns weiß aus eigener Erfahrung, daß wir in einer ungenauen Einschätzung des Sachverhaltes ein solches Vorstellen und unser eigentliches Denken häufig miteinander identisch setzen. Dennoch ist offenbar, daß beides grundsätzlich voneinander verschieden ist. Das geht schon daraus hervor, daß die eigentlich von uns gemeinten abwesenden Bestände mit den in unserem Bewußtsein anwesenden Vorstellungen in keinemFalle individualbegrifflich identisch sein können, and daß sie von diesen letzteren außerdem in vielen Fällen auch nach allgemeinbegrifflicher Hinsicht verschieden sind. So hat zB. der von uns gemeinte historische Walther von der Vogelweide, ganz abgesehen davon, daß er in unserem denkenden Bewußtsein nicht anwesend ist, möglicherweise auch anders ausgesehen, als so, wie wir ihn uns auf Grund jener Miniatur vorstellen; und sicher kommt der transzendenten Außenwirklichkeit, auch abgesehen von ihrer Transzendenz, die anschaulich vorstellbare Symbolik nicht zu, an der wir uns ihre Struktur klarmachen mögen. Es ist nachalledem ein Irrtum, wenn wir den Bedeutungsgehalt unserer Meinungen über abwesende Bestände gelegentlich mit den Vorstellungen verwechseln, an denen wir uns jene Bestände veranschaulichen. Denn in Wahrheit sind diese Vorstellungen weder der tatsächlich von uns gemeinte Gegenstand, noch sind sie etwa mit unseren meinenden Denkakten identisch, noch auch bilden sie sonst eine als irgendwie konstitutiv zu betrachtende Grundlage für unsere Gedanken. Diese grundsätzliche Unabhängigkeit unseres Denkens von unserem Vorstellen zeigt sich unter anderem auch darin, daß wir einen großen Teil dessen, was wir denken, ohne Vorstellungen zu erfassen pflegen. Hierher gehört zB. unser sinnvolles Verständnis vieler Einzelwendungen, deren wir uns in der Satzfolge unserer Sprache bedienen. So haben wahrscheinlich die meisten Leser den soeben vorangegangenen Satz adäquat verstanden, ohne daß ihnen dabei eine Vorstellung zu Hilfe gekommen wäre. Trat diese aber dennoch auf, so mußte — und das gilt für jedes verstehende Denken schlechthin — erst der Satz annähernd verstanden werden, dh. sein in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins nicht realisierbarer Bedeutungsgehalt gnoseologisch erfaßt sein, bevor sich eine solche Vorstellung geltend machen konnte. Denn eine Vorstellung, die den von uns gemeinten Gegenstand veranschaulichen soll, kann immer erst eintreten, wenn wir über den zu veranschaulichenden Gegenstand selbst bescheid wissen.
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Nachalledem gleicht das Verhältnis zwischen den in unserem gnoseologischen Bereiche liegenden Gedankengehalten und den in unserem ontologischen Bezirke auftauchenden Vorstellungen dem verwandten Verhältnisse zwischen dem Sinngehalte eines Buchtextes und seinen mehr oder minder phantasievollen Illustrationen. Jener Sinngehalt wäre an und für sich auch in einer reinen Textwiedergabe verständlich. Dh. er ist grundsätzlich von seinen Illustrationen unabhängig. Aber diese erleichtern uns das Verständnis des Textes, indem sie seinen Bedeutungsgehalt, der von dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins abwesend ist und nur gnoseologisch erfaßt werden kann, durch wahrnehmbare und also in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins selbst auftretende Bilder anschaulich machen. In demselben Sinne ist der Bedeutungsgehalt unserer Gedanken über abwesende Bestände von den Vorstellungen unabhängig, die uns dabei auftauchen. Aber diese Vorstellungen erleichtern uns die gnoseologische Bewältigung unserer Gedanken, indem sie den von uns abwesenden Bedeutungsgehalt dieser letzteren durch mehr oder minder verwandte in unserem Bewußtsein anwesende Gebilde illustrieren. Es geht aus dieser Sachlage deutlich hervor, daß die von uns gesuchte ontologische Grundlage für unsere Gedanken über abwesende Bestände nicht in den sie etwa illustrierenden Vorstellungen gefunden werden kann, so eng im übrigen die Beziehungen zwischen diesen Vorstellungen und unseren Gedanken sein mögen. Forschen wir nun in unserem Bewußtsein nach, welche anderen ontologisch zu ihm gehörenden Bestände als jene Grundlage angesprochen werden könnten, so geraten wir in eine Verlegenheit. Wir finden nämlich in unserer Erlebniseinheit neben den gnoseologisch von uns erfaßten Bedeutungsgehalten keinen besonderen ontologischen Bestand vor, der unserer Suche zu genügen vermöchte. Es scheint daher so, als ob die von uns gesuchte ontologische Grundlage für unsere Meinungen über abwesende Bestände in unserem Bewußtsein überhaupt nicht vorhanden wäre. Das können wir uns an einem Beispiele vergegenwärtigen. Jemand nennt uns bei einer Kreisberechnung unter anderem die Zahl f . Wir verstehen, was er meint. Denn der Bedeutungsgehalt dieser Zahl ist uns bekannt. Jedoch ist dieser Bedeutungsgehalt als ein spezifisch allgemeinbegriffliches und uns nur gnoseologisch erreichbares Gebilde in dem konkreten ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins nicht anwesend und kann es auch nicht sein. In diesem anwesend ist nur Konkretes, nämlich in unserem Falle das akustische Wortbild der gesprochenen Zahl und etwa eine Vorstellung des griechischen
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Buchstabens n oder der arabischen Ziffer 3,1416. Nun bildet weder jenes Wortbild noch, wie wir gesehen haben, diese Vorstellung die von uns gesuchte ontologische Grundlage unseres Denkens. Anderseits aber finden wir außer den hier genannten Faktoren in unserem erlebniseinheitlichen Bewußtseinsbereiche nichts, was wir als jene Grundlage betrachten könnten. Es liegt also der Schluß nahe, daß diese Grundlage in unserem Bewußtsein überhaupt nicht vorhanden sei. Dieser Schluß liegt nahe. Er ist auch gelegentlich gezogen worden. Aber er ist nicht zutreffend. Das geht schon daraus hervor, daß alle gnoseologischen Bedeutungsgehalte als solche den Charakter von Gegenständen höherer Ordnung, also von solchen Gegenständen tragen, die nicht in sich selbständig sind, sondern sich über anderen Beständen aufbauen. Die letzteren Bestände aber sind, wie schon aus unseren früheren Erörterungen hervorgeht und bald noch näher zu zeigen sein wird, in diesem Falle nur als bewußtseinswirkliche möglich. Dh. es kann nichts von unserem Bewußtsein Abwesendes gedacht werden ohne ein in unserem Bewußtsein anwesendes Denken. Wenn also nicht das Gedachte als der fundierte Gegenstand höherer Ordnung bewußtseinswirklich ist, so ist es doch unser Denken als der fundierende Gegenstand niederer Ordnung. Diese Zugehörigkeit unseres Denkens zu unserem ontologisehen Bewußtseinsbezirke ist offenkundig und aus seinem kausalen Zusammenhange mit dem letzteren ersichtlich. Aber auch der Befund unserer gnoseologisch erfaßten Gebilde selbst zeigt, daß bei unserem Denken an abwesende Bestände irgendetwas ontologisch Bewußtseinswirkliches in uns vorgeht. Das tut sich in einer eigentümlichen Duplizität kund, die unseren gnoseologischen Meinungen über abwesende Bestände anhaftet. Wir mögen nun an einen zeitlich, räumlich, ontologisch oder gegenstandstheoretisch von uns abwesenden Bestand denken: in jedem Falle hat dieser Bestand als gedachter für uns eine Doppelnatur an sich. Denn einerseits liegt er kraft seiner Abwesenheit jenseits unseres ontologischen Bewußtseinsbezirkes und wird eben in dieser seiner jenseitigen Lage gnoseologisch von uns gemeint. Und doch ist auf der anderen Seite etwas an ihm, das zwar nicht zu dem Gegenstande unseres Meinens gehört, wohl aber zu unserem Meinen dieses Gegenstandes, und kraft dessen es uns zu Bewußtsein kommt, daß wir als ontologische Wesen hier und jetzt es sind, von denen jene Meinung ausgeht. Wir haben in diesem Sinne früher von unserer Bewußtseinswirklichkeit als dem ontologischen Angelpunkte der gnoseologischen Relation gesprochen. Bei allen unseren Meinungen über abwesende Bestände kommt uns das Vorhandensein dieses Angelpunktes deutlich zu Bewußtsein.
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Fragt man aber nach dem besonderen Wesen einer solchen ontologischen Fundierung unserer Meinungen, so müssen wir die Antwort schuldig bleiben. Denn hier läßt uns unsere Fähigkeit zu einer Selbstbeobachtung im Stich. Daher vermögen wir nur zu sagen, daß eine solche Fundierung stattfindet. Dagegen vermögen wir nicht zu sagen, worin sie besteht. Aul diesem Mangel unseres beobachtenden Einblickes in den ontologischen Tatbestand unseres Bewußtseins beruhte jener falsche Schein, kraft dessen wir glaubten, nichts von einer ontologischen Grundlage unseres Denkens in unserem Bewußtsein finden zu können. Der wahre Sachverhalt ist ein anderer. Inhaltlich freilich können wir außer bei jenen von uns besprochenen Wahrnehmungen und Vorstellungen nur den gnoseologischen Sinn unserer Meinungen selbst erfassen. Aber in dieser Erfassung ihres gnoseologischen Sinnes werden wir zugleich der Tatsache einer bewußtseinswirklichen Fundierung unseres Meinens inne: jedoch so, daß wir nicht imstande sind, das inhaltliche Wesen dieser Fundierung zu durchschauen. Dieser letztere Umstand könnte merkwürdig erscheinen. Aber er hängt, wie wir bald erkennen werden, mit der grundsätzlichen Struktur unseres Bewußtseins zusammen. Denn zu dessen Wesen gehört es, daß es immer nur auf die jeweils von ihm gemeinten Bedeutungsgehalte als solche gerichtet ist und sich um anderes nicht kümmert. So kommt es, daß sich unser Bewußtsein auch nicht um seine eigene Wirklichkeit kümmert, insoweit diese in jenen Bedeutungsgehalten selber nicht miteinbegriffen ist. Demgemäß kennen wir die in unserem Bewußtsein auftretenden Wahrnehmungen und Vorstellungen nur in dem von uns gemeinten deutungserfüllten, nicht dagegen in ihrem nicht von uns gemeinten, uns aber allein ontologisch vorliegenden deutungslosen Zustande. Und bei unseren Meinungen über abwesende Bestände kennen wir deren bewußtseinswirkliche Grundlage überhaupt nicht. Denn diese kann in den von uns gemeinten Beständen deshalb nicht miteinbegriffen sein, weil die letzteren von unserem Bewußtsein abwesend sind. Wir wissen in diesem Falle also nur um das von uns Abwesende, das wir meinen, nicht dagegen um das in unserem eigenen Bewußtsein Anwesende, mit dessen Hilfe wir meinen. Oder anders ausgedrückt: bei unseren Meinungen über abwesende Bestände ist für den Bereich unserer Einsicht das ontologische Wesen unseres Bewußtseins durch seinen gnoseologischen Bedeutungsgehalt verdrängt. Das sind eigentümliche aber für den Aufbau unseres Bewußtseins charakteristische Verhältnisse, mit deren Konsequenzen wir uns in dem weiteren Verlaufe des vorliegenden Kapitels noch ausführlich zu beschäftigen haben.
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Was hier für unser Meinen über abwesende Bestände dargelegt ist, das gilt entsprechend auch für unsere Urteile über diese letzteren. Denn unser Urteilen unterscheidet sich von unserem bloßen Meinen dadurch, daß wir die Bestände, denen unsere Urteile gelten, als unabhängig von uns an sich bestehend betrachten und beanspruchen, daß der Bedeutungsgehalt unserer Meinungen mit ihnen identisch sei. Unser Urteilen ist insofern also nicht etwas von unserem gnoseologischen Meinen wesentlich Verschiedenes, sondern bildet nur einen besonderen Fall dieses letzteren. Hiermit könnten wir für unseren gegenwärtigen Zweck die Frage nach der ontologischen Fundamentierung unserer Urteile an und für sich abschließen. Allein es zeigt sich, daß durch die soeben beschriebene Besonderheit unserer Urteile gewisse Situationen hervorgerufen werden können, deren Kenntnis für unsere Ginsicht in das Wesen der deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen wichtig ist. Und zwar hängen diese Situationen mit den Strukturverhältnissen zusammen, die für die falschen Urteile charakteristisch sind. Hierüber will ich mich näher erklären. Wir haben früher erkannt, daß die von allen Urteilen beanspruchte Identität zwischen ihrem Bedeutungsgehalte und dem von ihnen gemeinten Sachverhalte nicht durch die Konstitution dieser letzteren beiden Faktoren bestimmt, sondern logisch zufällig ist. Es besteht daher die Möglichkeit, daß jener Anspruch in gewissen Fällen nicht zu Recht besteht, daß also zwischen dem Bedeutungsgehalte unserer Urteilsmeinung als einem gnoseologischen Gebilde und dem von uns gemeinten Sachverhalte selbst, der in Urteilen über wirkliche Bestände eine ontologische Größe ist, statt der beanspruchten Identität ein Verhältnis der Nichtidentität oder des Widerspruches herrscht Das ist, wie wir wissen, in allen falschen Urteilen der Fall. In diesen Urteilen ist dementsprechend der Bedeutungsgehalt unserer gnoseologischen Meinung in dem gemeinten Sachverhalte nicht anwesend, sondern vielmehr von ihm abwesend. Dieser Umstand wird nun wichtig für unsere Einsicht in die Strukturverhältnisse der deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen. Denn unsere Deutungserfüllung dieser letzteren hatte den Wert von falschen Urteilsmeinungen und zwar von solchen über uns unmittelbar vorliegende Bestände. Unter diesen Umständen haben wir uns die einer solchen falschen Urteilsmeinung zugrundeliegenden Strukturbezüge, insoweit sie für die Probleme dieses Kapitels von Bedeutung sind, zu vergegenwärtigen.
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Das Charakteristische jeder falschen Urteilsmeinung liegt, wie •wir wissen, in jener eigentümlichen und ausführlich von uns beschriebenen Ueberschneidung zwischen dem gemeinten Sachverhalte selbst und dem von uns zwar mit ihm identifizierten, tatsächlich aber im Widerspruche zu ihm stehenden Bedeutungsgehalte einer gnoseologischen Meinung. Mit anderen Worten läßt sich das Wesen dieser Ueberschneidung auch dahin bestimmen, daß der Bedeutungsgehalt Unserer Urteilsmeinung in dem von uns gemeinten Sachverhalte für anwesend gehalten wird, in Wahrheit aber von diesem abwesend ist. Dementsprechend werden wir uns zu vergegenwärtigen haben, welche Situationen aus diesem Sachverhalte für unsere falschen Urteilsmeinungen über die uns unmittelbar vorliegenden Bestände hervorgehen. Offenbar besteht das allgemeine Wesen dieser Situationen darin, daß wir anstelle der in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke anwesenden Bestände gewisse andere von ihnen abwesende und uns nicht ontologisch sondern nur gnoseologisch erreichbare Bestände wahrzunehmen glauben. Das können wir uns zunächst an einem schon früher einmal benutzten Beispiele vergegenwärtigen. Jemand mag einen vor ihm stehenden Herrn mit einem anderen nicht anwesenden Herrn verwechseln. Das dieser Verwechselung zugrundeliegende Urteil können wir in die Form kleiden: dies ist Herr Soundso. Bedenken wir nun, daß unseren früheren Feststellungen zufolge das Urteilssubjekt den gemeinten Sachverhalt, das Urteilsprädikat den Bedeutungsgehalt unserer gnoseologischen Meinung und die Kopula die Identifikation beider zur Darstellung bringt, so erkennen wir aus der Struktur jenes Urteils die in ihm ausgesprochene Verkoppelung zwischen einem anwesenden und einem abwesenden Bestände. Denn anwesend ist in diesem Falle der Bedeutungsgehalt des Urteilssubjektes, dh. dies, Dämlich der vor mir stehende, in dem ontologischen Bezirke meines Bewußtseins wahrgenommene Herr. Abwesend von diesem Bezirke dagegen und mir nur gnoseologisch erreichbar ist der Bedeutungsgehalt des Prädikates, nämlich der andere Herr, mit dem ich nichtsdestoweniger den vor mir stehenden Herrn identifiziere. An diesem letzteren überschneidet sich also für den Urteilenden, der eine solche falsche Identifikation vollzieht, der durch das Urteilssubjekt festgelegte wahre Sachverhalt als ein uns ontologisch vorliegender Bestand mit dem Bedeutungsgehalte der in dem Urteilsprädikate ausgedrückten falschen Meinung als einem uns nur gnoseologisch erreichbaren, ontologisch aber tatsächlich von uns abwesenden Bestände. Das hier gewählte Beispiel ist deshalb besonders durchsichtig, weil in ihm zwischen dem gemeinten Sachverhalte und der falschen
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Urteilsmeinung, also zwischen den beiden miteinander verwechselten Herren ein individualbegriffliches Widerspruchsverhältnis waltet. Wie steht es, wenn dieses Widerspruchsverhältnis nur allgemeinbegriff' lieh ist? Auch das kann man sich an einem Beispiele klarmachen. Jemand habe einen goldähnlichen aber unechten Schmuckgegenstand vor sich und halte ihn, da er kein Kenner ist, für echt. Das seinem Irrtume zugrundeliegende Urteil würde dann lauten: dies ist Gold, Wenden wir auf das letztere Urteil dieselben Grundsätze an, die wir soeben entwickelt haben, so erkennen wir, daß sich auch hier der durch das Urteilssubjekt gekennzeichnete anwesende Sachverhalt, das vorliegende Schmuckstück, mit dem durch das Urteilsprädikat gekennzeichneten Bestände, nämlich mit dem Bedeutungsgehalte des Begriffes Gold überschneidet. Es würde sich also fragen, ob, wie in unserem ersten Beispiele, so auch hier der Bedeutungsgehalt der falschen Urteilsprädikation a b abwesend betrachtet werden kann. Eine kurze Ueberlegung zeigt uns, daß dies in der Tat der Fall ist. Wir können zwar nicht sagen, daß der Bedeutungsgehalt des Begriffes Gold wie in jenem anderen Beispiele der abwesende Herr irgendwo in unserer Wirklichkeit sei. Denn jener Bedeutungsgehalt liegt als ein allgemeinbegrifflicher Bestand außerhalb unserer Wirklichkeit, nämlich in dem idealen Felde der nur gedachten Gebilde. Er ist also nicht in dem Sinne einer räumlichen oder zeitlichen Entfernung von uns abwesend. Dennoch darf der Begriff der Anwesenheit oder Abwesenheit auch in diesem Falle angewendet werden. Denn unsere Wirklichkeitsbestände können mit dem Begriffe des Goldes in dem Sinne einer Teilhabe entweder identisch oder nicht identisch sein. Wo das erstere der Fall ist, da ist der Bedeutungsgehalt des Begriffes Gold in dem betreffenden Bestände anwesend. Wo es nicht der Fall ist, da ist dieser Bedeutungsgehalt von ihm abwesend. Denn von einem Bestände abwesend ist alles dasjenige, was weder total noch partiell mit ihm identifiziert werden kann: es mag im übrigen mit diesem Bestände in demselben gegenstandstheoretischen Felde liegen oder in einem anderen. In diesem Sinne können wir auch in unserem Beispiele davon sprechen, daß von dem anwesenden Schmuckgegenstande der Bedeutungsgehalt des Begriffes Gold abwesend sei. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß der Bedeutungsgebalt einer falschen Urteilsmeinung über anwesende Bestände von diesen letzteren in jedem Falle abwesend ist, ganz gleich ob der der Falschheit des Urteils zugrundeliegende Widerspruch ein individualbegrifflicher oder ein allgemeinbegrifflicher ist. Dieses Ergebnis können
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wir auch auf den Ausdruck bringen, daß alle falschen Urteile über anwesende Bestände zugleich Meinungen über abwesende Bestände sind. Denn anwesend ist bei diesen Urteilen nur der Bedeutungsgehalt ihres Subjektes. Dagegen ist der mit diesem Subjekte identifizierte Bedeutungsgehalt ihres Prädikates abwesend. Unser Meinen dieses Prädikates ist also das Meinen eines abwesenden Bestandes. Denn daß wir diesen abwesenden Bestand mit dem anwesenden fälschlich identifizieren, das betrifft nur die Gnoseologie unseres Meinens und kann an dem Tatbestande seiner Abwesenheit nichts ändern. Unter diesen Umständen gilt alles das, was wir über die ontologische Grundlage unseres Denkens an abwesende Bestände ausgemacht haben, auch für die Prädikation unserer falschen Urteile über anwesende Bestände. Denn der Gegenstand dieser Prädikation ist eben tatsächlich nicht anwesend sondern abwesend. Er wird daher von uns auch nicht wahrgenommen sondern nur gedacht. Als gedachter aber wird er, wie alle Gegenstände, die wir in ihrer Abwesenheit denken, zwar nach seinem gnoseologischen Bedeutungsgehalte von uns erfaßt; die Beschaffenheit seiner bewußtseinsontologischen Grundlage dagegen bleibt uns verborgen. Dh. wir wissen zwar, was wir in unseren falschen Urteilen über anwesende Bestände meinen. Aber wir wissen nicht, was dieses Meinen selber als ein bewußtseinswirklicher Bestand ist. Wenn also jemand in unserem ersten Beispiele urteilt: dies ist Herr Soundso, und in unserem zweiten Beispiele: dies ist Gold, so ist in beiden Urteilen der uns erlebniseinheitlich bekannte Bedeutungsgehalt der Prädikation ein gnoseologisch erfaßter Bestand, dessen bewußtseinsontologische Grundlage uns unbekannt bleibt. Dieser ihrer Unbekanntheit unbeschadet aber haben wir unseren früheren Darlegungen entsprechend anzunehmen, daß eine solche bewußtseinsontologische Grundlage auch hier tatsächlich besteht. Denn die von unserem Bewußtsein abwesenden Bestände könnten nicht in unserem gnoseologischen Bereiche auftreten und mit den anwesenden Beständen fälschlich identifiziert werden, wenn nicht irgendetwas in unserer Bewußtseinswirklichkeit anwesend wäre, auf Grund dessen wir einen solchen gnoseologischen Akt vollziehen. Angesichts dieses Sachverhaltes erkennen wir nunmehr, daß bei allen falschen Urteilsmeinungen über anwesende Bestände in unserem Bewußtsein ein eigentümlicher Strukturzusammenhang von drei verschiedenen Faktoren auftritt. Diese drei Faktoren bestehen erstens in dem ontologisch von uns wahrgenommenen anwesenden Bestände als dem Bedeutungsgehalte des Urteilssubjektes, zweitens in dem gnoseologisch von uns gemeinten abwesenden Bestände als dem
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Bedeutungsgehalte des Urteilsprädikates und drittens in der uns verborgen bleibenden bewußtseinsontologischen Grundlage dieses gnoseologisch gemeinten Bedeutungsgehaltes. Der Strukturzusammenhang dieser drei Faktoren aber liegt darin, daß wir durch unser falsches Urteil den ersten von ihnen mit dem zweiten identifizieren, und daß der dritte Faktor dem zweiten zur Grundlage dient. Wollen wir diese drei Faktoren nach der Verschiedenheit ihrer Seinsweise voneinander unterscheiden, so haben wir den zweiten als ein nur in unserer gnoseologischen Reichweite liegendes und daher nur gedachtes Gebilde den beiden anderen Faktoren, die zu dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins gehören und Wirklichkeitsbestände sind, gegenüberzustellen. Fragen wir dagegen, was von den einzelnen Faktoren zu unserer erlebniseinheitlichen Kenntnis gelangt, so haben wir den ersten und den zweiten Faktor von dem dritten zu scheiden. Denn während uns dieser letztere seiner inhaltlichen Beschaffenheit nach unbekannt bleibt, ist uns sowohl der erste als auch der zweite Faktor bekannt. Beide jedoch kennen wir nur so, wie sie sich unserer falschen Urteilsmeinung entsprechend in ihrer wechselseitigen Identifikation darstellen, nicht dagegen so, wie sie abgesehen von dieser falschen Identifikation an sich selber sind. Wenn wir also auf unsere Beispiele zurückgreifen wollen, so wird von uns weder der anwesende noch der abwesende Herr als der erkannt, der er an sich selbst ist, sondern der eine wird für den anderen und der andere für den einen genommen. Und es wird von uns weder das anwesende Schmuckstück noch das abwesende Gold nach seinem Eigenwesen erkannt, sondern dieses wird mit jenem und jenes mit diesem verwechselt. Oder anders ausgedrückt: wir erkennen nur das, was der gnoseologisch gemeinte Sachverhalt in seiner Falschheit für uns ist. Dagegen erkennen wir weder, was der anwesende, noch was der abwesende Sachverhalt ontologisch und damit in Wahrheit an sich selbst ist. Dieses Ergebnis ist geeignet, unsere Erörterung über das Wesen der gnoseologischen Deutungserfüllungen weiter zu vertiefen. Denn solche Deutungserfüllungen tragen, wie wir wissen, den Charakter von falschen Urteilsmeinungen über anwesende Bestände. Es gilt für sie also alles das, was wir über die Strukturbezüge dießer Urteilsmeinungen soeben ausgemacht haben. Das wollen wir uns zunächst im Hinblicke auf die Abwesenheit der in unseren Deutungserfüllungen enthaltenen Urteilsmeinungen von den uns tatsächlich vorliegenden Bestandkomplexen klarmachen.
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Bringen wir das einer deutungserfüllten Wahrnehmung entsprechende Urteil auf den aligemeinen Ausdruck: der uns unmittelbar vorliegende Bestandkomplex ist ein Stück der Außenwirklichkeit selber, so ist dieses Urteil deshalb falsch, weil der Bedeutungsgehalt seines Prädikates, also der Außenwirklichkeitscharakter dem durch das Urteilssubjekt bezeichneten uns unmittelbar vorliegenden Komplexe, also unseren deutungslos gegebenen Empfindungen tatsächlich nicht zukommt, mithin von ihnen abwesend ist. Das gilt sowohl für den individualbegrifflichen Bestand als auch für die allgemeinbegriffliche Beschaffenheit der uns vorliegenden Empfindungen. Für ihren individualbegrifflichen Bestand. Denn die Außenwirklichkeit, mit der wir unsere Empfindungen identifizieren, ist in diesen nicht enthalten, sondern liegt als ein uns transzendenter Bestandkomplex jenseits der ontologischen Grenzen unseres wahrnehmenden Bewußtseins. Und für ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit. Denn dieaußenwirklichen Strukturverhältnisse, die wir unseren Empfindungen, in ihrer Deutungserfüllung zuschreiben, kommen ihrem ontologischen Eigenbestande nicht zu, sondern sind von diesem ebenfalls abwesend. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß unsere deutungserfüllte Wahrnehmung eine falsche Identifikation zwischen anwesenden Empfindungen und abwesenden Außenwirklichkeitsstrukturen darstellt. Dieser Sachverhalt bedingt in unserem wahrnehmenden Bewußtsein zugleich jenes schon mehrfach von uns berührte Zusammenwirken zweier verschiedener Feldgebiete. Denn in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins sind nur die anwesenden Empfindungen enthalten. Daher werden auch nur sie in dem engeren Sinne des Wortes von uns wahrgenommen. Dagegen liegen die abwesenden Außenwirklichkeitsstrukturen ausschließlich in unserer gnoseologischen Reichweite. Sie werden dementsprechend nicht von uns wahrgenommen, sondern nur gedacht und haben in dieser Eigenschaft ein rein gnoseologisches Sein, dagegen keine Bewußtseinswirklichkeit in dem ontologischen Sinne dieses Wortes. Die für unsere Deutungserfüllung charakteristische Ueberschneidung von anwesenden und abwesenden Gebilden stellt also in unserem wahrnehmenden Bewußtsein zugleich wieder jene von uns beschriebene Ueberschneidung zwischen einem ontologischen und einem gnoseologischen Feldgebiete dar. Nichtsdestoweniger werden wir bei unserer deutungserfüllten Wahrnehmung in allen normalen Fällen diese Dualität der beiden Feldgebiete nicht gewahr. Wir stehen hier vielmehr unter dem Eindrucke, daß die von uns wahrgenommenen Gebilde ein in sich einheitliches Bestandgefüge sind, und imbesonderen, daß ihre Deutungs-
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erfüllung ebenso anwesend ist wie das deutungslos gegebene Material unserer Empfindungen selber. Angesichtsdessen haben wir uns zu fragen, worauf dieser Eindruck beruht. Zur Beantwortung dieser Frage sei zunächst darauf hingewiesen, daß jene Dualität der Feldgebiete nur die Erkenntnismittel unserer Deutungserfüllung betrifft, nicht aber ihren Erkenntnisgegenstand. Denn daß gewisse Beschaffenheiten der vermeintlichen immanenten Außenwirklichkeit von unseren Empfindungen abwesend sind und daher nur gnoseologisch von uns gedacht werden können, während diese Empfindungen selbst in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke anwesend sind und wahrgenommen werden, das ist zwar für die Art und Weise wichtig, auf die wir zu jener immanenten Außenwirklichkeit gelangen, nicht aber für diese letztere selbst, also nicht für dasjenige, worauf wir mit unseren Erkenntnismitteln ausgehen. Die immanente Außenwirklichkeit selber wird von uns vielmehr als etwas gedacht, das von seiner Anwesenheit oder Abwesenheit in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke und von der Art und Weise, wie wir seiner habhaft werden, unberührt bleibt. Wenn wir uns also jener Dualität der Feldgebiete in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung nicht bewußt werden, sondern vielmehr diese letztere als ein in sich einheitliches Bestandgefüge erfassen, so heißt dies, daß wir wohl die Einheit unseres Erkenntnisgegenstandes gewahren, nicht aber die Zwiespältigkeit unserer Erkenntnismittel. Wir vernachlässigen also diese letzteren, indem wir jenem ersteren unsere ausschließliche Aufmerksamkeit schenken. Diese unsere einseitige Einstellung auf den Erkenntnisgegenstand ohne ausdrückliche Beachtung unserer Erkenntnismittel aber ist, wie schon aus früheren Andeutungen hervorgeht und in den weiteren Erörterungen dieses Kapitels immer deutlicher zutagetreten wird, für das Wesen unseres Bewußtseins überhaupt typisch. Beachten wir nun die Struktur, die wir in naiver Auffassung unseren deutungserfüllten Wahrnehmungen beilegen, so erkennen wir in ihrem Aufbau den Erkenntnisgegenstand, auf den das in unserer Deutungserfüllung enthaltene Urteil ausgeht. Denn dieses Urteil läßt die uns vorliegenden Empfindungen und die uns nicht vorliegende Außenwirklichkeitsstruktur nicht getrennt, es vereinigt sie auch nicht in dem Sinne einer bloßen Nebeneinanderstellung, sondern es identifiziert beide miteinander, indem es die Außenwirklichkeitsstruktur zu einer Beschaffenheit jener Empfindungen selbst macht. Wenn wir also in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung statt zweier verschiedener Feldgebiete ein in sich einheitliches Bestandgefüge zu erblicken glauben, 22
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so ist die Einheitlichkeit dieses Gefüges ein Ausdruck der in jenem Urteile vollzogenen Identifikation zwischen unseren Empfindungen und der Außenwirklichkeit und stellt den also entstandenen und von uns gemeinten Erkenntnisgegenstand selbst dar. Eben hieraus erklärt es sich, daß uns in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung die tatsächlich abwesenden Außenwirklichkeitsstrukturen, also unsere Deutungserfüllungen als ebenso anwesend erscheinen wie die Empfindungen, die wir mit solcher Deutung erfüllen. Denn wenn diese Empfindungen anwesend sind, so können offenbar die ihnen zugeschriebenen, also in dem Sinne der Teilhabe mit ihnen identifizierten Strukturen nicht als abwesend betrachtet werden. Vielmehr treten nunmehr diese Strukturen mit einem fingierten Ansprüche auf Anwesenheit an die Stelle der in Wahrheit anwesenden Eigenstrukturen unserer deutungslos gegebenen Empfindungen. Wir können diesen Sachverhalt auch dahin formulieren, daß sich in unseren Deutungserfüllungen als falschen Urteilen über anwesende Bestände der Bedeutungsgehalt des Prädikates, also in unserem Falle die Außenwirklichkeitsstruktur nach der Seinsweise des Subjektsgegenstandes richtet und damit seiner Anwesenheit teilhaftig gesprochen wird, während umgekehrt der Subjektsgegenstand, also das deutungslos Gegebene unserer Empfindungen in seiner Beschaffenheit nach dem Bedeutungsgehalte der Prädikation eingerichtet wird, dh. in unserem Falle anstelle seiner eigenen Struktur die ihm zugesprochene Struktur der Außenwirklichkeit erhält. Die Antwort auf die Frage, was in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung anwesend oder abwesend sei, fällt der hier geschilderten Sachlage entsprechend verschieden aus, je nachdem wir von den uns tatsächlich vorliegenden Erkenntnismitteln oder von dem von uns gemeinten Erkenntnisgegenstande sprechen. Sprechen wir von unseren Erkenntnismitteln, so sind nur die deutungslos gegebenen Empfindungen mit ihrer Eigenstruktur anwesend, die ihnen zugeschriebene Außenwirklichkeitsstruktur aber ist abwesend. Sprechen wir dagegen von unserem Erkenntnisgegenstande, so ist die tatsächlich vorliegende Eigenstruktur unserer Empfindungen abwesend, und stattdessen tragen diese die ihnen gnoseologisch zugeschriebene Außenwirklichkeitsstruktur. Nur diese Außenwirklichkeitsstruktur fassen wir erlebniseinheitlich in der Praxis unserer Wahrnehmungen auf. Dagegen bleibt uns die bewußtseinswirkliche Eigenstruktur unserer Empfindungen in dieser Praxis verborgen. Wir bemerken also nur das, was in unserem Er-
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kenntnisgegenstande, nicht aber das, was in unseren Erkenntnismitteln anwesend ist. Das liegt, wie sich bald zeigen wird, an der früher beschriebenen psychologischen Zwangsläufigkeit unserer Bewußtseinseinstellung und an dem grundsätzlichen Aussetzen jeder Hemmung ihren Repräsentationsfunktionen gegenüber, also an denjenigen Verhältnissen, die unserer immanenten Wahrnehmungsdeutung den Charakter einer für uns schlechthin unüberwindlichen Erscheinung verleihen. Hierdurch wird es bedingt, daß wir in dem Bereiche unserer Praxis nur die von uns gemeinte Außenwirklichkeitsstruktur gewahrwerden, nicht dagegen die bewußtseinswirkliche Struktur unserer deutungslos gegebenen Empfindungen. Damit aber stehen wir vor einer Situation, die mit ihrer Einseitigkeit dazu angetan ist, das doppelseitige Wesen der in unserer Wahrnehmung herrschenden Strukturverhältnisse zu verschleiern. Es gibt jedoch andere Situationen, die ebenfalls Deutungserfüllungen von uns unmittelbar vorliegenden Beständen darstellen, in denen aber unser Bewußtsein in seiner Deutung gehemmt wird und nicht so ausschließlich auf einen bestimmten Erkenntnisgegenstand eingestellt ist. Diese weniger einseitigen Situationen sind für uns wesentlich durchsichtiger als der soeben geschilderte immanenzontologische Sachverhalt. Sie sind zB. in jenen einfachen Repräsentationen gegeben, die wir als die erste Stufe der verschiedenen Erscheinungstypen betrachtet haben. Denn das Wesen dieser einfachen Repräsentationen bestand darin, daß die in ihnen vorliegende Situation trotz ihrer größeren oder geringeren Verwandtschaft mit einer entsprechenden immanenzontologischen Situation von dieser dennoch so weit abwich, daß für sie nicht mehr dieselbe psychologische Zwangsläufigkeit galt, wie für unsere immanenzontologische Wahrnehmungsdeutung. Daher betrachten wir zwar auch in diesen Fällen wie bei der immanenzontologischen Deutungserfüllung gewisse gnoseologisch von uns gemeinte, tatsächlich jedoch abwesende Strukturen als anwesend. Aber wir bleiben uns dabei der Fiktizität dieser letzteren Auffassung bewußt und sind uns auch in unserem praktischen Verhalten darüber klar, daß neben ihr eine andere Auffassung des Sachverhaltes besteht, die wir immanenzontologisch für die wahre halten, und in der die dort von uns fiktiv als anwesend betrachtete Struktur abwesend ist. Das wollen wir uns zunächst an einem jener Bilder vergegenwärtigen, deren man sich für den Nachweis gewisser optischer Raumtäuschungen zu bedienen pflegt, und bei denen ein bestimmter Bildteil sowohl mit den übrigen Bildteilen in gleicher Ebene als auch vor oder hinter ihnen erschaut werden kann. Man denke sich zB. in 22*
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der Mitte eines erheblich größeren ein kleines Quadrat, dessen Ecken mit denen des größeren durch Gerade verbunden sind. Wir können eine solche Figur als eine flächenhafte Zeichnung auffassen. Aber näher liegt es uns, sie als eine abgestumpfte nach vorn herausspringende Pyramide zu betrachten. Und wir können anderseits in ihr auch einen tiefen nach hinten zu verlaufenden Korridor erblicken. Alle drei Auffassungen sind möglich, ohne daß sich an dem uns deutungslos vorliegenden Empfindungsmateriale etwas ändert. Aber nur eine von diesen Auffassungen, nämlich die erste nehmen wir auf Grand unserer immanenzontologischen Gepflogenheiten ernst. Mit den anderen beiden spielen wir nur, dh. wir lassen sie gelten mit dem Bewußtsein, daß sie ungiltig sind. Trotzdem betrachten wir auch die zu diesen beiden anderen Deutungen gehörigen Strukturen, insoweit wir ihre fiktive Geltung aufrecht erhalten, keineswegs als abwesend, sondern schreiben ihnen dieselbe Anwesenheit zu wie den erdeuteten Linien selbst. Eben hierauf beruht das, was wir als unsere Auffassung von solchen Linien bezeichnen. Wir können diese in unserem Falle zB. nur dann als eine abgestumpfte Pyramide oder als einen Korridor betrachten, wenn wir sie mit den Strukturen solcher körperlichen Gebilde identifizieren, diese also als ebenso anwesend betrachten wie jene Linien selber. In jeder unserer drei verschiedenen Auffassungen einer und derselben Figur gilt mithin, solange wir uns an den Erkenntnisgegenstand unserer Auffassungsweise halten, eine andere Struktur als unmittelbar anwesend. Hieran wird durch unser Bewußtsein von der Fiktizität der Pyramiden- und der Korridoransicht nichts geändert. Dieser Sachverhalt kommt besonders deutlich zum Ausdrucke, wenn wir von der Pyramidenansicht unserer Figur zu ihrer Korridoransicht übergehen und umgekehrt. Wir glauben dann eine Umstülpung innerhalb des uns ontologisch vorliegenden Bestandmateriales selbst zu erleben. Das kleine Quadrat springt von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn über. Und doch wissen wir nicht nur, sondern wir sehen auch, daß nichts dergleichen geschieht. Wollten wir daher auf unsere Erkenntnismittel zurückgreifen, so hätten wir jene Umstülpungsbewegung als eine lediglich gedachte zu bezeichnen. Aber diese Bezeichnung wäre für das, was wir tatsächlich zu erleben glauben, unangemessen. Denn das, was uns bei unserer deutungserfüllten Schau zu Bewußtsein kommt, ist nicht der wahre zu unseren Erkenntnismitteln, sondern vielmehr der fingierte zu unserem Erkenntnisgegenstande gehörige Sachverhalt. In diesem letzteren aber vollzieht sich in der Tat eine Bewegung und zwar eine solche, die der unmittel-
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bar erschaute Gegenstand selber durchmacht. Denn hier hat das kleine Quadrat zuerst eine vordere Lage und geht dann von dieser in eine hintere Lage über oder umgekehrt. Die Verschiebung dieser von uns gemeinten und mit der erschauten Figur identifizierten Lagen des kleinen Quadrates ist das, was wir bei einer Umstellung unserer Deutungserfüllung als eine sich in dem erschauten Materiale selbst vollziehende, also als eine solche Bewegung zu erleben glauben, die, obwohl sie nur fingiert ist, uns doch ebenso konkret yorliegt, wie das von der fingierten Bewegung betroffene, selbst aber nicht fingierte sondern ontologisch anwesende Quadrat selbst. In dem hier beschriebenen Beispiele können wir mühelos von der einen Interpretation der Sachlage zu einer anderen übergehen. Denn durch die Anlage unserer Figur wird keine dieser Interpretationen bevorzugt. Daher sind wir uns hier unserer Freiheit, bald die eine bald die andere Situation in Kraft treten zu lassen, deutlich bewußt. Diese Freiheit fehlt uns anderen eindeutigeren Bilddarstellungen gegenüber. Bei diesen wissen wir uns vielmehr mit einer bald größeren bald geringeren Zwangsläufigkeit an eine bestimmte Auffassung des uns vorliegenden Sachverhaltes als an seinen alleinigen Darstellungsgegenstand gebunden. Dabei besteht das Eigentümliche dieser Lage darin, daß wir uns in der Mehrzahl solcher Fälle nicht nur theoretisch sondern auch praktisch darüber klar zu sein pflegen, daß die von uns zwangsläufig befolgte Deutung des Sachverhaltes im Hinblicke auf die uns vorliegenden Darstellungsmittel unrichtig und nur fingiert ist. Nichtsdestoweniger bleibt hier für uns der Zwang bestehen, den uns tatsächlich nicht vorliegenden Darstellungsgegenstand als anwesend aufzufassen und das uns vorliegende Darstellungsmittel nach seiner Eigenstruktur zu vernachlässigen. Das können wir uns an einem einfachen Beispiele vergegenwärtigen. Vor mir liegt ein Stich, der Friedrieb den Großen darstellt Der immanenzontologischen Deutungsweise entsprechend betrachte ich diesen Stich als ein weißes Blatt Papier mit einem Netze von stärkeren und feineren, dichter und loser liegenden Strichen. Ich bin mir also theoretisch wie praktisch darüber klar, daß ich ein Netz von Striohen und nicht die Gestalt des großen Königs vor mir habe. Nichtsdestoweniger finde ich, daß ich so gut wie außerstande bin, das Netz der Striche in seiner sinnfreien und schlechthin ebenen Eigenstruktur zu sehen und darauf zu verzichten, daß in diesem Netze die körperhafte Gestalt des Königs unmittelbar anwesend sei. Hier drängt sich also trotz meiner klaren Einsicht in den mir vorliegenden Sachverhalt seine mit ihm identifizierte und doch im Wider-
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Spruche zu ihm stehende Deutung auf einen ihm fremden Bestand in den Vordergrund. Ich sehe zwangsweise das vor mir, von dem ich weiß, daß es ontologisch nicht vorhanden, sondern nur gnoseologisch von mir hinzugedacht ist; und ich sehe mich außerstande, das, was mir ontologisch vorliegt, in seiner reinen Eigenstruktur zu sehen. Diese allbekannte aber bemerkenswerte Tatsache führt uns deutlich vor Augen, wie stark wir mit unserem wahrnehmenden Bewußtsein über das uns tatsächlich vorliegende Wahrnehmungsmaterial hinaus an den Bedeutungsgehalt dessen, was wir meinen, also in unserem Falle an den abwesenden Darstellungsgegenstand gebunden sind, und wie ihm gegenüber jenes anwesende Wahrnehmungsmaterial selbst für unsere erlebniseinheitliche Auffassungsweise nur die dienende Rolle eines Darstellungsmittels spielt. Gehen wir von hier aus zu der Struktur unserer immanenzontologischen Deutungserfüllungen über, so finden wir uns vor einer verwandten Sachlage. Auch hier haben wir die in dem Darstellungsmittel vorliegende Situation von der für den Darstellungsgegenstand charakteristischen zu unterscheiden. Aber während in unseren bisherigen Beispielen das, was wir als Darstellungsmittel ansahen, also zB. das Netz der Striche auf dem weißen Papiere, selbst der immanenten Außenwirklichkeit angehörte, der Darstellungsgegenstand dagegen außerhalb dieser letzteren lag, wird in unserem Falle nunmehr der immanente Außenwirklichkeitsbestand als solcher zum Darstellungsgegenstande und als Darstellungsmittel tritt die Bewußtseinswirklichkeit unserer deutungslos gegebenen Empfindungen auf. Das ist für unsere Auffassungsweise der immanenzontologischen Wahrnehmungsbestände nicht ohne Bedeutung. Denn, wenn wir feststellen konnten, daß das, was in einem Darstellungsgegenstande als anwesend betrachtet wird, darum noch keineswegs auch in den Darstellungsmitteln anwesend zu sein braucht, so heißt dies in unserem Falle zugleich, daß das, was wir als in der immanenten Außenwirklichkeit anwesend betrachten, darum noch keineswegs auch in unserer Bewußtseinswirklichkeit anwesend zu sein braucht; daß vielmehr in diesen beiden Wirklichkeiten, die sich als falsche Urteilsmeinung und wahrer Sachverhalt an identisch demselben Empfindungsmateriale überschneiden, etwas Verschiedenes anwesend und abwesend sein kann. So ist, wie wir bereits gesehen haben, in der von uns gemeinten Außenwirklichkeit unserer Sichtwahrnehmungen eine nach der Tiefe ausgedehnte Gegenstandswelt anwesend. Dagegen ist in der Bewußtseinswirklichkeit unserer Sichtwahrnehmungen diese Gegenstandswelt als ein nur gnoseologisch erreichbarer Komplex abwesend, and an-
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wesend ist an ihrer Stelle der Flächenbestand unserer deutung9los gegebenen Sichtempfindungen. Bedenkt man nun, daß in dem Vordergrunde unserer erlebniseinheitlichen Auffassung stets der Darstellungsgegenstand steht, nicht dagegen das Darstellungsmittel, also in unserem Falle die wahrgenommene Außenwelt und nicht das wahrnehmende Bewußtsein selbst, so wird hieraus klar, warum uns die scheinbare Räumlichkeit unserer Sichtwelt, obwohl sie von dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins abwesend ist, dennoch als ebenso anwesend erscheint wie das in jenem Bezirke gegenwärtige Empfindungsmaterial. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Anwesenheit jener scheinbaren Raumsystematik zu der gnoseologisch von uns gemeinten immanenten Außenwirklichkeit gehört, und daß diese allein als der Darstellungsgegenstand unserer Wahrnehmungen erlebniseinheitlich von uns aufgefaßt wird, während uns die reine Bewußtseinswirklichkeit unserer Sichtempfindungen, in der jene Räumlichkeit durch eine Flächensystematik ersetzt ist, verborgen bleibt. Hier wie sonst kümmert sich also unser wahrnehmendes Bewußtsein nicht um das, was es selber ist, sondern lediglich um das, was es selber nicht ist, nämlich um die Struktur der von ihm zu repräsentierenden Außenwirklichkeit. Zu dieser gehört, wenn sie mit unseren Sichtempfindungen identifiziert wird, jene scheinbare Raumsystematik, die wir deshalb als in unserer Wahrnehmung unmittelbar anwesend zu erleben glauben. Dabei ist der Eindruck, daß diese Raumsystematik wirklich anwesend sei, in unserer immanenzontologischen Außenwirklichkeitsdeutung wesentlich stärker, als das in unseren Beispielen von dem vorund zurückspringenden Quadrate oder dem Stiche Friedrichs des Großen der Fall war. Das ist durch jene Verhältnisse bedingt, die wir in unseren Erörterungen über die verschiedenen Erscheinungsstufen klargelegt haben. Denn die genannten Beispiele gehörten dem Typus der einfachen Repräsentationen an und standen als solche wie eine Reihe von anderen Erscheinungsstufen unter den früher besprochenen Hemmungen, kraft deren uns die bloße Fiktizität unserer Raumdeutungen nicht nur theoretisch sondern auch praktisch bewußt wurde. Hierdurch war es bedingt, daß wir in diesen Fällen zwar auf der einen Seite den Eindruck von einer Anwesenheit der hinzugedachten Raumstrukturen hatten, uns auf der anderen Seite aber doch auch über ihre Abwesenheit klar waren. Mit den in unserer immanenten Wahrnehmungswelt hinzugedachten Raumstrukturen steht es anders. Denn bei den hier in Kraft tretenden Deutungen fällt, wie wir seinerzeit erkannten, jede Hemmung der geschilderten Art grundsätzlich fort.
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Daher kommt hier nur das Bewußtsein von einer Anwesenheit unserer Raumdeutungen, nicht aber das von ihrer Abwesenheit auf. Wir werden uns also auch nicht der Fiktizität solcher Deutungen bewußt. Zu dieser negativen Hemmungsfreiheit kommt als positiver Faktor die psychologische Zwangsläufigkeit, mit der wir bei den immanenzontologischen Deutungen darauf eingestellt sind, durch unsere Wahrnehmungsbestände die ihnen in der transzendenten Außenwirklichkeit entsprechenden peripheren und ultraperipheren Verhältnisse zu repräsentieren. Wir sind daher mit derselben Zwangsläufigkeit auch darauf eingestellt, unseren Wahrnehmungsbeständen die zu jener Außenwirklichkeit gehörigen Raumstrukturen zuzuschreiben, obwohl ihnen diese nach ihrer reinen Bewußtseinswirklichkeit nicht zukommen. Die Folge einer solchen zwangsläufigen Einstellung ist es, daß wir in dem Bereiche unserer immanenzontologischen Wahrnehmungen nicht die bewußtseinswirkliche Beschaffenheit dieser letzteren sondern lediglich ihren repräsentativen Außenwirklichkeitswert erlebniseinheitlich innewerden. Hierauf beruht es, daß wir innerhalb jenes Bereiches die unseren Wahrnehmungsbeständen beigelegte Raumstruktur zwangsweise als unmittelbar in ihnen anwesend zu erleben glauben. Und das umso mehr, als, wie wir gesehen haben, in diesem Bereiche alle entgegenstehenden Hemmungen fortfallen. Unser lebendiger Eindruck von der Anwesenheit der immanenten Raumstrukturen gehört also zu dem vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinungscharakter unserer Wahrnehmungswelt. Dieser Erscheinungscharakter beherrscht aber, wie frühere Erörterungen dargelegt haben, nur unsere praktische Auffassung der Sachlage, nicht dagegen ihre theoretische Erkenntnis. Die letztere zeigt uns vielmehr, daß wir den dreidimensionalen Raum, den wir in unserer praktischen Auffassung der Wahrnehmungswelt unmittelbar vor uns zu sehen glauben, in Wahrheit nicht sichthaft vor uns haben, sondern daß er abwesend ist und von uns nur als Ersatz für die flächenhafte Struktur unserer Sichtempfindungen hinzugedacht wird, welche letztere Struktur die in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins allein anwesende ist. Diesen Sachverhalt kann man sich an jedem beliebigen Beispiele vergegenwärtigen. Wir stehen auf der Straße vor einem Eckhause, dessen eine Front in voller Ausdehnung vor uns liegt, während wir die andere nur in verkürzter Projektion erblicken. Was heißt es dann, daß wir diese verkürzte Projektion räumlich zu sehen glauben? Es heißt nicht, daß wir ontologisch etwas an ihr verändern. Sie dreht sich weder aus unserer Sichtfläche hinaus, noch wird sie länger, noch hört
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das weiter von uns entfernt Liegende in ihr auf, kleiner zu erscheinen als das uns Nahe. Ontologisch bleibt also alles beim alten. Dh. wir sehen tatsächlich keinen Raum sondern eine Fläche. Nur diese und nicht jener ist in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins anwesend. Anders steht es auf gnoseologischem Felde. Denn gnoseologische Aenderungen nehmen wir mit dem, was ontologisch unverändert bleibt, in der Tat vor. Und zwar bestehen diese Aenderungen darin, daß wir uns an der Stelle dessen, was uns vorliegt, etwas anderes denken, was uns nicht vorliegt, und es mit diesem letzteren identisch setzen. So denken wir uns in unserem Beispiele an der Stelle der in unserer Sichtfläche gelegenen Projektion jener Hausfront eine aus unserer Sichtfläche hinausgedrehte Frontlage. Anstelle ihrer von uns erblickten Verkürzung denken wir uns eine entsprechende Verlängerung. Und anstelle ihrer mit wachsender Entfernung abnehmenden Größe denken wir sie uns überall gleich groß. Alles das liegt uns ontologisch nicht vor. Es läßt sich in dem Tatbestande unserer Wahrnehmungen schlechterdings nicht entdecken. Es wird vielmehr lediglich von uns gedacht. Trotzdem setzen wir im Banne der mit unserer Außenwirklichkeitsdeutung verbundenen psychologischen Zwangsläufigkeit diese nur von uns gedachten und abwesenden Gebilde mit der tatsächlich von uns wahrgenommenen und anwesenden Bestand Ordnung identisch und verhalten uns so, als wäre nicht sowohl diese Bestandordnung sondern vielmehr die von uns gedachte Struktur anwesend. Eine solche Maßnahme ist im Hinblicke auf den uns vorliegenden bewußtseinswirklichen Bestand unserer Wahrnehmungen unberechtigt. Dagegen ist sie berechtigt im Hinblicke auf die außenwirklichen Strukturen, die wir mit Hilfe unserer Wahrnehmungsbestände zu erkennen trachten. Denn diese außenwirklichen Strukturen tragen als unser Darstellungsgegenstand andere Merkmale als die bewußtseinswirklichen Wahrnehmungsbestände, die unser Darstellungsmittel bilden. Wir dürfen uns daher auch solche Strukturen, die in diesem Darstellungsmittel abwesend sind, in jenem Darstellungsgegenstande als anwesend denken. Dessenungeachtet bleibt der auf diese Weise gnoseologisch geänderte Bestand unserer Wahrnehmung eine bloße Repräsentation der von uns gemeinten Außenwirklichkeit. Denn die letztere selbst ist uns, wie wir wissen, grundsätzlich transzendent. Dieses nur repräsentative Wesen unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen kommt darin zum Ausdrucke, daß es unsere bewußtseinswirklichen Wahrnehmungsbestände selbst sind, die wir mit den Merkmalen jener Außenwirklichkeitsstrukturen ausstatten. Der Raum, den wir uns an der Stelle
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der von uns erblickten Sichtfläche denken, ist daher nicht eigentlich der unanschauliche Raum der transzendenten Außenwirklichkeit, sondern vielmehr ein dreidimensionaler echter Sichtraum. Einen solchen Raum können wir uns freilich nur denken. Denn ihn anzuschauen oder ihn uns auch nur vorzustellen, sind wir angesichts der nur flächenhaften ontologischen Grundlage unseres Sehens, wie schon an anderer Stelle dargelegt wurde, grundsätzlich außerstande. An dem Beispiele unseres Eckhauses können wir uns leicht klarmachen, wie wir uns diesen dreidimensionalen Sichtraum im Einzelnen denken. Wenn wir uns nämlich fragen, was wir durch das gedachte Hinausdrehen, Verlängern und Vergrößern der in projektiver Verkürzung erschauten Front ausrichten, so erkennen wir, daß wir uns jene verkürzte Front so denken, wie sie sich uns darbieten würde, wenn wir sie in ihrer vollen Flächenausdehnung erschauten. Wir denken uns also die verkürzt von uns erschaute Seitenansicht des Hauses durch eine Frontalansicht ersetzt. Unter der Ansicht eines Körpers aber verstehen wir das, was sich uns von ihm in dem bewußtseinswirklichen flächenhaften Bestände unserer Sichtwahrnehmungen darbietet. In unserer immanenzontologischen Wahrnehmungsdeutung denken wir uns also die uns tatsächlich vorliegende Sichtfläche im Hinblicke auf die nur in projektiver Verkürzung erblickten Frontstücke durch andere vollwertige Sichtflächen ersetzt. Wir denken uns zB. unser Eckhaus so, wie es sich uns darbieten würde, wenn wir seine beiden Fronten in ihrer ganzen Flächenausdebnung zugleich sehen könnten. Erweitern wir dieses unser Deutungsprinzip auch auf die von uns überhaupt nicht erblickten, unseren früheren Erörterungen gemäß aber jederzeit hinzugedachten Rückflächen usw. der von uns gesehenen Körper, so wird hieraus der Aufbau des immanenzontologischenRaumes erkennbar, den wir uns an die Stelle unserer deutungslos gegebenen Sichtfläche gesetzt denken. Der Charakter dieses Raumes läßt sich nämlich dahin beschreiben, daß wir, wenn wir über ihn verfügten, alle Körper von allen ihren Seiten in voller Flächenausdehnung zugleich sehen würden. Oder anders ausgedrückt: wir denken ihn uns so, daß er in allen seinen Erstreckungen solche Eigenschaften aufweist, wie wir selber sie dank der flächenhaften Gebundenheit unserer Sichtweise nur in den jeweils frontal vor uns liegenden Ebenen erschauen. Das aber heißt, daß dieser gedachte Raum im Gegensatze 2Q dem, was wir tatsächlich vor uns sehen, erstens eine sichthafte Beschaffenheit trägt und zweitens außerdem eine echte dreidimensionale Manichfaltigkeit bildet.
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In der tatsächlichen Bestandordnung unserer Sichtwahrnehmungen ist ein solcher Raum nicht anwesend. Wir können ihn uns, wie wir erkannten, auch nicht einmal vorstellen. Wohl aber vermögen wir ihn, wenn auch nicht simultan, so doch sukzessiv zu verifizieren, indem wir mit unserem wirklichen Leibe, der, wie wir wissen, der transzendenten Außenwelt angehört, um die erschauten Körper herumgehen oder diese vor uns drehen, so daß wir bald die eine, bald die andere ihrer Flächenansichten erschauen. Wenn wir uns das Ergebnis diesesVerifikationsprozesses in einer simultanen Bestandordnung denken, so stellt die letztere den Raum dar, den wir in unserer immanenzontologischen Deutungserfüllung statt der von uns gesehenen einfachen Sichtfläche einführen. Das können wir aber nur in Gedanken tun. Denn von unserem tatsächlichen Wahrnehmungsbestande ist ein solcher dreidimensionaler Sichtraum, wie gesagt, abwesend. Trotzdem glauben wir seine Anwesenheit dauernd zu erleben. Die Erklärung hierfür liegt in den schon geschilderten Verhältnissen. Denn was wir zu erleben glauben, ist eben nicht zugleich dasjenige, was uns vorliegt, sondern es ist das, was wir meinen. Und in der von uns gemeinten Wahrnehmungswelt wird jener Sichtraum in der Tat als anwesend gedacht. Gegen die hier dargelegte Auffassung, nach der der Sichtraum von dem ontologischen Bestände unserer Wahrnehmungen abwesend ist und nur gnoseologisch von uns hinzugedacht wird, könnte ein Bedenken erhoben werden. Man könnte nämlich einwenden, daß diese Lehre zwar für die raumerfüllenden Körper richtig sein möge, daß sie dagegen nicht für den leeren Raum gelte, den wir zwischen diesen Körpern zu erblicken glauben. Denn für jene Körper ist es offenbar, daß wir nur das von ihnen sehen, was ihre flächenhafte Projektion in unseren deutungslosen Sichtempfindungen hergibt. Dagegen haben haben wir von diesem leeren Räume unwillkürlich den Eindruck, daß er mit allen seinen Erstreckungen in unmittelbarer Konkretheit handgreiflich vor uns liege. Ein näheres Eingehen auf diesen Einwand ist geeignet, unsere Einsicht in das Wesen des immanenten Wahrnehmungsraumes zu vertiefen. Fragen wir uns zunächst, was denn ein leerer Raum sei, so erkennen wir, daß der Meinung, wir sähen einen solchen Raum positiv vor uns, eine Schwierigkeit entgegensteht. Denn es liegt auf der Hand, daß der Begriff der Leere eines Raumes negativ ist. Leer ist ein Raum dann, wenn nichts in ihm ist. Ein leerer Sichtraum wäre also ein Raum, in dem nichts gesehen wird. Es würde sich daher
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die Frage erheben: können wir in dem ontologischen Sinne des Wortes einen Raum sehen, wenn in diesem Räume nichts ist, was gesehen wird? Oder anders ausgedrückt: besteht für den ontologischen Bezirk unseres Bewußtseins zwischen einem Räume, den wir nicht sehen, und einem Räume, in dem wir nichts sehen, ein Unterschied? Dh. positiv gewendet: können wir einen bloßen Raum als solchen sehen? Es bleibe dahingestellt, wie es sich mit der grundsätzlichen Beantwortung dieser Frage verhält. Tatsächlich sind wir jedenfalls außerstande, einen schlechthin leeren Raum für sich allein wahrzunehmen oder ihn uns vorzustellen. Wir können uns einen derartigen Raum zwar als außerhalb unseres Wahrnehmungsbereiches vorhanden denken. Aber sobald wir versuchen, ihn uns innerhalb dieses Bereiches zu veranschaulichen, werden wir eine unser gesamtes Gesichtsfeld ausfüllende Fläche von allerlei Wahrnehmungsbeständen inne, vor denen sich als vor seinem Hintergrunde der vermeintlich von uns erschaute leere Raum zu lagern scheint. Dabei ist es gleichgültig, ob wir diesen Hintergrund farbig oder farblos, hell oder dunkel, als durchdringlich oder undurchdringlich erblicken, sowie ob wir ihn als eine Ebene deuten oder als eine Manichfaltigkeit von Wahrnehmungsbeständen, die teils in dem Vordergrunde, teils in dem Hintergrunde unserer erdeuteten Außenwelt stehen: sie bilden in jedem Falle mit ihren uns zugekehrten Flächenstücken den Hintergrund der ihnen vorgelagerten leeren Raumteile. Ohne diesen Hintergrund vermögen wir keinen leeren Raum wahrzunehmen oder ihn uns vorzustellen. Das aber heißt: einen in sich selbständigen leeren Raum gibt es in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins nicht. Demgegenüber könnte man geltend machen, daß dieser vorgelagerte Raum gleichwohl als ein leerer von uns erblickt werde, und daß ein solcher leerer Raum, wenn auch nicht für sich allein, so doch in Verbindung mit einem flächenhaften Hintergrunde immerhin zu unserem ontologischen Bewußtseinsbeeirke gehören könnte. Dabei könnte man zugunsten dieses Argumentes darauf hinweisen, daß der von uns scheinbar erblickte leere Raum vor unserer Rauminterpretation der ihn erfüllenden Körper einen besonderen Vorzug habe. Denn bei diesen letzteren verwickeln wir uns in einen offenbaren Widerspruch, wenn wir in der von uns geschilderten Weise an die Stelle der uns tatsächlich vorliegenden projektiven Verkürzungen bestimmte Flächenausdehnungen von anderer Richtung, anderer Größe und anderer Gestalt setzen. Dagegen scheinen innerhalb des leeren Raumes, den wir vor uns zu erblicken glauben, solche Widersprüche nicht auftreten zu können. Denn er enthält, da er leer ist, kein Sichtmaterial,
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mit dem er in Widerspruch zu geraten vermöchte. Und diese wenigstens scheinbare Innere Widerspruchsfreiheit unseres leeren Raumes könnte man als ein Anzeichen für den ontologischen Charakter seiner Anwesenheit innerhalb unserer Bewußtseinswirklichkeit auffassen. Allein unser Eindruck, daß der vermeintlich von uns erschaute leere Sichtraum in sich widerspruchsfrei sei, ist, wie wir bald sehen werden, irrig. Und wäre er nicht irrig, so könnte er zwei verschiedene Ursachen haben. Er könnte nämlich entweder darauf beruhen, daß jener leere Raum in der Tat als eine ontologische Größe in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins auftritt, oder aber darauf, daß wir ihn uns zu der uns ontologisch gegebenen Sichtfläche hinzudenken, ohne uns dadurch zu den Gregebenheiten unseres Bewußtseins in Widerspruch zu setzen. Der leere Raum wäre dann im Unterschiede zu den von uns räumlich gedeuteten Körpern zwar kein gnoseologisch gedachtes Ersatzstück für die Bestände, die uns ontologisch vorliegen, wohl aber eine gnoseologisch gedachte Zugabe zu ihnen. Welche von diesen beiden Möglichkeiten zutrifft, geht aus folgender Erwägung hervor. Wir schreiben unserem vermeintlich erschauten leeren Räume die Eigenschaft zu, daß wir durch ihn hindurchsehen könnten. Auch hierdurch unterscheidet sich seine Wahrnehmung von der der raumerfüllenden Körper. Dfenn durch diese letzteren sehen wir nicht hindurch, sondern wir nehmen von ihnen, da sie für uns phänomenal transzendente Dinge sind, immer nur ihre Hüllflächen wahr. Dagegen glauben wir unseren vermeintlichen leeren Raum in seiner ganzen dreidimensionalen Manichfaltigkeit durchblicken zu können. So glaube ich zB., wenn ich jetzt auf die mir gegenüberliegende Wand schaue, durch die dreidimensionale Manichfaltigkeit eines zwischen ihr und mir liegenden Raumes hindurchzusehen. Eben deshalb erscheint mir der Raum hier handgreiflich. Und doch ist diese Auffassung der Sachlage irrig. In Wahrheit entdecken wir vielmehr gerade an ihr, daß das, was wir in einem solchen Falle ontologisch vor uns haben, kein leerer Raum ist sondern nur eine Fläche, und daß wir uns den vermeintlich erschauten Raum zu dieser Fläche nur hinzudenken. Zugleich zeigt es sich hierbei, daß dieser Raum trotz seiner Leere innere Widersprüche enthält und in gewisser Hinsicht an denselben Gebrechen krankt wie jene körperhaft gedeuteten Flächenstücke, vor denen er bevorzugt zu sein schien. Das erkennen wir, wenn wir folgendes bedenken. Einen Punkt, eine Linie, eine Fläche können wir als solche nur dann erblicken, wenn jedes dieser Gebilde mit allen seinen Erstreckungen auf die gleiche Weise in unser Sichtfeld tritt. Dieser Maßgabe entsprechend könnten
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wir einen dreidimensionalen Raum als solchen nur dann erblicken, wenn dieser Raum in allen seinen Erstreckungen, also nach Länge, Breite und Tiefe in der gleichen Weise von uns erschaut würde. In diesem Sinne setzten wir für die raumerfüllenden Körper an die Stelle der nur projektiv von uns gesehenen Verkürzungen die von uns geschilderten anders gerichteten und anders gestalteten vollwertigen Flächenausdehnungen ein, indem wir uns in Gedanken als solche Wesen betrachteten, die imstande wären, die erschauten Körper von allen Seiten zugleich dh. in ihrer vollen dreidimensionalen Räumlichkeit wahrzunehmen. Es würde sich also fragen, ob wir den vermeintlich von uns erschauten dreidimensionalen Sichtraum, wenn wir durch ihn hindurchblicken, in dieser adäquaten Weise sehen. Denn nur dann, wenn dies der Fall ist, sehen wir den leeren Raum selber. Ist es nicht der Fall, so sehen wir statt seiner etwas anderes. Eine Untersuchung dieser Frage zeigt uns nun, daß wir den vermeintlich von uns erschauten leeren Raum nicht in jener adäquaten Weise sehen. Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man nur zu beachten, daß wir die Kontiguitätsanordnung unseres Sichtraumes, und zwar ganz gleich ob dieser erfüllt oder leer ist, nicht, wie es soeben gefordert wurde in allen ihren Erstreckungen auf die gleiche Weise sondern auf zwei grundsätzlich verschiedene Arten sehen. Die eine dieser beiden Arten bezeichnen wir als das Nebenein* &nder. In seiner reinen Form offenbart sich uns das letztere, wenn wir eine Ebene frontal, also senkrecht zu unserer Blickrichtung sehen. In einer solchen Ebene sind alle sie konstituierenden Punkte so für unseren Blick geordnet, daß sich keiner von ihnen an die Stelle irgendeines anderen schiebt. Dieses Verhältnis eines wechselseitigen Ausschlusses entspricht dem Prinzip ihrer Kontiguität als einem besonderen Falle des für das wechselseitige Verhältnis aller konkreten Bestände charakteristischen Widerspruches ohne Identitätsergänzung. Daher pflegen wir unsere Schau des Nebeneinander, so wie wir es in einer frontalen Ebene vor uns erblicken, als der von uns gemeinten außenwirklichen Kontiguitätsanordnung des Raumes adäquat zu betrachten. Die andere Art, in der wir die Kontiguitätsanordnung unseres Sichtraumes erschauen, nennen wir das Hintereinander. In der reinen Form des Hintereinander wird von uns alles das gesehen, was in der Blickrichtung unseres Auges selber gelegen ist. Für dieses unser Hintereinandersehen gelten, und zwar namentlich bei monokularem Sehen, grundsätzlich andere Prinzipien als für unsere Nebeneinanderschau. Es ist nämlich für jede Reihe von hintereinander liegenden Beständen charakteristisch, daß sich hier ein Bestand, im Nonnalfalle
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der vorderste, an die Stelle aller anderen schiebt und damit diese verdeckt. Wir erblicken also statt einer im Hintereinander gelegenen Geraden nur einen Punkt, statt einer in dieser Richtung gelegenen Ebene nur eine Gerade und statt eines dort liegenden Raumteiles nur eine Ebene. Oder anders ausgedrückt: wir erblicken von dem Hintereinanderliegenden stets eine Dimension weniger, als ihm in der wahrzunehmenden Außenwirklichkeit zukommt. Daher betrachten wir im Unterschiede zu unserer Nebeneinanderschau die Schau des Hintereinander als inadäquat. Könnten wir das hintereinander Erblickte adäquat erschauen, und das können wir durch einen Wechsel unserer Stellung jederzeit erreichen, ao würde damit jene Verdeckung aufhören und wir würden das, was wir jetzt hintereinander sehen, in der Form des Nebeneinander erblicken. Prüfen wir nach diesen Maßgaben das Wesen unseres Hindurchsehens durch den vermeintlich leeren Sichtraum, so erkennen wir, daß auch hier der soeben gekennzeichnete Unterschied zwischen dem Nebeneinander- und demHintereinandersehen in Kraft bleibt. Ich wähle als Beispiel wieder den Raum zwischen mir und der mir gegenüberliegenden Wand und denke mir zwischen meinem Auge und einem vor ihm liegenden Punkte an der Wand eine Gerade. Dann sehe ich, auch wenn diese noch so durchsichtig ist, nicht eine Gerade sondern nur einen Punkt. Alle anderen Punkte der Geraden sind durch diesen einen Punkt verdrängt. Seltsamerweise aber liegt der sie verdrängende Punkt in diesem Falle nicht vor, sondern hinter ihnen. Es ist jener Punkt an der Wand. Und wie mit dieser einen, so geht es mir mit allen Geraden, aus deren unendlichen Zahl ich mir den leeren Raum zwischen mir und der Wand bestehend denken kann. Von allen diesen Geraden sehe ich nur die Endpunkte an der Wand. Das aber heißt: ich sehe nur diese Wand und weiter nichts. Oder anders ausgedrückt: ich sehe nur den Hintergrund, vor dem der vermeintlich erschaute leere Raum gelagert ist. Nicht aber sehe ich diesen Raum selbst. Wir kommen also im Hinblicke auf den leeren Raum unserer Sichtwelt zu demselben Ergebnisse, zu dem wir im Hinblicke auf die raumerfüllenden Körper kamen. In dem ontologischen Bezirke unseres wahrnehmenden Bewußtseins gibt es nur eine Fläche. Der scheinbar von uns gesehene leere Raum ist ontologisch von unserem Bewußtsein abwesend. Er bildet nur eine gnoseologisch gedachte Zugabe zu jener Fläche. Und zwar setzen wir diese Zugabe dort an, wo ontologisch nichts ist, indem wir dieses Nichts mit der Negätivität einer nichts enthaltenden Räumlichkeit identifizieren. Die Antwort auf die von
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uns gestellte Frage, ob zwischen dem vermeintlich von uns gesehenen leeren Räume, in dem nichts gesehen wird, und einem nicht von uns gesehenen Räume ein Unterschied besteht, fällt also negativ aus. Ein als leer gesehener Raum und ein nicht gesehener Raum ist für unsere Sicht dasselbe. Das aber heißt: wir sehen keinen leeren Raum. Wollen wir daher dem ontologischen Befunde unserer Bewußtseinswirklichkeit gerecht werden, so ist die richtige Formulierung der von uns geschilderten Situation nicht die, daß wir eine Dimension weniger erblicken, sondern vielmehr die, daß wir uns eine Dimension mehr denken, als uns vorliegt. Anderseits aber ist auch hier wieder zu beachten, daß mit dieser Beschreibung der bewußtseinswirklichen Situation allein die für die Einführung eines leeren Raumes maßgebende Gesamtsituation noch nicht erledigt ist. Hier wie sonst gilt es vielmehr, daß die bewußtseinswirkliche Situation nur den Wert eines Darstellungsmittels hat, und daß neben diesem Darstellungsmittel noch der Darstellungsgegenstand, nämlich in unserem Falle die von uns gemeinte außenwirkliche Situation zu berücksichtigen ist. Für diese von uns gemeinte außenwirkliche Situation aber gelten wesentlich andere Bestimmungen als für die bewußtseinswirkliche. Denn in der Wahrnehmungswirklichkeit, so wie sie von uns gemeint wird, befindet sich in der Tat an der Stelle der von uns erblickten unser gesamtes Gesichtsfeld ausfüllenden Fläche ein zwischen körperhaften Beständen waltender und ihnen vorgelagerter leerer, dh. sichthaft nicht ausgefüllter Raum, durch den wir, freilich nur in der geschilderten inadäquaten Weise hindurchblicken. Auch ist unser so gestaltetes Außenwirklichkeitsbild, wie wir früher erkannt haben, keine willkürliche Dichtung. Es stellt vielmehr mit den Mitteln des uns vorliegenden Sichtmateriales gewisse in der transzendenten Außenwirklichkeit tatsächlich herrschende Verhältnisse dar: dieselben Verhältnisse, innerhalb deren wir uns mit unserem eigenen Leibe bewegen, und deren Struktur wir auf Grund dieser Bewegungen in unserer Wahrnehmungsrepräsentation mittelbar immer wieder erproben können. Das gilt auch für das, was wir als unseren leeren Sich träum zu betrachten pflegen. Denn dieser letztere stellt denjenigen Teil der transzendenten Außenwirklichkeit dar, der unserem Leibe keinen merklichen Widerstand bietet, durch den die elektromagnetischen Lichtstrahlen zu unserem Auge gelangen, und der physikalisch nicht weniger wichtig ist als der von uns als erfüllt aufgefaßte Raum der Äußenwirklichkeit. So falsch daher die Auffassung ist, daß in dem bewußtseinswirklichen Bestände unserer Sichtwahr-
Rückblick
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nehmungen ein leerer Raum anwesend sei, so richtig ist es, die Anwesenheit eines solchen Raumes in unserer immanenten Außenwirklichkeit einzusetzen. Nun aber liegt es, wie wir wissen, in der repräsentativen Funktion unseres Bewußtseins, daß wir bei unseren Wahrnehmungen niemals ihren bewußtseinswirklichen Bestand, den wir nicht meinen, sondern immer nur ihre allein von uns gemeinte außenwirkliche Bedeutung in dem Sinne eines erlebniseinheitlichen Bemerkens auffassen. Das aber heißt in unserem Falle: wir fassen nur die von unseren Wahrnehmungen zu repräsentierende außenwirkliche Situation auf, in der der leere Raum mit Recht als anwesend betrachtet wird, nicht dagegen die diese Repräsentation nur vermittelnde bewußtseinswirkliche Situation, von der ein solcher leerer Raum abwesend ist. Daher kann es uns nicht wundernehmen, wenn wir in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung der immanenten Außenwirklichkeit den konstitutiv zu dieser gehörenden leeren Raum als unmittelbar anwesend zu erleben glauben. Blicken wir auf den Gesamtverlauf unserer bisherigen Erörterungen zurück, so können wir nunmehr die für die Ontologie unseres Bewußtseins belangreiche Frage beantworten, ob unsere durch Deutungserfüllung gefundenen Wahrnehmungsstrukturen in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins anwesend sind, und wenn dies nicht der Fall ist, wie es kommt, daß wir sie trotzdem als etwas Anwesendes zu erleben glauben. Die Begriffsbildung des täglichen Lebens macht sich die Beantwortung dieser Frage leicht. Sie behandelt unsere Wahrnehmungswelt als einen bewußtseinswirklich wie außenwirklich in sich eindeutigen ontologischen Bestandkomplex, in dem die auf Deutungserfüllung beruhenden Strukturen als ebenso anwesend betrachtet werden wie die deutungslos gegebenen Empfindungen selbst. Daß diese Auffassung des Sachverhaltes in sich widerspruchsvoll und unhaltbar ist, beweist der Gang unserer Untersuchungen. Wir haben infolgedessen eine andere Auffassung der Sachlage eingeführt, nach der unsere Wahrnehmungswelt den besonderen Charakter einer gnoseologischen Wirklichkeit trägt. Von diesen gnoseologischen Wirklichkeiten sahen wir, daß sie auf einer eigentümlichen Ueberschneidung zwischen einem uns deutungslos gegebenen ontologischen Bestandkomplexe und dem gnoseologischen Bedeutungsgehalte einer falschen Urteilsmeinung beruhten. Dabei blieb die Frage nach der Anwesenheit eines solchen Bedeutungsgehaltes in 28
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Die Transzendenzontologie des Bewußtseins
unserem Bewußtseinsbezirke oder nach seiner Abwesenheit von ihm in dem ersten Teile unserer Untersuchung noch ungeklärt. Die vorangehenden Erörterungen haben diese Klärung herbeigeführt. Sie zeigen, daß den beiden Sphären entsprechend, die sich in jeder gnoseologischen Wirklichkeit überschneiden, zwei verschiedene Anwesenheiten auseinanderzuhalten sind, nämlich erstens die Anwesenheit in dem uns deutungslos gegebenen ontologischen Bestandmateriale und zweitens eine Anwesenheit in dem, was wir mit unserer Deutungserfüllung gnoseologisch meinen. Angesichts der Verschiedenheit dieser beiden Felder kann ein und derselbe Bestand in dem einen von ihnen anwesend und von dem anderen abwesend sein. Dieser Sachverhalt ist auch für die Frage nach der Anwesenheit oder Abwesenheit unserer durch Deutungserfüllung gewonnenen Wahrnehmungsstrukturen innerhalb unseres Bewußtseins maßgebend. Betrachten wir die Situation zunächst von dem Standpunkte unserer Bewußtseinswirklichkeit aus, so kommen wir zu dem Ergebnisse, daß in dieser von unserer sichthaften Wahrnehmungswelt nur das deutungslos Gegebene der Empfindungen und deren flächenhafte Struktur anwesend, die hieraus erdeutete immanenzontologische Struktur dagegen, obwohl nur diese erlebniseinheitlich von uns aufgefaßt wird, abwesend ist. Unsere deutungserfüllte Wahrnehmungswelt ist also als gnoseologische Wirklichkeit nicht etwa ein Phänomen von eigener Art. Sie ist kein neuer Wirklichkeitstypus, der statt des ontologischen einen gnoseologischen Charakter trüge. Vielmehr besteht sie in einem einfachen unmittelbar in unserem Bewußtsein anwesenden ontologischen Bestandkomplexe, mit dem der von unserem Bewußtsein abwesende und nur gnoseologisch von uns gedachte Bedeutungsgehalt einer falschen Urteilsmeinung identifiziert wird. Diese Identifikation vollziehen wir in dem Falle unserer immanenten Wahrnehmungswelt mit psychologischer Zwangsläufigkeit. Die für das Wesen der gnoseologischen Wirklichkeit und daher auch für das unserer Wahrnehmungswelt typischen inneren Widersprüche, die bei einem in sich einheitlichen ontologischen Bestandkomplexe unverständlich wären, sind demnach keine Widersprüche innerhalb eines in unserer Bewußtseinswirklichkeit anwesenden Bestandkomplexes. Es sind vielmehr Widersprüche zwischen diesem letzteren und der Struktur eines von uns zwar gemeinten, aber von unserem Bewußtsein abwesenden Bestandes, der von uns in falscher Urteilsmeinung mit dem anwesenden Komplexe identisch gesetzt wird, dergestalt daß dem anwesenden Komplexe eine Struktur beigelegt wird, die nur dem abwesenden zukommt. Oder anders ausgedrückt:
Die Lehre von den Ansichten in der Wahrnehmungswelt
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von dem Standpunkte unserer Bewußtseinswirklichkeit aus beurteilt unterscheidet sich die Struktur unserer deutungserfüllten Wahrnehmung als gnoseologische Wirklichkeit nicht von dem charakteristischen Zusammenhange, der auch sonst zwischen einem uns unmittelbar vorliegenden Bestände und dem Bedeutungsgehalte einer auf ihn gemünzten falschen Urteilsmeinung besteht. So nimmt sich der Sachverhalt aber nur dann aus, wenn wir ihn von dem Standpunkte der Bewußtseinswirklichkeit aus betrachten und den hier waltenden Strukturverhältnissen gerecht werden. Allein unsere Bewußtseinswirklichkeit ist nicht der Gegenstand, auf den unser Meinen abzielt. Daher werden auch jene zu unserer Bewußtseinswirklichkeit gehörigen Strukturverhältnisse erlebniseinheitlich nicht von uns aufgefaßt. Stattdessen fassen wir vielmehr einen anderen Sachverhalt auf, der uns zwar als solcher nicht vorliegt, auf den sich aber unser Meinen richtet, und den wir mit dem uns vorliegenden Empfindungsmateriale zwangsläufig identisch setzen: nämlich die von uns als außenwirklich angesprochene immanente Wahrnehmungswelt. Nur dieser von uns geraeinte falsche Sachverhalt kommt zu unserer erlebniseinheitlichen Kenntnis. In ihm aber sind die von uns nur gnoseologisch gedachten und von der Wirklichkeit unseres Bewußtseins abwesenden Strukturen gegenwärtig. Es sind die auf unser Wahrnehmungsmaterial übertragenen Strukturen der transzendenten Außenwirklichkeit. Versteht man daher unter Wahrnehmung dasjenige, was wir von den uns vorliegenden Beständen meinend und erlebend erfassen, dann ist es richtig, wenn wir behaupten, daß die durch Deutungserfüllung gefundene Außenwirklichkeitsstruktur in unserer Wahrnehmung anwesend sei. Und falsch ist es nur, daß diese gemeinte und erlebte Wahrnehmungsstruktur zugleich die in dem ontologischen Sinne des Wortes bewußtseinswirkliche darstelle. Unsere immanenzontologische Praxis kennt also das uns vorliegende Wahrnehmungsmaterial nur in seiner gnoseologischen Umdeutung als Außenwirklichkeit. Meist entgehen uns dabei die mit der Falschheit dieser Umdeutung verbundenen inneren Widersprüche. Aber das ist nicht immer der Fall. Vielmehr werden wir diese Widersprüche gelegentlich auch gewahr. Wir unterscheiden dann zwischen dem, was wir als die Außenwirklichkeit selbst betrachten, und unserer bloßen Ansicht von ihr. Zwar lassen wir uns durch diese Unterscheidung, wie wir sogleich sehen werden, in unserer immanenzontologischen Praxis nicht stören. Aber grundsätzlich sind solche Gelegenheiten für unsere Problemstellung lehrreich. Denn durch jene 28*
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Unterscheidung bestätigt unser alltägliches Verhalten in seiner Weise die hier vorgetragene Lehre, nach der der Sinngehalt unserer Deutungserfüllung von dem uns vorliegenden Bestandmateriale abwesend und zu diesem von uns nur hinzugedacht ist. Beispiele hierfür bietet das tägliche Leben in Fülle. So sagen wir von der Krönung einer hohen Kirchturmspitze, sie erscheine von unten gesehen nur wenige Zentimeter lang, messe jedoch mehrere Meter. Oder wir stellen fest, daß wir gewisse Flächenstücke der von uns erschauten Körper nicht in ihrer wahren Größe und Gestalt erblicken sondern verkürzt und verschoben. Usw. Ueberall machen wir in solchen Fällen einen Unterschied zwischen unserer bloßen Ansicht der Wahrnehmungsbestände und diesen selbst. Jene Ansicht betrachten wir als eine nur für uns bestehende Situation. Die immanente Außenwelt selbst dagegen gilt uns als ein an sich bestehender Sachbefund. Die erstere erkennen wir als etwas in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins unmittelbar Anwesendes. Von der letzteren ahnen wir, daß sie von jenem Bezirke abwesend ist. Oder anders ausgedrückt: jene bloße Ansicht wird in dem engeren Sinne des Wortes von uns wahrgenommen. Der außenwirkliche Tatbestand dagegen, also zB. die wahre Länge der Kirchturmkrönung oder die wahre Größe und Gestalt jener Flächenstücke wird von uns nicht wahrgenommen sondern an der Stelle unserer Wahrnehmung gedacht. Unsere praktische Beurteilung des Sachverhaltes nähert sich hierin der theoretisch von uns durchgeführten Unterscheidung zwischen dem ontologischen und dem gnoseologischen Einschlage unserer Wahrnehmung. Dennoch ziehen wir für die Praxis unserer Wahrnehmungsdeutung nicht die entsprechenden Folgerungen hieraus. Daran hindert uns die Zwangsläufigkeit unserer immanenzontologischen Bewußtseinseinstellung. Denn diese führt uns trotz der soeben geschilderten Erkenntnisse dazu, auch unsere bloßen Ansichten der Wahrnehmungswelt noch so zu behandeln, als wären sie nicht lediglich für uns giltige Repräsentationen sondern echte außenwirkliche Sachverhalte. Dadurch bringen wir in unsere Beurteilung der Wahrnehmungs welt einen eigentümlichen Zwiespalt. Denn auf der einen Seite sind wir uns darüber klar, daß solche Ansichten nur für den Wahrnehmenden selbst gelten. Auf der anderen Seite aber betrachten wir sie trotzdem nicht als etwas nur Bewußtseinswirkliches, sondern weisen ihnen einen Platz mitten in unserer immanenten Außenwirklichkeit an. Dazu sind wir gezwungen, weil diese Ansichten konstitutiv zu unserer Wahrnehmungswelt gehören. Denn in demselben Systemgefüge, in dem wir zB. die verkleinerte Kirchturmkrönung oder jene verkürzten
Die drei Faktoren der Wahrnehmungsdeutung
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und verschobenen Flächenstücke erblicken, treten auch andere Wahrnehmungsgebilde auf, wie die unteren Teile der Kirche oder die frontal erblickten Flächenstücke, die wir nicht als bloße Ansichten, sondern als von uns unabhängige Außenwirklichkeitsbestände zu behandeln pflegen. Wir müßten also unsere gesamte Immanenzontologie aufgeben, wenn wir mit der bloßen Bewußtseinswirklichkeit jener Ansichten ernstmachen wollten. Dazu aber sind wir, wie wir wissen, um des vollendeten und unhemmbaren Erscheinungscharakters unserer Wahrnehmungsweltwillenaußerstande. UnsereUnterscheidungzwischen dem von uns als außenwirklich betrachteten Sachverhalte selbst und der nur für den jeweils Wahrnehmenden giltigen Ansicht dieses Sachverhaltes läuft also neben der immanenzontologischen Praxis unserer Wahrnehmungsdeutungen einher, ohne in diese einzugreifen. Wäre es anders und könnten wir auch in unserer immanenzontologischen Praxis jene Unterscheidung zwischen einer bloßen Ansicht der Dinge und diesen selber folgerichtig durchführen, so würden wir zu dem von uns formulierten Ergebnisse gelangen, demzufolge in unserer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit nur die deutungslos gegebenen Empfindungen anwesend sind, unsere Deutungserfüllungen aber nicht nur stellenweise sondern durchgehends ontologisch abwesende Strukturen bilden, die als Bedeutungsgehalte falscher Urteilsmeinungen von uns nicht wahrgenommen, sondern an der Stelle unserer Wahrnehmungen oder in Ergänzung zu ihnen nur gedacht werden. Man kann in dieser Hinsicht unsere Deutungserfüllung der Wahrnehmungsbestände einem Denken von beliebigen anderen abwesenden Beständen gleichstellen. Denn die Außenwirklichkeitsstruktur, die wir aus unserer Wahrnehmung erdeuten, ist von dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins im Grunde ebenso abwesend, wie etwa, um unsere früheren Beispiele wiederaufzunehmen, Walther von der Vogelweide oder die Insel Ceylon. Unserer Deutungserfüllung liegen daher auch dieselben eigentümlichen Bezugsverhältnisse zugrunde, die, wie wir früher erkannt haben, mit allen Meinungen über abwesende Bestände verbunden sind. Wir zeigten damals, daß wir erlebniseinheitlich bei diesen Meinungen nur deren gnoseologischen Bedeutungsgehalt innewerden, uns also ausschließlich an den von uns gemeinten abwesenden Bestand halten; nicht dagegen dasjenige auffassen, was bei einem solchen Meinen in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins vorgeht. Für unsere immanenzontologische Deutungserfüllung gilt dasselbe. Wir halten uns nur an ihren Sinn, werden also nur die gnoseologisch von uns gemeinte abwesende Außenwirklichkeits-
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struktur inne; nicht dagegen erfassen wir dasjenige, was ontologisch in unserem Bewußtsein anwesend ist, wenn wir eine solche Deutung vollziehen. Und doch muß dort irgendetwas als Gegenwert unserer Deutung auftreten. Denn wir könnten die von uns abwesende Außenwirklichkeitsstruktur nicht meinen, wenn nicht irgendetwas in unserem Bewußtsein anwesend wäre, womit wir sie meinen. Unsere deutungserfüllte Wahrnehmung hat also außer den deutungslosen Empfindungen als dem Materiale, an dem sich die Deutungserfüllung vollzieht, noch eine zweite ontologische Grundlage in dem uns unbekannten bewußtsseinswirklichen Gegenwerte der Deutungserfüllung. Demnach können wir hier drei verschiedene Faktoren unterscheiden: nämlich erstens den Sinngehalt unserer Deutungserfüllung als einen gnoseologisch gemeinten Bestand; zweitens unsere deutungslosen Empfindungen als denjenigen ontologischen Bestand, dem unsere Deutungserfüllung gilt; und drittens den soeben gekennzeichneten ontologischen Gegenwert dieser letzteren als ihre uns unbekannte Eigengrundlage. Diese drei Faktoren aber sind uns bereits bekannt. Denn es sind grundsätzlich dieselben, von denen wir früher sahen, daß sie für alle falschen Urteilsmeinungen über anwesende Bestände charakteristisch sind. Auch in dieser Hinsicht trägt also unsere Deutungserfüllung die Merkmale einer solchen Urteilsmeinung. Und zwar bildet bei ihr, wie aus unseren früheren Erörterungen hervorgeht, der erste Faktor den Bedeutungsgehalt unseres Urteilsprädikates, der zweite den Bedeutungsgehalt des Urteilssubjektes und der dritte die bewußtseinswirkliche Grundlage des nur gnoseologisch von uns erfaßten ersten Faktors. Für unsere erlebniseinheitliche Auffassung scheidet, wie wir schon damals erkannten, der dritte Faktor aus. Dagegen werden wir den ersten und den zweiten Faktor inne. Beide jedoch kennen wir hier wie bei allen falschen Urteilsmeinungen nur so, wie sie sich in ihrer wechselseitigen Identifikation darstellen, nicht dagegen so, wie sie abgesehen von dieser falschen Identifikation an sich selber sind. Das aber heißt in unserem Falle: wir kennen weder unsere Empfindungen so, wie sie in ihrem bewußtseinswirklichen Bestände an sich selbst sind; noch kennen wir den uns transzendenten Ansichbestand der Außen Wirklichkeitsstruktur; wohl aber kennen wir unsere deutungserfüllte Wahrnehmungswelt als eine falsche Identifikation dieser beiden Gebilde. Das, was wir erlebniseinheitlich in unserer Wahrnehmung erfassen, ist also von den eigentümlichen Komplikationen zu unterscheiden, die einer solchen Erfassung in der Wirklichkeitssystematik unseres Bewußtseins zugrundeliegen.
Das psychologische und das ontologische Verfahren
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Aus diesem eigentümlichen Bezugsverhältnisse zwischen unserer erlebniseinheitlichen Erfassung und den hier geschilderten drei Faktoren geht zugleich hervor, daß unsere Herausarbeitung dieser letzteren jenseits des Rahmens einer Psychologie liegt, die sich auf eine Beschreibung der sogenannten Erfahrung beschränkt. Denn unsere Erfahrung besteht in dem, was wir erlebniseinheitlich erfassen. Und erlebniseinheitlich wird als solcher keiner jener drei Faktoren erfaßt. Es zeigt sich also, daß in diesem Falle die Methoden der empirischen Psychologie für sich allein nicht hinreichen, um die in unserer Bewußtseinswirklichkeit waltenden Strukturverhältnisse aufzuklären. Hier muß vielmehr das Verfahren der empirischen Psychologie durch das der Ontologie ergänzt werden. Die Notwendigkeit einer solchen Ergänzung macht sich aber nicht nur in diesem einen Falle geltend. Sie erstreckt sich vielmehr, wie der weitere Verlauf unserer Untersuchung immer klarer herausstellen wird, auf das Gesamtgebiet der Psychologie überhaupt. Das grundsätzliche Verhältnis zwischen der empirischen Psychologie und der Ontologie des Bewußtseins begrifflich zu bestimmen, muß einer späteren Erörterung vorbehalten bleiben. Hier sei nur darauf hingewiesen, daß uns der bisherige Verlauf unserer Untersuchungen eine für diese Bestimmung belangreiche Tatsache erschlossen hat. Denn er hat uns gezeigt, daß das, was wir erlebniseinheitlich auffassen, etwas anderes ist als das Gefüge der Faktoren, die dieser unserer Auffassung zugrundeliegen. Mit einer Beschreibung jener erlebniseinheitlich aufgefaßten Gebilde hat es die empirische Psychologie zu tun; mit einer Ermittelung dieses Gefüges die Ontologie. Beide Wissenschaften bedienen sich unserer erlebniseinheitlichen Erfahrung. Aber für die empirische Psychologie ist diese Erfahrung der von ihr zu beschreibende Erkenntnisgegenstand selbst. Für die Ontologie dagegen hat sie nur den Wert eines Erkenntnismittels. Denn der eigentliche Erkenntnisgegenstand der Ontologie, eben das Gefüge jener Faktoren, ist als solcher für uns unerfahrbar und läßt sich nur mittelbar aus unserer Erfahrung erschließen. Man kann dieses Verhältnis zwischen der empirischen Psychologie und der Ontologie des Bewußtseins auch dahin charakterisieren, daß die Ergebnisse jener Psychologie den Erkenntnisgrund bilden, von dem die Ontologie ausgeht, und daß diese ihrerseits den Realgrund aufdeckt, aus dem die Ergebnisse der Psychologie verständlich werden. Dies auf das hier erörterte Zusammenwirken der drei Faktoren in unserer Wahrnehmung angewendet würde heißen, daß in der Beschreibung, die die empirische Psychologie von unseren Wahrnehmungserleb-
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nissen gibt, diese drei Faktoren nicht vorkommen und auch nicht in ihr vorkommen können, da unsere Erfahrung nur das einheitliche Bild der deutungserfüllten Wahrnehmung selbst zeigt, nicht aber solche Faktoren. Auf der anderen Seite aber würde es heißen, daß eine ontologische Prüfung der in diesem Gesamtbilde waltenden StrukturVerhältnisse das Vorhandensein jener drei Faktoren erweist, und daß nur so das eigentümliche Wesen der von uns erlebten Wahrnehmungsgebilde erklärbar wird. Ein entsprechender Gesichtspunkt gilt für unsere Darlegung, daß die Deutungserfüllung unserer Wahrnehmungen den Charakter einer falschen Urteilsmeinung trägt. Auch diese Darlegung ist als eine ontologische und nicht als eine empirisch psychologische zu verstehen. Sie darf daher nicht dahin ausgelegt werden, daß wir in zwei irgendwie von uns bemerkten und zeitlich voneinander getrennten Handlungen zunächst das deutungslos Gegebene erfaßten und über dieses sodann unser falsches Urteil fällten. Das ist nicht der Fall. Denn in dem, was wir erlebniseinheitlich bemerken, treten keine derartigen Handlungen auf. Vielmehr ist hier die deutungserfüllte Wahrnehmung als ein in sich geschlossener Gesamtkomplex einfach gegenwärtig. Erfahrungspsychologisch wäre daher jene Charakteristik unserer Deutungserfüllung als einer falschen Urteilsmeinung unzutreffend. Ontologisch besteht diese Charakteristik gleichwohl zu Recht. Denn die Ontotogie fragt ihrem Aufgabenkreise entsprechend nicht danach, was wir an Handlungen oder Vorgängen in unserem Bewußtsein bemerken, sondern sie fragt nach der grundsätzlichen Struktur der in unserem Bewußtsein auftretenden Bestandgefüge. Daß diese Struktur durch mancherlei Vorgänge bedingt sein kann, liegt auf der Hand. Aber wir pflegen solche Vorgänge nicht immer zu gewahren. Sie bleiben uns vielmehr gewöhnlich verborgen. Das tritt in den mit unseren Urteilen verbundenen Strukturverhältnissen deutlich zutage. Denn bei diesen kommt uns in der Regel nur der Urteilsinhalt zu Bewußtsein, nicht dagegen der Urteilsvorgang. Dh. wie wir für gewöhnlich nicht den Aktvorgang unseres Denkens als solchen innezuwerden pflegen sondern nur den Bedeutungsgehalt des Gedachten, so pflegen wir imbesonderen auch nicht den Aktvorgang unseres Urteilens innezuwerden sondern nur den Bedeutungsgehalt unserer Urteilsmeinung. Das gilt für unsere Urteile über unmittelbar anwesende Bestände ebenso wie für andere Urteile. Wenn ich zB. einen mir auf der Straße entgegenkommenden Herrn für eine bestimmte Persönlichkeit halte, so kommt mir im Normalfalle nur der Sinn dieses meines Dafürhaltens zu Bewußtsein. Dh. ich erlebe
Die Lehre von der gnoseologischen Verdrängung
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den von mir erblickten anwesenden Herrn und die von mir gemeinte aber abwesende Persönlichkeit als einen und denselben in sich einheitlichen Bestand. Dagegen werde ich bei diesem Erlebnisse weder einen Urteilsakt gewahr, noch wird es mir bewußt, daß hier ein mir unmittelbar vorliegender ontologischer Bestand mit dem nur gnoseologisch gedachten Bedeutungsgehalte einer Urteilsmeinung identisch gesetzt worden ist. Nichtsdestoweniger läßt sich an dem Strukturzusammenhange dessen, was ich bei einem solchen Dafürhalten erlebe, feststellen, daß diese Identifikation vollzogen und ein Urteil gegefällt worden ist. Von dem, was ich erlebe, sind also auch hier wieder die Strukturverhältnisse zu unterscheiden, die dieses Erlebnis bedingen. Nun aber ist, wie wir gesehen haben, unsere Deutungserfüllung der Wahrnehmungen ein Dafürhalten von der hier beschriebenen Art. Denn sie besteht darin, daß wir die uns unmittelbar vorliegenden Empfindungsbestände für die uns umgebende Außenwirklichkeit halten. Es gilt also für unser Erlebnis der deutungserfüllten Wahrnehmung dasselbe, was wir soeben an unserem Beispiele erläutert haben. Dh. wir erfassen in unseren Wahrnehmungen nur den Bedeutungsgehalt eines Urteils, nämlich die scheinbar untrennbare Einheitlichkeit unseres Empfindungsbestandes und der Außenwirklichkeit. Dagegen gewahren wir in ihnen weder einen Urteilsakt, hoch werden wir uns der tatsächlich in ihnen vollzogenen Identifikation zwischen dem uns vorliegenden ontologischen Bestandkomplexe und dem nur gnoseologisch von uns gemeinten Bedeutungsgehalte unserer Urteilsmeinung bewußt. Nichtsdestoweniger läßt sich auch hier nachweisen, daß diese Identifikation vollzogen und ein solches Urteil gefällt ist. Aber wie alle nicht von uns erfahrbaren Strukturverhältnisse unseres Bewußtseins, so fallen auch diese letzteren Tatsachen nicht mehr in das Gebiet einer empirischen Psychologie, die sich auf die Beschreibung unserer Erlebnisse als solcher beschränkt. Ihre Klarstellung ist vielmehr nur mit den Methoden der Ontologie, dh. durch eine systematische Nachprüfung der in unserer Wahrnehmung enthaltenen eigentümlichen Komplikationen möglich. Mit dem Hinweise darauf, daß den erlebniseinheitlich von uns bemerkten Bestandgefügen andere von uns unbemerkte Bestände und Strukturen zugrundeliegen, haben wir eine Situation aufgedeckt, die unser gesamtes Bewußtsein durchzieht. Das Eigentümliche dieser Situation hängt mit unserer Unterscheidung zwischen dem ontologischen Bezirke und dem gnoseologischen Bereiche des Bewußtseins zusammen.
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In jenem Bezirke treten diejenigen Strukturzusammenhänge auf, die zu der Wirklichkeit unseres Bewußtseins gehören. In diesem Bereiche dagegen sind diejenigen Strukturzusammenhänge, die wir nur meinen, die jedoch zu der Wirklichkeit unseres eigenen Bewußtseins nicht gehören. Beide Strukturzusammenhänge sind in dem Gesamtsysteme enthalten, das wir ohne Rücksicht auf eine Unterscheidung zwischen ontologischen und gnoseologischen Beständen im täglichen Leben als unser Bewußtsein zu bezeichnen pflegen. Sie bilden in diesem Gesamtsysteme aber zwei sich grundsätzlich voneinander unterscheidende Sphären, innerhalb deren verschiedene, in der Regel sich wechselseitig ausschließende Gebilde anwesend sind. Dabei hängt es, wie bereits angedeutet wurde, und wie in dem weiteren Verlaufe dieses Kapitels immer klarer zutagetreten wird, mit der repräsentativen Funktion unseres Bewußtseins zusammen, daß wir erlebniseinheitlich nur die eine dieser beiden Sphären und zwar nicht die zu der Wirklichkeit unseres Bewußtseins gehörige ontologische sondern seine zu dieser Wirklichkeit nicht gehörige gnoseologische erfassen. Für unsere erlebniseinheitliche Erfassung ist also der ontologische Bestand unseres Bewußtseins durch seinen gnoseologischen Bedeutungsgehalt verdrängt. Dieses Phänomen einer gnoseologischen Verdrängung erweist sich als für den Aufbau unseres Bewußtseins konstitutiv. Wir haben es uns daher genauer zu vergegenwärtigen. Und zwar wollen wir für den Zweck unserer Erörterungen drei verschiedene Typen der gnoseologischen Verdrängung unterscheiden. Das auszeichnende Merkmal des ersten Typus besteht darin, daß der Bestandkomplex, der hier gnoseologisch verdrängt wird, nichtsdestoweniger in dem Bestandkompiexe, der an seine Stelle tritt, vollständig erhalten bleibt und mit diesem letzteren kraft falscher Urteilsmeinung identifiziert wird. Das klassische Beispiel für dieses Bezugsverhältnis bildet die in den vorangehenden Erörterungen ausführlich behandelte Verdrängung der deutungslos gegebenen Empfindungsstrukturen durch deren Deutungserfüllung. Unserem erlebniseinheitlichen Bemerken entgehen hier die uns bewußtseinswirklich vorliegenden, aber nicht von uns gemeinten Strukturverhältnisse, und an ihre Stelle treten die von uns gemeinten und erlebniseinheitlich erfaßten, in unserem Bewußtsein aber nicht anwesenden Außenwirklichkeitsstrukturen, die wir mit den verdrängten Gebilden identisch setzen. Diesem letzteren Umstände, dh. unserer Identifikation zwischen dem gemeinten und dem vorliegenden Bestandkompiexe ist es zu verdanken, daß das Wesen der gnoseologischen Verdrängung in dem Falle des hier behandelten ersten Typus besonders deutlich in die
Die Lehre von der gnoseologischen Verdrängung
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Erscheinung tritt. Denn da der verdrängte Bestand in dem ihn verdrängenden erhalten bleibt, kann er in diesem letzteren unmittelbar nachgewiesen werden. Dh. wir können zeigen, daß er in dem, was wir erlebniseinheitlich auffassen, vorhanden ist, obwohl er selbst nicht erlebniseinheitlich von uns aufgefaßt wird. Er ist also in diesem Falle nicht der Gegenstand einer bloßen Vermutung sondern ein klar zutageliegendes Ingrediens des in unserer Erfahrung auftretenden und ihn verdrängenden Bestandkomplexes selber. Anders steht es mit dem zweiten Typus der gnoseologischen Verdrängung. Dieser kennzeichnet sich dadurch, daß bei ihm der verdrängte Bestand in dem, was wir meinen und erlebniseinheitlich auffassen, für gewöhnlich nicht enthalten ist. Die für den ersten Typus charakteristische Identifikation zwischen dem uns vorliegenden und einem gemeinten Bestandkomplexe findet also bei dem zweiten Typus nicht statt. Vielmehr tritt hier an die Stelle des verdrängten Bestandes ein ontologisch wiederum von uns abwesendes, zugleich aber von jenem Bestände in jeder Hinsicht losgelöstes Gebilde. Dabei wird das letztere auch in diesem Falle trotz seiner Abwesenheit von unserer Bewußtseinswirklichkeit praktisch als anwesend behandelt und mit bestimmten tatsächlich anwesenden Beständen in dem Sinne des ersten Typus identifiziert. Der in dem Sinne dieses zweiten Typus verdrängte Bestand dagegen pflegt für uns restlos zu verschwinden. Nur in bestimmten Fällen und auch da nur ausnahmsweise ist es möglich, ihn in die erlebniseinheitlich aufgefaßte Sphäre unseres Bewußtseins zu erheben. Er kann dann neben dem ihn sonst verdrängenden Bestände auftreten, ohne diesen zu beeinträchtigen. Zu dem Typus der auf solche Weise verdrängten Bestände gehört ein großer Teil der sogenannten Lokalzeichen, mit deren Unterstützung wir uns in der immanenten Außenwirklichkeit orientieren. Ein einfaches Beispiel hierfür bilden die Gelenk-, Sehnen- und Muskelempfindungen, mit deren Hilfe wir uns über gewisse Lagen und Lageveränderungen unserer Gliedmaßen unterrichten. Erlebniseinheitlich wissen wir in der Regel über unsere Gliedmaßen, abgesehen von unseren Sichtwahrnehmungen, nur gnoseologisch und durch anschauliche Vorstellungsbilder bescheid. Von unseren Unästhetischen Empfindungen als solchen merken wir dann nichts. Erst wenn wir auf diese achtgeben, gewahren wir sie. Dennoch sind derartige Empfindungen, auch wenn wir sie nicht bemerken, in unserem Bewußtsein wirksam. Denn die pathologische Psychologie zeigt uns, daß wir ohne sie unsere Gliederbewegungen nicht mehr normal dirigieren können. Die nicht von uns bemerkten Unästhetischen Emp-
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findungen sind also ontologisch in unserem Bewußtsein vorhanden. Aber sie sind gnoseologisch durch etwas anderes, nämlich durch unsere Kenntnis der Gliedmaßen verdrängt. Das erklärt sich daraus, daß, insoweit wir uns um unsere Gliedmaßen überhaupt kümmern, nur diese selbst den Gegenstand bilden, auf den sich unser Meinen und damit unser erlebniseinheitliches Erfassen richtet, während jene kinästhetischen Empfindungen lediglich ein Hilfsmittel sind, durch das wir zu diesem unserem Meinungsgegenstande gelangen, auf welches selber wir aber nicht aufmerksam zu werden pflegen, da nur unsere Gliedmaßen, nicht aber jene Empfindungen von uns gemeint werden. Ein anderes Beispiel dieser Art bildet die viel verhandelte Querdisparation der Netzhautbilder, die wir in unserer normalen Wahrnehmung als solche nicht gewahrwerden, die sich aber unter bestimmten Bedingungen beobachten läßt, und die für unsere Erdeutung der Tiefendimension zwar nicht unerläßlich ist, wie das Verhalten der Einäugigen zeigt, eine solche Erdeutung jedoch, ohne daß wir darum wissen, unterstützt. Auch hier wird erlebniseinheitlich nur dasjenige, was wir meinen, nämlich die Raumtiefe erfaßt, auf die wir unsere Aufmerksamkeit richten, und die an sich mit jenen Verdoppelungen nichts zu tun hat. Dagegen wird das Hilfsmittel, das uns zu diesem Zwecke dient, die Querdisparation der Netzhautbilder selbst, obwohl sich ihr bewußtseinswirkliches Vorhandensein nachweisen läßt, nicht bemerkt. Sie ist gnoseologisch verdrängt. Aehnlich scheint es sich mit den Bewußtseinsbeständen zu verhalten, die für unsere Lokalisation des Schalles bei binauralem Hören maßgebend sind. Erlebniseinheitlich wird der hier in Frage kommende und in seinem Wesen noch nicht restlos geklärte Unterschied zwischen den Schallwahrnehmungen der beiden Ohren als solcher nicht aufgefaßt. Wir sind nicht einmal imstande, ihn auf diese Weise zu gewahren. Wohl aber können wir nachweisen, daß gewisse zwischen den Schallwahrnehmungen der beiden Ohren stattfindende Unterschiede für unsere erlebniseinheitliche Lokalisation des Schalles maßgebend sind. Wir hätten dementsprechend anzunehmen, daß jene Unterschiede in der Wirklichkeit unseres Bewußtseins zwar vorhanden sind, daß aber für unser erlebniseinheitliches Bemerken an ihre Stelle die grundsätzlich von ihnen verschiedene Lokalisation des Schalles als derjenige Gegenstand unseres Meinens tritt, zu dem wir mit Hilfe jener bewußtseinswirklichen Unterschiede gelangen. Auch hier hätten wir es also mit einer gnoseologischen Verdrängung in dem Sinne des zweiten Typus zu tun.
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Die Beispiele für diesen Typus ließen sich leicht vermehren. Sie finden sich auch außerhalb des Gebietes der Lokalzeichen, zB. in dem Bereiche des sogenannten Instinktlebens. In allen Fällen dieser Art verschwinden gewisse ontologische Bestände aus der Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens, und an ihre Stelle treten andere gnoseologisch gemeinte Bestände, die von unserer Bewußtseinswirklichkeit abwesend sind, nichtsdestoweniger aber als anwesende von uns behandelt werden. Anders steht es in dieser Beziehung mit dem dritten Typus der gnoseologischen Verdrängung. Er unterscheidet sich von dem ersten und zweiten Typus dadurch, daß der von uns gemeinte Bestand hier nicht nur tatsächlich abwesend ist, sondern auch von uns selbst als ein abwesender gemeint wird. Das ist der Fall in unserem Denken aller derjenigen Bestände, bei denen wir uns bewußt sind, daß das Gemeinte jenseits unseres ontologischen Bezirkes und nur in unserer gnoseologischen Reichweite liegt. In diesen Fällen können wir unseren früheren Darlegungen entsprechend den in unserem Bewußtsein auftretenden ontologischen Bestand, wie das schon in gewissen Fällen des zweiten Typus der Fall war, seinem eigentlichen Wesen nach überhaupt nicht ermitteln. Nichtsdestoweniger ist es auch hier keine unbeweisbare Behauptung, daß ein solcher Bestand vorhanden sei. Denn der Gang unserer Erörterungen hat uns gezeigt, daß es keine gemeinten Bestände geben kann ohne ein Meinen, das in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke anwesend ist. Wir sind daher zu der Annahme gezwungen, daß als ontologische Grundlage unserer Meinungen irgendetwas in unserem Bewußtsein vorhanden sein muß, kraft dessen wir die gnoseologische Relation im Hinblicke auf den gemeinten abwesenden Bestand vollziehen. Und diese Annahme wird durch gewisse Erlebnisweisen, die uns bald näher beschäftigen werden, bestätigt. Versuchen wir das hier geschilderte Wesen der gnoseologischen Verdrängung in die Gesamtheit unserer Bewußtseinstatsachen einzuordnen, so erkennen wir, daß sie unter diesen kein einzigartiges Faktum darstellt. Vielmehr finden wir, daß ähnliche Verdrängungen auch sonst in unserem Bewußtsein vorkommen. Die gnoseologische Verdrängung ist demnach nur der besondere Fall einer allgemeineren Erscheinung. Das Auftreten dieser Erscheinung hängt mit dem früher von uns dargelegten Unterschiede zwischen der Sphäre unserer bewußtseinswirklichen Darbietung und der Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens zusammen. Wir erkannten damals, daß die erlebniseinheitlich von uns aufgefaßten Bestände und Strukturen nicht alle in demselben Grade von uns bemerkt werden, son-
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dern daß hier Abstufungen und Uebergänge stattfinden. Und wir erkannten ferner, daß in unserer Bewußtseinsdarbietung auch solche Bestände und Strukturen vorhanden sein können, die wir überhaupt nicht bemerken. Mit anderen Worten: es zeigte sich, daß die Sphäre des erlebniseinheitlichen Bemerkens in ihren spezifischen Abtönungen von der Sphäre der bewußtseinswirklichen Darbietung verschieden ist, und daß sie an Bestandfülle von dieser überragt wird. Hierbei ist es im Hinblicke auf das Wesen der gnoseologischen Verdrängung bemerkenswert, daß unser Beachten, Vernachlässigen oder vollständiges Uebersehen der dargebotenen Bestände, wie wir früher festgestellt haben, nicht immer die ganzen Bestände als solche trifft, sondern sich auch auf bloße Eigenschaften und Strukturen derselben erstrecken kann. Es kann also vorkommen, daß wir gewisse Eigentümlichkeiten eines dargebotenen Bestandes erlebniseinheitlich erfassen, während uns andere Eigenschaften desselben Bestandes entgehen. So konnten wir, um ein früheres Beispiel wieder aufzunehmen, an einem Bildnisse die Züge des in ihm dargestellten Antlitzes beachten, aber nicht den Pinselstrich, mit dem sie dargestellt sind. Usw. Es kann also ein und derselbe Gegenstand nach der einen Hinsicht in dem Mittelpunkte unserer Aufmerksamkeit stehen und in einer anderen Hinsicht vernachlässigt sein. Von den auf diese Weise vernachlässigten oder überhaupt nicht aufgefaßten Beständen, Eigenschaften und Strukturen können wir sagen, daß sie aus der Sphäre unserer erlebniseinheitlichen Erfassung durch andere Bestände, auf die wir unsere Aufmerksamkeit lenken, verdrängt sind. Es ist, um an unsere Erörterungen über die Ganzheitsstruktur der Erlebniseinheit zu erinnern, so, als ob unser Bemerken nur über eine beschränkte Haushaltungssumme verfügte, diese aber zugunsten bestimmter und auf Kosten anderer Bestände oder Bestandeigentümlichkeiten auf das Ganze der bewußtseinswirklichen Darbietung ungleichmäßig verteilte. Die von uns geschilderte gnoseologische Verdrängung bildet nur einen besonderen Fall dieser allgemeineren Erscheinung. Denn auch hier treten bestimmte Bestände und Bestandeigentümlichkeiten unserer bewußtseinswirklichen Darbietung zugunsten anderer Gebilde, denen unsere ausschließliche Aufmerksamkeit zugewendet ist, nämlich zu Gunsten der gnoseologisch von uns gemeinten Bestände oder Strukturen zurück und werden von uns übersehen. Dabei gehört es zu der Struktur der gnoseologischen Verdrängung, daß in ihr der verdrängte Bestand die Grundlage bildet, auf der der verdrängende Bestand beruht. Das ist hier dadurch be-
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dingt, daß die gnoseologischen Gebilde, da ihnen eine Wirklichkeit in dem ontologischen Sinne des Wortes abgeht, niemals für sich allein auftreten können, sondern als Phänomene höherer Ordnung stets ontologisch wirkliche Bestände voraussetzen, über denen sie sich erheben. Diese letzteren Bestände aber sind zugleich diejenigen, die durch die gnoseologischen Gebilde aus der Sphäre unseres Bemerkens verdrängt werden. So erhob sich in dem ersten Typus der gnoseologischen Verdrängung die deutungserfüllte Wahrnehmungsstruktur über der verdrängten Struktur unserer Empfindungen. Bei dem zweiten Typus erhob sie sich außerdem über den durch eine solche Verdrängung zeitweise oder dauernd ausgeschalteten Beständen von der Art der Lokalzeichen. Und bei dem dritten Typus, der, wie wir gesehen haben, einen mitwirkenden Faktor auch des ersten und zweiten Typus bildet, erhebt sich der verdrängende Bestand über der hier in Frage kommenden, uns aber unbekannt bleibenden ontologischen Grundlage unserer Gedanken an abwesende Bestände. In allen diesen drei Typen der gnoseologischen Verdrängung stützen sich also die von uns gemeinten und erlebniseinheitlich erfaßten Gebilde auf das Dasein der verdrängten Bestände. Ein solches Verhältnis ist kein allgemeines Merkmal der Verdrängung von Bewußtseinsbeständen überhaupt. Es gibt vielmehr auch andere Verdrängungen, in denen sich der verdrängende Bestand nicht auf den verdrängten stützt. Das gilt zB. von jenem früher von uns behandelten Falle eines überhörten Fabrikgeräusches. Aber anderseits ist ein solches Sichstützen auch kein Merkmal, das den gnoseologischen Verdrängungen ausschließlich eigen wäre. Vielmehr finden sich ähnliche Verdränguagstypen auch sonst in unserem Bewußtsein. Das erfahren wir namentlich, wenn wir einen Gegenstand, auf den wir abzielen, nicht unmittelbar erfassen, sondern zu seiner Erreichung gewisser Mittel bedürfen, deren wir uns dann zwar bedienen, denen wir aber nicht unsere Aufmerksamkeit schenken, da diese auf das Ziel gerichtet bleibt. In solchen Fällen wird das von uns benutzte Mittel in unserer erlebniseinheitlichen Erfassung oft erst vernachlässigt und dann vollständig übersehen. Wir können ein derartiges Ausfallen von Zwischengliedern bei der sogenannten Automatisierung von Handlungen, Denkprozessen usw. durch Uebung beobachten. Mit diesen Automatisierungen können wir die von uns beschriebenen Typen der gnoseologischen Verdrängung in Parallele stellen. Denn in beiden Fällen treten erlebniseinheitlich von uns erfaßte Bestände in den Vordergrund, die sich auf zurückgedrängte Bestände stützen, ohne daß diese letzteren von uns bemerkt würden. Gleichwohl könnten jene ersteren
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von uns bemerkten Bestände nicht auftreten, wenn nicht die unbemerkten Bestände in unserer Bewußtseinswirklichkeit anwesend wären. Im Hinblicke auf die Tatsache der Verdrängung überhaupt und im Hinblicke auf die Tatsache einer Stützung der verdrängenden Bestände durch die verdrängten ist die gnoseologische Verdrängung also kein einzig dastehendes Faktum. Ihre Eigenart beruht vielmehr auf etwas anderem, nämlich darauf, daß der verdrängende Bestand hier ein nur gnoseologisch gemeinter ist und daher nicht wie der verdrängte Bestand in dem ontologischen Bezirke sondern lediglich in dem gnoseologischen Bereiche unseres Bewußtseins liegt; daß also das in unserem Bewußtsein Anwesende durch etwas verdrängt wird, was in Wahrheit von ihm abwesend ist. Dieser Umstand, der auf den ersten Blick seltsam erscheinen könnte, wird verständlich, wenn wir bedenken, daß unser Bewußtsein, wie wir gezeigt haben, nicht ein Bestandkomplex: von derselben Art ist wie die Außenwirklichkeitsbestände, nämlich kein Bestandkomplex, der darin aufgeht, für sich selbst und um seiner selbst willen zu bestehen; sondern daß im Gegenteile die Grundfunktion unseres Bewußtseins eine repräsentative ist, also darin besteht, daß es sich ausschließlich auf seine Bedeutungsgehalte und nicht auf seine Eigenwirklichkeit richtet. Hierauf beruht es, daß sich unsere Aufmerksamkeit normalerweise nur diesen Bedeutungsgehalten zuwendet, und daß daher auch nur sie erlebniseinheitlich von uns erfaßt werden, während wir die Eigenwirklichkeit unseres Bewußtseins, da sie durch jene Bedeutungsgehalte verdrängt wird, in dieser Weise nicht erfassen. Jene Bedeutungsgehalte aber tragen stets einen gnoseologischen Charakter. Denn sie sind als etwas, das bloß repräsentiert wird, von der Wirklichkeit unseres Bewußtseins abwesend. Die repräsentative Einstellung unseres Bewußtseins also erklärt es, daß in der gnoseologischen Verdrängung das Anwesende zugunsten des Abwesenden aus der Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens verschwindet. Zugleich geht hieraus hervor, warum das Phänomen der gnoseologischen Verdrängung unser gesamtes Bewußtsein durchzieht und nicht nur als gelegentliche Einzeltatsache in ihm auftritt. Denn wenn es zu der repräsentativen Einstellung unseres Bewußtseins gehört, daß es uns in seiner erlebniseinheitlichen Sphäre nicht von sich selbst sondern von anderen Beständen Kunde bringt, und wenn wir nur das erlebniseinheitlich erfassen, worauf sich unsere Aufmerksamkeit lenkt, diese letztere aber stets auf jene Kunde und nicht auf die Eigenwirklichkeit des Bewußtseins gerichtet ist, dann ist das Phänomen der gnoseologischen Verdrängung für die Systematik unseres Bewußtseins kon-
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stitutiv. Denn dieses Phänomen folgt dann unmittelbar aus dem repräsentativen Charakter unserer Erlebniseinheit. Diesem Sachverhalte entspricht der Befund der erlebniseinheitlich von uns aufgefaßten Bestandfülle. Denn der Verlauf unserer Erörterungen hat uns gezeigt, daß wir in dieser letzteren keinen ontologischen Bewußtseinsbestand als solchen gewahren. Wir sahen vielmehr, daß alle Bestände, die wir erlebniseinheitlich erfassen, entweder rein gnoseologische Bestände sind oder Bewußtseinsbestände, die wir in dem Sinne der gnoseologischen Deutungserfüllung für etwas anderes halten als für das, was sie nach ihrer Bewußtseinswirklichkeit sind. Oder anders ausgedrückt: es zeigte sich, daß wir erlebniseinheitlich nur die Gnoseologie unseres Bewußtseins, nicht aber seine Ontologie erfassen. Die Gnoseologie unseres Bewußtseins aber richtet sich, wie wir dargelegt haben, allenthalben auf von uns abwesende und nicht auf anwesende Gebilde. Man könnte daher praktisch unser erlebniseinheitliches Bemerken mit unserem gnoseologischen Meinen von tatsächlich abwesenden Gebilden gleichsetzen. Hieraus aber folgt, daß dem Bereiche unserer erlebniseinheitlichen Erfassung die Wirklichkeit unseres eigenen Bewußtseins verborgen bleibt. Wir erfassen nicht, was dieses an sich selbst ist. Wir erfassen nur die von ihm gemeinten Bestände. Unsere frühere Erörterung, in der wir darlegten, daß unsere sogenannte Erfahrung nicht die Wirklichkeit unseres Bewußtseins darstellt, und daß uns diese letztere als solche unerfahrbar bleibt, wird insofern durch die Bezugsverhältnisse, die mit dem Phänomene der gnoseologischen Verdrängung als einem konstitutiven Faktor unseres Bewußtseins verbunden sind, bestätigt und erweitert. Diese Feststellung bewährt sich allen Beständen gegenüber, die sich unserem Bewußtsein als Gegenstände der Beobachtung oder des Denkens darbieten. Denkt man sich daher alles, was wir in der geschilderten gnoseologischen Weise erfassen, aus unserem Bewußtsein entfernt, so ist damit auch alles entschwunden, was wir bei einer Selbsteinschau in diesem finden. Wir schauen dann gewissermaßen in eine Leere. Dieser Umstand könnte zu der Auffassung führen, daß dasjenige, was wir in dem täglichen Leben als unser Bewußtsein zu bezeichnen pflegen, dh. die Gesamtheit alles dessen, was wir in irgendeiner Weise seelisch innewerden, auf die soeben von uns gekennzeichnete Sphäre des erlebniseinheitlichen Bemerkens eingeschränkt sei. Denn, so könnte man argumentieren, wenn es sonst etwas gäbe, das wir innewerden, so müßte es sich entdecken lassen, sobald wir ihm unsere Aufmerksamkeit zuwenden. 24
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Aber diese Auflassung der Sachlage ist nicht richtig. Es gibt vielmehr gewisse Phänomene, die für die bisher geschilderte Art des erlebniseinheitlichen Bemerkens aus Gründen, die wir noch kennen lernen werden, unerfaßbar sind, und deren wir uns trotzdem bewußt werden. Die Psychologie pflegt diese letzteren Phänomene als Akte zu bezeichnen und sie den Inhalten oder Gegenständen, die in der Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens auftreten, gegenüberzustellen. Das Bewußtsein dieser Akte aber hat man, da es von der Weise, in der uns die gnoseologisch erfaßten Inhalte oder Gegenstände bewußt werden, abweicht, mit dem besonderen Namen der Bewußtheit belegt. Dieses Phänomen einer Bewußtheit der Akte ist, wie sich bald zeigen wird, geeignet, das negative Ergebnis unserer bisherigen Erörterungen, demzufolge wir zu einer inhaltlichen Erfassung unserer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit außerstande sind, in einem positiven Sinne zu ergänzen. Der Begriff des Aktes läßt sich an und für sich auf alle Arten des psychischen Geschehens anwenden. So könnte man als Akte zB. auch das Darbieten von dem Dargebotenen und das Empfinden von dem Empfundenen unterscheiden. Es soll hier nicht untersucht werden, ob in diesem Falle eine solche Unterscheidung nur einen logischen Charakter trägt, oder ob sie auch für die Wirklichkeitsstruktur unseres Bewußtseins von Bedeutung ist. Wie dem auch sei: als besondere, von den dargebotenen und empfundenen Inhalten verschiedene Akte werden wir ein Darbieten und Empfinden in dem Sinne der soeben genannten Bewußtheit nicht inne. Vielmehr erleben wir hier Akt und Inhalt in einer untrennbaren Verbundenheit. Daher wollen wir in dem Folgenden den Begriff des Aktes auf die Darbietung als solche nicht anwenden. Wir reservieren diesen Begriff vielmehr für diejenigen in unserem Bewußtsein auftretenden Phänomene, die sich als selbständige Stellungnahmen von den Inhalten oder Gegenständen, auf die sie sich beziehen, unterscheiden lassen und also weder zu diesen selber gehören, noch auch als zu ihnen gehörig von uns aufgefaßt werden. Akte dieser Art aber treten erst da auf, wo sich über der bloßen Darbietung unseres Bewußtseins neue psychische Faktoren erheben. Das findet schon in der Funktion unseres Bemerkens statt. Hier ist dasjenige, was bemerkt wird, zunächst sachlich von unserem Bemerken verschieden. Dieses letztere gehört dementsprechend nicht zu dem, was wir bemerken. Das zeigt sich unter anderem darin, daß, wie wir früher sahen, in dem Bestandkomplexe, der bemerkend von uns erfaßt wird, mancherlei enthalten sein kann, was wir nicht bemerken. Aber auch den Akt des Bemerkens selber können wir ge-
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legentlich innewerden. In unserer durchschnittlichen Bewußtseinshaltung freilich pflegen wir auf ihn nicht zu achten. Denn hier wird die Bewußtheit des Bemerkens in der Regel durch das Bewußtsein der bemerkten Bestände verdrängt. Aber wir brauchen die Funktion unseres Bemerkens nur willentlich zu steigern oder abzuschwächen, um ihr Vorhandensein innezuwerden und zu erkennen, daß auch schon vorher unser Bemerken als eine Bewußtseinsfunktion in Kraft war. Denn was es heißt, gespannt aufzupassen oder willentlich hinzudämmern, weiß und durchlebt jeder von uns. Und wir wissen und durchleben auch, daß solche Anspannungen oder Entspannungen unseres Bemerkens nicht neu auftretende Phänomene sind, sondern Steigerungen oder Minderungen eines Phänomens, das, wenn auch unbeachtet, in unserem Bewußtsein schon vorhanden war. Etwas Entsprechendes macht sich auf dem Gebiete unseres Denkens geltend, und zwar ganz gleich ob sich dieses auf anwesende oder abwesende Bestände bezieht. Ihrer inhaltlichen Beschaffenheit nach freilich können wir, wie schon dargetan wurde, die ontologische Grundlage eines Denkens an abwesende Bestände nicht erfassen. Aber auch den Aktcharakter unseres Denkens werden wir bei seinem ungestörten Ablaufe in der Regel nicht inne. Denn wie dort die bemerkten Bestände die Bewußtheit des Bemerkens, so verdrängen hier die gedachten Bedeutungsgehalte die Bewußtheit des Denkens. Wir wissen dann nur um jene Bedeutungsgehalte und nicht um unser Denken. Auf der anderen Seite aber gibt es eine Reihe von Situationen, in denen wir, wie dort unser Bemerken, so hier unser Denken in verschiedenen Weisen der Aktbewußtheit durchleben, und zugleich erkennen wir dann wieder, daß die so bewußt von uns durchlebten Akte nur Variationen derjenigen Akte sind, die in unserem denkenden Bewußtsein schon vorher walteten, wiewohl wir sie nicht beachteten. So wissen wir zB. aus der unmittelbar von uns durchlebten Eigenart solcher Aktphänomene, was ein scharfes Nachdenken ist, was es heißt, Gedanken anzunehmen oder abzulehnen, zu stutzen, zu staunen, zu zweifeln usw. Wir könnten diese Akte nicht unterscheiden, geschweige denn sie bei Gelegenheit willentlich ins Spiel setzen oder unterdrücken, wenn sie sich nicht in irgendeiner Bewußtheit geltend machten, die wir innewerden. Noch deutlicher kommt diese Bewußtheit der Akterlebnisse in dem Gebiete des emotionalen Lebens zum Vorscheine. Wir alle kennen die Regungen unseres Gemütes. Wir wissen, was Freude und Trauer, Sorglosigkeit und Sorge, Mut und Furcht, Zuneigung, Zorn usw. sind. Solche Gemütsbewegungen durchleben wir in voller Bewußtheit und 24*
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können ihre vielfältigen Formen bis auf die feinsten Abschattungen unterscheiden. Das wäre auch in diesem Falle nicht möglich, wenn die Regungen unseres Gemütes als Akte in dem Bereiche des Unbewußten lägen und daher für unser bewußtes Innewerden ein Nichts bedeuteten. Endlich zeigt die Bewußtheit der Akte noch eine besondere Art der Ausprägung in unserem Willensleben. Wenn wir wollen, dh. nicht mit bloßen Möglichkeiten spielen sondern uns zu sofortiger oder späterer Tat fest entschließen, so erteilen wir uns nicht nur einen Befehl, sondern wir tun auch den ersten Schritt zu seiner Ausführung. Es geschieht dann etwas in unserem Bewußtsein. In dem von uns durchlebten Willensakte selber werden gewisse irgendwie mit unserer Großhirnrinde zusammenhängende und sie determinierende Dispositionen getroffen, von denen wir zwar nicht wissen, wie sie im einzelnen Zustandekommen, von denen es uns aber bewußt ist, daß sie sich vollziehen. Und der je nachdem sofort oder später zutagetretende Erfolg unseres Willensaktes bestätigt uns, daß eine solche Determination tatsächlich stattgefunden hat. Wäre es anders, könnten wir nicht in dem Sinne wollen, daß uns jener Determinationsakt als solcher bewußt wird, so hätte unser Bewußtsein seine Funktion verfehlt. Denn es könnte dann unser Verhalten nicht von sich aus dirigieren. Aus diesen Beispielen geht zugleich hervor, daß unsere Bewußtheit der Akte in der Regel nicht für sich allein auftritt, sondern in ein Bezugsverhältnis zu inhaltlich oder gegenständlich von uns erfaßten Sachverhalten tritt, zu denen wir kraft unserer Akte Stellung nehmen. Denn wir pflegen, wenn wir aufpassen, auf irgendetwas aufzupassen, ganz gleich ob es schon da ist oder erst erwartet wird. Wenn wir nachdenken, pflegen wir über irgendetwas nachzudenken, so unbestimmt es uns zunächst gelegentlich auch vorschweben mag. Freude und Trauer freilich können als Lebenszustände des Bewußtseins gelegentlich auch gegenstandslos erlebt werden. Aber sie pflegen alsdann einen Gegenstand zu suchen und auch zu finden, an dem sie sich als Akte betätigen. Und in der Regel ist es erst die Kenntnis eines solchen Gegenstandes, die unsere Freude oder Trauer hervorruft. Endlich, wenn wir wollen, so wollen wir stets irgendetwas. Denn einen gegenstandslosen Willen gibt es überhaupt nicht Mit anderen Worten: welches Gebiet der Aktbewußtheit man auch prüfen möge, allenthalben treten unsere Akte in Verbindung mit einer inhaltlichen oder gegenständlichen Erkenntnis irgendwelcher Sachverhalte auf und geben sich kraft dieser Verbindung als eine
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Stellungnahme unserer eigenen Bewußtseinswirklichkeit zu solchen Sachverhalten kund. Diesem Befunde entspricht es, daß die Phänomene, die wir hier als Akte gekennzeichnet haben, in unserem Bewußtsein eine bedeutende, wenn nicht beherrschende Rolle spielen. Ihr Vorhandensein kann angesichts der von uns unmittelbar durchlebten Tatbestände nicht geleugnet werden. Und doch hat ihr Wesen, wenn wir von der zuvor beschriebenen Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Erfassens herkommen, etwas Problematisches. Denn obwohl sie von uns durchlebt werden, finden wir sie, wie schon angedeutet wurde, in jener Sphäre nicht vor. Im Gegenteile, je mehr wir unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken und sie inhaltlich, sei es in ihrer unmittelbaren Gegenwart oder nach der Erinnerung, zu erfassen suchen, umso klarer wird es uns, daß sie in der auf Inhalte und Gegenstände beschränkten Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Erfassens nicht auftreten. Hieraus erklärt es sich, daß man in der Meinung, unser gesamtes Bewußtsein gehe in dieser letzteren Sphäre auf, das Vorhandensein einer Aktbewußtheit vielfach geleugnet und versucht hat, an die Stelle dessen, was wir als Akte zu durchleben glauben, gewisse Surrogate von gegenständlicher oder inhaltlicher Art zu setzen. Als solche Surrogate dienten einmal die gnoseologischen Bestände, zu denen wir mit unseren Akten Stellung nehmen, und zweitens gewisse Organempfindungen, die unsere Akterlebnisse namentlich in dem Falle ihrer Steigerung begleiten können. Das erste dieser beiden Surrogate, die gnoseologischen Bestände konnte als ein Ersatz für die Akterlebnisse nur in den Gebieten unseres Bemerkens oder unseres Denkens und auch da nur für die durchschnittliche Haltung unseres Bewußtseins in Anspruch genommen werden, in der wir, wie schon angedeutet wurde, ein solches Bemerken oder Denken nicht innezuwerden pflegen. In diesen Fällen konnte man sich darauf berufen, daß uns tatsächlich nur das Bemerkte aber nicht ein Bemerken und nur das Gedachte aber nicht ein Denken bewußt wird. Allein schon bei allen denjenigen von uns gekennzeichneten Fällen, in denen wir eine spezifische von den bemerkten oder gedachten Beständen unterscheidbare Aktbewußtheit unseres Merkens oder Denkens haben, versagt eine solche Auskunft. Denn es ist nicht richtig, daß sich die von uns bemerkten oder gedachten Gebilde mit jeder Steigerung oder Herabminderung unseres Merkens oder Denkens, bei jedem Stutzen, Staunen, Zweifeln, Annehmen, Ablehnen usw. entsprechend ändern, geschweige denn daß solche Akte in Aenderungen dieser Art bestünden. Vollends aber versagt dieser
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Erklärungsansatz, wenn wir von den theoretischen zu den emotionalen und voluntativen Akten übergehen. Denn daß unsere Gemütserregungen und unsere Willensakte nicht die gnoseologisch von uns erfaßten Situationen sind, zu denen wir emotional oder willentlich Stellung nehmen, liegt auf der Hand. Angesichts dieser Verlegenheiten mußte man das hier gekennzeichnete Surrogat für unsere Akterlebnisse durch ein zweites Surrogat ergänzen. Scharfes Aufmerken, angestrengtes Nachdenken, energische Willensentschlüsse und gesteigerte Emotionen werden gewöhnlich von innerkörperlichen Vorgängen, zB. von Aenderungen des Blutumlaufes und der Atmung, von Muskelspannungen und dergleichen begleitet, und diese innerkörperlichen Vorgänge lösen ihrerseits wieder Empfindungen aus, die wir mehr oder minder deutlich wahrnehmen. Mit solchen Wahrnehmungen als inhaltlich erlebten Begleitbeständen vermeinte man die Bewußtseinsakte, die wir zu durchleben glauben, und die sich auf gnoseologisch gemeinte Bestände allein nicht zurückführen lassen, ebenfalls identifizieren zu können. Aber eine psychologische Nachprüfung der Tatbestände hat gezeigt, daß auch diese Identifikation nicht zu Recht besteht. Es erweist sich nämlich, daß unsere Aktbewußtheit nicht immer mit inneren Organempfindungen verbunden ist, und daß die solchen Organempfindungen zugrundeliegenden innerkörperlichen Reaktionen infolge der soeben dargelegten Verhältnisse meist nur sekundäre Wirkungen unserer Bewußtseinsakte sind, von diesen also erst mittelbar verursacht werden. Unter diesen Umständen darf der Versuch, die von uns durchlebten Akte mit inhaltlichen Empfindungsbeständen zu identifizieren, als ebenso gescheitert betrachtet werden wie der Versuch, sie auf gnoseologisch gemeinte Bestände zurückzuführen. Wir stehen demnach wieder vor der Frage: was sind die Akte als uns bewußte Phänomene, wenn sie sich in der Sphäre unseres erlebniseinheitlichen Bemerkens nicht auffinden lassen? Um diese Frage zu beantworten, stellen wir zunächst fest, daß alle Akte ein gemeinsames Merkmal haben, durch das sie sich von den in jener Sphäre erfaßten inhaltlichen oder gegenständlichen Beständen unterscheiden. Sie charakterisieren sich nämlich insgesamt in dem von uns dargelegten Sinne als Stellungnahmen und zwar nur als solche. Dh. es kommen uns in ihnen lediglich Verhaltungsweisen zu Bewußtsein. Dabei können diese Verhaltungsweisen entweder als kurze Vorgänge auftreten, wie das bei unseren Willensakten der Fall ist, oder als dauernde Zustände, wie wir sie zB. bei anhaltender Aufmerksamkeit oder in froher Stimmung erleben.
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Solche Vorgänge oder Zustände als Verhaltungsweisen sind keine ontologiseh selbständigen Phänomene und können daher in dem Bereiche der Wirklichkeit nicht für sich allein auftreten. Sie lassen sich dort vielmehr nur als Bestimmtheiten irgendeines anderen selbständigen Bestandes begreifen. Daher hat man gegen die Lehre von den Akten des Bewußtseins eingewendet, daß es widersinnig sei, von solchen Akten zu sprechen, wenn diese in dem von uns gekennzeichneten Sinne als Verhaltungsweisen und zwar nur als solche auftreten sollen, wenn also nicht zugleich auch ein Bestand in unserem Bewußtsein vorhanden ist, dessen Verhaltungsweise sie sind. Es gibt, so argumentiert man, keinen Vorgang ohne einen Bestand, an dem er vor sich geht. Und es gibt keinen Zustand ohne einen Bestand, der den Zustand hat. Oder anders ausgedrückt: Akte sind Phänomene höherer Ordnung, die irgendeinen Bestand voraussetzen, an dem sie auftreten. Also können, so folgert man, keine reinen bestandfreien Akte in unserem Bewußtsein vorkommen. Dieses Argument wäre stichhaltig, wenn alles, was uns zu Bewußtsein kommt, den Charakter von vollwertigen und in sich selbständigen ontologischen Beständen trüge. Aber das ist nicht der Fall. Vielmehr zeigt es sich, daß keines der in unserem Bewußtsein auftretenden Gebilde so, wie es von uns erlebt wird, ontologiseh einwandfrei ist. Das geht in einer Hinsicht schon aus unseren bisherigen Erörterungen hervor. In einer anderen Hinsicht wird es noch aus den Untersuchungen des folgenden Kapitels deutlich werden. Und es gilt nicht nur für unsere rein gnoseologischen Gedanken sowie für die ontologiseh fundierten gnoseologisch wirklichen Bestandgefüge, die wir erleben, sondern auch für diejenigen Gebilde, die wie unsere Akterlebnisse zu dem ontologischen Bestände unseres Bewußtseins gehören. Keines dieser Gebilde ist so, wie es uns zu Bewußtsein kommt, ontologiseh vollwertig und selbständig. Hieraus folgt, daß sich die Regeln, die für alle ontologiseh einwandfreien Bestände gelten, nicht ohne weiteres auf unsere Bewußtseinserlebnisse übertragen lassen. Daß wir sie nicht auf unsere rein gnoseologischen Gedanken übertragen dürfen, ergibt sich schon aus dem Umstände, daß das gnoseologische Feld unseres Bewußtseins, wie wir früher erkannt haben, einen grundsätzlich anderen Charakter trägt als alle ontologischen Felder. Aber auch die gnoseologisch wirklichen Gebilde, die uns zu Bewußtsein kommen, wären in einer ontologischen Wirklichkeit nicht möglich. Das können wir uns an unseren deutungserfüllten Wahrnehmungen klarmachen. Diese letzteren sind, wie wir gesehen haben, in sich widerspruchsvolle Bestandgefüge. Sie könnten daher so, wie
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sie von uns erfaßt werden, in einer ontologischen Wirklichkeit nicht vorkommen. Das wird durch die Eindeutigkeit aller ontologisch selbständigen und vollwertigen Bestände ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger kommen uns diese Wahrnehmungen nur in ihrer Deutungserfüllung zu Bewußtsein. Dh. sie sind unbeschadet ihrer Widersprüche in der Sphäre unserer erlebniseinheitlichen Erfassung vorhanden. Und wir lassen sie uns dort anstandslos gefallen. Denn in der Praxis des täglichen Lebens bemerken wir ihre inneren Widersprüche entweder überhaupt nicht oder nehmen an ihnen doch keinen Anstoß. Hier tritt also ein Bestandgefüge, das als ein ontologisch selbständiges und vollwertiges Gebilde unmöglich wäre, in dem Bereiche, den wir bewußt erleben, als Tatsache auf. Die ontologische Unmöglichkeit unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen beruht, wie wir erkannten, auf einer falschen Identifikation zwischen uns ontologisch vorliegenden Bewußtseinsbeständen und gnoseologisch von uns gemeinten Außenwirklichkeitsstrukturen. Diese Fehlerquelle fällt bei denjenigen Gebilden, die wir als rein ontologische Bewußtseinsbestände aufzufassen haben, also zB. bei dem deutungslos Gegebenen unserer Empfindungen, aber auch bei der hier in Frage stehenden Bewußtheit unserer Akte fort. Nichtsdestoweniger sind auch diese letzteren Gebilde so, wie sie uns zu Bewußtsein kommen, nicht ontologisch selbständig und vollwertig. Sie weisen zwar keine inneren Widersprüche auf, aber es fehlt ihnen etwas. Sie sind nämlich nur Bestimmtheiten, die an ontologisch selbständigen und vollwertigen Beständen vorkommen; nicht dagegen sind sie die ganze Wirklichkeit solcher Bestände. Das kann man sich beispielsweise an unseren deutungslos gegebenen Empfindungen klarmachen. Die in unserem Bewußtsein auftretenden Farben, Tastbestände, Schälle, Temperaturen usw. sind geometrisch ausgedehnte Qualitäten. Als solche aber sind sie keine ontologisch selbständigen Gebilde. Sie sind vielmehr Beschaffenheiten, die zu anderen Beständen gehören. So kann zB. in unserer immanenten Wahrnehmungswelt ein Körper die uns bekannten Empfindungsqualitäten zu Eigenschaften haben. Aber kein ontologisch selbständiges Gebilde besteht in solchen Beschaffenheiten. Diese letzteren erweisen sich vielmehr, wenn man ihren physischen Grundlagen nachgeht, als Zustandsverhältnisse, die zwischen kleinsten ontologischen Teilgebilden herrschen. Aber auch wenn man die bewußtseinswirklichen Grundlagen solcher Empfindungsbestände nachprüft, kommt man, wie die Untersuchungen des folgenden Kapitels zeigen werden, zu dem Schlüsse, daß die von uns erlebten Empfindungsqualitäten nicht etwas
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ontologisch in sich Selbständiges sind, sondern Beschaffenheiten von anderen Wirklichkeitsbeständen darstellen. Diese Situation näher zu erklären, muß dem folgenden Kapitel vorbehalten bleiben. Hier genügt es, festzustellen, daß die ontologischen Gebilde, die uns zu Bewußtsein kommen, keine in sich selbständigen Wirklichkeitsbestände sind, sondern unselbständige Eigenschaften von anderen Beständen darstellen. Es ist gewissermaßen so, als ob unser Bewußtsein kraft seiner überphysischen Systematik aus einem ihm zur Verfügung stehenden Bestandkomplexe bestimmte nur durch Abstraktion zu isolierende und ontologisch von ihm untrennbare Beschaffenheiten ausgesondert hätte. Diese Aussonderung ist somit keine gewöhnliche Teilung, dergestalt daß aus jenem Bestandkomplexe gewisse ontologisch in sich selbständige Bruchstücke in unser Bewußtsein übergingen. Vielmehr handelt es sich hier um eine Art der Scheidung, die mit physischen Mitteln überhaupt nicht zu «rreichen ist, wohl aber den überphysischen Charaktereigentümlichkeiten unseres Bewußtseins entspricht. Kraft dieser Scheidung tritt dasjenige, was ontologisch nicht selbständig ist, sondern nur eine Eigenschaft von ontologischen Beständen darstellt, in unserem Bewußtsein so auf, als wäre es etwas in sich Selbständiges. Denn da uns nur die in dieser Weise ausgesonderte Beschaffenheit zu Bewußtsein kommt, nicht aber der ontologische Bestand, zu dem sie gehört, so stellt sich in der erlebniseinheitlichen Sphäre unseres Bewußtseins jene Beschaffenheit so dar, als wäre sie allein vorhanden und bestünde aus eigener Kraft. Das Verständnis dieses Sachverhaltes ist durch unsere frühere Darlegung über die gnoseologische Verdrängung und ihren Zusammenhang mit der Funktion unseres Bemerkens vorbereitet. Wir erkannten damals, daß unser Bemerken, Vernachlässigen oder vollständiges Uebersehen der dargebotenen Gebilde nicht immer den Gesamtbestand dieser letzteren trifft, sondern sich auch nur auf einzelne ihrer Beschaffenheiten erstrecken kann. Es kann also vorkommen, daß wir nur bestimmte Beschaffenheiten eines uns dargebotenen Bestandes beachten, während uns alles andere, was zu diesem Bestände gehört, entgeht. Dieses andere ist dann aus dem Bereiche unseres Bemerkens verdrängt. Wir erinnerten damals an das früher von uns benutzte Beispiel eines Bildnisses, in dem wir die Gesichtszüge der dargestellten Person beachten, aber den Pinselstrich auf der Leinewand übersehen. Wir könnten uns auch auf unsere deutungserfüllte Sichtwahrnehmung berufen. Denn in dieser erfassen wir zwar die Farben und Helligkeitswerte der dargebotenen Empfindungen; aber die
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deutungslos gegebene Flächenhaftigkeit ihrer geometrischen Struktur bleibt uns, obwohl sie ebenfalls da ist, als solche verborgen. Sie wird aus dem Bereiche unseres Bemerkens verdrängt, und an ihre Stelle tritt eine in Wahrheit abwesende aber von uns gemeinte Raumstruktur. Ein anderes Beispiel für dieses abstraktive Verfahren des Bemerkens bilden unsere Tonwahrnehmungen. Die Töne haben so, wie sie als deutungslose Empfindungen in unser Bewußtsein treten, eine bestimmte geometrische Ausdehnung. Daß dies der Fall ist, kann man sich an jedem beliebigen Tone vergegenwärtigen. Wenn man nämlich auf die Beschaffenheit eines solchen Tones achtet, so findet man, daß er jedenfalls nicht unausgedehnt ist, und daß seine Ausdehnung einen irgendwie räumlichen Charakter hat. Dem tragen wir unter anderem dadurch Rechnung, daß wir den Tönen eine Stelle innerhalb des Raumes der von uns wahrgenommenen Außenwirklichkeit anweisen. Unser immanenzontologisches Verhalten zeigt also eine gewisse Vertrautheit mit der raumhaften Natur der Töue. Dennoch pflegen wir im täglichen Leben nur auf die Qualität dieser letzteren zu achten, ihre räumliche Beschaffenheit dagegen kaum zu bemerken. Noch weniger bemerken wir naturgemäß die von der Art der Instrumente aber auch von anderen Faktoren zB. von der Höhe der Töne abhängenden Aenderungen ihrer Größe und Gestalt. Und vollends sind wir außerstande, diese Größe und Gestalt mit derjenigen Genauigkeit anzugeben, die uns von unseren Sichtwahrnehmungen her geläufig ist. Gleichwohl ist ontologisch die durch uns bemerkte Qualität der Töne von ihrer nicht durch uns bemerkten geometrischen Beschaffenheit, also auch von ihrer Gestalt und Größe unabtrennbar. Es zeigt sich demnach, daß wir bei den von uns gehörten Tönen Beschaffenheiten innewerden, die nur in Verbindung mit anderen, in diesem Falle aber nicht von uns bemerkten Bestimmtheiten vorkommen, und die daher ontologisch für sich selbst nicht bestehen können. Dieser Sachverhalt ist an unseren Tonwahrnehmungen besonders deutlich. Man kann ihn aber mutatis mutandis auch für eine Reihe von anderen Empfindungsgebieten, wie zB. für das Gebiet des Geruchs-, des Geschmacks- und des Temperatursinnes oder auch für das Gebiet der inneren Organenempfindungen nachweisen. Es läßt sich also in dem Rahmen unserer erlebniseinheitlichen Darbietung einwandfrei feststellen, daß wir aufgrund der funktionellen Eigentümlichkeiten unseres Bemerkens gelegentlich nur einzelne Beschaffenheiten der uns vorliegenden Bestände erfassen, während uns andere Bestimmtheiten derselben Bestände verborgen bleiben.
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Wir brauchen von hier aus nur einen Schritt weiter zu gehen, um zu begreifen, wie es kommt, daß die in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins scheinbar für sich allein auftretenden Gebilde in Wahrheit den Charakter von unselbständigen Beschaffenheiten anderer ontologischer Bestände tragen. Es erweist sich nämlich, daß diejenigen Bestände oder Bestandeigenschaften, die nicht von uns bemerkt werden, nur unter bestimmten und zwar mittelbar wieder mit der Funktion unseres Bemerkens zusammenhängenden Bedingungen in unserer erlebniseinheitlichen Darbietung verbleiben. Unter anderen Bedingungen verschwinden sie auch aus dieser letzteren. Das zeigte uns beispielsweise unsere Erörterung über die gnoseologische Verdrängung derjenigen Lokalzeichen, deren wir uns als solcher überhaupt nicht bewußt zu werden vermögen. Nehmen wir nun an, daß wir von einem in die Systematik unseres Bewußtseins eintretenden Bestände nur eine bestimmte Eigenschaft bemerken, während alles andere, was zu diesem Bestände gehört, nicht nur aus dem Bereiche unseres Bemerkens sondern auch aus unserer erlebniseinheitlichen Darbietung verdrängt bleibt, so stehen wir eben damit vor der Situation, die wir als charakteristisch für die ontologischen Bestände unseres Bewußtseins erkannt haben. Denn es treten dann in dem Bereiche unseres unmittelbaren Bemerkens oder in der mittelbar unter den Bedingungen unseres Bemerkens stehenden Darbietung nicht die von der Systematik unseres Bewußtseins tangierten Bestände selbst auf, die vielmehr verdrängt bleiben, sondern nur die von unserem Bemerken unmittelbar erfaßten oder mittelbar benutzten Eigenschaften jener Bestände. Als solche Eigenschaften aber stellen sich, wie wir erkannt haben, alle in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins scheinbar selbständig auftretenden Gebilde dar. Wir hätten diese letzteren also als unselbständige Beschaffenheiten von solchen Beständen aufzufassen, die infolge der hier geschilderten abstraktiven Eigentümlichkeiten unseres Bemerkens aus der Sphäre der erlebniseinheitlichen Darbietung verdrängt bleiben. Ist es mit den ontologischen Gebilden unseres Bewußtseins so bestellt, wie wir es hier dargelegt haben, dann gehören diese Gebilde zu den Wirklichkeitsbeständen, deren Beschaffenheit sie sind. Sie sind daher trotz ihres abstrakten Wesens ebenso wirklich wie diese Bestände selber. Hierauf beruht unser Recht, sie im Unterschiede zu unseren bloßen Gedanken als ontologische Bewußtseinsgebilde anzusprechen. Anderseits aber sind sie nicht ontologisch selbständig und vollwertig. Denn als das, als was sie uns zu Bewußtsein kommen, könnten sie für sich allein nicht bestehen. Sie sind nur Be-
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stimmtheiten der Bestände, an denen sie vorkommen, nicht aber deren ganze Wirklichkeit. Dies ist der Grund, weshalb wir nicht nur auf unsere rein gnoseologischen Gedanken und auf die von uns erfaßten gnoseologisch wirklichen Bestandgefüge, sondern auch auf die ontologisch wirklichen Bewußtseinsgebilde nicht ohne weiteres die Regeln anwenden dürfen, die für ontologisch selbständige Bestände gelten. Zu diesen ontologischen Gebilden unseres Bewußtseins gehören auch die Akterlebnisse. Es liegt daher die Vermutung nahe, daß es mit ihnen irgendwie ähnlich bestellt sein dürfte wie mit der soeben geschilderten ontologischen Unselbständigkeit unserer deutungslos gegebenen Empfindungen. Nehmen wir einmal an, es wäre so. Dann wäre jener Einwurf richtig, daß als ein ontologisch in sich selbständiges Gebilde kein reiner Akt möglich ist ohne einen Bestand, an dem er als Vorgang oder Zustand auftritt. Aber es würde daraus nicht folgen, daß auch in dem, was uns zu Bewußtsein kommt, kein reiner Akt auftreten könnte. Denn diese Folgerung dürfte nur dann gezogen werden, wenn unsere Akterlebnisse als bewußtseinswirkliche Vorgänge den Charakter von ontologisch selbständigen und vollwertigen Beständen trügen. Und das liegt, wie wir soeben gesehen haben, nicht in dem Wesen der bewußtseinswirklichen Gebilde. Vor allem aber würde eine solche Folgerung in Widerspruch zu dem geraten, was wir tatsächlich erleben. Denn die tatsächlich von uns erlebten Akte lassen sich, wenn überhaupt, dann nur dahin beschreiben, daß wir zwar eine Verhaltungsweise, einen Vorgang oder einen Zustand durchleben, aber keinen Bestandkomplex erfassen, dessen Verhaltungsweise dieser Vorgang oder Zustand ist. Ist so derjenige Bestandkomplex, der für die ontologische Vollständigkeit unserer Akte erforderlich ist, in unserer Aktbewußtheit selber nicht enthalten, so bleibt auf der anderen Seite die Möglichkeit offen, daß er außerhalb des uns zu Bewußtsein kommenden Bereiches vorhanden ist. Wir hätten dann anzunehmen, daß wir zwar nicht diesen Bestandkomplex selber, der vielmehr verdrängt bliebe, wohl aber gewisse in ihm auftretende Vorgänge oder Zustände innewürden. Ein solcher Sachverhalt würde das eigentümliche Wesen unserer Aktbewußtheit erklären, und er würde dem soeben beschriebenen Charakter unserer ontologischen Bewußtseinsgebilde entsprechen. Denn er würde ein Gegenstück zu der Tatsache bilden, daß uns unsere deutungslos gegebenen Empfindungen als Qualitäten ohne zugehörigen Träger zu Bewußtsein kommen, obwohl wir Anlaß zu der Annahme haben, daß dieser Träger außerhalb unserer erlebniseinheitlichen Sphäre vorhanden ist. In dem einen wie in dem anderen Falle würden also die in
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unserem Bewußtsein auftauchenden Gebilde ontologisch unselbständige Merkmale eines ontologisch selbständigen, uns aber nach seiner inhaltlichen Beschaffenheit unbekannten Bestandkomplexes darstellen. Es muß den Untersuchungen des folgenden Kapitels vorbehalten bleiben, das Wesen dieses aus unserem Bewußtsein verdrängten Trägers der Akterlebnisse näher zu bestimmen. Hier können wir uns auf wenige dem Verständnisse unserer augenblicklichen Problemlage dienende Andeutungen beschränken. Zunächst ist offenbar, daß ein solcher Bestand außerhalb der Sphäre unserer immanenten Außenwirklichkeit zu suchen ist. Denn wie unsere Akte, so ist auch ihr Träger ontologisch wirklich. Unsere immanente Außenwelt dagegen bildet nur eine gnoseologisch wirkliche Repräsentation des ontologisch Wirklichen. Unter diesen Umständen wäre es höchstens denkbar, daß in unserer immanenten Außenwelt jener Träger der Akte repräsentiert werden könnte. Nach seiner Eigenwirklichkeit aber muß er in einem anderen Bereiche liegen, und die Untersuchungen des nächsten Kapitels werden uns zeigen, daß er zu der uns transzendenten Außenwirklichkeit gehört. Will man ihn in dieser letzteren lokalisieren, so kommt nur die Gegend unserer Großhirnrinde in betracht. Denn daß der gesamte ontologische Bestand unseres Bewußtseins unmittelbar mit unserer Großhirnrinde verbunden ist, erweist jede Untersuchung über die Wechselbeziehungen zwischen Leib und Seele. In dem Falle unserer Akterlebnisse zeigt sich dies einerseits in ihrer Beeinflußbarkeit durch Stimulantia, Narkotika oder krankhafte Störungen der Gehirnfunktionen und anderseits in den schon genannten Körperreaktionen, die als sekundäre Wirkungen gesteigerter Akterlebnisse auftreten. Vor allem aber zeigt es sich an den Folgen unserer Willensakte. Denn das Wesen unseres Wollens besteht, und zwar, wie wir früher gesehen haben, ganz gleich ob es auf leibliche oder innerpsychische Handlungen abzielt, in einer Beeinflussung gewisser Zentren unserer Großhirnrinde. Wollen wir unseren rechten Arm erheben, so zeigt uns die Ausführung dieses Willens, daß in irgendeiner Weise das motorische Gebiet unserer Großhirnrinde ins Spiel gesetzt worden ist. Und wollen wir uns, um ein Beispiel der innerpsychischen Willensdetermination zu nennen, bei einer bestimmten Gelegenheit an etwas erinnern, so zeigt auch hier ein positiver Erfolg dieses Vorsatzes, daß wieder unsere Großhirnrinde ins Spiel gesetzt worden ist. Denn an diese sind unsere Erinnerungen gebunden. Irgendwie also müssen unsere Akterlebnisse mit den Funktionen unserer Großhirnrinde zusammenhängen.
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Wir haben in einer früheren Untersuchung darauf hingewiesen, daß uns weder die aktive noch die passive Außenkausalität unseres Bewußtseins, obwohl sie ontologisch zu diesem letzteren gehört, erlebniseinheitlich bekannt wird. Dieses negative Ergebnis können wir jetzt in einem positiven Sinne ergänzen. Denn wir erkennen nunmehr, daß wir zwar in dem Sinne der erlebniseinheitlichen Erfassung kein Bewußtsein der Bestände haben, an denen sich jene kausalen Vorgänge vollziehen; daß wir aber anderseits in unserem Innewerden der Akte über eine von der erlebniseinheitlichen Erfassung abweichende Bewußtheit jener Vorgänge selbst verfügen. Durch diese Bewußtheit wird somit gewissermaßen eine Brücke zwischen der gnoseologisch gerichteten Immanenz unseres Bewußtseins und seiner uns sonst verborgenen ontologischen Transzendenz geschlagen. Oder anders ausgedrückt: die Bewußtheit unserer Akte führt uns aus einer Sphäre von bloß für uns bestehenden Repräsentationen in die Sphäre der an sich bestehenden und uns nach ihrer inhaltlichen Beschaffenheit unzugänglichen Wirklichkeitsbestände hinüber. Für unsere Akterlebnisse ist es charakteristisch, daß wir sie auf eine unanschauliche Weise innewerden. Um die bewußtseinsontologische Bedeutung dieser Tatsache beurteilen zu können, fragen wir, welche Bedingungen ein Bestand erfüllen müsse, um in dem weiteren Sinne dieses Wortes als anschaulich bezeichnet zu werden. Die Antwort hierauf lautet, daß für uns nur dasjenige anschaulich ist, was sich mit den Mitteln eines der uns zugänglichen Sinnesgebiete darstellen läßt und die Dimensionalität der in einem solchen Gebiete waltenden deutungslosen Empfindungen trägt. Die erste dieser beiden Bedingungen ist durch sich selbst klar. Denn unter Anschauung wird Wahrnehmung oder Vorstellung verstanden, und unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen sind an die Mittel unserer Sinnesgebiete gebunden. Daher ist nur dasjenige für uns anschaulich, was zu einem unserer Sinnesgebiete gehört. Die zweite Bedingung dagegen erscheint auf den ersten Blick als zu eng gefaßt. Denn, so könnte man einwenden, das deutungslos Gegebene unserer Sichtempfindungen zB. ist flächenhaft, und doch vermögen wir mit seiner Hilfe nicht nur Flächen sondern auch Punkte, Linien und dreidimensionale Räume anschaulich zu erfassen. Allein eine nähere Ueberlegung zeigt uns, daß dieser Einwand auf einer Selbsttäuschung beruht. Das gilt zunächst für unsere vermeintliche Anschauung der Punkte und Linien. Es erweist sich nämlich, daß wir in unserer An-
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schauung als selbständige Gebilde einen Punkt oder eine Linie nur symbolisieren können, und zwar symbolisieren wir einen Punkt durch einen kleinen Fleck und eine Linie durch einen schmalen Streifen. In beiden Fällen besteht demnach unser Symbol in einem Flächenstücke. Dagegen sind wir außerstande, uns einen echten dimensionslosen Punkt oder eine echte eindimensionale Linie als selbständige Gebilde anschaulich zu machen. Denn so klein wir uns einen solchen Punkt und so schmal wir uns eine solche Linie auch vorstellen mögen, stets behalten diese Gebilde in unserer Anschauung eine flächenhafte Ausdehnung. Wollten wir ihnen diese in Erfüllung ihres mathematischen Begriffes nehmen, so sähen wir nicht einen Punkt oder eine Linie, sondern wir sähen überhaupt nichts. Denn ein unendlich kleiner Punkt und eine unendlich schmale Linie haben für unsere Anschauung denselben Wert wie kein Punkt und keine Linie. Man könnte hiergegen einwenden, daß uns immerhin Punkte und Linien als Grenzen zwischen Flächen anschaubar seien. Aber auch dieser Einwand ist nur mit Einschränkung richtig. Denn selbst wenn wir absolut scharf begrenzte Flächen zu sehen vermöchten, was nicht der Fall ist, so sähen wir doch nicht ihre dimensionslosen oder eindimensionalen Grenzen als solche. Alles, was wir in einem derartigen Falle anschauen, gehört nämlich entweder zu der einen oder zu der anderen Fläche. Einen Punkt oder eine Linie zwischen ihnen dagegen gewahren wir nicht. Die eine Fläche hört auf, die andere fängt an und zwischen ihnen ist nichts. Das, was wir die Grenze zwischen den Flächen nennen, ist also immer schon entweder die aufhörende eine oder die anfangende andere Fläche selber. Davon kann man sich leicht überzeugen, indem man einen der hier gedruckten Buchstaben nachprüft. Jeder Versuch, seine Grenzen als eine eindimensionale Linie anschaulich zu erfassen, mißlingt. Man sieht nur in flächenhafter Ausdehnung ein in bestimmter Weise begrenztes schwarzes auf einem weißen Felde. Nicht dagegen sieht man die zwischen diesen beiden Feldern bestehende Grenze als eine eindimensionale Linie. Auch die in unserer Anschauung auftretenden Grenzphänomene lehren uns demnach, daß wir nur Flächen sehen, und daß alles, was weniger als zwei Dimensionen zählt, also hinter der Dimensionalität unserer deutungslosen Sichtempfindungen zurückbleibt, für unsere Anschauung so ist, als wäre es nicht vorhanden. In einer anderen Weise ist dasjenige für uns unanschaulich, was über die Dimensionalität unserer Sichtfläche hinausgeht. Können wir einen Punkt oder eine Linie noch nicht anschauen, so ist für uns eine drei- oder mehrdimensionale Manichfaltigkeit nicht mehr anschaubar.
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Bei dem Punkte oder der Linie sehen wir überhaupt nichts. Bei einer drei- oder mehrdimensionalen Manichfaltigkeit sehen wir nicht mehr, als unsere Sichtfläche darzubieten vermag. Die drei- oder mehrdimensionale Manichfaltigkeit selbst können wir daher nicht erschauen. Daß dies auch für die scheinbare Dreidimensionalität unseres immanenten Außenwirklichkeitsraumes gilt, und daß dasjenige, was wir in dem täglichen Leben für einen Tiefenraum halten, in Wahrheit den Charakter einer Sichtfläche trägt, haben unsere Untersuchungen gezeigt. Jener Einwand, daß wir nicht nur Flächen sondern auch Punkte, Linien und Räume sähen, besteht nachalledem nicht zu Recht. Der von ihm geltend gemachte Tatbestand erschüttert, wenn man ihn nachprüft, nicht die Lehre, daß für uns nur die Dimensionalität des deutungslos Gegebenen anschaulich sei, sondern er bestätigt sie. Kehren wir von dieser Erwägung zu der Frage nach der Unanschaulichkeit unserer Akte zurück, so erkennen wir, daß diese letzteren weder die eine noch die andere der für eine Anschaulichkeit erforderlichen Bedingungen erfüllen. Die eine nicht: denn die Akterlebnisse gehören zu keinem unserer Sinnesgebiete. Daher können wir sie uns auch nicht mit deren Mitteln vergegenwärtigen. Und die zweite nicht: denn sie ermangeln so, wie wir sie innewerden, jeder räumlichen Dimensionalität überhaupt. Dieser letztere Umstand ist dadurch bedingt, daß wir in unseren Akten lediglich Vorgänge oder Zustände als solche innewerden. Wir wissen bei ihrem Erlebnisse, daß etwas in unserem Bewußtsein geschieht, und daß dieses Geschehnis einen bestimmten Charakter trägt. Dagegen wissen wir nicht, an welchem Bestände es sich abspielt, und welchen Raumbezirk der Bestand einnimmt. Deshalb bleiben wir über die Dimensionalität sowohl dieses Bestandes als auch der von uns erlebten Akte selber im Unklaren. Unsere Akterlebnisse stehen somit auf einer höheren Abstraktionsstufe als unsere deutungslosen Empfindungen. Denn die letzteren zeigen unbeschadet ihres ebenfalls abstrakten Charakters noch eine geometrische Ausdehnung und in dieser eine Sinnesqualität. Dagegen treten die Akte ohne jede Ausdehnung und ohne sinnesqualitative Beschaffenheit in unserer Bewußtheit auf. Auf diesem Unterschiede der beiden Abstraktionsstufen beruht das, was wir bei unseren Sinnesempfindungen als deren Anschaulichkeit und bei unseren Akten als deren Unanschaulichkeit bezeichnen. Durch die Unanschaulichkeit unserer Akte ist es bedingt, wir sie in unserem Bewußtsein ebensowenig entdecken können, wir auf einer Fläche echte Punkte oder Linien zu entdecken mögen. Denn zu jedem Entdecken gehört es, daß sich der zu
daß wie verent-
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deckende Bestand anschaulich vorfinden läßt. Entdeckbar ist in unserem Bewußtsein daher nur dasjenige, was anschaulich von uns erfaßt wird. Das Unanschauliche dagegen bleibt für uns unentdeckbar. Damit ist aber noch nicht gesagt, daß wir nur die für uns entdeckbaren Gebilde innewerden. Denn etwas anschaulich entdecken und etwas innewerden ist nicht ein und dasselbe. Innewerden heißt bewußtes Erfassen überhaupt, ganz gleich wie der so erfaßte Bestand beschaffen ist. Dagegen heißt Anschauen ein bewußtes Erfassen derjenigen Bestände, die die besonderen soeben bezeichneten Merkmale der Anschaulichkeit tragen. Dementsprechend ist das anschauliche Entdecken nur ein bestimmter Fall unserer allgemeineren Bewußtseinsfunktion des Innewerdens schlechthin. Es wäre eine Verkennung dieses Umstandes und sachlich nicht zu rechtfertigen, wollte man annehmen, daß unser Bewußtsein auf anschauliche Bestände beschränkt sei. Warum sollten wir gerade nur zweidimensionale Bestände erfassen können? Das Zeugnis unserer eigenen Erlebnisse sagt uns vielmehr, daß eine solche Beschränkung nicht zu der Konstitution unseres Bewußtseins gehört. Denn es ist uns bewußt, daß wir außer den anschaulichen und daher für uns entdeckbaren Beständen auch andere Gebilde zu erfassen vermögen, die nicht für uns anschaubar sind, und die wir daher auch nicht entdecken können, obwohl sie von uns erlebt werden. Zu diesen unanschaubaren, aber von uns erlebten Gebilden gehören unsere Akte. Es ist deshalb sowohl richtig, daß wir keine Akte in unserem Bewußtsein entdecken können, als auch ist es richtig, daß sie in ihm auftreten. Diese beiden Behauptungen widersprechen sich nicht. Sie besagen lediglich, daß wir in unseren Akterlebnissen Gebilde innewerden, denen die Merkmale der Anschaulichkeit fehlen. Daß man sich durch die Annahme, wir könnten nur anschaubare Bestände erfassen, die Einsicht in das Wesen unserer Bewußtseinsfunktionen versperrt, geht aber nicht nur aus dem Vorhandensein von unanschaulichen Gebilden in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke hervor. Es zeigt sich vielmehr, daß auch sämtliche in unserem gnoseologischen Bereiche auftretenden Bestände einen für uns unanschaubaren Charakter tragen, und daß wir daher auch diese Bestände nicht in unserem Bewußtsein entdecken können. Dies liegt daran, daß alle gnoseologisch von uns gemeinten Bestände als das, als was wir sie meinen, von dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins abwesend sind. Sie müßten in diesem Bezirke anwesend sein, um von uns angeschaut und entdeckt werden zu können. Da dies nicht der Fall ist, bleiben sie für uns unentdeckbar. Das gilt 25
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für alle gnoseologisch von uns gemeinten Bestände schlechthin, ganz gleich ob sie abgesehen von jener ihrer Abwesenheit einen anschaulichen oder unanschaulichen Charakter tragen. Ich mag nun an Walther von der Vogelweide oder an die mir transzendente Außenwirklichkeit, an Goethes Faust oder an eine algebraische Gleichung denken: das, was ich meine, kann ich in keinem dieser Fälle anschauen, weil es mir nicht vorliegt. Ich kann es mir wohl durch anschauliche Bilder illustrieren. Aber diese Bilder sind nicht das, was ich meine. Trotzdem werden solche von uns abwesenden Bestände gnoseologisch von uns erfaßt. Wir haben daher ein nicht auf Anschauung beruhendes Bewußtsein von ihnen. Die Lehre, daß alles, was wir auf irgendeine Weise innewerden, für uns auch entdeckbar sein müsse, ist also nicht nur im Hinblicke auf die ontologischen sondern auch im Hinblicke auf die gnoseologischen Bestände unseres Bewußtseins falsch. Sie trifft, wie wir früher gesehen haben, nicht einmal für die deutungserfüllten Wahrnehmungen zu, da uns auch hier das, was wir meinen, nicht ontologisch vorliegt, obwohl es mit dem uns ontologisch vorliegenden Empfindungsbestande identifiziert wird. Der wahre Sachverhalt ist nachalledem der, daß sich nur ein Bruchteil dessen, was wir innewerden, in unserem Bewußtsein erschauen läßt. Dieser Bruchteil, nämlich das deutungslos Gegebene unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen ist zwischen nicht anschaulich erfaßten und daher für uns auch nicht entdeckbaren Gebilden gewissermaßen eingebettet. Er wird nämlich auf der einen Seite ontologisch durch unsere Bewußtheit von anwesenden aber unanschaulichen Gebilden, zu denen unsere Akte gehören, fundiert. Und er wird auf der anderen Seite von ebenfalls nicht anschaubaren abwesenden Gebilden überragt, die wir teils als rein gnoseologische Bestände von dem uns anschaulichen Bestandkomplexe losgelöst erfassen, teils in unserer Deutungserfüllung fälschlich mit ihm identifizieren. Diesem Sachverhalte wird eine Psychologie, die sich auf die in unserem Bewußtsein entdeckbaren Bestände beschränkt, nicht gerecht. Zugleich wird aus diesem Sachverhalte aber auch ersichtlich, daß es unzutreffend ist, wenn man das Merkmal der Unanschaulichkeit als ein unterscheidendes Charakteristikum der bewußtheitlich von uns erfaßten Bestände betrachtet. Träfe dies zu, so müßten erstens alle unserer Bewußtheit angehörenden Bestände ohne Ausnahme unanschaulich sein, und zweitens müßte nur ihnen, nicht aber auch den gnoseologisch von uns gemeinten Beständen des inhaltlichen oder gegenständlichen Bewußtseins eine solche Unanschaulichkeit zukommen. Beides ist nicht der Fall.
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Was zunächst das letztere angeht, so haben wir soeben gesehen, daß wir nicht nur unsere bewußtheitlich erfaßten Akte auf eine unanschauliche Weise innewerden sondern auch alle gnoseologisch von uns gemeinten Gebilde, ganz gleich ob wir sie als abwesende denken oder sie in dem Sinne der Deutungserfüllung mit anwesenden Beständen fälschlich identifizieren. Denn da in dem einen wie in dem anderen Falle alle diese Gebilde von unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke tatsächlich abwesend sind, so können wir keines von ihnen erschauen. Und überdies sind einige der gnoseologisch von uns gemeinten Bestände, wie zB. die uns transzendente Außenwirklichkeit oder alle allgemeinbegrifflichen Bedeutungsgehalte und, wie wir gesehen haben, selbst ein scheinbar so anschauliches Gebilde wie die dreidimensionale Struktur unseres immanenten Wahrnehmungsraumes auch grundsätzlich für uns unanschaulich. Es ist also nicht richtig, daß das Merkmal der Unanschaulichkeit ein unterscheidendes Charakteristikum nur der bewußtheitlich von uns erfaßten Gebilde sei. Im Gegenteile: dieses Merkmal ist den zu unserer Bewußtheit gehörenden Akten mit allen nur gnoseologisch von uns gemeinten Gebilden des inhaltlichen oder gegenständlichen Bewußtseins gemeinsam. Ebenso unrichtig ist es zweitens, daß alle zu unserer Bewußtheit gehörenden Gebilde ohne Ausnahme einen unanschaulichen Charakter tragen. Zwar trifft dies auf unsere soeben behandelte Bewußtheit der Akte und, wie wir noch sehen werden, auch auf unser Icherlebnis zu. Aber es ist nicht zu übersehen, daß zu der Eigenwirklichkeit unseres Bewußtseins nicht nur diese Akte und das Ich gehören sondern auch unsere deutungslosen Empfindungen, die ihrerseits anschaulich sind. Nun verhält es sich freilich so, daß wir gerade diese Empfindungen mit unserer Deutungserfüllung verbrämen und sie auf eine gnoseologische Weise als Fremdbestände erfassen. Aber das liegt nicht an dem Wesen jener Empfindungen selber, sondern an der repräsentativen Einstellung unseres Bewußtseins. Denn in ihrer Deutungslosigkeit sind unsere Empfindungen rein bewußtseinswirkliche Gebilde. Könnten wir sie daher als das innewerden, was sie nach ihrem ontologischen Eigenwerte sind, so würden wir sie nicht in dem Sinne unseres gnoseologischen Bewußtseins als Fremdbestände sondern vielmehr in dem Sinne unserer ontologischen Bewußtheit als zu uns selbst gehörige, wenn auch nicht immer durch uns selbst hervorgebrachte Gegebenheiten erfassen. Und wir werden sogleich erkennen, daß wir tatsächlich neben jenem gnoseologischen Bewußtsein auch eine ontologische Bewußtheit dessen, was wir anschaulich wahrnehmen oder vorstellen, besitzen. 25*
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Auf Grund dieser Sachlage dürfen wir nun aber noch einen Schritt weiter gehen. Wir erkennen jetzt nämlich, daß unsere deutungslosen und in dieser Deutungslosigkeit eigentlich zu unserer Bewußtheit gehörigen Empfindungen die einzigen Bestände sind, die wir anschaulich zu erfassen vermögen. Denn angeschaut kann nur das werden, was in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke anwesend ist. Nun sind jedoch, wie wir soeben gesehen haben, alle nur gnoseologisch durch uns gemeinten Gebilde von diesem Bezirke abwesend. Und anderseits sind von allen in ihm anwesenden Beständen nur unsere deutungslosen Empfindungen anschaulich. Denn nur sie erfüllen die hierfür erforderlichen Bedingungen. Das aber heißt, daß wir keine anderen anschaulichen Gebilde kennen als unsere deutungslosen Empfindungen. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, erstens daß die Unanschaulichkeit kein auszeichnendes Merkmal der bewußtheitlichen Bestände ist, und zweitens daß gerade umgekehrt nur unter den zu unserer Bewußtheit gehörenden Beständen anschauliche Gebilde vorkommen. Durch diese Feststellung werden zugleich unsere früheren Untersuchungen bestätigt, nach denen alle deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen als solche nur scheinbar anschaulich sind. Denn ihre wahre Anschaulichkeit ist, wie wir jetzt erkennen, die der ihnen zugrundeliegenden Empfindungen. Dagegen bleibt, wie wir früher erkannt haben, alles, was in unserer Deutung über diese Empfindungen hinausgeht, für uns unanschaubar. Das charakteristische Merkmal, durch das sich unsere Bewußtheit von unserem inhaltlichen oder gegenständlichen Bewußtsein unterscheidet, ist also nicht die Unanschaulichkeit ihrer Gebilde. Es liegt vielmehr ausschließlich darin, daß uns das inhaltliche oder gegenständliche Bewußtsein kraft seiner repräsentativen Einstellung nur gnoseologisch von uns gemeinte Fremdbestände zur Kenntnis bringt, während wir in unserer Bewußtheit unsere Eigenwirklichkeit innewerden. Oder anders ausgedrückt: der Unterschied zwischen unserer Bewußtheit und unserem Bewußtsein spiegelt, wenn auch, wie wir später noch sehen werden, mit einer eigentümlichen Verschiebung, die Duplizität zwischen unserem ontologischen Bezirke und unserer gnoseologischen Reichweite in einer entsprechenden Duplizität der Erlebnisweisen wieder. Daß dies der Fall ist, daß also nur das unmittelbare Innewerden unserer Eigenwirklichkeit und nicht etwa eine Unanschaulichkeit der Bestände das Charakteristikum der Bewußtheit bildet, kann man sich in concreto dadurch vergegenwärtigen, daß man sich ein rein be-
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wußtheitlich von uns erfaßtes Gebilde, also etwa ein Akterlebnis zB. eine Spannung unserer Aufmerksamkeit, sei es nach freier Phantasie oder in Erinnerung an frühere Erfahrungen gnoseologisch denkt. Man braucht dann nur eine solche bloß gedachte Spannung mit einer zugleich von uns wirklich erlebten Spannung derselben Art zu vergleichen, um zu erkennen, daß sich beide, die gedachte und die wirkliche Spannung nach ihrer unanschaulichen Beschaffenheit durch nichts unterscheiden, und daß wir trotzdem beide auf eine grundsätzlich verschiedene Weise innewerden. Denn jene gedachte Spannung erfassen wir als einen zu uns selbst nicht gehörigen sondern nur gnoseologisch von uns gemeinten Fremdbestand auf die Weise unseres gegenständlichen Bewußtseins. Dagegen erfassen wir die von uns erlebte Spannung als etwas unmittelbar zu der Eigenwirklichkeit unseres ontologischen Bewußtseins selbst Gehöriges auf die Weise der Bewußtheit. Beide Spannungen unterscheiden sich voneinander also nicht durch ihre unanschauliche Beschaffenheit, die ihnen vielmehr gemeinsam ist, sondern lediglich durch ihre Abwesenheit oder Anwesenheit in unserem Bewußtseinsbezirke und damit durch die gnoseologische oder ontologische Art, in der wir sie innewerden. Unsere Unterscheidung zwischen der auf Fremdbestände eingestellten gnoseologischen Sphäre unseres Bewußtseins und der unsere Eigenwirklichkeit zum Ausdrucke bringenden Sphäre der Bewußtheit führt zu einem Probleme, dessen Aufklärung für die Ontologie des Bewußtseins nicht ohne Belang ist. Es erhebt sich nämlich die Frage, wie sich zu diesen beiden Sphären unsere Erlebniseinheit stellt als jenes allgemeine Bezugsverhältnis, das den Systemcharakter für den gesamten Simultanschnitt unseres Bewußtseins bildet, und das kraft dieser Eigenschaft nicht nur die bewußtheitlich von uns durchlebten Akte sondern, wenigstens scheinbar, auch die gnoseologisch von uns gemeinten Inhalte und Gegenstände umfaßt. Angesichts dieses umfassenden Charakters unserer Erlebniseinheit erhebt sich die Frage, ob sie zu einer jener beiden Sphären gehört oder ihnen übergeordnet ist. Bevor wir in eine Beantwortung dieser Frage eintreten, sei zuzunächst festgestellt, daß die Verbindung stiftende Funktion unserer Erlebniseinheit eine der soeben von uns beschriebenen unanschaulichen Bewußtseinstatsachen ist, die wir unmittelbar erleben und dennoch nicht entdecken können. Denn wir werden es zwar in jedem gegebenen Augenblicke als eine Tatsache inne, daß alle gleichzeitig von uns wahrgenommenen, vorgestellten, erinnerten, gedachten und gefühlten Bestände auf eine eigentümliche Weise miteinander ver-
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bunden sind. Aber wir mögen uns beobachten, soviel wir wollen: anschaulich entdecken können wir dieses Bezugsverhältnis nicht. Es bleibt uns vielmehr verborgen. Unser erlebniseinheitlicher Systemcharakter hat also ein ausgesprochen unanschauliches Wesen. Das führt uns zu der Frage nach dem Grunde dieser Unanschaulichkeit. Man könnte meinen, daß es eben ihr bloßer Beziehungscharakter sei, der die Unanschaulichkeit unserer Erlebniseinheit verschulde. Aber eine kurze Ueberlegung lehrt uns, daß diese Erklärung unrichtig ist. Denn es gibt andere Beziehungen, die wir gleichwohl anschauen können. So sehen wir zB. in dem deutungslos Gegebenen unserer Sichtempfindungen deren geometrischen Bezüge unmittelbar vor uns, und selbst die sogenannte Aehnlichkeitsbeziehung zwischen unseren Wahrnehmungsbeständen können wir anschaulich erfassen. An ihrem Beziehungscharakter als solchem liegt es also nicht, wenn wir unsere Erlebniseinheit, obwohl wir sie unmittelbar innewerden, dennoch nicht zu entdecken vermögen. Der Grund hierfür ist ein anderer. Er liegt in der umfassenden Funktion unserer Erlebniseinheit. Denn wenn diese letztere alle uns zu Bewußtsein kommenden Bestände ohne Unterschied miteinander verbindet, dann kann sie jene früher von uns dargelegte Voraussetzung nicht erfüllen, auf der jede Anschaulichkeit von Bewußtseinsbeständen beruht, nämlich die Bindung an ein bestimmtes Sinnesgebiet und an eine bestimmte Dimensionalität. Diese Bindung kann unser erlebniseinheitliches Bezugsverhältnis nicht eingehen. Denn als Systemcharakter für den gesamten Simultanschnitt unseres Bewußtseins umfaßt sie nicht nur dessen anschauliche sondern alle uns zu Bewußtsein kommenden Bestände schlechthin, also auch jene unanschaulichen Gebilde, zwischen denen, wie wir gesehen haben, unsere anschaulichen Bestände eingebettet sind. Es liegt aber auf der Hand, daß ein Bezugsverhältnis, das auch die unanschaulich von uns erlebten Gebilde in sich begreift, nicht selber anschaulich sein kann. Unsere Erlebniseinheit ist also nicht deshalb unanschaulich, weil sie eine Beziehung ist, sondern deshalb, weil sie als eine alle, auch unsere unanschaulichen Bewußtseinsgebilde umfassende Beziehung das enge Gebiet unserer anschaulichen Bestände überragt. Nach der Klärung dieser Vorfrage können wir uns nunmehr unserem Hauptprobleme zuwenden. Wir fragten, zu welcher Sphäre unseres Bewußtseins die Erlebniseinheit als das soeben geschilderte unanschauliche Bezugsverhältnis gehört. Die Antwort hierauf ergibt sich aus folgender Erwägung. Unsere Erlebniseinheit umspannt, wie wir gesehen haben, alle uns zu Bewußtsein kommenden Gebilde ohne
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Ausnahme. Zu dieser Feststellung steht es in einem scheinbaren Widerspruche, daß eben dieselbe Erlebniseinheit von allen Bedeutungsgehalten der gnoseologisch durch uns gemeinten Bestände ausgeschlossen bleibt. Gleichwohl ist dies der Fall. Denn obwohl wir selbst es sind, die mit ihrem erlebniseinheitlichen Bewußtsein jene Bestände meinen, so werden die letzteren doch als Fremdbestände von uns gemeint, dh. als solche, zu denen unsere sie meinende Erlebniseinheit nicht gehört. Dieses Verfahren, sich selber von dem gemeinten Bestände auszuschließen, ist, wie wir früher erkannt haben, ein Wesensmerkmal unserer Gnoseologie. Wir können die Eigentümlichkeit des hierbei auftretenden Doppel Verhältnisses dahin kennzeichnen, daß die von uns gemeinten Bestände insofern in unser erlebniseinheitliches Bezugsverhältnis eintreten, als wir es sind, die sie meinen; daß aber nicht auch umgekehrt dieses Bezugsverhältnis in die von uns gemeinten Bestände eintritt, sondern daß die letzteren vielmehr als das, als was sie gemeint werden, von erlebniseinheitlichen Beziehungen frei sind. Das haben wir schon in einer früheren Erörterung dargelegt und können es uns an beliebigen Beispielen nochmals vergegenwärtigen. So sind, wenn wir irgendetwas betrachten und zugleich ein Geräusch vernehmen, unsere Gesichts- und unsere Schallwahrnehmung zwar erlebniseinheitlich miteinander verbunden. Aber diese Verbindung zählt in dem, was wir meinen, nicht mit. Hier gilt vielmehr nur die räumliche und naturgesetzliche Verbindung beider Wahrnehmungsbestände in jener Außenwirklichkeit, die wir früher als das offene Immanenzsystem beschrieben haben. Oder wir verknüpfen, wenn wir eine Erzählung lesen, die einzelnen in dieser geschilderten Vorgänge auch erlebniseinheitlich miteinander. Aber wieder hat dieses unser erlebniseinheitliches Bezugsverhältnis nichts mit der in jener Erzählung dargestellten und allein von uns gemeinten Handlung selbst zu tun. Oder wenn wir, um noch ein letztes Beispiel anzuführen, bei einem Nachdenken über abstrakte Fragen zugleich unseren Blick auf einen belanglosen Gegenstand richten, so sind in unserem Bewußtsein der gedachte und der erschaute Bestand abermals erlebniseinheitlich miteinander verbunden. Und doch kann es sein, daß sie nach ihrem von uns gemeinten Bedeutungsgehalte überhaupt keine Beziehungen zueinander haben. Kurzum unsere Erlebniseinheit als ein Verbindung stiftendes Bezugsverhältnis macht sich zwar stets in unserem meinenden Bewußtsein geltend, gehört aber niemals zu den von uns gemeinten Gebilden als solchen. Wir können diesen Sachverhalt auf die einfache Formel bringen, daß unsere Erlebniseinheit nicht in dem gnoseologischen sondern nur
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in dem ontologischen Felde unseres Bewußtseins waltet. Diese Formel enthält bereits die Beantwortung des von uns gestellten Problems. Denn es wird aus ihr klar, daß unsere Erlebniseinheit als ein nur zu dem ontologischen Bestände unseres Bewußtseins gehöriges Bezugsverhältnis lediglich in der Sphäre unserer Bewußtheit und nicht in der unseres inhaltlichen oder gegenständlichen Bewußtseins auftritt. In Ergänzung zu diesem Ergebnisse aber geht aus der vorstehenden Erörterung hervor, daß alle gnoseologisch von uns gemeinten Gebilde, obwohl wir sie unserer repräsentativen Einstellung entsprechend als Fremdbestände auffassen, dennoch zugleich auch etwas Bewußtheitliches an sich haben, kraft dessen wir sie unbeschadet ihrer Fremdheit als zu uns selbst gehörig betrachten. Wir erfassen also unsere Inhalte und Gegenstände in einem und demselben Erlebnisse auf zwei verschiedene Weisen. Es ist so, als sähen wir sie aus einer doppelten Blickrichtung an. Kraft unserer ontologischen Bewußtheit erschauen wir sie aus dem Blickpunkte unserer Eigenwirklichkeit. Kraft unserer gnoseologischen Einstellung erschauen wir sie aus dem uns fremden Blickpunkte ihrer selbst. Jene erstere Schau erleben wir, meinen sie aber nicht. Diese letztere Schau meinen wir, erleben sie aber nicht. Näher zugesehen ist dieses Doppelwesen unserer Inhalte und Gegenstände durch die früher von uns dargelegte und für jede gnoseologische Relation konstitutive Duplizität zwischen den ontologischen Grundlagen unserer Meinungen und ihren gnoseologischen Bedeutungsgehalten bedingt. Alle Meinungen, die wir vollziehen, tragen eine solche Duplizität an sich. Sie haben ihren ontologischen Angelpunkt in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins und ihren gnoseologischen Bedeutungsgehalt jenseits dieses Bezirkes. Nach der ersteren Hinsicht gehörten sie zu uns selbst und treten daher in das erlebniseinheitliche Bezugsverhältnis unseres Bewußtseins ein. Nach der letzteren Hinsicht gehören sie nicht zu uns, sondern werden als etwas außerhalb unserer Erlebniseinheit Stehendes gemeint Dank der gnoseologischen Einstellung unseres Bewußtseins überwiegt dieses letztere Moment bei unseren Meinungserlebnissen. Aber daneben werden wir in dem Sinne der Bewußtheit auch jenes erstere Moment inne, kraft dessen alles, was wir meinen, in unserer Eigenwirklichkeit fundiert ist und dort seinen erlebniseinheitlichen Zusammenhang hat Dieser letztere Zusammenhang gehört also nicht zu den gnoseologisch von uns gemeinten Bedeutungsgehalten selbst, von denen er vielmehr ausgeschlossen wird; sondern er gehört ausschließlich zu den ontologischen Grundlagen dieser Bedeutungsgehalte.
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Auf diesem Sachverhalte beruht nach transzendenzontologischer Auffassung das Wesen aller intentionalen Ueberschneidungen, zu denen, wie wir früher gesehen haben, als ein Sonderfall auch die immanenzontologische Ueberschneidung gehört. Denn kraft ihrer soeben von uns geschilderten ontologisch-gnoseologischen Duplizität bilden die intentional von uns erfaßten Gebilde einerseits einen Teilbestand unserer erlebniseinheitlichen Systematik und stehen somit in dem Gesamtzusammenhange unseres Bewußtseins. Anderseits aber pflegen sie in ihrer von uns gemeinten Fremdheit den Teilbestand noch einer anderen umfassenderen und außerhalb unserer Erlebniseinheit stehenden Systematik zu bilden. In dieser ihrer Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen durch das Wesen der Gnoseologie bedingten Systemzusammenhängen liegt der für alle unsere intentional erfaßten Bestände konstitutive Ueberschneidungscharakter. Aus demselben Sachverhalte erklärt sich auch jene eigentümliche Einseitigkeit der Ueberschneidungsstruktur, die uns, wie wir seinerzeit ge. °ihen haben, zwar von unserem Bewußtsein aus zu dem gemeinten Bestände, aber nicht von diesem letzteren zu unserem Bewußtsein gelangen läßt. Diese Einseitigkeit ist in der Unumkehrbarkeit unserer gnoseologischen Relation begründet, die unseren früheren Darlegungen zufolge nur von unserem Bewußtsein aus geschlagen wird, nicht dagegen von dem gemeinten Bestände aus. Die Relation, die von unserem Bewußtsein zu diesem Bestände führt, ist daher nicht auch zugleich eine reziproke Relation von dem Bestände zu unserem Bewußtsein. Das kommt in jener Einseitigkeit aller Ueberschneidungsstrukturen zum Ausdrucke. Ziehen wir aus unseren bisherigen Erörterungen das Ergebnis, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß sich das Phänomen der Bewußtheit nicht lediglich auf solche Gebilde wie unsere Akte beschränkt, sondern kraft der allumfassenden Funktion unserer Erlebniseinheit das gesamte Bewußtsein durchdringt. Es ist demnach nicht so, wie es ursprünglich den Anschein hatte, daß nämlich nur ein Teil unseres Bewußtseins einen bewußtheitlichen Charakter trägt, während ein anderer Teil ausschließlich auf gnoseologische Weise von uns erfaßt wird. Vielmehr haben auf ihre Art alle uns zu Bewußtsein kommenden Bestände, insofern sie untereinander in einem erlebniseinheitlichen Zusammenhange stehen, ein bewußtheitliches Wesen an sich. Gleichwohl geschieht es nicht ohne Grund, wenn man die von uns erlebten Akte als bewußtheitliche Gebilde in einem besonderen Sinne den Inhalten oder Gegenständen unseres Bewußtseins gegenüberzustellen pflegt. Denn zwischen jenen Gebilden und diesen In-
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halten oder Gegenständen besteht für die Art unseres Erlebens insofern ein charakteristischer Unterschied, als wir die Akte lediglich als unsere eigenen Stellungnahmen auffassen und sie daher auch nur bewußtheitlich innewerden, während bei den von uns gemeinten Inhalten oder Gegenständen das auch bei ihnen vorhandene Moment ihrer Zugehörigkeit zu unserer Eigenwirklichkeit und damit ihr bewußtheitliches Wesen verhältnismäßig zurücktritt, um von dem für uns im Vordergrunde stehenden gnoseologischen Bedeutungsgehalte solcher Inhalte und Gegenstände überwuchert zu werden. Unsere Akte werden also einseitig von uns erlebt, unsere Inhalte und Gegenstände dagegen doppelseitig. Bei jenen haben wir nur eine Bewußtheit von ihrer ontologischen Zugehörigkeit zu uns. Bei diesen haben wir außerdem und überwiegend ein Bewußtsein von ihrem nicht zu uns gehörenden gnoseologischen Bedeutungsgehalte. Man kann mit diesem Sachverhalte die der philosophischen Tradition angehörende Unterscheidung zwischen dem äußeren und dem inneren Sinne unseres Bewußtseins in Zusammenhang bringen. Der äußere Sinn ist unser auf die Erfassung von Fremdbeständen eingestelltes Bewußtsein. Er beschäftigt sich mit den Inhalten und Gegenständen dieses letzteren als gnoseologisch von uns gemeinten Bedeutungsgehalten. Dagegen ist der innere Sinn die Bewußtheit, mit der wir den ontologischen Befund unserer Eigenwirklichkeit gewahrwerden. Sein Feld sind also in erster Linie die rein bewußtheitlich von uns erfaßten Gebilde von dem Typus unserer Akte. Unsere Inhalte oder Gegenstände aber gehören zu diesem inneren Sinne nur insofern, als sie ihrer ontologischen Grundlage nach von unserer Erlebniseinheit mit umspannt werden und dadurch neben ihrem gnoseologischen Bedeutungsgehalte für uns als Meinende auch etwas Bewußtheitliches an sich tragen. Die Unterscheidung zwischen dem äußeren und dem inneren Sinne wie übrigens auch die mit ihr verwandte Unterscheidung zwischen dem Erkennen und dem Fühlen oder dem Erkennen und dem Erleben geht demnach auf den hier dargelegten Unterschied zwischen unserem gnoseologischen Bewußtsein und unserer ontologischen Bewußtheit zurück. Wir haben uns bisher damit begnügt, unsere Erlebniseinheit als ein eigentümliches Zusammensein von ontologischen Bewußtseinsbeständen zu charakterisieren. Ueber diese Charakteristik werden wir hinausgeführt, wenn wir weiter fragen, ob jenes Zusammensein durch solche Bewußtseinsbestände selbst gestiftet oder auf eine andere Weise hervorgerufen wird. In dem ersteren Falle wäre unsere aus der Imma-
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nenzontologie stammende Kennzeichnung der Grlebniseinheit als eines gewissermaßen autonomen Bezugsverhältnisses erschöpfend. In dem zweiten Falle bildete die Erlebniseinheit ein heteronomes Bezugsverhältnis und bedürfte, wie sich sogleich zeigen wird, einer transzendenzontologischen Ergänzung. In dem ersteren Falle bestünde unser Bewußtsein lediglich aus Gegenständen, Inhalten und Akten. In dem zweiten Falle gäbe es außer diesen Gebilden noch einen anderen ihnen übergeordneten Bewußtseinsbestand, der hinter ihnen stünde, und von dem die erlebniseinheitliche Systematik unseres Bewußtseins ausginge. Nun ist es beachtenswert, daß sich unsere alltägliche Auffassung von dem Wesen des Bewußtseins nicht in dem ersten, sondern in dem zweiten Sinne entscheidet. Der Ton, den ich höre, bewirkt es nach dieser Auffassung nicht von sich aus, daß er mit der Ansicht, die ich von meinem Zimmer habe, erlebniseinheitlich verbunden wird. Und diese beiden Wahrnehmungsbestände bewirken es ihrerseits nicht von sich aus, daß sie erlebniseinheitlich mit der ontologischen Grundlage eines gleichzeitig von mir vollzogenen Gedankens verbunden sind. Eine solche Selbstherrlichkeit der Bewußtseinsbestände widerspräche unserem Begriffe von dem Wesen der Bewußtseinswirklichkeit. Es ist vielmehr unsere Meinung, daß alle jene Bestände nicht aus eigener Kraft, sondern kraft eines anderen dritten Bestandes miteinander verbunden sind, der eine besondere Stellung ihnen gegenüber einnimmt, und den wir als unser Ich bezeichnen. Der Sachverhalt stellt sich uns unter dieser Perspektive so dar, als ob alle uns zu Bewußtsein kommenden Bestände, wenn auch, wie wir noch sehen werden, nicht alle auf dieselbe Weise, zunächst nur zu unserem Ich gehörten, und als ob die in der immanenzontologischen Auffassung der Erlebniseinheit allein zutagetretende unmittelbare Beziehung von Bestand zu Bestand als ein sekundäres Phänomen aus dieser primären Ichzugehörigkeit unserer Bewußtseinsbestände hervorginge. Jener von mir gehörte Ton wäre nach dieser Auffassung also nicht deshalb mit meiner Zimmeransicht und mit der ontologischen Grundlage meines Gedankens verbunden, weil jeder dieser Bestände eine erlebniseinheitliche Brücke zu den übrigen von sich selbst aus schlüge, sondern deshalb, weil alle diese Bestände gemeinschaftlich durch einen und denselben hinter ihnen stehenden und von uns als Ich bezeichneten Bestand erfaßt werden. Dieses Ich wäre somit der die Einheit unseres Bewußtseins stiftende Faktor, auf dem das als erlebniseinheitlich von uns charakterisierte Bezugsverhältnis beruhte. In dieser seiner Einheit stiftenden Rolle bildet unser Ich nach der uns geläufigen Auffassung des Bewußtseins den konstanten Ge-
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genspieler aller irgendwie von uns erlebten Bestände, ohne den die stetig wechselnde Gesamtheit dieser letzteren zu einem in sich unverständlichen Getriebe würde. Das gilt sowohl für die gnoseologisch von uns gemeinten Inhalte und Gegenstände als auch für die bewußtheitlich von uns erlebten Akte. Für jene: denn unsere Inhalte und Gegenstände glichen ohne den sie besitzenden und beherrschenden Ichbestand einem Bühnenspiele ohne Regie, ohne Zuschauer und ohne Sinn. Es wären bald diese bald jene Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken da. Aber es gäbe keinen, der sie wahrnimmt, vorstellt und denkt. Sie hätten niemanden, zu dem sie gehören, niemanden, von dem sie stammen, und niemanden, für den sie da wären. Ihr Auftreten wäre ebenso rätselhaft wie sinnlos. Das Entsprechende gilt aber auch für unsere Akte. Aufmerksamkeitsspannung, Staunen, Stutzen, Zweifeln, Freude, Trauer, Wollen und Entsagung träten mit jenen Inhalten oder Gegenständen in Wechselbeziehung. Aber niemand wäre da, der dieses alles erlebt. Mit anderen Worten: versucht man die Gesamtheit der uns zu Bewußtsein kommenden Gebilde als einen in sich selbständigen Komplex zu betrachten, so findet maa, daß dieser Versuch zu einem sinnwidrigen Ergebnisse führt. Denn jene Gebilde lassen sich aus sich selbst heraus nicht verstehen. Sie werden erst dann sinnvoll, wenn sie zu ihrem von uns als Ich bezeichneten Gegenspieler in Beziehung gesetzt werden. Andernfalls hat man die Teile in der Hand, aber das geistige Band fehlt. In dieselbe Richtung führt uns noch eine zweite Erwägung. Jener Komplex der uns zu Bewußtsein kommenden Gebilde besteht nämlich offensichtlich aus einer jeweils wechselnden Manichfaltigkeit von verschiedenen Beständen. Zwar sind diese letzteren erlebniseinheitlich miteinander verbunden. Aber sie bilden darum noch nicht einen einzelnen Bestand, sondern bleiben trotz jener Verbindung eine Bestandvielheit. Als solche werden sie auch von uns erlebt Niemand betrachtet seine Wahrnehmungen, seine Vorstellungen, die Bedeutungsgehalte seiner Gedanken und seine Akterlebnisse, auch wenn er sie gleichzeitig inne wird, als einen einzigen Gesamtbestand. Jeder faßt diese Gebilde vielmehr trotz ihres erlebniseinheitlichen Zusammenseins als eine immer wieder anders zusammengesetzte Vielheit auf. Und doch sprechen wir von unserer durch das Ich bezeichneten Bewußtseinswirklichkeit stets als von einem einzigen konstanten Bestände und nicht als von einer dauernd wechselnden Vielheit. Wenn daher die lmmanenzontologie diese Bewußtseinswirklichkeit mit der Gesamtheit der erlebniseinheitlich verbundenen Gebilde identifiziert, so setzt sie sich mit der uns geläufigen Auffassung des Bewußtseins
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in Widerspruch. Sie enthält uns die konstante Einheit vor, die wir zu sein glauben, und gibt uns stattdessen eine stetig wechselnde Vielheit, die wir nicht zu sein glauben. Diesem immanenzontologischen Verfahren gegenüber besagt unsere alltägliche Auffassung der Bewußtseinswirklichkeit, daß hier ein anderer Sachverhalt vorliegt. Sie behauptet, daß die uns zu Bewußtsein kommenden wechselnden Bestände weder in Teilen noch in ihrer Gesamtheit unsere Eigenwirklichkeit konstituieren, sondern daß diese letztere in einem konstanten hinter unseren Bewußtseinsbeständen wirksamen Ich bestehe, und daß alle irgendwie von uns erfaßten Einzelgebilde entweder nur Aeußerungen dieses Ich sind oder zu dem Felde gehören, in dem es sich betätigt. Die transzendenzontologische Ergänzung, die der in der Immanenzontologie allein anerkannten Bestandfülle des Bewußtseins durch die Einführung eines solchen Ichbegriffs zuteil wird, besteht also nicht in der bloßen Hinzufügung eines neuen Bestandes zu den schon vorhandenen. Sie geht vielmehr wesentlich hierüber hinaus. Denn durch diese Ergänzung wird jener wechselnden Bestandfülle ihr Anspruch, selber die Eigenwirklichkeit unseres Bewußtseins zu sein, aberkannt, und als die eigentliche in sich selbständige Wirklichkeit unseres Bewußtseins erscheint nunmehr nur der konstante Gegenspieler aller uns zu Bewußtsein kommenden Bestände, das Ich. Geht man den ontologischen Motiven dieser Begriffsbildung nach, so erkennt man an dem Verhältnisse des Ich zu seinen Akten, daß wir in unserer alltäglichen Auffassung der Bewußtseinswirklichkeit denselben Weg gehen, auf den wir in einer der vorangehenden Untersuchungen auch ohne Rücksicht auf jene Begriffsbildung geführt wurden. Wir erkannten damals, daß alle irgendwie von uns erfaßten Bewußtseinsbestände und imbesonderen unsere Akte ontologisch unselbständige Gebilde sind, die auf einen selbständigen, uns aber verborgenen Träger zurückweisen, an dem sie vorkommen. Jener Träger ist das, was wir als unser Ich zu bezeichnen pflegen. Dieser Sachverhalt geht zunächst aus der Interpretation hervor, die wir dem Verhältnisse zwischen unserem Ich und seinen Akten geben. Denn da die Akte rein bewußtheitlich von uns erfaßt werden, also lediglich als das, was sie ontologisch in der uns zu Bewußtsein kommenden Sphäre sind, so erleben wir sie in der nackten Unselbständigkeit, die sie in jener Sphäre haben. Diese ihre Unselbständigkeit bleibt uns als den Erlebenden nicht verborgen. Sie wird vielmehr von uns durchschaut und kommt in unserer praktischen Bewertung der Akte deutlich zum Ausdrucke. Denn wir erfassen die letzteren,
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wie schon angedeutet wurde, als bloße Stellungnahmen. Und wir sind uns wohl bewußt, daß solche Stellungnahmen nicht als ontologisch selbständige Gebilde vorkommen können, sondern eines stellungnehmenden Bestandes bedürfen, dessen Aeußerungen sie sind. Der von uns eingeführte Ichbestand befriedigt dieses Bedürfnis. Er ist das Agens, dessen Betätigungen die von uns erlebten Akte sind. Akte für sich allein ohne ein solches Agens dagegen sind für uns keine sinnvollen Gebilde. Daher gibt es in unserer Bewußtseinswirklichkeit kein Denken ohne ein Ich, das denkt, keine Freude ohne «in Ich, das sich freut, und keinen Willen ohne ein Ich, das will, wie es in der Körperwelt keine Bewegung und keine Ruhe gibt ohne irgendetwas, das sich bewegt oder ruht. Fragt man unter diesen Umständen nach dem besonderen Charakter der zwischen unserem Ich und seinen Akten waltenden Beziehung, so lautet die Antwort, daß hier das einfache Verhältnis eines Bestandes zu seinen Aeußerungen vorliegt. Dh. unsere Akte kommen unserem Ich in dem Sinne jener früher von uns geschilderten partiellen Identität zu, die allenthalben zwischen Aeußerungen, Zuständen, Eigenschaften oder ähnlichen ontologisch unselbständigen Gebilden und ihrem selbständigen Träger besteht. Oder anders ausgedrückt: unser Ich hat als ein bewußtseinswirkliches Gebilde an seinen von uns erlebten Akten ebenso teil, wie in der Außenwirklichkeit ein Körper an seinem körperlichen Verhalten teilhat. Dies bedeutet es, wenn wir von unserem Ich im Hinblicke auf seine Bewußtseinswirklichkeit sagen: ich merke auf, ich freue mich, ich will usw., wie wir im Hinblicke auf unseren Körper von demselben Ich sagen: ich gehe spazieren oder ich bleibe stehen. Die Beziehungen unseres Ich zu seinen Inhalten und Gegenständen tragen einen anderen Charakter. Zunächst haben unsere Erörterungen gezeigt, daß wir solche Inhalte oder Gegenstände nicht rein bewußtheitlich und daher auch nicht lediglich als das auffassen, was sie nach ihrer Grundlage in unserem Bewußtsein ontologisch sind. Daher kommen wir auch nicht dazu, ihre ontologische Unselbständigkeit -durch die Selbständigkeit unseres Ichbestandes zu ergänzen und sie wie unsere Akte in dem Sinne der Teilhabe mit diesem zu identifizieren. Vielmehr schlagen wir den entgegengesetzten Weg ein. Dh. wir geben ihnen den Charakter von Fremdbeständen, also von solchen Beständen, die als das, als was wir sie meinen, nicht zu unserer in dem Ich verkörperten Bewußtseinswirklichkeit gehören, sondern zu diesem Ich in einem Widerspruchsverhältnisse ohne Identitätsergänzung stehen und ihm transzendent sind. Dieses Transzendenzverhältnis zwischen unse-
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rem Ich und seinen Inhalten oder Gegenständen bildet das ungleichartige Gegenstück zu der identischen Teilhabe zwischen unserem Ich und seinen Akten. Aber das ist nur die negative Seite dieses Bezugsverhältnisses. Denn positiv wird jene Transzendenz, da wir die Inhalte und Gegenstände meinend erlassen, durch unsere gnoseologische Relation überbrückt, die das, was ontologisch nicht zu unserem Ich gehört, gnoseologisch gleichwohl zu seinem Besitzstande macht. Oder anders ausgedrückt: die Inhalte und Gegenstände unseres Ich liegen nicht in seinem ontologischen Bezirke; wohl aber liegen sie in seinem gnoseologischen Bereiche; und sie haben in diesem letzteren unserem Ich gegenüber jene Duplizität des Fremdseins und der Zugehörigkeit, die für alle von uns gemeinten Bestände charakteristisch ist. Ist so das Verhältnis unseres Ich zu seinen Akten das der identischen Teilhabe und sein Verhältnis zu unseren Inhalten oder Gegenständen das der Transzendenz und der gnoseologischen Relation, so ist nicht zu übersehen, daß diese letztere selbst nur durch einen uns bewußten oder unbewußten Akt des Meinens zustandekommt. Hieraus geht hervor, daß unser Ich nicht ohne weiteres, dh. nicht schon seinem bloßen Bestände nach eine Beziehung zu seinen Inhalten oder Gegenständen besitzt. Es bedarf dazu jenes Aktes. Dieser nimmt insofern eine Mittelstellung zwischen unserem Ich und seinen Inhalten oder Gegenständen ein. Er ist mit jenem durch die identische Teilhabe und mit diesen durch die gnoseologische Relation unmittelbar verbunden. Die Beziehung des Ich selbst zu unseren Inhalten oder Gegenständen aber wird erst durch die Vermittelung eines solchen Meinungsaktes hergestellt. Die Tatsache einer Aktvermittelung in der Beziehung unseres Ich zu seinen Inhalten und Gegenständen gestaltet sich aber noch manichfaltiger. Denn wir haben früher gesehen, daß nicht nur unser Meinen sondern auch alle unsere anderen Akte im Normalfalle auf irgendwelche Inhalte oder Gegenstände bezogen sind. Dabei wird von diesen anderen Akten der soeben hervorgehobene Grundakt des Meinens stets vorausgesetzt. Oder anders gewendet: wir müssen kraft unseres Meinens erst irgendwelche Inhalte oder Gegenstände haben, um in einer anderen Weise auf sie zu reagieren. Unter diesem Vorbehalte aber sind alle Akte des Ich an seinen Beziehungen zu unseren Inhalten oder Gegenständen beteiligt, und umgekehrt tritt unser Ich seinerseits zu diesen letzteren nur vermittels solcher Akte in Beziehung. Die früher von uns geschilderte Korrelation zwischen unseren Akten auf der einen Seite und unseren Inhalten oder Gegenständen auf der anderen Seite ist also die Beziehung unseres Ich zu diesen
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Inhalten oder Gegenständen, die durch die Manichfaltigkeit seiner Akte hergestellt wird. Die von uns dargelegte Unmittelbarkeit in dem Verhältnisse unseres Ich zu seinen Akten und ihr gegenüber die Mittelbarkeit in seinem Verhältnisse zu unseren Inhalten oder Gegenständen kommt sprachlich in einer entsprechenden Zweigliederigkeit bzw. Dreigliederigkeit unserer auf diese Verhältnisse gemünzten Sätze zum Ausdrucke. Denn unsere Akterlebnisse pflegen wir im Normalfalle durch Sätze wiederzugeben, die nur das Ich als Subjekt und den Akt als Prädikat enthalten. So sagen wir: ich passe auf, ich bedauere, ich will usw. Durch solche zweigliederigen Sätze ist jedes Akterlebnis vollständig bestimmbar. Dagegen läßt sich die Beziehung unseres Ich zu seinen Inhalten und Gegenständen der Mittelbarkeit dieser Beziehung entsprechend nur durch drei Satzglieder zum Ausdrucke bringen. Denn das Ich als Subjekt und der Inhalt oder Gegenstand als Objekt ergeben für sich allein noch keinen Satz. Es bedarf eines Prädikates. Und dieses Prädikat muß, wenn der Satz sinnvoll sein soll, stets den Akt bezeichnen, der als Beziehung zwischen dem Ich und seinem Inhalte oder Gegenstande auftritt. Oder anders ausgedrückt: unsere Sätze über diese letztere Beziehung, zB. ich merke auf etwas auf, ich bedauere etwas, ich will etwas usw., sind dem von ihnen beschriebenen Strukturverhältnisse entsprechend sinngemäße Ergänzungen zu unseren Sätzen über die Akterlebnisse. In allen diesen dreigliederigen Sätzen gelangt ein Bezugsverhältnis zum Ausdrucke, das in der philosophischen Tradition viel verhandelt worden ist, nämlich die sogenannte Subjektobjektrelation. Von dieser Relation zu sprechen, ist nur dann sinnvoll, wenn die von uns geschilderte Auffassung des Ich als eines hinter unseren Bewußtseinsgebilden wirkenden Faktors zu Recht besteht. Gibt es diesen Faktor dagegen nicht, so verliert eben damit auch der Begriff der Subjektobjektrelation seine Anwendungsmöglichkeit. Das wird klar, sobald man die Begriffe des Subjektes und des Objektes näher zu bestimmen versucht. Als Objekt bezeichnen wir alles, was Inhalt oder Gegenstand unseres Bewußtseins ist, also die Gesamtheit der gnoseologisch von uns gemeinten Fremdbestände. Schwieriger und, wenn man die hier dargelegte Auffassung des Ich als eines hinter unseren Bewußtseinsgebilden wirkenden Faktors ablehnt, unbeantwortbar ist die Frage, was unter dem Begriffe des Subjektes zu verstehen sei. Jene Inhalte oder Gegenstände, die infolge unserer gnoseologischen Einstellung für uns die Hauptbestandfülle des Bewußtseins ausmachen, können das Subjekt nicht sein, da
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sie ihm als Objekte gegenübergestellt werden. Und unsere Akte einschließlich des für sie grundlegenden Meinungsaktes können das Subjekt ebenfalls nicht sein, da sie nicht die ontologische Selbständigkeit haben, die der Begriff des Subjektes erfordert. Nun würde aber unser Bewußtsein, wenn man es in dem hier angedeuteten Sinne als ichfrei betrachtete, lediglich aus jenen Inhalten oder Gegenständen und diesen Akten bestehen. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß sich den Objekten eines solchen ichfreien Bewußtseins kein selbständiges Subjekt gegenüberstellen läßt. Oder anders ausgedrückt: der Begriff der Subjektobjektrelation bliebe auf dieses Bewußtsein unanwendbar. Das wird anders, sobald wir den hier von uns dargelegten Ichbegriff in unser Bewußtsein einführen. Unter dem Subjekte haben wir dann weder unsere Inhalte und Gegenstände noch auch unsere Akte als solche zu verstehen sondern den hinter allen diesen Gebilden konstant wirkenden Gegenspieler alles dessen, was uns jeweils zu Bewußtsein kommt. Diesen Gegenspieler, der kraft seiner ontologischen Selbständigkeit unsere wahre Eigenwirklichkeit darstellt, also das Ich als einen von allen anderen uns zu Bewußtsein kommenden Gebilden verschiedenen Bestand meinen wir, wenn wir von dem Subjekte sprechen, und stellen ihn als das in unseren Akten wirkende Agens den nur gnoseologisch von uns gemeinten inhaltlichen oder gegenständlichen Fremdbeständen als den Objekten gegenüber. Hieraus ergibt sich, daß die Subjektobjektrelation mit den soeben von uns behandelten und durch unsere Akte vermittelten Beziehungen zwischen dem Ich und seinen Inhalten oder Gegenständen, speziell aber mit der gnoseologischen Grundrelation identisch ist, auf der, wie wir gesehen haben, jene übrigen Beziehungen fussen. Doch wir wenden uns zu dem Versuche einer Charakteristik des Ichbestandes selbst. Hier stellt uns der Umstand, daß wir unser Ich mit dem schon früher von uns behandelten selbständigen Träger der ontologisch unselbständigen Bewußtseinsbestände zu identifizieren haben, vor ein Problem. Denn da wir festgestellt haben, daß jener Träger aus unserem Bewußtsein verdrängt und uns daher seiner Beschaffenheit nach unbekannt ist, so erhebt sich die Frage, woher wir dann von unserem Ich etwas wissen. Die Antwort hierauf könnte an und für sich eine doppelte sein. Es könnte sich nämlich entweder so verhalten, daß wir unmittelbar von diesem Ich als einem Träger unseres Bewußtseins überhaupt nichts erlebten und sein Vorhandensein nur mittelbar erschlössen. Oder aber es könnte auch so sein, daß uns zwar die inhaltliche Beschaffenheit jenes Trägers verborgen bliebe, daß wir aber nichtsdestoweniger die Tatsache seines Vor26
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handenseins auf die Weise der Bewußtheit unmittelbar erfaßten. Beide Möglichkeiten liegen vor. In dem ersteren Falle wäre das Ich eine zu unseren Akten, Inhalten und Gegenständen hinzugedachte Ergänzung in einem ähnlichen Sinne, wie in der immanenten Außenwirklichkeit das uns phänomenal transzendente Ding eine zu unseren Empfindungen hinzugedachte Ergänzung ist. Nur daß in diesem Falle der von uns hinzugedachte Ichbestand als ein spezifisch bewußtseinswirkliches Gebilde nicht in der immanenten Außenwirklichkeit zu suchen wäre sondern in einer anderen ontologischen Sphäre, mit deren Bestimmung wir uns in dem nächsten Kapitel noch zu beschäftigen haben werden. Die Möglichkeit, daß jenes Ich nur etwas in dieser Weise zu unseren Erlebnissen Hinzugedachtes ist, kann nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden. Denn wir haben erkannt, daß es in der Bewußtseinswirklichkeit allerlei Bestände und Bestandstrukturen gibt, die wir nicht innewerden sondern nur denkend erschließen können. Mit dem, was wir Ich nennen, könnte es sich ähnlich verhalten. Aber es würde dieser Annahme das Bedenken im Wege stehen, daß wir tatsächlich unser Ich in einer mit den Akterlebnissen verwandten Weise als das intimste Eigenwesen unseres Bewußtseins unmittelbar innezuwerden glauben. Die Meinung, daß ein besonderer Ichbestand nicht erlebt, sondern daß er nur von uns hinzugedacht werde, stünde also zu einem Selbstzeugnisse unseres Bewußtseins in Widerspruch. Diesen Widerspruch vermeidet die zweite Auffassung, nach der wir auf die Weise der Bewußtheit unser Ich unmittelbar innewerden, obwohl uns der durch dieses Ich bezeichnete Träger seiner inhaltlichen Beschaffenheit nach unbekannt bleibt. Nehmen wir einmal an, daß es sich so verhielte. Dann würde dieser Auffassung der Sachlage die Schwierigkeit im Wege stehen, daß wir ein solches Ich zwar innezuwerden glauben, es aber nicht in unserem Bewußtsein entdecken können. Allein wir haben gesehen, daß diese Schwierigkeit nur scheinbar ist, und daß sie auf der naheliegenden aber nachweisbar irrigen Meinung beruht, alles irgendwie bewußt von uns Erfaßte müsse einen anschaulichen Charakter tragen. Demgegenüber stellten wir fest, daß ein großer Teil der bewußt von uns erfaßten Gebilde tatsächlich nicht angeschaut wird und sich daher auch nicht in unserem Bewußtsein entdecken läßt, obwohl er von uns erfaßt wird. Zu diesen unentdeckbaren und doch von uns erfaßten Gebilden gehörten auch unsere Akte, die die unmittelbaren Aeußerungen des Ich sind. Es liegt daher die Möglichkeit vor, daß jenes Selbstzeugnis unseres Bewußtseins zu Recht besteht, und daß wir, wie unsere Akte,
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so auch das ihnen zugrundeliegende Ich auf eine unanschauliche und deshalb unentdeckbare Weise innewerden. Wir hätten uns diesen Sachverhalt dann so zu erklären, daß unser Icherlebnis ähnlich wie unsere Akterlebnisse abstrakt wäre; dh. daß wir nur eine Bestimmtheit des durch den Ichbegriff bezeichneten Bestandes innewürden, nicht dagegen diesen Bestand selber in der ganzen Fülle seiner Eigenschaften. Von unseren Akten als den Verhaltungsweisen des Ich erlebten wir nur die Art ihres Funktionierens. Von unserem Ich selber könnten wir noch weniger ausmachen. Wir erfaßten nämlich nur die Tatsache seines Vorhandenseins. Wir würden inne, daß irgendetwas lebt, das sich in unseren Akten äußert. Aber wir würden nicht inne, was es ist, welche Größe und Gestalt, welche Strukturen und sonstigen Eigenschaften es hat. Es wäre uns also nach einer Hinsicht bekannt. Ja es wäre unser intimstes Eigensein. Wir wären es selber. Und es wäre uns nach einer anderen Hinsicht doch unbekannt. Denn wir kennten zwar einzelne seiner Aeußerungen, wüßten dagegen nicht, wie es an und für sich beschaffen ist. Prüfen wir den Bedeutungsgehalt unseres Ichbegriffes nach, so finden wir, daß es eben dies ist, was er aussagt. Er gibt uns mit individualbegrifflicher Eindeutigkeit unser Eigensein kund. Aber mehr besagt er auch nicht. Ueber die allgemeinbegriffliche Beschaffenheit dieses unseres Eigenwesens läßt er uns im Unklaren. Mit diesem Sachverhalte hängt die eigentümliche Dimensionsund Farblosigkeit zusammen, die unser Ich, so wie wir es zu erleben glauben, charakterisiert. Was zunächst seine Dimensionslosigkeit angeht, so können wir von unserem Ich weder aussagen, daß es körperlich, noch daß es flächenhaft, linear oder punktförmig sei. Die letztere Aussage wird zwar, wie wir schon einmal andeuteten, zuweilen gemacht. Aber sie ist dann nicht wörtlich zu nehmen. Denn daß das Ich gewissermaßen punktförmig sei, soll in dieser Redewendung nur bedeuten, daß es keine Ausdehnung habe. Dagegen soll es nicht bedeuten, daß das Ich einen Punkt in dem geometrischen Sinne darstelle, dergestalt daß etwa unendlich viele Iche zu einer ausgedehnten Manichfaltigkeit führen könnten usw. Im Gegenteile, alle spezifisch geometrischen Eigenschaften werden dem Ichbegriffe abgesprochen. Es gibt, so wie wir das Ich erfassen, keinen Sinn, ihm solche Eigenschaften zuzuschreiben. Seine Ausdehnungslosigkeit ist also im Unterschiede zu der geometrischen Ausdehnungslosigkeit jenes Punktes eine ageometrische. Daher pflegt man die Ausdehnungslosigkeit des Ich vielfach auch als eine Unräumlichkeit zu charakterisieren. Eine Interpretation, die uns noch ausführlich beschäftigen wird, und die, 26*
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wenn damit eine Räumlichkeit von unserem Ich grundsätzlich ausgeschlossen werden soll, in einem Widerspruche zu der Tatsache steht, daß wir diesem Ich einen freilich nicht genau bestimmbaren Ort in dem Räume der Außenwirklichkeit anzuweisen pflegen. Was von der Dimensionslosigkeit unseres Ich gilt, gilt entsprechend auch von seiner Farblosigkeit. Ihm fehlt jede sinnesqualitative Beschaffenheit. Es ist weder rot noch grün, weder laut noch leise, es läßt sich nicht tasten, riechen, schmecken usw. Es kann schon deshalb, weil es dimensionslos ist, keine dieser Beschaffenheiten haben. Wir vermögen es daher auch, wie soeben schon angedeutet wurde, weder wahrzunehmen noch es uns vorzustellen. Seine Farblosigkeit ist mithin ebenso wie seine Dimensionslosigkeit in einem ausschließlich negativen Sinne zu verstehen. Zwar hat man auch hier diese Negativität gelegentlich positiv umschrieben, indem man das Ich als gewissermaßen grau bezeichnete. Aber wieder ist diese Redewendung nicht wörtlich zu nehmen. Sie besagt nicht, daß unser Ich ein bestimmtes Grau zwischen Schwarz und Weiß zeige, sondern will nur ein bildlicher Ausdruck dafür sein, daß ihm eine Farbe oder eine andere Sinnesqualität nicht zukommt. Im übrigen gilt das, was hier von unserem Ich dargelegt ist, in einem verwandten Sinne auch von den Akten des Ich, denen abgesehen von ihrer zeitlichen Ausdehnung dieselbe Dimensionslosigkeit und trotz ihrer bewußtheitlich von uns erlebten wechselseitigen Verschiedenheit eine ähnliche Farblosigkeit zukommt. Wir werden sie unmittelbar inne. Sie sind also kein Nichts. Aber ihnen eine geometrische Ausdehnung oder eine sinnesqualitative Beschaffenheit beizulegen, ergäbe angesichts der Art, wie sie in unserem Bewußtsein auftreten, keinen Sinn. Die hier beschriebene Negativität des Ich und seiner Akte erklärt sich aus der Abstraktheit, in der uns diese Gebilde zur Kenntnis kommen. Ist die bloße Tatsache seines Vorhandenseins alles, was wir von dem durch unser Ich bezeichneten Träger des Bewußtseins, und die bloße Art ihres Funktionierens alles, was wir von den Verhaltungsweisen eines solchen Trägers erfassen, dann ist es schon durch die Art dieser Erfassung bedingt, daß uns das Ich und seine Akte als Gebilde ohne Ausdehnung und ohne sinnesqualitative Beschaffenheit erscheinen. Dh. wir streiten diese Bestimmtheiten unserem Ich und seinen Akten ab, weil wir sie in unserer Bewußtheit der letzteren nicht vorfinden. Und wir finden sie in dieser Bewußtheit nicht vor, weil das, was wir von unserem Ich und seinen Akten innewerden, nicht die ontologische Gesamtfülle sondern nur eine Abstraktion von
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dem durch den Ichbegriff bezeichneten Bewußtseinsbestande darstellt und zwar eine solche, in der die etwaige Dimensionalität und die inhaltliche Beschaffenheit dieses Bestandes nicht vertreten sind. Daß unser Ich und seine Akte für uns ausdehnungslos und farblos sind, besagt also zunächst nur, daß das, was wir von ihnen erfassen, diese negativen Merkmale trägt. Dagegen besagt es noch nicht, daß auch der in seiner ontologi sehen Vollständigkeit von uns nicht erfaßte selbständige Träger unserer Bewußtseinsbestände ohne Ausdehnung und ohne inhaltliche Beschaffenheit sein müsse. Es bleibt vielmehr die Möglichkeit offen, daß dieser Träger in seinem uns verborgenen Ansichbestande das, was wir an dem von uns erlebten Ich und seinen Akten vermissen, tatsächlich besitzt. Zu untersuchen, ob diese Möglichkeit zutrifft, wird eine Aufgabe des folgenden Kapitels sein. Ist der in unserem Ichbegriffe gemeinte Bestand mit dem selbständigen Träger unserer Bewußtseinsgebilde identisch, dann ist damit eine lange als abgetan betrachtete Schultradition gerechtfertigt, nämlich die Lehre, daß das, was wir als Ich bezeichnen, in demselben Sinne eine seelische Substanz sei, wie die Körper außenwirkliche Substanzen sind. Oder anders ausgedrückt: daß sich unser Ich zu den von uns erfaßten Bewußtseinsgebilden so verhalte, wie sich ein Körper zu seinen Eigenschaften, Zuständen und Betätigungen verhält. Das Ich wäre dementsprechend in dem früher von uns erläuterten Sinne eine Substanz, und die von uns erfaßten Bewußtseinsgebilde wären die zu ihr gehörigen Akzidentien. Diese Zusammenstellung des Ichbestandes mit den außenwirklichen Substanzen bewährt sich für alle spezifisch ontologischen Bezugsverhältnisse des uns verborgenen Trägers der Bewußtseinsgebilde, also namentlich für sein Verhältnis zu unseren deutungslosen Empfindungen und zu unseren Akten. Dagegen findet seine Beziehung zu den von uns gemeinten Inhalten und Gegenständen als eine ausschließlich gnoseologische Relation in den ontologischen Bezugsverhältnissen der außenwirklichen Substanz nicht ihresgleichen. Nun aber steht, wie wir gesehen haben, diese letztere Beziehung dank unserer gnoseologischen Einstellung für uns in dem Vordergrunde unseres Bewußtseins, während wir dessen ontologische Beziehungen, soweit sie uns überhaupt bewußt werden, nur in der von uns geschilderten Abstraktheit erfassen. Daher gewinnt man auf den ersten Blick leicht den Eindruck, als ob die Substanzrelationen unseres Ich nicht nur in jener gnoseologischen sondern in allen Hinsichten von den entsprechenden Relationen der körperlichen Substanz verschieden seien. Aber dieser Eindruck ist unzutreffend. Denn in ontologischer
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Hinsicht sind die Bezugsverhältnisse der körperlichen und der seelischen Substanz, wie wir schon andeuteten, grundsätzlich dieselben. Dieser letztere Umstand beruht darauf, daß für unsere Aufstellung beider Substanzen dasselbe ontologische Motiv maßgebend ist. Denn die Lehre von der substantiellen Seele ist ebenso wie die entsprechende Lehre von dem substantiellen Körper durch die uns bekannte Tatsache bedingt, daß die in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins vorhandenen Gebilde so, wie sie sich uns darbieten, ontologisch unselbständig sind und daher, um in ihrer Wirklichkeit verstanden werden zu können, der Ergänzung durch einen sie fundierenden selbständigen Bestand bedürfen, an dem sie auftreten. Das, was die Schultradition sowohl im Hinblicke auf die außenwirklichen als auch im Hinblicke auf die bewußtseinswirklichen Beziehungen jener Gebilde unter dem Begriffe der Substanz einführte, hat den Wert dieser Ergänzung. Jene Einführung war also kein bloßes Hirngespinst sondern entsprang einem richtigen Verständnisse für die Mängel der uns unmittelbar vorliegenden ontologischen Situation. Dagegen geht die empiristische Leugnung der beiden Substanzen in dem einen wie in dem anderen Falle aus einer Verkennung dieser Mängel hervor. Denn so wenig ein Körper, wie wir schon früher erkannten, die bloße Summe seiner von uns wahrgenommenen Eigenschaften ist, so wenig ist unser Bewußtsein die bloße Summe seiner von uns erfaßten Bestände. Sind doch die Summanden dieser beiden Summen sowohl einzeln als auch in ihrer Summierung ontologisch unselbständig und daher nur dann als Wirklichkeitsgebilde verständlich, wenn man sie als Aeußerungen anderer ontologisch selbständiger Gebilde betrachtet. Es bleibt uns also ihnen gegenüber nur der von der Schulphilosophie eingeschlagene Weg einer Einführung von körperlichen und seelischen Substanzen übrig. Das war im Hinblicke auf die Außenwirklichkeit zunächst an dem flächenhaften Charakter unserer Sicht- und Tastempfindungen deutlich. Denn es gibt, wie wir seinerzeit dargelegt haben, in unserer dreidimensionalen Außenwirklichkeit keine selbständigen Flächen ohne einen substantiellen Körper, zu dem sie gehören. Aber auch in unserer Bewußtseinswirklichkeit kommen solche Flächen nicht als selbständige Gebilde vor, sondern sie gehören hier zu jenem uns verborgenen Träger, der mit der Seelensubstanz identisch ist. Doch pflegen wir uns über diesen letzteren Sachverhalt nicht klar zu werden, da wir, wie ausführlich gezeigt worden ist, in unserem praktischen Leben nur die gnoseologische Außenwirklichkeitsbedeutung unserer Empfindungen und ihre Verknüpfung mit den uns phänomenal transzendenten
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Dingen innewerden, nicht dagegen den ontologischen Bestand ihrer deutungslosen Bewußtseinswirklichkeit und deren unmittelbare Verbundenheit mit dem durch unseren Ichbegriff bezeichneten Träger des Bewußtseins. Anders steht es in dieser Hinsicht mit den von uns erlebten Akten. Denn da wir diese letzteren in ihrer eigenen Wirklichkeit erfassen, so tritt uns ihre ontologische Unselbständigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit unmittelbar vor Augen. Daher würden wir auch dann, wenn wir das Vorhandensein unseres Ich nicht bewußtheitlich innewürden, die Aufstellung eines substantiellen Trägers unserer Akterlebnisse nicht entbehren können. Denn bloße Verhaltungsweisen ohne einen Bestand, dessen Aeußerungen sie sind, gibt es in unserer Bewußtseinswirklichkeit ebenso wenig wie in der Außenwirklichkeit. Wenn wir daher in unseren Akterlebnissen solche Verhaltungsweisen ohne den Bestand innewerden, an dem sie vorkommen, so bedeutet die Ginführung des Ichbestandes als eines Trägers unserer Akte zugleich die Einführung der zu ihnen gehörenden seelischen Substanz. Es geht aus dieser Erörterung hervor, daß uns die in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins auftretenden Gebilde dank ihrer ontologischen Unselbständigkeit teils zu der einen teils zu der anderen Art der Substanz führen. Denn die Unselbständigkeit der uns deutungslos gegebenen Empfindungen wird, da wir die letzteren nur in ihrer Außenwirklichkeitsbedeutung erfassen, unser Motiv für die Lehre von den körperlichen Substanzen als uns phänomenal transzendenten Dingen. Und die ontologische Unselbständigkeit der Akte bildet, da wir diese in ihrem bewußtseinswirklichen Eigensein erfassen, unser Motiv für die Lehre von der durch den Ichbegriff bezeichneten seelischen Substanz als einem uns seiner inhaltlichen Beschaffenheit nach ebenfalls transzendenten Bestände. Die aus jenen Empfindungen erschlossene Substanz der Körper haben wir seinerzeit als ein außenwirkliches Wahrnehmungsäquivalent bezeichnet. In einem entsprechenden Sinne können wir die seelische Substanz des Ich als ein bewußtseinswirkliches Erlebnisäquivalent bezeichnen. Die Untersuchungen dieses Kapitels haben uns gezeigt, daß wir in unserem Bewußtsein zwei grundsätzlich verschiedene Bestandweisen zu unterscheiden haben. Die eine dieser Bestandweisen ist das mit dem inneren Sinne bewußtheitlich durch uns erfaßte ontologische Eigensein der in unserem Wirklichkeitsbezirke anwesenden Gebilde. Die andere Bestandweise ist das mit dem äußeren Sinne inhaltlich oder gegenständlich durch uns erfaßte gnoseologische Fremd-
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sein der von unserer Bewußtseinswirklichkeit abwesenden und durch uns nur gemeinten Gebilde. Die erstere Bestandweise wird in ihrem reinen Typus durch unser Ich und seine Akte vertreten. Für die zweite Bestandweise findet sich in unserem Bewußtsein kein reiner Typus. Denn alle unsere Inhalte und Gegenstände tragen dort, wie wir gesehen haben, neben ihrem gnoseologischen Bedeutungsgehalte noch die Anzeichen ihrer bewußtheitlich von uns miterfaßten ontologischen Grundlage. Da aber jener gnoseologische Bedeutungsgehalt für uns das eigentliche Charakteristikum dieser letzteren Gebilde ist, so können wir sie, wenn auch nicht als reine, so doch als die typischen Vertreter der zweiten Bestandweise ansprechen. Unter diesem Vorbehalte gibt es in unserem Bewußtsein nicht nur zwei grundsätzlich verschiedene Bestandweisen, sondern ihnen entsprechend auch zwei verschiedene Bestandgruppen. Wir können die eine dieser beiden Gruppen als die spezifische Ichgruppe und die andere als die spezifische Nichtichgruppe bezeichnen. Zu der Ichgruppe gehört dann alles, was wir als einen ausschließlichen Ausdruck unseres Eigenseins auffassen dh. unser Ich selbst und seine Akte. Zu der Nichtichgruppe dagegen gehört alles, was wir vorwiegend als einen von unserem Ich zu trennenden Fremdbestand betrachten, dh. die Gesamtheit unserer Inhalte und Gegenstände. Untersuchen wir das gegenseitige Verhältnis dieser beiden Bestandgruppen, so erkennen wir, daß sie sich außer durch die schon genannten Eigentümlichkeiten noch durch ein anderes Merkmal voneinander unterscheiden. Wir finden nämlich, daß die Bestände der Ichgruppe relativ konstant, die der Nichtichgruppe dagegen fast unbegrenzt variabel sind. Das ist zunächst im Hinblicke auf die Konstanz der Ichbestände offensichtlich. Denn hinter unseren manichfachen Erlebnissen steht immer ein und dasselbe Ich, dessen bloßes Vorhandensein wir in gleichförmiger Weise innewerden, und das zwar im Laufe der Zeit nach seiner uns unbekannten inhaltlichen Beschaffenheit manche allgemeinbegriffliche Veränderungen durchmachen mag, individualbegrifflich aber nicht wechselt, sondern ein und derselbe in seinem zeitlichen Verlaufe mit sich identische Gesamtbestand bleibt. Und was unsere Akte angeht, so wechseln sie zwar von Fall zu Fall; aber sie bilden wenige mit geringen Abwandelungen dauernd wiederkehrende Reaktionsweisen. Bestünde daher unser Bewußtsein nur aus dem Ich und seinen Akten, also lediglich aus der Gruppe der Ichbestände, so wäre es ein eintöniges Spiel einiger weniger konstant wiederkehrender Aeußerungen eines und desselben Bestandes. Dabei liegt
Die Ichbestände und die Nichtichbestände des Bewußtseins
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es auf der Hand, daß diese Konstanz der Ichbestände durch ihre Gebundenheit an die konstante Konstitution unseres psychophysischen Organismus bedingt ist. Mit unseren Inhalten und Gegenständen als der Gruppe der Nichtichbestände verhält es sich anders. Sie können sich zwar ebenfalls in unserem Bewußtsein wiederholen. Aber das ist für sie nicht wesentlich. Denn statt dieser Wiederholungen könnten in unendlicher Manichfaltigkeit auch immer wieder neue Nichtichbestände in unser Bewußtsein eintreten. Den Nichtichbeständen gegenüber zeigt dieses letztere also eine schier unbegrenzte Fähigkeit zur Variation. Der Grund hierfür liegt darin, daß unsere Inhalte und Gegenstände nicht wie die konstanten Ichbestände aus dem begrenzten Systeme unseres eigenen Organismus stammen, sondern aus der von uns selber unabhängigen unbegrenzten Manichfaltigkeit teils der Wirklichkeit, in der wir leben, teils der idealen Welt aller nur denkbaren Bestände überhaupt. Diese Manichfaltigkeit bildet den uns grundsätzlich zugänglichen gnoseologischen Gesamtbereich, von dem nicht nur der ontologische Bezirk unserer Bewußtseinswirklichkeit, sondern auch die jeweils tatsächlich von uns erfaßte gnoseologische Bestandfülle nur einen unendlich kleinen Bruchteil ausmachen. Weder ein einzelner Mensch noch die gesamte Menschheit vermag jemals diesen uns grundsätzlich zugänglichen gnoseologischen Bereich in allen Einzelheiten auszuschöpfen. Er enthält vielmehr einen für uns unerschöpflichen Vorrat, aus dem sich unser Bewußtsein mit Nichtichbeständen speist. Und zwar geschieht das dergestalt, daß diese Bestände kraft ihrer soeben geschilderten Variabilität aus dem gnoseologischen Gesamtbereiche in unser jeweils aktuelles Meinungsfeld eintreten, um dann wieder aus ihm auszutreten und beliebigen anderen Beständen platzzumachen. Auf diese Weise geben die von uns gemeinten Nichtichbestände zum Unterschiede von dem in uns selbst beheimateten Ich und seinen Akten gewissermaßen nur Gastrollen in unserem Bewußtsein. Man könnte das letztere mit einem Hotel vergleichen, in dem das Ich als Leiter und seine Akte als Dienerschaft verbleiben, während die Inhalte und Gegenstände als die Fremden ein- und ausgehen, so daß im Laufe der Zeit die Zahl der in denselben Hotelräumen beherbergten Fremden ständig wächst. Wie die Zahl dieser Fremden, so wächst in unserem Bewußtsein die Zahl unserer Inhalte und Gegenstände, die in ständigem Wechsel sukzessiv von uns erfaßt werden und bei ihrem jedesmaligen Verweilen in unserem gnoseologischen Felde zugleich auch ihre ontologischen Spuren in dem Wirklichkeitsbezirke unseres Bewußtseins zurücklassen. Dagegen bleiben unser Ich und
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seine Akte wie dort der Leiter des Hotels und seine Dienerschaft während derselben Zeit stets die gleichen. Der von uns dargelegten Zugehörigkeit der Ichbestände zu unserer psychophysischen Organisation entspricht es, daß sie uns als Erbgut angeboren, also, wenn überhaupt, dann nur phylogenetisch erworben sind. Und der Zugehörigkeit unserer Nichtichbestände zu dem von uns unabhängigen gnoseologischen Gesamtbereiche entspricht es, daß sie von der Vererbung ausgeschlossen und uns nicht angeboren sind, sondern individuell erworben werden. Dieser Zusammenhang zwischen unserer Ichgruppe und der Vererbung des Stammes einerseits sowie zwischen unserer Nichtichgruppe und der Erwerbung des Einzelnen anderseits findet in den hier dargelegten Verhältnissen seine Erklärung. Denn die Aufgabe der Nichtichgruppe unseres Bewußtseins ist es eben, uns solche Bestände zur Kenntnis zu bringen, die nicht zu unserer ererbten Eigenwirklichkeit gehören sondern gewissermaßen von außen her in unser Bewußtsein eintreten und wieder aus ihm austreten können. Soll diese Aufgabe erfüllt werden, so darf die für die Nichtichgruppe bestimmte Region unserer Bewußtseins Wirklichkeit nicht durch angeborene Bestände festgelegt sein, sondern muß jederzeit für den Eintritt neuer Fremdbestände empfänglich bleiben. Daher wird hier nur diese Rezeptionsfähigkeit vererbt, nicht dagegen das zu rezipierende Bestandmaterial selbst, dessen Auftreten in unserem Bewußtsein vielmehr ausschließliche Sache der individuellen Erwerbung ist. Anders verhält es sich mit unserm Ich und seinen Akten, die die Aufgabe haben, den Fremdbeständen gegenüber unser von uns ererbtes Eigensein zum Ausdrucke zu bringen. Sie sind nicht Erwerbungen des Bewußtseins sondern vertreten die Wirklichkeit dieses letzteren selbst. Hier tritt also die uns angeborene ontologische Systematik des Bewußtseins den von uns erworbenen gnoseologischen Fremdbeständen gegenüber. Die Scheidung unserer Bewußtseinsbestände in eine Ichgruppe und eine Nichtichgruppe fällt nicht, wie man zunächst erwarten könnte, mit unserer früheren Scheidung zwischen dem ontologischen Bezirke und der gnoseologischen Reichweite des Bewußtseins zusammen sondern dehnt sich auch auf dessen ontologischen Bezirk selbst aus. Zu diesem Bezirke gehören, wie wir wissen, erstens unsere Akte und zweitens unsere deutungslosen Empfindungen. Beide, also nicht nur unsere Akte sondern, wie aus den Untersuchungen des folgenden Kapitels hervorgehen wird, auch unsere Empfindungen sind Akzidentien des durch unseren Ichbegriff bezeichneten und uns im übrigen unbekannten Bewußtseinsträgers. Gleichwohl werden nur die Akte
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in ihrer ontologischen Ichzugehörigkeit von uns erkannt. Dagegen fassen wir die Empfindungen, wie aus dem Gesamtverlaufe unserer Erörterungen hervorgeht, vermittels ihrer gnoseologischen Deutungserfüllung so auf, als gehörten sie nicht zu unserer Eigenwirklichkeit und daher auch nicht zu unserem Ich, sondern träten diesem als wahrgenommene Außenwirklichkeit oder vorgestellte Quasiaußenwirklichkeit fremd gegenüber. So kommt es, daß die Zweiteilung zwischen den ontologischen Ichbeständen und den gnoseologischen Nichtichbeständen auch auf unseren ontologischen Bezirk selbst übergreift. Es ist gewissermaßen so, als stellten sich unser Ich und seine Akte innerhalb dieses Bezirkes als die alleinigen Vertreter unseres Eigenseins dar und sähen auf unsere kraft Deutungserfüllung an die Nichtichgruppe abgegebenen Empfindungen als auf außerhalb unser selbst liegende Fremdbestände hin. Das macht sich in allen unseren Wahrnehmungen und Vorstellungen geltend. Besonders scharf aber tritt es bei unseren Sichtwahrnehmungen hervor. Niemand glaubt in dem, was er als Zimmer,, als Straße, als Feld und Wald, als Himmelsgewölbe usw. erschaut, Bestandkomplexe innezuwerden, die nach ihrer ontologischen Gegebenheit ebenso ausschließlich in seinem eigenen Bewußtsein liegen wie etwa die Akterlebnisse. Im Gegenteile, während wir diese als spezifisch zu uns selbst gehörige Ichgebilde erfassen, erscheinen uns unsere Sichtwahrnehmungen als ebenso spezifisch außerhalb unserer selbst gelegene Nichtichgebilde. Und doch sind unsere Sichtempfindungen, wie der gesamte Verlauf unserer Erörterungen gezeigt hat, an denselben von unserem substantiellen Ich fundierten ontologischen Bezirk gebunden wie jene Akterlebnisse. Hier liegt also ein durch die in unserer Deutungserfüllung enthaltene falsche Urteilsmeinung bedingter Irrtum über den tatsächlichen Bestandumfang unserer Bewußtseinswirklichkeit vor. Dieser Irrtum führt aber nicht nur zu einer Verkennung unseres Bewußtseinsumfanges sondern stört eben damit auch die Eindeutigkeit unseres Ichbegriffes. Denn einerseits bezeichnen wir mit diesem Begriffe die gesamte ontologische Wirklichkeit unseres Bewußtseins, dh. den substantiellen Träger dieses letzteren mit allen seinen Akzidentien. Anderseits aber erkennen wir nur die Zugehörigkeit der Akte zu unserem Ich an und beschränken dieses letztere somit auf einen besonderen Teil unserer Bewußtseinswirklichkeit. Wir haben also zwischen einem umfassenderen wirklichen Ich nämlich derjenigen Bewußtseinswirklichkeit zu unterscheiden, die uns tatsächlich vorliegt, und einem durch unsere Aufteilung dieser Bewußtseinswirklichkeit
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entstandenen vermeintlichen Ich nämlich derjenigen Bestandgruppe, die wir nach Abgabe unserer deutungslosen Empfindungen an die immanente Außenwelt für unsere Ichbewußtheit noch übrig behalten. Wenn man will, kann man auf die damit vollzogene Prozedur den freilich auf anderen Voraussetzungen fußenden Grundsatz der Fichteschen Wissenschaftslehre anwenden: das Ich setzt im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nichtich entgegen. Dieses teilbare Ich tritt aber in der immanenzontologischen Praxis des Alltages mit dem Ansprüche auf, das ungeteilte Gesamtich zu sein, und bringt dadurch in unseren Ichbegriff eine den wahren Sachverhalt verwirrende Mehrdeutigkeit, die zu allerlei irrigen Anschauungen über das Wesen der Bewußtseinswirklichkeit geführt hat. Die hier beschriebene Scheidung der in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke auftretenden Gebilde in eine Ichgruppe und eine Nichtichgruppe ermöglicht uns die Aufklärung eines bisher noch ungelösten Problems. Wir haben erkannt, daß die Unaoschaulichkeit der rein bewußtheitlich von uns erfaßten Gebilde kein ihnen ausschließlich zukommendes Merkmal ist. Gleichwohl bleibt die Tatsache bestehen, daß alle diese Gebilde unanschaulich sind, und daß sie sich in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke durch ihre Unanschaulichkeit vor den gnoseologisch durch uns verwerteten deutungslosen Empfindungen auszeichnen. Dieser Umstand ist schwerlich zufällig und bedarf einer Erklärung. Man kann diese Erklärung geben, indem man auf die Tatsache der gnoseologischen Einstellung unseres Bewußtseins zurückweist. Besteht die Grundfunktion dieses letzteren nicht darin, uns selber, sondern darin, Nichtichbestände im allgemeinen und die Außenwirklichkeit imbesonderen zu erfassen, dann kann es uns nicht wundernehmen, wenn die der Außenwirklichkeitsrepräsentation dienende Nichtichgruppe unseres ontologischen Bezirkes stärker entwickelt ist als die unserer Selbsterfassung dienende Ichgruppe. Denn den Maßstab für die Entwicklung unseres Bewußtseins bilden seine Funktionen. Diesen auf die Außenwirklichkeit gerichteten Funktionen unseres Bewußtseins entspricht in allen Einzelheiten sowohl jene als diese Gruppe. Denn auf der einen Seite sind unsere Empfindungen, wie schon aus unseren bisherigen Erörterungen hervorgeht und in dem folgenden Kapitel noch deutlicher werden wird, gerade so weit entwickelt, wie es eine immanente Repräsentation der transzendenten Außenwirklichkeit erfordert. Und auf der anderen Seite erfassen wir von unserer Ichgruppe gerade so viel, wie wir bedürfen, um zu der in unserem
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Bewußtsein vorwiegenden Nichtichgruppe Stellung zu nehmen. Denn in unseren Akten erleben wir deren unterschiedliches Wesen, also ihre Beschaffenheit, insofern diese von dem einen zu dem anderen Akte variiert. Und von unserem Ich selbst erfassen wir die Tatsache seines Vorhandenseins, also den Umstand, daß unsere Akte, Inhalte und Gegenstände nicht in der Luft schweben sondern auf einen ihnen gemeinsamen Träger bezogen sind. Erfaßten wir von unseren Empfindungen weniger, so bliebe unser Bewußtsein hinter seinen gnoseologischen Aufgaben zurück. Erfaßten wir von unserem Ich und seinen Akten mehr, so ginge unser Bewußtsein über seine gnoseologischen Aufgaben hinaus. Der anschauliche Zustand der Nichtich bestände und der unanschauliche Zustand der Ichbestände in unserem ontologischen Bezirke erweist sich also als eine natürliche Folge der Funktionen unseres Bewußtseins. Diese Aufklärung des Sachverhaltes gibt uns einen Anhalt für die Lösung des von uns gestellten Problems. Aber sie löst dieses Problem nicht vollständig. Denn sie enthält selber noch einen ungeklärten Faktor. Wir haben nämlich bisher die psychologische Zwangsläufigkeit unserer gnoseologischen Einstellung auf Fremdbestände stets als eine einfache in der Natur des menschlichen Bewußtseins gelegene Tatsache hingenommen. Der Gang unserer Erörterungen erlaubt uns nun, noch einen Schritt weiter zu gehen und eine Antwort auf die Frage zu geben, warum wir gerade auf die gnoseologische Erfassung von Fremdbeständen und nicht auf eine bewußtheitliche Erfassung unserer selbst eingestellt sind. Diese eigentümliche Richtung unserer Bewußtseinseinstellung liegt nicht in einer wundersamen Anziehungskraft der Fremdbestände als solcher, sondern hängt mit ihrer von uns beschriebenen Variabilität im Unterschiede zu der Konstanz der Ichbestände zusammen. Es zeigt sich nämlich, daß sich unser Bewußtsein umso lebhafter und reichhaltiger entfaltet^ je größere Veränderungen die von uns zu erfassenden Gebilde durchmachen, und daß es sich gegenteils umso schwächer und dürftiger entwickelt, je gleichförmiger die von uns erfassenden Gebilde sind« Nun haben wir aber gesehen, daß in unserem Bewußtsein die Nichtichbestände als Glieder unseres gnoseologischen Gesamtfeldes unverhältnismäßig stark variieren, während die Ichbestände als Glieder unserer eigenen Wirklichkeit verhältnismäßig konstant bleiben. Zwischen dieser Tatsache und unserer gnoseologischen Einstellung besteht ein offenbarer Zusammenhang. Dh. unser Bewußtsein entwickelt sich in der Richtung auf die Nichtichbestände, weil sie variabel sind; und es entwickelt sich nicht in der Richtung auf die Ichbestände, weil
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sie konstant sind. Dies ist der Grund, weshalb wir uns mit psychologischer Zwangsläufigkeit auf die ersteren und nicht auf die letzteren eingestellt sehen. Es ist also die Variabilität der Fremdbestände und nicht etwa schon ihre Fremdheit als solche, die unsere gnoseologische Einstellung bedingt. Daher hat die bekannte Lehre vieles für sich, nach der das Bewußtsein aus der für alle frei beweglichen Wesen mit der Nahrungssuche und der Abwehr von Feinden verbundenen Notwendigkeit entsprungen ist, solchen Wesen die Variabilität ihrer Nichtichbestände, also zunächst die von ihnen unabhängige und mit ihrer Körperbewegung für sie immer wieder wechselnde Umwelt zu vergegenwärtigen. Wäre diese Variabilität nicht da, so gäbe es für sie auch kein Bewußtsein. Ein Wesen, dessen Umwelt frei von Feinden und außerdem nach allen Richtungen hin gleich wäre, dergestalt daß es sich nicht zu schützen brauchte und seine Nahrung, wie immer es sich auch bewegte, fände, ohne sie erst suchen zu müssen, würde nach dieser Theorie ein Bewußtsein überhaupt nicht entwickeln. Es hätte, da die Bedingungen, unter denen sein Körper arbeitet, stets dieselben blieben, ebensowenig Anlaß, ein Bewußtsein auszubilden wie der in dem Erdreiche fest verwurzelte Körper eines Baumes. Man könnte freilich meinen, daß dieser Mangel an Bewußtsein zunächst nur die Beziehungen eines solchen Wesens zu den ihm gegenübertretenden Nichtichbeständen beträfe, und daß es, wenn auch kein inhaltliches und gegenständliches Bewußtsein, so doch eine Bewußtheit seiner Ichgebilde entwickeln könne. Allein ein Rückblick auf den Gang unserer Untersuchungen weist uns darauf hin, daß mit dem Fortfalle eines Bewußtseins der Nichtichgruppe zugleich die Bewußtheit der Ichgruppe verschwinden würde, da die letztere als das zugehörige Gegenstück jedes inhaltlichen und gegenständlichen Bewußtseins an das Auftreten eines solchen gebunden ist. Das gilt zunächst für unsere Akterlebnisse. Denn diese sind, wie wir gesehen haben, lediglich ein Ausdruck für unsere Stellungnahmen zu den von uns erfaßten Fremdbeständen. Werden keine solchen Fremdbestände erfaßt, ist also für unser Bewußtsein nichts da, zu dem wir Stellung nehmen können, so fallen damit auch die Akterlebnisse weg, die diese Stellungnahmen zum Ausdrucke .bringen. Und es gilt zweitens für unsere Ichbewußtheit. Denn diese ist, "wie wir gesehen haben, ebenfalls an unser inhaltliches und gegenständliches Bewußtsein und außerdem an unsere Aktbewußtheit gebunden. Sie dient beiden zum ontologischen Stützpunkte. Sind da-
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her beide nicht vorhanden, so fällt mit einer solchen Stützpunktfunktion zugleich auch die diese Funktion vollziehende Ichbewußtheit selbst fort. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß ein Wesen, das wegen der mangelnden Variabilität seiner Nichtichbestände kein Bewußtsein derselben entwickelte, eben damit auch keine Bewußtheit seiner Ichbestände entwickeln würde. Denn diese Bewußtheit tritt nicht für sich allein auf sondern bildet eine Korrelaterscheinung zu unserem Bewußtsein der Nichtichbestände. Aus diesen Erwägungen wird ersichtlich, warum unsere rein bewußtheitlich erfaßten Ichgebilde im Unterschiede zu den gnoseologisch von uns verwerteten deutungslosen Empfindungen einen unanschaulichen Charakter tragen. Dies liegt daran, daß sich unser Bewußtsein nur in der Richtung auf die variabelen Nichtichbestände entwickelt hat, nicht dagegen in der Richtung auf unsere konstanten Ichbestände, und daß es daher auch nur auf jene, nicht dagegen auf diese eingestellt ist. Dementsprechend werden wir von der Ichgruppe unseres Bewußtseins nur das inne, was wir bedürfen, um für unsere gnoseologische Erfassung der Nichtichbestände das unseren praktischen Zwecken dienende ontologische Gegengewicht zu haben. Hierzu aber genügt der unanschauliche Charakter, den die Ichbestände in unserem Bewußtsein tragen. Oder anders ausgedrückt: unsere Bewußtheit der Ichbestände ist deshalb unanschaulich und weit dürftiger als unsere deutungslosen Empfindungen ausgebildet, weil das für ihre Funktion, kraft deren sie nur ein sekundäres Korrelat unseres inhaltlichen und gegenständlichen Bewußtseins darstellt, hinreicht. Wir können diesen Sachverhalt auch auf die Formel bringen, daß unsere Bewußtheit der Ichgruppe in dem Zeichen einer gnoseologischen Verdrängung steht. Denn sie ist in dem früher beschriebenen Sinne dadurch in den Hintergrund unseres Bewußtseins gedrängt worden, daß die gnoseologisch von uns erfaßten Nichtbestände in seinen Vordergrund getreten sind. E s trifft daher auf unsere Ichgebilde dasselbe zu, was, wie wir gesehen haben, für manche anderen gnoseologisch verdrängten Bestände gilt: sie sind da; aber sie sind nicht der Gegenstand, mit dem wir uns beschäftigen, und werden daher auch nicht ebenso von uns erfaßt wie dieser sondern wirken als Fundamente unseres Bewußtseins gewissermaßen aus einer Verborgenheit heraus. Endlich wird aus diesen Verhältnissen nochmals klar, warum wir niemals uns selber sondern immer nur unsere außenwirklichen oder quasiaußenwirklichen Wahrnehmungen und Vorstellungen unmittelbar kennen. Anschaulich uns selber zu gewahren, ist uns versagt, weil
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unser Bewußtsein konstitutiv auf die variabele Welt der Nichtichbestände und nicht auf die konstante Welt der Ichbestände eingestellt ist. Dies ist der Grund, weshalb wir unser eigenes Wesen nur mittelbar aus seinen Leistungen in der uns allein zugänglichen Welt der Nichtichbestände zu erschließen vermögen. Das, was wir selber sind, ist uns also auf eine ähnliche Weise, wenn auch aus anderen Gründen verborgen, wie uns die Bestände der transzendenten Außenwirklichkeit verborgen sind, die wir ebenfalls nicht unmittelbar erschauen sondern nur mittelbar aus der Struktur unserer Wahrnehmungen erschließen können. Blicken wir auf die Untersuchungen dieses Kapitels zurück, so erkennen wir, daß uns die Transzendenzontologie zu einer wesentlich anderen Auffassung der Bewußtseinswirklichkeit führt als die Imraanenzontologie. Die letztere hatte stillschweigend oder ausdrücklich vorausgesetzt, daß alle unsere Bewußtseinsbestände in einem und demselben ontologischen Felde lägen, daß dieses Feld mit der inhaltlichen und gegenständlichen Sphäre der erlebniseinheitlichen Erfassung zusammenfalle, und daß zu unserem Bewußtsein nichts gehöre als das, was wir unmittelbar von ihm innewerden. Alle diese Voraussetzungen haben sich in den vorangehenden Erörterungen als mehr oder minder irrig erwiesen. Wir haben vielmehr erkannt, daß unser Bewußtsein kein in sich einheitliches ontologisches Feld bildet, sondern daß in ihm verschiedene Felder vorliegen. Wir haben ferner erkannt, daß seine inhaltliche und gegenständliche Sphäre nicht ontologisch sondern gnoseologisch ist, und daß das ontologische Gebiet unseres Bewußtseins in einer anderen Sphäre liegt. Und wir haben drittens gesehen, daß unsere Bewußtseinswirklichkeit mit den Beständen, die wir innewerden, nicht erschöpft ist, sondern in Tiefenschichten hinabragt, die wir nicht mehr innewerden. In dem Rahmen dieser Verhältnisse stellt unser Bewußtsein ein kompliziertes Gefüge von verschiedenen Feldern und Feldgebieten dar, die sich mehr oder minder scharf gegeneinander abgrenzen und unserer Einsicht nur teilweise zugänglich sind. Hierdurch ist es bedingt, daß die in dem vorangegangenen Kapitel von uns betonte Transzendenz zwischen dem Bewußtsein und der Außenwirklichkeit nicht für sich allein steht, sondern daß auch innerhalb unseres Bewußtseins selbst mehrere untereinander verschiedene Transzendenzen auftreten, die sich auf manichfache Weise miteinander verknüpfen, und deren wechselseitige Schichtung, wie das folgende Kapitel zeigen wird, eng mit jener ersteren Transzendenz zwischen unserem B e wußtsein und der Außenwirklichkeit zusammenhängt.
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Um diese Transzendenzen aufzudecken, sehen wir von den uns unzugänglichen Tiefenschichten unserer Bewußtseinswirklichkeit zunächst ab und wenden uns zu derjenigen Schicht, in der die Gesamtheit aller auf irgendeine Weise von uns erfaßten Gebilde liegt, um zu prüfen, welche Transzendenzverhältnisse solche Gebilde, also unser Ich und seine Akte, unsere Inhalte und unsere Gegenstände miteinander eingehen. Zu diesem Zwecke können wir aufgrund der vorangehenden Erörterungen unsere frühere Unterscheidung zwischen dem gnoseologischen Bereiche und dem ontologischen Bezirke des Bewußtseins noch weiter spezifizieren, indem wir nunmehr drei verschiedene Sphären unterscheiden, nämlich die gegenständliche Sphäre der als abwesend gedachten Nichtichbestände, die inhaltliche Sphäre der von uns als anwesend aufgefaßten, aber an die Nichtichgruppe abgegebenen Wahrnehmungen und Vorstellungen und die rein bewußtheitlich erfaßte Sphäre unserer Ichgruppe. Fragen wir zunächst nach dem Transzendenzverhältnisse zwischen den in der ersten Sphäre und den in den beiden anderen Sphären gelegenen Beständen, so können wir auf unsere früheren Erörterungen hierüber zurückweisen. Denn die als abwesend von uns gemeinten Bestände sind eben wegen ihrer Abwesenheit sowohl der Ichgruppe als auch der Nichtichgruppe unseres ontologischen Bewußtseinsbezirkes transzendent. Wenn ich an Walther von der Vogelweide oder an die Insel Ceylon, an Goethes Faust oder an eine algebraische Gleichung denke, so transzendieren alle diese nur gedachten Bestände sowohl mich selbst und meine Akte einschließlich des Denkaktes, vermittels dessen ich sie erfasse, als auch meine deutungslosen Empfindungen, zugleich aber auch meine deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen, da ich ja auch diese im Gegensatze zu den als abwesend gedachten Beständen als anwesende Gebilde auffasse. Und zwar ist die hierbei auftretende Transzendenz die einer räumlichen, zeitlichen oder gegenstandstheoretischen Trennung. Das ist nach unseren früheren Erörterungen ohne weiteres klar und braucht hier nicht mehr im einzelnen ausgeführt werden. Komplexer gestalten sich die Transzendenzen, die unsere deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen abgesehen von ihrer soeben genannten Transzendenz zu den als abwesend von uns gemeinten Beständen eingehen. Hier kommt zunächst die für das ontologische Verständnis unseres Bewußtseins besonders wichtige Transzendenz zwischen unseren deutungserfüllten Wahrnehmungen oder Vorstellungen und den ihnen zugrundeliegenden deutungslosen Empfindungen inbetracht. Für diese Transzendenz gilt alles das, was wir 27
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früher für die Transzendenzverhältnisse jeder gnoseologischen Wirklichkeit ausgemacht haben. Dh. es liegen hier zwei verschiedene Feldgebiete vor, die sich auf der einen Seite durchgehends voneinander unterscheiden, obwohl sie auf der anderen Seite in ihrem uns unmittelbar vorliegenden Bezirke ebenso durchgehends miteinander identisch sind. In dem einen Felde liegt, um dies an dem Beispiele unserer Sichtwahrnehmungen zu illustrieren, das bewußtseinswirkliche Material unserer deutungslosen Farbempfindungen. In dem anderen Felde liegt das immanenzontologisch außenwirkliche Material, als das eben diese Empfindungen gedeutet werden. In jenem Felde sind die Bestände flächenhaft, in diesem sind sie räumlich. In jenem messen sie wenige Quadratzentimeter, in diesem treten Entfernungen auf, die weit erheblichere Ausmaße zeigen und, wenn wir in den Sternhimmel schauen, viele Lichtjahre betragen können. In dem ersteren Felde finden bewußtseinswirkliche Vorgänge der einen Art, in dem letzteren Felde finden außenwirkliche Vorgänge von einer anderen Art statt. Beide Felder zeigen also eine von Grund aus verschiedene Struktur, und doch sind sie in dem, was uns von ihnen unmittelbar vorliegt, ebenso miteinander identisch, wie eine farbenbedeckte Leinewand und die Landschaft, die sie darstellt, miteinander identisch sind. Die Transzendenz zwischen zwei Feldern dieser Art trägt, wie wir früher erkannt haben, den Charakter eines wechselseitigen Ausschlusses. Ein solcher wechselseitiger Ausschluß besteht daher auch zwischen der gnoseologischen Sphäre unserer Wahrnehmungen und der ontologischen Sphäre, zu der unsere deutungslosen Empfindungen gehören. In keiner dieser beiden Sphären ist irgendetwas von der anderen Sphäre enthalten. Vielmehr hat die gnoseologische Wirklichkeit unserer Wahrnehmungen keinen Platz für die ontologisch wirklichen Bewußtseinsbestände, und die ontologische Wirklichkeit unseres Bewußtseins keinen Platz für die gnoseologisch wirklichen Wahrnehmungsbestände. Und zwar ist dieser wechselseitige Bestandausschluß darin begründet, daß beide Wirklichkeiten in gegenstandstheoretisch verschiedenen Feldern liegen. Nichtsdestoweniger beanspruchen diese beiden Wirklichkeiten in dem uns unmittelbar vorliegenden Bezirke ein und dasselbe Bestandmaterial und machen es sich auf die soeben geschilderte Weise gegenseitig streitig. Stellen wir uns demnach auf den Standpunkt unserer immanenten Wahrnehmungswelt, so sind eben damit unsere deutungslosen Empfindungen für uns ausgeschaltet. Und könnten wir uns umgekehrt auf den Standpunkt dieser Empfindungen stellen, so verlöschte damit die immanente Wahrnehmungswelt für uns. Ent-
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weder löst sich also das Darstellungsmittel in den Darstellungsgegenstand auf und verliert damit sein ontologisches Sein. Oder es löst sich umgekehrt der Darstellungsgegenstand in das Darstellungsmittel auf und verliert damit sein gnoseologisches Sein. Die zwischen der Welt unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen und der Welt unserer deutungslosen Empfindungen herrschende Transzendenz ist nachalledem eine grundsätzliche. Dh. keine noch so große Ausdehnung der einen Welt führt jemals in die andere hinein. Nun ist die eine dieser beiden Welten unsere immanente Außenwirklichkeit mit allem, was zu dem ihr zugeschriebenen naturgesetzlichen Gesamtzusammenhange gehört. Wir erkannten aber, daß dasjenige, was außerhalb dieses Zusammenhanges steht, jener immanenten Außenwirklichkeit in einem metaphysischen Sinne transzendent ist. Daraus folgt, daß unsere ontologische Bewußtseinswirklichkeit im allgemeinen und unsere deutungslosen Empfindungen imbesonderen zu unserer immanenten Außenwirklichkeit in einem solchen metaphysischen Transzendenzverhältnisse stehen. Hiermit verträgt es sich, daß gleichwohl unsere Empfindungen gnoseologisch umgedeutet in dieser Außenwirklichkeit gegenwärtig sind, und daß das Verhalten der von uns wahrgenommenen außenwirklichen Bestände von dem Verhalten jener Empfindungen abhängt. Diese in den Beziehungen jeder gnoseologischen Wirklichkeit zu ihrer ontologischen Grundlage liegende enge Verbindung zwischen den einander transzendenten Sphären wird, wie wir früher erkannt haben, durch das Wesen der metaphysischen Transzendenz nicht ausgeschlossen. Für unsere praktische Erfassung der Bewußtseinswirklichkeit wirkt sich diese ihre metaphysische Transzendenz zu unserer immanenten Wahrnehmungswelt inbezug auf unsere deutungslosen Empfindungen anders aus als inbezug auf unser Ich und seine Akte. Wir tun daher gut, auch in dieser Hinsicht zwischen den ersteren als der Nichtichgruppe und den letzteren als der Ichgruppe unserer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit zu unterscheiden. Was zunächst die Nichtichgruppe, also unsere Empfindungen angeht, so sind diese nicht nur unserer immanenten Außenwirklichkeit sondern zugleich auch unserer praktischen Erfassung der Bewußtseinswirklichkeit transzendent. Dh. sie liegen außerhalb dessen, was uns zur Kenntnis kommt. Wir vermögen sie nicht innezuwerden. Wir werden immer nur unsere immanente Wahrnehmungswelt, also nur das eine der beiden einander transzendenten Felder inne. Die in dem anderen Felde liegenden deutungslosen Empfindungen sind, wie für jene Wahrnehmungswelt, so auch für uns selber so gut, als wären 27»
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sie nicht vorhanden. Und das geschieht, obwohl sich die zu unserer Kenntnis gelangenden deutungserfüllten Wahrnehmungen aus den unserer Kenntnis transzendenten deutungslosen Empfindungen aufbauen. Wir haben hier also das eigentümliche Phänomen vor uns, daß ein in unserer Bewußtseinswirklichkeit nicht nur ontologisch vorhandener sondern uns auch unmittelbar vor Augen liegender und von uns verwerteter Bestandkomplex dennoch unserer Kenntnisnahme transzendent bleibt. Der Grund hierfür liegt in dem vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinungscharakter unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen, an den wir kraft unserer repräsentativen Einstellung mit psychologischer Zwangsläufigkeit gebunden sind, und von dem wir uns in unserer Praxis nicht zu befreien vermögen. Anders verhält es sich mit der Transzendenz zwischen unserer Wahrnehmungswelt und den Ichbeständen. Das hängt damit zusammen, daß sich diese letzteren Bestände, also das Ich und seine Akte nicht in die Deutungserfüllung der Wahrnehmungen auflösen. Sie sind deshalb auch nicht wie die deutungslosen Empfindungen unserer Erfassung transzendent. Wir haben vielmehr gesehen, daß wir sie auf bewußtheitliche Weise in ihrer unmittelbaren Eigenwirklieb keit innewerden. Auf der anderen Seite aber teilen sie mit unseren deutungslosen Empfindungen denselben ontologischen Bewußtseinsbezirk. Sie stehen daher wie diese zu unserer immanenten Außenwelt in einer metaphysischen Transzendenz. Und zwar liegen sie, wenn man die Beziehung zwischen dieser Außenwelt und unserer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit als ein repräsentatives Ueberschneidungsverhältnis auffaßt, diesseits des Ueberschneidungsbezirkes, während unsere deutungslosen Empfindungen innerhalb desselben liegen. Dementsprechend sind sie nicht wie die letzteren individualbegrifflich mit der von uns wahrgenommenen Außenwelt identisch sondern von deren ontologischer Empfindungsgrundlage kontiguitätssystematisch getrennt. Man könnte die durch diesen Sachverhalt bedingte Transzendenz unseres Ich und seiner Akte zu unserer deutungserfüllten Wahrnehmungswelt nach der einen Hinsicht mit ihrer entsprechenden Transzendenz zu den als abwesend von uns gedachten Beständen in dieselbe Linie stellen. Denn auch unsere Deutungserfüllungen werden ja, wie wir früher gesehen haben, lediglich von uns gedacht und sind daher von unserem Ich und seinen Akten ebenso abwesend wie etwa Walther von der Vogelweide oder die Insel Ceylon, wenn wir an sie denken. Auf dieser gnoseologischen Abwesenheit unserer Deutungserfüllungen beruht ihre Transzendenz den Ichbeständen gegenüber.
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Auf der anderen Seite aber werden von uns, wie wir wissen, die Deutungserfüllungen unserer Wahrnehmungen kraft falscher Urteilsmeinung mit den in unserem Bewußtsein anwesenden deutungslosen Empfindungen identifiziert. Sie beanspruchen daher trotz ihrer Abwesenheit, für ebenso anwesend gehalten zu werden, wie es unsere Empfindungen sind. Und wenn auf jener ihrer Abwesenheit ihre tatsächliche Transzendenz unserem Ich und seinen Akten gegenüber beruhte, so beruht auf diesem ihrem Ansprüche auf Anwesenheit ihre scheinbare Immanenz in unserem Bewußtsein. Durch diese Verhältnisse ist es bedingt, daß in unserem Bewußtsein nicht nur das Ich und seine Akte als Ichbestände sondern auch die deutungserfüllten Wahrnehmungen als Nichtichbestände gegenwärtig zu sein scheinen. Diese scheinbar beiderseitige Gegenwart erweckt zunächst den Eindruck, als ob beide Bestandgruppen auch in einem und demselben Felde anwesend wären. Aber der Gang unserer Erörterungen hat uns gezeigt, daß dies nicht der Fall ist. Wir erkannten vielmehr, daß jede der beiden Gruppen in einem anderen Felde auftritt, und daß das Anwesenheitsfeld unseres Ich und seiner Akte dem Anwesenheitsfelde unserer immanenten Außenwirklichkeit metaphysisch transzendent ist. Diese Tatsache ist umso beachtenswerter, als jene Außenwirklichkeit weitaus in dem Vordergrunde unseres Bewußtseins steht und, wie wir früher erkannt haben, als ein von dem Sichtraume beherrschtes offenes Immanenzsystem für unser praktisches Verhalten die einzige Wirklichkeit darstellt. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß unser Ich und seine Akte, die für uns in dem Hintergrunde unseres Bewußtseins stehen, erstens unmittelbar in diesem letzteren anwesend und zweitens dennoch der von uns ebenfalls für anwesend und außerdem für einzig gehaltenen immanenten Außenwelt metaphysisch transzendent sind. Mit diesem Sachverhalte hängt die schon öfter von uns berührte Heimatlosigkeit unseres Bewußtseins in der immanenten Außenwirklichkeit zusammen. Sie tritt zutage, sobald wir nach unserem Orte in dieser fragen. Auf der einen Seite nämlich schreiben wir uns notgedrungen ein Bürgerrecht in ihr zu, da wir offenbar zu der Wirklichkeit gehören und nur die von uns wahrgenommene Wirklichkeit kennen. Auf der anderen Seite aber lehrt uns eine Untersuchung der immanenzontologischen Situationen, daß wir uns selber an keiner Stelle der Wahrnehmungswelt unterbringen können, und daß wir dementsprechend nicht in ihr beheimatet sind. Dabei ist jedoch das, was hier als heimatlos erfunden wird, nicht unsere gesamte Bewußtseinswirklichkeit sondern nur die Gruppe unserer spezifischen Ich-
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bestände. Denn wenn wir nach unserem eigenen Platze in der immanenten Außenwelt suchen, so ist offenbar, daß wir dabei nicht unsere Nichtichbestände, also in diesem Falle unsere deutungserfüllten Wahrnehmungen im Auge haben, die ja in jener Außenwirklichkeit vorhanden sind, die wir aber von uns selber ausschließen, sondern vielmehr unsere Ichbestände, die nach unserer Meinung allein unser Eigensein ausdrücken, und die in jener Wahrnehmungswelt fehlen. Aus unseren Darlegungen wird nunmehr ersichtlich, warum sich das so verhält. Es ist darin begründet, daß unsere Ichbestände in einem anderen gegenstandstheoretischen Felde auftreten als unsere Wahrnehmungswelt und ihr metaphysisch transzendent sind. Wir sind also deshalb in dieser Welt heimatlos, weil wir nicht zu ihr gehören, obwohl sie sich uns als die einzige Wirklichkeit darstellt, und obwohl das, was wir von ihr auffassen, in unserem Bewußtsein scheinbar ebenso anwesend ist wie unser Ich und seine Akte. Warum und mit welchem Rechte wir uns trotzdem dort, wo unser Leib ist, einen ungefähren Ort in unserer Wahrnehmungswelt anzuweisen pflegen, das wird sich aus dem folgenden Kapitel ergeben. Blicken wir auf die bisher behandelten Transzendenzen, die innerhalb der von uns erfaßten Sphäre des Bewußtseins auftreten, zurück, so erkennen wir, daß sie alle auf der gegenstandstheoretischen Verschiedenheit zwischen dem ontologischen Bezirke und dem gnoseologischen Bereiche unseres Bewußtseins beruhen. Zwar treten sich hierbei, wie wir schon eingangs hervorhoben, nicht nur diese beiden Feldgebiete sondern drei verschiedene Parteien gegenüber, nämlich die rein ontologischen Ichbestände, die rein gnoseologischen Bedeutungsgehalte unserer Gedanken an abwesende Bestände und die gemischt ontologisch-gnoseologischen Bestände unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen. Bei diesen letzteren aber wiederholt sich angesichts der in ihnen vollzogenen falschen Identifikation zwischen Empfindung und Deutungserfüllung im Grunde nur noch ein zweites Mal die Transzendenz zwischen den rein ontologischen und den rein gnoseologischen Beständen unseres Bewußtseins. Sie enthalten also nichts grundsätzlich Neues, sondern bilden nur einen Sonderfall der zwischen den beiden anderen Bestandarten waltenden Transzendenz und treten mit diesen letzteren auch ihrerseits wieder in Transzendenzbeziehungen. Ein weiteres Merkmal aller dieser Transzendenzen besteht darin, daß sie sich zwischen den von uns erfaßten Feldgebieten selber abspielen und an und für sich nur die zwischen diesen letzteren waltenden Verhältnisse betreffen. Sie gehören also zu den von uns erfaßten Bestandbezirken als solchen und sind nicht etwa erst durch die Tat-
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sache bedingt, daß wir diese Bezirke erfassen. Es ist im Gegenteile gerade unsere Erfassung, die die zwischen jenen Bezirken bestehenden Transzendenzen überbrückt. Die hier von uns behandelten Feldgebiete transzendieren sich also zwar untereinander; sie transzendieren aber nicht unser Innewerden, von dem sie vielmehr teils ontologisch teils gnoseologisch gemeinsam umspannt werden. Eine Ausnahme hiervon machen unsere deutungslosen Empfindungen, die erstens der von uns erfaßten deutungserfüllten Wahrnehmungswelt als solcher transzendent sind und zweitens außerdem auch noch unsere Erfassung transzendieren, da wir sie uns dank unserer ausschließlich repräsentativen Einstellung praktisch nicht zu vergegenwärtigen vermögen. An diese letztere Tatsache können wir anknüpfen, indem wir nunmehr zu demjenigen Transzendenzverhältnisse übergehen, das zwischen der unserer Erfassung zugänglichen und der ihr nicht mehr zugänglichen Schicht unserer Bewußtseinswirklichkeit waltet. Man hat gegen die Annahme einer unserer Erfassung nicht mehr zugänglichen Schicht des Bewußtseins den naheliegenden Einwurf erhoben, daß eine solche Schicht nicht als Bewußtsein bezeichnet werden dürfe, da ja das, was wir Erfassung oder Innewerden nennen, das eigentliche Charakteristikum des Bewußtseins sei. Daher dürfe man Schichten, die wir nicht mehr innewerden, sie mögen im übrigen noch so eng mit unserem Bewußtsein zusammenhängen, auch nicht mehr mit dem Namen des letzteren bezeichnen. Dieser Einwand leuchtet auf den ersten Blick ein, und man könnte, um ihm gerecht zu werden und einen Streit um Worte zu vermeiden, geneigt sein, für die uns nicht erfaßbaren Schichten des Bewußtseins einen anderen Namen zu wählen. Aber schon unsere immanenzontologische Behandlung der unbemerkten Bewußtseinsbestände hat uns gelehrt, daß dieser Ausweg nicht gangbar ist. Denn wir erkannten dort, daß sich unsere Erfassung über einer Darbietung erhebt, die quantitativ und qualitativ von den durch uns erfaßten Beständen abweicht, unserer Erfassung also insofern transzendent ist und dennoch zu der Wirklichkeit unseres Bewußtseins gehört. Wir werden in dem folgenden Kapitel auf diese Tatsache nochmals zurückkommen. Hier aber stellen wir fest, daß in dieser bewußtseinswirklichen Darbietung auch unsere deutungslosen Empfindungen enthalten sind. Denn sie liegen, wenngleich wir sie als solche nicht bemerken, offen vor uns. Es geht daher nicht an, sie aus unserem Bewußtsein zu verweisen. Sind sie doch individualbegrifflich mit den ohne Zweifel von uns erfaßten deutungserfüllten Wahrnehmungen identisch. Wir haben also in Uebereinstimmung mit unseren früheren Erörterungen zu der Wirk-
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lichkeit unseres Bewußtseins nicht nur das zu rechnen, was wir von ihm erfassen, sondern auch den gesamten von unserer Erfassung abweichenden und dieser insofern transzendenten Bereich unserer Bewußtseinsdarbietung, der die deutungslosen Empfindungen enthält. Der Gang unserer Untersuchungen führt uns aber noch einen Schritt weiter. Er zeigt uns nämlich, daß auch jenseits jener Darbietung noch allerlei Gebilde vorliegen, die wir zu der Wirklichkeit unseres Bewußtseins rechnen müssen, da sie nicht nur die unentbehrliche Grundlage der von uns erfaßten Bestände bilden sondern zum Teile auch ontologisch mit diesen identisch sind. Das letztere wird namentlich an dem abstrakten Wesen unserer Ichgebilde deutlich. Mit dem Ichbegriffe bezeichnen wir den substantiellen Träger unseres Bewußtseins und verstehen darunter einen ontologisch vollwertigen und in sich selbständigen Bestand. Was wir von diesem Bestände innewerden, aber sind nur einige seiner Bestimmtheiten, nämlich die Tatsache seines Vorhandenseins und die Verschiedenheit seiner Akte. Im Uebrigen bleibt uns seine inhaltliche Beschaffenheit verborgen. Sie ist auch nicht in unserer bewußtseinswirklichen Darbietung auffindbar. Hätteu wir daher den Begriff des Bewußtseins auf die uns dargebotenen oder von uns erfaßten Gebilde zu beschränken, so müßten wir zu ihm zwar das Vorhandensein und die Akte seines substantiellen Trägers rechnen, nicht dagegen das übrige uns verborgene Wesen dieses letzteren. Es ist jedoch offenbar, daß sich das eine von dem anderen ontologisch nicht trennen läßt, und daß in diesem Falle das, was wir innewerden, und das, was wir nicht innewerden, zusammen einen und denselben Wirklichkeitsbestand bilden. Angesichtsdessen ist die Forderung, man solle nur das durch uns Erfaßte oder uns Dargebotene als Bewußtsein betrachten, alles andere aber aus diesem verweisen, nicht durchführbar. Denn diese Forderung beruht auf der stillschweigenden Voraussetzung, daß die von uns erfaßten oder uns dargebotenen Gebilde ontologisch selbstständig und von den uns transzendenten Beständen des Bewußtseins individualbegrifflich verschieden seien, sodaß sie sich in einer ähnlichen Weise von diesen trennen ließen, wie sich etwa zwei Körper voneinander trennen lassen. Demgegenüber lehrt uns der abstrakte Charakter nicht nur unserer Ichgebilde sondern, wie schon einmal angedeutet wurde, aller in dem ontologischen Bezirke unseres Bewußtseins auftretenden Gebilde überhaupt, daß jene Voraussetzung irrig ist, und daß sich alle diese Gebilde zu der uns transzendent bleibenden Schicht unseres Bewußtseins vielmehr so verhalten wie
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die nicht durch ontologische Trennung sondern nur durch Abstraktion isolierbaren Bestimmtheiten eines Bestandes zu ihrem Träger. In dieselbe Richtung führt uns die Tatsache des rein gnoseologischen Charakters unserer Gedanken an abwesende Bestände. Denn diese Gedanken bedürfen, wie wir gesehen haben, einer ontologischen Grundlage, kraft deren sie unbeschadet der Abwesenheit der von uns gemeinten Bedeutungsgehalte in der Wirklichkeit unseres Bewußtseins anwesend sind. Daß eine solche Anwesenheit stattfindet, werden wir in der von uns geschilderten unbestimmten Weise bewußtheitlich inne. Aber es ist offenbar, daß die so von uns erfaßten Grundlagen unserer Gedanken nach ihrem ontologischen Eigensein nicht in einer unbestimmten Bewußtheit bestehen sondern in jedem Einzelfalle einen bestimmten Charakter tragen. Die Bestimmtheit dieses Charakters bleibt uns unbekannt. Und doch ist jenes Unbestimmte und dieses Bestimmte, also auch hier wieder das, was wir innewerden, und das, was wir nicht innewerden, ein und dasselbe wirkliche Gebilde. Eine ontologische Trennung zwischen der von uns erfaßten oder uns dargebotenen und der uns transzendenten Schicht des Bewußtseins ist daher auch in diesem Falle nicht durchführbar. Die Undurchführbarkeit einer solchen Trennung ließe sich noch auf anderen Gebieten erweisen. So könnte man zB. auch auf die gnoseologischen Verdrängungen von dem Typus der Lokalzeichen sowie auf die Automatisierung häufig geübter Bewußtseinshandlungen oder auf die Tatsache hinweisen, daß der Uebergang von dem durch uns Erfaßten zu dem nicht mehr durch uns Erfaßten und von dem uns Dargebotenen zu dem uns nicht mehr Dargebotenen ein fließender ist. Usw. Doch führen die Erwägungen dieser letzteren Art schon über den Rahmen unserer gegenwärtigen Untersuchung hinaus. Wichtig für diese aber ist die durch alle solche Erwägungen ins Licht gesetzte Tatsache, daß sich die Wirklichkeit des Bewußtseins weder in der Sphäre unsererErfassung noch auch in der unserer Darbietung erschöpft sondern in Tiefen hinabragt, die diesen beiden Sphären transzendent sind. Zu untersuchen, was es mit diesen unserer Erfassung und Darbietung transzendenten Tiefen des Bewußtseins auf sich hat, wird eine Aufgabe des folgenden Kapitels bilden. Ihm gegenüber hatte das vorliegende Kapitel nur diejenigen Transzendenzen aufzuklären, die in der Sphäre unserer Erfassung selber spielen. Schon hierbei aber traten zwei Eigentümlichkeiten jener anderen in die Tiefen des Bewußtseins führenden und erst in dem folgenden Kapitel näher zu behandelnden Transzendenz zutage, durch die sie sich von den innerhalb unseres Erfassungsbereiches spielenden Transzendenzen unterscheidet.
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Die eine dieser beiden Eigentümlichkeiten ist durch das abstrakte Wesen unserer ontologischen Bewußtseinsgebilde bedingt. Denn infolge ihrer Abstraktheit werden die von uns erfaßten oder uns dargebotenen Gebilde durch die Gesamtwirklichkeit unseres Bewußtseins so überragt, wie jede Auswahl von Bestimmtheiten durch den Gesamtbestand überragt wird, zu dem sie gehören. Es ist uns also alles dasjenige an unserer Bewußtseinswirklichkeit transzendent, was dieser außer ihren von uns erfaßten oder uns dargebotenen Bestimmtheiten zukommt. Dabei liegt die von uns bereits hervorgehobene Eigentümlichkeit dieses Transzendenzverhältnisses darin, daß ontologisch die hier einander transzendenten Faktoren untrennbar sind. Es sind also nicht wie bei den in der Sphäre unserer Erfassung oder Darbietung auftretenden Transzendenzen zwei verschiedene Feldgebiete, ja es sind nicht einmal zwei verschiedene Bestände, die sich in diesem Falle transzendieren, sondern das uns Immanente und das uns Transzendente gehört hier zu demselben ontologischen Felde. Es bildet einen und denselben Wirklichkeitsbestand. Die zweite Eigentümlichkeit dieses Transzendenzverhältnisses besteht darin, daß es nur die Funktionen unserer Erfassung bzw. Darbietung betrifft, nicht dagegen die von den letzteren affizierten und nicht affizierten Bestandkomplexe als solche. Jene Funktionen aber sind nicht an die von ihnen jeweils betroffenen Bestände unseres Bewußtseins gebunden. Sie können vielmehr bald das ihnen Transzendente in ihre Immanenz hineinziehen, bald das ihnen Immanente an die Transzendenz verlieren. Das dabei waltende Transzendenzverhältnis ist demnach insoweit kein grundsätzliches sondern nur ein tatsächliches. Beispiele hierfür lernten wir in der gnoseologischen Verdrängung der Lokalzeichen kennen, die uns transzendent sind, von denen einige uns aber zuweilen auch immanent werden und aus dieser Immanenz wieder in ihre Transzendenz zurücktreten können. Welche weitere Bedeutung dieser Möglichkeit eines Wechsels zwischen den unserer Erfassung und Darbietung immanenten und den ihnen transzendenten Beständen zukommt, kann hier noch nicht dargelegt werden. Es wird aus den Untersuchungen des folgenden Kapitels hervorgehen.
DAS PSYCHOPHYSISCHE PROBLEM IN DER TRANSZENDENZONTOLOGIE Die psychophysische Problemstellung, dh. die Frage nach den Realbeziehungen zwischen unserem Bewußtsein und den ihm zugrunde liegenden Gehirnvorgängen wurde, wie wir seinerzeit erkannten, für die Immanenzontologie verhängnisvoll. Unser Bewußtsein hatte für die letztere seinen beiden Systemcharakteren entsprechend zwei verschiedene Beziehungen zu der Außenwirklichkeit. Kraft seiner inneren Systematik stand es zu ihr in dem Bezugsverhältnisse der Ueberschneidung und kraft seiner äußeren Systematik in dem der psychophysischen Relation. Diese Duplizität der Beziehungen aber barg einen Widerspruch. Denn in der immanenzontologischen Ueberschneidungslehre galten die von uns wahrgenommenen Bestände als mit der Außenwirklichkeit identisch. In der psychophysischenRelation dagegen bildeten sie die Endglieder oder Parallelerscheinungen zu den Endgliedern einer nicht in sich zurücklaufenden mehrgliederigen Kausalkette, deren Anfangsglieder durch die von uns gemeinten Außenwirklichkeitsbestände gebildet wurden. Dieser Widerspruch zeigte, daß, wenn nicht alle beide Beziehungen zu unrecht bestanden, dann nur die eine von ihnen zu recht bestehen konnte. Die Immanenzontologie aber vermochte keine von beiden preiszugeben. Denn die Ueberschneidungslehre war das Fundament, auf dem sie sich aufbaute. Und die psychophysische Relation war eine auch für sie unleugbare Tatsache. Sie mußte daher mit jener Zweiheit der Beziehungen auch den zwischen diesen waltenden Widerspruch in Kauf nehmen. Die Transzendenzontologie ist in einer günstigeren Lage. Denn für sie gibt es nur eine einzige Realbeziehung zwischen dem Bewußtsein und der Außen Wirklichkeit, nämlich die psychophysische Relation. Die Ueberschneidungsstruktur dagegen ist nach ihrer Auffassung keine solche Beziehung sondern dient einer bloßen Repräsentation der Außenwirklichkeit innerhalb des Bewußtseins. Von den beiden immanenzontologischen Beziehungen dieses letzteren zu der Außenwirklichkeit bleibt hier also nur die psychophysische Relation übrig. Daher kommt
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jener für die Immanenzontologie verhängnisvolle Widerspruch in der Transzendenzontologie nicht auf. Die psychophysische Relation aber kann in demselben Sinne als ein Fundament der Transzendenzontologie angesehen werden, wie die Ueberschneidungslehre ein Fundament der Immanenzontologie ist.
Dabei ist zu beachten, daß sich diese Relation in der Transzendenzontologie nicht, wie es die Immanenzontologie voraussetzte, auf das Verhältnis unseres Bewußtseins zu der immanenten Außenwirklichkeit bezieht, die wir wahrnehmen, sondern auf sein Verhältnis zu der transzendenten Außenwirklichkeit, die wir nicht wahrnehmen. Denn in diese letztere und nur in sie ist nach transzendenzontologischer Auffassung unsere Bewußtseinswirklichkeit mitsamt ihren von uns für außenwirklich gehaltenen Wahrnehmungen eingebettet. Es tritt hier also dem Bewußtsein ein anderes Bezugsglied gegenüber, als es nach der immanenzontologischen Fassung des psychophysischen Problems der Fall zu sein schien. Nicht in dem Gehirne, das wir mit den Augen zu sehen glauben, spielen sich die Vorgänge ab, die unserem Bewußtsein zugrundeliegen, sondern in einem durch dieses sichtbare Gehirn nur repräsentierten und tatsächlich außerhalb unserer Wahrnehmungswelt liegenden transzendenten Gehirne. Nur nach den Beziehungen unseres Bewußtseins zu den Vorgängen in diesem letzteren Gehirne fragt also die transzendenzontologische Fassung des psychophysischen Problems. Bei dem Versuche, diese Frage zu beantworten, werden wir von der philosophischen Tradition zunächst vor die beiden einander entgegengesetzten Theorien gestellt, die wir schon in der immanenzontologischen Behandlung des psychophysischen Problems als Ansätze zu seiner Lösung kennen gelernt haben. Auf der einen Seite stand hier der Ansatz der psychophysischen Wechselwirkungslehre, auf der anderen Seite der eines unkausalen psychophysischen Paralleiismus. Und beide Ansätze waren durch die philosophische Tradition in verschiedener Weise ausgestaltet worden. Die Transzendenzontologie entscheidet sich zwar, wie wir erkennen werden, für keine dieser Ausgestaltungen. In ihrer Grundanlage aber steht sie der Lehre von der psychophysischen Wechselwirkung nahe. Dagegen ist das ontologische Weltbild, zu dem jener unkausale psychophysische Parallelismus führen würde, für die Transzendenzontologie nicht verwendbar. Wir können diese parallelistische Theorie daher von vornherein ausschalten und, um unsere spätere Untersuchung zu entlasten, auf einige der ontologischen Bedenken, die ihr im Wege stehen, schon hier eingehen.
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Zunächst gibt es gewisse auch von der Transzendenzontologie anzuerkennende Tatsachen, die zugunsten einer parallelistischen Theorie sprechen. Denn, wenn diese Theorie behauptet, daß sich unsere Bewußtseinsbestände und die ihnen zugrundeliegenden Gehirnvorgänge in dem früher von uns dargelegten begrifflichen Sinne der Abbildung zugeordnet seien, so dürfte diese Behauptung wenigstens für einzelne Bewußtseinsbestände zutreffen. Für unsere Wahrnehmungen zB. haben wir einen ähnlichen Parallelismus in dem Kapitel über die transzendente Außenwirklichkeit nachzuweisen versucht. Annähernd dieselben Verhältnisse walten wahrscheinlich bei unseren Vorstellungen, Träumen, Halluzinationen usw. ob. Und auch bei anderen Bewußtseinsbeständen können wir wenigstens mit der Möglichkeit entsprechender Beziehungen rechnen. Gegen die Annahme eines Parallelismus zwischen unserem Bewußtsein und den ihm zugrundeliegenden Gehirnvorgängen soll also an und für sich kein Einwand erhoben werden. Allein die Frage ist, wie dieser Parallelismus zustandekommt. Und hier trennen sich die Wege. Lautet die Antwort: auf dieselbe naturgesetzlich kausale Weise, auf die solche parallelistischen Zuordnungen auch sonst in der Wirklichkeit Zustandekommen, dann besteht zwischen der einen und der anderen Theorie kein grundsätzlicher Unterschied. Denn die Parallelschaltung zwischen Bewußtsein und Gehirn wäre dann als besonderer Fall des naturgesetzlichen Geschehens nur eine Form der Wechselwirkung. Sie würde die Aufnahme unseres Bewußtseins in die Systematik der Außenwirklichkeit nicht ausschließen sondern im Gegenteile einschließen. Lautet dagegen die Antwort dahin, daß jene Parallelschaltung nicht kausal bedingt sei, dann könnte von einer Wechselwirkung zwischen Bewußtsein und Gehirn nicht mehr die Rede sein, und die Aufnahme des ersteren in die Naturgesetzlichkeit der Außenwelt wäre unmöglich. Das Weltbild, zu dem man dann gelangt, krankt an inneren Gebrechen und ist für die Transzendenzontologie nicht verwendbar. Denn da sich die Wirklichkeit der Bewußtseinssysteme nicht leugnen läßt und ihre Aufnahme in die Außenwirklichkeit durch das Prinzip einer unkausalen Zuordnung verhindert wird, so hätten wir nunmehr anzunehmen, daß jene Systeme in der Unermeßlichkeit des Weltalles gerade auf der Erde und dort nur nach Maßgabe ihrer Dauer und ihrer jeweiligen Zahl neben unsere Gesamtwirklichkeit träten und dieser, da sie nicht zu ihr gehören können, Konkurrenz machten. Dabei bliebe es ein Rätsel, woher solche Bewußtseinssysteme kommen, warum sie bestimmten Gehirnvorgängen parallel sind, und wohin sie ihrem vorübergehenden und diskontinuierlichen Charakter entsprechend
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wieder verschwinden. Man könnte den Verlegenheiten, die eine Beantwortung dieser Fragen bereiten würde, allenfalls durch die Erfindung eines sich über das ganze Weltall erstreckenden unkausalen psychophysischen Parallelismus begegnen und dann behaupten, daß unsere einzelnen Bewußtseinssysteme nur Bestandstücke eines sie alle umfassenden Geisterreiches oder eines Weltgeistes seien. Allein erstens würde ein solcher psychophysischer Parallelismus des Weltalles wieder neue Rätsel mit sich bringen, und zweitens hat uns schon unsere immanenzontologische Untersuchung des Bewußtseins gezeigt, daß alle Phantasien dieser Art, ganz abgesehen von den Mängeln ihrer Begründung, ontologisch nicht haltbar sind. Unter diesen Umständen wird man sich zu der Annahme eines unkausalen psychophysischen Parallelismus nur dann entschließen, wenn sich die natürlichere und stillschweigend von der Praxis des Alltages wie aller Einzelwissenschaften vorausgesetzte Annahme einer psychophysischen Wechselwirkung zwischen unserem Bewußtsein und dem Gehirne und dementsprechend einer Einbettung des ersteren in die naturgesetzliche Systematik der Außenwirklichkeit, wie sie die Transzendenzontologie erfordert, als undurchführbar erweisen sollte. Die Voraussetzung, daß dies der Fall sei, bildet eines der Hauptmotive, um derenwillen die Theorie des unkausalen psychophysischen Parallelismus erdacht worden ist. Sie wird nämlich von dem Grundgedanken getragen, daß die Artverschiedenheit unseres Bewußtseins von allen Außenwirklichkeitsbeständen zu groß sei, um einen kausalen Verkehr mit diesen zuzulassen. Aus verwandten Erwägungen heraus vermeiden es manche Ausgestaltungen auch der psychophysischen Wechselwirkungslehre, unser Bewußtsein ebenso restlos in die Außenwirklichkeit einzugliedern wie die physischen Bestände. Man denkt sich den Wechselverkehr zwischen dem Bewußtsein und dem Gehirne dann so, daß beide grundsätzlich verschiedenen Wirklichkeitssphären angehören, und daß jedes von ihnen aus seiner eigenen Sphäre in die des anderen hinüberwirke. Bei der einen wie bei der anderen Auffassung des Sachverhaltes erscheint demnach die Artverschiedenheit zwischen Bewußtsein und Außenwelt als die Hauptschwierigkeit des psychophysischen Problems. Diese Verschiedenheit wird auch von der Transzendenzontologie anerkannt. Dennoch erfordert die letztere eine restlose Einbettung des Bewußtseins in die Außenwirklichkeit. Dh. sie behauptet, daß das Bewußtsein und die Außenwirklichkeit ontologisch zu einer und derselben Sphäre gehören. Und sie nimmt dementsprechend an, daß gewisse Außenwirklichkeitsbestände trotz ihrer Außenwirklichkeit in eine
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Bewußtseinssystematik, sowie daß die Bewußtseinssysteme trotz ihrer Bewußtseinswirklichkeit in die außenwirkliche Systematik übergehen können. Sie setzt mit anderen Worten voraus, daß unser Bewußtsein in einem ähnlichen Sinne wie die physischen Faktoren einen integrierenden Bestandteil der Außenwirklichkeit bildet. Unter diesen Umständen haben wir zunächst zu fragen, ob die Artverschiedenheit zwischen dem Bewußtsein und der Außenwelt eine solche restlose Einbettung des ersteren in die letztere grundsätzlich zuläßt. Wäre die Außenwirklichkeit, in die unser Bewußtsein einzubetten ist, die immanente Wahrnehmungswelt, dann hätten wir diese Frage zu verneinen. Denn die Ueberschneidungsstruktur, auf die sich die Immanenzontologie gründet, schließt sowohl die inneren Systemcharaktere als auch einen Teil der Bestände unseres Bewußtseins von der wahrnehmbaren Außenwelt grundsätzlich aus. Erstens gehören zu dieser Außenwelt nämlich zwar die innerhalb unserer Ueberschneidung stehenden Bestände selbst, nicht aber deren erlebniseinheitliche und psychisch kausale Systematik. Und zweitens können unsere Bewußtseinsbestände diesseits der Ueberschneidung niemals in die Wahrnehmungswelt eintreten. Eine restlose Einbettung des Bewußtseins in die immanente Außenwelt ist daher nicht möglich. Das macht sich nicht nur in der erst kürzlich berührten Heimatlosigkeit unseres eigenen Bewußtseins innerhalb seiner Wahrnehmungswelt sondern auch in der grundsätzlichen Unmöglichkeit geltend, auf dem Wege der Wahrnehmung in die erlebniseinheitliche und psychisch kausale Systematik sowie in die diesseits der Ueberschneidung gelegenen Bestandkomplexe eines Fremdbewußtseins einzudringen. Die Bedenken des psychophysischen Parallelismus und der genannten Ausgestaltungen der psychophysischen Wechselwirkungslehre gegen eine restlose Einbettung unseres Bewußtseins in die Außenwirklichkeit sind also im Hinblicke auf die immanente Wahrnehmungswelt gerechtfertigt. Anders steht es mit dieser Einbettung im Hinblicke auf die transzendente Außenwirklichkeit. Zwar scheinen ihr auch hier, wie der Verlauf dieses Kapitels zeigen wird, gewisse Schwierigkeiten im Wege zu stehen. Aber die soeben genannten Maßgaben der immanenzontologischen Ueberschneidungsstruktur gelten für die Transzendenzontologie nicht. Und sieht man von diesen Maßgaben ab, so widerspricht es grundsätzlich weder der Naturgesetzlichkeit der außenwirklichen Bestände, daß sie in Bewußtseinszusammenhänge übergehen, noch der erlebniseinheitlichen und psychisch kausalen Systematik der Bewußtseinsbestände, daß sie in den naturgesetzlichen Zusammenhang der Außenwirklichkeit eintreten. Gegen eine Einbettung unseres Be-
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wußtseins in die transzendente Außenwirklichkeit liegen insoweit also keine grundsätzlichen Bedenken vor. Unter diesen Umständen stehen wir nunmehr vor den weiteren Fragen, ob eine solche Einbettung auch tatsächlich stattfindet, und wie es sich im einzelnen mit ihr verhält. Die Antwort hierauf haben die nachfolgenden Erörterungen zu erteilen. Diese Erörterungen aber sind durch die Ergebnisse der beiden vorangehenden Kapitel nach mancher Hinsicht vorbereitet. Denn unsere transzendenzontologische Behandlung der Außenwirklichkeit hatte uns gezeigt, welche Beziehungen innerhalb dieser letzteren zwischen den unserem Bewußtsein unmittelbar zugrundeliegenden Gehirnvorgängen als zentralen Beständen und den in unserer Wahrnehmungsrepräsentation gemeinten, uns aber transzendenten Gebilden als peripheren und ultraperipheren Beständen walten. Wir erkannten dort, daß diese Beziehungen den Charakter einer kausal vermittelten Abbildung in dem damals dargelegten Sinne dieses Wortes tragen, sowie daß ein ähnliches AbbildungsVerhältnis in dem von uns schon berührten Parallelismus zwischen jenen Gehirnvorgängen und unseren Wahrnehmungen herrscht. Ob auch die letztere Abbildung kausal vermittelt ist, oder wie es sich sonst mit ihr verhält, blieb damals eine offene Frage. Diese nunmehr in dem Zusammenhange der psychophysischen Problemstellung zu beantworten, gehört zu den Aufgaben des vorliegenden Kapitels. Ein zweites Ergebnis unserer damaligen Erörterungen bestand in der Erkenntnis, daß aufgrund der soeben geschilderten Verhältnisse die unserem Bewußtsein zugrundeliegenden Gehirnvorgänge das einzige uns unmittelbar transzendente Ding an sich sind, und daß uns erst durch diese Gehirnvorgänge die anderen uns transzendenten, also die peripheren und ultraperipheren Bestände der Außenwirklichkeit zugänglich werden. Verbinden wir dieses Ergebnis mit der in diesem Kapitel zu erteilenden Antwort auf die psychophysische Problemstellung, so erhalten wir damit zugleich eine Antwort auf die Frage nach den Beziehungen zwischen den peripheren und ultraperipheren Deutungen unserer immanenten Wahrnehmungswelt und den ihnen entsprechenden Sachverhalten in der transzendenten Außenwirklichkeit. Nach einer anderen Richtung ist die Aufgabe dieses Kapitels durch unsere Erörterungen über die Transzendenzontologie des Bewußtseins vorbereitet. Hier erkannten wir zunächst, daß die Gesamtheit unserer Inhalte und Gegenstände so, wie wir diese erfassen, keinen ontologischen sondern einen gnoseologischen Charakter trägt. Und wir sahen, daß die ontologischen Grundlagen dieser gnoseologischen
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Gebilde unserer bewußten Erfassung transzendent bleiben. Das ist für die psychophysische Problemstellung wesentlich. Denn die in dieser behandelten unmittelbaren Beziehungen zwischen unserem Bewußtsein und dem Gehirne betreffen nur die Eigenwirklichkeit des ersteren, also nur den zu ihm selbst gehörenden ontologischen Bestand, nicht dagegen die nicht mehr zu ihm selbst gehörenden gnoseologischen Bedeutungsgehalte seiner Meinungen. Oder anders ausgedrückt: sie betreffen nicht unsere Inhalte und Gegenstände als solche sondern nur deren ontologische Bewußtseinsgrundlagen; mithin nicht das, was wir von jenen erfassen, sondern das, was wir von ihnen nicht erfassen. Durch diese Interpretation des Sachverhaltes wird die übliche Auffassung des psychophysischen Problems grundsätzlich verschoben. Was aber die in dieser üblichen Auffassung meist allein berücksichtigte Beziehung zwischen den gnoseologischen Bedeutungsgehalten unserer Meinungen und dem Gehirne betrifft, so erweist sie sich als mittelbar. Denn jene Bedeutungsgehalte hängen unmittelbar nur mit ihren ontologischen Grundlagen zusammen und stehen lediglich durch deren Vermittlung mit den unserer Bewußtseinswirklichkeit zugrundeliegenden Gehirnvorgängen in Verbindung. Unter diesen Umständen ergibt sich das Wesen jener mittelbaren Beziehung aus einer einfachen Verknüpfung der Ergebnisse des vorliegenden mit denen des vorangegangenen Kapitels. Nicht minder wichtig für die-psychophysische Problemstellung ist ein zweites Ergebnis des vorangehenden Kapitels, nämlich dies, daß alle rein ontologischen Faktoren unseres Bewußtseins einen abstrakten Charakter tragen und keine ontologisch selbständigen Gebilde sind sondern Beschaffenheiten, Vorgänge oder Zustände von anderen Beständen. Aus dieser Feststellung geht hervor, daß es offenbar die letzteren ontologisch selbständigen Bestände sind, die in einen psychophysischen Wechselverkehr mit unserem Gehirne eintreten, nicht dagegen jene ontologisch unselbständigen Faktoren, die wir innewerden. Unseren Gehirnvorgängen steht also wirkend und leidend nicht eigentlich das gegenüber, was uns von unserem ontologischen Eigenbestande auf irgendeine Weise zu Bewußtsein kommt, sondern der ganze ontologisch selbständige Bestandkomplex, zu dem jene uns zu Bewußtsein kommenden Faktoren als Beschaffenheiten, Vorgänge oderZustände nur gehören. Oder anders ausgedrückt: die miteinander zu konfrontierenden oder vielmehr, wie wir später erkennen werden, nur scheinbar miteinander zu konfrontierenden Bezugsglieder in der psychophysischen Relation sind nicht die uns zu Bewußtsein kommenden Faktoren als solche sondern die in diesen Faktoren nur partiell erfaßten, nach ihrer Ge28
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Samtwirklichkeit uns aber unbekannt bleibenden Bestände in den Tiefenschichten unseres Bewußtseins einerseits und unser Gehirn anderseits. Mitalledem kennzeichnet die transzendenzontologische Formulierung des psychophysischen Problems einen Sachverhalt, der in der philosophischen Tradition vernachlässigt worden ist. In dieser wird nämlich nach dem ontologischen Wesen der psychophysischen Bezugsglieder nicht gefragt; sondern der uns gewohnten immanenzontologischen Wirklichkeitsauffassung entsprechend betrachtet man als das eine der beiden Bezu¿sglieder unser Sichtbild der Großhirnrinde und als das andere unser Be wußtsein, so wie wir es aus der Erfahrung kennen. Demgegenüber stellt die Transzendenzontologie erstens im allgemeinen fest, daß die uns gewohnte Wirklichkeitsauffassung für die psychophysische Relation auszuschalten ist. Und sie zeigt zweitens imbesonderen, daß es bei dieser Relation nicht auf das Sichtbild des Gehirns sondern auf dessen transzendente Wirklichkeit sowie nicht auf die uns erfahrbare gnoseologische sondern auf die uns nicht erfahrbare ontologische Struktur unseres Bewußtseins ankommt. Wird die psychophysische Relation in diesem Sinne verstanden, so bildet sie die letzte noch von uns aufzuklärende Transzendenz innerhalb jenes in sich zurücklaufenden Ringes von Transzendenzen, der die ontologische Situation, in der wir uns befinden, beherrscht. Denn die psychophysische Relation verkettet die Gehirnvorgänge, deren Transzendenzbeziehungen zu den peripheren und ultraperipheren Beständen in der Außenwelt wir aufgeklärt haben, mit dem ontologischen Grundbestande - unseres Bewußtseins, dessen Transzendenzbeziehungen zu dem uns aus der Erfahrung bekannten Bewußtsein wir ebenfalls aufgeklärt haben. Sie schließt also die letzte Lücke in jener Kette der Transzendenzen, die von den peripheren und ultraperipheren Beständen in der transzendenten Außenwirklichkeit als dem ersten Ausgangspunkte bis zu ihrer repräsentativen Darstellung in der immanenten Wahrnehmungswelt als dem ersten Endpunkte und von diesem wieder zu jenem uns transzendenten Ausgangspunkte zurückführen. Zu der naturgesetzlichen Systematik der transzendenten Außen-: Wirklichkeit gehört ihre räumliche Ausdehnung. An dieser räumlichen Ausdehnung müßte daher unser Bewußtsein teilhaben, wenn es in dem von uns bezeichneten Sinne in die transzendente Außenwelt eingebettet werden soll. Es müßte also erstens selber räumlich sein und zweitens mit dieser seiner Räumlichkeit einen Ort in dem Räume der uns transzendenten Außenwirklichkeit haben.
Die Argumente für die Unräomlichkeit des Bewußtseins
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Wir beschränken uns zunächst auf die erste dieser beiden Forderungen und fragen, ob unser Bewußtsein räumlich ist. In vergangenen Jahrhunderten ist das fast stets bestritten worden. Und auch heute sind viele Forscher von der Unräumlichkeit unseres Bewußtseins überzeugt. Dabei pflegt man sich auf drei Argumente zu stützen, die im folgenden geprüft werden sollen. Das erste dieser Argumente betrifft unsere von uns nur gedachten und daher rein gnoseologischen Gegenstände. Wie wir wissen, gehört es zu dem Wesen der Gnoseologie, daß sie alle räumlichen Schranken überwindet. Daher können wir mit ihrer Hilfe sowohl räumlich von uns abwesende als auch solche Bestände meinen, die wie die Bedeutungsgehalte der Allgemeinbegriffe überhaupt nicht räumlich sind. Ginge unser Bewußtsein in seiner Gnoseologie auf, so wäre man demnach berechtigt, ihm zwar kein unräumliches aber doch ein raumüberlegenes Wesen zuzuschreiben. Allein unser Bewußtsein geht in seiner Gnoseologie nicht auf. Und wenn man von seiner Unräumlichkeit redet, dann meint man nicht sowohl das Feld der von ihm nur gedachten Bestände sondern vielmehr das Feld seiner eigenen Wirklichkeit. Das allein entspricht auch der transzendenzontologischen Auffassung des psychophysischen Problems, nach der, wie soeben schon hervorgehoben wurde, nicht der gnoseologische Bereich sondern der ontologische Bezirk unseres Bewußtseins in die transzendente Außenwirklichkeit einzubetten ist. Durch die Raumüberlegenheit jenes Bereiches wird aber nichts für die Unräumlichkeit dieses Bezirkes bewiesen. Verhielte es sich anders, dann könnte man mit demselben Rechte auch die Zeitlosigkeit des Bewußtseins beweisen. Denn was für die Raumüberlegenheit unserer Gnoseologie gilt, gilt entsprechend auch für ihre Zeitüberlegenheit. Und doch wird niemand unser Bewußtsein angesichts seines zeitlichen Entstehens, Werdens und Vergehens in demselben Sinne für zeitlos erklären wollen, wie man es für raumlos erklärt. Das zweite Argument betrifft die als anwesend von uns erfaßten Inhalte. Auch im Hinblicke auf sie wird unser Bewußtsein wenigstens teilweise für unräumlich erklärt. Das gilt zunächst für die Bestände innerhalb der Ueberschneidung, also für unsere Wahrnehmungen. Denn in ihrer Deutungserfüllung gehören zwar diese selber zu dem Räume der immanenten Außenwelt. Nicht aber gehört zu ihm, wie schon betont worden ist, als spezifisch bewußtseinswirkliche Eigentümlichkeit die erlebniseinheitliche and psychisch kausale Verbindung solcher Wahrnehmungen. Und die ontologischen Grundlagen der letzteren, unsere deutangslosen Empfindungen liegen ebenfalls nicht 28*
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mehr in jenem Räume sondern sind diesem metaphysisch transzendent. Was aber unsere Bewußtseinsinhalte diesseits der Ueberschneidung, die Vorstellungen, Träume, Halluzinationen usw. betrifft, so stehen sie weder nach ihrer erlebniseinheitlichen UDd psychisch kausalen Systematik noch nach ihrem deutungserfüllten, geschweige denn nach ihrem deutungslosen Zustande innerhalb des Immanenzraumes. An diesem letzteren hat unser inhaltliches Bewußtsein also nur im Hinblicke auf seine deutungserfüllten Wahrnehmungen selbst und sonst nicht teil. Insoweit besteht das Argument von der Unräumlichkeit unseres inhaltlichen Bewußtseins zu recht. Aber es beweist nicht, was es beweisen will. Denn es zeigt nur, daß die genannten Gebilde keinen Anteil an dem Räume der immanenten Außenwirklichkeit haben. Dagegen zeigt es nicht, daß sie überhaupt unräumlich seien. Es geht von der für die Lehre von der Unräumlichkeit unseres Bewußtseins typischen immanenzontologischen Voraussetzung aus, daß es in der Wirklichkeit nur einen Raum, nämlich den unserer Wahrnehmungswelt gäbe, und daß daher alles, was nicht zu diesem Räume gehört, unräumlich sei. Es übersieht hierbei die Möglichkeit, daß die Außenwelt noch einen anderen Raum haben, und daß der ontologische Bestand aller unserer Inhalte in diesem letzteren Räume gelegen sein könnte. Für die Transzendenzontologie aber kommt diese Möglichkeit allein inbetracht. Denn die Wirklichkeit unseres Bewußtseins gehört nach ihrer Auffassung nur zu dem ontologisch wirklichen Räume der transzendenten Außenwirklichkeit und nicht zu dem gnoseologisch wirklichen Räume unserer Wahrnehmungswelt, von dem sie vielmehr ausgeschlossen bleibt. Das dritte Argument betrifft die Ichgebilde unseres Bewußtseins. Unser Ich und seine Akte werden, wie wir ausführlich dargetan haben, auch abgesehen davon, daß sie nicht zu dem Räume der immanenten Außenwelt gehören, dimensionslos von uns erlebt. Müßten wir annehmen, daß sie so, wie wir sie erleben, ontologisch selbständig seien, dann hätten wir in ihnen demgemäß gleichsam unräumliche Bewußtseinsfaktoren vor uns. Daß eine solche Annahme nötig sei, gehört zu den Voraussetzungen unseres Argumentes. Aber wir haben bereits erkannt, daß sie nicht nur unnötig sondern auch falsch ist. Denn wir sahen, daß unser Ich und seine Akte wie alle reinen Wirklichkeitsbestände unseres Bewußtseins in der Form, in der wir sie erfassen, ontologisch unselbständige Abstraktionen sind. Als selbständig aber erwiesen sich nur die in den Tiefenschichten unseres Bewußtseins liegenden und uns verborgenen Wirklichkeitskomplexe, zu denen diese Abstraktionen gehören. Und von den
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letzteren Komplexen kann, wie ebenfalls schon angedeutet wurde, die Möglichkeit, daß sie räumlich sind, nicht ausgeschlossen werden. Angesichts der ontologischen Unvollständigkeit unserer Icherlebnisse ist also auch durch dieses Argument eine Unräumlichkeit unseres Bewußtseins nicht erwiesen. Vielmehr bleibt die Frage nach der Räumlichkeit oder Unräumlichkeit der an unseren Ich- und Akterlebnissen beteiligten Bewußtseinskomplexe zunächst noch offen. Zu diesen Fehlschlägen der Argumente für eine Unräumlichkeit unseres Bewußtseins tritt die Beweiskraft anderer Argumente gegen eine solche Unräumlichkeit. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß der Begriff der Unräumlichkeit keine positive Bestimmung enthält. Er sagt nur, was unser Bewußtsein nicht ist. Aber er sagt nicht, was es ist. Und doch liegt, wie wir früher gezeigt haben, unserer erlebniseinheitlichen Erfassung eine ihr dargebotene positive Simultankontiguität zugrunde, die das bewußtseinswirkliche Gegenstück zu der räumlichen Simultankontiguität der Außenwirklichkeitsbestände bildet. Wenn also diese Bewußtseinskontiguität für unräumlich erklärt wird, so könnte füglich eine Angabe darüber erwartet werden, von welcher positiven Beschaffenheit sie sei. Eine solche Angabe fehlt in der Lehre von der Unräumlichkeit unseres Bewußtseins. Man hat sich also diese Frage entweder nicht vorgelegt, oder man vermag sie nicht zu beantworten. Ist das aber der Fall, woher weiß man dann, daß die Simultankontiguität unseres Bewußtseins nicht nur nicht an dem Räume der immanenten Wahrnehmungswelt teilhabe sondern überhaupt unräumlich sei? Doch wir wollen einmal annehmen, diese Frage sei irgendwie beantwortet worden, und gewisse Gründe sprächen tatsächlich dafür, daß jene Kontiguität keinen räumlichen Charakter trüge. Wir hätten uns den Sachverhalt dann so zu denken, daß auf unserem Planeten die Bewußtseinssysteme in das sonst überall räumliche Weltall als nicht räumliche Faktoren hineinwirkten. Wäre das der Fall, so stünden uns für dieses Phänomen drei verschiedene Annahmen zur Verfügung. Entweder könnten dann nämlich unsere Bewußtseinssysteme bei jeder ihrer Wechselwirkungen mit Gehirnvorgängen aus einem anderen unräumlichen Weltalle in unser räumliches Weltall hinübergreifen. Oder wenn sie aus unserem eigenen Weltalle stammen, so könnten sie entweder für die Lebensdauer der bewußten Wesen aus einem räumlichen Stadium zeitweise in ein unräumliches übergehen, um aus diesem wieder in ihr räumliches Stadium zurückzutreten. Oder sie könnten als unräumliche Ge-
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bilde, freilich ohne sich irgendwie bemerkbar zu machen, auch schon vor der Geburt und nach dem Tode der Lebewesen gewissermaßen von Ewigkeit zu Ewigkeit in unserem Weltalle bestehen. Mit diesen drei Annahmen sind, wenn man nicht zu willkürlichen Phantasien greifen will, die uns zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erschöpft. Daher müssen wir eine von ihnen wählen, sobald wir die Räumlichkeit unseres Bewußtseins bestreiten. Aber gegen jede dieser Annahmen im einzelnen und gegen alle gemeinsam spricht eine Reihe von Gründen. Zunächst ist es offensichtlich, daß die erste Annahme wenig für sich hat. Denn dafür, daß unsere Bewußtseinssysteme um ihrer uns unbekannten Simultankontiguität willen in einem eigenen neben unserer räumlichen Außenwirklichkeit vorhandenen unräumlichen Weltalle leben, besteht sonst kein Anzeichen. Vielmehr zeigt ihr gesamtes Verhalten, daß sie nicht aus einer anderen Welt stammen sondern mitten in unsere räumliche Außenwirklichkeit hineingebettet sind. Gäbe es aber jenes andere unräumliche Weltall und würde es sinngemäß als ein Gesamtbewußtseinsreich gedacht, so würden für das letztere alle die Schwierigkeiten gelten, die, wie wir schon bei der Lehre von dem psychophysischenWeltparallelismus hervorhoben, tatsächlich und grundsätzlich mit der Ontologie solcher Gesamtbewußtseinsreiche verbunden sind. Jene erste Annahme empfiehlt sich also nicht. Ebensowenig aber empfiehlt sich die zweite und die dritte der genannten Annahmen. Zunächst kranken beide an einem Widerspruche. Denn sie setzen voraus, daß unsere Bewußtseinssysteme als nicht räumliche Bestand komplexe in der Räumlichkeit unserer Außenwelt auftreten. Und doch gehört es zu dem Wesen jedes Raumes, daß in ihm nur räumliche Bestandkomplexe auftreten können, da alles, was in einem Räume liegt, eben damit schon an dessen Räumlichkeit teilhat. Aber auch wenn dieser Widerspruch nicht bestünde, wäre es kaum wahrscheinlich, daß die gesamte Simultankontiguität unseres Weltalles, die, soweit wir sie kennen, allenthalben eine räumliche ist, zeitweilig oder dauernd durch unsere Bewußtseinssysteme als nicht räumliche Faktoren unterbrochen wird. Und geschähe dies doch, so stünden wir abermals vor Schwierigkeiten. Denn es bliebe dann bei der einen der beiden Annahmen rätselhaft, wie ein räumliches Gebilde unräumlich und ein unräumliches Gebilde räumlich werden soll. Und bei der anderen Annahme wäre die von ihr behauptete, jedoch nirgends feststellbare Prä- und Postexistenz der unräumlichen Bewußtseinssysteme fragwürdig. Es bestehen also auch gegen die zweite und dritte Annahme schwere Bedenken.
Die Argumente für die Räumlichkeit des Bewußtseins
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Endlich aber spricht gegen alle hier genannten Annahmen gemeinsam folgende schon früher einmal von uns geltend gemachte Erwägung. Jede simultane Kontiguitätsbeziehung mit einem räumlichen Bestände ist räumlich. Und jede simultane Kontiguitätsbeziehung mit einem nicht räumlichen Bestände ist nicht räumlich. Daher können ein räumlicher und ein nicht räumlicher Bestand keine simultanen Kontiguitätsbeziehungen miteinander eingehen. Auf der anderen Seite aber haben wir in jenem früheren Zusammenhange gesehen, daß Kausalverhältnisse nur auf der Grundlage einer nicht bloß sukzessiven sondern auch simultanen Kontiguitätsgemeinschaft der kausal miteinander verbundenen Bestände möglich sind. Daher könnte ein Kausalverhältnis zwischen unserem Bewußtsein und der Außenwirklichkeit nur dann Zustandekommen, wenn beide eine gemeinsame Simultankontiguität haben, wenn sie also entweder beide räumlich oder beide unräumlich sind. Nun findet dieses Kausalverhältnis tatsächlich statt. Und die mit dem Bewußtsein kausal verbundene Außenwirklichkeit ist räumlich. Hieraus folgt, daß unser Bewußtsein gleichfalls nicht unräumlich sondern räumlich ist, und daß es an demselben Räume teilhat wie die kausal mit ihm verbundene Außenwirklichkeit. Die Lehre von der Unräumlichkeit unseres Bewußtseins verträgt sich also nicht mit der Tatsache seiner kausalen Beziehungen zu der räumlichen Außenwelt. Angesichts dieser Ergebnisse haben wir uns nunmehr die Frage vorzulegen, ob es Argumente gibt, die für eine Räumlichkeit unseres Bewußtseins sprechen. Solche Argumente gibt es in der Tat. Und zwar treten sie bei einer genaueren Nachprüfung derselben Argumente zutage, die für eine Unräumlichkeit unseres Bewußtseins in Anspruch genommen wurden. Das gilt zunächst für das erste dieser Argumente. Ich lege keinen Wert auf die Feststellung, daß, wenn aus unserer Fähigkeit, unräumliche Bestände zu denken, auf eine Unräumlichkeit des Bewußtseins selbst gefolgert wird, dann ebenso aus unserer Fähigkeit, räumliche Bestände zu denken, auf seine Räumlichkeit geschlossen werden könnte. Beide Schlüsse wären falsch, da, wie wir gesehen haben, die Frage nach der Räumlichkeit oder Unräumlichkeit unseres Bewußtseins nicht seine Gnoseologie sondern seine Ontologie betrifft. Wichtiger für unsere Frage ist es, daß auch die Gegner der Lehre von der Räumlichkeit des Bewußtseins anerkennen, daß dieses trotz seiner gnoseologischen Zeitüberlegenheit ontologisch einen zeitlichen Charakter trägt. Sie bestreiten also nicht, daß unser Bewußtsein in seiner sukzessiven Kontiguitätssystematik eine Ausdehnung
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und zwar dieselbe Ausdehnung hat, die in dieser Hinsicht auch den Außenwirklichkeitsbeständen zukommt. Außenwirklichkeit und Bewußtsein hätten demnach auch in dem Lichte der Lehre von der Unräumlichkeit des Bewußtseins eine und dieselbe Sukzessivsystematik. Dagegen hätten sie, wenn unser Bewußtsein unräumlich wäre, eine artverschiedene Simultansystematik. Hiergegen aber spricht der Umstand, daß, wie wir in dem nächsten Kapitel erkennen werden, die Kontiguitätssystematik der Zeit ebenso aufgebaut ist, wie die Kontiguitätssystematik des Raumes, und daß sie mit diesem in der transzendenten Außenwirklichkeit eine geometrisch in sich einheitliche vierdimensionale Manichfaltigkeit bildet. Zu den Vorbedingungen dieser Einheitlichkeit gehört es, daß die Simultankontiguität der Außenwirklichkeitsbestände eine spezifisch räumliche ist. Wäre daher unser Bewußtsein trotz seiner Zeitlichkeit unräumlich, so wäre eben damit die Einheitlichkeit seiner gesamten Kontiguitätssystematik aufgehoben. Denn es trüge dann in der einen Hinsicht einen grundsätzlich anderen Kontiguitätstypus als in der anderen. Ausgeschlossen kann eine solche Möglichkeit nicht werden. Aber sie ist nicht wahrscheinlich. Vielmehr weist uns der Umstand, daß unser Bewußtsein zeitlich ist, angesichts der hier geschilderten Sachlage darauf hin, daß es auch räumlich sein dürfte. In dieselbe Richtung führt uns das zweite Argument, das sich auf die Inhalte unseres Bewußtseins, mithin auf die ontologisch in ihm enthaltenen und gnoseologisch von uns ausgebauten Nichtichbestände bezog. Geht man auf die bewußtseinswirklichen Grundlagen solcher Inhalte zurück, so erkennt man, daß sie insgesamt eine geometrische Struktur haben, wenn die letztere auch nicht in dem Räume unserer immanenten Außenwelt liegt. Dieser Umstand läßt darauf schließen, daß wie solche Inhalte selbst so auch die Bewußtseinswirklichkeit, zu der sie gehören, eine geometrische Struktur besitzt, also irgendwie räumlich ist. Die geometrische Struktur unserer Bewußtseinsinhalte zeigt sich an dem deutungslosen Befunde aller Wahrnehmungen und Vorstellungen. Sie findet sich zunächst bei unseren Sichtwahrnehmungen und -Vorstellungen, deren ontologische Grundlage, wie wir wissen, eine Fläche darstellt. Flächenhaft sind auch die ontologischen Grundlagen der von uns wahrgenommenen und vorgestellten Hautsinnes-, Geruchund Geschmackqualitäten. Und was endlich die ontologischen Grundlagen der akustischen Inhalte und der inneren Organempfindungen betrifft, so sind uns diese inbezug auf ihre geometrische Struktur zwar noch nicht hinreichend bekannt Aber auf jeden Fall sind auch sie,
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wie ihre Beobachtung im deutungserfüllten Zustande zeigt, irgendwie ausgedehnt und nicht unräumlich. Bedenkt man nun, daß sich in den hier genannten Sinnesqualitäten das ontologische Wesen aller unserer inhaltlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen erschöpft, so erkennt man, daß diese Sphäre unserer Bewußtseinswirklichkeit ausschließlich mit geometrisch ausgedehnten und insofern räumlichen Gebilden erfüllt ist. Nur weil dies der Fall ist, können wir aus solchen Sinnesqualitäten die Raumwelt unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen, Vorstellungen, Träume, Halluzinationen usw. aufbauen. Von einer Unräumlichkeit der Wirklichkeitsbestände in der inhaltlichen Sphäre unseres Bewußtseins kann also keine Rede sein. Nun aber sahen wir, daß die einzig mögliche Kontiguitätssystematik zwischen Beständen, die selber räumlich sind, wiederum eine Raumsystematik ist. Wollen wir daher dem Umstände gerecht werden, daß auch die artverschiedenen Bestände unseres Bewußtseins irgendwie in einer ihnen gemeinsamen Kontiguitätssystematik stehen müssen, so haben wir anzunehmen, daß wie jene inhaltlichen Bestände selbst so auch die zwischen ihnen waltende und uns verborgen bleibende Bewußtseinskontiguität einen geometrischen und mithin räumlich ausgedehnten Charakter zeigt. Ist das aber der Fall, dann trägt offenbar unsere gesamte Bewußtseinswirklichkeit einen solchen Charakter. Angesichtsdessen fragt es sich nunmehr, ob die Dimensionalität unserer inhaltlichen Bestände zugleich auch die Dimensionalität dieser sie enthaltenden und kontiguitätssystematisch miteinander verbindenden Bewußtseinswirklichkeit selbst sei. Nehmen wir einmal an, das deutungslos Gegebene aller unserer Inhalte, also auch derjenigen, deren geometrische Struktur uns noch nicht genau bekannt ist, trüge einen flächenhaften Charakter. Wäre das der Fall und hätte unser gesamtes Bewußtsein dieselbe Dimensionalität wie der ontologische Befund seiner Inhalte, so hätten wir die hier aufgeworfene Frage dahin zu beantworten, daß auch unser Bewußtsein selber flächenhaft sei. Allein ein näherer Einblick in die für die inhaltliche Sphäre unseres Bewußtseins maßgebenden Verhältnisse zeigt uns, daß eine solche Annahme zum mindesten nicht notwendig ist. Denn was die Flächenhaftigkeit jener inhaltlichen Befunde angeht, so erkannten wir bei einer früheren Gelegenheit, daß sie durch die kausalen Funktionen unserer peripheren Sinneswerkzeuge bedingt ist. Und wir werden ferner erkennen, daß im Zusammenhange hiermit die Flächenstruktur unserer deutungslosen Sicht- und Tastempfindungen noch eine besondere immanenzontologische Aufgabe erfüllt. Dagegen haben wir
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keinen Anlaß zu der Annahme, daß deshalb, weil das deutungslos Gegebene unserer Inhalte flächenhaft ist, nun auch unser gesamtes Bewußtsein ebenso flächenhaft sein müsse. Diese letztere Annahme wäre nämlich nur dann erforderlich, wenn wir unsere inhaltlichen Befunde als ontologisch selbständige Gebilde zu betrachten hätten. Denn ontologisch selbständig können flächenhafte Bestände nur in einer Flächenwelt sein. Wären also unsere Inhalte ontologisch selbständig, dann müßte die zu ihnen gehörende Bewußtseinswirklichkeit ebenso flächenhaft sein wie sie selber. Nun aber wissen wir, daß der Wirklichkeitsbestand aller unserer Bewußtseinsgebilde und daher auch der unserer Inhalte so, wie er in den Bereich unserer Erfassung tritt, nicht ontologisch selbständig ist sondern eine Manichfaltigkeit nur durch Abstraktion zu erfassender und an sich unselbständiger Beschaffenheiten, Zustände oder Vorgänge darstellt, die zu einem in den Tiefenschichten unseres Bewußtseins liegenden uns verborgenen Bestandkomplexe gehören. Nur dieser letztere Bestandkomplex ist ontologisch selbständig. Nicht aber sind es schon jene in unserer Erfassung enthaltenen Beschaffenheiten, Zustände oder Vorgänge als solche. Daher haben wir kein Recht, aus der Flächenhaftigkeit unserer inhaltlichen Bewußtseinsbestände auf eine entsprechende Flächenstruktur auch unserer gesamten Bewußtseinswirklichkeit zu schließen. Welchen positiven Raumcharakter diese uns verborgene Bewußtseinswirklichkeit trägt, das läßt sich durch die geometrische Beschaffenheit unserer inhaltlichen Bestände allein nicht bestimmen. Wir können vorläufig nur soviel von ihm sagen, daß er zum mindesten die Dimensionalität dieser Bestände enthalten, also zweidimensional sein muß. Anderseits aber ist auch die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß er mehr Dimensionen hat, gegebenenfalles also dreidimensional ist. Träfe dieses letztere zu, dann würden die von uns erfaßten Inhalte der Zweidimensionalität ihrer ontologischen Grundlage nach als Oberflächen oder als Schnittflächen und damit als Berührungszonen zweier Bruchteile jene3 uns verborgenen dreidimensionalen Gesamtbestandes des Bewußtseins zu betrachten sein. Gehen wir nunmehr von den inhaltlichen Nichtichgebilden unseres Bewußtseins zu seinen nichtinhaltlichen Ichgebilden und damit zu dem Gegenstande des dritten der hier zu behandelnden Argumente über, so haben wir zunächst daran zu erinnern, daß auch unser Ich und seine Akte so, wie wir sie erfassen, ontologisch unselbständige Abstraktionen sind, die zu jenem uns verborgenen Bestandkomplexe in den Tiefenschichten unseres Bewußtseins gehören, der zugleich der
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Träger unserer Inhalte ist, und ohne den sich das ontologische Wesen unserer Ichgebilde nicht verstehen läßt. Wir haben also auch hier wieder auf diesen letzteren Bestandkomplex zurückzugreifen. So, wie wir unser Ich und seine Akte erleben, sind sie, das wurde schon betont, dimensionslos. Dagegen liegt, wie ebenfalls schon hervorgehoben worden ist, kein Grund für die Annahme vor, daß auch der Bestandkomplex, zu dem sie gehören, dimensionslos sei. Wir haben vielmehr an den inhaltlichen Gegebenheiten eben dieses selben Bestandkomplexes festgestellt, daß ihm, wie es auch sonst mit seiner geometrischen Ausdehnung bestellt sein mag, zum mindesten die Dimensionalität dieser seiner inhaltlichen Gegebenheiten und damit ein Raumcharakter zukommt. Als Träger unserer Inhalte konnte er sowohl zwei- als auch mehrdimensional gedacht werden. Dagegen legen unsere Ichgebilde und zwar speziell unsere Akte die Annahme nahe, daß er nicht zweisondern dreidimensional ist. Das wird deutlich, wenn man bedenkt, daß einige von unseren Akten in spezifisch außenkausaler Weise wirken. Dies gilt besonders von unseren Willensakten, kraft deren unser Bewußtsein nach mancher Hinsicht eine ähnliche Rolle spielt wie ein außenwirklicher Apparat. So können wir durch Willensakte unseren Körper auf dieselbe Weise bewegen, wie das bei anderen Körpern und unter Umständen auch bei unserem eigenen durch physische Apparate möglich ist. Eine grundsätzliche Voraussetzung für derartige Apparate aber ist es, daß sie die Dimensionalität der Welt, in der sie wirksam sind, also in diesem Falle die dreidimensionale Beschaffenheit der Außenwirklichkeit teilen. Denn in einer dreidimensionalen Wirklichkeit sind, um nochmals daran zu erinnern, nur dreidimensionale Gebilde ontologisch selbständig. Und nur solche ontologisch selbständigen Gebilde können in ihr wirksam werden. Dagegen könnten echte Flächen, da ihnen eine ontologische Selbständigkeit hier nicht zukommt, in einer dreidimensionalen Außenwirklichkeit nicht wirksam werden. Wenn daher zu dem uns verborgenen ontologisch selbständigen Bestandkomplexe unseres Bewußtseins auch solche Akte gehören, mit deren Hilfe wir unseren Körper bewegen, so haben wir anzunehmen, daß jener Bestandkomplex nicht flächenhaft sondern ebenso dreidimensional ist wie unser Körper selbst. Unsere Betrachtungen über die inhaltlichen Bestände des Bewußtseins und unsere Betrachtungen über seine Akte greifen nachalledem, sich wechselseitig ergänzend, ineinander über. Führten die ersteren zu dem Ergebnisse, daß der uns verborgene Bestand unseres Bewußtseins überhaupt eine geometrische Ausdehnung hat, so führen
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die letzteren zu dem Ergebnisse, daß dieser Ausdehnung die Dreidimensionalität unserer außen wirklichen Körperwelt zukommt. Nicht unerwähnt mag bei dieser Gelegenheit schließlich noch ein Gedanke bleiben, mit dem man die Lehre von der Unräumlichkeit unseres Bewußtseins gelegentlich zu stützen sucht, und der an die scheinbare Dimensionslosigkeit unseres Ich anknüpft. Bisweilen denkt man sich unser Ich nämlich so, daß es erstens selber ein unräumliches Gebilde sei, zweitens aber trotzdem unsere räumlichen Inhalte trage und sie, soweit es sich um Vorstellungen, Träume usw. handelt, auch von sich aus erzeuge. In dieser Funktion wird das Ich, wie schon früher einmal angedeutet wurde, gern wie ein hinter unseren inhaltlichen Gebilden wirkender Punkt gedacht. Die Schwächen dieses Versuches, die Unräumlichkeit unseres Bewußtseins zu retten, liegen auf der Hand. Denn erstens ist der ontologische Bestand unseres Ich, wie wir gesehen haben, nicht dimensionslos. Zweitens ist ein Punkt, der in einem Räume steht und daher ein Raumelement bildet, zwar dimensionslos, nicht aber unräumlich. Und drittens bleibt es unerfindlich, wie ein dimensionsloses Gebilde dazu kommt, wirksam zu werden und mehrdimensionale Gebilde zu tragen, geschweige denn sie aus seiner Dimensionslosigkeit heraus zu erzeugen. Endlich aber wäre, selbst wenn diese Bedenken nicht bestünden und jene These recht hätte, damit noch nichts für die Unräumlichkeit des Bewußtseins bewiesen. Denn zu dem Gesamtbestande dieses letzteren gehört eben nicht nur ein dimensionsloses Ich, sondern es gehören zu ihm unter anderem auch seine geometrisch ausgedehnten Inhalte. Und deren Räumlichkeit liegt offen zutage. Die Frage nach der Räumlichkeit des Bewußtseins bleibt also von der Annahme, daß unser Ich als ein Punktwesen hinter seinen Inhalten stehe, unberührt. Zu solchen aussichtslosen Versuchen, von der vermeintlichen Unräumlichkeit der Ichgebilde ausgehend unser ganzes Bewußtsein für unräumlich zu erklären, steht unsere transzendenzontologische Deutung des Sachverhaltes mit dem von ihr eingeschlagenen Verfahren in dem Verhältnisse der Umkehrung. Denn die Transzendenzontologie geht nicht wie jene Versuche den Weg von den scheinbar unräumlichen zu den sicher räumlichen Gebilden unseres Bewußtseins sondern vielmehr den entgegengesetzten Weg von seinen sicher räumlichen zu seinen scheinbar unräumlichen Gebilden. Und wir haben gesehen, daß dieser letztere Weg im Unterschiede von jenem ersteren zum Ziele führt. Denn während es unverständlich blieb, wie die Räumlichkeit unserer inhaltlichen Bestände aus der scheinbaren Unräumlichkeit unseres Ich und seiner Akte hervorgehen könne, konnte diese schein-
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bare Unräumlichkeit der Ichgebilde angesichts ihrer ontologischen Unselbständigkeit als eines der für unsere Erfassung charakteristischen Abstraktionsphänomene aus einer Räumlichkeit des uns verborgenen Bestandkomplexes der Bewußtseinswirklichkeit abgeleitet werden. Blicken wir auf diese Erörterungen zurück, so erkennen wir, daß dieselben Argumente, die die Lehre von der Unräumlichkeit des Bewußtseins für sich in Anspruch nahm, bei einer näheren Prüfung vielmehr für die Räumlichkeit des Bewußtseins sprechen. Denn diese konnte sowohl aus der ontologischen Unabhängigkeit des Bewußtseins von seinem gnoseologisch gedachten Gegenstandsbereiche und aus seiner Zeitlichkeit als auch aus der ontologischen Beschaffenheit seiner inhaltlichen Bestände als endlich in Verbindung hiermit auch aus der ontologischen Unselbständigkeit seiner Ichgebilde und ihrer Zugehörigkeit zu dem uns verborgenen Bestandkomplexe unseres Bewußtseins erklärt werden. Dagegen wurde die Lehre von der Unräumlichkeit des Bewußtseins weder durch die Gnoseologie der von uns gedachten Gegenstände noch auch durch die Beschaffenheit unserer Inhalte noch auch endlich durch die Eigentümlichheit unserer Ichgebilde gestützt. Von der dreidimensionalen Raumausdehnung, die dem ontologischen Bestände unseres Bewußtseins zukommt, wissen wir im täglichen Leben nichts. Sie bleibt unserer bewußten Erfassung vielmehr transzendent. Die Gründe hierfür beruhen auf der in dem vorangehenden Kapitel geschilderten Sachlage. Es sind drei. Der erste Grund besteht darin, daß der ontologisch wirkliche Raum unseres Bewußtseins durch den gnoseologisch wirklichen Raum der immanenten Wahrnehmungswelt verdrängt ist. Denn auf diesen letzteren Raum sind wir mit unserer bewußten Erfassung ausschließlich gerichtet. Stellt man sich aber einmal auf den Standpunkt eines solchen gnoseologisch wirklichen Raumes, so verliert man eben damit, wie wir ausführlich dargelegt haben, die Möglichkeit, jede andere außerhalb von ihm liegende Raumwelt und auch die ontologisch wirkliche Räumlichkeit zu gewahren, aus der sich jener gnoseologisch wirkliche Raum aufbaut. Dieser ist daher der einzige Raum, den der auf ihn eingestellte Betrachter kennt. Alle anderen Räumlichkeiten sind für den letzteren so gut, als wären sie nicht vorhanden. Das gilt auch für das Verhältnis unseres ontologisch wirklichen Bewußtseinsraumes zu dem gnoseologisch wirklichen Räume unserer Wahrnehmungswelt. Vorhanden ist für uns nur der letztere Raum. Der erstere dagegen ist für uns so, als wäre er nicht da.
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Der zweite Grund, umdessenwillen wir den Raum unseres Bewußtseins nicht zu erfassen vermögen, liegt darin, daß er seiner Tiefenausdehnung nach in Schichten hinabführt, die, wenigstens soweit unsere Inhalte inbetracht kommen, auch nicht mehr zu der Darbietungssphäre unseres Bewußtseins gehören. Der Wirklichkeitsraum dieses letzteren wäre uns daher selbst dann nicht zugänglich, wenn er durch unseren Wahrnehmungsraum nicht verdrängt wäre. Denn wir hätten in diesem Falle von unseren Bewußtseinsinhalten zwar deren ontologische Grundlagen vor uns, die mit ihrer uns dargebotenen flächigen Struktur zu dem Wirklichkeitsraume des Bewußtseins gehören. Aber die Tiefenausdehnung dieses Raumes läge jenseits der bewußtseinswirklichen Darbietung. Sie bliebe uns also auch abgesehen von den gnoseologischen Verdrängungsphänomenen entzogen. Der dritte Grund endlich für unsere Nichterfassung des Bewußtseinsraumes besteht darin, daß wir, wie in dem vorangegangenen Kapitel ausführlich dargelegt worden ist, zu einer unmittelbaren Erfassung echter dreidimensionaler Räume tatsächlich nicht befähigt sind. Denn unmittelbar erfaßbar sind für uns, wie wir damals zeigten, nur zweidimensionale Gebilde. Und das, was wir für einen angeschauten Raum halten, erwies sich als die nur räumlich ausgedeutete Flächenprojektion eines Raumes. Nun aber ist der ontologische Raum unseres Bewußtseins keine bloße Flächenprojektion sondern eine echte dreidimensionale Manichfaltigkeit. Wir müßten daher, um diesen Raum unmittelbar innezuwerden, auch abgesehen davon, daß er gnoseologisch verdrängt und uns nicht dargeboten ist, ein anderes Anschauungsvermögen haben als das uns tatsächlich zur Verfügung stehende. Wenn wir also von dem Räume unseres Bewußtseins im täglichen Leben nichts wissen, so ist das sowohl durch unsere gnoseologische Bewußtseinseinstellung als auch durch die Art, in der uns die inhaltlichen Bestände unseres Bewußtseins dargeboten sind, als endlich auch durch die tatsächlichen Schranken unserer Anschauungsfähigkeit bedingt. In diesem uns unbekannten Bewußtseinsraume sollten die ontologischen Grundlagen aller irgendwie von uns erfaßten Bestände zusammenbestehen. Hierdurch unterscheidet sich dieser Raum von den Räumen der artverschiedenen Immanenzsysteme. Denn in den letzteren können, wie wir früher gesehen haben, insoweit es sich um außerleibliche Wahrnehmungen handelt, immer nur Bestände einer und derselben Art, nicht dagegen artverschiedene Bestände auftreten. Wir haben uns also zu fragen, worauf dieser Unterschied beruht.
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Um diese Frage zu beantworten, greifen wir auf eine frühere Erörterung zurück. Wir erkannten nämlich bei unseren Untersuchungen über den Unterschied zwischen den Immanenzstrukturen der innerleiblichen und der außerleiblichen Wirklichkeit, daß an und für sich der geometrische Aufbau jedes Raumes gegen die qualitativen Verschiedenheiten der in ihm auftretenden Bestände neutral ist. Und wir sahen, daß es nicht an den hier inbetracht kommenden Raumsystemen als solchen sondern an gewissen mit der ultraperipheren Deutung und der Eindeutigkeit unserer Wahrnehmungsräume zusammenhängenden Komplikationen lag, wenn sich die artverschiedenen Immanenzsysteme der außerleiblich gedeuteten Bestände wechselseitig ausschlössen. Das zeigte sich unter anderem darin, daß diese Komplikationen bei einer nur peripheren Deutung unserer Immanenzbestände, wir veranschaulichten uns das an der Fiktion eines Menschen, der alle seine Wahrnehmungen auf den eigenen Leib bezieht, restlos beseitigt waren. Daher konnten bei der Immanenzstruktur unserer innerleiblichen Wirklichkeit auch artverschiedene Wahrnehmungsgebilde als in einem und demselben Räume zusammenbestehend gedacht werden. Für den ontologischen Raum unseres Bewußtseins gilt in dieser Hinsicht dasselbe. Denn hier fällt jede Deutung überhaupt, mag sie nun ultraperipher oder nur peripher sein, fort. Daher kann in diesem Räume das deutungslos Gegebene aller unserer Bewußtseinsbestände, auch der voneinander artverschiedenen, anstandslos zusammenbestehen. Er hat wie jeder ontologische Raum mit den in ihm auftretenden Qualitäten nichts zu schaffen und ist gegen sie neutral. Diese seine Neutralität bildet ein Seitenstück zu der früher von uns behandelten Neutralität der Zeit. Denn wie in den Raum unseres Bewußtseins alle zu diesem gehörenden ontologischen Bestände, so gehen in die Systematik der Zeit alle Wirklichkeitsbestände überhaupt ein, ganz gleich ob sie sich qualitativ voneinander unterscheiden oder nicht. Ja eine spätere Untersuchung wird uns zeigen, daß der Raum unseres Bewußtseins wie der Raum der gesamten transzendenten Außenwirklichkeit einerseits und die Zeit anderseits mit ihrer Indifferenz gegen alle in ihnen auftretenden Bestandverschiedenheiten ein einziges in sich einheitliches Gesamtgefüge bilden. Es ist aber nicht nur dies, was das ontologisch wirkliche Gebiet unseres Bewußtseinsraumes von dem gnoseologisch wirklichen Gebiete der immanenten Außenwirklichkeit unterscheidet. In beiden Gebieten herrscht vielmehr auch eine andere räumliche Verteilung der in ihnen auftretenden Bestände. Die Bestandordnung in dem ontologischen
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Räume unseres Bewußtseins ist also nicht mit derjenigen identisch, die wir in unserer gnoseologisch eingestellten Erfassung der Wahrnehmungsbestände vor uns zu haben glauben. Das wechselseitige Verhältnis dieser beiden Bestandanordnungen ist vielmehr so zu denken, daß wir die räumliche Verteilung der in unserem ontologischen Bewußtseinsbezirke auftretenden Bestände bei ihrer gnoseologischen Interpretation in bestimmter Weise verschieben. Um diesen Vorgang zu verstehen, greifen wir zunächst auf diejenige Anordnung zurück, die den unseren Wahrnehmungen zugrundeliegenden Erregungen in den Zentren der Großhirnrinde zukommt. Diese letztere Anordnung ist offenkundig eine andere als diejenige, die wir unseren peripher, intraperipher oder ultraperipher gedeuteten Wahrnehmungen zuschreiben. Das gilt zunächst für die peripheren und intraperipheren Immanenzbestände. Denn die Gruppierung der diesen Beständen zugrundeliegenden Erregungszentren in unserer Großhirnrinde weist nicht dieselben Lageverhältnisse auf, die wir den ihnen entsprechenden und peripher oder intraperipher von uns gedeuteten Wahrnehmungen geben. Wenn ich beispielsweise stehend eine gewisse Druckwahrnehmung an meine rechte Fußsohle und gleichzeitig eine andere von meiner Kleidung ausgehende Druckwahrnehmung an meine rechte Schulter verlege, so sind die beiden diesen Druckwahrnehmungen zugrundeliegenden zentralen Erregungen nicht nur nicht an meiner Fußsohle und an meiner Schulter sondern auch nicht unten und oben in der rechten Hälfte meiner Großhirnrinde. Ihre wechselseitige Lage in dieser letzteren ist vielmehr eine andere. Wäre es nicht so, sondern entspräche die Gruppierung der Sinneserregungen in unserer Großhirnrinde der Gruppierung der ihnen korrespondierenden peripheren und intraperipheren Reizvorgänge an und in unserem Leibe, dann wäre dieser in den Erregungszentren unserer Großhirnrinde gewissermaßen abgebildet. Davon aber kann keine Rede sein. Vielmehr weicht die Verteilung der zentralen Sinneserregungen von der jener peripher und intraperipher von uns gedeuteten Reizvorgänge im ganzen wie im einzelnen allenthalben ab. Diese Abweichung ist im Hinblicke auf die ultraperipher von uns gedeuteten Bestände noch erheblicher. Denn wenn die Anordnung der Sinneszentren in unserer Großhirnrinde schon keine Abbildung unseres zu unserer psychophysischen Organisation gehörenden und sich relativ konstant bleibenden Leibes ist, so ist sie erst recht keine Abbildung unserer zu uns nicht mehr gehörenden und mit der Fortbewegung des Leibes ständig wechselnden Umwelt. Eine besoadere
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Ausprägung aber erhält dieser Sachverhalt noch durch den Umstand, daß infolge der Duplizität mancher unter unseren Sinneswerkzeugen ein und derselbe ultraperipher von uns gedeutete Bestand häufig an zwei verschiedenen Stellen unserer Großhirnrinde registriert wird, und daß wir außerdem einen und denselben ultraperipheren Bestand auch mit verschiedenartigen Sinnesorganen wahrnehmen können, was zur Folge hat, daß sich die in diesen Organen entsprechend stattfindenden Reizvorgänge abermals an verschiedenen räumlich voneinander getrennten Stellen unserer Großhirnrinde verzeichnen. Wo wir daher in unserer ultraperipheren Deutungserfüllung teils auf dieselbe teils auf verschiedene Weise nur einen einzigen Bestand wahrnehmen, da können an verschiedenen räumlich voneinander getrennten Stellen unserer Großhirnrinde mehrere teils gleichartige teils verschiedenartige Erregungsvorgänge auftreten. Diese zentralen undin unserer Großhirnrinde räumlich voneinander getrennten Erregungsvorgänge und nur sie sind die unmittelbaren Außenwirklichkeitsgrundlagen für die ontologische Bestandordnung unseres wahrnehmenden Bewußtseins. Denn in seinem von allen gnoseologischen Interpretationen freien ontologischen Zustande weiß unser Bewußtsein nichts von den peripheren und den ultraperipheren Erregern seiner Großhirnrinde. Es weiß, wie wir früher dargelegt haben, in diesem Zustande überhaupt nichts, nicht einmal etwas von sich selber. Es ist in einer ähnlichen Weise wie die Außenwirklichkeitsbestände einfach da. Unmittelbar bedingt aber ist die Form seines Daseins, insoweit sie überhaupt von Außenwirklichkeitsbeständen abhängt, und das ist bei unseren Wahrnehmungen und Vorstellungen der Fall, durch die den letzteren zugrundeliegenden zentralen Vorgänge in der Großhirnrinde. Nur diese und nicht die bloß mittelbar mit ihr zusammenhängenden peripheren oder ultraperipheren Verhältnisse sind daher für die ontologische Beschaffenheit unseres Bewußtseins bestimmend. Dies auf die Beziehung zwischen der Bestandverteilung in unserer Großhirnrinde und der Bestandverteilung in unserem Bewußtseinsraume angewendet haben wir anzunehmen, daß das, was in jener Großhirnrinde auf die soeben beschriebene Weise räumlich voneinander getrennt ist, eine ähnliche Trennung auch in unserem ontologischen Bewußtseinsraume aufweist. Die Bestandordnung unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen aber stimmt, wie wir gesehen haben, mit der in unserer Großhirnrinde und damit auch in unserem Bewußtseinsraume waltenden Bestandordnung nicht überein. Sie stellt vielmehr die Ordnung eben jener peripheren und ultraperipheren Bestände dar, die mit unserer 26
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ontologischen Bewußtseinswirklichkeit nur mittelbar zusammenhängen. Der Grund hierfür liegt darin, daß in unserer Wahrnehmungsdeutung andere Faktoren maßgebend sind als in unserem ontologischen Bewußtsein. Wie nämlich dieses letztere durch die Vorgänge in unserer Großhirnrinde, so wird unsere Wahrnehmungsdeutung durch die von uns zu erfassenden Wirklichkeitsbestände jenseits der Großhirnrinde bestimmt. Das ist, wie wir aus den Erörterungen des vorangehenden Kapitels wissen, nur ein besonderer Fall der allgemeineren Tatsache, daß unsere Gnoseologie niemals auf das uns vorliegende Wesen und die unmittelbaren Grundlagen unseres eigenen Bewußtseins sondern stets auf das uns nicht vorliegende Wesen fremder und auf irgendeine Weise von uns entfernter Gebilde ausgeht. In dem Falle der Wahrnehmungsdeutung aber sind dies die Bestände unserer peripheren und ultraperipheren Umwelt, auf deren repräsentative Erfassung wir mit psychologischer Zwangsläufigkeit eingestellt sind. Aus diesem Sachverhalte erklärt es sich, daß die uns vertraute Bestandordnung unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen von der uns nicht vertrauten Bestandordnung sowohl unserer Großhirnrinde als auch unserer ontologischen Bewußtseinswirklichkeit abweicht. Zugleich erkennen wir nunmehr, daß erst in der Deutungserfüllung unserer Wahrnehmungen und nicht schon in der deutungslosen Gegebenheit unserer Empfindungen die soeben geschilderte Umschiebung stattfindet, die sich in der Differenz zwischen der Bestandordnung unserer Großhirnrinde und der Bestandordnung unserer immanenten Außenwelt geltend macht. Diese Umschiebung ist also kein ontologisches sondern ein spezifisch gnoseologisches Phänomen. Ihr Wesen aber können wir dahin charakterisieren, daß wir durch Deutungserfüllung die in unserem ontologischen Bewußtseinsraume ebenso wie in unserer Großhirnrinde waltende Bestandordnung in eine Repräsentation derjenigen Bestandordnung zurückübersetzen, die in der transzendenten Außenwirklichkeit den mittelbaren Ursachenkomplex für die unseren deutungslosen Empfindungen zugrundeliegenden zentralen Registrationen bildet. Im Hinblicke auf die ultraperipheren Bestände bringt es diese Rückübersetzung dem von uns dargelegten Sachverhalte entsprechend unter anderem mit sich, daß wir die durch jene getrennten Gehirnerregungen bedingten und auch in unserem ontologischen Bewußtseinsraume noch getrennten Empfindungskomplexe nicht in einer solchen Trennung sondern den gnoseologischen Aufgaben unserer Deutung gemäß so innewerden, wie es die Einheitlichkeit ihrer ultraperipheren Erregungsquelle in der transzendenten Außenwirklichkeit er-
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fordert. Wir vereinigen dieser Maßgabe folgend dasjenige, was in der transzendenten Außenwirklichkeit jenseits der Grenzen unseres Leibes ein und derselbe Bestand war, und was dann durch unsere Sinneswerkzeuge, durch die Erregungen in unserer Großhirnrinde und durch die diesen entsprechenden Empfindungskomplexe unseres ontologisehen Bewußtseins in verschiedene räumlich getrennte Bestände zerlegt wurde, innerhalb unserer Wahrnehmung wieder auf einen und denselben Bestand. Diesen Vorgang haben wir bereits in einem früheren Zusammenhange berührt und ihn dort mit der Zerstreuung der Strahlen eines Lichtes und ihrer Sammlung durch eine Linse verglichen. Nunmehr können wir zu diesem Gleichnisse noch hinzufügen, daß sich eine solche Sammlung nicht schon in der ontologischen Sphäre unseres Bewußtseins sondern erst in der gnoseologischen Deutungserfüllung unserer Wahrnehmungen vollzieht. Daß unsere ontologische Bewußtseinswirklichkeit im Hinblicke auf die Raumverteilung ihrer Bestände tatsächlich nicht mit der gnoseologisch von uns erdeuteten sondern vielmehr mit der in unserer Großhirnrinde waltenden Bestand Ordnung übereinstimmt, läßt sich an einer Reihe von Einzelphänomenen nachweisen. Es zeigt sich zunächst in der Welt unserer Sichtwahrnehmungen an der Querdisparation der Netzhautbilder. Wir haben zwei Augen und dementsprechend verzeichnet sich die Sicht jedes einzelnen von uns erschauten ultraperipheren Bestandes auf eine komplizierte hier nicht näher zu beschreibende Weise in zwei verschiedenen räumlich voneinander getrennten Gebieten unserer Großhirnrinde. Gleichwohl erfassen wir in unserer deutungserfüllten Wahrnehmung der von uns zu repräsentierenden ultraperipheren Sachlage gemäß in der Regel nur einzeln auftretende Bestände. Unter gewissen einfachen Versuchsbedingungen aber können wir feststellen, daß uns diesseits und jenseits des Horopters nicht einzelne sondern doppelte Bestände vorliegen. Diese doppelten Bestände sind auch bei unserem normalen Sehen da, werden dann aber nicht in dieser ihrer Duplizität von uns bemerkt. Vielmehr tritt hier an die Stelle der uns doppelt vorliegenden eben unsere Wahrnehmung von einzelnen Beständen. Die Art jener ontologischen Doppelung aber unterstützt uns, ohne daß wir darum wissen, bei unserer Lokalisation solcher Einzelbestände in der immanenten Außenwelt. Dieser Sachverhalt zeigt uns, daß bei unserem normalen Sehen zwei verschiedene Bestandordnungen in unserem Bewußtsein vorhanden sind: eine gnoseologisch wirkliche, die wir bemerken, und eine ontologisch wirkliche, die wir nicht bemerken. In den ersteren sind die von uns erblickten Bestände einfach. In der letzteren sind 29*
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sie doppelt. Die erstere stellt die Verhältnisse unserer Umwelt dar. Die letztere dagegen stimmt, wie aus der bei ihr auftretenden Duplizität der Sichtbestände hervorgeht, mit der Ordnung der unserer Schau zugrundeliegenden Sinneserregungen in der Großhirnrinde überein. Ein verwandtes aber einfacheres Phänomen läßt sich auf dem Gebiete der Geruchwahrnehmungen beobachten. In der Regel glauben wir auch hier nur einen einzelnen Geruchbestand innezuwerden. Und zwar geschieht dies vornehmlich dann, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die ultraperiphere Sachlage richten. Beobachten wir aber die peripheren Vorgänge in unserer Nase, so finden wir, daß wir der Duplizität unserer Riechlappen und der ihr entsprechenden doppelten Registrierung der Geruchbestände in der Großhirnrinde gemäß nicht einen einzelnen sondern zwei räumlich voneinander getrennte Geruchbestände vor uns haben. Diese beiden Bestände liegen uns bewußtseinswirklich auch dann vor, wenn wir bei einer Aufmerksamkeit auf den ultraperipheren Sachverhalt nur einen einzigen Geruchbestand innezuwerden glauben. Auch hier also besteht neben der von uns bemerkten Bestandordnung unserer deutungserfüllten Wahrnehmung eine andere nicht von uns bemerkte bewußtseinswirkliche Bestandordnung. Und wieder stellt jene die Verhältnisse unserer Umwelt dar, während diese mit der Ordnung der Sinneserregungen in unserer Großhirnrinde übereinstimmt. Ein weiteres Beispiel für diesen Sachverhalt bietet unser binaurales Hören dar. Der Duplizität unserer peripheren Hörwerkzeuge gemäß werden hier die Schallschwingungen wie dort die Reizvorgänge in Auge und Nase an zwei räumlich voneinander getrennten Stellen unserer Großhirnrinde registriert. Gleichwohl erfassen wir in deutungserfüllter Wahrnehmung jeweils nur einen einzelnen Schall. Die unserer Lokalisation solcher Schälle zugrundeliegenden Phänomene aber zeigen uns, daß wir tatsächlich nicht einen sondern zwei verschiedene Schälle vor uns haben. Denn nachweislich beruht jene Lokalisation auf gewissen Differenzen zwischen dem, was wir mit dem einen, und dem, was wir mit dem anderen Ohre hören. Es liegen uns also bewußtseinswirklich da, wo wir in deutungserfüllter Wahrnehmung nur einen Schall zu erfassen glauben, tatsächlich zwei Schälle vor. Auch hier wird demnach nur unsere gnoseologische Deutungserfüllung der ultraperipheren Situation gerecht. Der ontologische Bestand unseres Bewußtseins dagegen folgt der Bestandordnung in unserer Großhirnrinde. Endlich läßt sich ein ähnlicher Sachverhalt, wie neuere Versuche zeigen, auch auf dem mit dem akustischen verwandten Gebiete
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des Vibrationssinnes nachweisen. Unter gewissen Bedingungen wird nämlich eine Vibration, die tatsächlich unsere beiden Hände erreicht und sich daher an zwei verschiedenen Stellen unserer Großhirnrinde registriert, als eine einzige nur an einer Hand auftretende Vibration wahrgenommen, wobei an die Stelle einer zwiefachen Wahrnehmung die Erdeutung der Richtung tritt, von der her die Vibration erfolgt. Auch in diesem Falle wird somit der uns bewußtseinswirklich unmittelbar vorliegende Befund kraft gnoseologischer Deutungserfüllung zugunsten eines mittelbar von uns zu erschließenden ultraperipheren Sachverhaltes verschoben. Verschiebungen solcher Art lassen sich aber nicht nur im Hinblicke auf die doppelte Gegebenheit der einfach von uns wahrgenommenen Bestände feststellen. Vielmehr liegt ein ähnlicher Sachverhalt auch in unserer immanenzontologischen Behandlung der artverschiedenen ultraperipheren Wahrnehmungsbestände vor. Wie wir aus unseren früheren Erörterungen wissen, beziehen wir diese Bestände nämlich trotz ihrer Artverschiedenheit vielfach auf identisch denselben ultraperipheren Befund. So kann, wie wir gesehen haben, eine und dieselbe in unserem Sichtraume wahrgenommene schwingende Saite gleichzeitig sowohl durch Sicht- als auch durch Tast- und durch Schallgegebenheiten von uns erfaßt werden. Und zwar liegen dann alle diese Gegebenheiten für uns an einer und derselben Stelle des deutungserfüllten Wahrnehmungsraumes. Daß durch diese Auffassung ein innerer Widerspruch in die Immanenzontologie hineingetragen wird, ist seinerzeit dargelegt worden. Ein näheres Zusehen aber zeigt uns, daß jene Beziehung der artverschiedenen Wahrnehmungsbestände auf einen und denselben Befund und damit das Widerspruchsvolle der Situation auch hier wieder erst einer gnoseologischen Bestandverschiebung zu verdanken ist. Denn in dem ontologischen Räume unseres Bewußtseins sind jene artverschiedenen Bestände nicht an einer und derselben sondern an verschiedenen Stellen. Das kann man sich durch eine einfache Beobachtung vor Augen führen. Wenn man nämlich in einem Falle, bei dem artverschiedene Wahrnehmungen in den Sichtraum hineinverlegt werden, die von uns erschauten Bestände untersucht und sich lediglich an das hält, was man in ihnen vorfindet, so erkennt man, daß sie nur Sichtgegebenheiten und keine von diesen artverschiedene Gebilde enthalten. Unsere Hineinverlegung von Gebilden solcher Art in die Sichtwelt ist also nicht schon in der ontologischen Gegebenheit unseres Empfindungsmaterials begründet. Anderseits aber sind auch die artverschiedenen Bestände in unserem Bewußtsein anwesend. Liegen sie nun trotz dieser Anwesen-
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heit ihrem ontologischen Wesen nach nicht innerhalb, dann liegen sie offenbar außerhalb der Gegebenheit unserer Sichtfläche. Das aber heißt, wenn der ontologische Bestand unseres Bewußtseins räumlich ist, daß die Sichtempfindungen und die von ihnen artverschiedenen Immanenzbestände an räumlich voneinander getrennten Stellen unseres Bewußtseinsraumes sind. Ihre Vereinigung an einem und demselben Orte unseres Wahrnehmungsraumes ist also nicht schon ein ontologisches Phänomen unserer Bewußtseinswirklichkeit als solcher sondern erst ein gnoseologisches Phänomen unserer Deutungserfüllung. Zugleich können wir feststellen, daß die Trennung der verschiedenen Wahrnehmungsbestände in unserem Bewußtseinsraume auch in diesem Falle der Trennung der ihnen korrespondierenden Erregungszentren in unserer Großhirnrinde entspricht. Denn in der letzteren finden die unseren artverschiedenen Empfindungen zugrundeliegenden Vorgänge ebenfalls nicht in einem und demselben sondern in verschiedenen und räumlich voneinander getrennten Zentren statt. Mit den hier von uns behandelten gnoseologischen Verschiebungen der Wahrnehmungsbestände ist in einer gewissen Hinsicht unsere immanenzontologische Behandlung der Vorstellungen verwandt. Die genaue Lokalisation der Vorstellungszentren in unserer Großhirnrinde ist zurzeit noch strittig. Aber es wird in steigendem Maße wahrscheinlich, daß diese Zentren von den Zentren der eigentlichen Sinneserregungen räumlich getrennt sind. Ist das der Fall und ist die räumliche Verteilung der zentralen Erregungen auch hierin für die Bestandverteilung in unserem Bewußtseinsraume maßgebend, so haben wir anzunehmen, daß in diesem letzteren der ontologische Bestand der Vorstellungen von dem der Wahrnehmungen ebenfalls getrennt ist. In unserer Deutungserfüllung der Vorstellungen aber tragen wir diesem Sachverhalte keine Rechnung. Denn wir verlegen sie trotz jener Trennung auf die früher beschriebene Weise fiktiv in denselben Bereich, in dem schon unsere Wahrnehmungsbestände liegen. Wir vollziehen hier also wieder eine Bestandverschiebung, kraft deren wir das bewußtseinsräumlich voneinander Getrennte in unserem gnoseologischen Sichtraume auf eine ähnliche Weise miteinander vereinigen, wie wir die ontologisch getrennten doppelten Wahrnehmungen oder die artverschiedenen Immanenzbestände gnoseologisch miteinander vereinigten. In einer anderen Hinsicht aber weicht diese Verschiebung von den bisher beschriebenen ab. Denn bei der Verschiebung der doppelten Wahrnehmungen und der artverschiedenen Immanenzbestände blieb uns die ontologische Unrichtigkeit ihrer Vereinigung unbewußt. Da-
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gegen werden wir uns bei der Hineinverlegung unserer Vorstellungen in den immanenten Sichtraum der Fiktizität dieses Verfahrens bewußt. Wir behandeln die von uns vorgestellten Gebilde zwar so, als ob sie in dem Sichtraume wären. Aber wir wissen, daß sie dort nicht sind. Und zwar wissen wir das nicht nur deshalb, weil unsere Vorstellungen, wie seinerzeit schon betont worden ist, nicht zu dem naturgesetzlichen Zusammenhange der immanenten Außenwelt gehören, sondern auch aus anderen in dem Bewußtseinscharakter der Vorstellungen liegenden Gründen. Der erste dieser Gründe ist der, daß unsere Vorstellungen nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit im Normalfalle ein anderes Gepräge zu tragen scheinen als die Wahrnehmungen. Sie sind zwar da. Aber so wie die Wahrnehmungen sind sie nicht da. Wir sehen sie, wie man zu sagen pflegt, mit dem inneren Auge. Und das innere Auge sieht in dem Normalfalle anders als das äußere. Hinzu kommt ein zweiter ontologisch wichtigerer Grund, nämlich der, daß sich unsere Vorstellungen nicht nur allgemeinbegrifflich sondern auch individualbegrifflich von den Wahrnehmungen unterscheiden. Sie liegen schon nach unserer alltäglichen Auffassung der Sachlage in einer anderen Ebene. Auch dies will die Unterscheidung zwischen dem inneren und dem äußeren Auge zum Ausdrucke bringen. Wir wollen damit sagen, daß unsere Vorstellungen ein anderes bewußtseinswirkliches Fundament als die Wahrnehmungen haben. In der Praxis des täglichen Lebens werden wir uns dieser Verschiedenheit der Fundamente nur unklar bewußt. Aber an zwei einfachen Beobachtungen können wir uns den hier vorliegenden Sachverhalt genauer verdeutlichen. Wir erkennen dann, daß das Fundament unserer Vorstellungen dh. ihre ontologische Grundlage tatsächlich von dem Fundamente unserer Wahrnehmungen verschieden ist, und daß in unserem Bewußtseinsraume beide Gegebenheiten voneinander getrennt sind. Die erste dieser Beobachtungen bildet ein Gegenstück zu dem, was wir soeben bei den artverschiedenen Immanenzbeständen feststellten. Sie zeigt uns, daß sich der Bestand unserer Vorstellungen in der Gegebenheit der Sichtwahrnehmungen nicht entdecken läßt, und zwar auch dann nicht, wenn unsere Vorstellungen ebenfalls sichthaft, also mit den Sichtwahrnehmungen gleichartig sind. Daraus können wir wie in dem analogen Falle der artverschiedenen Immanenzbestände schließen, daß bewußtseinsräumlich der ontologische Bestand unserer Vorstellungen an einer anderen Stelle als der entsprechende Bestand unserer Sichtwahrnehmungen liegt.
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Auch hier kann man sich den Sachverhalt an jeder beliebigen Vorstellung vergegenwärtigen. Ich stelle mir jetzt zB. an der mir gegenüberliegenden Wand eine bestimmte Person vor. Dann zeigt mir ein näheres Zusehen, daß sich innerhalb meiner Wahrnehmungsgegebenheiten von dieser Person nichts finden läßt. Ihre Gestalt verdeckt oder verschleiert nichts von der Wand. Ich sehe die letztere vielmehr so scharf und klar wie immer. Gleichwohl ist auch jenes Vorstellungsgebilde in meinem Bewußtsein anwesend. Denn ich sehe die Gestalt, die Haltung, die Gesichtszüge, die Kleidung der gemeinten Person deutlich vor mir. Ist aber eine solche Vorstellung erstens anwesend, und ist sie zweitens nicht in unserer Sichtwahrnehmung entdeckbar, obwohl wir sie in den erdeuteten Raum dieser letzteren hineinzuverlegen pflegen, so folgt daraus wie in dem Falle der artverschiedenen Immanenzbestände, daß sie ontologisch außerhalb jener Sichtgegebenheiten, dh. nach unserer Auffassung der Sachlage an einer anderen Stelle unseres Bewußtseinsraumes liegt. Zu demselben Ergebnisse führt eine zweite nicht minder einfache Beobachtung. Wäre der ontologische Bestand unserer Vorstellungen innerhalb des Bewußtseinsraumes an derselben Stelle wie der unserer Sichtempfindungen, dann könnten die deutungserfüllten Vorstellungen in unserer Wahrnehmungswelt immer nur da auftreten, wo wir tatsächlich etwas erschauen, also nur in dem Ueberschneidungsbezirke unserer Sichtwirklichkeit. Denn der ganze Bestand der uns bewußtseinswirklich vorliegenden Sichtempfindungen wird in deutungserfüllte Wahrnehmungen umgewandelt. Prüfen wir unsere Vorstellungen aber, so finden wir, daß sie nicht auf den Bezirk unserer aktuellen Wahrnehmungen beschränkt sind, sondern daß wir sie auch an anderen jenseits unseres Sichtfeldes liegenden Stellen unterbringen, und daß sie an diesen Stellen eine Lage haben können, die von den Lageverhältnissen unseres jeweils aktuellen Sichtfeldes nicht nur tatsächlich abweicht sondern auch grundsätzlich ausgeschlossen bleibt. So kann ich mir zB. jetzt, während ich den Blick nach vorne richte, eine Person vorstellen, die hinter mir steht, oder einen Vogel, der über meinem Haupte schwebt, oder einen Bezirk des Erdinneren, der tief unter mir liegt. Dabei können sich mir alle diese Gebilde gleichzeitig mit meiner nach vorne gerichteten Wahrnehmung als frontal erblickt, dh. so darbieten, wie ich sie sehen würde, wenn ich ihnen mein Auge zugewandt hätte, und wie ich sie jetzt, da ich mein Auge nach vorne richte, nicht sehen kann. Diese Art des Vorstellens wäre nicht möglich, wenn der deutungslose Befund meiner Vorstellungen an den deutungslosen Befund meiner
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nach vorne gerichteten Sichtwahrnehmung gebunden bliebe. Denn es liegt, wie wir wissen, an der flächenhaften Gegebenheit unserer Sichtwahrnehmungen, daß wir niemals zwei in verschiedener Tiefenrichtung liegende Raumbestände gleichzeitig frontal erfassen können. Ich müßte daher, um die hinter mir stehende Person, den über mir schwebenden Vogel oder die unter mir liegende Erdschicht mit der Gegebenheit meiner Sichtwahrnehmungen frontal innezuwerden, das Antlitz entsprechend wenden. Täte ich dies aber, so ginge ich damit meines bisherigen Sichtfeldes verlustig. Dagegen brauche ich zu dem Zwecke einer bloßen Vorstellung solcher von meiner Blickrichtung abweichenden Raumlagen weder das Antlitz zu wenden noch mein bisheriges Sichtfeld aufzugeben. Ich kann mir vielmehr mit der Sichtwahrnehmung die eine und mit meiner Vorstellung gleichzeitig eine zweite in einer anderen Tiefenrichtung liegende Raumlage frontal vergegenwärtigen. Läge der bewußtseinswirkliche Bestand meiner Vorstellungen mit dem meiner Sichtwahrnehmungen in einem und demselben Felde, so könnte ich ein solches Nachzweifrontenblicken nicht vollziehen. Dagegen wird meine Fähigkeit hierzu erklärlich, wenn der ontologische Bestand meiner Vorstellungen von dem meiner Sichtwahrnehmungen unabhängig ist und beide Bestandgruppen, wie in der Großhirnrinde die ihnen zugrundeliegenden Erregungsgruppen, an verschiedenen Stellen unseres Bewußtseinsraümes auftreten. Die hier gegebene Beschreibung dieser Sachverhalte ist zunächst nur auf den Fall derjenigen Vorstellungen gemünzt, die wir in unserem gewöhnlichen Wachzustande erleben. Es gibt aber gewisse Fälle, in denen sich unsere Vorstellungen über ihr Normalniveau hinaus entwickeln und damit einen unseren Wahrnehmungen verwandten Charakter annehmen. Das kann man leicht an den hypnagogen Bildern beobachten, die sich vor dem Einschlummern einstellen, wenn unsere Sichtwahrnehmungen nicht nur dem Augengrau platzmachen sondern überhaupt zu verlöschen beginnen. Man erkennt dann, daß das, was ursprünglich einen gewöhnlichen Vorstellungscharakter trug, erst für Bruchteile einer Sekunde, nach und nach aber mit stabilerer Dauer in jene scheinbar echten Wahrnehmungen übergeht, die in dem vollendeten Schlummer für unsere Träume kennzeichnend sind. Nachalledem erweisen sich unsere gewöhnlichen Vorstellungen als Anfangsstadien zu solchen Gebilden, die auf einer weiteren Stufe ihrer Entwicklung den echten Wahrnehmungen gleichen. Und wenn dies nicht schon in unserem normalen Wachzustande der Fall zu sein pflegt, so liegt das offenbar daran, daß hier die Entwicklung der Vorstellungen durch das TJebergewicht der in dem Vordergrunde unseres
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Bewußtseins stehenden echten Wahrnehmungen gehemmt bleibt. Aus diesem Sachverhalte darf aber nicht ohne weiteres geschlossen werden, daß die Anfangsstadien unserer Vorstellungen mit den echten Wahrnehmungen in demselben Sinne wie die Endstadien verwandt seien. Denn dieser Schluß wäre nur dann zutreffend, wenn zwischen den Anfangs- und den Endstadien unserer Vorstellungen lediglich das Verhältnis einer kontinuierlichen Abstufung bestünde. In Wahrheit aber scheinen sich die Anfangs- von den Endstadien unserer Vorstellungen nicht nur durch eine solche Abstufung sondern auch durch den Ausfall gewisser für den wahrnehmungsartigen Charakter ihrer Endstadien maßgebender Faktoren zu unterscheiden. Die wahrnehmungsartige Entwicklungsstufe der Vorstellungen, wie sie uns allen aus dem Halbschlummer und dem Schlummer bekannt ist, kann in bestimmten Fällen auch im Wachzustande erreicht werden. Das gilt zB. von den Vorstellungsbildern der Eidetiker, von den echten Halluzinationen einzelner Geisteskranker und von manchen Phantasmen im hypnotischen Wachtraume. Aber auch gewisse Formen des Gespenstersehens und des sogenannten zweiten Gesichtes gehören hierher. Bei Fällen dieser Art werden Vorstellungen, die sich zu unechten Wahrnehmungen entwickelt haben, nach denselben Maßgaben wie die gewöhnlichen Vorstellungen in den Sichtraum unserer immanenten Außenwirklichkeit hineinverlegt. Das aber hat dann zur Folge, daß sie kraft ihres wahrnehmungsartigen Charakters nunmehr mit den in diesem Räume auftretenden echten Wahrnehmungsbeständen in Wettstreit geraten und die letzteren verschleiern oder verdecken. Angesichts dieses Sachverhaltes scheint das eine der für die bewußtseinsräumliche Abtrennung der gewöhnlichen Vorstellungen von uns geltend gemachten Argumente bei den zu unechten Wahrnehmungen entwickelten Vorstellungen in Frage gestellt zu sein. Denn während sich die gewöhnlichen Vorstellungen nirgends in dem Bereiche unserer Wahrnehmungen entdecken lassen, würde ein Eidetiker oder Visionär die Gegebenheit seiner Gesichte unmittelbar unter den Gegebenheiten seiner echten Wahrnehmungen selber zu finden glauben. Es könnte daher so scheinen, als ob in diesem Falle Wahrnehmungen und Vorstellungen auch bewußtseinsräumlich innerhalb eines und desselben Feldgebietes aufträten. Und doch ist das nicht der Fall. Vielmehr liegt hier ebenso wie in dem Falle unserer Hineinverlegung der gewöhnlichen Vorstellungen in den Sichtraum eine einfache gnoseologische Bestandverschiebung vor. Das zeigt sich zunächst an der Art des zwischen den echten und den unechten Wahrnehmungen waltenden Wettstreites. Denn
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die aus diesem Wettstreite hervorgehenden Verschleierungen und Verdeckungen der echten Wahrnehmungsbestände tragen den gleichen Charakter wie die Verschleierungen und Verdeckungen, die sich unter besonderen Versuchsbedingungen bei dem Wettstreite zwischen den in unserem ontologischen Bewußtseinsraume ebenfalls getrennten und nur durch gnoseologische Verschiebung miteinander vereinigten disparaten Netzhautbildern nachweisen lassen. Dagegen weist nichts darauf hin, daß die echten und die unechten Wahrnehmungen auch ontologisch, also schon in ihren bewußtseinsräumlichen Grundlagen miteinander in Wettstreit gerieten. In die gleiche Richtung führt uns der Umstand, daß bei den unechten Wahrnehmungen dieselben Abweichungen in der Raumtiefe vorkommen, die wir bei unseren gewöhnlichen Vorstellungen festgestellt haben. Derartige Abweichungen machen sich besonders bei der Raumlage der hypnagogen Bilder geltend. Ich persönlich zB. beobachte an mir öfter frontal erfaßte Schlummerbilder, die sich bei näherer Prüfung als parallel zu der Medianebene meines Schädels liegend erweisen. Aber auch im Traume begegnet es uns, daß wir neben oder hinter uns liegende Bestände von vorne zu erschauen glauben. Und besonders häufig sind Raumlokalisationen dieser Art in dem Falle des sogenannten zweiten Gesichtes oder krankhafter Halluzinationen. Es ist in diesen Fällen gewissermaßen so, als hätten die betreffenden Personen außer ihren nach vorne gerichteten Augen noch ein zweites Augenpaar, das nach der Seite oder nach hinten sieht. Ein solches Nachzweifrontensehen wäre auch hier wieder nicht möglich, wenn bewußtseinsräumlich die Gegebenheit und damit die Frontrichtung der unechten Wahrnehmungen an die der echten Wahrnehmungen gebunden bliebe. Dagegen erklärt es sich, wenn die Gegebenheiten beider bewußtseinsräumlich voneinander geschieden sind. Endlich sei darauf hingewiesen, daß auch die Eidetiker und Visionäre selber häufig eine Kenntnis davon haben, daß ihre Gesichte auf einem anderen bewußtseinswirklichen Fundamente beruhen als ihre echten Wahrnehmungen. Noch deutlicher zeigt uns dies eine Beobachtung der hypnagogen Bilder und der Träume. Bei diesen nämlich kann man sich unmittelbar die Tatsache vergegenwärtigen, daß der Raum der hier auftretenden Schlummergebilde nicht der Raum unserer gewöhnlichen Sichtwahrnehmungen sondern ein individualbegrifflich anderer Raum ist, der unserem Sichtraume nur gleicht. Das gilt zunächst von den hypnagogen Bildern. Denn das Hauptentwicklungsstadium dieser letzteren tritt vielfach erst dann ein, wenn unsere normale Sehtätigkeit erloschen ist, also zu einer Zeit, in der
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von einem eigentlichen Sichtraume ohnehin nicht mehr die Rede ist. Man gewinnt hier daher einen unmittelbaren Einblick in die Art und Weise, wie solche Schlummerbilder ein von unserem Sichtraume unabhängiges und zwar meist nach anderen Lageverhältnissen als dieser orientiertes eigenes Raumsystem entwickeln. Etwas Aehnliches aber gilt von unseren Träumen, die eine Fortsetzung der hypnagogen Bildvorstellungen sind. Denn auch unsere Träume haben ihren eigenen Raum und bedienen sich nicht etwa des gewöhnlichen Sichtraumes. Daher ist es, wenn man aus einem Traume erwacht, nicht so, daß sich nunmehr dieselbe Szenerie, die dem Traume angehörte, mit Sichtwahrnehmungen anfüllte. Sondern die Welt unserer erwachten Wahrnehmung schlägt gewissermaßen ihre eigene Bühne auf, und der Bühnenraum des Traumes, der nach anderen Lageverhältnissen orientiert ist, versinkt in den Hintergrund unseres Bewußtseins. Blicken wir auf diese Erörterungen zurück, so kommen wir zu dem Ergebnisse, daß in dem uns unbekannten ontologischen Räume des Bewußtseins die Gegebenheit aller Wahrnehmungen und Vorstellungen, also die Gesamtheit der inhaltlichen Nichtichgebilde eine andere Bestandordnung aufweist als in der uns bekannten Sphäre der Erfassung, in der jene ontologische Bestandordnung gnoseologisch verschoben ist. Angesichtsdessen haben wir uns nunmehr noch zu fragen, wie es in dieser Hinsicht mit den nichtinhaltlichen Ichgebilden des Bewußtseins, also mit unserem Ich und seinen Akten steht. Was zunächst das Ich selber betrifft, so wissen wir aus den Erörterungen des vorangehenden Kapitels, daß es der Repräsentant der gesamten Bewußtseinswirklichkeit ist, und daß zu dieser nicht nur die Akte sondern auch die ontologischen Grundlagen der Inhalte gehören. Jene sind Vorgänge oder Zustände, diese Beschaffenheiten der Bewußtseinswirklichkeit. Beide verhalten sich dementsprechend zu der letzteren und damit zu unserem Ich wie die Akzidentien zu ihrer Substanz. Aber weder unsere Akte noch unsere Inhalte durchdringen als Akzidentien den jeweiligen Gesamtbestand der Bewußtseinswirklichkeit. Sie finden vielmehr immer nur in Teilgebieten dieser letzteren statt, was schon aus der Verschiedenheit ihrer bewußtseinsräumlichen Lage hervorgeht. Zu diesen Teilgebieten verhält sich unser Ich als der Repräsentant der Gesamtbewußtseinswirklichkeit wie das Umfassende zu dem Umfaßten. Es ist demzufolge in jedem unserer Akte und Inhalte gegenwärtig und überragt sie alle. Wenn man daher den Begriff einer Bestandordnung auch auf das Verhältnis zwischen dem Ich und seinen einzelnen Bewußtseinsgebilden anwenden wollte, so wäre in dieser Ordnung das Ich die den ganzen Bewußtseinsraum
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erfüllende Gesamtsubstanz, während die in dem Bewußtseinsraume verteilten Einzelgebilde als Akzidentien von Substanzteilen aufträten. Dieser transzendenzontologische Sachverhalt bleibt uns aber, wie alle bewußtseinsräumlichen Bezugsverhältnisse, in der Immanenzontologie des Alltagslebens verborgen. Hier scheint vielmehr eine andere Situation zu walten, deren Wesen wir in dem vorangehenden Kapitel dargelegt haben. Denn da unsere Inhalte in ihrer bewußten Erfassung für die immanenzontologische Repräsentation von Fremdbeständen aufgebraucht sind, diese aber von uns als Nichtichbestände gemeint werden, so bemächtigt sich unser der Eindruck, als wäre unser Ich in seinen Inhalten nicht wie die Substanz in ihren Akzidentien gegenwärtig, sondern als bestünde zwischen beiden eine durch eine gnoseologische Relation überbrückte Trennung. Dagegen betrachten wir die Akte als unmittelbare Vorgänge oder Zustände unserer Eigenwirklichkeit selbst. Hierdurch gewinnt es den Anschein, als wäre unser Ich nur in diesen seinen Akten gegenwärtig, und als stünde es mit ihnen als den spezifischen Ichgebilden den vermeintlich von ihm getrennten Inhalten als Nichtichgebilden fremd gegenüber. Unsere Trennung zwischen dem Ich und seinen Inhalten schließt also eine entsprechende Trennung auch zwischen unseren Akten und diesen Inhalten ein. Beide Trennungen fallen für uns miteinander zusammen. Aber während die erstere Trennung im Hinblicke auf die Bestandordnung unseres Bewußtseinsraumes zu unrecht besteht, da in diesem das Ich selber auch in der ontologischen Grundlage unserer Inhalte gegenwärtig ist, dürfte die zweite Trennung bewußtseinsräumlich zu recht bestehen. Denn wir haben Anlaß zu der Vermutung, daß in unserem Bewußtseinsraume die Aktvorgänge an anderen Stellen auftreten als die inhaltlichen Bestandkomplexe. Wären nämlich beide an einer und derselben bewußtseinsräumlichen Stelle, dann müßten sich die Aktvorgänge in der bloßen Gegebenheit unserer Inhalte auffinden lassen. Und das ist nicht der Fall. Wir haben daher anzunehmen, daß die Akte und die ontologischen Grundlagen unserer Inhalte als individualbegrifflich voneinander getrennte Gebilde auf verschiedene Bezirke unseres Bewußtseinsraumes verteilt sind. Der uns aus dem täglichen Leben geläufige Eindruck, daß unsere Akte von unseren Wahrnehmungen und Vorstellungen getrennt vor sich gehen, wäre demnach auch bewußtseinsräumlich gerechtfertigt. Aber die Richtigkeit dieses negativen Eindruckes wird dadurch beeinträchtigt, daß wir in dem täglichen Leben unsere positive Lokalisation der Akte nicht an ihrer bewußtseinsräumlichen Eigenlage sondern an der immanenzräumlichen Lage unseres Leibes orientieren. Denn
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wenn wir aufmerken, nachdenken, fürchten, hoffen, wollen usw., so pflegen wir wie unser Ich selber so auch diese Erlebnisse als spezifische Ichgebilde in das Sichtbild unseres Körpers und zwar speziell in seine Schädelgegend zu verlegen. Diese Bestandordnung ist, wie sich bald zeigen wird, in dem Rahmen der repräsentativen Aufgaben unserer Wahrnehmungswelt sinnvoll. Aber sie stimmt, wie aus den vorangegangenen Erörterungen hervorgeht, mit der entsprechenden Bestandordnung in dem ontologischen Räume unseres Bewußtseins nicht überein. Wir dürfen vielmehr annehmen, daß die Lageverhältnisse in diesem letzteren wie im Hinblicke auf unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen so auch im Hinblicke auf unsere Akte durch die entsprechenden Lageverhältnisse unserer Großhirnrinde bestimmt sind. In dieser aber sind die für unsere Akterlebnisse in Frage kommenden Zentren relativ zu denen der Wahrnehmungen und Vorstellungen nicht so gelegen wie das Sichtbild unseres Leibes relativ zu seinen peripheren und ultraperipheren Beständen. Wenn also die bewußtseinsräumliche Bestandordnung auch in dieser Hinsicht der Bestandordnung unserer Großhirnrinde folgt, so beruht die immanenzontologische Lokalisation der Akte in unserem Sichtbilde des Schädels abermals auf einer gnoseologischen Verschiebung der bewußtseinsräumlichen Bestandordnung. Das Phänomen der gnoseologischen Bestandverschiebung ist nachalledem, das lehrt uns ein Rückblick auf diese Erörterungen, kein vereinzeltes Vorkommnis sondern erstreckt sich wie auf unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen so auf unser Ich und seine Akte, also auf alle irgendwie von uns erfaßten Bewußtseinsbestände ohne Ausnahme. Das Wesen dieser Bestandverschiebung aber liegt darin, daß sie den Maßgaben unserer peripheren und ultraperipheren Wahrnehmungsdeutung entsprechend alle Bewußtseinsbestände schlechthin nnd zwar in einer jeweils einfachen Ausfertigung in den unserer Immanenzontologie allein zur Verfügung stehenden Raum der Sichtwirklichkeit hineinverlegt. Damit behandelt sie diese Bestände so, als hätten sie keinen eigenen sondern nur diesen letzteren Raum, als wären sie uns durchgehends einfach gegeben, und als lägen sie alle, Ichgebilde sowohl wie Nichtichgebilde, innerhalb unserer Sichtgegebenheiten, obwohl ontologisch keine von diesen Voraussetzungen zutrifft. Nur die so gnoseologisch verschobene Bestandordnung kommt praktisch zu unserer Kenntnis. Von der in unserem ontologischen Bewußtseinsraume herrschenden Ordnung der Bestände dagegen wissen wir nichts. Sie ist für uns wie der Bewußtseinsraum selber so gut, als wäre sie nicht vorhanden. Denn sie ist durch unsere immanenz-
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ontologische Bestandordnung verdrängt worden. Hiermit charakterisiert sich die gnoseologische Bestandverschiebung als eine besondere Ausprägung des in dem vorangehenden Kapitel von uns behandelten allgemeineren Phänomens der gnoseologischen Verdrängung. Gnoseologisch verdrängt wird das, was uns ontologisch vorliegt, was wir aber nicht meinen. Das ist in diesem Falle die Bestandordnung in unserem Bewußtseinsraume. Und an die Stelle des Verdrängten tritt etwas anderes, was uns ontologisch nicht vorliegt, was wir aber in Vertretung der uns tatsächlich vorliegenden Bestände meinen. Das ist in unserem Falle die Bestandordnung der deutungserfüllten Wahrnehmungswelt. Die gnoseologische Bestandverschiebung führt also kein neues Prinzip in unsere Untersuchungen ein, sondern stellt nur eine neue Anwendung des uns schon bekannten Prinzips der gnoseologischen Verdrängung dar. Die mit unseren Wahrnehmungen, Vorstellungen und Akten unmittelbar verknüpften Erregungen der Großhirnrinde spielen sich nicht nur nicht an einer und derselben Stelle dieser letzteren ab, sondern sie grenzen auch nicht alle unmittelbar aneinander. Vielmehr sind sie in der Regel mehr oder minder weit voneinander entfernt. Zwischen unseren akustischen und unseren visuellen Zentren zB. liegen noch andere Teile der Großhirnrinde usw. Folgt die Bestandordnung unseres ontologischen Bewußtseinsraumes auch hierin den Lageverhältnissen der Großhirnrinde, so haben wir anzunehmen, daß in jenem Räume zwischen den einzelnen von uns erfaßten Bewußtseinsbeständen ebenfalls Lücken bestehen. Unsere Akte und unsere Inhalte sowie die artverschiedenen Inhalte untereinander wären sich dann nicht unmittelbar benachbart, sondern zwischen ihnen lägen gewisse Entfernungen. Nehmen wir einmal an, daß es sich so verhält. Dann griffe unsere Erlebniseinheit kraft ihrer früher von uns geschilderten Ueberbrückungsfunktionen über nicht von ihr erfaßte und somit für sie leere Strecken des Bewußtseinsraumes hinweg. Ein solches Verhalten könnte auf den ersten Blick seltsam erscheinen. Aber es würde zu der sonstigen Arbeitsweise unserer Erlebniseinheit stimmen. Denn zu dieser Arbeitsweise gehört es, daß in die Sphäre unserer Erfassung immer nur dasjenige gelangt, was irgendwie für uns wichtig ist und daher zu einem Gegenstande unserer Aufmerksamkeit wird. Alles andere tritt für uns mehr oder minder in den Hintergrund des Bewußtseins und kann unter Umständen aus der Sphäre unserer Erfassung und zuletzt auch aus der der Darbietung verschwinden. Wo solche aus der Sphäre der Darbietung
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verschwundenen Bestände bewußtseinsräumlich zwischen den von uns erfaßten Beständen liegen, da findet das hier beschriebene Hinübergreifen unserer Erlebniseinheit über die so entstandenen leeren Strecken des Bewußtseinsraumes statt. Die Anfänge eines solchen Vorganges können wir uns an einem schon früher von uns benutzten Beispiele vergegenwärtigen. In dem rechten Randgebiete unseres Sichtfeldes hänge ein Porträt, in dem linken seine Kopie, und wir mögen, ganz gleich ob mit einem oder mit beiden Augen, jedoch ohne diese zu bewegen, die beiden Bilder und zwar nur sie aufmerksam betrachten. Dann können wir feststellen, wie das zwischen ihnen liegende Feld, wiewohl es in unserer Darbietung erhalten bleibt, für unsere Erfassung zu verblassen anfängt. Denkt man sich diesen Prozeß des Verblassens fortgesetzt, so würde er damit enden, daß jenes Zwischenfeld erst aus der Sphäre unserer Erfassung und dann auch aus der unserer Darbietung verschwände. Damit aber wäre eine Situation erreicht, die mit der soeben von uns charakterisierten Situation in dem ontologischen Räume unseres Bewußtseins verwandt ist. Denn es wären uns dann nur noch jene beiden Bilder selber dargeboten, und nur sie würden wir inne. Dagegen wäre das zwischen ihnen liegende Raumfeld für uns so gut, als wäre es nicht da. In einer ähnlichen Weise sind für uns die in unserem Bewußtseinsraume auch sonst zwischen den von uns erfaßten Gebilden bestehenden Lücken so gut wie nicht vorhanden. Sie gehören zu den uns verborgenen Bestandschichten des Bewußtseins. Aber sie treten nicht in die Sphäre unserer Darbietung geschweige denn in die unserer Erfassung ein und zwar deshalb nicht, weil sie nichts enthalten, was für die Gnoseologie unseres Bewußtseins von Belang wäre und zu einem Gegenstande seiner Aufmerksamkeit werden könnte. Man kann das hier geschilderte Hinweggreifen der Erlebniseinheit über leere Raumstrecken mit dem früher von uns beschriebenen Hinweggreifen der psychischen Kausalität über leere Zeitstrecken unseres Bewußtseins vergleichen. Denn wie für uns dieses letztere in seinem Sukzessivschnitte zeitweise, etwa während des Tiefschlafes oder bei einer Betäubung ausfällt, die psychische Kausalität aber nach dem Erwachen über die ausgefallene bewußtseinsleere Zeitstrecke hinweg, gleich als wäre sie nicht abgelaufen, ?,uf die früher von uns erlebten Bewußtseinsphasen zurückgreift, so fallen für uns in dem Simultanschnitte des Bewußtseins gewisse Raumstrecken aus, über die unsere Erlebniseinheit, gleich als wären sie nicht vorhanden, ebenfalls hinweggreift. In beiden Fällen bestehen zwischen den von uns erfaßten sukzessiven Phasen oder simultanen Beständen Diskontinuitäten, deren
Die bewußtseinsräumlichen Lücken und ihre Ueberbriickung
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Zwischenglieder in der Sphäre unserer Erfassung nicht entdeckbar sind. Verhält es sich so, dann gibt es einen kontinuierlichen Zusammenhang unseres Bewußtseins, wenn überhaupt, dann nur in seinen uns verborgenen Tiefenschichten, während die Gesamtheit seiner von uns erfaßten Phasen und Bestände aus zeitlich wie räumlich voneinander getrennten Fragmenten besteht, die durch die psychische Kausalität einerseits und die Erlebniseinheit anderseits überbrückt werden. Wären wir für unsere Einschätzung der Bewußtseinssystematik auf die Sphäre unserer Erfassung allein angewiesen, dann wüßten wir von diesen Ueberbrückungen nichts. Denn da für unsere Erfassung jene leeren Zeit- und Raumstrecken ausfallen, so bleibt uns auch deren Ueberbrückung verborgen. Die Diskontinuitäten der Bewußtseinserlebnisse kämen daher als solche nicht zu unserer Kenntnis. Das trifft für die in unserer Erfassung nicht vorhandenen Raumlücken des Bewußtseins ohne Vorbehalt zu. Wir wissen von ihnen nichts und wüßten auch dann nichts von ihnen, wenn wir einen unmittelbaren Einblick in den ontologischen Bestand des Bewußtseins hätten. Und es trifft mit einem Vorbehalte auch für die zeitlichen Diskontinuitäten unserer Erlebnisse zu. Erwachen wir aus tiefem Schlafe oder aus einer Betäubung, so ist die verstrichene Frist, insoweit das Bewußtsein ausgefallen war, für uns so, als wäre sie nicht dagewesen. In beiden Fällen gibt sich also wie dort räumlich so hier zeitlich unsere unmittelbare Erfassung des Bewußtseins trotz ihrer Lücken den Anschein der Kontinuität. In der Praxis des Alltages aber nehmen wir zu diesem Anscheine in dem zweiten Falle, und darauf bezieht sich der für ihn geltende Vorbehalt, auf eine andere Weise Stellung als in dem ersten. Denn während uns die räumlichen Lücken unserer Bewußtseinserfassung dauernd verborgen bleiben, da wir keine Möglichkeit haben, sie festzustellen, pflegen wir uns über ihre zeitlichen Lücken auch in dem Alltagsleben klar zu werden. In diesem nämlich messen wir, wie früher dargelegt worden ist, den Sukzessivschnitt des Bewußtseins nicht an der lückenhaften und verkürzten Zeit unserer Erfassung sondern mit Hilfe der Uhr oder sonstiger Merkmale an der lückenlosen und unverkürzten Zeit der Außenwirklichkeit. Daher unterscheiden wir hier zwischen einer bruchstückhaften subjektiven Zeit, die wir erleben, und einer vollständigen objektiven Zeit, die wir zum Teile nicht erleben. Dagegen kennen wir von dem Simultanschnitte unseres Bewußtseins, da uns hier ein außenwirklicher Maßstab fehlt, nur seine bruchstückhaft von uns erlebte subjektive, nicht aber seine vollständige und nur teilweise von uns erlebte objektive Erstreckung. 80
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Das psychophysiscbe Problem in der Transzendenzontologie
Unsere bisherigen Erörterungen haben zu dem Ergebnisse geführt, daß der uns verborgenen ontologischen Eigenwirklichkeit des Bewußtseins ein gegen die Artverschiedenheiten seiner Bestände indifferenter dreidimensionaler Raum zukommt, in dem eine von der uns vertrauten Bewußtseinsordnung abweichende und mit den Lageverhältnissen der Großhirnrinde verwandte Bestandordnung herrscht. Von diesem Räume unseres Bewußtseins behauptet die Transzendenzontologie, daß er einen Teilbezirk in dem Räume der transzendenten Außenwirklichkeit bildet. Oder anders gewendet: sie behauptet, daß der Heimatlosigkeit unseres Bewußtseins in der immanenten Wahrnehmungswelt, zu der wir als ontologische Wesen nicht gehören können, seine Beheimatung in der transzendenten Außenwirklichkeit gegenüberstehe, und daß wir zu dieser gehören. Ist das der Fall, so hat unser Bewußtsein in dem Räume der transzendenten Außenwirklichkeit einen bestimmten Ort. Diese transzendenzontologische Auffassung des Sachverhaltes steht im Gegensatze zu einer anderen immanenzontologisch orientierten Lehre» nach der unser Bewußtsein ortlos ist. Die letztere Lehre stellt zunächst eine folgerichtige Weiterbildung der Lehre von der Unräumlichkeit des Bewußtseins dar. Denn wenn unser'Bewußtsein unräumlich ist, kann es innerhalb eines Raumes auch keinen Ort haben, da alles, was einen solchen Ort hat, eben damit selbst raumhaft ist. Sodann aber kann diese Lehre von ihrem immanenzontologischen Standpunkte aus auch den Umstand für sich in Anspruch nehmen, daß unser Bewußtsein in dem Räume der Wahrnehmungswelt tatsächlich keinen Ort hat sondern als ein in ihm heimatloses Gebilde außerhalb dieses Raumes steht. Wäre also, wie es die Immanenzontologie voraussetzt, der Raum unserer Wahrnehmungswelt der einzig vorhandene Raum, dann wäre unser Bewußtsein schlechthin ortlos. Es wäre nirgends. Und es wäre, wenn alles Wirkliche irgendwo ist, überhaupt nicht wirklich. Diese letzteren Folgerungen aber stehen in einem offenkundigen Gegensatze zu unserer Erfahrung. Oder vielmehr unsere Erfahrung tritt hier wie überall, wo sie kraft falscher Urteilsmeinung gnoseologische und ontologische Faktoren auf eine und dieselbe Ebene bringen will, zu sich selber in Widerspruch. Denn obwohl unser Bewußtsein in dem Räume der Wahrnehmungswelt ortlos und nirgends ist und daher eigentlich überhaupt nicht da sein dürfte, tritt es doch stets so auf, als hätte es in jenem Räume einen Ort, und als wäre dieser Ort unser Sichtbild des Schädels. So geht, wenn wir ein Theater besuchen, auch in unserer Wahrnehmungswelt nicht nur der Leib dorthin, sondern
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unser Bewußtsein geht mit. Sonst blieben wir zuhause. Und wenn wir in dem Theater sind, so spielt sich alles, was wir dort sehen, hören, vorstellen, denken, wollen usw., so ab, als wäre unser Bewußtsein an dem Platze, an dem wir unseren Leib und speziell unseren Kopf erblicken. Das verhält sich so. Und doch dürfte es sich nicht so verhalten, da unser Bewußtsein in der Wahrnehmungswelt weder vorhanden ist noch auch in ihr vorhanden sein kann. Die Transzendenzontologie löst diesen Widerspruch, indem sie dem Bewußtsein einen Ort zwar nicht innerhalb der Wahrnehmungswelt zuschreibt, von der es vielmehr ausgeschlossen bleibt, wohl aber innerhalb der transzendenten Außenwirklichkeit, die durch die Wahrnehmungswelt repräsentiert wird. Hierbei ist hervorzuheben, daß ein solcher Ort nur dem ontologischen Bestände unseres Bewußtseins zukommt und nicht seinem gnoseologischen Felde. Das geht aus dem gegenstandstheoretischen Verhältnisse dieser letzteren beiden Größen zu der transzendenten Außenwirklichkeit hervor. Denn erstens hat nur der ontologische Bestand und nicht das gnoseologische Feld unseres Bewußtseins denselben Wirklichkeitscharakter wie die transzendente Außenwelt. Zweitens paßt kraft seiner räumlichen Beschaffenheit nur jener Bestand, nicht aber dieses Feld in den transzendenten Wirklichkeitsraum. Und drittens pflegen wir auch nur unseren ontologischen Bestand, insoweit wir ihn nämlich als solchen erkennen, dh. in seinen bewußtheitlich von uns erfaßten Ichbeständen mit uns selber zu identifizieren. Dagegen gilt uns unser gnoseologisches Feld, zu dem auch die Deutungserfüllungen unserer Inhalte gehören, als Bereich der von uns zwar gemeinten, aber zu uns selbst nicht gehörenden Fremdbestände. Wenn daher die Transzendenzontologie von einer örtlichen Einbettung unseres Bewußtseins in dem Räume der transzendenten Außenwirklichkeit spricht, so bezieht sie dies nur auf den ontologischen Bestand unseres Bewußtseins und nicht auf sein gnoseologisches Meinungsfeld. Versuchte man gleichwohl, auch dieses Meinungsfeld in die transzendente Außenwirklichkeit einzubetten, so käme man zu Widersinnigkeiten. Das gilt sowohl von unseren Gedanken an abwesende Gegenstände als auch von unseren Deutungserfüllungen der scheinbar anwesenden Inhalte. So hat es keinen Sinn, Walther von der Vogelweide oder die Insel Ceylon, Goethes Faust oder eine algebraische Gleichung, wenn wir an solche Gebilde denken, in die transzendente Oertlichkeit unseres Bewußtseins miteinzubeziehen. Denn sie sind als das, als was wir sie meinen, teils zeitlich teils räumlich teils gegenstandstheoretisch an anderen Orten als wir selbst. Ebensowenig sinn80*
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voll aber wäre es, wollte man mit unserem Bewußtsein nicht nur das deutungslos Gegebene sondern auch unsere Deutungserfüllungen seiner Inhalte in die transzendente Außenwirklichkeit einbetten. Denn solche Deutungserfüllungen sind, wie wir früher dargelegt haben, von dem ontologischen Bestände unseres Bewußtseins abermals abwesend. Daher käme man bei dem Versuche ihrer Einbettung in die transzendente Außenwirklichkeit allenthalben zu Ungereimtheiten. So müßte man dann zB. im Hinblicke auf unsere Wahrnehmungen annehmen, daß unser Bewußtsein in der transzendenten Außenwelt seinen Umfang wechselte, daß es sich weit ausdehnte, wenn wir zu dem Sternenhimmel emporschauen, und wieder zusammenschrumpfte, wenn wir unseren Blick in das Zimmer zurücklenken. Oder man müßte, um auf ein früheres Beispiel zurückzugreifen, im Hinblicke auf unser Vorstellungsleben annehmen, daß sich, wenn hundert Soldaten in einer Scheune schlafen und jeder von ihnen eine andere Traumwelt hat, diese hundert Welten wechselseitig ihren Raum streitig machten. Kurzum man käme von einer Schwierigkeit in die andere, wollte man nicht nur den ontologischen Bestand unseres Bewußtseins sondern auch sein gnoseologisches Feld in die transzendente Außenwirklichkeit einbetten. Alle diese Schwierigkeiten fallen fort, sobald man sich bei einer solchen Einbettung sinngemäß auf den ontologischen Bestand des Bewußtseins beschränkt. Denn dieser Bestand ist im Unterschiede zu unserem gnoseologischen Felde sowohl eine in Zeit und Raum örtlich fixierte als auch eine nach ihrem Umfange konstante Größe. Er ist örtlich fixiert. Denn wohin auch meine Gedanken schweifen mögen, ich der Denkende bin jetzt und hier. Und er ist seinem Umfange nach konstant. Denn ob ich nun in die Weiten des Sternenhimmels schaue oder mich in der Enge meines Zimmers umblicke, die ontologische Gegebenheit meiner Sichtempfindungen bleibt sich, wenn unsere früheren Erörterungen über die letzteren zutreffen, gleich groß. Diese Gegebenheit aber ist, wie wir bald sehen werden, fast stets wesentlich kleiner als das Außenwirklichkeitsfeld, das wir immanenzontologisch aus ihr zu erdeuten glauben. Denn sie umfaßt als Teilstück der transzendenten Außenwirklichkeit nur wenige Quadratzentimeter. Daher können innerhalb dieser letzteren ihrem ontologischen Bestände nach auch die hundert Traumwelten der schlafenden Soldaten, die sich in ihrem gnoseologischen Ausbau gegenseitig stören würden, in derselben Scheune zusammenbestehen. Mit anderen Worten: alle Schwierigkeiten, die einer transzendenzräumlichen Einbettung unseres gnoseologischen Bewußtseins im Wege stehen, ver-
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schwinden, wenn man bei dieser Einbettung nur unseren ontologischen Bewußtseinsbestand in Rechnung setzt. Die Transzendenzontologie denkt sich nun diese Einbettung ao, daß der ontologische Bestand des Bewußtseins seinen Ort in der transzendenten Wirklichkeit unseres Schädels hat. Dort ist nach ihrer Auffassung das Ich und mit ihm die Gesamtheit der Akte wie das deutungslos Gegebene der Wahrnehmungen und Vorstellungen, über dem sich unsere immanente Außenwelt erhebt. Dieses Ergebnis kann nicht aus einem unmittelbaren Einblicke in die transzendenzräumlichen Verhältnisse selber gewonnen werden. Es läßt sich aber mittelbar aus der immanenten Repräsentation dieser Verhältnisse erschließen. Daß wir unseren Ort in der transzendenten Außenwirklichkeit nicht unmittelbar erschauen können, ist offensichtlich. Kennen wir doch durch Schau nicht einmal den ontologischen Eigenbestand unseres Bewußtseins. Aber auch wenn wir den letzteren erschauten, bliebe uns seine örtliche Lage verborgen. Denn um diese zu gewahren, müßten wir einen Einblick nicht nur in den uns transzendenten Raum des Bewußtseins als solchen sondern auch in den seiner Umgebung haben. Und das ist ausgeschlossen, da sich unsere ontologische Systematik, wie noch zu zeigen sein wird, nur innerhalb der Grenzen des Bewußtseinsraumes selber abspielt. Wären wir daher auf den uns unmittelbar vorliegenden ontologischen Befund dieses letzteren angewiesen, so könnten wir niemals wissen, wo wir sind. Tatsächlich aber leben wir in einer anderen Situation. Denn abgesehen von der bewußtheitlichen Erfassung der Ichgebilde kennen wir unsere ontologische Systematik nicht. Stattdessen kennen wir die Systematik der gnoseologisch von uns gemeinten Fremdbestände und zwar imbesonderen die unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen. Die Systematik der letzteren aber stellt unseren Leib mit seiner Umgebung dar. Sie repräsentiert somit diejenigen Bezugsverhältnisse des transzendenten Außenwirklichkeitsraumes, in denen sich unser Bewußtsein aktiv und passiv als außenkausalen Faktor kundgibt. Aus der immanenten Beobachtung dieser seiner Kundgaben innerhalb unserer Wahrnehmungswelt aber können wir mittelbar den Ort des Bewußtseins bestimmen, indem wir annehmen, daß es wie jeder andere außenkausale Faktor ontologisch dort ist, wo es wirkt und Wirkungen empfängt. Das geschieht, wie der Verlauf der nervösen Funktionen unseres Körpers zeigt, in gewissen Rindenbezirken unseres Großgehirns, die eben damit die Rolle von psychophysischen Zentren spielen. In diesen Bezirken also wäre der Ort unseres Bewußtseins als eines außenkausalen Faktors zu suchen. Dem entspricht es, daß die
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Immanenzontologie des täglichen Lebens den Ort der Ichbestände als der eigentlichen Vertreter des Bewußtseins in unserem Sichtbilde des Schädels ansetzt. Diese immanenzontologische Lokalisation der Ichbestände ist das repräsentative Vorbild der transzendenzontologischen Lokalisation des gesamten Bewußtseins. Die Lage, in der wir uns mit unserer immanenten Wahrnehmungswelt befinden, steht nachalledem zu der Lage eines Wesens, das auf die Schau seines eigenen Bewußtseins angewiesen wäre, in dem Verhältnisse der Umkehrung. Denn jenes Wesen erfaßte zwar unmittelbar den ontologischen Bestand seines Bewußtseins. Aber es wüßte weder mittelbar noch unmittelbar etwas von seiner Umwelt. Wir dagegen erfassen in mittelbarer Wahrnehmungsrepräsentation diese Umwelt, wissen aber unmittelbar im Hinblicke auf unsere Inhalte und Gegenstände nichts von dem ontologischen Bestände des Bewußtseins. Kurz jenes Wesen kennte das Bewußtsein aber nicht die Umwelt. Wir kennen die Umwelt aber nicht das Bewußtsein. Dabei erweist sich die letztere Situation als die vorteilhaftere. Denn ein an die Ontologie des Bewußtseins gebundenes Wesen kann die ihm fehlende Kenntnis seiner Umwelt nicht ersetzen. Es könnte sie zwar durch Deutungserfüllungen indirekt ermitteln. Aber dazu bedürfte es der Gnoseologie, die ihm, solange es auf die Ontologie seines Bewußtseins beschränkt ist, versagt bleibt. Dagegen kann ein Wesen, das sich wie wir seine Umwelt gnoseologisch erdeutet, dabei aber einer Kenntnis seiner ontologischen Eigensystematik verlustig geht, diesen Verlust auch abgesehen von der ihm noch verbleibenden bewußtheitlichen Erfassung seiner Ichgebilde dadurch wieder ausgleichen, daß es seinen Ort in der transzendenten Außenwirklichkeit aus den ihm immanent vorliegenden Raumverhältnissen erschließt. In dieser Lage befinden wir uns mit unserer Wahrnehmungswelt. Wir schließen aus dem Verhalten der immanenten Repräsentation des Leibes, daß unser Bewußtsein in ihm wirksam sei, und verlegen dementsprechend unsere Ichbestände in das Sichtbild des Schädels. Nach der Auffassung der Transzendenzontologie, die unser Bewußtsein ihrerseits in die transzendente Wirklichkeit des Schädels verlegt, hat diese unsere immanenzontologische Selbstlokalisation den Wert einer durch die transzendenten Verhältnisse begründeten Fiktion. Dh. wir behandeln nach dieser Auffassung den immanenten Sachverhalt so, als wäre er zugleich der transzendente Sachverhalt, welcher letztere in mancher Hinsicht mit dem immanenten verwandt ist, in an* derer Hinsicht aber von ihm abweicht.
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An dieses Verfahren sind wir infolge des vollendeten undunhemmbaren Erscheinungscharakters unserer Wahrnehmungswelt mit psychologischer Zwangsläufigkeit gebunden. Und praktisch bewährt es sich dank seiner transzendenzontologischen Begründung. Aber theoretisch ist es wie jedes fiktive Verfahren falsch und zwar in unserem Falle nach doppelter Hinsicht. Denn erstens gehört unser Bewußtsein nicht zu der immanenten sondern zu der transzendenten Außenwirklichkeit. Und zweitens liegen in der letzteren nicht nur unsere Ichgebilde sondern alle ontologischen Bewußtseinsbestände überhaupt, also auch die deutungslosen Gegebenheiten unserer Wahrnehmungen und Vorstellungen, die wir auf die Umgebung des Leibes deuten, innerhalb unseres Schädels. Gleichwohl ist unsere immanenzontologische Lokalisation des Bewußtseins auch im Hinblicke auf diese ihre beiden Fehler sinnvoll. Denn da die immanente Außenwelt von uns zwangsläufig mit der transzendenten identifiziert wird, so hat unsere Einstellung des Bewußtseins in die erstere den Sinn eines Hinweises auf sein Vorhandensein in der letzteren. Und was unsere Hinausverlegung der deutungserfüllten Wahrnehmungen und Vorstellungen in die Umwelt betrifft, so hat sie zwar keine Berechtigung im Hinblicke auf das deutungslos Gegebene unserer Inhalte, dessen wahrer Ort der Schädel ist. Wohl aber ist sie sinnvoll im Hinblicke auf diejenigen Außenwirklichkeitsbestände, die durch unsere Erdeutung solcher Inhalte repräsentiert werden sollen. Denn diese Außenwirklichkeitsbestände gehören nicht nur in der immanenten sondern auch in der transzendenten Welt zu der Umgebung unseres Schädels. Auf diesen Sachverhalten beruht die praktische Bewährung unserer immanenzontologischen Selbstlokalisation. Denn da das Bewußtsein innerhalb der uns unzugänglichen transzendenten Außenwirklichkeit in unserem Schädel ist und von ihm aus den Leib dirigiert, so verhält sich innerhalb der uns allein zugänglichen Wahrnehmungswelt die Sichtrepräsentation dieses Leibes so, als wirkte das Bewußtsein in dem Sichtbilde des Schädels. Daher ist für uns alles geklärt, sobald wir es dort einschalten, und wird alles rätselhaft, sobald wir es dort ausschalten. Und aus einem entsprechenden Grunde bewährt sich unsere Hinausverlegung der Wahrnehmungen in die Umwelt. Denn da das deutungslos Gegebene dieser letzteren nicht durch unser Bewußtsein sondern durch unsere Umgebung in der uns unzugänglichen transzendenten Außenwirklichkeit bestimmt wird, so ist das Verhalten unserer deutungserfüllten Wahrnehmnngen nur dann für uns erklärlich,
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wenn wir sie in der uns allein zugänglichen immanenten Welt für das halten, was in der transzendenten Welt ihre Ursachen sind, sie also mit den Umgebungsbeständen des Schädels identifizieren. Nach ihren hier beschriebenen transzendenzontologischen Bezugsverhältnissen ist unsere fiktive Selbstlokalisation mit der früher von uns geschilderten immanenzontologischen Lokalisation der Kräfte verwandt. In beiden Fällen werden Bestände, die in der transzendenten Welt vorhanden sind, und deren Auswirkungen sich auch in der immanenten Welt zeigen, die aber selber in dieser letzteren keine Gegenwerte haben, dennoch als in der immanenten Welt an den ihnen zukommenden Stellen vorhanden gedacht. In diesem Sinne spielt das Bewußtsein die Holle einer Kraft, die als ein uns unbekanntes Agens in der transzendenten Wirklichkeit unseres Schädels beheimatet ist, und für die wir dann ein entsprechendes uns unzugängliches Wahrnehmungsäquivalent in dem Sichtbilde des Schädels ansetzen. Auf der anderen Seite aber ist unser Bewußtsein in seiner immanenzontologischen Stellung von den außenwirklichen Kräften unterschieden und zwar nach zwei Hinsichten. Nämlich erstens im Hinblicke auf seine Gnoseologie. Denn während die außenwirklichen Kräfte auf ihren ontologischen Bezirk in der transzendenten Welt beschränkt bleiben, schweift unser Bewußtsein gnoseologisch in dem reinen Denken aber auch in den Deutungserfüllungen über seine ontologischen Grenzen hinaus. Und zweitens im Hinblicke auf seine Gegenwart. Denn während jene Kräfte nach ihrer Eigenwirklichkeit ontologisch von uns abwesend sind, ist die Eigenwirklichkeit des Bewußtseins, auch wo wir sie als solche nicht zu erfassen vermögen, in uns unmittelbar anwesend. Aus diesen beiden Besonderheiten unserer immanenzontologischen Selbstlokalisation entspringen zwei Probleme: das der Ejektion und der Introjektion des Bewußtseins und das der falschen Verlängerung des gnoseologischen Wahrnehmungsraumes in den ontologischen Bewußtseinsraum. Wir wenden uns zunächst zu dem Probleme der Ejektion und der Introjektion. Unter Ejektion versteht man die Tatsache, daß unser Bewußtsein, obwohl es innerhalb des Schädels gelegen ist, seine deutungserfüllten Inhalte nicht in diesem letzteren sucht sondern in seiner peripheren und ultraperipheren Umwelt. Es wirft sie gewissermaßen aus dem Schädel in die Umgebung hinaus. Umgekehrt versteht man anter Introjektion die Tatsache, daß wir unser Bewußtsein trotz der Ejektion nicht in der Umgebung des Schädels suchen sondern in diesem selber. Wir werfen also die von uns in die Umwelt eji-
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zierten Bewußtseinsinhalte aus dieser letzteren in den Schädel wieder hinein. Nachalledem ist die Lokalisation unseres Bewußtseins innerhalb des Schädels die Voraussetzung der Lehre von der Ejektion. Die Ejektion aber, die ihrerseits in einen Gegensatz zu jener ersteren Lokalisation tritt, ist die Voraussetzung der Lehre von der Introjektion, welche letztere das Werk der Ejektion rückgängig macht und damit die ursprüngliche Lokalisation des Bewußtseins innerhalb des Schädels wiederherstellt. Die Lehre von der Ejektion und der Introjektion ist von der Immanenzphilosophie des Empiriokritizismus abgelehnt worden. Die Transzendenzontologie aber führt sie wieder ein. Denn nach ihrer Auffassung beruht die empiriokritische Stellungnahme zu den hier vorliegenden Problemen auf einem doppelten Mißverständnisse. Das erste dieser Mißverständnisse besteht in der Voraussetzung, daß unsere Wahrnehmungswelt die Außenwirklichkeit selbst sei. Wäre diese Voraussetzung richtig, dann bestünde das ablehnende Verhalten des Empiriokritizismus zu recht. Denn in der Wahrnehmungswelt hat unser Bewußtsein, wie wir wissen, keine Heimat. Es liegt hier also weder in der Umgebung des Schädels noch in diesem selber. Daher wäre die Lehre von der Ejektion und der Introjektion in unserer Wahrnehmungswelt als solcher sinnlos. Aber die empiriokritische Annahme, daß diese Wahrnehmungswelt die Außenwirklichkeit selbst sei, ist, wie die vorangehenden Untersuchungen gezeigt haben, ein Mißverständnis der ontologischen Struktur unserer Wirklichkeit. Und sie ist damit zugleich ein Mißverständnis des eigentlichen Sinnes der Lehre von der Ejektion und der Introjektion. Denn diese Lehre besagt nicht, daß die Wahrnehmungsrepräsentation des Schädels in der immanenten Welt, sondern daß seine Wirklichkeit in der transzendenten Welt der Ort des Bewußtseins sei. Der Sinn der Lehre von der Ejektion und der Introjektion ist also ein transzendenzontologischer und nicht, wie der Empiriokritizismus voraussetzte, ein immanenzontologischer. Das zweite der beiden Mißverständnisse ist die empiriokritische Meinung, Ejektion und Introjektion seien ontologische Vollzüge. Sie wären es, wenn unsere immanenten Wahrnehmungen die Umwelt selber darböten. Denn die letztere wäre dann unmittelbar in unserem Bewußtsein anwesend. Und da der Schädel als Ort des Bewußtseins von seiner Umwelt mehr oder minder weit entfernt ist, so müßten wir einerseits, um jener Entfernung gerecht zu werden, unsere Wahrnehmungsinhalte ontologisch aus der Schädellage in die Umwelt hinausverlegen, und wir müßten sie anderseits, um ihrer Gegenwart teil-
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haftig zu sein, gleichzeitig aus der Umwelt in unsere Schädellage hineinziehen. Diese beiden Forderungen aber stehen sowohl miteinander als auch mit den Tatsachen in Widerspruch. Der wahre Sinn der Lehre von der Ejektion und der Introjektion ist auch in dieser Hinsicht ein anderer. Es handelt sich bei ihr nicht um ontologische sondern um gnoseologische Vollzüge. Dh. der Begriff der Ejektion besagt nicht, daß wir die Inhalte des Bewußtseins aus unserem Sichtbilde des Schädels auf eine ontologische Weise in dessen außerleibliche Umgebung hinauswürfen. Er besagt vielmehr, daß wir unsere ontologisch in der transzendenten Wirklichkeit des Schädels gelegenen Inhalte gnoseologisch als außerhalb des Schädels liegende Bestände der immanenten Wahrnehmungswelt auffassen. Er ist somit ein Ausdruck für die immanenzontologische Tatsache unserer peripheren und ultraperipheren Deutung der Bewußtseinsinhalte. Und ebenso besagt der Begriff der Introjektion nicht, daß wir unsere peripheren und ultraperipheren Wahrnehmungsbestände auf eine ontologische Weise in das Sichtbild des Schädels hineinzögen. Sondern er besagt, daß unsere Hinausverlegung der Bewußtseinsinhalte in die Umwelt nur einen gnoseologischen Charakter trägt, und daß diese Inhalte ontologisch in der transzendenten Wirklichkeit unseres Schädels liegen. Er ist also das transzendenzontologische Komplement zu der Tatsache unserer peripheren und ultraperipheren Deutungen. Die Lehre von der Ejektion und der Introjektion handelt nachalledem von den mit der Frage nach dem Orte unseres Bewußtseins verbundenen und durch die Gnoseologie unserer Wahrnehmungsdeutung bedingten Beziehungen zwischen der immanenzontologischen Situation, in der wir zu leben scheinen, und der transzendenzontologischen Situation, in der wir tatsächlich leben. Dabei wird der Begriff der Ejektion dem immanenzontologischen und der Begriff der Introjektion dem transzendenzontologischen Befunde gerecht. Die Zusammenhänge zwischen der Ejektion und der Introjektion erhalten dadurch ein besonderes Gepräge, daß wir den zu der transzendenten Außenwirklichkeit gehörenden ontologischen Bestand des Bewußtseins, der von uns in den Ichgebilden erfaßt wird, mitten in den nur gnoseologischen Raum der aus den Nichtichgebilden von uns erdeuteten Wahrnehmungswelt hineinstellen und in dieser letzteren unmittelbar anwesend zu sein glauben. Infolgedessen leben wir mit unseren Ichbeständen in zwei voneinander gegenstandstheoretisch verschiedenen Raumwelten. Denn einerseits sind wir ontologisch und tatsächlich in der transzendenten Außenwirklichkeit. Anderseits sind
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wir gnoseologisch und scheinbar in der immanenten Wahrnehmungswelt. Aber nur von unseren Beziehungen zu dieser letzteren wissen wir etwas. Dagegen bleibt uns unsere Einbettung in die erstere verborgen. Wir verhalten uns dementsprechend mit unseren zu einer uns unbekannten Welt gehörenden Ichbeständen so, als gehörten die letzteren zu der uns allein bekannten Wahrnehmungswelt. Dieses Bezugsverhältnis kommt durch eine falsche Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Raum unseres Bewußtseins zustande. Um uns über die strukturellen Vorbedingungen einer solchen falschen Verlängerung klarzuwerden, setzen wir bei dem schon früher von uns behandelten wechselseitigen Verhältnisse zwischen ontologischer und gnoseologischer Raumsystematik ein. Wir können uns dieses Verhältnis durch Beispiele aus dem Alltagsleben illustrieren, indem wir bei gewissen Bilddarstellungen auf der einen Seite den von diesen dargestellten Situationen nur die gnoseologische Bestandart zuerkennen, die ihnen eignet, auf der anderen Seite aber die in unserem übrigen Sichtfelde auftretenden immanenten Wahrnehmungsstrukturen, obwohl auch sie gnoseologisch erdeutet sind, zunächst so behandeln, als käme ihnen eine ontologische Wirklichkeit zu. Am durchsichtigsten erscheint dann das Verhältnis zwischen ontologischer und gnoseologischer Raumsystematik in dem Falle der einfachen Repräsentationen und der gehemmten Erscheinungen. Das können wir uns durch einen Blick in den Spiegel vergegenwärtigen. Da findet eine Verquickung zwischen ontologischer und gnoseologischer Raumsystematik statt, die uns vor eine doppeldeutige Situation stellt. Denn auf der einen Seite wissen wir, daß sich immanenzontologisch der Raum des Zimmers in der Wand hinter dem Spiegelglase fortsetzt, und daß er nichts mit dem gnoseologischen Räume des Spiegelbildes gemein hat. Auf der anderen Seite aber haben wir aus den früher von uns dargelegten Gründen trotzdem den Eindruck, als setzte sich der immanenzontologische Zimmerraum in dem gnoseologischen Räume des Spiegelbildes fort. Beides geht für uns nebeneinander her. Und zwar wird jenes erstere Wissen der einen Seite des hier waltenden Sachverhaltes, dieser letztere Eindruck dagegen einem psychologischen Befunde gerecht, der seinerseits durch eine andere Sbite desselben Sachverhaltes ermöglicht wird. Unter diesen Umständen haben wir zunächst den betreffenden Sachverhalt selber, dh. das zu berücksichtigen, was die uns in einem solchen Falle entgegentretende Gesamtlage ihrem Bedeutungsgehalte nach vorstellt. Diese Gesamtlage beruht, wie wir aus unseren Erörterungen über die Struktnrverhältnisse der Meinungsbasis wissen, auf einer
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durch eine falsche Urteilsmeinung bedingten Identifikation zweier sich widersprechender Situationen, nämlich der uns ontologisch vorliegenden und der gnoseologisch von uns erdeuteten Situation. Sie trägt aus diesem Grunde einen doppeldeutigen Charakter. Denn einerseits schließen sich in ihr die beiden fälschlich miteinander identifizierten Situationen, wenn man sie nach ihrer eigenen Struktur betrachtet, wechselseitig aus. Dh. entweder besteht die ontologische Situation, und dann besteht die gnoseologische nicht. Oder es besteht die gnoseologische Situation, und dann besteht die ontologische nicht. Anderseits aber sind diese beiden Situationen tatsächlich miteinander identifiziert worden und werden daher von uns so aufgefaßt, als erfüllten sie auf die gleiche Weise einen und denselben Raumbezirk. Es machen sich hier also zwischen den beiden Situationen gleichzeitig zwei einander widersprechende Bezugsverhältnisse geltend, nämlich einerseits das eines Entwederoder und anderseits das eines Sowohlalsauch. Das Bewußtsein beider Bezugsverhältnisse kommt in unserer praktischen Stellungnahme den einfachen Repräsentationen und den gehemmten Erscheinungen gegenüber zur Geltung. Auf der einen Seite nämlich sind wir uns bei dieser Stellungnahme darüber klar, daß sich die beiden uns in solchen Fällen vorliegenden Raumsysteme, also in unserem Falle etwa der Zimmerraum und der Spiegelraum von Rechtes wegen nicht miteinander vereinigen lassen. Denn sie liegen in gegenstandstheoretisch verschiedenen Feldern. Das eine System verschwindet, wenn wir in dem anderen, und das andere, wenn wir in dem einen stehen. Von einer Raumgemeinschaft zwischen den beiden Systemen kann also keine Rede sein. Es führt keine Linie des einen Raumes in den anderen hinein und umgekehrt. Daher können die beiden Räume auch in keinem ihrer Teile aneinander grenzen oder sich gegenseitig fortsetzen. Unser Eindruck, daß der Zimmerraum da aufhört, wo der Spiegelraum anfängt, und daß sich der eine Raum in den anderen hinein verlängert, ist vielmehr widersinnig. Auf der anderen Seite aber wird dieser Widersinn von uns tatsächlich vollzogen. Denn wir lassen die beiden Raumsysteme sich wechselseitig durchdringen. Das tritt zutage, wenn man sich nicht auf den Standpunkt des einen oder des anderen Systems stellt sondern auf den Standpunkt der falschen Identifikation beider Systeme, der, wie wir soeben angedeutet haben, eine Doppeldeutigkeit der Systematik «inschließt. Wir erkennen dann, daß sich der gnoseologische Raum, nachdem er einmal in dem Bezirke der Meinungsbasis mit dem ontologischen identisch gesetzt worden ist, nunmehr auch außerhalb dieses
Die Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Bewußtseinsraum
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Bezirkes, nach welcher Richtung man ihn sich auch erweitert denken mag, überall dorthin erstreckt, wo der ontologische Raum ist, wie sich auch umgekehrt dieser letztere überall dorthin erstreckt, wo der gnoseologische Raum ist oder sein könnte. Ein solches wechselseitiges Durchdringungsverhältnis zweier Räume ist nur dann möglich, wenn beide auf ein und dasselbe Raum system bezogen werden, also in Raumgemeinschaft miteinander stehen. Denn sonst könnte nicht von dem einen Systeme gesagt werden, daß seine Teile dort, dh. an denselben Raumpunkten seien, wo die Teile des anderen Systems sind. Findet aber eine solche Raumgemeinschaft statt, dann können auch die Linien des einen Raumes in den anderen Raum hinübergeführt werden. Und es können dann die beiden Räume als in ihren Teilbezirken aneinander grenzend oder sich gegenseitig verlängernd gedacht werden. Nachalledem stehen sich in der hier vorliegenden Gesamtlage die Bedeutungsgehalte zweier einander widersprechender Thesen gegenüber. Nach der einen These gibt es zwischen den beiden miteinander identifizierten Räumen keine Raumgemeinschaft. Sie können daher in keinem ihrer Teile aneinander grenzen oder sich gegenseitig fortsetzen. Nach der anderen These findet zwischen den beiden Räumen eine Raumgemeinschaft statt, und ihre Teile können als aneinander grenzend oder sich gegenseitig fortsetzend gedacht werden. Die erste der beiden Thesen gilt für den eindeutigen Standpunkt sowohl des ontologischen als auch des gnoseologischen Raumsystems selbst. Die zweite These gilt für den doppeldeutigen Standpunkt einer wechselseitigen Identifikation beider Systeme. Oder anders ausgedrückt: die erste These gilt für den Bedeutungsgehalt des wahren, die zweite These für den des falschen Urteils über den Sachverhalt. Von einem der Gesamtsituation übergeordneten Standpunkte aus gesehen aber machen sich beide Bedeutungsgehalte nebeneinander geltend. Auf diesen übergeordneten Standpunkt stellen wir uns in unserer alltäglichen Beurteilung der einfachen Repräsentationen und der gehemmten Erscheinungen. Denn hier wissen wir auf der einen Seite, daß der ontologische und der gnoseologische Raum nichts miteinander zu tun haben. Und doch behandeln wir sie auf der anderen Seite in zwangsläufiger aber bewußter Fiktion so, als gehörten beide Räume zu einem und demselben Raumsysteme, und als grenzten ihre Teile aneinander und setzten sich wechselseitig fort. Hierbei lassen wir uns durch die Besonderheiten unseres psychologischen Befundes leiten. Dieser Befund besteht in einem Ausschnitte aus der soeben geschilderten Gesamtlage, nämlich in dem, was wir als unmittelbar
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gegenwärtig von ihr erfassen. Er ist also erstens räumlich auf den Bezirk der Meinungsbasis beschränkt. Und er umfaßt zweitens von dem Strukturgefüge innerhalb dieses Bezirkes nur das in unserem Bewußtsein inhaltlich Anwesende. So umfaßt in dem Falle eines Spiegelbildes der psychologische Befund den immanenzontologischen Zimmerraum nur bis zu der Spiegelscheibe. Was von diesem Räume hinter der Scheibe liegt, können wir uns zwar denken. Aber inhaltlich in unserem Bewußtsein anwesend ist es nicht. Es wird vielmehr von der undurchsichtigen Scheibe verdeckt. Und anderseits reicht der psychologische Befund des gnoseologischen Spiegelraumes von der entgegengesetzten Seite her ebenfalls nur bis an die Spiegelscheibe. Wir 9ehen ihn nur hinter der letzteren. Was von ihm vor dieser ist, können wir uns wieder nur denken. Denn inhaltlich in unserem Bewußtsein anwesend ist es abermals nicht. Hier ist vielmehr alles von dem immanenten Zimmerraume erfüllt. Es geht hieraus hervor, daß in den psychologischen Befunden dieser Art das uns jeweils vermeintlich vorliegende gnoseologische Raumstück da anfängt, wo das uns tatsächlich vorliegende ontologische Raumstück aufhört, und umgekehrt. Das ist dadurch bedingt, daß sich jenes gnoseologische Raumstück allenthalben aus einer Tiefendeutung von Gegebenheiten des ontologischen Raumstückes aufbaut und damit in Feldrichtungen erstreckt, die durch diese letzteren Gegebenheiten ontologisch für uns verdeckt sind. So kommt in der psychologischen Befundstruktur der durch das Strukturgefüge der Gesamtsituation ermöglichte Eindruck zustande, als grenzten das ontologische und das gnoseologische Raumstück aneinander, und als setzte sich das eine Raumstück in dem anderen fort. In dem Falle der einfachen Repräsentationen und der gehemmten Erscheinungen spielen wir mit diesem Eindrucke nur. Denn wir wissen, daß er auf einer Täuschung beruht. Die Situation gilt uns daher unserer Einsicht in die hier waltende falsche Urteilsmeinung entsprechend als eine doppeldeutige. Anders verhalten wir uns in dem Falle der ungehemmten Erscheinungen. Denn deren Täuschung unterliegen wir, ohne es zu wissen. Daher beurteilen wir die in diesen waltende Situation nicht mehr als doppeldeutig sondern als eindeutig. Wir werden uns demgemäß über die hier ebenfalls vorliegende gegenstandstheoretische Verschiedenheit zwischen einem ontologischen und einem gnoseologischen Raumstücke nicht mehr klar. Vielmehr halten wir das gnoseologische Raumstück nunmehr für ebenso wirklich wie das ontologische und betrachten beide Raumstücke als Bestandteile eines und desselben Raumbezirkes.
Die Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Bewußtseinsraum
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Um uns das zu veranschaulichen, greifen wir auf früher von uns benutzte Beispiele zurück. Ist ein leeres Zimmer durch einen eine ganze Wand ausfüllenden Spiegel abgeschlossen und treten wir von der Seite her so in dieses Zimmer ein, daß wir uns selbst in dem Spiegel nicht erblicken, so unterliegen wir, wenn auch sonst die entsprechenden Vorkehrungen getroffen sind, dem zwangsläufigen Eindrucke, als trüge der Spiegelraum einen ontologischen Charakter und bildete die echte Verlängerung des Zimmerraumes. Grundsätzlich derselben Täuschung unterliegen wir in dem Falle des Rundpanoramas, bei dem die Plattform, auf der der Beschauer steht, so hergerichtet ist, daß sie als ontologische Wirklichkeit in den gnoseologischen, aber von dem Beschauer ebenfalls für ontologisch gehaltenen Raum der Panoramadarstellung überzugehen scheint. In allen Fällen solcher Art wird der immanenzontologische Raum, von dessen ontologischer Wirklichkeit wir überzeugt sind, und von dem wir ausgehen, in den gnoseologischen Raum hinein verlängert, den wir für ebenso wirklich halten, und in dem unsere Wahrnehmung endet. Ich will diesen Vorgang dementsprechend als die falsche Verlängerung des ontologischen in den gnoseologischen Raum bezeichnen. Voraussetzung einer solchen Verlängerung ist es, daß beide Felder, sowohl das ontologische als auch das gnoseologische, in der Wahrnehmung von uns aufgefaßt werden. Es gibt aber noch einen anderen, wenn auch in seinem Enderfolge ähnlichen Typus dieser falschen Verlängerung, bei dem der gnoseologische Raum in den ontologischen hinübergeführt wird. Die Voraussetzung dieses Typus ist es, daß wir nur das gnoseologische Feld erfassen, während sich das ontologische Feld unserer Wahrnehmung oder doch unserer Beachtung entzieht. Ist das der Fall, so können wir nun nicht mehr von dem ontologischen Räume ausgehen. Denn er ist für uns nicht vorhanden. Vielmehr ist dann außer uns selber nur der gnoseologische Raum für uns da. Und uns selber erfassen wir dann nicht als Körper — denn mit diesem hätten wir schon einen ontologischen Raum, von dem wir ausgehen könnten — sondern nur als ontologische Bewußtseinswirklichkeit. Das aber heißt, da die inhaltlichen Bestände dieser letzteren für gnoseologische Zwecke verbraucht sind: wir erfassen dann außer jenem gnoseologischen Räume nur noch unsere Ichgebilde. Und die haben in der abstrakten Form, in der wir sie bewußtheitlich innewerden, keine eigene Räumlichkeit. Daher verleihen wir in diesem Falle unseren Ichgebilden den allein von uns wahrgenommenen gnoseologischen Raum, den wir auf sie hin verlängern. Dabei vollziehen wir ein Wechselspiel von Leistung und Gegenleistung. Denn wir erteilen erstens dem gnoseologischen Räume,
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zu dem wir selber zu gehören glauben, unsere eigene ontologische Bestandart, da wir als ontologische Wesen nur zu einem ontologischen Räume gehören können. Und wir erteilen zweitens uns selber die gnoseologische Raumstruktur, die wir auf uns zu verlängern, und die wir eben damit für unsere Ichgebilde adoptieren. Wir verlängern also einen gnoseologischen Raum, zu dem wir nicht gehören, den wir aber allein auffassen, in den ontologischen Raum, zu dem allein wir gehören, den wir aber nicht auffassen, und legen eben damit dem gnoseologischen Räume unsere eigene ontologische Bestandart bei. In unvollkommener Weise erleben wir einen derartigen Vorgang zuweilen bei einer Lichtspielvorführung. In einer solchen walten für uns gewöhnlich die bereits dargelegten Verhältnisse einer einfachen Repräsentation. Dh. wir unterscheiden die vorgeführte Bilderwelt als eine nur gnoseologische Wirklichkeit deutlich von der ontologischen Wirklichkeit unser selbst und des Zuschauerraumes. Aber bei gespannter Aufmerksamkeit auf die Vorführung kann es uns begegnen, daß das Vorhandensein des Zuschauerraumes auf Augenblicke in den Hintergrund unseres Bewußtseins gedrängt wird, und daß wir dann ontologisch und räumlich zu der dargestellten Szene trotz der technischen Unvollkommenheiten ihrer Wiedergabe zu gehören glauben. Etwas vollkommener findet dieselbe Täuschung statt, wenn wir in einem Rundpanorama den Blick von der Plattform, auf der wir stehen, abwenden und ihn ausschließlich auf die gnoseologische Räumlichkeit des Gemäldes einstellen. Wir glauben dann, ohne etwas von unserer eigenen ontologischen Wirklichkeit zu erblicken, in der von uns erschauten Panoramawelt zu sein. In dem einen wie in dem anderen Falle erblicken wir keine ontologische sondern nur eine gnoseologische Welt, deren Raum wir dann einerseits in den immanenten Raum hinein verlängern, zu dem das Sichtbild unseres Leibes gehört, und der wir anderseits mit demselben Akte unsere eigene ontologische Bestandart zusprechen, indem wir unsere Ichgebilde als in dem von der gnoseologischen Wirklichkeit annektierten Immanenzraume enthalten wähnen. Alle hier angeführten Beispiele falscher Verlängerungen gehören in das Kapitel der vollendeten und ungehemmten aber hemmbaren. Erscheinungen. Denn wir können die in ihnen waltenden Täuschungen wieder aufheben. Wir brauchen nur die Spiegelwand zu berühren, uns in dem Zuschauerräume des Lichtspielhauses umzusehen oder die Plattform des Panoramas zu verlassen, um uns wieder in der immanenten Wirklichkeit des Alltages zu wissen. Anders verhielte es sich, wenn eine solche Erscheinung unhemmbar wäre, wir also keine Möglichkeit hätten, uns von ihr zu befreien. In einer derartigen Lage
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befände sich ein Wesen, das, ohne seinen eigenen ontologischen Raum zu kennen, mit dem Blicke zeitlebens an die Vorführungen eines Lichtspieles oder eines Panoramas gebunden wäre und daher nur den gnoseologischen Raum dieser letzteren kennte. Ein solches Wesen müßte dauernd die falsche Verlängerung eines gnoseologischen in seinen ontologischen Raum vollziehen. Es würde mit seinen Ichbeständen immer in der Welt des Lichtspieles oder Panoramas zu sein glauben und niemals eine andere Welt als diese für ontologisch halten, tatsächlich aber in einer solchen anderen wirklich ontologischen Welt leben, die ihm verborgen bliebe. Es wäre also, und zwar ohne es zu wissen, Bürger zweier verschiedener Welten: einer ihm bekannten gnoseologischen, zu der es zu gehören glaubte, tatsächlich aber nicht gehörte, und einer ihm unbekannten ontologischen, zu der es nicht zu gehören glaubte, tatsächlich aber gehörte. Wir brauchen ein solches Wesen nicht zu fingieren. Wir sind selber in seiner Lage. Das wird deutlich, sobald wir die immanenzontologische Situation, in der wir uns zu befinden glauben, aus der transzendenzontologischen Situation heraus verstehen, in der wir uns tatsächlich befinden. Denn in der letzteren sind wir zunächst zeit unseres Lebens ebenso an den ontologischen Raum des Bewußtseins wie jenes Wesen an den Zuschauerraum des Lichtspieles oder die Plattform des Panoramas gebunden. In diesem Räume können wir uns nicht umschauen. Wir kennen ihn nicht. Und ebensowenig kennen wir seine Umgebung, die transzendente Außenwirklichkeit, in der wir leben. Wir sind also, wie schon einmal angedeutet wurde, Wesen, die, was ihre unmittelbare Kenntnis betrifft, niemals wissen, was sie sind, und wo sie sind. Auf der anderen Seite kennen wir die immanente Wahrnehmungswelt. Diese aber trägt von dem Standpunkte der Transzendenzontologie aus betrachtet grundsätzlich dasselbe Gepräge, das bei dem von uns fingierten Wesen die Lichtspielvorführung oder die Panoramadarstellung trägt. Denn sie teilt mit beiden ihren Charakter als gnoseologische Wirklichkeit. Mit jener teilt sie außerdem ihre Beweglichkeit, mit dieser ihre Farbigkeit und Plastik. Und wie für unser fiktives Wesen die Welt des Lichtspieles oder des Panoramas, so ist für uns selber unsere Wahrnehmungswelt die einzige Außenwirklichkeit, die wir kennen, da wir kraft des vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinungscharakters dieser letzteren mit psychologischer Zwangsläufigkeit auf ihre alleinige Erfassung eingestellt sind. In den Raum dieser einzigen uns bekannten Außenwirklichkeit stellen wir die abstrakt von uns erfaßten Ichgebilde, dh. unseren 81
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früheren Darlegungen zufolge die Akte und das Ich, insoweit es deren Träger ist, mit der gleichen Zwangsläufigkeit hinein, mit der sie jenes fiktive Wesen in den einzigen ihm bekannten Raum der Lichtspielvorführung oder des Panoramas hineinstellte. Damit aber schreiben wir erstens uns selber einen Ort in der Wahrnehmungswelt zu und verleihen zweitens dieser letzteren unsere eigene ontologische Bestandart, die ihr an sich nicht zukommt. Wir vollziehen also unter grundsätzlich denselben Bedingungen grundsätzlich dieselbe falsche Verlängerung, wie sie von jenem fiktiven Wesen vollzogen wurde, indem wir lebensfänglich und zwangsläufig den uns allein bekannten gnoseologischen Wahrnehmungsraum in den uns unbekannten ontologischen Bewußtseinsraum hinein fortsetzen. Kraft dieser Verlängerung glauben wir zeitlebens mit unseren ontologischen Ichgebilden in der immanenten Wahrnehmungswelt zu sein, obwohl wir tatsächlich mit ihnen in der transzendenten Außenwirklichkeit sind. Wir werden so in demselben Sinne, wie dies bei dem von uns fingierten Wesen der Fall war, zu Bürgern zweier gegenstandstheoretisch verschiedener Welten. Das macht sich darin geltend, daß unsere Ichgebilde als individualbegrifflich und allgemeinbegrifflich identisch dieselben ontologischen Bestände in der einen wie in der anderen Welt anwesend sind. Jedoch sind sie in beiden nicht auf die gleiche Weise anwesend. Denn in der Wahrnehmungswelt verfügen sie über eine Anwesenheit, die wir ihnen kraft jener falschen Verlängerung beilegen, die ihnen hier aber nicht zukommt. Und in der transzendenten Außenwirklichkeit verfügen sie über eine Anwesenheit, die ihnen dort zukommt, die wir ihnen aber nicht beilegen können, da uns der transzendente Sachverhalt verborgen bleibt. Unsere deutungslos gegebenen Empfindungen spielen bei der so von uns vollzogenen falschen Verlängerung als Nichtichgebilde dieselbe Rolle wie in einer Lichtspielvorführung der Projektionsschirm oder in einem Panorama die farbenbedeckte Leinewand. Die von uns erfaßten Ichgebilde dagegen spielen die Rolle des Zuschauers, der sich in dem Räume vor dieser Fläche befindet, und auf den hin der gnoseologische Raum der Vorführung verlängert wird. Voraussetzung hierfür ist es, daß in dem ontologischen Räume des Bewußtseins unsere Akte und das deutungslos Gegebene unserer Inhalte an verschiedenen Stellen auftreten. Daß dies der Fall sein dürfte, haben wir früher dargetan. Und durch die falsche Verlängerung wird diese Ortverschiedenheit nicht aufgehoben. Sie bleibt vielmehr in dem von uns adoptierten gnoseologischen Räume zunächst ebenso bestehen, wie sie in dem uns eigentlich zukommenden ontologischen Räume
Die Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Bewußtseinsraum
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vorhanden ist. So bleibt auch der Zuschauer einer Lichtspielvorführung, wenn er die falsche Verlängerung vollzieht, diesseits der dargestellten Szene. Dementsprechend müßten wir unsere Ichgebilde in dem von uns adoptierten immanenten Wahrnehmungsraume ebenso diesseits von unseren aktuellen Wahrnehmungen oder Vorstellungen innewerden, wie sie in dem ontologischen Räume unseres Bewußtseins diesseits von unseren deutungslosen Empfindungen sind. Dieser Maßgabe entspricht der Eindruck, den wir in dem täglichen Leben von unserem Verhältnisse zu den Wahrnehmungen oder Vorstellungen haben, nur unvollkommen. Denn da erfassen wir die letzteren, und zwar ganz gleich ob sie ultraperipher, peripher oder intraperipher gedeutet werden, wohl als etwas von unseren Ichgebilden auf eine nicht durchsichtige Weise Geschiedenes, sowie uns selber als etwas irgendwie diesseits von ihnen Stehendes. Aber den bewußtseinsräumlichen Charakter dieser Geschiedenheit werden wir abgesehen von der nicht mit ihr zu verwechselnden immanenzräumlichen Distanz zwischen dem Sichtbilde unseres Schädels und den anderen Wahrnehmungs- oder Vorstellungsbeständen nicht inne. Die Ursache hierfür liegt darin, daß zu unserer falschen Verlängerung des gnoseologischen Wahrnehmungsraumes in den ontologischen Bewußtseinsraum noch die gnoseologische Verschiebung der bewußtseinsräumlichen Bestandordnung tritt, die sich, wie wir wissen, auch auf unsere Ichgebilde erstreckt. Werden die letzteren kraft jener Verlängerung aus ihrem ontologischen Bewußtseinsraume in den immanenten Wahrnehmungsraum hineingezogen, so wird durch die gnoseologische Bestandverschiebung innerhalb dieses Raumes ihr Ort verändert Daher stehen nach unserer immanenzontologischen Bewußtseinsauffassung die Ichgebilde nicht so, wie es ihnen aufgrund ihrer bewußtseinsräumlichen Lage zukäme, örtlich diesseits aller von uns wahrgenommenen Bestände. Sie werden von uns vielmehr, wie wir früher dargelegt haben, in das Gebiet dieser Bestände selber, nämlich in das Sichtbild unseres Körpers und zwar speziell in das unseres Schädels verlegt. Wir verhalten uns insofern wie jemand, der seinen eigenen Leib unmittelbar nicht erblicken könnte, das Bild desselben aber beständig in einer Lichtspielvorfübrung wahrnähme und sich mit diesem seinem Bilde identifizierte, da er nichts anderes von sich kennte. Ein Verhalten, das in unserem Falle dadurch noch befördert wird, daß wir immanenzontologisch zwar die übrigen Teile des Leibes, nicht aber seinen Schädel als den speziellen Ort unseres Bewußtseins unmittelbar erschauen können. 81*
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Das psycho physische Problem in der Transzendenzontologie
Der Erfolg dieser Verschiebung der Ichgebilde ist eine Zwiespältigkeit in unserer immanenzontologischen Selbstlokalisation. Auf der einen Seite nämlich werden wir unsere Wahrnehmungen, wie schon angedeutet wurde, als etwas von den Ichgebilden Gesondertes inne. Das gilt naturgemäß auch von dem Sichtbilde des Schädels. Und es würde ebenso von den uns verborgenen Vorgängen in der Großhirnrinde gelten, wenn wir diese wahrnehmen könnten. Wir würden uns nicht mit ihnen identifizieren sondern wie bei allen Wahrnehmungen zwischen uns und ihnen unterscheiden. Auf der anderen Seite verlegen wir, wie soeben gezeigt worden ist, die Ichgebilde in unseren Wahrnehmungsbezirk selbst. Denn wir schreiben ihnen einen Ort in dem Sichtbilde unseres Schädels zu und identifizieren uns dadurch mit irgendeinem Teilbestande des letzteren. Diese zweite Maßnahme ist mit der ersten nicht vereinbar. Trotzdem bestehen beide Maßnahmen für uns nebeneinander. Das erklärt sich aus den hier beschriebenen Sachverhalten. Denn die erste Maßnahme wird der bewußtseinsräumlichen Trennung zwischen den Ich- und den Nichtichgebilden, also dem ontologischen Befunde des Bewußtseins gerecht, die zweite dagegen der gnoseologischen Verschiebung der Ichgebilde. Diese Verschiebung setzt eine Raumgemeinschaft zwischen Ichund Nichtichgebilden und damit die von uns geschilderte falsche Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Bewußtseinsraum voraus. Aber sie hebt diese letztere auch wieder auf. Denn wenn unsere Ichgebilde in die sich vor ihnen abspielende Wahrnehmungsszene selbst hineinverlegt werden, und damit nicht mehr in einem Hintergrunde diesseits der Wahrnehmungen sondern in deren eigenem Vordergrunde stehen, dann braucht der Wahrnehmungsraum auf sie hin nicht verlängert zu werden. Sie werden dann vielmehr ohne Verlängerung von ihm annektiert. Die falsche Verlängerung des Wahrnehmungsraumes in den Bewußtseinsraum bildet somit den ersten Schritt einer doppelten Maßnahme, deren zweiter Schritt die gnoseologische Verschiebung der Ichgebilde ist, und die in ihrer. Vollendung zu einer Ausschaltung des ontologischen Bewußtseinsraumes diesseits des gnoseologischen Raumbezirkes unserer Wahrnehmungen führt. Bei einer Lichtspielvorführung oder einer Panoramadarstellung durchdringen sich, wie wir gesehen haben, von einem übergeordneten Standpunkte aus betrachtet die hier auftretenden gnoseologischen Darstellungsräume und der von uns für ontologisch gehaltene immanente Raum des Zuschauers. Uebertragen wir dies auf das entsprechende Verhältnis zwischen unserem in Wahrheit ebenfalls nur gnoseologischen
Das Problem der Netzhautbilder in der Transzendenzontologie
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Immanenzraume und dem allein ontologischen Räume der transzendenten Außenwirklichkeit, so erkennen wir, daß sich auch diese beiden Räume durchdringen, wenn man sie sich von jenem übergeordneten Standpunkte aus betrachtet denkt. Unter diesen Umständen wird von dem letzteren Standpunkte aus eine Frage sinnvoll, die von dem Standpunkte des Immanenzraumes aus sinnlos gewesen war, nämlich die, wo der transzendente Raum sei. Die Antwort lautet: er ist überall, wo der immanente Raum ist. Jedoch bedarf diese Feststellung zweier Einschränkungen. Denn erstens ist der immanente Raum eine bloße Flächenprojektion des transzendenten Raumes und nicht in demselben Sinne wie dieser dreidimensional. Wir können daher von den Tiefenrichtungen des transzendenten Raumes nur sagen: sie sind da, wo wir aus unserer Flächenprojektion die Tiefenrichtungen des immanenten Raumes erdeuten. Nicht dagegen: sie sind da, wo wir diese sehen. Denn wir sehen keine Tiefenrichtungen. Und zweitens erstreckt sich zwar geometrisch unsere immanente Raumdeutung überall dahin, wo der transzendente Raum ist. Nicht aber haben ontologisch die Bestände in dem letzteren dieselbe Lage, Größe und Richtung, die wir ihren von uns wahrgenommenen Repräsentationen in dem immanenten Räume zuschreiben. Dieser Umstand führt uns, da der Raum unserer Wahrnehmungswelt der Sichtraum ist, zu den mit unseren Netzhautbildern verbundenen Problemen zurück, die wir schon in der Immanenzontologie angeschnitten haben, und die in der Transzendenzontologie ihre endgiltige Lösung finden. Wir können diese Probleme auf folgende drei Antithesen bringen. Unsere Netzhautbilder und deren Projektionen in der Großhirnrinde liegen innerhalb unseres Schädels. Gleichwohl nehmen wir die von uns erschauten Bestände außerhalb des Schädels wahr. Sie sind zweitens kleiner als die von ihnen abgebildeten Umweltbestände. Gleichwohl sehen wir die letzteren größer als unsere Netzhautbilder. Und sie sind drittens in der Netzhaut umgekehrt und in der Großhirnrinde anders gerichtet als die von ihnen abgebildeten Bestände. Gleichwohl sehen wir diese aufrecht. Kurz unsere Sichtwahrnehmungen scheinen wider Erwarten nach ihrer Lage, Größe und Richtung den Netzhautbildern nicht zu folgen. Es wird also eine Erwartung enttäuscht. Fragt man aber, was erwartet wird, so gerät man in Schwierigkeiten. Offenbar setzen unsere Antithesen nämlich voraus, wir müßten, wenn die Sichtwahrnehmungen nach ihrer Lage, Größe und Richtung den Netzhautbildern folgten, dies merken. Denn sonst wäre die Behauptung, sie folgten ihnen nicht, ohne Begründung. Allein um es zu merken, müßten wir über
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Das psychophysische Problem in der Transzendenzontologie
eine doppelte Schau verfügen. Denn wir müßten dann nicht nur unsere durch die Netzhautbilder vermittelten Wahrnehmungen als solche sondern auch die von diesen abgebildeten Originalbestände der Außenwirklichkeit selbst erblicken. Sonst könnten wir nicht jene mit diesen vergleichen und über die Lage, Größe und Richtung der Sichtwelt urteilen. Aber wir verfügen nicht über eine solche doppelte Schau. Vielmehr lehrt uns die Transzendenzontologie, daß der Originalbestand der Großhirnrinde, der Netzhautbilder und der von diesen abgebildeten Umgebung des Schädels, also alles das, wovon die jeweilige Thesis redet, zu einer uns transzendenten Situation gehört, die wir nicht kennen, und daß wir nur die immanente Situation unserer Wahrnehmungen kennen, von denen die Antithesis redet. Ist das der Fall, so können wir diese letztere Situation mit der ersteren nicht vergleichen. Denn es fehlt uns der hierzu nötige Maßstab. Deshalb können wir auch nicht merken, ob unsere Sichtwahrnehmungen in der immanenten Situation nach ihrer Lage, Größe und Richtung den Netzhautbildern in der transzendenten Situation folgen oder nicht folgen. Die Behauptung unserer Antithesen, die Sichtwahrnehmungen folgten nicht den Netzhautbildern, ermangelt also der Begründung, weil wir die in der jeweiligen Thesis genannten Originalbestände nicht erblicken. Der Glaube, daß wir sie erblickten, aber und damit die Grundposition unserer Antithesen stammt aus jenem früher von uns beschriebenen und für die gesamte Immanenzontologie charakteristischen Pleonasmus, kraft dessen wir unsere Wahrnehmungen außer mit ihren immanenten Funktionen auch noch mit den Funktionen ihrer Gegenstücke in der transzendenten Außenwirklichkeit betrauen, welche letzteren uns, könnten wir sie sehen, einen Vergleichsmaßstab für die Begründung jener Behauptung liefern würden. Angesichts der hier dargelegten Sachlage könnten die durch unsere Netzhautbilder vermittelten Erregungen in der Großhirnrinde und unsere auf ihnen fußenden Sichtwahrnehmungen relativ zu den von ihnen abgebildeten transzendenten Umweltbeständen, da wir diese nicht erblicken, jede beliebige Lage, Größe und Richtung haben, ohne daß wir etwas davon merken würden. Das zeigten auch gewisse vor etwa dreißig Jahren angestellte Versuche, bei denen erst durch Linsenapparatur die Richtung und dann durch Spiegelapparatur die Lage des Sichtfeldes einer Versuchsperson verschoben wurde. Nach wenigen Tagen der Uebung hatte für diese das verschobene Sichtfeld denselben Wirklichkeitswert, den früher ihr normales Sichtfeld gehabt hatte. Außerdem zeigte die zweite der beiden Versuchsreihen, daß wir uns mit einem Bilde unseres Leibes auch dann identifizieren,
Das Problem der Netzhautbilder in der Transzendenzontologie
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wenn dieses in einem gewissen Abstände von uns auftritt. Ein Umstand, der unsere Ausführungen über die Verlegung der Ichgebilde in die Front der immanenten Außenwirklichkeitsbestände bestätigt. Von dem Standpunkte unserer Wahrnehmungswelt aus vermögen wir die Lage, Größe und Richtung unserer Sichtbestände den Netzhautbildern gegenüber nicht festzustellen. Aber wir könnten uns ein Wesen denken, das unmittelbar sowohl die uns zugängliche immanente als auch die ihr entsprechende und uns unzugängliche transzendente Situation durchschaute. Von einem solchen Wesen können wir annehmen, daß es das erblicken würde, was in unseren drei Thesen mit Unrecht für die Wahrnehmungswelt selber erwartet wurde. Es würde nämlich finden, daß in der transzendenten Außenwirklichkeit das deutungslos Gegebene der Sichtempfindungen in unserem Schädel liegt, sowie daß es dort kleiner und anders gerichtet ist als die von ihm abgebildeten Bestände der Umgebung. Auch fände es, daß infolge dieser Sachlage alle deutungserfüllten Wahrnehmungsbestände in unserem immanenten Räume an einer anderen Stelle sind als ihre Gegenstücke in dem transzendenten Räume, und daß sich dieser daher nur nach seiner geometrischen Ausdehnung, nicht aber nach seiner ontologischen Bestandverteilung unter den von uns geltend gemachten Vorbehalten mit dem immanenten Räume deckt. Die physischen Grundlagen dieses Sachverhaltes können wir uns auch in der Wahrnehmungswelt vergegenwärtigen. Denn die Kleinheit und Umkehrung der Netzhautbilder läßt sich immanent beobachten, und eine immanente Beobachtung der Sichterregungen in der Großhirnrinde ist wenigstens vorstellbar. Aus diesen ausgeführten oder vorgestellten Beobachtungen kann man den ihnen entsprechenden transzendenten Sachverhalt, insoweit er die Grundlage der hier dargelegten Problemlage bildet, erschließen. Dabei hat man jedoch zu beachten, daß der immanente Befund, den der Beobachter in diesem Falle erschaut, wenn wir der Einfachheit halber die Größe und Richtung der zentralen Sichterregungen gleich denen unserer Netzhautbilder setzen, eine zweimalige Verkleinerung und Umkehrung erfährt. Denn er ist einmal in der beobachteten fremden Netzhaut oder Großhirnrinde verkleinert und umgekehrt worden. Und er wird zum zweitenmale in der immanenten Wahrnehmung des Beobachtenden selber verkleinert und umgekehrt. Der Beobachter sieht daher die in dem fremden Netzhautbilde oder in der fremden Großhirnrinde wiedergespiegelten Außenwirklichkeitsbestände erstens in doppelter Verkleinerung und zweitens in doppelter Umkehrung. Er sieht sie also nach der letzteren Hinsicht in ihrer ursprünglichen Richtung.
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Zieht man diesen Umstand in Rechnung, so verschwinden die Schwierigkeiten, in die die Ueberschneidungslehre der Immanenzontologie geriet, sobald sie die Möglichkeit der gemeinsamen Wahrnehmung eines und desselben Bestandes durch zwei Beobachter mit der Verkleinerung und Umkehrung ihrer Netzhautbilder in Einklang bringen wollte. Indem sie nämlich die der Wahrnehmung dieser Beobachter zugänglichen Sichtrepräsentationen ihrer Netzhautbilder für die Außenwirklichkeit der letzteren hielt, kam sie zu dem in sich widerspruchsvollen Ergebnisse, daß der von den beiden Beobachtern gemeinsam wahrgenommene Bestand als ontologisches Außenwirklichkeitsgebilde gleichzeitig zwei verschiedene Größen und zwei verschiedene Richtungen habe. In der Transzendenzontologie findet diese Art der Wahrnehmungsgemeinschaft eine andere widerspruchsfreie Erklärung. Hier hat jeder der beiden Beobachter seine eigene Privatwahrnehmungsweit. Jede dieser beiden Welten ist relativ zu dem beobachteten Bestände in der transzendenten Außenwirklichkeit verkleinert und umgekehrt. Und jeder der beiden Beobachter sieht in dem Netzhautbilde des anderen die Spiegelung des wahrgenommenen Bestandes mit doppelter Verkleinerung und doppelter Umkehrung. Den Bestand selber aber sieht er mit seinem eigenen Netzhautbilde in einfacher Verkleinerung und einfacher Umkehrung. Und die transzendente Wirklichkeit des Bestandes bleibt von allen diesen Verkleinerungen und Umkehrungen ihrer Repräsentationen unberührt. Aus unseren Erörterungen scheint hervorzugehen, daß die Bestände der transzendenten Außenwirklichkeit größer sind als ihre Repräsentationen in der immanenten Wahrnehmungswelt, Es liegt daher die Frage nahe: um wieviel größer sind sie? Die Antwort auf diese Frage ist für das gnoseologische Feld unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen eine andere als für das ontologische Feld unserer deutungslosen Empfindungen. Denn in beiden Feldern herrschen verschiedene Größenverhältnisse. In dem Felde unserer deutungserfüllten Wahrnehmungen glauben wir die Größe der dort auftretenden Bestände zu kennen. Wir messen sie nach Metern und folgen dabei der Maßgabe ihrer transzendenten Gegenstücke. Denn diese sind es, die wir in unseren Wahrnehmungen vor uns zu haben glauben. Unter ihnen bewegt sich auch die ontologische Wirklichkeit unseres Leibes. Und nur sie haben wie in anderer so in metrischer Hinsicht eine eindeutige Naturgesetzlichkeit. Ein Meter in der immanenten Wahrnehmungswelt ist demgemäß gleich einem Meter in der transzendenten Außenwirklichkeit. Und es bleibt
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in dieser seiner metrischen Größe ohne Rücksicht auf seine Entfernung von unserem Auge konstant. In dem ontologischen Felde der deutungslosen Empfindungen walten andere Größenverhältnisse. Jedoch werden diese durch die an ihre Stelle geschobenen Größen der deutungserfüllten Sichtbestände gnoseologisch verdrängt. Daher bleiben sie uns wie die deutungserfüllten Empfindungen selber praktisch verborgen. Zwar kommt es uns gelegentlich zu Bewußtsein, daß die Größen der von uns erschauten Gebilde in Wahrheit nicht konstant sind sondern mit ihrer wachsenden Entfernung von unserem Auge abnehmen. Aber wir pflegen der Tragweite dieses Umstandes, wie früher dargelegt worden ist, nicht weiter nachzugehen. Täten wir dies, so würden wir erkennen, daß ein Meter in unserer Sichtwelt, sobald wir auf das wirklich Erschaute achten, keine bestimmte Größe hat sondern je nach seinem Abstände von unserem Auge variiert. Und wir würden finden, daß die Gesamtgröße unseres Sichtfeldes, wenn wir es, um seiner deutungslosen Gegebenheit annähernd beizukommen, dicht vor unserem Auge messen, nur wenig mehr beträgt als zwei Quadratzentimeter, während es sich nach der Auffassung unserer gnoseologischen Deutungserfüllung in weiterem Abstände von unserem Auge über erheblichere Raumgebiete und, wenn wir in den Sternhimmel schauen, über viele Lichtjahre erstreckt. Tragen wir diesen Tatsachen im Hinblicke auf die Frage nach dem Größenverhältnisse zwischen der immanenten und der transzendenten Welt Rechnung, so erkennen wir, daß die Bestände unserer deutungserfüllten Wahrnehmung nach ihrer scheinbaren Größe und die ihnen korrespondierenden Bestände der transzendenten Außenwelt nach ihrer wirklichen Größe einander gleich, sowie daß beide größer sind als die wirkliche Größe der ihnen entsprechenden Gebilde in unserem deutungslosen Sichtfelde. Bedenkt man dann, daß die Größe dieses letzteren Feldes der Größe des ihm zugehörigen Erregungsbezirkes in der Großhirnrinde und damit annähernd der Größe unserer Netzhautbilder entspricht, so findet man, daß sich die wirkliche Größe der transzendenten Umweltbestände zu der wirklichen Größe unserer deutungslosen Sichtgegebenheiten etwa so verhält wie in der uns beobachtbaren immanenten Repräsentation die scheinbare Größe der von uns erschauten Umweltbestände zu der scheinbaren Größe ihrer von uns erschauten Spiegelung auf einer Netzhaut. Die in diesem Kapitel bisher erörterten Sachverhalte lassen sich als Konsequenzen dreier untereinander zusammenhängender Sätze auf-
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fassen. Der erste Satz besagt, daß die Wahrnehmungswelt nicht unsere ontologische Außenwirklichkeit sondern deren gnoseologische Repräsentation ist. Der zweite, daß das Bewußtsein ontologisch zu jener Außenwirklichkeit gehört. Und der dritte, daß es sich gleichwohl nicht an dieser sondern an der Wahrnehmungswelt orientiert. Aus der Komplikation dieser drei Sätze gehen alle mit dem Räume und dem Orte des Bewußtseins zusammenhängenden Probleme hervor. Das kann man sich an einem Modelle veranschaulichen, dessen wir uns schon früher bedient haben. Ein Wesen von Menschengestalt trage an der Stelle des Hauptes eine geschlossene Registrierkammer, in der sich die Vorgänge der Außenwirklichkeit auf die früher von uns dargelegte Art in verschiedener Weise verzeichnen mögen. In diese Kammer sei das Bewußtsein unseres Wesens als ein räumliches Gebilde eingeschlossen und umfasse außer seinen abstrakt von ihm erlebten Ichgebilden nur die genannten Aufzeichnungen. Unter den letzteren aber spiegele eine, die relativ vollständigste und für unser Wesen wichtigste, dessen außenwirkliche Umgebung so wie die Mattglasscheibe eines photographischen Apparates wieder. Vergegenwärtigen wir uns das Verfahren, vermittels dessen sich ein solches Wesen in seiner Umwelt orientierte, und statten wir es mit gnoseologischen Fähigkeiten aus, so finden wir, daß es wie nach anderen so nach den in diesem Kapitel erörterten Hinsichten zu denselben ontologischen Anschauungen wie wir käme. Das gilt zunächst von seinem Außenwirklichkeitsbilde. Unser Wesen würde nämlich, wie wir früher gezeigt haben, die Aufzeichnungen seiner Mattglasscheibe in demselben Sinne wie wir unsere Sichtempfindungen zu einer scheinbar dreidimensionalen Wahrnehmungswelt ausbauen. Dem Räume dieser letzteren aber verliehe es der Einzigkeit des wahren Außenwirklichkeitsraumes gemäß dasselbe Monopol, das wir dem Sichtraume verleihen. Es ordnete also seine anderen Registrationen, sie gnoseologisch verschiebend, so in den Mattglasscheibenraum ein, wie wir unsere nicht sichthaften Immanenzbestände in den Sichtraum einordnen. Und wie uns das offene Immanenzsystem so wäre ihm diese offene Mattglasscheibenwelt eine vollendete und unhemmbare Erscheinung. Denn es hätte keine Möglichkeit, ihren Erscheinungscharakter aufzuheben, da ihm seine wahre Außenwirklichkeit verborgen bliebe. In der letzteren aber lebte es. Daher wäre es wie wir Bürger zweier Welten. Denn es glaubte in seiner Mattglasscheibenwelt zu sein. Und es wäre in einer ihm unbekannten Welt. Es verhielte sich in dieser Hinsicht wie das von uns geschilderte Wesen, das in unserer
Die Veranscbaulichung des Ergebnisses an einem Modelle
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Außenwirklichkeit lebend, aber dauernd an eine Panorama- oder Lichtspielvorführung seiner Umgebung gebunden, diese Vorführung für die Außenwirklichkeit selber ansähe, in sie kraft falscher Raumverlängerung auch seine Ichgebilde hineinverlegte und damit der nur gnoseologischen Vorführung, dh. in unserem Falle der Mattglasscheibenwelt, seine eigene ontologische Bestandart verliehe. Denken wir diese Situation durch, so finden wir außerdem, daß unser Wesen zu seiner Mattglasscheibenwelt wie wir zu unserer Wahrnehmungswelt in dem Verhältnisse einer immanenzontologischen Ueberschneidung, nicht aber in dem einer psychophysischen Relation stünde, während sein Verhältnis zu der wahren Außenwirklichkeit wie unser Verhältnis zu der uns transzendenten Welt das der psychophysischen Relation und nicht das der Ueberschneidung wäre. Infolge dieser Beziehungen gelangte unser Wesen auch über die Räumlichkeit und den Ort seines Bewußtseins zu denselben Anschauungen wie wir. Es käme sich trotz seiner Räumlichkeit unräumlich vor. Denn es kennte weder die ontologische Ausdehnung seiner Registrationen, da es diese für die Erdeutung der ihm fremden Mattglasscheibenwelt verbraucht hätte. Noch kennte es die ontologische Ausdehnung seiner Ichgebilde, da sie der Abstraktion seines bewußtheitlichen Erlebens entginge. Und es käme sich trotz seiner Oertlichkeit ortlos vor. Denn in der ihm allein bekannten gnoseologischen Mattglasscheibenwelt hätte es als ontologischer Bestand keine Heimat. Trotzdem wiese es sich in dieser an dem Orte der ihm unmittelbar nicht sichtbaren Darstellung seiner Registrierkammer einen Platz an. Diese widerspruchsvolle Maßnahme aber führte bei ihm wie bei uns zu den Problemen der Ejektion und der Introjektion. Denn es hätte seine Registrationen in peripherer und ultraperipherer Deutung von der ihm transzendenten Wirklichkeit seiner Kamera aus ejiziert. Und es hätte sie anderseits in die ihm immanente Repräsentation dieser Kamera introjiziert. Endlich träten dieselben Probleme, die bei uns mit der Lage, Größe und Richtung der Netzhautbilder verbunden sind, bei unserem Wesen ebenfalls auf. Seine Aufzeichnungen der Umweltbestände registrierten sich in der Kammer. Sie würden aber infolge ihrer Ejektion als außerhalb des Wahrnehmungsbildes dieser Kammer liegend erblickt. Sie wären kleiner als die Kammer. Aber sie würden größer als deren Repräsentation gesehen. Und sie wären umgekehrt. Aber für unser Wesen stünden sie aufrecht. Denn es kennte nur ihre korrelative Richtung zueinander und nicht ihre Richtung relativ zu den wahren Umweltbeständen. Auch durchdränge die Mattglasscheiben-
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weit unseres Wesens mit denselben Vorbehalten, die für uns galten, zwar geometrisch den Raum seiner wahren Wirklichkeit. Aber ontologisch wäre ihre Bestandordnung gegen die der letzteren ebenso verschoben, wie die Bestandordnung unserer Wahrnehmungswelt gegen die der transzendenten Außenwirklichkeit verschoben ist. Dabei bewährte sich seine Mattglasscheibenwelt in demselben Umfange wie unsere immanente Welt. Denn in den für unser Wesen praktisch wichtigen Hinsichten gliche sie der in ihr dargestellten Wirklichkeit Deshalb könnte sie diese so wie unsere Wahrnehmungswelt die transzendente Außenwirklichkeit vertreten. Es zeigt sich nachalledem, daß unser Wesen durchgehends vor denselben ontologischen Situationen wie wir stünde. Das ist kein Zufall. Denn wir brauchen, wie früher gezeigt worden ist, nur seine Registrierkammer durch den Schädel und seine Aufzeichnungen durch die Sinneserregungen der Großhirnrinde zu ersetzen, um festzustellen, daß unsere Einbettung in die Außenwirklichkeit der seinen gleicht. Daher können wir an Stelle dieses Modells auch uns selber setzen. Das von uns fingierte Wesen glaubte in seiner Mattglasscheibenwelt die es umgebenden Dinge zu erblicken. Aber ontologisch läge ihm eine Glasscheibe vor. Doch wüßte es nichts von dieser. Ebenso glauben wir in der Wahrnehmungswelt die uns umgebende Wirklichkeit zu schauen. Aber ontologisch liegt auch uns etwas anderes vor. Dieses andere haben wir als deutungslose Empfindungen bezeichnet. Doch fragt es sich, was die letzteren sind. Jedenfalls sind sie stofflich. Denn sie werden als ontologisch an sich bestehend vorgefunden, sind räumlich ausgedehnt, haben eine Qualität und sind kausal wirksam. Ihr Stoff wäre flächenhaft, wenn jene Empfindungen selbständig wären. Aber wir erkannten, daß dies nicht der Fall sein dürfte, und daß vermutlich alle Bewußtseinsbestände in abstrakt erfaßten Beschaffenheiten, Zuständen oder Vorgängen eines dreidimensionalen Stoffes bestehen, der das ontologische Fundament des Bewußtseins bildet. Was ist dieser Stoff? Nach einer verbreiteten Lehre ist er ein von allem Außenwirklichen verschiedener Bewußtseinsstoff. Diese Lehre fußt darauf, daß unser Bewußtsein beansprucht, etwas grundsätzlich anderes zu sein als die Außenwelt. Nehmen wir einmal an, es gäbe jenen Stoff. Dann wäre zwar das, was wir von ihm erfassen, abstrakt und unselbständig. Er aber wäre selbständig und träte der Großhirnrinde als ein, wenn auch aus einer anderen Sphäre stammender, so doch ontologisch gleichwertiger Partner gegenüber.
Der Stoff des Bewußtseins
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Aber gegen diese Lehre sprechen gewisse Bedenken. Zunächst unterschiede sich der Bewußtseinsstoff, wenn man von seinen noch zu behandelnden Ganzheitsqualitäten absieht, nicht von den außenwirklichen Stoffen. Er wäre geometrisch wie sie gebaut und in die Außenwirklichkeit eingebettet. Er tauschte mit ihnen seine Energien aus. Auch wäre er nicht feiner und flüchtiger. Sind doch viele außenwirkliche Stoffe feiner und flüchtiger als die feinsten und flüchtigsten Bewußtseinsbestände. Endlich wäre er nicht ohne Masse und Gewicht. Denn das Kennzeichen der Masse, die Trägheit ist allen Bewußtseins^ beständen eigen. Und da das Gewicht ein Korrelat der Masse ist, so käme es dem Bewußtseinsstoffe ebenfalls zu. Doch hätte er alle diese Eigenschaften nur in seiner ontologischen Vollständigkeit. Nicht dagegen könnten sie ohne weiteres auch den von uns erfaßten abstrakten und daher unvollständigen Gebilden zugeschrieben werden. Der ontologisch vollständige Bewußtseinsstoff aber unterschiede sich nicht von den Außenwirklichkeitsstoffen. Auch erleichterte er nicht unser Verständnis des Bewußtseins. Denn dessen uns verborgene Tiefenschichten würden durch ihn, obwohl er ein spezifischer Bewußtseinsstoff sein soll, nicht bekannter. Und daß die erlebniseinheitliche Bestandordnung gegen die der Großhirnrinde verschoben ist, erklärte er nicht. Das erklärt sich, wie noch zu zeigen sein wird, anders. Lehrten uns doch schon unsere früheren Untersuchungen, daß der Stoff des Bewußtseins in dessen ontologischer Darbietung noch dieselbe Bestandordnung wie die Großhirnrinde aufweist, und daß jene Verschiebung erst innerhalb des Bewußtseins selber, nämlich bei dem Uebergange seiner Bestände von ihrer ontologischen Gegebenheit zu ihrer gnoseologischen Deutung erfolgt. Könnte so der vermeintliche Bewußtseinsstoff einerseits nichts erklären, so führte er uns anderseits vor Rätsel. Denn gäbe es ihn, woher käme er bei der Geburt? Wohin ginge er bei dem Tode? Käme er aus dem Nichts und sänke in es zurück? Das widerspräche dem Satze vom Grunde. Oder erzeugte ihn das Gehirn? Aber dann wäre er ein außen wirkliches Produkt. Oder liegt er von Ewigkeit zu Ewigkeit bereit und wird von jedem Bewußtsein nur lebenslänglich benutzt? Dann nimmt es wunder, daß diese seine Bereitschaftsstellung nicht nachweisbar ist. Außerdem kämen wir damit zu der von uns als unhaltbar erkannten Theorie eines selbständig neben der Außenwirklichkeit bestehenden Bewußtseinsreiches. In jedem Falle aber bliebe es befremdlich, daß zwei, zu ontologisch verschiedenen Sphären gehörende und dementsprechend nach ihrer Masse nicht gegeneinander austauschbare Stoffe in psychophysischer Wechsel-
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Wirkung stünden, dh. ihre Energien austauschten. Zeigt uns doch die Physik, daß sich Energie und Masse nicht voneinander trennen lassen. Daher schließt der in der psychophysischen Wechselwirkung zum Ausdruck kommende energetische Monismus des Bewußtseins und der Großhirnrinde zugleich einen Monismus ihrer Stoffe ein. Die Lehre von dem besonderen Bewußtseinsstoffe aber vertritt den entgegengesetzten Dualismus. Diese Lehre ist also mit einer psychophysischen Wechselwirkung nicht vereinbar. Der transzendenzontologische Befund des Bewußtseins weist uns in eine andere und zwar in dieselbe Richtung, in die uns die immanenzontologischen Erörterungen über die Schichtung der Erlebniseinheit wiesen. Wir erkannten dort, daß die erlebniseinheitlich überdeckten Bewußtseinsbestände selbst nicht erlebniseinheitlich sind und räumlich wie naturgesetzlich einen außenwirklichen Charakter tragen. Deshalb rechneten wir schon damals damit, daß diese Unterstrukturen des Bewußtseins stofflich mit der Großhirnrinde identisch seien. Unsere gegenwärtigen Erörterungen führen zu derselben Vermutung. Denn ein Stoff ist in unserer Erlebniseinbeit anwesend. Und er kann nur außenwirklich oder nicht außenwirklich sein. Ist er letzteres, dann ist er ein besonderer Bewußtseinsstoff. Das aber dürfte, wie wir soeben gesehen haben, nicht zutreffen. Also ist er außenwirklich. Und dann kommt nur die Großhirnrinde für ihn in Frage. Diese erfüllte demnach innerhalb des Schädels als des transzendenzontologischen Ortes unseres Bewußtseins die einem solchen Stoffe zukommenden Funktionen. Daß das der Fall ist, tritt zutage, wenn man den Stoff des Bewußtseins von seinen gnoseologischen Einschlägen entkleidet. Man erkennt dann erstens, daß seine Bestandordnung, wie soeben schon angedeutet wurde, dieselbe ist wie die Anordnung der Erregungszentren in der Großhirnrinde; zweitens, daß auch seine einzelnen Bestände da, wo sie der Prüfung zugänglich sind, nämlich in dem Gebiete der deutungslosen Empfindungen mit den ihnen zugrundeliegenden zentralen Erregungen bis auf ihre von uns noch zu behandelnde qualitative Beschaffenheit übereinstimmen; und endlich, daß sich auch unsere Akte so verhalten, als gingen sie unmittelbar an der Großhirnrinde selber vor sich. Die letztere leistet also das Gleiche wie der vermeintlich besondere Bewußtseinsstoff. Dann aber wäre dieser, gäbe es ihn, überflüssig, während die Großhirnrinde für den Bestand des Bewußtseins unentbehrlich ist. Wir können uns daher die Annahme eines besonderen Bewußtseinsstoffes sparen und an seiner Stelle die Großhirnrinde einsetzen.
Die Erlebniseinheit als iiberpbysische Gestalt
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Sie, und von allen Außenwirklichkeitsbeständen sie allein ragt dann unmittelbar in unsere Erlebniseinheit hinein. Eine Tatsache, die, wie wir noch sehen werden, unserer früheren Feststellung, daß die Großhirnrinde das eigentliche uns transzendente Ding an sich ist, nur scheinbar widerspricht. Es verhält sich demnach nicht so, wie wir es uns in der Immanenzontologie des täglichen Lebens denken, nach der die Stoffe der Umwelt in das wahrnehmende Bewußtsein hineinragen. Es gibt ferner keinen besonderen nicht außenwirklichen Bewußtseinsstoff, aus dem im Unterschiede zu den Wahrnehmungen etwa die Vorstellungen und Träume gemacht wären. Vielmehr bestehen alle Bewußtseinsbestände aus demselben Stoffe. Und dieser ist außen wirklich. Aber er ist nicht der Stoff unserer immanenten Umwelt, für den wir ihn halten, sondern der unserer transzendenten Großhirnrinde, für den wir ihn nicht halten. Es geht uns hierin wie dem von uns fingierten Wesen in der Registrierkammer. Wie dieses eine Glasscheibe vor sich hat, aber seine Umgebung zu sehen glaubt, so haben wir unsere uns transzendente Großhirnrinde vor uns, glauben aber, die Bestände der immanenten Wahrnehmungswelt zu erblicken. Die Großhirnrinde ist zwar der Stoff des Bewußtseins, aber nicht dieses selber. Denn das Bewußtsein geht nicht in seinem Stoffe auf. Vielmehr hat in ihm der letztere, wie wir noch sehen werden, eine nur dienende Bedeutung. Was also ist das Bewußtsein abgesehen von seinem Stoffe? Vielfach meint man, es handhabe als ein unkörperliches Einzelwesen diesen Stoff, also die Großhirnrinde wie ein Schaltwerk. Aber hiergegen spricht mancherlei. Denn ist jenes Einzelwesen nicht körperlich, dann ist es nicht räumlich, und wir sahen, daß es keine unräumlichen Bewußtseinsgebilde geben dürfte. Ist es aber körperlich, dann ist es entweder aus einem außenwirklichen Stoffe und fällt mit der Großhirnrinde zusammen; oder es ist aus einem nicht außenwirklichen Bewußtseinsstoffe, und den haben wir abgelehnt. Auch müßte es, um in der genannten Weise die Großhirnrinde zu handhaben, mindestens so kompliziert wie diese sein. Dann aber hätten wir zunächst seine eigene Komplikation zu erklären, und die Lage wäre problematischer als zuvor. Zu einem einfacheren Ergebnisse gelangt man von der Erwägung aus, daß das Bewußtsein ein Lebensgebilde ist. Das Lebende unterscheidet sich von dem Toten nicht durch ein zu ihm tretendes Einzelwesen sondern durch seine Systematik. Wenn Pflanzen oder Tiere sterben, so entweicht nicht aus ihnen ein Lebensträger, sondern ihre
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ihre organische Systematik geht in anorganische über. Alles andere bleibt sich gleich. Nun erhebt sich das Bewußtsein über dem unbewußten Leben so, wie sich das Leben über dem unbelebten Stoffe erhebt. Daher dürfen wir annehmen, daß in beiden ein ähnliches Prinzip waltet, dh. daß sich das Bewußtsein von dem unbewußten Leben des Körpers ebenfalls nur durch seine Systematik unterscheidet. Es bestünde dann nicht aus einem zu der Großhirnrinde tretenden Einzelwesen sondern aus neuen Beziehungen in ihr. Durch sie würde der physische Stoff der Großhirnrinde zu einem Stoffe des Bewußtseins. Ohne sie wäre er physisch. Das Wesen jedes Systems liegt, wie wir seinerzeit darlegten, in seinem Systemcharakter, bei Systemen mit kausalem Realcharakter also darin, wie die in ihnen enthaltenen Bestände aufeinander wirken. Demgemäß ist der Systemcharakter der Lebewesen der in ihnen waltende zeitlich begrenzte und nur bruchstückweise von uns verstandene Kausalzusammenhang ihrer Teile. Diese aber bilden manichfache unter sich zusammenhängende Partialsysteme. Hierbei sind die letzteren teils sich gleichgeordnet, teils gestaffelt, und zwar so, daß jedes gestaffelte Partialsystem ein anderes System voraussetzt, auf dem es fußt. Unser Bewußtsein stellt ein solches gestaffeltes Partialsystem innerhalb des leiblichen Lebens dar. Es setzt die Zentralsystematik eines hochentwickelten Nervensystems voraus, wie das letztere die Systematik einer hochentwickelten Körperstruktur voraussetzt. Aus diesen Systemzusammenhängen geht das Bewußtsein hervor, auf sie bleibt es angewiesen, sie beherrscht es und mit ihnen geht es zugrunde. Mit ihnen teilt es auch seine Stoffe und Energien. Es bezieht diese nicht aus einer anderen ontologischen Sphäre sondern aus den Strukturzusammenhängen des Leibes und führt sie zeitweilig aus ihrer außenwirklichen in seine bewußtseinswirkliche Systematik über. Eine solche Eigensystematik hat das Bewußtsein, wie wir früher dargelegt haben, nur in seinen erlebniseinheitlichen Simultanschnitten. Denn sah man von deren Vergangenheits- und Zukunftsgnoseologie ab, so war der Sukzessivcharakter des Bewußtseins, die psychische Kausalität ein mnemisches Geschehen. Jede Erlebniseinheit aber bildet eine sogenannte Gestalt, dh. ein Ganzes, dessen Wesen sich nicht aus der Summierung seiner Teile sondern aus anderen sie beherrschenden Prinzipien erklärt. Diese Prinzipien sind, wie wir schon früher andeuteten, überphysisch. Damit soll negativ gesagt werden» daß sie der für das Physische geltenden Begriffsbildung unzugänglich sind; positiv, daß sie eine physische Grundlage haben und in dem naturgesetzlichen Zusammenhange der Wirklichkeit stehen.
Die Erlebniseinheit als überphysische Qestalt
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Die folgenden Erörterungen sollen in Ergänzung der bisherigen Untersuchung die Beziehungen der erlebniseinheitlichen Gestalt zu der Großhirnrinde darlegen. Hier begnügen wir uns damit, die Haupteigenschaften jener Gestalt aufzuzählen. Zu diesen gehört die schon früher von uns erörterte Unteilbarkeit der Erlebniseinheit, kraft deren sie selbst von jeder Teilung ihrer Bestände unberührt bleibt. Zu ihnen gehört ferner die noch zu behandelnde Geschlossenheit ihrer inneren Systematik. Ihre ebenfalls noch zu behandelnde Ganzheitsformierung. Der abstrakte und ontologisch nicht vollwertige Charakter ihrer Bestände. Ihre für ihren inneren Aufbau maßgebende Gnoseologie. Und die Bindung aller ihrer Bestände an den ontologischen Bestand des Ich. Zu ihren Eigenschaften gehört es auch, daß sich die Staffelungen, aus denen sie hervorgegangen ist, in ihr fortsetzen. So staffeln sich innerhalb der Erlebniseinheit Ganzheiten über Komplikationen, Bemerktes über Dargebotenem und gnoseologisch Gemeintes über ontologisch Vorliegendem. Hierdurch entstehen Duplizitäten, kraft deren individualbegrifflich dieselben Bewußtseinsbestände allgemeinbegrifflich scheinbar zwei sich ausschließende Beschaffenheiten tragen. Dieses Faktum erklärt sich, wie zum Teile schon aus unseren früheren Erörterungen hervorgeht, dadurch, daß jene Beschaffenheiten nicht zu dem betreffenden Bestände als solchem sondern zu den sich an ihm staffelnden Systemzusammenhängen gehören. An allen hier genannten Eigenschaften hat die Erlebniseinheit teil. Aber sie wird nicht durch sie erschöpft. Vielmehr entzieht sich gerade ihr Spezifikum, das Erleben, wie wir früher dargelegt haben, der begrifflichen Bestimmung. Auch läßt sich zwar der wechselseitige Zusammenhang jener Eigenschaften verstehen. Aber sie lassen sich nicht in dem eigentlichen Sinne des Wortes erklären. Denn das hieße, sie mit der Begriffsbildung der Physik begreifen. Und für diese ist das Ueberphysische unbegreiflich. Als überphysische Gestalt spielt sich die Erlebniseinheit in dem physischen Gebiete der Großhirnrinde ab. Danach bestimmen sich ihre ontologischen Beziehungen zu dieser. Es sind Raum-, Transzendenz- und Kausalbeziehungen. Für ihre Raumbeziehungen ist die Beweglichkeit der erlebniseinheitlichen Gestalt charakteristisch. Sie kann sich, da die Erregungszentren des Großhirns an verschiedenen Stellen liegen, und wir nicht alle seine Erregungsweisen jederzeit erfassen, bald über das eine bald über das andere Zentrum erstrecken und ihr Feld entsprechend erweitern, verengen oder verschieben. Dabei scheint sie sich nur dann auf solche Zentren zu erstrecken, wenn sie in bestimmter 32
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Das psychophysische Problem in der Transzendenzontologie
Weise erregt sind. Das erklärt den Wechsel der Bewußtseinsbestande. Die Erregungszustände wechseln. Dagegen bleibt deren stoffliche Grundlage, wenn nicht unter anderen Erregungsformen in den von uns erfaßten, dann in den nicht von uns erfaßten Teilen der Großhirnrinde erhalten. Auch ist in diesen Verhältnissen die von uns behandelte Ueberbrückung der bewußtseinsräumlichen Lücken begründet. Sind nämlich Bestände der Großhirnrinde nur in bestimmter Erregung für die erlebniseinheitlichen Beziehungen empfindlich, dann gehen die letzteren, wenn unerregte Bestände zwischen den erregten liegen, durch die ersteren, ohne sie zu affizieren, hindurch. Daher sind diese innerhalb der Erlebniseinheit so wie nicht vorhanden. Sie werden überbrückt. Unsere Ueberbrückung der bewußtseinsräumlichen Lücken ist demnach ein Nichterfassen gewisser Teile der Großhirnrinde. Von solchen Raumbeziehungen unterscheiden sich die Transzendenzbeziehungen zwischen der Großhirnrinde und der Erlebniseinheit. Sie sind dadurch bedingt, daß die erstere nur teilweise in die letztere eingeht. Und sie sind je nach der Art, in der unsere Großhirnrinde außerhalb der Erlebniseinheit bleibt, verschieden. Zunächst ist uns, wie wir noch sehen werden, die außenwirkliche Detailstruktur des von uns erfaßten Gebietes der Großhirnrinde infolge einer Ueberdeckung durch erlebniseinheitliche Ganzheitsformationen verborgen. Daher ist uns dieses Gebiet zwar nach seinem individualbegrifflichen Bestände immanent, nach seiner allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit aber transzendent. In einem anderen Sinne verbirgt sich uns, was der abstrahierende Charakter der Erlebniseinheit an den von ihr erfaßten Beständen der Großhirnrinde nicht miterfaßt. Hier waltet die Transzendenz des ontologisch vollständigen Gebildes gegenüber seinen bloßen Beschaffenheiten, Zuständen oder Vorgängen. Und endlich sind uns diejenigen Teile der Großhirnrinde verborgen, die in unsere Erlebniseinheit wie die räumlich außerhalb von dieser liegenden und die von ihr überbrückten Partien überhaupt nicht eintreten. Sie sind uns kontiguitätstranszendent. Als Bezugsgefüge in der Großhirnrinde bildet unser Bewußtsein mit dieser eine ontologischeEinheit. Danach bestimmen sich drittens seine Kausalbeziehungen zu ihr. Sie spielen sich nicht zwischen Erlebniseinheit und Großhirnrinde als stofflich trennbaren Partnern sondern innerhalb der letzteren zwischen erlebniseinheitlicher und nicht erlebniseinheitlicher Systematik ab. Demgemäß wird mit jeder Erregung des Bewußtseins als ihr Stoff auch die Großhirnrinde und mit vielen Erregungen der Großhirnrinde als ein in ihr auftretendes Bezugsgefüge das Bewußtsein erregt. In beiden Fällen ist ein und derselbe
Die erlebniseinheitliche Geschlossenheit
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Stoff nach Maßgabe seiner Teilhabe oder Nichtteilhabe an der Erlebniseinheit sowohl aktiv als auch passiv. Das gibt den psychophysischen Wechselbeziehungen ihr einheitliches Gepräge. Die erlebniseinheitliche Systematik ist, wie wir seinerzeit feststellten, offen und geschlossen. Offen, insofern sich ihre Bestände und Energien nicht gleich bleiben sondern auftauchen, wachsen, abnehmen und verschwinden. Geschlossen, insofern niemand in die Erlebniseinheit des anderen eintreten kann. Diese Geschlossenheit beruht nach transzendenzontologischer Auffassung darauf, daß sich die erlebniseinheitliche Systematik nur über gewisse Bezirke des Großgehirns erstreckt, jenseits deren das letztere für sie so ist, als wäre es nicht da. Eine solche Geschlossenheit ist mit jener Offenheit vereinbar. Entsprechende Bezugsverhältnisse gelten für alle Systeme mit einem realen Systemcharakter. Denn zu solchen Systemen gehört nur, was innerhalb, und nicht, was außerhalb ihrer Systematik liegt, selbst wenn dies deren eigene Ursachen oder Wirkungen sind. Sie sind dann energetisch offen, systematisch aber geschlossen. So gehört zu der Systematik eines Kristalles nur das Geschehen in seiner Gitterstruktur, nicht das in der Lösung, aus der er sich aufbaut. Gegen diese ist er systematisch geschlossen. Zu einer Pflanze gehören nur ihre Lebensvorgänge, nicht die Vorgänge in ihrem Erdreiche, auch nicht wenn diese zu ihrer Ernährung beitragen oder durch die Bewegung ihrer Wurzeln verursacht werden. Gegen das Erdreich ist vielmehr auch sie systematisch geschlossen. Zu einer Melodie gehören nur deren Klänge, aber nicht die instrumentalen Bewegungen, die die Klänge hervorrufen. Sie ist gegen diese letzteren abermals systematisch geschlossen. Usw. Allenthalben also sind solche Systeme nach ihrer Innensystematik geschlossen und nach ihrer Außenkausalität offen. Oder anders ausgedrückt: sie sind geschlossen inbezug auf das, was sie für sich selbst sind, und offen inbezug auf das, was sie für andere Bestände sind. Mit der Erlebniseinheit verhält es sich ebenso. Sie hat eine zu ihr gehörende geschlossene Innensystematik und eine nicht zu ihr gehörende offene Außenkausalität. Das Besondere ihrer Geschlossenheit aber liegt für uns darin, daß wir selber die Träger jener Innensystematik sind. Daher kann uns nur, was diese erfaßt, immanent werden. Was sie nicht erfaßt, bleibt uns transzendent. Deshalb transzendiert uns auch unsere Außenkausalität. Denn sie bezieht sich aktiv und passiv auf die außerhalb der Erlebniseinheit liegenden Gebiete der Großhirnrinde. Das für die Immanenzontologie problematische 32*
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Verhältnis zwischen der inneren und der äußeren Systematik des Bewußtseins bestimmt sich demnach in der Transzendenzontologie dahin, daß jene die von der Erlebniseinheit erfaßten, diese die nicht von ihr erfaßten aber kausal mit ihr zusammenhängenden Gebiete der Großhirnrinde betrifft. Hierbei ist im Hinblicke auf frühere Erörterungen noch daran zu erinnern, daß die Grenzen zwischen dem erlebniseinheitlich Erfaßten und dem nicht Erfaßten teils scharf geschnitten teils fließend sind. Das letztere gilt zB. für das flüchtige Aufsteigen von Vorstellungen und Gedanken oder für die beginnende Automatisierung gewohnheitsmäßiger Handlungen. Eine Grenze zwischen dem Bewußten und dem Nichtbewußten läßt sich da nicht immer ziehen. Auch bleibt der abstrahierende Charakter der Erlebniseinheit zu beachten, der es, wie wir gesehen haben, bedingt, daß wir von den Beständen der Großhirnrinde nur gewisse Züge erfassen, während andere von ihnen ontologisch nicht trennbare Züge unerfaßt und außerhalb der Erlebniseinheit bleiben. Die letztere ist also gegen die ontologische Wirklichkeit der von ihr erfaßten Bestände offen, weil sie etwas, und geschlossen, weil sie nicht alles von ihnen erfaßt. Man kann sich die durch die Offenheit und die Geschlossenheit der Erlebniseinheit bedingten Verhältnisse unseres Bewußtseins an einem Gleichnisse veranschaulichen. Ich denke mir eine Mannschaft, die unter dem Lichtkegel einer Leuchtvorrichtung in dauernder Nacht arbeitet. Der belichtete Geländeteil ist dann inbezug auf seine Belichtung geschlossen. Denn ringsum ist es dunkel. Energetisch aber ist er offen. Denn er steht mit seiner dunkelen Umgebung in kausalen Beziehungen. In jenem hellen Bezirke lebe ein Wesen, dessen Bewußtsein in Lichtwahrnehmungen aufgehe, und das zu einer Dunkelwahrnehmung unfähig sei, die Finsternis also nicht schwarz sehe, sondern überhaupt nicht innewerde. Ein solches Wesen kennte dann nur seinen Lichtbezirk. Dagegen hätte es von einer Umgebung dieses letzteren keinen Begriff. Und jenen Bezirk kennte es nur nach seinen durch die Leuchtvorrichtung bedingten Helligkeitsqualitäten, nicht dagegen so, wie er in der Dunkelheit ist. Ebenso ergeht es uns mit der Großhirnrinde. Wir kennen an ihr nur die erlebniseinheitlich von uns erfaßten Teile. Von einer Umgebung dieser letzteren haben wir, wie sich sogleich zeigen wird, keinen Begriff. Und jene Teile kennen wir nur nach ihrer durch die erlebniseinheitliche Systematik bedingten Bewußtseinsbeschaffenheit, nicht dagegen so, wie sie an sich sind.
Die erlebniseinheitliche Geschlossenheit
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Daß die Bewußtseinsbestände ontologisch für uns umgebungslos sind, kommt zum Vorscheine, wenn man fragt: was liegt rings um unser Sichtfeld? In der deutungserfüllten Wahrnehmungswelt liegt dort der außenwirkliche Bezirk jenseits der Ueberschneidung. Aber was liegt rings um unsere deutungslosen Sichtgegebenheiten? Oder was liegt rings um die Gegebenheiten eines Vorstellungsbildes? Hierauf gibt es nur eine Antwort: es liegt dort für uns nichts, ebenso wie für jenes Lichtwesen rings um seinen Lichtkegel nichts lag. Zu einem gleichen Ergebnisse käme übrigens auch das früher von uns fingierte Kamerawesen. Denn es fände, wenn es auf die deutungslose Gegebenheit seiner Wahrnehmungen zurückginge, rings um diese ebenfalls nichts. Es hätte wie wir von einer Umgebung solcher Gegebenheiten keinen Begriff, da diese zu einem ihm transzendenten Wirklichkeitsbezirke gehörte. Man könnte entsprechende Erwägungen auf alle Bewußtseinsgebilde anwenden und fände dann, daß der gesamte ontologische Bestand der Erlebniseinheiten von nichts umgeben ist. Doch wir kehren zu unserem Gleichnisse zurück. Infolge der dort geschilderten Verhältnisse hätte das von uns fingierte Lichtwesen ein eigentümliches Bild sowohl von dem Bestandwechsel als auch von seinem eigenen Auftreten innerhalb des Lichtbezirkes. Träte aus diesem nämlich ein Arbeiter in das Dunkel, so verschwände er für unser Wesen, da es von den dunkelen Geländeteilen nichts wüßte, in das Nichts. Und träte er aus dem Dunkel in den Lichtkreis zurück, so käme er ihm aus dem Nichts. Verlöschte ferner die Leuchtvorrichtung, so versänke ihm sein eigenes Bewußtsein, da es in Lichtwahrnehmungen aufginge, in jenes Nichts. Und leuchtete sie wieder auf, so tauchte es frisch aus dem Nichts empor. Jeder Uebergang aus dem Dunkelen in das Helle erschiene ihm als eine Neuschöpfung. Und jeder Uebergang aus dem Hellen in das Dunkele als eine Vernichtung. Auch hierin geht es unserer Erlebniseinheit ebenso, da sie von ihrer Umgebung in der Großhirnrinde nichts weiß. Ihre einzelnen Bestände und zeitweise auch sie selber verschwinden, wie wir mehrfach dargelegt haben, in ein scheinbares Nichts und tauchen wieder aus ihm empor. Es ist so, als würden sie immer wieder vernichtet und neu geschaffen. In dem Falle unseres Gleichnisses ist das, was das Lichtwesen als ein Nichts anspricht, in Wahrheit und für andere der Dunkelwahrnehmung fähige Wesen ein Gelände von derselben Art wie das in dem Lichtkegel anwesende, nur daß ihm die Belichtung fehlt. Ebenso verhält es sich mit dem Nichts, das unser deutungsloses Sichtfeld umgibt, in das unsere Erlebniseinheiten oder ihre Bestände ver-
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schwinden, und aus dem sie wieder emportauchen. Es ist nur für uns ein Nichts. In Wahrheit und für die Transzendenzontologie ist es die gleiche Großhirnrinde wie die in der Grlebniseinheit anwesende, nur daß ihr die erlebniseinheitliche Erfassung fehlt. Das für die Immanenzontologie unerklärbare Verschwinden der Erlebniseinheiten oder ihrer Bestände in das Nichts erweist sich somit in der Transzendenzontologie als ihr Uebergang aus der überphysischen Bewußtseinssystematik in die physischen Strukturen der Großhirnrinde, und ihr Emportauchen aus dem Nichts als ein Uebergang physischer Gehirnvorgänge in die überphysische Bewußtseinssystematik. Die Erlebniseinheiten und deren Bestände wechseln hierbei ihren Zustand, werden aber nicht vernichtet oder neu geschaffen. Es ist sonach, wenn dieser Begriff überhaupt sinnvoll ist, kein absolutes Nichts, von dem unsere Erlebniseinheiten oder ihre Bestände umgeben werden, in das sie verschwinden, und aus dem sie emportauchen. Es ist auch kein Nichts in dem Sinne des Nichtwirklichen. Sondern es ist nur nichts Erlebniseinheitliches, dh. ein Nichts nur relativ zu unserer ontologischen Horizontenge. Wir bezeichnen es als das relative Nichts des Bewußtseins. Nur unter der Voraussetzung einer solchen Relativität dieses Nichts läßt sich das Verhalten der Erlebniseinheiten und ihrer Bestände begreifen. Wäre das Nichts absolut, dann wäre ihre Umgebungslosigkeit, ihr Verschwinden und ihr Wiederauftauchen unbegreiflich. Es widerspräche dem Satze vom Grunde. Als das relative Nichts des Bewußtseins ist unsere Großhirnrinde ein Teilbestand der transzendenten Außenwirklichkeit. Diese aber ist das relative Nichts der Wahrnehmungswelt. Denn wie für unser Bewußtsein die Großhirnrinde, so ist für die Wahrnehmungswelt die gesamte transzendente Außenwirklichkeit nicht vorhanden. Sonach ist jenes erstere Nichts ein Teil dieses letzteren. Für uns aber ist das erstere durch seinen unmittelbaren Zusammenhang mit der Außenkausalität unseres eigenen Bewußtseins ausgezeichnet. Wie die nicht von uns erfaßten Teile der Großhirnrinde für die innere Systematik der Erlebniseinheit, da sie außerhalb von ihr liegen, verschwinden, so verschwindet auch umgekehrt die erlebniseinheitliche Innensystematik für die außerhalb von ihr liegenden Bestände. Das wird deutlich, wenn man fragt, ob die Erlebniseinheiten wahrnehmbar sind. Diese Frage ist für die außenkausale Offenheit des Bewußtseins, wenn man die tatsächlich bestehenden Verhältnisse zugrundelegt, in einem uneigentlichen, und wenn man in einem Gedanken-
Die Unwahrnehmbarkeit der Erlebniseinheit
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experimente andere Verhältnisse einführt, auch in dem eigentlichen Sinne des Wortes zu bejahen. Für seine innensystematische Geschlossenheit dagegen ist sie zu verneinen. In einem uneigentlichen Sinne gewahren wir das Bewußtsein des anderen in seinen durch die Großhirnrinde vermittelten außenkausalen Kundgaben: in Sprache und Schrift, Mienenspiel und Bewegung, Handlung und Werk. Dabei fußt unser Verständnis solcher Kundgaben auf der Annahme ihrer Zuordnung zu einer erlebniseinheitlichen Innensystematik. Dh. den uns wahrnehmbaren Zeichen, ihrem Bedeutungsgehalte und der Art ihrer Uebermittelung wird das Erleben des anderen konform gedacht. Denn obwohl dieses Erleben überphysisch und jene Kundgaben physisch sind, können sie sich bis in ihre feinsten Wendungen entsprechen, da das Prinzip der Zuordnung eine Entsprechung auch der artverschiedenen Gebilde ermöglicht. Bei einem solchen uneigentlichen Gewahren fremder Erlebniseinheiten schließen wir von den durch uns wahrgenommenen Kundgaben auf die sich kundgebende Erlebniseinheit, also von der Wirkung auf die Ursache. Jede echte Wahrnehmung enthält einen Schluß solcher Art. Aber nicht ist umgekehrt auch jeder Schluß solcher Art schon eine echte Wahrnehmung. Denn zu dieser gehört es, daß der Bestand, den wir wahrzunehmen glauben, innerhalb der transzendenten Außenwirklichkeit bei peripheren Wahrnehmungen das Sinneswerkzeug und bei ultraperipheren das spezifische Medium des Sinneswerkzeuges unmittelbar und in bestimmter Weise erregt. Nur dann nennen wir den betreffenden Bestand wahrgenommen und glauben, ihn vor uns zu haben. In diesem eigentlichen Sinne nehmen wir einen Körper wahr, wenn er in geeigneter Weise peripher auf unsere Tastwerkzeuge oder ultraperipher auf die unsere Netzhaut treffenden Lichtstrahlen unmittelbar einwirkt. Dagegen nehmen wir zB. den Druck eines Dampfkessels an dem Zeiger des Manometers nur uneigentlich wahr. Denn unmittelbar und adäquat wirkt hier nur dieser Zeiger und nicht der Dampfdruck auf das Medium des Sinneswerkzeuges. Deshalb bezeichnen wir auch nur den Zeiger und nicht den Dampfdruck als wahrgenommen. In demselben Sinne nehmen wir die fremde Erlebniseinheit durch ihre Kundgaben nur uneigentlich wahr. Denn hier werden unsere Sinneswerkzeuge nur durch diese Kundgaben, nicht aber durch die fremde Erlebniseinheit selber in der von uns bezeichneten Weise unmittelbar erregt. Daher sagen wir wieder nur von jenen, und nicht von dieser, daß wir sie wahrnehmen. Anders stünde es, wenn wir ein Sinneswerkzeug hätten, mit dem wir bei vollem Bewußtsein des anderen durch die Schädeldecke usw.
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Das psycbophysiscbe Problem in der Transzendenzontologie
hindurch alle Vorgänge in seiner Großhirnrinde beobachten könnten. Dann wären die Bedingungen einer echten Wahrnehmung auch der fremden Erlebniseinheit gegenüber erfüllt. Wir könnten sie demnach erblicken, sobald sie auf das spezifische Medium unseres Sinneswerkzeuges unmittelbar so einwirkte, daß sich in dem letzteren diese Wirkungen registrierten. Und das ist nicht ausgeschlossen. Denn wirkt die Erlebniseinheit auf die möglicherweise sichthaft vorstellbaren Vorgänge in der Großhirnrinde und durch deren Vermittelung auf die tatsächlich sichtbaren Bewegungen des Leibes, so könnte sie auch unmittelbar und adäquat auf das Medium unseres Sinneswerkzeuges wirken. Dann brauchten wir dem letzteren nur noch eine geeignete Stellung zu geben, um auch unsere eigene Erlebniseinheit wahrzunehmen. Doch nähme sich bei diesen Beobachtungen das, was wir sähen, anders aus als das, was erlebt wird. Denn wahrnehmen läßt sich die Erlebniseinheit nur nach ihrer Außenkausalität und nicht nach ihrer inneren Systematik. Das liegt daran, daß jedes Wahrnehmungsbild als mittelbare Wirkung des wahrgenommenen Bestandes an dessen Außenkausalität gebunden ist. Nur was in diese eingeht, gelangt zur Wahrnehmung. In die Außenkausalität der Erlebniseinheit aber geht deren Innensystematik nicht ein. Vielmehr ist die letztere, wie wir sahen, als überphysische Gestalt gegen ihre physische Umgebung und daher auch gegen ihre eigenen etwaigen Einwirkungen auf unser Wahrnehmungsmedium geschlossen. Deshalb wird sie nicht wahrgenommen. Der von uns fingierte Beobachter gewahrt also nur die physische Außenkausalität der fremden Erlebniseinheit, die von dieser nicht mehr erlebt wird sondern ihr transzendent ist. Ihre von ihr erlebte überphysische Eigensystematik dagegen bleibt ihm grundsätzlich unzugänglich. Sie ist für ihn so, als wäre sie nicht vorhanden. Diesen Verhältnissen tragen wir in der Aktrealisation des Fremdbewußtseins Rechnung. Wir beanspruchen nicht, das letztere wahrzunehmen, sondern wiederholen dieselbe Zuordnung, die wir zwischen der Erlebniseinheit und den Kundgaben des anderen voraussetzen, in der eigenen Erlebniseinheit, schieben also an die Stelle der uns unzugänglichen fremden die uns zugängliche Innen?ystematik unserer selbst. In der Offenheit und Geschlossenheit des Bewußtseins geben sich seine äußeren Beziehungen zu den nicht von uns erfaßten Gebieten der Großhirnrinde kund. Die folgenden Erörterungen betreffen seine inneren Beziehungen in dem von uns erfaßten Gebiete. Hier spielen zunächst, quantitativ durch ihre Endlichkeit und qualitativ durch eine
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von ihren Komponenten abweichende Beschaffenheit ausgezeichnet, die früher von uns beschriebenen erlebniseinheitlichen Ganzheitsformationen eine Rolle. Sie unterscheiden die Bewußtseinswirklichkeit der von uns erfaßten Gebiete der Großhirnrinde von ihrer Außenwirklichkeit. Denn sie bilden in der uns bekannten Schichtung der Erlebniseinheit deren erste sich unmittelbar über die Außenwirklichkeit der Großhirnrinde deckende Schicht. Wie sich in unserem Gleichnisse von dem Lichtkegel der Schein der Leuchtvorrichtung über alles legt, was das von uns fingierte Wesen in seinem von Dunkelheit umgebenen Lichtbezirke wahrnimmt, so legen sich unsere Ganzheitsformationen über alles, was wir in dem von der Außenwirklichkeit der Großhirnrinde umgebenen erlebniseinheitlichen Bezirke innewerden. Die quantitative Endlichkeit der Ganzheitsformationen macht sich in unserer anschaulichen Erfassung von Raum und Zeit geltend. Theoretisch sind dies, wenn wir die Außenwirklichkeit als Euklidisch betrachten, unendlichgroße und ins unendlichkleine teilbare Bezugssysteme. Praktisch aber kennen wir sie nur als endliche Ganzheiten, da wir unseren früheren Darlegungen zufolge weder das Unendlichgroße noch das Unendlichkleine anschauen können. Der letztere Umstand ist auch an unserer Nichterfassung des Eigenraumes der Großhirnrinde beteiligt. Wir kennen diesen Raum, wie gezeigt wurde, schon deshalb nicht, weil an seine Stelle für uns der deutungserfüllte Sichtraum tritt. Aber auch wenn wir von dem letzteren absehen könnten, erfaßten wir nicht die geometrische Außenwirklichkeitsstruktur der Großhirnrinde. Denn wir sähen dann von ihr zwar ein Flächenstück, dieses aber in einer seiner Außenwirklichkeit nicht zukommenden Ganzheitsformation und nicht in der dieser zukommenden Infinitesimalstruktur. Daß, wenn auch unter anderen Verhältnissen, etwas Aehnliches von unserer Zeiterfassung gilt, soll das folgende Kapitel darlegen. An der quantitativen Endlichkeit unserer Gauzheitsformationen liegt es, daß wir, wie ebenfalls schon gezeigt wurde, in den uns allein erschaubaren Flächen keine Linien und Punkte gewahren. Diese sind nämlich in einer Fläche infinitesimale Gebilde: und zwar die Linien als unendlichschmale Flächen und die Punkte als unendlichkurze Linien. Beide erfüllen somit nicht die für unsere Anschauung erforderliche Bedingung der zweidimensionalen Endlichkeit. Ebenso könnten wir, wären wir an die ganzheitliche Schau eines echten dreidimensionalen Raumes gebunden, in ihm keine Flächen sehen. Denn als unendlichdünne Körper erfüllten sie nicht die Bedingung der dreidimensionalen Endlichkeit. Usw. Die allgemeine Formel für diesen
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Sachverhalt lautet, daß in jeder n-dimensionalen eine n—m-dimensionale Manichfaltigkeit nach m Erstreckungen unendlichklein und daher für ein auf die Erfassung von n-dimensionalen Ganzheiten eingestelltes Wesen unanschaubar ist. Wichtiger als die quantitative Endlichkeit ist für unseren Problerakreis die qualitative Beschaffenheit der Ganzheitsformationen. Das gilt besonders für die Empfindungsqualitäten, also für den ontologischen Bestand der in unserem Bewußtsein anwesenden Nichtichgebilde. Diese Qualitäten sind allgemeinbegrifflich, wie wir früher festgestellt haben, den ihnen zugrundeliegenden Erregungsstrukturen in der Großhirnrinde zwar zugeordnet, aber nicht gleich. Denn unsere Empfindungen sind qualitativ und jene Erregungen qualitätlos. Daher erschien es bislang als aussichtslos, beide individualbegrifflich miteinander zu identifizieren. Das ist die letzte Schwierigkeit, die sich der Lehre von der Großhirnrinde als dem Stoffe unserer Empfindungen in den Weg stellt. In allen anderen Hinsichten drängte die Transzendenzontologie auf diese Lehre hin. Und schon die Immanenzontologie zeigte, daß die Unterstrukturen der Wahrnehmung nach Abdeckung ihrer erlebniseinheitlichen Schichtung einen außenwirklichen Charakter tragen. Nun aber ist die Annahme, daß Qualität und Qualitätlosigkeit individualbegrifflich nicht dasselbe sein könnten, und damit das Bedenken gegen eine Identifikation der Empfindungen mit den zerebralen Erregungsstrukturen, soweit sich das zur Zeit übersehen läßt, hinfällig. Denn gewisse Versuche der letzten Jahrzehnte zeigen, daß die Empfindungsqualitäten Ganzheitsformationen sind und als solche die räumlichen und zeitlichen Detailstrukturen eines Stoffes in sich bergen, der außerhalb seiner Ganzheitsformation qualitätlos sein dürfte. Ist das der Fall, so gehören die Empfindungsqualitäten als Ganzheiten nur zu unserer erlebniseinheitlichen Systematik. Ihr außerhalb dieser Systematik qualitätloser Stoff aber kann als außenwirklich betrachtet werden und ist dann, wie die vorangehenden Erörterungen gezeigt haben, der Stoff der uns transzendenten Großhirnrinde. Das qualitative Wesen der Empfindungen verbietet also, wenn die hier dargelegte Auffassung zu recht besteht, nicht ihre Identifikation mit der Großhirnrinde sondern setzt sie voraus. In dem Rahmen unserer Untersuchung kann nicht auf die Einzelheiten der genannten Versuche eingegangen werden. Ihr Grundprinzip ist das früher von uns behandelte einer Schaffung neuer Qualitäten durch ganzheitliche Zusammenfassung qualitativ andersartiger Teilbestände. Aus der Mengung verschiedener Farbpartikel entstehen neue Farbqualitäten, aus dem Zusammenklingen verschiedener Klänge
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neue Akkordqualitäten. Usw. Aber auch untereinander gleichartige Reize ergeben, wie Versuche namentlich auf dem Gebiete des Tastsinnes zeigen, neue je nach ihrer räumlichen und zeitlichen Dichte, in letzterer Hinsicht also je nach der Geschwindigkeit ihrer Reizfolge verschiedene Qualitäten. Solche neu entstehenden Qualitäten sind demnach erlebniseinheitliche Integrationen ihrer Einzelfaktoren. In demselben Sinne lassen sich alle Empfindungsqualitäten als erlebniseinheitliche Integrationen einer Vielheit von Reizkomponenten deuten, die einzeln unterhalb der uns erfaßbaren raumzeitlichen Kleinheitsgrenze liegen, deren Häufung uns aber in ganzheitlicher Erfassung bewußt wird und zwar so, daß sich ihre jeweilige Gesamtdichte in der Verschiedenheit der Empfindungsqualitäten ausdrückt. Jedoch ist zu beachten, daß wir solche Integrationen nur bei Reizdichten innerhalb gewisser Schwellenwerte vollziehen. Komponenten von geringerer oder größerer Dichte entziehen sich unserer ganzheitlichen Erfassung. Wir werden sie, wie die ultraroten und ultravioletten Strahlen oder die zu langsamen und zu schnellen Schallschwingungen, aber auch andere Phänomene zeigen, nicht inne. Mit dieser Auffassung der Sachlage nähern wir uns der Leibnizschen Lehre von den petites perceptions und der alten Schultradition, die die Sinnesempfindungen als verworrene Erkenntnis ansprach. Ihre Verworrenheit besteht für uns darin, daß wir sie nur im Ganzen und nicht in ihren diskreten Detailstrukturen erfassen. Sie beruht also auf dem ganzheitlichen Charakter unserer erlebniseinheitlichen Systematik. Dagegen bestünde eine deutliche Erkenntnis der Empfindungen in der Erfassung ihrer räumlichen und zeitlichen Einzelkomponenten. Das Unangemessene jener Verworrenheit liegt somit darin, daß unsere Empfindungen Ganzheiten statt Einzelheiten, das Angemessene aber darin, daß sie Ganzheiten mit verschiedenen Einzelheiten als verschiedene Ganzheiten darbieten. Sind die Empfindungsqualitäten ganzheitliche Zusammenfassungen andersartiger Teilgebilde, so erhebt sich die Frage, ob auch diese qualitativ sind. Nehmen wir einmal an, dem wäre so. Dann hätten wir solche Urqualitäten zunächst in den einzelnen Sinnesgebieten aufzusuchen. Denn in deren jedem sind die zu ihm gehörenden Empfindungen trotz der Verschiedenheiten ihrer Abstufung unter sich artgleich und von den Empfindungen anderer Sinnesgebiete artverschieden. Von hier aus könnte man dann weiter nach einer diesen Urqualitäten gemeinsamen Ururqualität suchen. Denn unbeschadet jener Artverschiedenheit sind die Empfindungen aller Sinnesgebiete noch miteinander verwandt. Das Ziel wäre eine uns anbekannte
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Qualität letzter Teilbestände, aus deren mehr oder minder komplexer ganzheitlicher Zusammenfassung sich alle einzelnen Sinnesempfindungen ableiten ließen. Allein erstens ist das Vorhandensein solcher Urqualitäten und Ururqualitäten tatsächlich weder unmittelbar noch mittelbar zu belegen. Und zweitens dürfte die Frage nach ihnen auch grundsätzlich gegenstandslos sein. Denn Qualitäten gibt es, wie wir gesehen haben, nur in erlebniseinheitlicher Systematik. Es würde sich also, da die Urqualitäten Ganzheitsbeschaffenheiten kleinster Teilbestände sind, fragen, ob in unserer Erlebniseinheit solche Teilbestände noch als selbständige Ganzheiten auftreten. Diese Frage aber ist vermutlich zu verneinen. Denn es scheint, daß unsere Ganzheitssystematik erst oberhalb einer gewissen Größenschwelle der von ihr erfaßten Bestände einsetzt, und daß Gebilde unterhalb dieser Schwelle keine eigenen Qualitäten mehr aufweisen sondern in der Qualität des sie enthaltenden größeren Bestandes aufgehen. Das dürfte auch von den vermeintlich urqualitativen kleinsten Teilbeständen der Empfindungen gelten. Auf unendlichkleine Gebilde vollends, also auf die letzten Bausteine der Außenwirklichkeit läßt sich der Begriff der Qualität schon deshalb nicht anwenden, weil alle Qualitäten der Ausdruck eines Zusammenseins von mehreren Komponenten sind und die unendlichkleinen Gebilde keine Mehrzahl von Faktoren in sich enthalten. Gleichwohl ist die Frage nach den Urqualitäten nicht wertlos. Denn sie weist darauf hin, daß die Verwandtschaft zwischen den Sinnesqualitäten eine Erklärung fordert. Diese dürfte für die nahe Verwandtschaft der artgleichen Empfindungen darin liegen, daß sie Erregungseinheiten derselben Art zusammenfassen. Und für die entferntere Verwandtschaft der artverschiedenen Empfindungen darin, daß zwar ihre Erregungseinheiten verschieden sind, die Zusammenfassung der letzteren aber bei ihnen allen dieselbe ist. Zwischen den Empfindungsqualitäten und den ihnen zugrundeliegenden Erregungsstrukturen der Großhirnrinde besteht nach der hier vorgetragenen Auffassung das früher von uns beschriebene Transzendenzverhältnis der ganzheitlichen Zusammenfassung. Dabei scheinen jene Erregungsstrukturen, solange sie in der erlebniseinheitlichen Systematik stehen, als individualbegrifflich derselbe Bestand allgemeinbegrifflich zwei sich widersprechende Beschaffenheiten zu haben, nämlich sowohl qualitätlos als auch qualitativ zu sein. Doch ist das, wie schon angedeutet wurde, nur Schein. Denn qualitativ sind hier nicht die zerebralen Erregungen sondern die zwischen ihnen waltenden Ganzheitsbeziehungen der Erlebniseinheit. Die Qualität ist also nicht dem
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erfaßten Stoffe eigen sondern der Systematik seiner Erfassung. Der Stoff bleibt qualitätlos. Analoge Verhältnisse lassen sich auch in dem täglichen Leben beobachten. Denn da zeigt es sich, daß unter Umständen eine neue Ganzheitsqualität und ihre, wenn auch nicht qualitätlosen, so doch von ihr qualitativ verschiedenen Einzelkomponenten gleichzeitig bemerkt werden, daß also die letzteren erhalten bleiben, während die erstere als ein spezifisches Erfassungsphänomen zu ihnen hinzutritt. So erkennen wir bei einem Gemälde in Tupfmanier von einem geeigneten Standpunkte aus gleichzeitig sowohl noch die einzelnen Tupfen als auch schon die neue aus ihnen resultierende Farbqualität. Oder wir vernehmen bei einem Akkorde gleichzeitig sowohl dessen eigene Qualität als auch die seiner Einzelklänge. In solchen Fällen ist offensichtlich, daß die neu auftretende Ganzheitsqualität die Beschaffenheit ihrer Einzelkomponenten nicht antastet und nicht sowohl zu den letzteren als vielmehr zu der Bezugsystematik unseres Erfassens gehört. J e kleiner und schwächer jedoch jene Komponenten werden, umso mehr entziehen sie sich der Erfassung. Umso fester erscheint uns dann ihre Ganzheit. Und unterhalb eines bestimmten Größenwertes erfassen wir sie überhaupt nicht mehr. Dann scheint uns nur noch ihre Ganzheit dazusein. Solche Ganzheiten sind unsere Empfindungen. Auch in ihnen sind ihre letztlich qualitätlosen Komponenten enthalten. Aber wir gewahren sie nicht mehr als solche sondern werden nur noch ihre Zusammenfassung als Sinnesqualität inne. Neben den Empfindungen als dem ontologischen Bestände der in der Erlebniseinheit anwesenden Nichtichgebilde steht der ontologische Bestand der Ichgebilde. Daß wir auch sie nur ganzheitlich erfassen, liegt, wie früher gezeigt worden ist, schon an ihrer Zeitlichkeit. Denn wir erlebten sie anders, könnten wir jedes Sekundentausendstel so erfassen wie eine ganze Sekunde. Sukzessiv also sind unsere Ichgebilde Ganzheiten. Ob sie es auch simultan sind, läßt sich bei ihrer Abstraktheit schwer bestimmen. Aber schon jene sukzessive Ganzheit unterscheidet das, was wir von den Ichgebilden innewerden, allgemeinbegrifflich von den physischen Vorgängen in der Großhirnrinde, mit denen sie, wie sich zeigen wird, individualbegrifflich identisch sind. Bewußtseinswirklichkeit und Außenwirklichkeit der von unserer Erlebniseinheit erfaßten Gebiete der Großhirnrinde sind nachalledem so miteinander verwandt und so voneinander verschieden wie die ganzheitliche und die diskrete Struktur eines und desselben Stoffes. Nach dieser Maßgabe entsprechen sich beide. Daher kann man im Hin-
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blicke auf das ontologische Bestandmaterial des Bewußtseins von einem kausal bedingten psychophysischen Parallelismus zwischen diesem und der Großhirnrinde reden. Aber die hier dargelegten Verhältnisse gelten nur für den ontologischen Bestand und nicht für die Gnoseologie des Bewußtseins, also nicht für die Deutungserfüllung der Empfindungen und die Bedeutungsgehalte unseres Denkens an abwesende Bestände. Auch solche gnoseologischen Gebilde dürften in der Großhirnrinde ihre ontologischen Grundlagen haben. Aber mit diesen sind sie, wie wir gesehen haben, im Unterschiede zu den in unserem Bewußtsein anwesenden Gebilden individualbegrifflich nicht identisch und allgemeinbegrifflich schwerlich auf dieselbe Weise wie etwa die Empfindungsqualitäten mit den ihnen zugrundeliegenden Sinneserregungen verwandt. Daher waltet zwischen ihnen und der Großhirnrinde auch nicht auf dieselbe Weise wie zwischen dieser und den ontologischen Bewußtseinsbeständen ein psychophysischer Parallelismus. Der letztere beschränkt sich vielmehr auf den ontologischen Bezirk und damit auf diejenigen Gebilde der Erlebniseinheit, die uns als solche, wenigstens in unserer inhaltlichen und gegenständlichen Sphäre, nicht zu Bewußtsein kommen. Der hier angedeutete Unterschied zwischen den gnoseologischen und den ontologischen Bewußtseinsgebilden macht sich im Hinblicke auf die Problematik der Ganzheitsformationen aber noch nach einer anderen Richtung geltend. Die ersteren Gebilde werden nämlich an sich von diesen Formationen ebenso wie die letzteren beherrscht. Das zeigt sich zB. in dem ganzheitlich verschwommenen Auftauchen mancher von uns gemeinter Bedeutungsgehalte, die uns dann später klar werden. Aber da solche Bedeutungsgehalte von ihren ontologischen Grundlagen in der Großhirnrinde individualbegrifflich getrennt und allgemeinbegrifflich verschieden sind, so verdeckt auch ihre Ganzheit etwas anderes als die der ontologischen und mit der Großhirnrinde individualbegrifflich identischen Bewußtseinsbestände. Beide Ganzheiten sind demnach verschieden fundiert. Das erkennt man, wenn man sie sich aufgelöst denkt. Die Auflösung der gnoseologischen Ganzheiten läßt sich durch begriffliche Analyse bis zu den Grenzen unseres Wissens fortsetzen und vollzieht sich stetig in der Richtung auf ihren Bedeutungsgehalt, der dabei schrittweise geklärt wird. Die Auflösung der ontologischen Ganzheiten verläuft, insoweit sie sich durch Aufmerksamkeitssteigerung oder Uebung innerhalb des Bewußtseins vollzieht, zunächst ähnlich. Denn durch sie werden unsere Gesicht-, Gehör-, Geruch-, Geschraackwahrnehmungen usw. ebenfalls schrittweise geklärt. Dabei nähern
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wir uns auch hier zunächst dem, was wir gnoseologisch in der Wahrnehmung meinen, nämlich der Struktur unserer immanenten Umweltbestände. Aber schon dadurch unterscheidet sich eine solche Auflösung der ontologischen von der der gnoseologischen Ganzheiten, daß jene nicht wie diese beliebig fortgesetzt werden kann sondern bald eine Grenze findet, über die wir nicht hinauskommen. So kann man, wenn man aufmerkt, einen Akkord in die ihn komponierenden Klänge auflösen. Ein geübter Hörer kann unter günstigen Bedingungen darüberhinaus auch den einzelnen Klang in seinen Grundton und dessen Obertöne zerlegen. Aber tiefer führt weder Aufmerksamkeit noch Uebung. Der reine Ton bleibt für uns unauflösbar. Und Entsprechendes gilt für die anderen Sinnesgebiete. In ihnen allen führen die Ganzheitsauflösungen innerhalb des Bewußtseins selbst nur bis zu einer bestimmten Grenze. Um über diese hinauszugelangen, bedürfen wir außenwirklicher Vergrößerungen und ähnlicher instrumenteller Hilfsmittel. Wichtiger noch ist ein anderer Unterschied, der die Konsequenz der Auflösungsrichtung betrifft. Nehmen wir einmal an, jene Grenze für die Ganzheitsauflösungen innerhalb des Bewußtseins bestünde nicht, sondern wir könnten durch fortgesetzte Aufmerksamkeitssteigerung die in unserer Erlebniseinheit anwesenden Inhalte immer weiter auflösen. Dann blieben wir nicht wie bei der begrifflichen Analyse der nur gedachten Gebilde dauernd in der Richtung auf das, was wir meinen. Wir kämen nämlich für den Bereich der Wahrnehmungen nicht dahin, wohin uns die außenwirklichen Vergrößerungen usw. führen, also nicht zu der Mikrostruktur unserer immanenten Umgebung, and für den Bereich der Vorstellungen oder Träume nicht zu einer Mikrostruktur der dort scheinbar auftretenden Welten sondern vielmehr für alle Inhalte ohne Unterschied zu der Struktur der uns transzendenten Großhirnrinde. Denn ontologisch liegt uns diese vor, obwohl wir sie nicht meinen; und jene wahrgenommenen, vorgestellten oder geträumten Welten liegen uns, obwohl wir sie meinen, nicht vor. Da das aus der Repräsentationsfunktion unserer Inhalte, dh. daraus folgt, daß diese etwas anderes darstellen als das, was sie sind, so kann man sich den hier waltenden Sachverhalt an den entsprechenden Verhältnissen eines anderen Repräsentanten klarmachen. Ein detailliertes Gemälde zB. wird bei flüchtigem Blicke nur als Ganzheit erfaßt. Seine aufmerksamere Betrachtung lockert diese Ganzheit und zeigt die dargestellten Details. Ein noch genaueres Zusehen jedoch enthüllt nicht etwa weitere Einzelheiten der letzteren sondern etwas grundsätzlich anderes, nämlich Pinselstriche, Farbpartikel usw. Hier
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wechselt unsere Ganzheitsauflösung aus der Richtung auf den gnoseologischen Bedeutungsgehalt des Darstellungsgegenstandes in die Richtung auf das ontologische Sein des Darstellungsmittels. Ein entsprechender Wechsel vollzieht sich bei allen solchen Repräsentanten. Und zwar ist die Stelle, an der er sich vollzieht, die Grenze der Repräsentationsfähigkeit des Bestandes. Dh. erst oberhalb dieser Grenze ähneln sich die Ganzheitsformationen in dem Originale und seiner repräsentativen Darstellung. Unterhalb von ihr sind sie auf beiden Seiten verschieden. Daher wird nur oberhalb und nicht unterhalb dieser Grenze das Original durch die Darstellung repräsentiert. Ebenso gibt es eine zweite obere Grenze, oberhalb deren beide erneut verschieden sind. Doch ist der letztere Umstand hier nicht von Belang. Dagegen ist es wichtig, daß der soeben beschriebene Richtungswechsel nur für uns besteht. Denn an sich, dh. wenn man auf die deutungslose Gegebenheit des Repräsentanten zurückgeht, dekomponiert unsere Ganzheitsauflösung von vornherein diese Gegebenheit, also das Darstellungsmittel. Für uns jedoch ist eine solche Dekomposition oberhalb der genannten Grenze zugleich, und zwar je nach Maßgabe der früher von uns beschriebenen Erscheinungstypen vorwiegend oder ausschließlich, eine Entschleierung des von uns gnoseologisch erdeuteten Darstellungsgegenstandes, während sie unterhalb jener Grenze nur noch das bis dahin von uns mehr oder minder vernachlässigte Darstellungsmittel zu enthüllen fortfährt. Jener Richtungswechsel ist also ein Uebergehen unserseits von einer abgeschlossenen und anfänglich vorwiegend oder allein von uns beachteten Ganzheitsauflösung des gnoseologisch erdeuteten Darstellungsgegenstandes zu einer gleichzeitig mit ihr vollzogenen, aber noch nicht abgeschlossenen und zuvor wenig oder überhaupt nicht von uns beachteten Ganzheitsauflösung des uns ontologisch vorliegenden Darstellungsmittels. Die Ganzheitsauflösung unserer Empfindungen zeigt denselben Doppelverlauf. Sie vollzieht sich, ohne daß wir darum wissen, von vornherein an dem Darstellungsmittel, also an unseren deutungslosen Empfindungen und der in ihnen enthaltenen Außenwirklichkeitsstruktur der Großhirnrinde. Und sie entschleiert uns zugleich bis zu einer Grenze, die an sich auch unterhalb der Grenze für das tatsächliche Vordringen unserer Aufmerksamkeit liegen könnte, den allein von uns gemeinten und beachteten Darstellungsgegenstand, nämlich das immanente Wahrnehmungsbild unserer Umwelt. Aber diese doppelte Entschleierung reicht nur so weit, wie die Ganzheitsformationen der Großhirnrinde ihren von ihnen abgebildeten Korrelaten in der transzendenten Außenwelt entsprechen. Könnten wir daher unter diese Grenze
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hinunter gelangen, so würden wir nicht mehr die immanenten Strukturen unserer Umwelt als des Darstellungsgegenstandes sondern nur noch die transzendenten Strukturen unserer Großhirnrinde als des Darstellungsmittels entdecken. Diesem Sachverhalte widerspricht nicht die Tatsache, daß die Naturwissenschaften unser Wahrnehmen mit fortschreitender Beobachtungstechnik immer tiefer in die Mikrostruktur der Umwelt hineinführen. Denn das wird durch die schon erwähnten außenwirklichen Hilfsmittel erreicht, die durch Vergrößerung, Zerlegung, Verstärkung usw. die zu beobachtenden Bestände in der uns transzendenten Außenwelt physisch den Sinneswerkzeugen und damit den normalen Ganzheitsformationen der Wahrnehmung zugänglich machen. Daß dieses Verfahren, da es sich an den Umweltbeständen selbst vollzieht, eben deren Mikrostruktur enthüllt, ist wohl begründet. Nicht minder begründet aber ist es, daß eine Ganzheitsauflösung, die sich an unseren Wahrnehmungen als solchen vollzöge, letztlich die diesen zugrundeliegende Mikrostruktur der Großhirnrinde enthüllen würde. Unsere Ganzheitsformationen gehören, wie aus den vorstehenden Erörterungen hervorgeht, schon zu der Darbietung des Bewußtseins und nicht erst zu der Sphäre des Bemerkens. In dieser Sphäre aber zeigen sie sich umso verschwommener, je weniger wir auf sie achten. Dagegen lösen sie sich bei gesteigerter Aufmerksamkeit bis zu der von uns genannten Grenze auf. Deshalb könnte es so scheinen, als arbeiteten Darbietung und Bemerken in entgegengesetzter Richtung. Jene führte die diskreten Gehirnstrukturen in Ganzheitsformationen über. Diese löste die letzteren wieder auf. Allein ein Eingehen auf das Wesen der Ganzheitsformationen zeigt uns, daß das nur Schein ist. Das erkennt man, wenn man bedenkt, daß sich in allen solchen Formationen, wie wir früher sahen, ein Mangel unserer Fassungskraft geltend macht. E s ist, als hätten wir von dieser, um an das damals benutzte Gleichnis zu erinnern, ein beschränktes Maß auf viele Bestände zu verteilen und könnten jedem von ihnen nur wenig abgeben. Daher erfassen wir, was sich uns erlebniseinheitlich darbietet, nicht im einzelnen sondern nur im ganzen, nicht genau sondern verworren. Deutlicher erfaßten wir es, würde jene Fassungskraft verstärkt. Das aber geschieht durch die Steigerung der Aufmerksamkeit. Denn diese deckt bis zu der bezeichneten Grenze die in unserer Darbietung enthaltenen Detailstrukturen auf. Sie arbeitet also nicht in entgegengesetzter sondern in derselben Richtung wie die Darbietung und unterstützt sie. Beide leisten gemeinsam, was eine schärfere Darbietung allein geleistet hätte. 33
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Gleichen sich Darbietung und Bemerken in dieser, so unterscheiden sie sich in anderer Hinsicht. Und zwar zunächst in ihrem Stoffe. Denn der Stoff der Darbietung ist die ganzheitlich von ihr erfaßte Großhirnrinde. Dagegen ist der Stoff des Bemerkens die Darbietung selbst. Es findet hier also eine Staffelung der Systematik statt, kraft deren sich die Funktionen der Darbietung gewissermaßen in einem unteren und die des Bemerkens in einem darüberliegenden Stockwerke des Bewußtseins abspielen. In dem unteren Stockwerke ist die Großhirnrinde der Darbietung gegenüber relativ konstant und diese variabel. Denn während sich die erstere abgesehen von dem Wechsel ihrer Erregungsformen gleichbleibt, erstreckt sich die Darbietung bald über das eine bald über das andere Feld der Großhirnrinde, verschwindet und taucht wieder auf. In dem oberen Stockwerke dagegen ist die Darbietung dem Bemerken gegenüber relativ konstant, und das letztere variiert. Denn auch wo sich jene nicht ändert sondern gleichbleibt, hebt das Bemerken aus ihr bald den einen bald den anderen Zug heraus, zentralisiert, dezentralisiert, steigert sich und ermattet. Darbietung und Bemerken sind also verwandte Funktionen, vollziehen sich aber in verschiedenen Bewußtseinsschichten und spielen sich daher an verschiedenen Stoffen mit verschiedener Variabilität ab. Im Zusammenhange hiermit unterscheiden sie sich außerdem nach einer zweiten Hinsicht, nämlich inbezug auf unser Wissen um sie. Denn dieses wirkt sich nur in dem oberen, nicht aber in dem unteren Stockwerke des Bewußtseins aus. Daher wissen wir zwar um die vollendete Darbietung und den Akt des Bemerkens, nicht aber um die von der Darbietung erfaßte Großhirnrinde und den Akt des Darbietens. Nach dieser Hinsicht ist uns daher das obere Stockwerk des Bewußtseins immanent, das untere dagegen in dem früher von uns dargelegten Sinne einer ganzheitlichen Verdeckung transzendent. Die ganzheitlich von uns erfaßten Gebilde vereinigen wir in der erlebniseinheitlichen Gestaltsystematik. Für diese aber ist dank der zwangläufigen Einstellung unseres Bewußtseins auf Fremdbestände dessen Gnoseologie maßgebend. Das wirkt sich nicht nur in dem inneren Aufbau sondern auch in der Psychophysik der Erlebniseinheit aus und zwar zunächst inbezug auf ihre inhaltliche und gegenständliche Sphäre. Wie ein Baumeister sein Material je nach Bedürfnis heranschafft, es zurichtet und aufbaut, so schafft hier unsere Gnoseologie aus der Großhirnrinde das heran, was sie braucht, richtet es zu und baut es in erlebniseinheitlicher Gestaltsystematik auf. Sie schafft ihr Material in der Darbietung heran. Diese aber ist um des Bemerkens willen da und, da wir nur bemerken, was wir
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meinen, um der Gnoseologie willen. Demgemäß wird uns nur dargeboten, was unserem Meinen dient. Hierbei verfährt die Darbietung wählend und abstrahierend in ihrem unteren wie das ihr verwandte Bemerken in dem oberen Stockwerke des Bewußtseins. Denn wie wir in diesem nach Maßgabe unseres jeweiligen Interesses einzelne Züge sowie ganze Bestände der Darbietung übersehen und andere beachten können, so vernachlässigt die Darbietung nach Maßgabe unseres gnoseologischen Gesamtbedürfnisses einzelne Züge sowie ganze Bestände der zerebralen Erregungsfelder und nimmt andere in sich auf. Bezeichnet man die so vernachlässigten Gebilde in einem weiteren Sinne des Wortes als gnoseologisch verdrängt, so trägt diese gnoseologische Verdrängung, da sie nun aus dem Psychischen in das Physische führt, einen psychophysischen Charakter. Die um der Gnoseologie willen dargebotenen Bestände sind entweder in den von uns gemeinten Gebilden enthalten und werden in ihnen, wenn auch umgedeutet, bemerkt. Oder sie sind, ohne in ihnen enthalten zu sein, die ontologische Stütze der gemeinten Gebilde und bleiben unbemerkt. Jenes findet bei den deutungslosen Empfindungen der Inhalte statt, dieses bei den anderen Darbietungsbeständen. Aber auch bei den Inhalten bemerken wir, wie nachgewiesen wurde, nur Abstraktionen und nicht die zu ihnen gehörenden vollständigen Gebilde. Das zeigt sich zunächst an den deutungslosen Sichtempfindungen. In den Sehfeldern der Großhirnrinde projizieren sich, wie wir wissen, mit einer eigentümlichen Komplikation unsere Netzhautbilder. Diese Projektionen, die wie die chemischen Bildreproduktionen auf der photographischen Platte eine gewisse Dicke haben, sind individualbegrifflich mit den Sichtempfindungen identisch. Gleichwohl bieten sich die letzteren, wenn wir uns auf die normale Dingwahrnehmung beschränken und von gewissen noch problematischen außernormalen Befunden absehen, als dickelose Flächen dar. Es wird demnach bei ihnen von der Tiefenausdehnung des zerebralen Befundes abstrahiert. Der Grund hierfür liegt darin, daß die Gnoseologie der Deutungserfüllung nicht die Dicke sondern nur einen Flächenschnitt jenes Befundes verwertet. Denn wie eine Lichtspielvorführung nur die Oberfläche und nicht die Dicke des Projektionsschirmes benutzt, da die sich auf diesem abspielenden Bilder als Hüllflächen nicht ihn sondern andere Bestände darstellen sollen, so benutzen wir in der immanenten Wahrnehmungswelt nur einen Flächenschnitt und nicht die Dicke der zerebralen Erregungen, da hier die letzteren unter der Hüllfläche der Sichtempfindungen nicht die Großhirnrinde, sondern unsere Umwelt darzustellen haben. Noch abstrakter sind in dem Dienste der Deutungserfüllung die nicht sichthaften Empfindungen des Tast-, Schall-, Geruch-, Ge38*
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schmacksinnes usw. Sie ergänzen die Sichtwirklichkeit, in die sie eingeordnet werden, qualitativ. Daher erfassen wir ihre Qualität. Ihre Größe und Gestalt aber bemerken wir außer bei dem Tasten nur vage und übersetzen sie, wie übrigens auch die Größe und Gestalt der Tastempfindungen, in ihre uns allein erfaßbaren sichträumlichen Korrelate. Durch diese wird für uns ihre nicht sichthafte eigenräumliche Größe und Gestalt verdrängt. Ihre Lokalisation in dem Sichtraume aber erfolgt, wie wir wissen, durch gnoseologische Verschiebung aufgrund von Lokalzeichen, also aufgrund von besonderen nicht bemerkten, vielmehr für uns total verdrängten Beschaffenheiten derjenigen Bestände, die wir gnoseologisch verschoben und umgedeutet bemerken. Somit wird auch hier nur dargeboten, was unserer Deutungserfüllung dient, und nur bemerkt, was in diese selber eintritt. Auf vollständig verdrängte Bestände endlich stützt sich, wie wir wissen, unser Denken an abwesende Gebilde. Auch für sie dürften in der Darbietung und damit in der Großhirnrinde gewisse Korrelate anwesend sein. Die gemeinten Gebilde selbst aber können hier, da sie abwesend sind, die in unserem Bewußtsein anwesenden Korrelate nicht enthalten. Daher bemerken wir die letzteren nicht. Doch dürfte auch bei ihnen nur das zur Darbietung gelangen, was wir brauchen, um sie zu meinen. Verhält es sich so, dann beherrscht unsere Gnoseologie die psychophysische Stoffzufuhr in der gesamten inhaltlichen und gegenständlichen Sphäre des Bewußtseins. Aber sie beherrscht nicht nur die Zufuhr sondern auch die Zurüstung des psychophysischen Stoffes. Wir sahen, daß diese durch Ganzheitsformierungen vollzogen wird. Die ganzheitliche Stufe der Empfindungen aber scheint durch die Gnoseologie der Deutungserfüllung bedingt zu sein. Sollen nämlich die zerebralen Sinneserregungen unsere Umwelt repräsentieren, so müssen sie sich einerseits, wie wir zeigten, nicht in ihrer Feinstruktur darbieten. Denn diese würde uns statt des Aufbaues der Umwelt den der Großhirnrinde vorführen. Anderseits dürfen wir sie nicht zu verschwommen erfassen. Denn das würde die Genauigkeit der Wahrnehmung beeinträchtigen. Nur eine mittlere Ganzheit kann der Deutungserfüllung dienen. Unsere Empfindungen zeigen dieses Mittelmaß und entsprechen somit dem genannten Zwecke. Wir stellen daher fest, daß sich die Ganzheitsstufe der Empfindungen als ein Phänomen ihrer psychophysischen Zurüstung nach der Gnoseologie unserer Wahrnehmungsdeutung richtet. Endlich läßt sich zeigen, daß in der erlebniseinheitlichen Gestaltsystematik auch die von uns beschriebene Gnoseologie der Bestandverschiebung einen psychophysischen Charakter trägt. Denn diese Verschiebung vollzieht sich an der Darbietung des Bewußtseins. Und die
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letztere ist individualbegrifflich mit der Großhirnrinde identisch. Somit vollzieht sie sich an dieser selbst. Das zeigt schon folgende Erwägung. In dem Verschiebungsprobleme ist der sichere terminus a quo, von dem wir ausgehen können, die zerebrale, der ebenso sichere terminus ad quem, zu dem wir gelangen, die von uns erlebte Bestandordnung. Zwischen beiden findet die Verschiebung statt. Nun aber gibt es zwischen ihnen, wie wir sahen, keinen besonderen Bewußtseinsstoff, der etwa als eine Mittelschicht dienen könnte. Also verschiebt unsere Gnoseologie die zerebrale Bestandordnung selbst. Ist das der Fall, so erklärt die gnoseologische Verschiebung auch folgenden bisher nicht von uns behandelten Unterschied zwischen der erlebten und zerebralen Bestandordnung. Die Ordnung der Ganglienzellen in den Erregungsfeldern der Großhirnrinde entspricht nur ungefähr und nicht genau der Zellenordnung in den diesen Feldern korrespondierenden Sinneswerkzeugen. Daher ist bei unseren Empfindungen das ihnen unmittelbar zugrundeliegende zentrale Erregungsbild dem entsprechenden peripheren gegenüber verzerrt. Gleichwohl erfassen wir jene unverzerrt. Dieses Phänomen kommt nach der hier dargelegten Auffassung nicht durch ein ontologisches Zurechtrücken sondern durch ein gnoseologisches Zurechtdeuten der verzerrten Ordnung zustande. Wie wir in einem uns bekannten Texte eine Verstellung der Buchstaben und andere Druckfehler gelegentlich übersehen und statt des Falschen das Richtige lesen, so übersehen wir in der Bewußtseinsdarbietung regelmäßig die Ordnungsfehler der Großhirnrinde und gewahren statt der falschen die von uns gemeinte richtige Ordnung. Die letztere liegt uns also ontologisch nicht vor sondern ist als ein gnoseologisches Deutungsphänomen von der wirklichen Ordnung unserer Empfindungen so abwesend, wie es etwa die Tiefenausdehnung des Sichtraumes war. Aber da konnte man den ontologischen Sachverhalt unmittelbar aufweisen. Dagegen läßt er sich hier nur mittelbar aus den anatomischen Befunden erschließen. Unsere Gnoseologie beherrscht diesen Darlegungen zufolge die Auswahl, die Zurüstung und die Neuordnung des psychophysischen Bewußtseinsstoffes. Sie erweist sich damit als das Gestaltprinzip der Erlebniseinheit. Ein solches Prinzip fehlte bei den in der vorangehenden Erörterung behandelten Ganzheitsformationen. Zwar waren auch sie mehr als die Summe ihrer Komponenten. Aber diese waren nicht durch ihre Ganzheit, sondern die letztere war durch sie bedingt. Dagegen ist die Summe der Bestände in der Erlebniseinheit durch deren Gestaltprinzip bedingt, nicht aber dieses durch die Summe der Bestände. Deshalb war die Komponentensumme jener Formationen
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auch ohne Ganzheit und physisch begreifbar. Dagegen ist die Komponentensumme der Erlebniseinheit nur aus deren überphysischen Gestaltprinzip, physisch aber nicht begreifbar. Als Gestaltcharakter des Bewußtseins ist die Gnoseologie nicht selbständig. Sie ist vielmehr ein Meinen des Ich. Dessen Erleben aber wird, wie wir früher sahen, erst durch die Gnoseologie der Nichtichgebilde bedingt. Denn da wir auf diese eingestellt sind, so erfassen wir von uns selbst nur das, was wir brauchen, um ontologisch jene Gnoseologie zu stützen, nämlich die Tatsache unseres Daseins. Was wir sonst sind, wissen wir nicht. Wie jemand, der zeitlebens aus einem Fenster schauen müßte und nie sich selber sehen könnte, zwar wüßte, daß er da ist, nicht aber, wie er aussieht, so wissen wir, da wir zeitlebens auf die Nichtichgebilde und nicht auf uns eingestellt sind, zwar um das Dasein aber nicht um die Beschaffenheit unseres Ich. Dieses Ich ist der Inhaber der Erlebniseinheit und in ihr allein bewußt. Denn unsere Inhalte und Gegenstände werden ihm, ihnen aber wird nichts bewußt. Sie sind Objekte, nur das Ich ist Subjekt des Bewußtseins. Als solches ist es mit seinen Akten zugleich das einzige Gebilde, das wir ontologisch erfassen. Denn die Inhalte und Gegenstände erfassen wir gnoseologisch. Nun besteht alles Gnoseologische nur für uns und nicht an sich. Daher gibt es Inhalte und Gegenstände als Objekte des Ich nur für das Bewußtsein. Sie sind lediglich psychisch. Dagegen besteht das Ich selbst als Subjekt ebenso an sich wie die transzendente Außenwelt, in der es lebt, und ist insofern physisch. Es hat somit als der allein bewußte Inhaber unserer Gnoseologie ein psychisches und als ontologisch wirklicher Bestand ein physisches Sein. In diesem gegenstandstheoretischen Sinne ist es psychophysisch. Zugleich ist es das in einem metaphysischen Sinne. Denn da es, wie wir sahen, keinen eigenen Bewußtseinsstoff gibt, und die Abstraktheit des erlebten Ich einen stofflichen Träger fordert, so kommt für diesen nur die uns transzendente Großhirnrinde inbetracht. Sie also ist die Substanz, deren Dasein wir in der Ichbewußtheit erfassen. Und da sie zugleich die Substanz der Nichtichgebilde ist, so hat der gesamte ontologische Bestand des Bewußtseins dieselbe Substanz. Für unsere Gnoseologie aber spaltet sich dieser Bestand, wie wir früher gezeigt haben, in die Ichgebilde und die Nichtichgebilde. Hierbei erfassen wir die letzteren als etwas uns Fremdes und verkennen ihre psychophysische Bindung an unseren Körper, wiewohl sie offenkundig ist. Dagegen werden wir uns dieser Bindung in den Ichgebilden bewußt. Deren Psychophysik aber beruht darauf, daß unser
Das psychophysische Wesen der Ichgebilde
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Ich psychisch der Inhaber der Erlebniseinheit und physisch die uns transzendente Großhirnrinde ist, mithin als identisch derselbe Bestand in zwei ontologisch verschiedenen Systemzusammenhängen steht. Das erklärt die seelisch-leibliche Einheit seines Tuns und Leidens, seiner seelisch bedingten körperlichen Handlungen und seiner körperlich bedingten seelischen Haltungen. Man kann den hier geschilderten Sachverhalt entsprechend den verschiedenen Standorten, die innerhalb der psychophysischen Relation möglich sind, auf drei verschiedene Weisen auffassen. Nach der ersten Auffassung ist der Leib als die Substanz unseres Lebens, zu dem das Ich gehört, der Inhaber des Bewußtseins und das letztere ein ihm dienendes Organ. Demgemäß werden hier die leiblichen Beziehungen des Ich betont. In diesem Sinne bezeichnen wir den Leib selbst als Ich und sagen, daß er ein Bewußtsein habe. Hierbei werden dem Wahrnehmungsbilde des Leibes in dem Sinne der früher von uns behandelten Belastung immanenter Bestände mit transzendenten Aufgaben zwei sich widersprechende Funktionen zugedacht. Denn dieses Bild gilt uns nun erstens als die yi Wahrheittranszendente Wirklichkeit des Leibes, mit der wir psychophysisch eins sind. Und es steht uns zweitens wie alle Immanenzgebilde als ein von uns getrennter Fremdbestand gegenüber. Es ist uns also erstens das Ich und zweitens ein Nichtich, das Subjekt und ein Objekt, der ontologisch wirkliche Träger und ein nur gnoseologisch wirklicher Inhalt der Erlebniseinheit. Die erstere Funktion ist transzendenzontologisch und beruht auf der Psychophysik, die letztere ist immanenzontologisch und beruht auf der Ueberschneidung des Bewußtseins. Nach einer anderen Auffassung ist das Bewußtsein die eigentliche Sphäre des Ich. Denn mit diesem ist es durch die erlebniseinheitliche Systematik korrelativ verbunden. Wird doch nur um unserer Gnoseologie willen als deren Gegenspieler, wie wir schon andeuteten, ein Ich erfaßt. Und anderseits ist, wie soeben festgestellt wurde, in der Erlebniseinheit nur dieses Ich bewußt. Es ist also nur um des Bewußtseins willen ein Ich und nur für das Ich ein Bewußtsein da. Beide sind aufeinander angewiesen. Deshalb betrachten wir sie als eine ontologische Einheit und nennen das Bewußtsein selber Ich. Dagegen waltet zwischen dem Ich und dem Leibe für uns keine solche Einheit. Denn der Leib kann auch ohne Ich bestehen. Und er tritt diesem wie in der Ueberschneidung als ein ihm fremdes Nichtich, so in der psychophysischen Relation als ein relativ selbständiger Kausalpartner gegenüber. Außerdem spielt sich unsere Kausalbeziehung zu dem Leibe jenseits von unserer Erlebniseinheit ab und bleibt uns unbekannt. Deshalb erscheint uns der Leib als etwas von dem Ich
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Das psychophysische Problem in der Transzendenzontologie
Trennbares. Und so stellen wir dieses letztere mit seinem Bewußtsein als die uns vertraute psychische Einheit dem Leibe als einer anderen physischen Einheit gegenüber. Nach einer dritten Auflassung endlich ist das Ich ein besonderes Gebilde, das in Personalunion Bewußtsein und Leib als zwei ontologisch verschiedene Herrschaftsgebiete verwaltet und zwar so, daß es in dem Bewußtsein mit dessen Inhalten und Gegenständen als ihr Träger erlebniseinheitlich, in dem Leibe mit dessen übrigen Teilen als ihr Zentralorgan physisch-kausal verbunden ist und zwischen beiden Gebieten vermittelnd die Energien des einen in die des anderen überführt. In diesem Sinne sagen wir, daß das Ich einen Leib und ein Bewußtsein habe, und daß es von beiden unterschieden sei. Von hier aus erklären sich die manichfachen seinerzeit in der Immanenzontologie des Bewußtseins von uns aufgezählten Bedeutungen des Ichbegriffes. Wir zeigten damals, daß dieser Begriff erstens die psychophysische Einheit des Bewußtseins und des Leibes, zweitens den Leib allein, drittens das Bewußtsein allein, viertens nur die Akte des Bewußtseins und fünftens nur den Träger der Akte bedeutet. Alle diese Bedeutungen erweisen sich als gerechtfertigt. Die drei letzteren gehen auf die in dem vorangehenden Kapitel behandelten inneren Sphären des Bewußtseins als des einen Herrschaftsgebietes des Ich. Und zwar geht die fünfte auf den Träger der Akte, weil er der Inhaber des Bewußtseins ist; die vierte auf die Akte selbst, weil wir in ihnen diesen Träger erfassen; und die dritte auf das gesamte Bewußtsein, weil es korrelativ an seinen Träger gebunden ist. Demgegenüber gehen die beiden ersteren Bedeutungen auf das in diesem Kapitel behandelte psychophysische Verhältnis des Ich zu dem Leibe als seinem anderen Herrschaftsgebiete. Und zwar geht die zweite nur auf den Leib, weil er als die Substanz unseres Lebens der Inhaber des Bewußtseins ist und gelegentlich auch ohne dieses bestehen kann; und die erste auf den Leib einschließlich des Bewußtseins, weil beide eine durch das Ich verbundene psychophysische Lebenseinheit sind. Die Untersuchungen der beiden letzten Kapitel vertiefen unsere Einsicht in die ontologische Struktur des Bewußtseins. Ihm schrieb die Immanenzontologie aufgrund seiner inneren Systemcharaktere einen besonderen Wirklichkeitstypus zu. Auch die Transzendenzontologie tut das. Aber sie schränkt diesen Sondertypus auf unsere Inhalte und Gegenstände ein und erklärt ihn durch deren gnoseologisches Wesen, nicht aber durch jene Systemcharaktere. Sie unterscheidet deshalb nicht zwischen außenwirklich und bewußtseinswirklich sondern zwischen ontologisch und gnoseologisch.
Die ontologische Bedeutung der Psychophysik
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Ontologisch aber sind nicht nur die physischen Bestände außerhalb sondern auch die von uns umgedeuteten, verschobenen oder verdrängten Grundlagen der Nichtichgebilde und die von uns erfaßten Ichgebilde innerhalb des Bewußtseins. Das letztere vereint also gnoseologische mit ontologischen Seinsweisen. Hierauf beruht nach transzendenzontologischer Auffassung die früher von uns behandelte doppelte Wirklichkeit des Bewußtseins. Wenn also, um unser altes Beispiel wieder aufzunehmen, jemand sagt: ich habe das und das wirklich geträumt, aber was ich träumte, war nicht wirklich, so deutet dies die Transzendenzontologie dahin, daß der Traum so, wie er träumend aufgefaßt wurde, nur gnoseologisch, das Ich und der Akt des Träumens dagegen ontologisch und ebenso wirklich war wie die Außenwelt. Auf derselben Duplizität beruht die früher von uns vollzogene Unterscheidung zwischen den beiden inneren und dem äußeren Systemcharakter des Bewußtseins. Die ersteren, Erlebniseinheit und psychische Kausalität gehen auf die Beziehungen des Ich zu seinen Inhalten und Gegenständen, also auf sein gnoseologisches Feld. Der letztere, unsere Außenkausalität geht auf seine psychophysische Beziehung zu dem Leibe, also auf sein ontologisches Feld. Die gleichen Verhältnisse spiegeln sich in unserer Erkenntnis der Außenwelt. Denn diese erfassen wir erstens mittelbar und immanenzontologisch durch ihre Wahrnehmungsrepräsentation in unserem gnoseologischen Felde. Zweitens unmittelbar und transzendenzontologisch durch das Ich und seine Akte in dessen ontologischen und damit zugleich außenwirklichen Felde. Die erstere Weise bekundet sich in der Ueberschneidung, die letztere in der psychophysischen Relation. Und beider Weisen bedürfen wir. Denn sie ergänzen sich wechselseitig. Auf die erstere erkennen wir die Manichfaltigkeit der Außenwelt, jedoch nicht in der ihr eigenen Seinsart sondern in einer nur gnoseologisch wirklichen Repräsentation. Auf die letztere erkennen wir die Seinsart der Außenwelt, jedoch nur in uns selbst und nicht in ihrer Manichfaltigkeit. Auch in der Immanenzontologie des täglichen Lebens spielt diese Wechselbeziehung eine Rolle. Denn hier übertragen wir, wie schon früher gezeigt wurde, die ontologische Seinsart unserer selbst auf die gnoseologisch von uns erdeutete Wahrnehmungswelt. Das dabei von uns geübte Verfahren ist das der Fremdbewußtseinsrealisation. Wir denken uns nämlich wie den Leib des anderen mit einem Bewußtsein, so alle Immanenzbestände mit einem Sein gleich dem unseres Ich behaftet. Erst dadurch, daß wir so die Gnoseologie unseres Wahrnehmens durch die Ontologie unseres Seins ergänzen, gewinnen für uns die Immanenzbestände ihr Ansichsein und den Charakter der selbständigen Wirklichkeit. Wir statten sie dabei aber nur mit der Seinsart des Ich aus und
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Das psychophysische Problem in der Transzendenzontologie
nicht mit seiner Bewußtheit, geschweige denn mit seinen Akten oder gar mit seinen Inhalten und Gegenständen. Darum ist diese Ontologisierung nicht schon eine Beseelung der Wahrnehmungsbestände. Ihr so gewonnenes ontologisches Sein ist das in die Immanenz verlegte Ding an sich der Wahrnehmungsbestände. Daher identifiziert man es zuweilen mit deren Substanz als ihrem phänomenal transzendenten Dinge. Das ist individualbegrifflich zulässig, da man sich auch das letztere als an sich bestehend denkt. Doch stammen beide Begriffe aus ontologisch verschiedenen Sphären. Denn das phänomenal transzendente Ding ergibt sich aus der Raumdeutung von Flächen und gehört damit von vornherein zu der immanenten Welt. Dagegen ergibt sich das Ansichsein der Wahrnehmungsbestände aus der Fremdbewußtseinsrealisation unseres Ich, gehört also ursprünglich zu der transzendenten Wirklichkeit und wird erst nachträglich auf die immanente Welt übertragen. Außerdem liegt das phänomenal transzendente Ding nur hinter den von uns wahrgenommenen Flächen, während diese an dem Ansichsein der Wahrnehmungsbestände auch selber teilhaben. Mit den in diesem Kapitel behandelten psychophysischen Bezugsverhältnissen schließt sich der früher von uns beschriebene und für unsere transzendenzontologische Situation charakteristische Ring der Transzendenzen. Denn wir kennen nun erstens die Transzendenz zwischen der Großhirnrinde und ihrer Umwelt, zweitens die Transzendenz zwischen dem gnoseologischen und dem ontologischen Felde des Bewußtseins und drittens die zwischen dem letzteren Felde und der Großhirnrinde waltende Transzendenz. Damit kennen wir alle Stationen des Weges, der von den transzendenten Umweltbeständen bis zu ihrer Repräsentation in der deutungserfüllten Wahrnehmung führt. Die Aufgabe der Transzendenzontologie ist damit für unsere simultanen Beziehungen zu der Außenwelt gelöst. Aber es bedarf noch einer Untersuchung über unsere sukzessiven Beziehungen zu ihr.
DIE T R A N S Z E N D E N Z O N T O L O G I E DER ZEIT
Für die Begriffsbildung des täglichen Lebens sind Raum und Zeit einerseits verwandt und miteinander verbunden, anderseits verschieden und voneinander getrennt. Ihre Verwandtschaft zeigt sich darin, daß sie als Kontiguitätssysteme gleichartig gebaut sind. Beide bilden stetige und nach landläufiger Auffassung unendliche Gefüge, auf die sich, wenn vielleicht auch nur innerhalb gewisser Reichweiten, die Euklidische Geometrie anwenden läßt. Sie sind außerdem miteinander verbunden. Denn sie bilden zusammen ein gemeinschaftliches Ordnungsschema der Wirklichkeit, in dem jeder Bestand durch seine räumliche und zeitliche Lage eindeutig bestimmt ist. Und trotzdem sind sie für die Begriffsbildung des täglichen Lebens zwei verschiedene Gefüge. Denn den Raum glauben wir anschauen zu können, die Zeit nicht. Jener gilt uns als nach allen Richtungen gleichsinnig, die Zeit mit ihrem unumkehrbaren Fortschreiten aus der Vergangenheit in die Zukunft als einsinnig. Der Raum gilt uns als statisch. Er ist immer wieder derselbe. Die Zeit gilt uns als dynamisch. Sie ist immer wieder eine andere. Und von dem Räume glauben wir, wenn auch, wie gezeigt wurde, zu unrecht, daß er nur das Außenwirkliche, von der Zeit, daß sie alles Wirkliche enthalte. Deshalb behandeln wir Raum und Zeit trotz ihrer Verwandtschaft und Verbundenheit nicht als eine einzige und wesenhaft in sich zusammenhängende Manichfaltigkeit sondern als zwei verschiedene und daher zu trennende Gefüge, die zu einem gemeinsamen Ordnungsschema nur auf eine ihnen selbst nicht konstitutive, also äußerliche Weise verbunden sind. Diese Auffassung der Sachlage wäre ontologisch gerechtfertigt, wenn die soeben genannten Unterscheidungsmerkmale dem Räume und der Zeit selber zukämen. Daß dem so sei, setzen wir in dem täglichen Leben als selbstverständlich voraus. Aber es ist nicht selbstverständlich. Vielmehr wäre es auch möglich, daß wir Raum und Zeit nur deshalb für verschieden halten, weil wir sie auf verschiedene Weise erfassen.
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Die Transzendenzontologie der Zeit
Daß dies letztere geschieht, haben wir früher dargelegt. Der Raum liegt immanenzontologisch in dem Bezirke der Ueberschneidung vor uns. Die Zeit müssen wir mit Hilfe der Erinnerungen diesseits der Ueberschneidung konstruieren. Jener gilt uns als in unserem Bewußtsein jeweils anwesend. Diese ist von ihm jeweils abwesend. Daher erfassen wir, von dem immanenten Standpunkte aus gesehen, den Baum ontologisch und anschaulich. Dagegen erfassen wir, von dem immanenten wie von dem transzendenten Standpunkte aus gesehen, die Zeit gnoseologisch und auf eine unanschauliche Weise. E s wäre denkbar, daß auf dieser Verschiedenheit unsere Unterscheidung zwischen Raum und Zeit beruht. Ihre vermeintliche Ungleichheit und damit unsere Trennung zwischen beiden läge dann nicht an ihnen sondern an uns. Wir hätten eine Verschiedenheit unserer Zeiterfassung, also unseres Erkenntnismittels in eine Verschiedenheit der Zeit selber, also des Erkenntnisgegenstandes verwandelt. Und es wäre möglich, daß sich nach einer Beseitigung dieses Fehlers die von uns gekennzeichneten Unterschiede zwischen Raum und Zeit als nicht vorhanden erwiesen, die Tatsache ihrer Verwandtschaft und Verbundenheit dagegen bestehen bliebe. Das aber könnte zu der Erkenntnis führen, daß Raum und Zeit nicht zwei verschiedene Gefüge sondern eine einheitliche Manichfaltigkeit sind. V o n der Entscheidung über diese Frage hängt das ontologische Verständnis der Zeit ab. Die Erörterungen des vorliegenden Kapitels gehen daher der soeben angedeuteten Möglichkeit nach. Sie führen von der ontologischen Problematik der Zeit zu den zwischen ihr und dem Räume waltenden Bezugsverhältnissen und versuchen auf diesem W e g e unsere Trennung zwischen Raum und Zeit einerseits und den dieser Trennung zugrundeliegenden Sachverhalt anderseits zu begreifen. W i r beginnen mit dem ontologischen Ansprüche, den wir nach Maßgabe des landläufigen Zeitbegriffes für die jeweilige Gegenwart und ihr Verhältnis zu Vergangenheit und Zukunft erheben. Denn von hier aus führt der W e g zu den ontologischen Zentralproblemen der Zeit. Dabei verstehen wir den Begriff der Gegenwart nicht in einem nur psychologischen sondern in seinem eigentlichen ontologischen Sinne. Maßgebend ist uns für diesen Begriff also nicht das, was wir jeweils in dem Rahmen einer Erlebniseinheit gegenwärtig zu haben glauben. Denn das deckt sich weder nach seiner räumlichen, noch, wie wir später sehen werden, nach seiner zeitlichen Ausdehnung mit der ontologischen Gegenwart. Unter dieser verstehen wir vielmehr eine von allem Erleben unabhängige, über die ganze Welt verbreitete
Der Alleinwirklichkeitsanspruch der Gegenwart
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Zeitregion, die wir zunächst und vorbehaltlich einer späteren Vertiefung unserer Anschauungen durch drei Merkmale charakterisieren wollen. Nämlich erstens dadurch, daß sie jeweils alleinwirklich, mithin die ganze Wirklichkeit zu sein beansprucht. Zweitens dadurch, daß alle ihre Bestände gleichzeitig sind. Und drittens dadurch, daß in ihr, wenn auch nicht als ein für sie konstitutiver Faktor, der ontologische Bestand unserer jeweiligen Erlebniseinheit auftritt. Mit den beiden ersteren Merkmalen werden wir uns in dieser, mit dem dritten in einer späteren Erörterung beschäftigen. Der so definierte Begriff der Gegenwart ist das Fundament unserer Zeitbetrachtung. Das zeigt sich schon darin, daß wir an ihm alle übrige Zeit orientieren. Denn diese gliedert sich für uns in eine Vergangenheit, die die gesamte Zeit vor der Gegenwart, und in eine Zukunft, die die gesamte Zeit nach ihr" ist. Daher ist mit dem Begriffe der Gegenwart unser Begriff von jeder Zeit bestimmt. Wenn wir also in dieser Erörterung über die ontologischen Beziehungen der Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft handeln, so handeln wir über unseren Begriff von der zeitlichen Wirklichkeit schlechthin. Zu diesem Begriffe gehört es, daß die Wirklichkeit jeweils darin aufgeht, Gegenwart zu sein. Von der Vergangenheit nämlich erklären wir jeweils, daß sie zwar wirklich war, es jetzt aber nicht mehr ist, und von der Zukunft, daß sie zwar wirklich sein wird, es jetzt aber noch nicht ist. Von beiden behaupten wir eben damit, daß sie in der jeweiligen Gegenwart nicht wirklich sind. Diese selbst aber gilt uns jeweils als wirklich. Und sie gilt uns als alleinwirklich, da sie mit der Vergangenheit und der Zukunft die ganze Zeit ist, und die letzteren beiden für unwirklich erklärt werden. Gegenwart und Wirklichkeit sind somit für uns jeweils dasselbe. Das ist zunächst logisch zufällig. Denn an und für sich bezeichnen beide etwas Verschiedenes. Verstehen wir doch unter Gegenwart eine Region in der Zeit. Und unter Wirklichkeit den Ansichbestand des Systems, in dem wir leben. Dessenungeachtet haben beide Begriffe für uns denselben Geltungsbereich. Denn alles, was zu der Gegenwart gehört, gehört eben damit für uns zu der Wirklichkeit. Und alles, was zu der Wirklichkeit gehört, gehört für uns, da Vergangenheit und Zukunft, wie wir soeben dargelegt haben, jeweils nicht mehr und noch nicht wirklich sind, zu der Gegenwart. Deshalb gilt uns nicht nur Wirklichkeit als ein Merkmal der Gegenwart, sondern auch Gegenwart als ein Merkmal der Wirklichkeit. Wir vereinigen also beide Begriffe trotz der Verschiedenheit ihrer Bedeutung zu einem und demselben Begriffe. Dächte man sich demnach in einer be-
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Die Transzendenzontologie der Zeit
stimmten Gegenwart auch deren Vergangenheit und Zukunft wirklich, so wären sie für uns nicht mehr Vergangenheit und Zukunft sondern selber Gegenwart. Und dächte man sich Vergangenheit und Zukunft gegenwärtig, so wären sie für uns nicht mehr unwirklich sondern wirklich. Kurz: Gegenwart und Wirklichkeit sind uns ontologisch dieselbe Größe. Diese Größe identifizieren wir außerdem mit der Dreidimensionalität des Weltraumes. Der Begriff dieses Raumes aber hat wiederum zunächst eine andere Bedeutung als der der Gegenwart und der der Wirklichkeit. Denn er bezeichnet weder eine Region in der Zeit noch den Ansichbestand des Systems, in dem wir leben, sondern eine an und für sich von der Zeit unabhängige geometrische Manichfaltigkeit. Gleichwohl fällt sein Geltungsbereich mit dem der Gegenwart und dem der Wirklichkeit wieder zusammen. Denn nichts ist gegenwärtig und nichts wirklich, was nicht in dem Räume enthalten wäre. Und nichts ist in ihm enthalten, was nicht wirklich und gegenwärtig wäre. Gegenwart, Wirklichkeit und Weltraum bilden somit eine Dreiheit verschiedener Begriffsbedeutungen, die dieselbe ontologische Größe bezeichnen. Das ist dadurch bedingt, daß die Gegenwart der zeitliche Ort und der Weltraum die geometrische Manichfaltigkeit des von uns jeweils als Wirklichkeit betrachteten Systems ist. Aus diesem Sachverhalte ergibt sich eine Rechtfertigung dafür, daß wir die Gegenwart jeweils für alleinwirklich, Vergangenheit und Zukunft aber für unwirklich halten. Denn ist für uns die Wirklichkeit auf einen dreidimensionalen Raum beschränkt, und wird dieser durch die jeweilige Gegenwart ausgefüllt, dann ist in ihm für vergangene und zukünftige Weltstadien kein Platz. So ist zB. jetzt da, wo der Rhein bei Köln vorbeifließt, kein Platz für die Wassermassen, die dort vor einer Stunde vorbeigeflossen sind oder nach einer Stunde vorbeifließen werden. Und allgemeiner ausgedrückt: es gibt zu keiner Zeit irgendeine Stelle des Weltraumes, die in dem Sinne unausgefüllt wäre, daß man in sie ihre Vergangenheit oder ihre Zukunft hineinschieben könnte. Das verbietet die Eindeutigkeit dieses Raumes. Wir müssen also die Grenzen des letzteren überschreiten, um die vergangenen und zukünftigen Bestände irgendwie unterzubringen. Nun aber hat ein solcher Raum, solange man innerhalb seiner eigenen Manichfaltigkeit bleibt, keine Grenzen. Deshalb müssen wir um jener Bestände willen aus seiner Manichfaltigkeit hinaustreten. Wenn wir daher soeben noch behaupteten, daß Vergangenheit und Zukunft als Wirklichkeit gedacht gegenwärtig und als Gegenwart gedacht wirklich wären, so erkennen wir nunmehr, daß wir, um diesen Gedanken zu
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vollziehen, die Dreidimensionalität des Weltraumes hätten preisgeben müssen. Denn in ihr ist für das Vergangene und Zukünftige kein Platz. Was aber in der Welt keinen Platz hat, daß wird eben damit von ihr ausgeschlossen und ist unwirklich. Dies bedeutet es, wenn wir von der Vergangenheit sagen, sie sei nicht mehr, und von der Zukunft, sie sei noch nicht wirklich. Wir stellen damit fest, daß jene nach einer und diese nach einer anderen Seite aus der jeweils allein von uns als Wirklichkeit anerkannten dreidimensionalen Manichfaltigkeit der Gegenwart ausgeschlossen ist. Das verhilft uns zu einer Definition der Gleichzeitigkeit. Ontologisch nämlich ist das gleichzeitig, was auf die soeben beschriebene Weise zu der dreidimensionalen Manichfaltigkeit einer und derselben Gegenwart gehört. Demnach gelangen wir zu diesem Begriffe dadurch, daß wir uns unter Ausschluß jeder zeitlichen Erstreckung der Wirklichkeitsbestände auf ihre jeweilige Raumgemeinschaft beschränken. Ihre Gleichzeitigkeit ist ihre Raumgemeinschaft in der Zeit. Alle solche dreidimensionalen Gleichzeitigkeitsstadien der Zeit bezeichnen wir ohne Rücksicht darauf, ob sie jetzt Gegenwart sind, es früher waren oder künftig sein werden, in den folgenden Erörterungen als Phasen. Die letzteren charakterisieren sich also durch ihren Raum, der zwar in der Zeit liegt, selber aber keine zeitliche Erstreckung hat. Außerdem charakterisieren sie sich, und das ist, wie wir noch sehen werden, für unseren Zeitbegriff wesentlich, dadurch, daß jede von ihnen zu ihrer bestimmten Frist Gegenwart ist. Es ist somit nicht nur jede Gegenwart eine Phase sondern auch jede Phase eine Gegenwart. Aber Phasen sind solche Raumgemeinschaften immer. Dagegen ist Gegenwart jede von ihnen nur einmal. Da sich nun die gesamte Zeit für uns aus einer stetigen Reihe von unendlichvielen derartigen Phasen aufbaut, so fällt mit deren Wirklichkeit oder Unwirklichkeit das ontologische Wesen der Zeit zusammen. Wir erkannten aber, daß alle vergangenen und zukünftigen Phasen jeweils unwirklich sind, und daß dies durch die Dreidimensionalität unseres Wirklichkeitsbildes bedingt ist. Halten wir daher an dieser fest, so besteht das ontologische Wesen der Zeit in der jeweiligen Alleinwirklichkeit einer und der entsprechenden Unwirklichkeit aller ihrer übrigen Phasen. Dh. ihre Wirklichkeit ist dann bis auf jene eine Phase eine Unwirklichkeit. Nun aber ist, wie wir noch sehen werden, eine Einzelphase keine Zeit. Daher ist die Zeit, wenn sie bis auf nur eine ihrer Phasen unwirklich ist, überhaupt nicht wirklich. Und da das durch die Dreidimensionalität unseres Weltbildes bedingt war, so kommen wir zu dem Schlüsse: entweder
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ist die Welt dreidimensional, und dann ist die Zeit nicht wirklich; oder die Zeit ist wirklich, und dann ist die Welt nicht dreidimensional. In jeder Phase der Zeit liegt, sobald sie Gegenwart ist, nach landläufiger A u f f a s s u n g die Wirklichkeit vollständig vor. Denn jede ist dann alleinwirklich und enthält mit ihrer dreidimensionalen Manichfaltigkeit den ganzen Weltraum. Hieraus folgt, daß unsere Wirklichkeit, solange wir an jener Dreidimensionalität festhalten, mit der Zeit zwar fortschreitet und sich ändert, aber nicht wächst oder abnimmt sondern in allen ihren Phasen die gleiche Größe behält. Diese Gleichheit betrifft hier zunächst nur eine allgemeinbegriffliche Beschaffenheit aller Zeitphasen. In dem täglichen Leben aber gehen wir darüber hinaus. Denn dort identifizieren wir jene Phasen außerdem individualbegrifflich miteinander. Dh. wir erklären, daß die dreidimensionale Wirklichkeit der jeweiligen Gegenwart ihrem Bestände nach identisch dieselbe sei, die vorher da war und nachher da sein wird. Dementsprechend besteht für uns die zeitliche Welt nicht aus unendlichvielen und immer wieder neuen sondern aus nur einer einzigen und immer wieder derselben dreidimensionalen Wirklichkeit, die in jeder Zeitphase vollständig enthalten ist. Eine These, die uns noch beschäftigen wird. Welches Bewenden mit ihr es aber auch haben mag, in jedem Falle ist mit der Lehre von der jeweiligen Alleinwirklichkeit der Gegenwart und der Unwirklichkeit der übrigen Zeitphasen eine bestimmte Konsequenz verbunden. Ist nämlich die Zeit eine stetige Reihe von unendlichvielen miteinander benachbarten und sich kraft dieser K o n tiguität gegenseitig ausschließenden Phasen, und ist jeweils deren eine die ganze Wirklichkeit, die Gesamtheit der übrigen aber unwirklich, dann wird die Welt in jedem Augenblicke vernichtet und geschaffen. Denn zu keiner Gegenwart besteht dann irgendetwas von dem, was war, und irgendetwas von dem, was sein wird. Vielmehr ist immer das jetzt nicht mehr und das jetzt noch nicht Wirkliche als Vergangenheit oder Zukunft jetzt überhaupt nicht wirklich. Es ist daher für die jeweils alleinwirkliche Gegenwart nichts. Diese aber schreitet dauernd in der Richtung aus der Vergangenheit in die Zukunft fort. Mithin wird jede Gegenwart in dem Augenblicke, da sie auftritt, zu nichts. Und an ihre Stelle tritt eine neue Gegenwart, die aus dem nunmehr um sie verminderten Nichts der Zukunft auftaucht, um ihrerseits sofort wieder in das dann um sie vermehrte Nichts der Vergangenheit unterzutauchen. Die Gegenwart wäre also als alleinige Wirklichkeit zugleich ein unaufhörlicher U e b e r g a n g von einer Unwirklichkeit zu einer anderen. Sie wäre ein ewiges Stirb und Werde. Eine Folgerung, die man oft gezogen hat.
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Aber dieser Folgerung wie der Lehre von der jeweiligen Alleinwirklichkeit der Gegenwart überhaupt steht eine andere ontologische Erwägung entgegen. Versucht man nämlich, die Wirklichkeit der Gegenwart als einer spezifischen Zeitgröße zu erfassen, so findet man, wie schon aus unseren Erörterungen über das Wesen der Phase hervorgeht, daß sie in der Zeit keine Größe hat. Denn alles, was man ihr an zeitlicher Größe zuzusprechen versucht, fällt der Vergangenheit und der Zukunft anheim. Kommt diesen doch nicht nur das zu, was vor oder nach Jahr und Tag, sondern auch das, was vor oder nach einer Minute, einer Sekunde und jedem noch so kleinen Bruchteile einer Sekunde geschieht. Für die Gegenwart bleibt also keine Zeitgröße übrig. Und es kann auch nicht anders sein, da es zu dem Begriffe der Gegenwart gehört, daß in ihr alles gleichzeitig ist, während es zu dem Begriffe einer Zeitgröße gehört, daß ihre Phasen aufeinander folgen. Somit ist die Gegenwart, obwohl sie in der Zeit liegt, selber zeitlich ausdehnungslos. Die als dimensionslos gedachten Schnittpunkte der Minuten- und Sekundenstriche auf unseren Uhren mit dem eindimensionalen Kreisumfange des Zifferblattes symbolisieren diese Ausdehnungslosigkeit der jeweiligen Gegenwart in der als unendlich betrachteten Ausdehnung der Zeit, deren Unendlichkeit die in sich zurücklaufende Endlosigkeit jenes Kreisumfanges versinnbildlicht. Man kann den so symbolisierten Sachverhalt dahin interpretieren, daß die jeweilige Gegenwart eine zeitlich ausdehnungslose Grenzzone ist, in der sich Vergangenheit und Zukunft als zwei endlich oder unendlich ausgedehnte Zeitteile berühren. Grenzzonen dieser Art aber sind ontologisch nicht selbständig sondern gehören zu der Wirklichkeit dessen, was sie begrenzen. In jeder Wirklichkeit ist nämlich nur das selbständig, was in allen ihren Dimensionen eine endliche oder unendliche Größe hat. Dagegen ist das, was in einer solchen Wirklichkeit zwar vorkommt, aber in einer oder mehreren ihrer Dimensionen jene Größe nicht hat, also unendlichklein ist, ontologisch unselbständig. Es tritt dann in dieser Wirklichkeit nicht für sich allein sondern nur als Eigenschaft anderer ontologisch vollwertiger Bestände auf. Und es läßt sich in ihr von den letzteren nicht faktisch, nämlich durch Teilung sondern nur in Gedanken, nämlich durch Abstraktion trennen. Das können wir uns in unserer eigenen Wirklichkeit vergegenwärtigen. Hier sind ontologisch in dem uns jeweils vorliegenden dreidimensionalen Räume nur die dreidimensionalen Körper selbständig. Flächen als Gebilde, die in einer, Linien als Gebilde, die in zwei, und Punkte als Gebilde, die in allen unseren Dimensionen unendlichst
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klein sind, können in einem solchen Räume als selbständige Wirklichkeitsbestände nicht auftreten. Sie kommen nur als Grenzphänomene in und an jenen Körpern vor, haben deren Wirklichkeitsweise und lassen sich von ihnen nicht faktisch durch Teilung sondern nur in Gedanken durch Abstraktion trennen. Ebenso wären in einer Flächenwelt nur Flächen, in einer Linienwelt nur Linien ontologisch selbständig. In jener kämen Linien und Punkte nur als Grenzphänomene von Flächen, in dieser kämen Punkte nur als Grenzphänomene von Linien vor. In einer vierdimensionalen Welt hätten nur vierdimensionale Gebilde eine selbständige Wirklichkeit. In ihr g ä b e es also außer den Punkten, Linien und Flächen auch die dreidimensionalen Gebilde nur als Grenzphänomene, weil hier die letzteren nach der vierten Dimension hin unendlichklein wären. K u r z in jeder n-dimensionalen Manichfaltigkeit sind lediglich die n-dimensionalen Gebilde ontologisch selbständig, und n—m-dimensionale Gebilde kommen in ihr nur als unselbständige Grenzphänomene vor. In eben diesem Sinne ist in einer Wirklichkeit, deren eine Dimension die Zeit ist, nur das zeitlich Ausgedehnte ontologisch selbständig. Das zeitlich nicht Ausgedehnte sondern Unendlichkleine dag e g e n ist in ihr ontologisch unselbständig. Es tritt nur als Grenze des zeitlich Ausgedehnten auf, läßt sich von diesem nicht faktisch sondern nur durch Abstraktion trennen und teilt die Wirklichkeit dessen, was es begrenzt. Wenden wir das auf die jeweilige Gegenwart an, so finden wir, daß sie in der Zeit kraft der soeben beschriebenen Bezugsverhältnisse ontologisch nicht selbständig ist sondern die Wirklichkeit der von ihr begrenzten Vergangenheit und Zukunft teilt. Diese Feststellung aber steht in Widerspruch zu unserem ursprünglichen Ergebnisse, nach dem jeweils nur die Gegenwart wirklich ist, Vergangenheit und Zukunft dagegen unwirklich sind. Denn teilt die Gegenwart die Wirklichkeit der Vergangenheit und der Zukunft, dann ist sie entweder so wirklich, wie es diese sein sollen, oder diese sind so wirklich, wie es die Gegenwart ist. In dem ersten Falle wäre überhaupt nichts wirklich. Die Vergangenheit und die Zukunft nicht, weil sie aus der Wirklichkeit der Gegenwart ausgeschlossen sind. Und die Gegenwart nicht, weil sie die Wirklichkeitsweise, also die Unwirklichkeit der Vergangenheit und der Zukunft teilt. Die Welt ginge also ständig aus einer Unwirklichkeit über eine Unwirklichkeit in eine Unwirklichkeit. In dem zweiten Falle wäre alles wirklich. Die Gegenwart so, wie sie sich jeweils als wirklich erweist. Und Vergangenheit und Zukunft so, wie es die Gegenwart ist. E s wäre also in jedem Augenblicke die ganze Zeitwelt wirklich.
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Die uns geläufige Ontologie der Zeit bedient sich keiner dieser beiden Lösungen. Der ersten nicht, weil ihr Nihilismus durch die Wirklichkeit der jeweiligen Gegenwartswelt widerlegt wird. Und der zweiten nicht, weil ihrem Panrealismus der Umstand entgegensteht, daß für uns, wie wir gesehen haben, die Wirklichkeit dreidimensional ist und daher jeweils nur für die Gegenwart, nicht aber für die Vergangenheit und die Zukunft Platz hat. Stattdessen helfen wir uns durch ein anderes Mittel, nämlich dadurch, daß wir in unserer immanenzontologischen Praxis die Zeit als eine Außenbeziehung der Gegenwart vernachlässigen und den Raum als ihre Innensystematik allein beachten. Hierfür bietet uns die zeitliche Ausdehnungslosigkeit der Gegenwart eine Handhabe. Denn ausgedehnte Zeit, und nur einer solchen kommt der Begriff der Zeit zu, gibt es, wie wir gesehen haben, zwar vor und nach, also außerhalb, aber nicht in der Gegenwart. Diese ist vielmehr in sich zeitlos. Die Zeit umgibt somit unsere jeweilige Wirklichkeit. Aber sie tritt nicht in sie ein sondern bleibt ihr transzendent. Dächte man sich daher alles Zeitliche aus der Welt gestrichen, so würde hierdurch die innere Struktur der von uns als Gegenwart bezeichneten Welt nicht berührt. Sie wäre ohne die Zeit so wie mit ihr. Für die Gegenwart ist mithin nur ihr Raum von Belang. In seinen Grenzen ist sie vollständig. Dagegen ist die Zeit nicht nur tatsächlich sondern auch grundsätzlich aus diesen Grenzen ausgeschlossen, da sie die Manichfaltigkeit des Raumes übersteigt. Der Raum aber ist für die Gegenwart konstitutiv. Denn er bildet zum Unterschiede von jener Transzendenz der zeitlichen Verhältnisse ihr immanentes Ordnungsschema. Die jeweilige Wirklichkeit schließt also den Raum ein und die Zeit aus. Dementsprechend brauchen wir für ihre innere Struktur nur jenen und können diese vernachlässigen. Sobald wir das aber tun, fällt für uns der Grund fort, um dessenwillen die jeweilige Gegenwartswirklichkeit ontologisch unselbständig war. Denn sie ist in ihren eigenen Dimensionen, also wenn wir die nicht zu ihr gehörende Zeitdimension vernachlässigen, ontologisch selbständig. Und eine solche Vernachlässigung liegt unserer immanenzontologischen Praxis umso näher, als wir die Zeit im Unterschiede zu dem Wahrnehmungsraume, eben weil sie außerhalb seiner Manichfaltigkeit liegt, nicht vor uns sehen. Aber die Zeit vernachlässigen heißt nicht ihre Probleme lösen. Denn die Gegenwart bildet nun einmal die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft und gehört zu ihnen, wenn auch diese nicht zu ihr gehören und deshalb von uns vernachlässigt werden. Hinzu kommt, daß eine solche Vernachlässigung in Widerspruch EU den Grundlagen unseres eigenen Wirklichkeitsbegriffes steht. Denn 34*
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für diesen ist die Zeit ebenso konstitutiv wie der Raum. Ist doch alles Wirkliche für uns nicht nur irgendwo sondern auch irgendwann,, und das, was niemals ist, ebenso unwirklich wie das, was nirgends ist. Deshalb darf die Zeit, sobald wir mit ihr ontologisch ernst machen, von uns nicht aus dem Wirklichkeitsbegriffe ausgeschlossen sondern muß vielmehr in ihn einbezogen werden. Tun wir das aber und halten wir zugleich daran fest, daß jeweils die Gegenwart alleinwirklich ist, Vergangenheit und Zukunft dagegen unwirklich sind, so kommen wir zu dem Ergebnisse, daß alles Wirkliche seine Wirklichkeit dadurch dokumentiert, daß es jeweils räumlich in einem wirklichen und zeitlich in einem unwirklichen Systeme auftritt. Und dieses Prinzip führt uns, wenn wir die ontologische Unselbständigkeit der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft beachten, wieder zu unserem Dilemma, nach dem entweder die Gegenwart so unwirklich sein müßtewie die Vergangenheit und die Zukunft, oder diese so wirklich sein müßten wie die Gegenwart. In beiden Fällen wäre der Allein Wirklichkeitsanspruch der jeweiligen Gegenwart aufgehoben. Besteht daher jenes Dilemma zu recht, und ist es unvermeidbar, so haben wir zu prüfen, ob denn dieser Anspruch zu recht besteht, und worauf er beruht. Hierbei können wir zu einem abschließenden Ergebnisse erst später gelangen. Von vornherein aber ist offenbar, daß wir, um eine absolute Alleinwirklichkeit der jeweiligen Gegenwart und damit die absolute Unwirklichkeit von Vergangenheit und Zukunft zu beweisen, aus unserer jeweiligen Gegenwartswelt hinaustreten müßten. Denn solange wir das nicht tun, wissen wir auch nicht, was außerhalb dieser Welt ist und nicht ist. Wir können dann nur sagen, daß unsere Gegenwartswelt wirklich ist, und daß wir über die Wirklichkeit der diesseits und jenseits von ihr liegenden Bezirke nichts wissen, nicht aber daß wir etwas über die Nichtwirklichkeit dieser Bezirke wissen. Nun können wir jeweils nicht aus der Gegenwartswelt hinaustreten. Also ist deren Alleinwirklichkeit und damit die absolute Unwirklichkeit von Vergangenheit und Zukunft für uns unbeweisbar. Die letzteren könnten daher, soweit unser Wissen über sie reicht, ebenso gut wirklich wie unwirklich sein. Daß wir aber aus der Gegenwartswelt nicht hinaustreten können, hängt mit den Grenzen unseres Wahrnehmens zusammen. Denn ist die Wirklichkeit das an sich bestehende System, in dem wir leben, und identifizieren wir mit diesem nach dem immanenzontologischen Prinzip esse est percipi aut percipi posse die immanente Außenwelt als eine allseitige Erweiterung der jeweils von uns wahrgenommenen Manichfaltigkeit, dann ist die Dreidimensionalität dieser letzteren der Ursprung
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für die Dreidimensionalität unseres Wirklichkeitsbildes. Die Frage: warum ist unsere Wirklichkeit jeweils nur dreidimensional? geht also auf die Frage zurück: warum nehmen wir die Wirklichkeit nur dreidimensional wahr? Und hierauf lautet die Antwort entweder: weil sie nur dreidimensional ist, oder: weil wir eine höhere Manichfaltigkeit nicht erfassen können. In dem ersteren Falle wäre jene Dreidimensionalität absolut. Denn sie wäre der ontologisch an sich bestehende Sachverhalt selbst. In dem zweiten Falle wäre sie relativ. Denn sie wäre nur ein Ausdruck für die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit. Daß solche Grenzen bestehen, daß unsere zweidimensionalen Empfindungsgegebenheiten nur eine dreidimensionale Außenwelt abbilden und daher auch nur eine dreidimensionale Deutungserfüllung zulassen, ist offenkundig. Ob dafür aber lediglich die Enge unserer Wahrnehmungsfähigkeit als ein bewußtseinswirkliches Phänomen oder auch die uns transzendente Außenwirklichkeit verantwortlich ist, das läßt sichimmanenzontologisch nicht entscheiden. Denn die transzendente Außenwirklichkeit mag nun an sich jeweils nur die von uns wahrgenommene oder eine höhere Manichfaltigkeit haben, in beiden Fällen hat sie für uns nur die erstere Manichfaltigkeit. Und in beiden Fällen gilt uns diese als jeweils alleinwirklich in einem absoluten Sinne. Hierbei sind wir an die letztere Auffassung des Sachverhaltes, wie wir später erkennen werden, mit psychologischer Zwangläufigkeit gebunden. Daher trägt für uns die absolute Alleinwirklichkeit der jeweiligen Gegenwart in einem ähnlichen Sinne wie die absolute Außenwirklichkeit der immanenten Wahrnehmungswelt den Charakter einer vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinung. Daß wir immanenzontologisch nicht entscheiden können, ob die jeweilige Gegenwart absolut alleinwirklich ist oder nicht, geht auch aus folgender Ueberlegung hervor. Was absolut wirklich oder unwirklich ist, ist dies für jeden beliebigen Standpunkt. Dabei setzen wir natürlich voraus, daß solche Standpunkte selber zu der Wirklichkeit gehören. Denn nur in ihr kann man, da auch der Urteilende wirklich sein muß, urteilen. Aber gerade diese Voraussetzung führt in unserem Falle irre. Denn fragt man, wo jeweils die Standpunkte sind, von denen aus man über die Wirklichkeit oder Unwirklichkeit der Vergangenheit und Zukunft urteilen könne, so erhält man nunmehr zur Antwort: in der uns jeweils vorliegenden dreidimensionalen Manichfaltigkeit und nur in ihr. Denn nur sie gilt uns jeweils als wirklich. Alle anderen Phasen der Zeit gelten als unwirklich. Gerade das aber war hier in Frage gestellt. Somit drehen wir uns in einem Kreise. Denn wir stellen jetzt fest, daß für die Gegenwart nur die
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Gegenwart wirklich ist. Und wir wollten wissen, ob sie alleinwirklich auch abgesehen von dieser ihrer Selbsteinschätzung ist. Anders stünde es, wenn wir die immanenzontologische Gegenwartsgrenze sprengten und für die Beurteilung der zeitlichen Wirklichkeit auch die in Vergangenheit und Zukunft gelegenen Standpunkte gelten ließen. Denn dann fänden wir, daß die jeweilige Gegenwart für alle anderen Zeitphasen nicht nur nicht alleinwirklich sondern überhaupt nicht wirklich ist, daß für sich selber jede dieser Phasen beansprucht, die absolut alleinwirkliche Gegenwart zu sein, und daß jede die anderen Phasen als vergangene oder zukünftige Zeit für unwirklich erklärt. Kurz wir fänden, daß sich alle Zeitphasen ihre Wirklichlichkeit gegenseitig abstreiten und nur die eigene Wirklichkeit anerkennen. Zwischen ihnen waltete dann ein allseitiger Relativismus ihrer absoluten Wirklichkeits- und Unwirklichkeitsansprüche. Dieser Relativismus findet auch in dem uns geläufigen Zeitbegriffe seinen Ausdruck. Ja er gehört zu dessen Grundlagen. Und zwar wird er hier in die Form der Nacheinanderordnung gebracht. Diese aber besagt, daß jede Phase für das ihr zukommende Infinitesimal in der Zeitreihe absolut allein wirklich und für die Infinitesimale aller anderen Zeitphasen absolut unwirklich ist. Die Zeitreihe nimmt damit den für das Nacheinander charakteristischen Typus an: erst die eine Alleinwirklichkeit, dann die andere usw. nach der Phasenordnung. Hierdurch wird einerseits dem ontologischen Absolutheitsanspruche und anderseits der wechselseitigen Relativität aller Phasen genüge getan. Jenem für das Infinitesimal jeder einzelnen Phase, dieser für die Gesamtreihe der Phasen. Eine solche Regelung hat ihre Vorteile. Zunächst wird durch sie sowohl die Wirklichkeit als auch die Unwirklichkeit aller Phasen aufrecht erhalten. Denn nun ist jede Phase einmal für eine unendlichkleine Zeit alleinwirklich. Und diese Alleinwirklichkeit ist dann wie die mit ihr verbundene Unwirklichkeit der Vergangenheit und der Zukunft absolut. Anderseits aber ist beides relativ. Denn dieselbe Gegenwart ist absolut unwirklich in den Infinitesimalen aller übrigen Phasen, in denen ihrerseits die letzteren absolut alleinwirklich sind. Jedoch ist diese Art der Relativität mit jener Absolutheit vereinbar. Denn diejenigen Phasen, relativ zu deren Wirklichkeit die jeweilige Gegenwart unwirklich ist, sind zu der Frist dieser letzteren selber unwirklich. Und nur zu dieser Frist beansprucht die Gegenwart Alleinwirklichkeit. Dagegen nimmt sie zu der Wirklichkeitsfrist der anderen Phasen die dann von ihr verlangte Unwirklichkeit auf sich. So gleichen sich hier die absoluten Wirklichkeits- und Unwirklichkeitsansprüche aller Phasen aus.
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Anderseits wird durch diese Regelung eine feste Beziehung zwischen der Gesamtwirklichkeit der Zeit und den Alleinwirklichkeitsansprüchen ihrer Einzelphasen geschaffen. Denn nun wird nacheinander die ganze Erstreckung der Zeit wirklich. Jeweils aber ist sie bis auf eine ihrer Phasen unwirklich. Das bedeutet: es gibt keine Phase der Zeit, die nicht an ihrer eigenen Stelle wirklich wäre. Und insofern ist nun die Gesamtheit des Zeitlichen wirklich. Aber sie ist es nie als Ganzes und aufeinmal. Vielmehr ist immer nur je eine ihrer Phasen wirklich. Die Zeit löst damit ihre Gesamtwirklichkeit in eine unendliche Reihe von Partialwirklichkeiten auf, deren nun nicht mehr wirkliche sondern ontologisch nur noch imaginäre Summe sie bleibt. Endlich wird durch das Nacheinander die Unwirklichkeitsabsolutheit des Vergangenen und des Zukünftigen gemildert. Denn beide sind nun zwar in jeder Gegenwart absolut unwirklich, unterscheiden sich aber von dem für immer absolut Unwirklichen dadurch, daß sie einmal wirklich waren oder es sein werden. Oder anders gewendet: sie sind zwar jeweils unwirklich, gehören aber zu der Zeit als zu demselben, wenn auch sonst unwirklichen und ontologisch imaginären Systeme, in dem die jeweils wirkliche Gegenwart liegt. Durch diese Maßnahmen beseitigt die Nacheinanderordnung einen Teil der Schwierigkeiten, die sich sonst dem Alleinwirklichkeitsanspruche der jeweiligen Gegenwart entgegenstellen würden. Und sie genügt damit unseren täglichen Bedürfnissen. Deshalb ist sie die Zeittheorie der Praxis. Aber auch theoretisch rechtfertigt sie sich nach manchen Hinsichten. Jedoch nicht nach allen. Vielmehr enthält sie auch Mängel. Und vor allem den, daß sie für jedes ihrer Infinitesimale die Wirklichkeit der Zeit als solcher preisgibt. Sie kann daher trotz ihrer Lehre von der Nichtmehr- und Nochnichtwirklichkeit des Vergangenen und Zukünftigen die mit der absoluten Unwirklichkeit dieser Zeiten verbundenen Hauptschwierigkeiten nicht beseitigen. So hebt sie insbesondere nicht unser Dilemma auf, nach dem die Gegenwart entweder so unwirklich sein muß wie die Vergangenheit und die Zukunft, oder diese so wirklich sein müssen wie die Gegenwart. Denn wenn die beiden letzteren auch einmal wirklich waren oder es sein werden, so sind sie doch in der jeweiligen Gegenwart ebenso unwirklich wie das, was niemals wirklich war oder sein wird. Und solange uns die Zeit als ein ontologischer Faktor der Weltsystematik gilt, verträgt sich solche Unwirklichkeit aus dem früher dargelegten Grunde nicht mit der Wirklichkeit der Gegenwart, da diese nur die Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft ist. Hieran ändert die Lehre von deren Nichtmehr- und Nochnichtwirklichkeit nichts.
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Und sie verträgt sich näher zugesehen auch nicht mit der Lehre von der zeitlichen Kausalität. Denn diese erfordert, daß die Gegenwart mit ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft in Realbeziehungen steht. Solche Beziehungen aber sind nur möglich zwischen den wirklichen Beständen eines und desselben ontologischen Bereiches. Dagegen sind sie unmöglich zwischen ontologisch verschiedenen Bereichen und speziell zwischen den wirklichen Beständen eines wirklichen und den unwirklichen Beständen eines unwirklichen Bereiches. Denn das Unwirkliche kann nicht auf das Wirkliche, und das Wirkliche nicht auf das Unwirkliche wirken. Das aber verlangt die Lehre von der absoluten Unwirklichkeit des Vergangenen und des Zukünftigen in jedem Falle, ganz gleich ob beide überhaupt nicht oder nur nicht mehr und noch nicht wirklich sind. Denn wenn in dem letzteren Falle auch das Vergangene in seinem eigenen Zeitinfinitesimale absolut wirklich war, so war es doch schon in dem ihm unmittelbar folgenden Zeitinfinitesimale, auf das es kausal einwirken soll, absolut unwirklich. Und anderseits war dieses noch absolut unwirklich, als jenes absolut wirklich war. Aufeinander wirken aber können zwei Zeitinfinitesimale nur dann, wenn sie zusammen wirklich sind. Und das läßt, wie wir gesehen haben, die Dreidimensionalität unserer Wirklichkeit mit ihrem ontologischen Ausschlüsse aller anderen dreidimensionalen Phasen grundsätzlich nicht zu. Es ist daher jeweils, wenn der eine Faktor der Kausalbeziehung wirklich ist, der andere unwirklich und umgekehrt. Deshalb kann die Gegenwart, solange sie Alleinwirklichkeit beansprucht, nicht in Kausalbeziehungen mit der Vergangenheit und der Zukunft stehen, auch wenn diese nur nicht mehr und noch nicht wirklich sind. Denn auch dann bleibt die mit jenem Ansprüche verknüpfte Frage ungelöst: wie kann das absolut Wirkliche auf das absolut Unwirkliche, und wie kann das absolut Unwirkliche auf das absolut Wirkliche einwirken? Die von uns geschilderten Schwierigkeiten sind konstitutiv mit der Lehre von der Alleinwirklichkeit der jeweiligen Gegenwart verbunden. Denn sie sind deren unmittelbare Folgerungen. Aber es fragt sich eben, ob jene Lehre zu recht besteht. Beweisen konnten wir das nicht, wie gezeigt wurde. Es war vielmehr ebenso möglich, daß die Gegenwart alleinwirklich ist, Vergangenheit und Zukunft also nicht wirklich sind, wie es möglich war, daß Vergangenheit und Zukunft wirklich sind, die Gegenwart also nicht alleinwirklich ist. Bisher haben wir die erstere Möglichkeit geprüft. Jetzt prüfen wir die zweite. Wir nehmen also an, nicht nur die Gegenwart sondern auch ihre Vergangenheit und ihre Zukunft, also die Gesamtheit aller Zeit-
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phasen sei jeweils wirklich. Spätere Erwägungen werden uns zeigen, daß diese Ausdrucksweise in sich widerspruchsvoll und nicht korrekt ist. Doch mag sie uns bis auf weiteres erlaubt sein. Die Alleinwirklichkeitsansprüche der Einzelphasen bestehen dann zu unrecht. Denn sie heben sich unter einer solchen Bedingung wechselseitig auf. Erklärt doch nunmehr jeweils nicht nur eine sondern jede Phase sich allein für wirklich und die übrigen Phasen für unwirklich. Demnach müßten jeweils alle Phasen sowohl wirklich als auch unwirklich sein. Und das verträgt sich nicht mit der ontologischen Eindeutigkeit der Zeit. Wohl aber kann diese, wenn jede Einzelphase ihren Anspruch auf Alleinwirklichkeit aufgibt, die Gesamtwirklichkeit aller Phasen in sich enthalten. Denn die letzteren können zwar gemeinsam wirklich, aber es kann dann nicht jede von ihnen alleinwirklich sein. Ihre ontologische Selbstbevorzugung muß also fallen. Zugleich fällt damit die zeitliche Nacheinanderordnung. Denn diese baut sich auf dem Alleinwirklichkeitsansprüche der jeweiligen Gegenwartsphase und damit auf dem Gegenteile der hier vertretenen These, nämlich auf der Annahme auf, daß jeweils nicht die Gesamtheit der Zeitphasen sondern immer nur eine von ihnen wirklich sei. Und prüft man das Nacheinander näher, so erweist es sich nicht als das, als was es zunächst erscheinen könnte, nämlich als ein diplomatisches Kunstwerk, das zwischen streitenden Parteien geschickt vermittelt, sondern als die natürliche Vorstellungsform, in der die Zeitwelt einem Wesen erscheint, das ontologisch an eine Einzelphase gebunden ist, gnoseologisch aber über diese hinauszublicken vermag. Einem solchen Wesen liegt ontologisch nur seine Phase vor. Deshalb hält es an ihrer Zeitstelle auch nur sie für wirklich und die anderen Phasen für unwirklich. Gnoseologisch aber erkennt es, daß an ihren eigenen Zeitstellen die letzteren für sich die gleichen Ansprüche erheben, sich selber also für alleinwirklich und alle übrigen, mithin auch seine Phase für unwirklich erklären. Und es weiß, daß seine Phase in Kontiguitäts- und Kausalbeziehungen, also in einem, wenn auch für das Nacheinander, wie wir gesehen haben, unbegreiflichen Realzusammenhange mit jenen anderen Phasen steht. Daher muß es diesen an den ihnen zukommenden Stellen der Zeitreihe dasselbe Wirklichkeitsrecht zubilligen wie seiner Phase an ihrer Stelle. Nach seiner Auffassung ist demnach jede Phase an ihrer Stelle und zwar nicht nur vermeintlich sondern tatsächlich alleinwirklich. Das aber heißt: die Zeit baut sich ihm dadurch auf, daß der Reihe nach jede Phase einzeln die ganze Wirklichkeit, der je zugehörige Rest der Phasen dagegen und mit ihm die Zeitordnung selber unwirklich ist.
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Das Nacheinander ist ein Ausdruck für diese Auffassung des Sachverhaltes. Damit aber ist es eine einfache Reproduktion der Phasenansprüche. Denn es besagt nur, was diese besagen. Es ist demgemäß der von dem Standpunkte der Einzelphasen aus geltende Zeitbegriff. Und eben als solcher ist es der Zeitbegriff unseres Wesens, das selbst an eine Einzelphase gebunden ist, sich daher die übrige Zeit nur in Einzelphasen vorstellen kann und nun versucht, durch deren Alleinwirklichkeitsansprüche die ihm unvorstellbare Gesamtwirklichkeit der Zeit zu erfassen. Oder kürzer formuliert: es ist die Verabsolutierung aller ontologischen Phasenansprüche, vollzogen von einem an eine einzige Phase gebundenen Wesen, das nur diese ontologisch vorfindet, gnoseologisch aber auch die anderen Phasen erfaßt. Dementsprechend ist der durch das Nacheinander dargestellte Ausgleich zwischen der Absolutheit und der Relativität jener Phasenansprüche in Wahrheit eine Nutzbarmachung ihrer Relativität in dem Dienste ihrer Absolutheit und nicht etwa ein neutraler Entscheid. Werden nun solche Ansprüche, wie wir es hier vorausgesetzt haben, durch die Gesamtwirklichkeit der Zeit aufgehoben, so wird eben damit der Nacheinanderordnung ihre Grundlage entzogen. Infolgedessen gibt es in jener Gesamtwirklichkeit kein Nacheinandersein von Einzelphasen mehr sondern nur ein Zusammensein aller Phasen. In ihr verliert dann auch der Begriff der Gegenwart seinen uns geläufigen Sinn. Denn dieser ist die einmalige absolute Geltung des Alleinwirklichkeitsanspruches einer Einzelphase in der Nacheinanderordnung. Fällt die letztere weg, und ist keine Phase alleinwirklich, dann ist jede Phase nur in ihren eigenen Augen und keine in Wahrheit Gegenwart. Oder: sie sind nun alle Gegenwart, aber nicht jede für sich als Einzelphase in einem Nacheinander sondern alle zusammen als die Konstituenten der ihnen gemeinsamen allgegenwärtigen Gesamtwirklichkeit der Zeit ohne Nacheinander. Hier verschwänden die in der vorangehenden Erörterung beschriebenen Schwierigkeiten, zu denen der Alleinwirklichkeitsanspruch der jeweiligen Gegenwart und die Lehre von dem Nacheinander führten. Das Dilemma nämlich, nach dem entweder die Gegenwart so unwirklich sein müßte wie die Vergangenheit und die Zukunft, oder diese so wirklich sein müßten wie die Gegenwart, entschiede sich hier in dem Sinne der letzteren Lösung. Und die Aporie der Kausalität, die darauf beruhte, daß für die Nacheinanderordnung Ursache und Wirkung in verschiedenen gegenstandstheoretischen Feldern liegen, bestünde nicht mehr, da für die Gesamtwirklichkeit der Zeit beide Faktoren in demselben Felde liegen. Anderseits freilich, und das wäre eine
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Kehrseite dieser Zeitauffassung, würde durch sie die Dreidimensionalität und damit für uns die Anschaulichkeit der Welt aufgehoben. Die Alleinwirklichkeitsansprüche der Einzelphasen aber wären nunmehr aus ihrer dreidimensionalen Begrenztheit zu erklären. Und die letztere erklärte sich gemäß den Darlegungen der vorangegangenen Erörterung aus unserer begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit. Demnach ginge auf dieses bewußtseinswirkliche Faktum und nicht auf einen außenwirklichen Sachverhalt letztlich der ontologische Aufbau des uns geläufigen Zeitbegriffes mit seinen Gegenwartsansprüchen und seinem Nacheinander zurück. Er beruhte darauf, daß wir die begrenzte Manichfaltigkeit unseres Wahrnehmungsbereiches für die Manichfaltigkeit der zeitlichen Wirklichkeit selbst hielten, also die Strukturbedingungen unseres Erkenntnismittels mit den Strukturbedingungen des zu erkennenden Gegenstandes verwechselten. Denn in Wahrheit wäre nicht nur die jeweils von uns wahrgenommene dreidimensionale Gegenwartsphase sondern die über diese Dimensionalität hinausgehende Gesamtheit aller Zeitphasen wirklich. Wären so die Alleinwirklichkeitsansprüche der Einzelphasen nur relativ zu dem begrenzten Horizonte unseres Wahrnehmungsbereiches giltig, dann bildete die hiermit verbundene Lehre von der entsprechend jeweils nur relativen NichtWirklichkeit des Vergangenen und Zukünftigen für den Sukzessivschnitt unseres Weltbildes ein Seitenstück zu der uns für seinen Simultanschnitt schon bekannten Lehre von dem relativen Nichts des Bewußtseins und zu der auf ihr fußenden Lehre von dem relativen Nichts der Immanenzontologie. Die erstere dieser beiden Lehren besagte, daß die Bewußtseinsgebilde, wenn man sich auf die innere Systematik der Erlebniseinheiten beschränkt, aus einem unwirklichen Nichts zu kommen und in ein unwirkliches Nichts zu gehen scheinen. Doch zeigte es sich, daß dieses Nichts nur relativ war. Es war zwar nichts Erlebniseinheitliches. Aber es war etwas Wirkliches. Es waren physische Vorgänge in den uns transzendenten Teilen der Großhirnrinde, zu der die überphysische Systematik unserer Erlebniseinheiten gehörte. Von einem unwirklichen Nichts konnte hier nur aus der Horizontenge der erlebniseinheitlichen Systematik heraus gesprochen werden. Aehnlich verhielt es sich mit dem relativen Nichts der Immanenzontologie. Für die Begriffswelt des täglichen Lebens war die transzendente Außenwirklichkeit ein unwirkliches Nichts, weil sie keinen Platz in der Wahrnehmungswelt fand, die die ganze Wirklichkeit zu sein beanspruchte. Aber dieser Anspruch bestand zu unrecht. Und ontologisch war die transzendente Welt allein wirklich. Das vermeint-
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liehe Nichts war also auch hier nur relativ und nicht absolut. Es war nicht immanent wirklich. Aber es war wirklich. Beruht die Dreidimensionalität und damit der Alleinwirklich keitsanspruch der jeweiligen Gegenwart nur auf der Enge unserer Wahrnehmungsfähigkeit, so befinden wir uns der Zeitwirklichkeit gegenüber zwar nicht in derselben aber in einer ähnlichen Lage, wenn wir in dem täglichen Leben Vergangenheit und Zukunft jeweils für unwirklich und darum ontologisch für nichts halten, weil sie keinen Platz in der Gegenwartswelt finden, da diese für sich die ganze Wirklichkeit beansprucht. Auch hier bestünde dann ein solcher Anspruch zu unrecht. Denn das unwirkliche Nichts der Vergangenheit, in das die Gegenwart zu gehen, und das unwirkliche Nichts der Zukunft, aus dem sie zu kommen scheint, wäre dann wie das unwirkliche Nichts, in das die Bewußtseinsgebilde zu gehen, und aus dem sie zu kommen scheinen, und wie das transzendenzontologische Nichts der immanenten Wahrnehmungswelt nur relativ und nicht absolut. Es wäre ein Nichts nur für den begrenzten dreidimensionalen Horizont der jeweiligen Gegenwart. Denn für diesen wären Vergangenheit und Zukunft nicht gegenwartswirklich. In der Zeitwelt selber aber, wie sie ontologisch und unabhängig von unserer Wahrnehmungsfähigkeit an sich besteht, wären sie ebenso wirklich wie die Gegenwart. Die hier dargelegte Auffassung der Zeit, nach der diese die Gesamtwirklichkeit ihrer Phasen ist, während der Alleinwirklichkeitsanspruch jeder Einzelphase nur für deren Horizontenge gilt, stimmt in ihrem Ergebnisse mit der seit alters von der philosophischen Spekulation gepflegten Lehre von der zeitlosen Ewigkeit überein. Der letzteren, die man dort ewig nannte, weil sie alle Zeitphasen in sich faßt, und zeitlos, weil sie nicht zeitlich in dem uns geläufigen Sinne des Nacheinander ist, schrieben jene Spekulationen das wahre Wesen der Wirklichkeit zu. Dagegen betrachteten sie das Nacheinander als eine nur für uns geltende Erscheinungsform der zeitlosen Ewigkeit. In demselben Sinne behandeln wir hier die nacheinanderlose Gesamtheit der Zeitphasen als die wahre Wirklichkeit und das uns geläufige Nacheinander als eine nur für uns geltende Vorstellungsform von ihr. Unter einer anderen Begründung und, wie wir noch sehen werden, mit einer anderen Verteilung der Wirklichkeitsakzente gibt es eine Unterscheidung zwischen dem Nacheinander und der Gesamtwirklichkeit der Zeit auch in der Begriffsbildung des täglichen Lebens. Das zeigt sich schon darin, daß wir allenthalben und zwar in volkstümlicher Rede wie in wissenschaftlicher Untersuchung von der Zeit selber und nicht etwa nur von der jeweiligen Gegenwart als von etwas Wirk-
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lichem sprechen. Machte man hiermit ernst, so müßte jeweils außer der Gegenwart irgendwie auch die gesamte übrige Zeitwelt wirklich sein. Eine Voraussetzung, die, wie sich später zeigen wird, schon dem Nacheinanderbegriffe als solchem zugrundeliegt. Doch können wir darauf zunächst noch nicht eingehen. Hier genügt es, an die in derselben Richtung liegenden Bilder zu erinnern, mit denen wir uns das Wesen der Zeit zu veranschaulichen pflegen. So betrachtet man etwa die Vergangenheit als ein Fundament, auf dem wir von Gegenwart zu Gegenwart gewissermaßen in das Leere hinein die Zukunft aufbauen. Oder man vergleicht sie mit einer andringenden Wasserflut, deren vorderster Kamm die Gegenwart ist. Usw. Solche Bilder führen zu der Vorstellung, daß die Vergangenheit keine absolute Unwirklichkeit sondern eine hinter der Gegenwart stehende Realität und als solche irgendwie wirklicher ist als die noch vor uns liegende Zukunft. Daß es entsprechende Vorstellungen aber auch von dieser gibt, zeigt die Verbreitung des Fatalismus, für den die Zukunft schon von Anbeginn bereit liegt und nur den irdischen Wesen unbekannt, einem höheren Wesen aber bekannt ist. Endlich zeigt sich eine solche Zeitauffassung auch in der uns geläufigen Redewendung, nach der wir von der Vergangenheit hinter und der Zukunft vor uns in demselben Sinne reden, wie ein Reisender von Ländern spricht, aus denen er kommt, und in die er geht. Wie der Reisende von solchen Ländern nicht meint, daß sie unwirklich sind, sondern nur, daß er jetzt nicht in ihnen sei, so meinen in jenen Wendungen wir von der Vergangenheit und der Zukunft nicht, daß sie unwirklich seien, sondern nur, daß sie uns jetzt nicht zugänglich sind. Wir meinen also eben das, was die Grundannahme der vorliegenden Erörterung bildet, nämlich daß es nur an unserer, wie auch immer bedingten Unwissenheit und nicht an der Wirklichkeit selbst liegt, wenn wir nacheinander jeweils nur die Gegenwart für wirklich halten. Freilich läßt sich die Rechtmäßigkeit jener Bilder anfechten. Man kann nämlich darauf hinweisen, daß sie erst aus dem Nacheinander abgeleitet sind, da uns nur dieses bekannt wird; daß ihrem richtigen Kerne das Nacheinander auch für sich gerecht werde; und daß die Rede von einer während der Gegenwart wirklichen Vergangenheit oder Zukunft nur durch unberechtigte Uebertragungen räumlicher Verhältnisse auf die Zeit zustandekomme. Richtig an jenen Bildern, so kann man fortfahren, sei daher nur das, was das Nacheinander selber aufweise, also etwa dies, daß sich die Zukunft kausal auf die Vergangenheit stützt, daß ständig jene ab- und diese zunimmt, daß jene durch diese determiniert ist, daß die Vergangenheit jeweils schon durchlaufen
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worden ist, die Zukunft aber noch nicht, usw. Alles darüber Hinausgehende dagegen, also das Bildhafte an jenen Bildern sei Phantasie. So kann man argumentieren. Wie aber der wahre Sachverhalt auch liegen mag, in jedem Falle gehören jene Bilder zu der uns geläufigen Zeitbetrachtung. Und ihr Grundgedanke ist, wie schon angedeutet wurde, eine Voraussetzung des Nacheinanderbegriffes selber. Daher müssen wir sie auf ihren ontologischen Bedeutungsgehalt prüfen. Dabei aber stoßen wir auf einen Widerspruch. Denn soll das Nacheinander mit der umfassenden Zeitwelt, in der es auftritt, zusammen bestehen, so müssen beide zusammen wirklich sein. Und das geht nicht an. Denn das Nacheinander fordert die Alleinwirklichkeit der jeweiligen Gegenwart, schließt also die Wirklichkeit aller anderen Zeitphasen aus. Und die umfassende Zeitwelt fordert die Wirklichkeit aller ihrer Phasen, schließt also die Alleinwirklichkeit einer Einzelphase aus. Die Problematik dieses Widerspruches soll uns noch beschäftigen. Das praktische Leben jedoch gleitet über ihn hinweg. Denn Widerspruchsfreiheit ist, wie wir früher gezeigt haben, kein Ziel der Praxis. Ihre Ontologie will vielmehr nur die für uns wichtigen Seiten der Wirklichkeit verzeichnen. Wichtig für uns aber ist in der Zeit erstens der jeweilige Gegenwartsbezirk. Denn er ist unsere immanente Außenwelt. Und zweitens die Gesamtzeit. Denn in ihrem Rahmen tritt die Gegenwart auf. Daher verbinden wir in der Praxis diese beiden Faktoren. Aber sie haben dort für uns ein verschiedenes ontologisches Gewicht. Denn die Wirklichkeit der Gegenwart betrachten wir, da sie uns immanenzontologisch vorliegt, als handgreiflich und legitim, die Wirklichkeit der übrigen Zeit dagegen, da sie uns nicht vorliegt und nicht im Einklänge mit den Ansprüchen der Gegenwart steht, als ungreifbar und illegitim. Daher gilt uns jene als ganz wirklich, diese als nur halb wirklich. Das erklärt sich aus der ontologischen Struktur der hier waltenden Situation. Denn da sich die Gesamtwirklichkeit der Zeit und der Alleinwirklichkeitsanspruch der Gegenwart wechselseitig ausschließen, so kann nur eines von beidem, wenn auch beides verwendet wird, als zu recht bestehend auftreten. Tritt die Gesamtwirklichkeit der Zeit als zu recht bestehend auf, dann verschwindet der Alleinwirklichkeitsanspruch der Gegenwart und gilt nur für deren Horizontenge. Tritt der Gegenwartsanspruch als zu recht bestehend auf, dann verschwindet die Gesamtwirklichkeit der Zeit, und die Lehre von ihr wird illegitim. Das letztere ist der Fall unserer praktischen Begriffsbildung. Diese enthält also, wenn auch unter der Vorherrschaft jenes Gegenwartsanspruches, zwei einander widerstreitende ontologische Schichten und ist doppeldeutig. Dagegen ist die Zeitwelt selber wie alle an sich
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bestehenden Wirklichkeitssysteme in sich widerspruchsfrei und eindeutig. Sie hat daher auch nichts Ungreifbares, Illegitimes und Halbwirkliches. Vielmehr ist in ihr alles Wirkliche ganz wirklich, und das nicht ganz Wirkliche ganz unwirklich. Deshalb kann ihr von jenen beiden Schichten, wenn nicht beide von ihr ausgeschlossen sind, nur die eine entsprechen. Dh. Vergangenheit und Zukunft können dann jeweils nur entweder wirklich oder nicht wirklich sein. In dem ersteren Falle bestünde die uns weniger geläufige Lehre von der Wirklichkeit der Gesamtzeit, in dem letzteren Falle die uns geläufigere Lehre von der Alleinwirklichkeit der Gegenwart und dem Nacheinander zu recht. Empirisch sind beide Lehren gleich gut und gleich schlecht begründet. Denn niemand hat je erfahren, was die Zukunft war, bevor sie Gegenwart wurde, und was aus der Gegenwart wird, wenn sie Vergangenheit ist. Deshalb hat praktisch niemand ein Recht, der Vergangenheit und der Zukunft die Wirklichkeit abzustreiten oder zuzusprechen. Aus der sogenannten Erfahrung, dh. immanenzontologisch wissen wir mithin nicht, ob eine jener beiden Lehren und welche von ihnen die richtige ist. Vielleicht aber läßt sich das durch die Transzendenzontologie der Zeit entscheiden. Die in den vorangehenden Erörterungen beschriebenen ontologischen Verhältnisse sind weniger einzigartig, als man glauben sollte. Sie gelten nämlich nicht nur für den uns geläufigen Zeitbegriff, sondern sind für die Begriffswelt jedes n—1-dimensionalen Wesens typisch, das in einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit lebt und sie ganz oder teilweise gnoseologisch erfaßt, ontologisch aber und daher auch in seinem Wahrnehmen und seinem anschaulichen Vorstellen auf n—1-Dimensionen beschränkt bleibt. Dies wollen wir uns an einem zweidimensionalen Wesen veranschaulichen, das unter den genannten Bedingungen auf einer Fläche innerhalb eines Körpers lebe. Wahrnehmen könnte ein solches Wesen den ontologischen Bedingungen seiner Existenz entsprechend nur, was in seiner Fläche ist. Daher könnte es sich auch nur von dieser und von Flächen derselben Art ein anschauliches Bild machen. Der Körper, zu dem seine Fläche gehört, wäre ihm also weder wahrnehmbar noch vorstellbar. Eben deshalb hielte es die von ihm wahrgenommene Fläche für das Weltall. Denn der Grundsatz seiner wie unserer praktischen Außenwirklichkeitserfassung lautete: esse est percipi aut percipi posse. Und die seiner Perzeption allein zugängliche Manichfaltigkeit wäre die Fläche, in der es lebt. Es sähe sich daher mit derselben psychischen
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Zwangläufigkeit an eine flächenhafte Auffassung der Welt wie wir an ihre dreidimensionale Auffassung gebunden. Demgemäß wäre nach der Meinung unseres Wesens die ganze Wirklichkeit in dieser Fläche beschlossen. Das gehörte mit zu dem vollendeten und grundsätzlich unhemmbaren Erscheinungscharakter seiner Wahrnehmungsdeutung. Unter diesen Umständen fragt es sich nun: wie wird sich das Wesen verhalten, wenn wir ihm die Fähigkeit geben, gnoseologisch auch die anderen, ihm ontologisch verschlossenen Regionen des Körpers zu erfassen, zu dem seine Fläche gehört? Welche Begriffe wird es auf diese Körperweit anwenden? Für die Antwort hierauf sind drei Momente entscheidend. Erstens nämlich zerschneidet die Flächenwelt unseres Wesens, wenn wir sie entsprechend ausgedehnt denken, den Körper in zwei Teile und bildet deren gemeinsame Grenzzone. Da unserem Wesen nur diese Grenzzone ontologisch vorliegt, und sie sein Weltall ausmacht, so wird es an ihr die beiden ihm gnoseologisch erfaßbaren Teile des Körpers orientieren und ihnen, nach beiden Seiten hin rechnend, verschiedene Vorzeichen geben. Zweitens kann sich unser Wesen nur von Flächen ein anschauliches Bild machen. Dagegen kann es sich die Dreidimensionalität der beiden gnoseologisch von ihm erfaßten Teile des Körpers nicht vorstellen. E s muß deshalb versuchen, sie mit den Mitteln seiner auf zwei Dimensionen beschränkten Wahrnehmungsfähigkeit zu beschreiben. Das geschieht, indem es die Körperlichkeit jener Teile in zwei stetige Reihen von unendlichvielen Flächen auflöst. Wir werden in den folgenden Ausführungen solche Reihen als Scharungen und die Flächenschnitte innerhalb eines Körpers, wie überhaupt n—1-dimensionale Schnitte in n-dimensionalen Manichfaltigkeiten, ebenso wie in der Zeit die zeitlich ausdehnungslosen Gleichzeitigkeiten als Phasen bezeichnen. Unser Wesen löst also den Körper, zu dem seine Fläche gehört, nach zwei Seiten hin in Scharungen von Flächenphasen auf. Drittens endlich steht dieses Wesen vor folgender Situation. Einerseits hält es seine eigene Flächenphase für die ganze Wirklichkeit, also für alleinwirklich. Anderseits findet es, daß sich alle übrigen Flächenphasen ebenfalls für die ganze Wirklichkeit halten. Es steht also vor einer allgemeinen Relativität der Alleinwirklichkeitsansprüche aller Flächenphasen. Will es dieser gerecht werden, so muß es eine Reihenordnung einführen, in der der Alleinwirklichkeitsanspruch jeder Flächenphase für je eine bestimmte Stelle der Reihe legitimiert, auf diese aber auch eingeschränkt wird. Das gilt dann für seine eigene ebenso wie für die anderen Flächenphasen. Unser Wesen hätte hier-
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bei, da nun jede Phase an ihrer Stelle absolut alleinwirklich wäre, die allseitige Relativität der Phasenansprüche in den Dienst ihrer Absolutheit gebracht. Erklärte es dann ferner, daß alle übrigen Phasen individualbegrifflich dasselbe seien wie seine eigene Flächenwelt, da ihm ja diese als die ganze und einzige Wirklichkeit gilt, so reduzierte es eben hiermit die Vielheit jener ersteren wieder auf die Einheit dieser letzteren und stellte deren Alleinwirklichkeit erneut her. Ein solches Verhalten führt unter bestimmten später noch zu behandelnden Bedingungen dazu, daß unser Wesen die Phasen der einen Scharung als die nicht mehr wirkliche Vergangenheit und die der anderen Scharung als die noch nicht wirkliche Zukunft seiner eigenen Flächenwelt, diese aber als die gerade jetzt wirkliche Gegenwart auffaßt. Doch können wir den letzteren Umstand vorläufig beiseite lassen. Denn auch ohne ihn käme unser Wesen inbezug auf den Körper, in dem seine Flächenwelt liegt, nach allen Hinsichten zu denselben Problemen, zu denen wir inbezug auf die Zeit kommen. Es hielte nämlich seine Flächenwelt an ihrer Stelle wie wir die dreidimensionale Welt der Gegenwart an der ihren für alleinwirklich und spräche den übrigen Phasen des Körpers wie wir der jeweiligen Vergangenheit und Zukunft eine Wirklichkeit ab. Sie wären ihm ontologisch nichts. Denn sie hätten in der Wirklichkeit seiner Fläche wie die Zeit in der Wirklichkeit unseres Raumes keinen Platz. Zugleich hielte es eben deshalb den Körper, in dem es lebt, für etwas von seiner Fläche, wie wir die Zeit, in der wir leben, für etwas von unserem Räume der Art nach Verschiedenes. Im Zusammenhange hiermit fände jenes Wesen, daß, wie unsere dreidimensionale Gegenwartswelt keine zeitliche, so seine Flächenwelt keine körperliche Ausdehnung hat. Oder anders gewendet: daß sie zwischen den beiden von ihm als Flächenscharungen angesprochenen Teilen des Körpers wie die Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft als den beiden Scharungen ihrer Raumphasen nur deren gemeinsame um eine Dimension geringerwertige Berührungszone bildet. Damit aber hätte es gefunden, daß seine Flächenwelt in dem Körper wie die Gegenwart in der Zeit und wie alle Grenzphänomene in einer höheren Manichfaltigkeit ontologisch nicht selbständig ist sondern die Wirklichkeit dessen hat, was sie begrenzt. Es hätte also erkannt, daß seine Flächenwelt die Wirklichkeit der sich in ihr berührenden Teile des Körpers hat, die ontologisch von dieser Fläche gerade ausgeschlossen werden sollten. Demgemäß fände es wie wir für die entsprechende Relation der Gegenwart zu der Vergangenheit und der Zukunft, daß entweder nichts wirklich sei, da ja jene Teile des Körpers 86
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nicht wirklich sein sollten, und die Fläche ontologisch zu ihnen gehört; oder daß alles wirklich sei, da ja diese Fläche wirklich ist, und die Teile des Körpers dieselbe Wirklichkeit haben müssen. Aber wie für uns in der gleichen Situation, so wäre für das Flächenwesen keine dieser beiden Möglichkeiten praktisch verwendbar. Der Nihilismus der einen würde, wie bei uns durch die Wirklichkeit der Gegenwart, so bei ihm durch die seiner Fläche widerlegt. Und der Panrealismus der anderen vertrüge sich nicht damit, daß ihm diese Fläche an ihrer Stelle wie jeweils uns der Raum der Gegenwart die ganze Wirklichkeit bedeutet. Anderseits müßte jeder Bestand, um wirklich zu sein, für unser Wesen einen Ort in dem Körper wie für uns einen Ort in der Zeit haben. Denn als wirklich sollten an ihrer Stelle ja auch die anderen Flächenphasen des Körpers wie in unserem Falle zu ihrer Zeit auch die vergangenen und zukünftigen Phasen der Gegenwart anerkannt werden. Unser Wesen stünde also vor demselben früher geschilderten Dilemma wie wir. Aber es würde dieses ebenso wie wir zwar theoretisch einsehen können, praktisch jedoch vernachlässigen. Denn es nähme nur die von ihm für alleinwirklich gehaltene Fläche wahr. Und die wäre, obwohl von dem übrigen Körper umgeben, ebenso körperlos wie unser von der Zeit umgebener Raum der Gegenwart zeitlos ist. Nur mit jener Fläche wie wir nur mit diesem Räume hätte es infolgedessen unser Wesen praktisch zu tunUnd um die Seinsweise dessen, was diesseits und jenseits Hegt, kümmerte es sich ebenso wenig, wie wir es tun. Deshalb bliebe ihm praktisch jenes Dilemma verborgen. Theoretisch aber bestünde es und wäre in seinem wie in unserem Falle unlösbar, weil es konstitutiv mit dem Alleinwirklichkeitsansproche wie bei uns der Gegenwart, so bei ihm seiner Flächenwelt verbunden ist. Endlich bestünde wie für uns so auch für jenes Wesen die von uns beschriebene Aporie der Kausalität. Denn seine Fläche wäre mit den beiden Körperschichten, die sie begrenzt, physisch so verbunden wie unsere jeweilige Gegenwart mit der von ihr begrenzten Vergangenheit und Zukunft. Und wie wir deutete sich unser Wesen diese physische Verbundenheit als ein Kausalverhältnis, wenn dieses auch bei der Einfachheit der Annahme, mit der wir uns hier begnügt haben, nach seiner passiven und aktiven Seite hin im Unterschiede von der entsprechenden Kausalbeziehung unserer Gegenwart zu Vergangenheit und Zukunft undifferenziert bliebe. Ein solches Kausalverhältnis aber ließe sich in dem Falle unseres Wesens ebenso wie in unserem Falle nicht in Einklang mit dem Alleinwirklichkeitsanspruche seiner Eigenphase bringen. Denn für deren Standort wäre der übrige Körper wie
Die Erfassung höherer durch niedere Manichfaltigkeiten
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für unsere jeweilige Gegenwart die übrige Zeit unwirklich. Und zwischen Wirklichem und Unwirklichem gibt es keine Kausalbeziehungen. Diese Schwierigkeiten verschwänden für unser Wesen, wie für uns die Schwierigkeiten unserer Zeitauffassung, könnte es sich einen Begriff von der Gesamtwirklichkeit seines Körpers wie wir uns einen solchen von der Gesamtwirklichkeit der Zeit machen. Mit seiner Ordnung der ontologischen Phasenansprüche geriete es dann freilich wie wir mit der Nacheinanderordnung in Widerspruch. Und da jene Ordnung die ihm anschaulich allein verständliche Darstellung des Körpers wäre, so müßte ihm die Lehre von dessen Gesamtwirklichkeit, da sie mit jener Darstellung in Widerspruch steht, wie uns die dem Nacheinander widersprechende Lehre von der Gesamtwirklichkeit der Zeit als illegitim erscheinen. Dennoch wäre in seinem Falle diese Lehre die richtige. Denn daß unser Wesen seine eigene Fläche für die ganze Wirklichkeit hält, läge nur an der Enge seiner Wahrnehmungsfähigkeit. Daher erschienen ihm relativ zu dieser die anderen Teile des Körpers als unwirklich. An sich aber hätte der ganze Körper dieselbe Wirklichkeit wie jene Fläche. Somit kämen wir hier zu einem bestimmteren Ergebnisse als bei der Erörterung über unsere entsprechenden Beziehungen zu der Zeit. Denn wenn es bei diesen problematisch blieb, ob die von uns vermeinte Unwirklichkeit der Vergangenheit und der Zukunft nur relativ oder absolut sei, so wird es hier offenkundig, daß die von unserem Wesen vermeinte Unwirklichkeit des Körpers jenseits seiner Eigenfläche nur relativ zu seiner Wahrnehmungsfähigkeit besteht. Gilt das Gleiche für unser Verhältnis zu der Zeit, so hätten wir anzunehmen, daß auch die von uns vermeinte Alleinwirklichkeit der jeweiligen Gegenwart nur auf der Enge unserer Wahrnehmungsfähigkeit beruht, und daß in der Zeitwelt selber alle anderen Phasen ebenso wirklich wie jene Gegenwart sind. Die hier dargelegten Sachverhalte gelten nicht nur für das Flächenwesen in einem Körper sondern entsprechend auch für jedes Linienwesen in einer Fläche, für jedes Punktwesen in einer Linie, kurz für jedes n—1-dimensionale Wesen in einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit. Alle diese Wesen erfaßten die höhere Manichfaltigkeit, in die sie hineingestellt sind, mit der Begriffswelt der niederen Manichfaltigkeit, die sie wahrnehmen. Daher erschiene ihnen jene in den Formen dieser und nicht so, wie sie an sich selbst ist. Daraus entwickelte sich der hier geschilderte Aufbau ihres Weltbildes. Wollte man dieses Weltbild auf seine Richtigkeit hin beurteilen, so hätte man es nach mancher Hinsicht als zutreffend, nach anderer 35*
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als unzutreffend zu bezeichnen. Als zutreffend. Denn unter gewissen und hier tatsächlich vorliegenden Voraussetzungen kann man jede n-dimensionale Manichfaltigkeit in eine stetige Reihe von unendlichvielen n—1-dimensionalen Phasen auflösen. Unsere Wesen sind also zu einer solchen Maßnahme berechtigt. Und es liegt auch kein Grund vor, warum nicht die von ihnen gnoseologisch angenommene mit der ontologisch vorhandenen Reihenfolge jener Phasen übereinstimmen sollte. Dagegen wäre nach anderer Hinsicht ihr Weltbild unzutreffend. Denn erstens wäre nicht die n—1-dimensionale Phase, die sie wahrnähmen, sondern das n-dimensionale Gebilde, in dem jene Phase auftritt, ihre ganze Wirklichkeit. Mithin wären die anderen Phasen dieses Gebildes nicht unwirklich sondern ebenso wirklich wie die eigene Phase unserer Wesen. Und zweitens wären mit der letzteren jene anderen Phasen nicht identisch. Wir kommen also zu dem Ergebnisse, daß in dem Weltbilde der n—1-dimensionalen Wesen einerseits die von ihnen eingeführte Phasenscharung zu recht, anderseits aber ihre Bevorzugung der eignen vor den übrigen Phasen zu unrecht bestünde. Insoweit das letztere der Fall ist, trüge dieses Weltbild den Charakter einer Fiktion. Denn unsere Wesen behandelten ihre eigene n—1-dimensionale Phase so, als hätte sie einen ontologischen Vorzug. Und doch hätte sie keinen. Daher wäre jenes Weltbild theoretisch nicht durchführbar. Praktisch aber bewährte es sich. Denn der praktischen Begriffsbildung unserer Wesen käme es nur darauf an, was die von ihnen gemeinten Sachverhalte für sie selber sind. Und für sie wäre die von ihnen wahrgenommene n—1-dimensionale Phase der Bereich, an den sie trotz ihrer gnoseologischen Erfassung der n-dimensionalen Manichfaltigkeit ontologisch gebunden blieben. Daher kennten sie praktisch nur diese Wirklichkeit. Hierin läge für sie, aber auch nur für sie, die Vorzugstellung ihrer Eigenphase. Sie jedoch hielten diese Vorzugstellung für einen Wesenszug der Wirklichkeit selber. Sie hätten also die ihrer Wahrnehmung gezogene Reichweite mit der umfassenderen Reichweite ihrer Wirklichkeit verwechselt. Ziehen wir aus dieser Erörterung das Facit, so finden wir, daß sich die hier beschriebenen Wesen inbezug auf das Verhältnis zwischen der n—1-dimensionalen Phase, die sie wahrnehmen, und der n-dimensionalen Manichfaltigkeit, zu der sie gehören, vor dieselben Begriffsbildungen und Probleme gestellt sehen wie wir inbezug auf das Verhältnis zwischen der jeweiligen Gegenwart und der Zeit. Daraus können wir schließen, daß sich die Zeit zu dem Räume der Gegenwart so verhält wie die n-dimensionale Manichfaltigkeit zu einer in ihr enthaltenen n—1-dimensionalen Phase, dh. daß sie jenen Raum um eine
Der Raum in der Zeit
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Dimension überragt. Wir nehmen somit an, daß die Zeit eine vierdimensionale Manichfaltigkeit ist und in ihr der Raum der jeweiligen Gegenwart eine dreidimensionale Phase bildet. An unserem landläufigen Begriffe der Zeit wäre es dann richtig, daß sich die letztere in eine Reihe von unendlichvielen stetig ineinander übergehenden dreidimensionalen Phasen auflösen läßt, die sich uns als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft darstellen. Richtig könnte auch die von uns angenommene Reihenfolge dieser Phasen sein, also ihr Ablauf in der Vergangenheit und, soweit sich diese voraussehen läßt, in der Zukunft. Unrichtig aber wäre unsere Bevorzugung der eigenen Phase, also die Meinung, daß jeweils nur die Welt der Gegenwart wirklich ist, die anderen Zeitphasen aber unwirklich sind, daß mit den letzteren jene Welt der Gegenwart identisch, und daß somit die gesamte Wirklichkeit dreidimensional ist. Dies trüge den Charakter einer Fiktion und erklärte sich daraus, daß wir mit unserer Wahrnehmung und deshalb auch mit unserem praktischen Wirklichkeitsbegriffe auf eine nur dreidimensionale Welt angewiesen sind. Wir wollen jetzt dasselbe Problem von einer anderen Seite her anschneiden. Man sagt einerseits von dem Räume der jeweiligen Gegenwart, daß er in der Zeit ist. Denn er ist von dieser, wie wir sahen, umgeben und bildet eine ihrer Phasen. Dagegen sagt niemand von der Zeit, daß sie in dem Räume sei. Das wäre unzutreffend. Denn wir haben dargelegt, daß der Raum als solcher in jeder Gegenwart zeitlos ist. Anderseits nennt man den Raum dreidimensional, die Zeit dagegen eindimensional. Und auch hiergegen pflegt niemand etwas einzuwenden. Gleichwohl widerspricht die letztere Behauptung der ersteren. E s ist nämlich unmöglich, daß in der Zeit, wenn sie eindimensional ist, ein dreidimensionaler Raum enthalten ist. Denn eine niedere Manichfaltigkeit kann zwar in der höheren, nicht aber kann eine höhere Manichfaltigkeit in der niederen enthalten sein. Das verbietet die Definition solcher Manichfaltigkeiten. Für unseren Fall kann man sich dies durch folgende Ueberlegung vergegenwärtigen. Wäre die Zeit eindimensional, so wäre jeder ihrer zeitlich unendlichkleinen Simultanschnitte, da er eine Dimension weniger als sie hätte, wie der Punkt in einer Linie ausdehnungslos. Tatsächlich aber haben alle diese Simultanschnitte die dreidimensionale Ausdehnung des Weltraumes. Und eben dies besagt jene Rede, daß jeweils der ganze Raum und nicht nur ein einzelner Punkt von ihm in der Zeit enthalten ist. Wenn man daher die Zeit für eindimensional erklärt und doch behauptet, der Raum sei in der Zeit,
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so widerspricht man sich. Denn man sagt damit, daß jene Simultanschnitte erstens nicht ausgedehnt und zweitens ausgedehnt seien. Dieser Beweisführung halte man nicht entgegen, der Begriff der Eindimensionalität bedeute hier etwas anderes als Linienhaftigkeit. Das ist nicht stichhaltig. Denn erstens entspricht die Zeit, wie wir sahen, nach ihrem kontiguitätssystematischen Aufbau dem Räume. Man sollte daher erwarten, daß sie, wenn sie eindimensional ist, die dem Räume für diese Manichfaltigkeit analoge Gestalt einer Linie in der Tat hätte. Zweitens müßte man, wenn das nicht der Fall sein soll, einwandfrei angeben, worin denn positiv die Eindimensionalität der Zeit besteht. Sonst weiß niemand, was man meint. Aber diese Angabe ist man bisher schuldig geblieben. Und drittens träfe, selbst wenn man die Schuld einlöste, jener Einwand nicht unser Argument. Denn das beruht nicht auf der hier beanstandeten Linienhaftigkeit der Zeit sondern auf ihrer allein geforderten Eindimensionalität. An dieser und nicht an jener liegt es, daß die jeweilige Gegenwart als zeitlich unendlichkleiner Simultanschnitt dimensionslos sein müßte. Ist doch jeder Schnitt durch eine n-dimensionale Manichfaltigkeit per definitionem n—1-dimensional, der Schnitt durch eine eindimensionale Zeit also, sie mag nun linienhaft sein oder nicht, dimensionslos. Um den Folgerungen hieraus zu entgehen, hat man zu der Annahme gegriffen, die sonst eindimensionale Zeit werde in jeder Gegenwart dreidimensional. Doch dagegen spricht mancherlei. Denn lehrt man die Alleinwirklichkeit der jeweiligen Gegenwart, so sind Vergangenheit und Zukunft jeweils nicht wirklich. Sie waren es nur oder werden es sein. Und in dem Momente waren oder werden sie Gegenwart und dreidimensional. Für eine Eindimensionalität der Zeit bleibt, soweit diese wirklich ist, unter solchen Umständen nichts übrig. Und soweit sie unwirklich ist, hat die Zeit von sich aus keine und von uns aus, da sie dann nur für unser Denken besteht, so viele Dimensionen, wie dieses Denken ihr erteilt. Das letztere aber erteilt der Vergangenheit und der Zukunft sinngemäß die Dimensionalität, die deren Phasen zu ihrer Zeit als Gegenwart hatten oder haben werden, also jeder Phase drei Dimensionen. Lehrt man gegenteils, daß jeweils nicht nur die Gegenwart sondern die gesamte Zeit wirklich sei, so fährt man nicht besser. Denn dann ist ebenfalls jede Phase der letzteren, ganz gleich ob sie von den anderen Phasen aus gesehen Vergangenheit oder Zukunft heißt, das, was sie in ihren eigenen Augen als Gegenwart ist, also dreidimensional. Und da aus der Gesamtheit dieser Phasen die Zeit besteht, so bleibt für deren Eindimensionalität wieder nichts übrig.
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Aber nehmen wir einmal an, diese Bedenken bestünden nicht. Wie denkt man sich den vorgeschlagenen Wechsel zwischen der Einund der Dreidimensionalität der Zeit? In jedem kleinsten Sekundenbruchteile vor der Gegenwart wäre sie als Vergangenheit noch immer, in jedem kleinsten Sekundenbruchteile nach ihr wäre sie als Zukunft schon wieder eindimensional. Die Dreidimensionalität der Gegenwart müßte also die Eindimensionalität der Zeit in einem Infinitesimale der letzteren abrupt durchbrechen. Das wäre ein rätselhaftes Geschehen. Wir werden somit auf den eingangs genannten Widerspruch und auf folgendes Dilemma zurückgewiesen. Entweder ist der Kaum in der Zeit, und dann ist die Zeit nicht eindimensional. Oder die Zeit ist eindimensional, und dann ist der Raum nicht in der Zeit. Nun gehört es zu unserem Wirklichkeitsbegriffe, daß alles Wirkliche und also auch dessen Raum irgendwann, mithin in der Zeit ist. Dagegen ist die Lehre von der Eindimensionalität der Zeit, wie wir soeben gesehen haben, problematisch. Daher lassen wir die letztere Lehre vorläufig beiseite und gehen von der Annahme aus, daß der Raum der jeweiligen Gegenwart in der Zeit liegt. Dann erhebt sich die Frage, welcher Dimensionalität die Zeit hierzu bedarf. Um das festzustellen, beachten wir, daß die Zeit, wenn sie den Raum der jeweiligen Gegenwart enthält, erstens umfassender als dieser und zweitens so mit ihm verwandt sein muß, daß er in ihr vorkommen kann. Das sind Merkmale, die uns von dem Verhältnisse des Teiles zu seinem Ganzen vertraut sind. Man sollte demnach meinen, der Raum sei ein Teil der Zeit. Aber das trifft in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes nicht zu. Teil und Ganzes haben nämlich, wenn sie, wie es hier erfordert wird, geometrische Gebilde sind, dieselbe Dimensionalität. So ist der Teil einer Linie auch eine Linie, der Teil einer Fläche auch eine Fläche und der Teil eines Körpers auch ein Körper. Wäre also der Raum mit seinen drei Dimensionen in dem gewöhnlichen Sinne des Wortes ein Teil der Zeit, so müßte auch diese dreidimensional sein. Sie wäre dann ein großer Raum. Und von ihm wäre der Raum der jeweiligen Gegenwart ein Bruchstück. Aber das alles reimt sich nicht mit unserem Begriffe von der Zeit. Daher muß diese den Raum auf eine andere als die hier genannte Weise enthalten. Wie sie ihn enthält, zeigt zunächst die folgende Erwägung. Wäre der Raum ein Teil der Zeit, so müßte diese ihn an seiner äußeren Grenzfläche, denn einer solchen bedürfte es dann, so umhüllen, wie etwa die Eierschale ein Ei umhüllt. Dann aber hätten wir unmittelbar nichts mit der Zeit zu tun. Denn wir leben nicht an jener äußeren
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Grenzfläche sondern in dem Inneren des Raumes und würden also von der Zeit nicht unmittelbar berührt. Und doch berührt die Zeit unmittelbar nicht nur uns sondern jeden Punkt unseres Weltalles, ganz gleich wo er liegt. Denn jeder solcher Punkt hat seine eigene Vergangenheit und Zukunft, wird also unmittelbar von der Zeit betroffen. Diese berührt somit unser Weltall nicht an seiner äußeren Grenzfläche in zwei sondern, das Innere seiner ganzen Räumlichkeit durchdringend, in drei Dimensionen. Derartige Beziehungen gibt es nicht zwischen einem gewöhnlichen Teile und seinem Ganzen. Zu einem nicht minder beachtenswerten Ergebnisse führt eine zweite Ueberlegung. Denkt man sich unseren Raum von einem Punkte aus nach allen Seiten in gerader Richtung fortgesetzt und hält überall in einer bestimmten Entfernung inne, so hat man eine Kugel vor sich. Man sollte also meinen, daß, wenn der Raum in der Zeit enthalten ist, diese ihn von allen Seiten nach der Art eines Kugelmantels umgibt. Doch das ist wieder nicht der Fall. Vielmehr umgibt sie ihn von nur zwei Seiten, nämlich von der der Vergangenheit und der der Zukunft. Die Zeit enthält also jeweils den Raum, indem sie ihn einerseits in allen Punkten und anderseits von nur zwei Seiten berührt. Demnach wird nunmehr von ihr folgendes verlangt. Sie muß erstens mit dem dreidimensionalen Räume der Gegenwart so verwandt sein, daß er in ihr vorkommen kann. Sie darf zweitens nicht selber ein dreidimensionaler Raum sein. Sie muß drittens umfassender sein als der Weltraum. Sie darf ihn viertens nicht flächenhaft von außen sondern muß ihn räumlich in jedem seiner Punkte berühren. Und sie darf ihn hierbei fünftens nur von zwei Seiten, nämlich aus der Vergangenheit und der Zukunft umspannen. Diesen Bedingungen wird genügt, wenn die Zeit eine vierdimensionale Manichfaltigkeit ist, und in ihr der jeweils gegenwärtige Weltraum eine dreidimensionale Phase bildet. Das geht wieder aus den allgemeinen Bezugsverhältnissen hervor, die zwischen den n-dimensionalen Manichfaltigkeiten und einer in ihnen enthaltenen n—1-dimensionalen Phase walten. Denken wir uns als Phase zB. eine Fläche in einem Körper, so ist dieser erstens geometrisch so mit der Fläche verwandt, daß sie in ihm vorkommen kann. Zweitens ist er nicht selber eine Fläche. Drittens ist er umfassender als die in ihm enthaltene Fläche. Viertens berührt er diese nicht nur an ihrer äußeren Grenzlinie sondern in ihrer ganzen flächenhaften Ausdehnung, also in allen ihren Punkten. Und fünftens umspannt er sie von nur zwei Seiten, nicht den beiden einzigen, deren sie fähig ist, wie wir sogleich sehen werden, aber den einzigen, die
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sie in einem dreidimensionalen Kaume hat, und daher auch den einzigen, die wir uns von ihr vorstellen können. — Dasselbe gilt von jeder Linie in einer Fläche, von jedem Punkte in einer Linie, kurz von jeder n—1-dimensionalen Phase in einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit. Setzen wir nun für die n—1-dimensionale Phase den Weltraum der jeweiligen Gegenwart und für die n-dimensionale Manichfaltigkeit die Zeit ein, so erkennen wir, daß sich jener Raum zu dieser Zeit so verhält wie die soeben von uns genannten Gebilde als Phasen zu der sie enthaltenden nächsthöheren Manichfaltigkeit. Nun ist der Raum der jeweiligen Gegenwart als Phase in der Zeit dreidimensional. Also ist die ihn enthaltende Zeit vierdimensional. Unsere gegenwärtige Erörterung führt mithin zu demselben Ergebnisse wie die vorangehende. Durch ihren zweiseitigen Zusammenhang mit dem Räume der Gegenwart ist einerseits die Zeit erschöpft. Denn außer der Gegenwart selbst sind deren Vergangenheit und deren Zukunft jeweils die einzigen Regionen der zeitlichen Manichfaltigkeit. Sonst hat sie keine. Anderseits erschöpfen sich dadurch aber auch die Berührungsmöglichkeiten jenes Raumes mit der Zeit. Denn an diesen kann sich die letztere nur von zwei Seiten her anschließen. Das ist durch die soeben geschilderte Sachlage bedingt und gilt, wie dort gezeigt wurde, mutatis mutandis für das Verhältnis jeder n-dimensionalen Manichfaltigkeit zu einer von ihr umfaßten n—1-dimensionalen Phase. Aber es gilt in dieser Form nur dann, wenn die Differenz zwischen Phase und Manichfaltigkeit eine Dimension beträgt. Beträgt sie mehr als das, so treten andere Verhältnisse auf. Hätte daher die gesamte Wirklichkeit, während der Raum der jeweiligen Gegenwart dreidimensional bleibt, eine Manichfaltigkeit von noch höherer Dimensionalität als die Zeit, so bestünden zwischen der letzteren und jenem Räume solche anderen Verhältnisse. Das wollen wir uns hier veranschaulichen. Maßgebend ist dabei die Regel, daß sich die Zahl der Berührungsmöglichkeiten eines Punktes nach der Manichfaltigkeit richtet, zu der er gehört. Und zwar beginnt diese Zahl mit zwei, um sich in jeder nächsthöheren Manichfaltigkeit um je eine Unendlichkeit zu vermehren. So berührt sich ein Punkt in der Linie nur mit den beiden Punkten, zwischen denen er dort liegt. Ein an linienhafte Wahrnehmungen gebundenes Wesen könnte sich daher auch nur diese beiden Berührungsmöglichkeiten vorstellen. Für ein solches Wesen hätte demnach der Punkt, wie für uns die Fläche in dem Räume, nur zwei Seiten. In der Fläche berührt sich der Punkt mit unendlichvielen Punkten. Denn in ihr gehen durch ihn unendlichviele Linien. Hier hat er demnach unendlichviele Seiten.
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Aber diese Unendlichkeit hat abermals ihre Schranke. Denn alle jene Linien bleiben in der Fläche. Und nur solche innerflächigen Berührungsmöglichkeiten könnte sich ein an flächenhafte Wahrnehmungen gebundenes Wesen vorstellen. Diese Schranke wird aufgehoben, wenn der Punkt nunmehr in einem dreidimensionalen Räume auftritt. In dem letzteren nämlich ist die Zahl seiner Berührungsmöglichkeiten gegen die ihm in einer Fläche gebotene wieder um eine Unendlichkeit vermehrt. Denn hier gehen durch jeden Punkt unendlichviele Flächen. Aber seinen Berührungsmöglichkeiten ist dadurch, daß alle diese Flächen in jenem Räume bleiben, eine neue Schranke gesetzt. Diese Schranke ist zugleich die unserer eigenen Vorstellung. Denn da unser Wahrnehmen an einen solchen Raum gebunden ist, so können wir uns andere als die in ihm möglichen innerräumlichen Berührungen nicht veranschaulichen. Und doch sind noch andere denkbar. Denn mathematisch macht der hier geschilderte Prozeß nicht bei den innerräumlichen Berührungsmöglichkeiten halt sondern geht in infinitum zu immer höheren Manichfaltigkeiten und damit zu immer weiter vermehrten Berührungsmöglichkeiten der in ihnen enthaltenen Punkte über. Man kann diese Regel noch etwas allgemeiner fassen. Sie gilt nämlich nicht nur für die Berührungsmöglichkeiten des Punktes sondern für die aller geometrischen Gebilde, wenn sie als Phasen in höheren Manichfaltigkeiten auftreten. Eine Linie zB. berührt sich in der Fläche nur mit den beiden ihr dort benachbarten Linien. Daher hätte sie für ein in dieser Fläche lebendes Wesen nur zwei Seiten. In dem Räume berührt sie sich mit einer Unendlichkeit von Linien. Daher hat sie für uns unendlichviele Seiten. In einer vierdimensionalen Manichfaltigkeit würde sie sich mit einer Unendlichkeit solcher Unendlichkeiten berühren. Usw. Oder eine Fläche berührt sich in dem Räume nur mit den beiden ihr dort benachbarten Flächen. Sie hat daher für unsere an den Raum gebundene Anschauung nur zwei Seiten. In einer vierdimensionalen Manichfaltigkeit würde sie sich mit unendlichvielen solchen Flächen berühren, also unendlichviele Seiten haben. In einer fünfdimensionalen Welt berührte sie sich mit unendlichvielen solcher Unendlichkeiten. Usw. Kurz jede Phase beginnt mit zwei Berührungsmöglichkeiten und vermehrt diese in höheren Manichfaltigkeiten stufenweise um je eine Unendlichkeit. Auf die Beziehung zwischen dem Räume der jeweiligen Gegenwart und der Zeit angewandt zeigt uns zunächst die erste speziellere Form dieser Regel, daß die uns allein vorstellbaren innerräumlichen Berührungsmöglichkeiten der Punkte unserer Welt nicht nur nicht die allein denkbaren sondern auch nicht die allein wirklichen sind.
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Wiewohl es uns nämlich unvorstellbar und in dem Räume auch unmöglich ist, daß sich einer seiner Punkte mit anderen Punkten auf mehr als die uns bekannten Weisen berührt, so geschieht dies doch in der Zeit. Denn da berührt sich jeder Punkt der jeweils gegenwärtigen Welt außer mit den ihn räumlich umgebenden Punkten mit dem, was er und die letzteren in dem unmittelbar vorangegangenen Zeitinfinitesimale waren und in dem folgenden sein werden. Diese Berührung findet, wie die vorangegangenen Erörterungen zeigten, in einer vierdimensionalen Manichfaltigkeit statt. Wir können uns also einerseits, das wurde seinerzeit dargelegt, eine dreidimensionale Berührungszone zwischen vierdimensionalen Gebilden nicht vorstellen sondern sie nur denken. Anderseits aber leben wir beständig in einer solchen Zone und kennen als Vergangenheit und Zukunft in raumhafte Phasenscharen aufgelöst durch Erinnerung und Vorwegnahme auch die sich in ihr berührenden vierdimensionalen Gebilde. In dem täglichen Leben freilich verschleiern wir uns diesen Sachverhalt, indem wir auf die früher angedeutete Weise die jeweils gegenwärtige Weltphase individualbegrifflich mit den Phasen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft identifizieren und behaupten, das seien nicht verschiedene sich berührende Phasen, sondern es sei in verschiedenen Zeitaugenblicken immer wieder dieselbe Welt. Doch läßt sich diese Behauptung, wie schon aus unseren früheren Erörterungen hervorgeht und weiterhin genauer zu zeigen sein wird, ontologisch nicht rechtfertigen. Und hebt man sie auf, so gelten die hier geschilderten Verhältnisse. Jene Regel über die Berührungsmöglichkeiten geometrischer Gebilde trifft also in ihrer spezielleren Form auf die Berührung zwischen der Zeit und den Punkten unseres Raumes zu. In ihrer allgemeineren Form ist sie außerdem für die Berührung zwischen der Zeit und dem Räume als Ganzen wichtig. Denn gilt sie, so stellt die auf die Vergangenheits- und die Zukunftsseite beschränkte zweiseitige Berührung unseres Raumes mit der Zeit nur die erste Stufe der sich hier bietenden Möglichkeiten dar. Denkt man sich nämlich die gesamte Wirklichkeit auf die schon bezeichnete Weise als eine die Dimensionalität unserer Zeit übersteigende Manichfaltigkeit, so hätte mit dieser der ganze Raum außer den beiden genannten noch entsprechend abgestufte Unendlichkeiten von anderen Berührungen. Durch den zweiseitigen Zusammenhang der Gegenwart mit der Zeit ist daher zwar die letztere und sind die Berührungsmöglichkeiten des Raumes in ihr, nicht aber ist damit jede Manichfaltigkeitsmöglichkeit der gesamten Wirklichkeit und die Berührungsfähigkeit des Raumes überhaupt erschöpft. Beide sind vielmehr unerschöpflich.
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Daß die Zeit eine vierdimensionale Manichfaltigkeit und der Raum in dieser eine dreidimensionale Phase ist, läßt sich auch auf folgende Weise zeigen. Alles, was wir von der Zeit erleben, erlebt haben und erleben werden, sind, wie wir sahen, jetzige, einstige oder künftige Gegenwartsphasen. Nur diese Phasen können wir wahrnehmen, nur sie uns vorstellen. Dementsprechend besteht für uns die Zeit aus einer stetigen Reihe von unendlichvielen solchen Phasen, von denen jeweils eine Gegenwart ist und die anderen es waren oder sein werden. Jede dieser Phasen aber ist, wie wir ebenfalls zeigten, eine an sich zeitlose dreidimensionale Manichfaltigkeit. Somit löst sich für uns die gesamte Zeit und jede ihrer Teilstrecken in eine Scharung von unendlichvielen zeitlosen dreidimensionalen Phasen auf. Denke ich mir Phasen von beliebiger Manichfaltigkeit in stetiger Reihe geordnet, so kann das zunächst innerhalb der Dimensionalität dieser Phasen selbst geschehen. Dann fügen sich Linienstücke in ihrer Linie, Flächenstücke in ihrer Fläche, Körper in ihrem Räume, kurz n—1-dimensionale Gebilde in ihrer n—1-dimensionalen Manichfaltigkeit aneinander. Diese Art der Reihenordnung ist für das Verhältnis zwischen Raum und Zeit ohne Belang. Auch ist sie nur möglich, wenn jene Phasen endlich sind. Denn sind sie unendlich, so können sie nicht in ihrer eigenen Dimensionalität aneinander grenzen, da sie in ihr keine Grenzen haben. E s gibt aber noch eine andere Art der stetigen Phasenordnung. Und ihrer sind die unendlichen ebenso wie die endlichen Phasen fähig. Das ist deren Scharung außerhalb ihrer eigenen Manichfaltigkeit in einer über diese hinausgreifenden neuen Dimension. Dann schichtet sich aus einer stetigen Reihe von Linien eine Fläche, aus einer stetigen Reihe von Flächen ein Raum, aus einer stetigen Reihe von Räumen eine vierdimensionale, kurz aus einer stetigen Reihe von n—1-dimensionalen Phasen eine n-dimensionale Manichfaltigkeit. Hierbei ist jede Phase, wie groß sie auch in ihrer eigenen Dimensionalität sein mag, inbezug auf die neue Dimension unendlichklein. Aber diese Unendlichkeit ihres Kleinseins wird durch die mit der Stetigkeit der Reihenordnung gegebene Unendlichkeit ihrer Zahl wieder aufgehoben und in das Endliche bzw. Unendlichgroße übergeführt. Nur diese zweite Ordnung kommt für die eingangs von uns gekennzeichnete und die Zeit aufbauende stetige Scharung der zeitlich unendlichkleinen Gegenwartsphasen, ganz gleich ob deren Raumausdehnung endlich oder unendlich ist, inbetracht. Denn die Dimensionalität der Zeit liegt, wie wir früher zeigten, nicht innerhalb sondern außerhalb der jeweiligen Raumphase. Sie bildet also eine über die
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letztere hinausgreifende neue Dimension. In dieser vollzieht sich die Scharung unserer an sich zeitlosen dreidimensionalen Gegenwartsschnitte. Nun aber bildet, wie wir soeben sahen, jede Scharung n—1-dimensionaler Phasen in einer über sie hinausgreifenden neuen Dimension eine n-dimensionale Manichfaltigkeit. Mithin ist die Zeit als eine Scharung von dreidimensionalen Phasen in einer solchen neuen Dimension eine vierdimensionale Manichfaltigkeit. Eine Prüfung dieses Argumentes zeigt, daß die Lehre von der Vierdimensionalität der Zeit keine Hypothese ist. Denn Hypothesen sind Erklärungsversuche, die unbekannte Faktoren einführen, um bekannte Sachverhalte verständlich zu machen. Und das geschieht hier nicht. Um zu dem genannten Ergebnisse zu gelangen, brauchen wir vielmehr nur, ohne auf etwa uns unbekannte Zeitstrecken zurückzugreifen, die Reihe der uns aus der Erinnerung bekannten ehemaligen Gegenwartsphasen auf den ihr angemessenen, unserem Vorstellen freilich nicht mehr zugänglichen Ausdruck zu bringen. Die Lehre von der Vierdimensionalität der Zeit ist also lediglich eine begriffsrichtige Beschreibung der uns vertrauten zeitlichen Verhältnisse, während deren landläufige Deutung auf der dreidimensionalen Bindung unserer Vorstellungsfähigkeit beruht und begrifflich fehlerhaft ist. Ist die Zeit vierdimensional, so erhebt sich die Frage: warum hält man sie für eindimensional? Die Antwort lautet: weil man sie von dem Räume trennt. Gegen eine solche Trennung wäre nichts einzuwenden, wenn sie nur besagte, daß die Zeit nicht in dem uns allein anschaubaren Räume der jeweiligen Gegenwart enthalten ist sondern zu diesem als eine neue für uns unanschaubare Dimension hinzutritt. Denn das ist der Fall. Aber sie besagt mehr. Denn sie unterstellt der Zeit außerdem, daß sie sich nicht nur für unsere Anschauung sondern an sich und nicht nur nach ihrer Dimensionalität sondern auch nach ihrer sonstigen Beschaffenheit von dem Räume allgemeinbegrifflich unterscheide, sowie daß sie individualbegrifflich mit diesem keine Einheit bilde, sondern ein System für sich sei. Das aber ist, wenn die Zeit eine vierdimensionale Manichfaltigkeit und in ihr der Raum eine dreidimensionale Phase ist, falsch. Aus diesem Fehler entspringt die Lehre von der Eindimensionalität der Zeit. Denn wird die letztere als ein für sich bestehendes System von den in ihr enthaltenen Raumphasen getrennt, so beginnt in ihr eben damit auch eine selbständige Manichfaltigkeit. Und beansprucht jede der Raumphasen für sich drei von den vier Dimensionen der Gesamtwirklichkeit, so bleibt für die jenseits jeder Raum-
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phase beginnende neue Manichfaltigkeit der Zeit nur noch eine, die vierte Dimension übrig. Diese ist in ihrem Verbände mit den ersten drei Dimensionen, wie sich sogleich zeigen wird, nicht eindimensional sondern vierdimensional. Von jenen Dimensionen getrennt aber müßte sie wie jede erste Dimension eindimensional sein. Und da diese Trennung in unserem Zeitbegriffe vollzogen ist, so glaubt man, die Zeit habe nur eine Dimension. Man fügt von dem Standpunkte der einzelnen Raumphase aus gesehen zu deren uns anschaubaren drei Dimensionen die uns nicht anschaubare Zeit als eine mit einer neuen Dimension behaftete selbständige Manichfaltigkeit hinzu. Dieses Verfahren bestünde zu recht, wäre die Zeit tatsächlich eine eigene von den Raumphasen trennbare Manichfaltigkeit. Das aber ist, wie wir gezeigt haben, nicht der Fall. Vielmehr staffelt sich die Zeit über jenen Phasen, indem sie diese einschließt und mit ihnen eine einheitliche Manichfaltigkeit bildet. In einer solchen aber besteht unser Verfahren nicht zu recht. Denn die Dimensionen einer und derselben Manichfaltigkeit sind keine Summanden, die man zueinander addiert und voneinander subtrahiert. Sie haben vielmehr den Wert von Basen, die man durch Potenzieren vermehrt und durch Radizieren vermindert. Die sich über einer n—1-dimensionalen Manichfaltigkeit staffelnde n-te Dimension ist infolgedessen nicht eindimensional wie eine einzelne, von jener n—1-dimensionalen Manichfaltigkeit getrennte, also für sich allein bestehende und darum erste Dimension, sondern sie ist als n-te Dimension selber n-dimensional. Sie enthält also eine Dimension mehr als die von ihr überflügelte n—1-dimensionale Manichfaltigkeit. Oder anders formuliert: in derselben Manichfaltigkeit ist die Kardinalzahl jeder Dimension gleich ihrer Ordinalzahl. Da9 kann man sich an den uns anschaulich vertrauten geometrischen Manichfaltigkeiten vergegenwärtigen. So ist zwar die erste Dimension der Linie eindimensional. Aber die zweite Dimension der Fläche ist nicht wieder ein- sondern zweidimensional. Käme sie als ein eindimensionales Gebilde zu der ersten Dimension der Linie hinzu, so wären beide Dimensionen zusammen zwei Linien aber keine Fläche. Ebensowenig ist die dritte Dimension des Körpers eindimensional. Denn käme sie als ein eindimensionales Gebilde zu den beiden ersten Dimensionen der Fläche hinzu, dann bestünden die drei Dimensionen zusammen aus einer Fläche und einer Linie. Aber sie wären kein Körper. In demselben Sinne ist die Zeit als vierte Dimension der Welt nicht ein- sondern vierdimensional. Denn sie kann als eine neae Reihenordnung zu den drei Dimensionen des Raumes nur dann hinzutreten und alle zeitlichen Phasen dieses letzteren nur dann um-
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fassen, wenn sie eine Dimension mehr als der Raum zählt, also vierdimensional ist. Eine eindimensionale Zeit kann das nicht. Der Glaube, die Zeit sei eindimensional, ist aber nicht nur durch unsere Trennung zwischen Raum und Zeit sondern auch dadurch bedingt, daß man den Begriff der Dimension in zwei verschiedenen Bedeutungen braucht. Man bezeichnet damit nämlich erstens in dem soeben beschriebenen Sinne die Gesamtausdehnung einer Manichfaltigkeit, also in der Geometrie die Linienhaftigkeit der Linie, die Flächenhaftigkeit der Fläche, die Raumhaftigkeit des Raumes usw. Zweitens aber auch die Bestimmungsstücke, mit denen man sich in einer solchen Manichfaltigkeit je nach ihrer Größenordnung zurechtfindet, also die Koordinaten zur Feststellung eines Punktes in ihr. In der ersten Bedeutung ist der Begriff der Dimension für den der Manichfaltigkeit konstitutiv. Denn er ist der Ausdruck für deren gesamte Erstreckung. Manichfaltigkeit und Dimension in diesem Sinne sind daher voneinander untrennbar. In der zweiten Bedeutung dagegen ist der Begriff der Dimension für den der Manichfaltigkeit nicht konstitutiv. Denn die letztere und ihre Größenordnung ist das, was sie ist, auch ohne unsere Koordinaten. Demgemäß ist es zwar für uns, aber nicht für die Manichfaltigkeit selbst belangreich, auf welche Weise wir unser Koordinatensystem in sie hineinverlegen, und ob wir das überhaupt tun. Oder anders gewendet: in der ersten Bedeutung gehört der Begriff der Dimension zu unserem Erkenntnisgegenstande als dessen Charakteristikum. In der zweiten Bedeutung ist er nur sein Kriterium und gehört zu unseren Erkenntnismitteln. Bedient man sich der ersten Bedeutung, so ist die Kardinalzahl jederDimension gleich ihrer Ordinalzahl. Bedient man sich der zweiten, so ist sie ohneRücksicht auf ihre Ordinalzahl gleich eins. Dementsprechend kann man sich mit einer Linie in einer Linienwelt, mit zwei Linien in einer Flächenwelt, mit drei in einer Raumwelt, mit vier in einer vierdimensionalen, mit n in einer n-dimensionalen Welt orientieren. Für jede neue Dimension braucht man also, um sich in ihr zurechtzufinden, nur eine Linie mehr. Darum können wir uns in der Zeit als in der dem Räume nächstübergeordneten vierdimensionalen Manichfaltigkeit, wie die Einrichtung unserer Uhren zeigt, mit einer nur eindimensionalen Koordinate begnügen. Aber die Zeit selber deshalb für eindimensional halten, hieße, das Erkenntnismittel mit dem Erkenntnisgegenstande, die Koordinate mit der Gesamtausdehnung der Zeit verwechseln. Den gleichen Sachverhalt kann man sich wieder an den entsprechenden Verhältnissen in anderen geometrischen Manichfaltigkeiten vergegenwärtigen. Denn ebenso gut wie wir in der Zeit könnte
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und würde ein Linienwesen in einer Fläche, ein Flächenwesen in einem Körper, jedes n—1-dimensionale Wesen in einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit die Größenordnung der letzteren deshalb für eindimensional halten, weil es sich in ihr von seiner Phase aus mit einer nur eindimensionalen Koordinate orientierte. Und doch wäre hier jene Manichfaltigkeit nicht eindimensional, sondern zwei-, drei- und n-dimensional. Der Fehler läge in diesem Falle auf der Hand. Wir aber begehen denselben Fehler, wenn wir die Zeit deshalb, weil wir uns in ihr mit nur einer Linie orientieren, für eindimensional erklären. Denn eindimensional ist zwar der Kreisumfang der Uhren also unsere Koordinate für die Zeit. Dagegen ist die Zeit selber als die Manichfaltigkeit, in der unsere Orientierung stattfindet, vierdimensional. Für die ontologische Betrachtung der Zeit ist die Basis unserer Koordinatenorientierung, wie wir gezeigt haben, die jeweilige Gegenwart. Für die historische Betrachtung ist sie Christi Geburt. Stets ist sie eine in der Zeitreihe selbst gelegene Phase. Auf die entsprechende Weise orientieren wir uns in dem Räume. Denn auch da beziehen wir unsere Koordinaten auf einen in dieser Manichfaltigkeit selbst gelegenen Punkt. Dazu kann unser Leib dienen, der Schnittpunkt eines Längen- und eines Breitengrades, ein Fixstern oder ein beliebiger sonstiger in unserem Räume gelegener Bestand. Wir können mit dieser räumlichen jene zeitliche Orientierung vergleichen. Unsere Scheidung zwischen den Perioden vor und nach einer zeitlichen Phase entspricht dann unseren Scheidungen zwischen den Raumgebieten vor und hinter, über und unter oder rechts und links von einem räumlichen Bestände. Ist der letztere unser Leib, so werden diese Scheidungen egozentrisch. In einem verwandten Sinne egozentrisch ist auch unsere Orientierung der Zeit an der Gegenwart. Denn die Gegenwart ist, wie schon einmal angedeutet wurde und bald ausführlicher zu zeigen sein wird, jeweils unsere eigene, dh. diejenige Phase der Zeit, in der wir selber stehen. Vor und hinter, über und unter, rechts und links geben bei einer egozentrischen Orientierung Lageverhältnisse in dem Räume an, deren Grenzscheide nicht nur unser Leib sondern alles ist, was mit ihm dieselbe Ebene hat und zwar für vor und hinter dieselbe Frontalebene, für über und unter dieselbe Horizontalebene und für rechts und links dieselbe Medianebene. Denkt man sich diese Ebenen nach allen Richtungen hin fortgesetzt, so zerschneidet jede von ihnen als eine seiner Flächenphasen den Weltraum in zwei Teile, die dann vor und hinter, über und unter oder rechts und links von einer solchen Phase liegen.
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Das gilt wie für unseren Leib, so entsprechend auch für alle anderen Bestände in dem Räume und wie für unsere Orientierung in diesem, so entsprechend auch für die analogen Orientierungen in allen anderen geometrischen Manichfaltigkeiten. Eine Linienwelt zB. würde auf die gleiche Weise durch einen Punkt, eine Flächenwelt durch eine Linie, jede n-dimensionale Welt durch eine n—1-dimensionale Phase in zwei Teile zerschnitten werden. Hierbei richtet sich die Zahl der für die betreffende Manichfaltigkeit charakteristischen Grenzscheiden nach der Zahl ihrer Koordinaten, die, wie wir soeben sahen, gleich der Zahl ihrer Dimensionen ist. In der Linienwelt hat also jeder Punkt nur eine solche und zwar in diesem Falle eine durch ihn selber schon gebildete Grenzscheide, vor und hinter der; in der Flächenwelt hat er zwei, vor und hinter, rechts und links von der; in der Raumwelt drei, vor und hinter, über und unter, rechts und links von der seine Welt liegt. In einer vierdimensionalen Welt hat er vier, in einer n-dimensionalen Welt n solche Grenzscheiden. Und zu beiden Seiten jeder dieser letzteren liegt stets der eine und der andere Teil der gesamten von ihr durchschnittenen Manichfaltigkeit. In demselben Sinne sind Vergangenheit und Zukunft die beiden Teile der zeitlichen Manichfaltigkeit, deren Grenzscheide wir und alle Bestände sind, die jeweils mit uns in derselben Raumphase stehen, also zu der Gegenwart gehören. Denn diese zerschneidet als ein sich nach allen Richtungen hin fortsetzendes dreidimensionales Gebilde die vierdimensionale Manichfaltigkeit der Zeit in die Vergangenheit hinter und die Zukunft vor uns. Sie spielt also als eine Raumphase in der Zeit dieselbe Rolle wie jene Ebenen als Flächenphasen in dem Räume und wie jedes n—1-dimensionale Gebilde als Grenzscheide in einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit. In dem Räume gelten die durch vor und hinter, über und unter, rechts und links ausgedrückten Scheidungen nur für die jeweils die Scheidewand bildende Ebene. Für parallele Ebenen gelten in dem zwischen ihnen liegenden Bezirke die entgegengesetzten Richtungsbestimmungen. Und für gegeneinander gedrehte Ebenen richten sich diese Bestimmungen nach dem Winkel der Drehung. So ist für eine hinter mir stehende Person, wenn wir parallel gerichtete Frontalebenen haben, in dem zwischen uns liegenden Bezirke das vor ihr, was hinter mir liegt. Oder fiir eine rechts von mir stehende Person ist, wenn wir parallel gerichtete Medianebenen haben, in dem zwischen uns liegenden Bezirke, das links von ihr, was rechts von mir liegt. Oder wenn ihre Frontalebene von der meinen um einen rechten Winkel abgedreht ist, das vor und hinter ihr, was rechts und links von mir 36
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ist. Und mutatis mutandis gilt auch hier wieder das Ensprechende für die analogen Orientierungen in allen anderen Manichfaltigkeiten. Denn in ihnen allen bedingt die Lage der Koordinatensysteme die zwischen ihren Richtungsbestimmungen waltenden Differenzen. In eben diesem Sinne gilt unsere Scheidung zwischen der hinter uns liegenden Vergangenheit und der vor uns liegenden Zukunft nur für die zeitliche Lage der Raumphase, in der wir jeweils leben. Bei zeitlich von uns entfernten Phasen gelten für die zwischen ihnen und uns liegende Zeit die entgegengesetzten Bestimmungen. Denn was für uns vergangen ist, war für eine weiter zurückliegende Vergangenheit zukünftig, und was für uns zukünftig ist, wird für eine spätere Zukunft vergangen sein. Daß es aber nicht nur zeitlich von uns entfernte sondern wie räumlich gegen uns gedrehte Ebenen so auch zeitlich gegen uns gedrehte Raumphasen gibt, sowie daß zwischen diesen und uns wie bei jenen Ebenen ein dem Drehungswinkel entsprechendes Bezugsverhältnis besteht, wird sich später zeigen. Für unsere Scheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft gilt somit in der Zeit auch hier wieder das, was für unsere Scheidung zwischen rechts und links, über und unter, vor und hinter in dem Räume gilt. Zu beachten ist ferner folgendes. Bei der soeben charakterisierten Orientierung in dem Räume wird dieser jeweils nur durch die schon genannten Ebenen zerschnitten. Der übrige Raum bleibt für uns unzerschnitten. Und auch das gilt mutatis mutandis wieder für die entsprechende Orientierung in allen geometrischen Manichfaltigkeiten. Denn in ihnen allen hat jeweils nur eine solche Grenzscheide jene Schnittfunktion. Die übrige Manichfaltigkeit bleibt unzerschnitten. Auf dieselbe Weise wird bei unserer Orientierung in der Zeit diese in Vergangenheit und Zukunft jeweils nur durch den Raum der Gegenwart zerschnitten. Die übrige Zeit bleibt jeweils unzerschnitten. Denn sie bildet zwar stets für uns eine Reihe von Einzelphasen, die eine Schnittfunktion hatten oder haben werden. Aber zu dem für uns jeweils allein maßgebenden Zeitpunkte der mit uns weiterwandernden Gegenwart ist in dieser Phasenreihe nach der Vergangenheit hin immer alles in gleicher Weise vergangen und nach der Zukunft hin immer alles in gleicher Weise zukünftig, wie für uns, wenn wir durch den Raum wandern, alles vor uns Liegende, solange wir es noch nicht durchschritten haben, immer in gleicher Weise vorn und alles hinter uns Liegende, nachdem wir es durchschritten haben, immer in gleicher Weise hinten ist. Den Einschnitt macht jeweils nur unsere Phase. Von der Vergangenheit und der Zukunft sagen wir, daß sie hinter und vor, nicht aber daß sie unter und über oder links und rechts
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von der Gegenwart liegen. Das ist durch die früher von uns dargelegte Sonderstellung des Hintereinander vor dem Ueber- und Nebeneinander bedingt. Denn das Nacheinander ist eine Abart des Hintereinander. Ueber- und Nebeneinander aber hießen in dem Wahrnehmungsraume die dort ontologisch anwesenden und uns daher vollständig überschaubaren Reihen. Dagegen hieß in ihm hintereinander die ontologisch von uns abwesende Reihe, von deren Phasen wir nur eine erschauen. Verallgemeinert man diesen Sprachgebrauch, so heißen in allen Manichfaltigkeiten über- und nebeneinander ihre anschaulich vollständig erfaßbaren, hintereinander dagegen ihre zwar in einer einzelnen Phase anschaubaren, im übrigen aber nur gnoseologisch zu erschließenden Dimensionen. In diesem Sinne ist für uns das Nacheinander der Zeit kein Ueber- oder Neben- sondern ein Hintereinander. Denn ihre Dimension ist uns anschaulich unerfaßbar. Und sie bildet eine Reihe, von deren Phasen wir jeweils nur eine, nämlich die Gegenwart überschauen. Mithin ist die Dimension der Zeit in einem ähnlichen Sinne wie die Tiefendimension des Wahrnehmungsraumes, also wie das räumliche Hintereinander, wenn auch, wie sich bald zeigen wird, unter abweichenden Bedingungen, ontologisch von uns abwesend und muß gnoseologisch erschlossen werden. — Hinzukommt, daß wir das Nacheinander der Zeit mit einem Fortschreiten in dem Räume zu vergleichen pflegen, und daß wir in dem letzteren der Struktur unseres Körpers gemäß auf die Tiefendimension zu, also in der Hintereinandemchtung fortschreiten. Aus diesen Gründen sagen wir von der Zeit, daß sie hinter und vor, nicht aber, daß sie unter und über oder links und rechts von der Gegenwart liege. Neben dem Hintereinander haben aber auch die anderen Dimensionen unserer Raumorientierung gewisse Beziehungen zu der Zeit. Hier ist zunächst bei dem Begriffe des Nebeneinander zu beachten, daß er im Unterschiede zu dem des Hinter- und Uebereinander keine Richtungsangabe enthält. Denn wenn in einer Reihe das eine Glied neben dem anderen liegt, so liegt auch das andere neben dem einen. Das Neben ist also von Richtungen unabhängig. Um dieser Neutralität willen hat der Begriff des Nebeneinander nicht nur im Unterschiede zu dem des Hinter- und Uebereinander die spezielle Bedeutung der Horizontalordnung in der Frontalebene des Wahrnehmungsraumes sondern im Unterschiede zu dem des zeitlichen Nacheinander außerdem die allgemeinere Bedeutung der gesamten räumlichen Kontiguität mit Einschluß des Hinter- und Uebereinander. Demgemäß stellen wir dem Räume als einem Nebeneinander die Zeit als 86*
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das Nacheinander gegenüber. Und in einem allgemeinsten Sinne kann dann um eben jener Neutralität willen das Nebeneinander die geometrische Kontiguität aller Manichfaltigkeiten überhaupt bedeuten. Bilden daher Zeit und Raum eine einheitliche vierdimensionale Manichfaltigkeit, so könnte man geometrisch deren gesamte Kontiguität als ein Nebeneinander bezeichnen. Freilich müßte dann ein später noch zu charakterisierendes Mißverständnis dieser Bezeichnung verhindert werden. Präzisiert man das Neben durch die Hinzufügung von rechts und links, so verliert es jene Neutralität. Denn ist das eine Glied einer Reihe rechts neben dem anderen, so ist das andere nicht auch rechts sondern links neben dem einen. Das Nebeneinander erhält so eine bestimmte Richtung. Solche bestimmt gerichtete Reihen sind das Hinterund Uebereinander von vornherein. Denn liegt das eine Glied einer Reihe hinter oder über dem anderen, so liegt das andere nicht auch hinter oder über sondern vor oder unter dem einen. Ebenso steht es mit dem Nacheinander der Zeit. Ist hier zeitlich die eine Gegenwart nach der anderen, so ist die andere nicht auch nach sondern vor der einen. Das Nacheinander gehört also wie das Hinter- und Uebereinander und anders als das nicht präzisierte gegen alle Richtungen neutraleNebeneinander zu den von vornherein bestimmt gerichteten Reihen. Bei dem präzisierten Neben- und dem Hintereinander kann man den für diese Reihen maßgebenden Bezugskörper beliebig wählen und durch seine Drehung ihre Richtung ändern. So brauche ich nur kehrt zu machen, um inbezug auf meinen Leib rechts und links wie vor und hinter zu vertauschen. Bei dem Uebereinander geht das nicht an. Für dessen Richtung nämlich steht der Bezugskörper fest. Denn er ist in allen Fällen der Erdmittelpunkt. Daher hat das Uebereinander, ganz gleich ob ich aufrecht stehe, mich hinlege oder auf den Kopf stelle, für mich wie für jeden irdischen Bestand stets die senkrechte Richtung von dem Zenit nach dem Nadir. In dieser Richtung kann ein solcher Bestand zwar höher oder tiefer liegen. Aber er kann sie nicht drehen. Denn sie hängt nicht von ihm ab. Nun sind in den irdischen Grenzen unseres jeweiligen Wahrnehmungsfeldes alle solche Senkrechten annähernd gleichgerichtet. Wir sehen also niemals Uebereinanderrichtungen, die voneinander abweichen. Dem entspricht unser praktischer Begriff von dem Wesen des Uebereinander. Denn da wir es immer in nur einer Richtung gewahren, so dünkt uns diese in dem täglichen Leben als absolut, als einsinnig und als in dem ganzen Welträume giltig. Das ist für uns praktisch eine vollendete und, da wir über jene Wahrnehmungsgrenzen nicht hinauskommen, eine tatsächlich unhemmbare Erschei-
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nung. Theoretisch aber wissen wir, daß auf allen Punkten der Erdoberfläche andere Richtungen übereinander heißen, daß es keine Richtung des Weltraumes gibt, die nicht für irgendeinen dieser Punkte übereinander wäre, und daß sich außerdem dank der Erddrehung relativ zu der Sonne unsere eigene Uebereinanderrichtung beständig ändert. Kurz praktisch und für uns hat das Uebereinander eine absolute, einsinnige und unumkehrbare Richtung. Theoretisch und an sich dagegen ist diese Richtung inbezug auf die Erde ebenso relativ, vielsinnig und umkehrbar wie das Neben- und Hintereinander inbezug auf jeden beliebigen Bezugskörper. Dies ist für unseren Zeitbegriff belangreich. Denn es zeigt, daß die landläufige Rede, das Nacheinander der Zeit unterscheide sich durch seine unumkehrbare Einsinnigkeit von den Richtungen in dem Räume, nur bedingt richtig ist. Ist doch in diesem unter seinen drei der zeitlichen Dimension entsprechenden Reihen für unsere praktische Begriffsbildung das Uebereinander ebenso einsinnig und unumkehrbar wie zeitlich das Nacheinander. Für die theoretische Begriffsbildung freilich ist es umkehrbar. Aber auch unsere Rede von der Einsinnigkeit der Zeit ist nur praktisch begründet. Theoretisch dagegen kann man sie nicht beweisen. Deshalb ist damit zu rechnen, daß wie die Einsinnigkeit des Uebereinander so auch die des Nacheinander zwar praktisch und für uns eine vollendete und unhemmbare Erscheinung bildet, daß aber theoretisch und an sich das Nacheinander ebenso verschiedener Richtungen fähig ist wie das Uebereinander, das Hinterund das Nebeneinander. Das scheinbar einsinnige Uebereinander hat wie das vielsinnige Hinter- und Nebeneinander zunächst nur die geometrische Bedeutung einer Koordinatenorientierung in unserem Räume. Der Schein seiner Einsinnigkeit aber ist nicht geometrisch bedingt sondern physikalisch, nämlich durch die Richtung der Erdgravitation. Ebenso hat das scheinbar einsinnige Nacheinander zunächst nur die geometrische Bedeutung unserer Koordinatenorientierung in der Zeit. Aber der Schein auch seiner Einsinnigkeit ist nicht geometrisch bedingt sondern vielmehr ontologisch, nämlich durch die Richtung, in der nacheinander der Alleinwirklichkeitsanspruch der Gegenwart aus der Vergangenheit in die Zukunft wandert. Daß im Zusammenhange hiermit zwei Ordnungen unserer Zeit zu unterscheiden sind, und welche Problematik sich daraus entwickelt, wird die nächste Erörterung zeigen. Alle Koordinatenorientierungen sind einseitig. Denn sie bestimmen das Lageverhältnis ihrer Manichfaltigkeit zu nur einem in dieser gelegenen Punkte. Dadurch bringen sie deren übrigen Teile zu dem
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letzteren in eine ihnen an sich nicht zukommende einseitige Abhängigkeit und erteilen jenem einen Punkte eine Auszeichnung, die er von sich aus ebenfalls nicht hat. Könnte doch auf die gleiche Weise jeder andere Punkt der Manichfaltigkeit ausgezeichnet und diese zu ihm in eine entsprechende Abhängigkeit gebracht werden. Alle solche Koordinatenbestimmungen lauteten dann verschieden. Jede zeigte, was die Manichfaltigkeit für nur einen in ihr gelegenen Punkt ist. Und keine zeigte, was sie an sich und für alle Punkte ist. Gerade hiernach aber fragt die Ontologie. Denn sie will inbezug auf den Raum und die Zeit wie inbezug auf alle Wirklichkeitsbestände wissen, nicht was diese für nur einen in ihnen gelegenen Punkt, für uns oder für unsere Phase, also jeweils nur hier und jetzt, sondern was sie an sich und für jeden Punkt, also überall und ewig sind. Auf diese Fragestellung aber sind unsere Koordinatenorientierungen nicht zugeschnitten. Daher sind sie für die Ontologie nicht brauchbar. Das gilt für die Zeit wie für den Raum. Denn so belanglos es für den Raum als solchen ist, daß er jeweils hinter und vor, unter und über oder links und rechts von uns oder einem anderen Bestände und seinen Orientierungsebenen liegt, so belanglos ist es für die Zeit als solche, daß sie jeweils hinter und vor uns und der Gegenwart als unserer Raumphase liegt, also für uns eine Vergangenheit und eine Zukunft hat. Deshalb behandeln wir in der Ontologie die Zeit auf dieselbe Weise wie den Raum als ein von unserer Koordinatenorientierung freies und grenzscheideloses Kontiguitätssystem. Das ist uns für den Raum geläufig. Daher messen wir unserer Koordinatenorientierung in ihm einen nur geometrischen und keinen ontologischen Sinn bei. Für die Zeit aber ist uns das Gegenteil geläufig. Denn in ihr beanspruchen wir für jede Gegenwart, mithin jeweils für die Basis unserer Koordinatenorientierung Alleinwirklichkeit und für den an ihr orientierten Rest der Zeit Unwirklichkeit. Hier also machen wir aus einer geometrischen außerdem eine ontologische Angelegenheit. Eben dadurch verleihen wir jedoch einem Sachverhalte, dessen Sinn es war, Relationen festzustellen, den Charakter der Absolutheit. Daß nämlich etwas hinter oder vor der Gegenwart liegt, ist nur eine geometrische Relation zu dieser. Dagegen ist die von ihr beanspruchte Alleinwirklichkeit wie die Unwirklichkeit der anderen Phasen ein ontologisches Absolutum. Denn was wirklich oder unwirklich ist, ist dies kraft Definition an sich und von Relationen unabhängig. Nun aber beanspruchen alle Phasen der Zeit für sich die Alleinwirklichkeit und für die übrigenPhasen die Unwirklichkeit. Damit treten sie, wie wir früher sahen, zueinander in Widerspruch. Denn ihre An-
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Sprüche heben sich nun wechselseitig auf. Würden sich geometrisch doch auch die ihnen zugrundeliegenden Koordinatenorientierungen, wollte man sie per impossibile verabsolutieren, wechselseitig aufheben. Es ist jedoch gezeigt worden, daß wir praktisch dieser Konsequenz durch das Nacheinanderschema, nämlich dadurch entgehen, daß wir die Frage nach der Gesamtwirklichkeit der Zeit preisgeben und jeder Zeitphase für das ihr zukommende Infinitesimal die von ihr beanspruchte Alleinwirklichkeit mit der komplementären Unwirklichkeit der übrigen Phasen zuerkennen. Damit kommt das tägliche Leben aus. Denn es fragt, was die Zeit jeweils für die Gegenwart, also für je nur eines ihrer Infinitesimale ist. Und hierauf antwortet das Nacheinander. Die Ontologie aber kommt damit nicht aus. Denn sie fragt nach der Wirklichkeit der Zeit, wie sie an sich, dh. für alle Standorte ist. Und darauf gibt das Nacheinander keine Antwort. Denn es weiß kraft seines Ursprunges aus der Koordinatenorientierung nur, was ontologisch die Zeit jeweils für eine einzelne in ihr gelegene Phase, für die übrigen Zeitphasen dagegen und, wie wir sogleich sehen werden, auch für einen außer der Zeit gelegenen Standort nicht ist. Es weiß aber nicht, was ontologisch die Zeit an sich und für alle Standorte ist. Somit versagt das Nacheinander vor der Problemstellung der Ontologie. Diese hat es daher mit einer nacheinanderlosen, also mit einer Zeit zu tun, in der sich die Alleinwirklichkeitsansprüche der Einzelphasen aufheben. Man braucht, um sich dies klarzumachen, nur zu fragen, welche Wirklichkeit unsere Zeit für ein außerhalb ihrer stehendes, mithin überzeitliches Wesen, in theologischer Begriffsbildung also etwa für Gott hätte. Dann findet man, daß ein solches Wesen keine Phase der Zeit als Gegenwart auszeichnete. Denn das hat nur für den in der Zeit, nicht aber für einen außer ihr Stehenden Sinn. Demgemäß wäre für jenes Wesen unsere Zeit in allen Phasen ontologisch gleichwertig. Infolgedessen müßten ihm diese, wollte es ihren Ansprüchen folgen, insgesamt entweder so unwirklich sein, wie es in dem Nacheinander jede für die anderen Phasen, oder so wirklich, wie es dort jede Phase nur für sich beansprucht. In beiden Fällen gäbe es, wie wir früher erkannten, kein Nacheinander. Aber nur für den letzteren Fall entschiede sich unser Wesen. Denn es mag nun das Nacheinander geben oder nicht, für ihr bestimmtes Infinitesimal ist jede Zeitphase wirklich. Das ist ontologisch durch das Faktum der jeweiligen Gegenwart verbürgt. Dagegen ist die von dem Nacheinander geforderte jeweilige Unwirklichkeit der nicht gegenwärtigen Phasen, wie wir früher sahen, lediglich Hypothese und unbeweisbar. Man braucht also
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nur den Bereich des Nacheinander und damit die Ontologisierung unserer Koordinatenorientierung in der Zeit zu verlassen und höhere Wirklichkeitsbereiche einzuführen, für die jene Orientierung nicht mehr gilt, um zwangläufig zu einer nacheinanderlosen Gesamtwirklichkeit der Zeit zu gelangen. Mit der letzteren hat es die Ontologie der Zeit zu tun. Wie der Gang dieser Erörterung zeigt, unterscheidet sich für uns unsere zeitliche Orientierung trotz aller Verwandtschaft von den ihr entsprechenden räumlichen Orientierungen. Das liegt abgesehen von den schon angedeuteten Verhältnissen und im Zusammenhange mit ihnen daran, daß unser Horizont in der Zeit ontologisch enger als in dem Räume begrenzt ist. Und das wieder hängt mit drei Nachteilen zusammen, unter denen unsere Erfassung der Zeit im Gegensatze zu der des Raumes leidet. Der erste Nachteil besteht darin, daß wir zwar den Raum, aber nicht die Zeit gewahren. Deshalb weicht für uns auf eine hierfür charakteristische Weise die Struktur des zeitlichen Nacheinander von der des räumlichen Hintereinander ab. Beide Strukturen waren ontologisch bis auf eine ihrer Phasen von uns abwesend und mußten gnoseologisch aus der letzteren erschlossen werden. Das war ihr Mangel. Er lag bei dem Hintereinander aber nur in der deutungslosen Sichtfläche. Denn projektiv in dieser repräsentiert und aus ihr als die Tiefenausdehnung eines Raumes von uns erdeutet war in dessen gnoseologischer Wirklichkeit das Hintereinander anwesend. Dagegen ist das Nacheinander nicht nur von jener ontologisch wirklichen Sichtfläche sondern, da es in ihr nicht repräsentiert wird, auch von dem gnoseologisch wirklichen Räume unserer Wahrnehmung abwesend. Oder kürzer gefaßt: das Hintereinander ist für uns gnoseologisch wirklich, das Nacheinander rein gnoseologisch. Deshalb sind wir in dem Hintereinander trotz seiner ontologischen Abwesenheit sehend, in dem Nacheinander dagegen wegen seiner ontologischen Abwesenheit blind. Den Raum gewahren wir demgemäß, die Zeit nicht. Und das hat zur Folge, daß wir uns in dem Räume durch einen Vergleich mit anderen Koordinatenorientierungen die Relativität der unseren vor Augen führen können, in der Zeit dagegen nicht. Der zweite Nachteil liegt darin, daß in dem Nacheinander die Gegenwart als die jeweils alleinwirkliche Phase einer sonst unwirklichen Reihe auftritt. In dem Räume sind stets alle Phasen des Hintereinander wirklich. Daher gilt in ihm unsere eigene Orientierung so relativ zu unserer wie andere Orientierungen relativ zu anderen Phasen. Auch in dem Nacheinander gilt geometrisch unsere Orientierung nur relativ zu unserer Phase. Aber da hier neben dieser die übrigen
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Phasen und also auch deren Orientierungen jeweils für unwirklich erklärt sind, so hat unsere eigene zeitliche Orientierung ontologisch niemals eine Konkurrenz. E s gibt immer nur sie. Daher bleibt sie zwar geometrisch relativ. Ontologisch aber kann sich ihre Relativität nicht auswirken. Und so überträgt sich von dem Alleinwirklichkeitsanspruche der Gegenwart her auf diese Relativität der Schein einer Absolutheit. Der dritte Nachteil besteht darin, daß wir in dem Räume die Stellung wie den Ort unseres Körpers und damit auch die Phasen unserer Orientierung beliebig wechseln können, in der Zeit dagegen nicht. Denn in ihr können wir die Gegenwartsphase praktisch nicht drehen oder verschieben, obwohl ersteres, wie sich später zeigen wird, theoretisch möglich wäre. Damit aber entgeht uns eine letzte Möglichkeit der Einsicht in die Relativität unserer zeitlichen Orientierung. Denn könnten wir Stellung und Ort der Gegenwart in der Zeit ändern, so ließen sich, wie wir später erkennen werden, Phänomene erzielen, in denen jene Relativität zwar nicht wahrnehmbar, aus denen sie aber erschließbar wäre. Doch das können wir nicht. Und bei der bestehenden Ordnung der Gegenwartsphasen treten jene Phänomene nicht ein. Diese Nachteile des Nacheinander engen für unsere Koordinatenorientierung in der Zeit unser Blickfeld ontologisch auf den Horizont der jeweiligen Gegenwartsphase ein. Und wieder würde das Entsprechende für jedes n—1-dimensionale Wesen in einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit gelten. Denn für deren n-te Dimension blieben einem solchen Wesen erstens alle Koordinatenorientierungen außer der seinen verborgen. Zweitens hielte es nur die seine für wirklich. Und versagten wir ihm die Fähigkeit, Stellung und Ort seiner Phase in der Manichfaltigkeit zu ändern, so fehlte ihm für jene Dimension auch die letzte Möglichkeit eines Einblickes in die Relativität seiner Koordinatenorientierung. Kurz unser Wesen litte bei der Erfassung der n-ten Dimension seiner Manichfaltigkeit unter denselben Nachteilen, unter denen wir bei der Erfassung der Zeit leiden. Und sein Blickfeld wäre für jene Dimension wie jeweils das unsere für die Zeit auf den Horizont nur seiner Phase beschränkt. Man kann um dieses beschränkten Horizontes willen das Blickfeld eines solchen Wesens als das der Froschperspektive bezeichnen und ihm das Blickfeld einer Vogelperspektive gegenüberstellen, aus der man jene Manichfaltigkeit in ihrer n-dimensionalen Erstreckung erschaute. Denn wie ein Frosch aus der Tiefe die Welt nicht nach ihrer eigenen sondern nach der Maßgabe seiner für sie zu engen Daseinsbedingungen erfaßt, so erfaßte das n—1-dimensionale Wesen aus seiner Phase die n-dimensionale Manichfaltigkeit nicht nach ihrer
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eigenen n-dimensionalen sondern nach der Maßgabe seiner für sie zu engen n—1-dimensionalen Verhältnisse. Und wie ein Vogel aus der Höhe die wahre Weite der Fluren überschaut, so überschaute ein aus jener Phasenenge herausgehobenes Wesen die n-dimensionale Manichfaltigkeit nach der Weite ihrer wahren n-dimensionalen Maßgaben. Dies auf unser Verhältnis zu der Zeit angewandt, erfassen wir sie in dem täglichen Leben aus der Froschperspektive. Denn da kennen wir sie nur von dem Standpunkte und nach Maßgabe ihrer uns jeweils gegenwärtigen Raumphase, nämlich als ein Nacheinander von ebensolchen Phasen, die hinter und vor der unseren liegen, wobei wir jeweils nur unsere Phase wahrnehmen, nur sie für wirklich halten und unsere egozentrische Orientierung in der Zeit als ein für diese selber maßgebendes absolutes Faktum betrachten. Von der Vogelperspektive aus erblickt dagegen wäre die Zeit das, was sie für jenes überzeitliche Wesen und für die Ontologie ist, nämlich eine nacheinanderlose und grenzscheidelose vierdimensionale Gesamtwirklichkeit. In der Froschperspektive betrachten wir das Hinter-, Neben- und Uebereinander als nur räumliche Dimensionen und das Nacheinander allein als zeitliche. Hier trennen wir also gemäß unserer Unterscheidung zwischen Raum und Zeit auch deren Koordinaten voneinander. Und das, obwohl wir diese auch in der Froschperspektive verbinden müssen, um Wirklichkeitsbestände eindeutig zu bestimmen. Die Vogelperspektive dagegen kennt keine solche Trennung. Für sie sind vielmehr Hinter-, Neben-, Ueber- und Nacheinander zusammen ein einheitliches Koordinatensystem für die vierdimensionale Welt. Daß diese letztere Auffassung dem wahren Sachverhalte entspricht, mithin daß nicht nur das Nacheinander sondern über ihre räumliche Funktion hinaus auch das Hinter-, Neben- und Uebereinander Dimensionen der Zeit sind, kann man sich für die Froschperspektive durch folgende Erwägung klarmachen. Alle unsere Orientierungen in dem Räume gelten sowohl für dessen Gegenwart als auch für seine Vergangenheit und Zukunft. So liegt zB. für das Koordinatensystem, in dem jetzt ich stehe, und in dem man immer stehen kann, alles, was jetzt hinter und vor, unter und über, links und rechts von mir ist, in Ewigkeit so. Dieses System gilt also nicht nur jetzt und für eine sondern immer und für alle Phasen des Raumes. Es gilt mithin nicht nur für ihn sondern für die ganze Manichfaltigkeit der Zeit. Auch in dieser und nicht nur in dem Räume gibt es demnach als Koordinatenrichtungen das Hinter und Vor, Unter und Ueber, Links und Rechts. Zu ihnen aber tritt hier als vierte Richtung das Vor und Nach des zeitlichen Nacheinander.
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Trotz dieses Sachverhaltes besteht unsere Trennung zwischen der zeitlichen und den räumlichen Koordinaten auf der einen Seite zu recht. Denn für unseren Horizont ist jeweils nur der Raum der Gegenwart wirklich. Und zu dessen Koordinaten gehört nicht das Nacheinander. Hat doch in dem letzteren der Raum keine endliche Ausdehnung. Auf der anderen Seite jedoch besteht jene Trennung zu unrecht. Denn sie beschränkt das Hinter-, Neben- und Uebereinander auf den Raum. Und es erstreckt sich auch auf die Zeit. Oder kürzer formuliert: das Nacheinander gehört nicht zu den Koordinaten des Raumes. Daher wird es von diesen für den Raum zu recht getrennt. Aber die Koordinaten des Raumes gehören zu denen der Zeit. Daher werden sie von dem Nacheinander für die Zeit zu unrecht getrennt. Der für die Zeitlichkeit der Raumkoordinaten maßgebende Sachverhalt ist uns, wie wir sahen, auch in der Froschperspektive bekannt. Aber dort interpretieren wir ihn anders. Denn da in dieser der Raum jeweils als alleinwirklich und während des Nacheinander als beständig derselbe gilt, das Nacheinander des Raumes aber die Zeit ist, so sind dort für uns Hinter-, Neben- und Uebereinander Koordinaten nicht der Zeit sondern des Raumes in der Zeit. Eine Interpretation, die unserer Praxis genügt, deren Voraussetzungen aber, wie dieses Kapitel zeigt, theoretisch falsch sind. Die wahre Sachlage kann man sich wieder an der Begriffsbildung von Wesen klarmachen, die in den n—1-dimensionalen Phasen einer n-dimensionalen Manichfaltigkeit leben mögen. Denke ich mir beispielsweise durch einen Körper eine Fläche gelegt, so kennte ein in dieser lebendes Wesen anschaulich nur die beiden dort geltenden Koordinaten zB. das Hinter- und Nebeneinander. Als von den letzteren nach seiner Auffassung zu trennen, ihm anschaulich nicht vorstellbar und rein gnoseologisch kennte es außerdem ein in jener Fläche nicht enthaltenes Uebereinander als die Tiefenausdehnung des Körpers. Aber diese Trennung bestünde nur für seine Froschperspektive. Denn in Wahrheit bildete mit jenen Flächenkoordinaten zusammen die auf ihrem Schnittpunkte errichtete Uebereinanderkoordinate ein einheitliches Koordinatensystem für den ganzen Körper. Und so stünde es mit der Koordinatenauffassung aller n—1-dimensionalen Wesen in n-dimensionalen Manichfaltigkeiten. Denn sie alle trennten in ihrer Froschperspektive die ihnen nur gnoseologisch erfaßbare n-te von den ihnen anschaubaren n—1 Koordinaten. Für die Vogelperspektive aber bildeten die n Koordinaten jedes dieser Wesen je ein einheitliches System. Uebertragen wir das auf unser Verhältnis zu der Zeit, so gilt die uns geläufige Trennung zwischen dem Nacheinander und dem
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Hinter-, Ueber- und Nebeneinander nur für unsere Froschperspektive. Denn von der Vogelperspektive betrachtet bildet die erstere zusammen mit den letzteren Reihen ein einheitliches Koordinatensystem, dessen Mittelpunkt jeder Bestand der jeweiligen Gegenwart, also bei egozentrischen Orientierungen auch unser Leib sein kann, und das sich von da aus nach vier Richtungen, die man sich am einfachsten auch für das Nacheinander als aufeinander senkrecht stehend denkt, in die vierdimensionale Manichfaltigkeit der Zeit erstreckt. In unserem Beispiele fungierten für die zweidimensionale Phase des Flächenwesens die beiden dort auftretenden Koordinaten mit ihrer eindimensionalen Ausdehnung zugleich als die zuvor von uns beschriebenen Grenzscheiden, hinter und vor oder links und rechts von denen der eine und der andere Teil der Fläche liegt. Für den Körper wären diese Grenzscheiden, die, wie gezeigt wurde, immer n—1-dimensional sind, ohne daß unser Wesen darum wüßte, als stetige Scharung solcher Linien in einer neuen Dimension zweidimensional. Dort lägen also die beiden Teile des Körpers hinter und vor oder links und rechts von zwei durch jene Linien gehenden Flächen. Als dritte Grenzscheide aber fungierte hier eine weitere zu diesen beiden Flächen am einfachsten wieder senkrecht gedachte Fläche, zB. die Eigenfläche unseres Wesens, unter und über der der eine und der andere Teil des Körpers läge. Das ist eine Anwendung der uns bekannten Regel, daß es in jeder n-dimensionalen Manichfaltigkeit n n—1-dimensionale Grenzscheiden gibt, diesseits und jenseits von denen jeweils die von ihnen durchschnittene Manichfaltigkeit gelegen ist. In der vierdimensionalen Manichfaltigkeit der Zeit gibt es demzufolge vier dreidimensionale Grenzscheiden, hinter und vor, links und rechts, unter und über, vor und nach denen die zeitliche Welt liegt. Zu den ersten drei von diesen gelangen wir, wenn wir uns die ihnen entsprechenden zweidimensionalen Grenzscheiden unseres Raumes im Einklänge mit dem Prinzip desNacheinander nach der zeitlichen Dimension stetig geschart denken. Denn jede solche Scharung führt zu einer dreidimensionalen Manichfaltigkeit. Denken wir uns dabei gemäß der Ewigkeit des Nacheinander die Scharungen nach der zeitlichen und gemäß der Unendlichkeit unseres jeweiligen Raumes die Grenzflächen nach ihrer flächenhaften Erstreckung als unendlich, so erhalten wir als Grenzscheiden in der Zeit drei zueinander senkrechte unendliche Räume, zu denen als vierter jeweils der Raum der Gegenwart tritt. Unsere Erörterungen haben gezeigt, daß der uns geläufige Zeitbegriff mit seiner Nacheinanderordnung durch den Alleinwirklichkeits-
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ansprach der jeweiligen Gegenwart bedingt ist. Aber mit diesem Ansprüche ist nicht das Gesamtgefüge der Zeit erschöpft. Denn die letztere ist außerdem ein geometrisches System unendlichvieler Phasen. Und das bliebe übrig, wenn man sich jenen Anspruch wegdächte. Ob dieses System dann wirklich oder unwirklich wäre, wollen wir noch nicht fragen. Jedenfalls wäre es nacheinanderlos und ontologisch nicht differenziert. Eben damit aber wäre das Wesen der Zeit dem des Raumes gleich geworden. Denn beide wären nun einfache geometrische Kontiguitätssysteme, und nur noch ihre Dimensionalität unterschiede sie. Ein Fortfall des Nacheinander hebt also einerseits nicht die Zeit auf, und er beseitigt anderseits den für uns bestehenden Wesensunterschied zwischen der Zeit und dem Räume. Zugleich wird hierdurch offenbar, daß im Gegensatze zu der Einfachheit unseres Raumbegriffes der uns geläufige Begriff der Zeit unter dem Scheine eines einheitlichen Systems zwei Prinzipien und zwei auf ihnen begründete Ordnungen enthält: nämlich erstens ein geometrisches Prinzip, nach dem die Zeit ohne ontologische Differenzierung die dem Räume verwandte Kontiguitätsordnung ihrer Phasen bildet; und zweitens ein ontologisches Prinzip, nach dem sie mit jener Differenzierung das Nacheinander der von diesen Phasen erhobenen Alleinwirklichkeitsansprüche ist. Eine Duplizität, auf die schon eine frühere Erörterung hindeutete. Wir bezeichnen fortan die erste der beiden Ordnungen als die Zeitwelt und die zweite als das Nacheinander. Beide Ordnungen sind ontologisch zu unterscheiden. Sonst aber, sowohl individualbegrifflich nach ihrem Bestände als auch allgemeinbegrifflich nach ihrer Beschaffenheit, fallen sie unter den uns geläufigen Umständen zusammen. Denn da ist die geometrische Reihenfolge der Phasen in der Zeitwelt zugleich auch die ontologische Reihenfolge ihrer Alleinwirklichkeitsansprüche in dem Nacheinander. Deshalb gelten uns in dem täglichen Leben beide Ordnungen als eine und dieselbe. Aber es könnte, wie wir sehen werden, auch anders sein. Denn mit einem bestimmten Vorbehalte und unter anderen Bedingungen weichen beide Ordnungen voneinander ab. Unsere Zeit ist demnach nur scheinbar ein einheitliches und in Wahrheit ein doppelschichtiges Gebilde. In diesem Gebilde ist das Nacheinander an die Zeitwelt gebunden. Denn es ist, wie wir früher gesehen haben, ein Schema dessen, was in der letzteren alle Phasen ontologisch für sich beanspruchen. Mithin setzt es deren Gesamtgefüge voraus. Kann doch der Gegenwartsanspruch nacheinander dh. von Phase zu Phase nur in der Zeitwelt wandern. Somit ist diese ein Sachverhalt niederer Ordnung, über dem sich das Nacheinander als Sachverhalt höherer Ordnung staffelt.
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Die Zeitwelt ihrerseits aber ist von dem Nacheinander unabhängig. Denn sie wäre dieselbe rein geometrische und ontologisch nicht differenzierte Kontiguitätsordnung ihrer Phasen auch ohne deren Alleinwirklichkeitsansprüche, also ohne Nacheinander. Von diesem bleibt sie unberührt. Dementsprechend sind ihre Phasen während des Nacheinander konstant. Die letzteren ändern nämlich in der Zeitwelt dadurch, daß sie erst Zukunft sind, dann Gegenwart und dann Vergangenheit werden, weder ihren geometrischen Ort noch ihren individualbegrifflichen Bestand noch auch ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit. Ihr ontologischer Status freilich ändert sich dabei. Denn er geht aus einer Nochnichtwirklichkeit in die Wirklichkeit und aus dieser in eine Nichtmehrwirklichkeit über. Doch das betrifft eben nur die ontologische und nicht die geometrische Ordnung der Zeit, also nur das Nacheinander und nicht die Zeitwelt. Daher ist für uns die Zeit zwar als das erstere dynamisch, aber als die letztere statisch. Dieser Unterschied kommt auch in unserer begrifflichen Behandlung der Zeit zum Ausdrucke. Hier geht nämlich im Gegensatze zu den auf das Nacheinander gemünzten Begriffen wie Heute, Gegenwärtig, Jetzt usw. mit ihren Annexen Gestern, Morgen, Soeben, Sogleich usw. das durch Jahr, Monat, Tag und Stunde angegebene Datum auf die Zeitwelt. Denn dieses Datum bezeichnet die geometrische Ordnung der Zeit und hängt nicht von dem ontologischen Nacheinander der Gegenwartsansprüche ab. Der 1. Januar 1800 zB. war schon im Jahre 1700, da man von ihm noch als von einem zukünftigen Termine sprach, eben dieser 1. Januar 1800. Er war das seit Ewigkeit, war es zu seiner eigenen Frist, ist es als Vergangenheit jetzt und wird es in Ewigkeit weiter sein. Das Datum wird also nicht von dem Nacheinander der Gegenwartsansprüche berührt. Es ist ihnen gegenüber konstant. Dagegen gehen Begriffe wie Heute, Gegenwärtig, Jetzt, Gestern, Morgen, Soeben, Sogleich usw. als unmittelbare oder mittelbare Temporaldemonstrativa auf den Wechsel des Nacheinander. Denn sie sind das, was sie besagen, nur jeweils dh. inbezug auf den Alleinwirklichkeitsanspruch einer Gegenwart oder relativ zu ihm. Demgemäß gelten für sie zu jeder Frist andere Daten. Erst ist das eine Datum, dann ein anderes und dann wieder ein anderes Heute, Gestern, Morgen usw. Aus alledem geht hervor, daß nacheinander nicht die Zeitwelt sondern in ihr nur das von Phase zu Phase wandernde Infinitesimal der Gegenwart ist. Denn dessen Wanderung ist das Nacheinander. Auf die Zeitwelt dagegen bleibt dieser Begriff unanwendbar. Gilt er doch, wie die vorangehende Erörterung zeigte, nur für unsere an jeweils eine Phase gebundene Froschperspektive und nicht für die alle
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Phasen überblickende Vogelperspektive. Somit ist nur die Gegenwart in der Zeit, nicht aber diese selbst nacheinander. Gleichwohl pflegt man zu sagen, die Zeit sei nacheinander. Das hängt mit der Doppelschichtigkeit unseres Zeitbegriffes zusammen. Denn die Zeit ist uns zwar einerseits als Zeitwelt ein konstantes und damit in Wahrheit nacheinanderloses Gefüge von Daten. Anderseits aber ist sie uns das durch dieses Gefüge wandernde jeweilige Jetzt, also das Nacheinander. Und zwar stellen wir diesen zweiten Begriff in den Vordergrund. Denn er handelt für uns von dem Wichtigsten an der Zeit, ihrem Wirklichsein. Fragt man nämlich, was als das wandernde Jetzt ontologisch die Zeit war, ist und sein wird, so lautet die Antwort: nacheinander in allen ihren Phasen Gegenwart und als solche absolut alleinwirklich. Nur diese Wirklichkeit hat die Zeit für uns. Deshalb setzen wir sie als mit dem Nacheinander identisch. Demgegenüber stellen wir jenes konstante Gefüge von Daten in den Hintergrund. Denn für uns hat das letztere keine Wirklichkeit sondern ist abgesehen von der jeweils allein wirklichen Gegenwart in allen Phasen absolut unwirklich. Schließt doch die Alleinwirklichkeit einer Einzelphase, wie wir sahen, die Gesamtwirklichkeit der Zeit aus. — Umso schwerer wiegt es, daß trotzdem, also in einem Widerspruche mit sich selbst das Nacheinander diese Gesamtwirklichkeit voraussetzt. Man kann, um sich das klarzumachen, von folgender Erwägung ausgehen. Wir nannten das Nacheinander eine Wanderung des Jetzt. Und das entspricht der Bedeutung dieses Begriffes. Denn auf ihn die Kategorien der Bewegung anzuwenden, gilt allgemein als sachgemäß. So sagen wir, die Zeit schreite fort. Sie fließe. Sie habe hierbei ein sich objektiv gleichbleibendes Tempo, wenn sie uns auch subjektiv bald langsamer, bald schneller vergehe. Sie sei unaufhaltsam. Denn jede ihrer Phasen wird, sobald sieGegenwart ist, schon von der nächsten Phase, wie wir wissen, abgelöst. Und sie sei einsinnig. Denn sie wandere stets in der Richtung aus der Vergangenheit in die Zukunft. Nachalledem denken wir uns die Zeit als eine Bewegung mit bestimmten Eigenschaften. Nun aber setzt der Begriff der Bewegung nicht nur einen bewegten Bestand voraus, das ist in unserem Falle die von Phase zu Phase wandernde Gegenwart, sondern auch ein geometrisches System und in diesem irgendwelche anderen Gebilde, relativ zu denen sich der Bestand bewegt. Denn Bewegung heißt Aenderung von Abständen zwischen verschiedenen Gebilden in einem solchen Systeme. Dieses ist bei räumlichen Bewegungen räumlich. Bei zeitlichen müßte es zeitlich sein. Denken wir uns daher das Nacheinander als eine Bewegung der Gegenwart, so haben wir für die letztere ein
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zeitliches System anzusetzen, in dem sie anderen Gebilden gegenüber ihre Abstände ändert. Für uns ist dieses System die Zeitwelt. Schreitet doch in ihr die Gegenwart so nacheinander fort wie in dem Räume ein bewegter Bestand. Denn wie sich dieser den räumlich vor ihm liegenden Phasen nähert, durch sie hindurchgeht und sie hinter sich läßt, so nähert sich die Gegenwart nacheinander den zeitlich vor ihr liegenden Phasen, geht durch sie hindurch und läßt sie hinter sich. Darin besteht für uns das Wesen des Nacheinander. Wir setzen also, indem wir es als eine Bewegung auffassen, zusammen mit der als bewegt gedachten Gegenwart eine Zeitwelt voraus, in der sich diese bewegt. Nur deshalb können wir sinnvoll von einem Fortschreiten oder Fließen der Zeit, von ihrem Tempo, ihrer Unaufhaltsamkeit und der Einsinnigkeit ihrer Richtung sprechen. Denn ohne ein System, in dem sie fortschreitet oder fließt, kann die Zeit nicht fließen oder fortschreiten. Auch kann sie nur in der Zeitwelt ein Tempo haben. Denn Tempo ist Geschwindigkeit. Und Geschwindigkeit ist Zeit mal Weg, wobei in unserem Falle die Zeit durch das Nacheinander der Gegenwart und der Weg durch die von dieser in der Zeitwelt durchlaufene Strecke dargestellt wird. Einer Zeitwelt bedarf die Zeit auch, um unaufhaltsam zu sein. Denn soll ihr diese Eigenschaft sinnvoll beigelegt werden, so muß es ein System geben, in dem Aufenthalte möglich sind. Und nur in einer Zeitwelt kann die Zeit einsinnig sein. Denn dazu gehört ein System, in dem es verschiedene Richtungen gibt. Kurz alle diese Begriffe gelten für die Zeit nur unter der Voraussetzung einer Zeitwelt. Das kann man für die beiden letztgenannten Begriffe auch auf andere Weise zeigen. Wollte man nämlich das Nacheinander auf sich selbst stellen, die Zeitwelt also ausschalten, so führte abgesehen von der Sinnwidrigkeit eines solchen Verfahrens jeder Versuch, die Unaufhaltsamkeit und die Einsinnigkeit der Zeit zu ändern, noch in besondere Widersprüche. Denn verlangte man etwa, das Nacheinander solle verweilen, so verlangte man nun, daß die Gegenwart erstens fortrücke, denn Verweilen ist ein zeitlicher Verlauf, und zweitens nicht fortrücke, denn Verweilen ist ein Bleiben auf derselben Stelle. Und verlangte man, das Nacheinander solle in die Vergangenheit zurückkehren, so verlangte man, daß die Gegenwart erstens von der Vergangenheit verschieden sei, denn sonst wäre diese keine Vergangenheit, und zweitens nicht von ihr verschieden sei, denn sonst kehrte sie nicht zu der Vergangenheit zurück. Kurz man verlangte dort, daß dieselben Zeitphasen, und hier, daß dieselben Zeitstrecken miteinander erstens nicht identisch und zweitens identisch seien. Man widerspräche
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sich also. Hieraus geht hervor, daß die Lehre von der Unaufhaltsamkeit und der Einsinnigkeit der Zeit nur besagt, was schon der Begriff des Nacheinander enthält, daß sie also, wenn man dieses auf sich selbst stellt, einen analytischen Charakter trägt und überflüssig ist. Dagegen trägt sie einen synthetischen Charakter und ist nicht überflüssig, sobald man das Nacheinander auf eine von ihm unabhängige Zeitwelt bezieht. Und so waren jene Forderungen gemeint. Denn in der Zeitwelt könnte die Gegenwart nacheinander, also zu verschiedenen Daten ihres Fortschreitens in der Tat auf derselben Stelle bleiben. Oder sie könnte dort wie ein umgekehrt abrollender Film die entgegengesetzte Richtung einschlagen und zu einer von ihr früher, also zu einem anderen Datum ihres Fortschreitens schon durchlaufenen Stelle zurückkehren. Die Phasenfolge des Nacheinander, die in dessen Begriffe festgelegt ist, und die nicht in diesem Begriffe festgelegte Folge der in der Zeitwelt nacheinander durchlaufenen Phasen wichen dann voneinander ab. Denn jeder nächstfolgenden Phase des Nacheinander entspräche nun nicht mehr, wie wir es gewohnt sind, die nächstfolgende sondern in dem ersteren Falle immer wieder dieselbe Phase und in dem letzteren eine rückläufige Phasenkette der Zeitwelt. War also das Urteil: das Nacheinander verweilt bei keiner seiner eigenen Phasen und kehrt zu keiner von ihnen zurück, analytisch und apriori, so ist das Urteil: das Nacheinander verweilt bei keiner Phase der Zeitwelt und kehrt zu keiner von ihnen zurück, synthetisch und aposteriori. Denkt man sich die Phasenfolgen des Nacheinander und der Zeitwelt in dem soeben beschriebenen Sinne als voneinander abweichend, so erkennt man eine durch ihr sonstiges Zusammenfallen verdeckte Komplikation unseres Zeitbegriffes. Verweilt nämlich die Gegenwart oder läuft sie in der Zeitwelt zurück, so schreitet ihr Nacheinander gleichwohl stetig vorwärts. Das erfordert, wie wir soeben sahen, der Begriff des Verweilens oder Zurücklaufens. Denn beides gibt es nur, wenn die Zeit weitergeht, also in einem fortschreitenden Nacheinander. Denkt man sich nun aber dessen Phasen geschart, so erhält man eine neue zweite Zeitwelt, die gerade so gebaut ist wie die, in der die Gegenwart verweilen oder zurücklaufen sollte. Und doch dürfen sich diese beiden Zeitwelten so nicht gleichen. Denn da, wo die PhasenOrdnung der ersten in der Zukunftsrichtung vorwärts geht, sollte die der zweiten das nicht tun sondern verweilen oder zurücklaufen. Wir verlangen also von der zweiten Zeitwelt, daß sie nicht die gleiche, und setzen doch voraus, daß sie die gleiche Struktur hat wie die erste. Man kann sich das an einem Beispiele vergegenwärtigen. Von dem 1. Januar 2000 mittags 12 Uhr ab verweile oder laufe das Nach37
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einander ein Jahrhundert zurück. Dann gäbe es für diese Frist zwei voneinander abweichende Zeitwelten mit verschiedenen Daten. Ist nämlich das Jahrhundert um, so ist die erste Zeitwelt in dem einen Falle noch bei dem Jahre 2000. Denn das Nacheinander blieb stehen. In dem anderen bei 1900. Denn es ging um hundert Jahre zurück. Die zweite Zeitwelt aber ist in beiden Fällen bei 2100. Denn um zu verweilen oder zurückzulaufen, mußte die Zeit um hundert Jahre weitergehen. Für die erste Zeitwelt wären sich demnach in dem einen Falle Vergangenheit und Zukunft gleich geblieben. In dem anderen wäre die Vergangenheit vermindert und die Zukunft vermehrt. Für die zweite aber wäre in beiden Fällen die Vergangenheit vermehrt und die Zukunft vermindert. Dort wären die Phasen in dem Falle des Verweilens mit dauernder und in dem Falle des Zurücklaufens in umgekehrter Abfolge mit einmaliger Wiederholung individualbegrifflich dieselben. Hier wären sie in beiden Fällen immer neue Phasen, also individualbegrifflich voneinander verschieden und hätten nur eine sich in dem einen Falle dauernd, in dem anderen mit umgekehrter Abfolge einmal wiederholende allgemeinbegriffliche Beschaffenheit. Kurz in der ersten Zeitwelt wäre durch dieselben Ereignisse etwas anderes geschehen als in der zweiten. Trotzdem hätten beide gleich gebaute Phasenfolgen. In dem uns geläufigen Nacheinander fällt die zweite Zeitwelt mit der ersten zusammen und bleibt deshalb unbemerkt. Aber sie ist auch da vorhanden. Denn sie ist die Bahn der Gegenwart. Nun ist die Bahn eines bewegten Bestandes dessen Größe gemäß gewöhnlich kleiner als das System, in dem sie liegt. Hat aber der Bestand nach n—1 Dimensionen dieselbe Ausdehnung wie das System, tritt er also in diesem als dessen Phase auf, so füllt seine Bahn, wenn er sich durch die n-te Dimension bewegt, das System aus und fällt mit ihm zusammen. Das ist bei unserem Nacheinander der Fall. Denn dort wird die vierdimensionale Zeitwelt von der durch ihre vierte Dimension bewegten Gegenwart als von einer ihrer Phasen jeweils nach drei Dimensionen ganz durchschnitten. Das wäre für den Raum so, als bewegte sich durch seine dritte Dimension eine ihn nach zwei Dimensionen ganz durchschneidende Ebene. Deren als vollendet gedachte Bahn wäre die Raumwelt selber. Ebenso ist die Phasenordnung unseres Nacheinander als die vollendet gedachte Bahn der Gegenwart die Zeitwelt selber. Daher fällt für uns die letztere praktisch mit jener Phasenordnung zusammen. Theoretisch aber sind beide, wie überall die Bahn eines bewegten Bestandes und das System, in dem er sich bewegt, voneinander verschieden. Diese Verschiedenheit trat bei dem von uns fingierten Verweilen oder Zurücklaufen der Gegenwart in die Erschei-
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nulig und spielt, wie sich später zeigen wird, auch in der modernen Physik eine Rolle. Aus unseren Erwägungen geht hervor, daß das Nacheinander zwei verschiedene Seiten hat. Nämlich erstens eine ontologische, derzufolge jeweils die Gegenwart alleinwirklich und die übrige Zeitwelt unwirklich ist. Und zweitens eine kinematische, derzufolge sich die Gegenwart außerdem durch die Zeitwelt bewegt. Beides schreiben wir dem Nacheinander zu. Aber das eine widerspricht dem anderen und zwar inbezug auf die Zeitwelt. Das gilt zunächst von deren Wirklichkeit. Wie nämlich die Alleinwirklichkeit der Gegenwart die Unwirklichkeit, so erfordert ihre Bewegung die Wirklichkeit der übrigen Zeitwelt. Denn so wenig ein wirklicher Prinz durch ein unwirkliches Märchenland wandern kann, so wenig die wirkliche Gegenwart durch eine als unwirklich gedachte Zeitwelt. Setzt doch Bewegung als Sachverhalt höherer Ordnung für den bewegten Bestand und das System, in dem er sich bewegt, als für den zugehörigen Sachverhalt niederer Ordnung den gleichen ontologischen Status, dh. in unserem Falle beider Wirklichkeit voraus. Dagegen verlangt die bewegte Gegenwart für sich Alleinwirklichkeit und für die ganze übrige Zeitwelt als den Schauplatz ihrer Bewegung Unwirklichkeit. Unser Zeitbegriff besagt also kinematisch, daß die nicht gegenwärtige Zeitwelt wirklich, und ontologisch, daß sie nicht wirklich sei. Dabei gilt uns, wie wir früher zeigten, die letztere Aussage als legitim und die erstere als illegitim. Hieran schließt sich ein zweiter Widerspruch, der die Nacheinanderlosigkeit der Zeitwelt betrifft. Das geometrische System nämlich, durch das sich ein Bestand bewegt, macht dessen Bewegung nicht mit. Denn relativ zu ihm bewegt sich der Bestand. Ist daher das Nacheinander eine Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt, so macht diese das Nacheinander nicht mit. Denn relativ zur ihr ist die Gegenwart nacheinander. Die Zeitwelt ist somit für uns nicht nacheinander. Anderseits aber ist sie für uns doch nacheinander. Denn sonst wäre in ihr auch die Gegenwart nacheinanderlos und bewegte sich nicht durch sie. Heißt doch sich bewegen, seinen Ort in dem Nacheinander eines geometrischen Systemes stetig ändern. Daher könnte sich in einer Zeitwelt, die kein Nacheinander hat, die Gegenwart nicht bewegen. Vielmehr wäre da auch sie nacheinanderlos. Nun aber ist für uns die Gegenwart nacheinander und bewegt sich. Also ist für ans korrelativ zu ihr auch die Zeitwelt nacheinander, in der sie sich bewegt. Diese ist demnach für uns sowohl nicht nacheinander als auch nacheinander. Und wieder gilt uns jenes als legitim, dieses als illegitim. 87*
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Daß wir tatsächlich der Zeitwelt ein Nacheinander verleihen, zeigt sich darin, daß es für uns so oft wie eine Gegenwart mithin nacheinander auch deren Vergangenheit und ihre Zukunft also die Zeitwelt gibt. Und diese ändert sich außerdem. Denn in dem Nacheinander wechselt jede Zeitphase kinematisch ihre Lage zu der Gegenwart stetig, und ontologisch ihren absoluten Status zweimal. Erstens nämlich rückt nacheinander jede solche Phase als Zukunft immer näher an die Gegenwart heran und als Vergangenheit immer weiter von ihr ab. Und nacheinander ist zweitens, wie wir sahen, jede erst als Zukunft unwirklich, dann als Gegenwart wirklich und endlich als Vergangenheit wieder unwirklich. Für uns ist demnach nicht nur die Gegenwart sondern auch die Zeitwelt nacheinander. Aber jene ist das von sich aus. Diese dagegen ist es nur in dem Schlepptau der Gegenwart und als deren Korrelat. Denn von sich aus ist die Zeitwelt nacheinanderlos. Das Nacheinander der Gegenwart ist in unserem Zeitbegriffe also nicht nur legitim sondern auch primär. Und das Nacheinander der Zeitwelt ist nicht nur illegitim sondern auch sekundär. In ihrem sekundären Nacheinander behandeln wir die Zeitwelt nicht wie ein absolut nacheinanderloses sondern wie ein relativ zu der bewegten Gegenwart nur ruhendes System. Auf die eine wie die andere Weise macht die Zeitwelt die Bewegung der Gegenwart nicht mit und ist ihr gegenüber konstant. Doch ist sie es beidemale in verschiedenem Sinne. Denn die Konstanz der Nacheinanderlosigkeit ist eben absolut, die der Ruhe dagegen relativ. Auch bergen Nacheinanderlosigkeit und Nacheinander, wie wir sahen, ontologische Bestimmungen, die sich ausschließen, obwohl das Nacheinander der nacheinanderlosen Zeitwelt bedarf. Dagegen sind Bewegung und Ruhe in dem Nacheinander kinematische Begriffe, die sich nicht ausschließen sondern korrelativ zueinander gehören. Wenn wir daher die Zeitwelt nicht als nacheinanderlos sondern als in ihrem sekundären Nacheinander nur ruhend behandeln und damit das Absolute an ihr relativieren, so tun wir, was die Kinematik der Gegenwart erlaubt und erfordert, ihre Ontologie aber verbietet. Praktisch können wir so verfahren. Theoretisch jedoch erschüttern wir damit die Grundlage unseres Zeitbegriffes. Denn für den sollte zwar die Gegenwart nacheinander und damit relativ, ihr Korrelat, die Zeitwelt aber sollte nacheinanderlos und damit absolut sein. Auch käme man zu einem mit Widersprüchen behafteten regressus in infinitum, wollte man mit dem sekundären Nacheinander der Zeitwelt ernst machen. Wie nämlich das primäre Nacheinander der dreidimensionalen Gegenwart als das korrelativ zu ihr nacheinanderlose System
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eine vierdimensionale, so setzte deren sekundäres Nacheinander als korrelatives System eine fünfdimensionale Zeitwelt voraus. Und da dann auch diese nicht nacheinanderlos gedacht werden könnte, so erforderte sie ihrerseits eine sechsdimensionale Zeitwelt. Usf. in infinitum. Hierbei wäre jede nächstniedere Manichfaltigkeitsstufe relativ zu der nächsthöheren nacheinander. Wir erhielten also eine Reihe von unendlichvielen relativen Nacheinander. Das aber ließe sich, wenn wir vorerst noch von den dann auftauchenden kinematischen Problemen absehen, schon nicht mit dem ontologischen Wesen des Nacheinander vereinen und zwar nach zwei Hinsichten nicht. Erstens nämlich sind die mit diesem verbundenen ontologischen Ansprüche nicht relativ sondern absolut. Denn sie fordern Alleinwirklichkeit für die jeweilige Gegenwart und Unwirklichkeit für die übrigen Zeitphasen, gehen demnach nicht auf Relationen von Stufen sondern auf einen unbedingten Ansich- und Nichtansichbestand. Darum widerspräche sich eine Manichfaltigkeit, relativ zu der, wie es hier verlangt wird, eine niedere, und die ihrerseits relativ zu einer höheren Manichfaltigkeit nacheinander wäre. Denn sie wäre dann jeweils relativ zu jener niederen unwirklich und relativ zu dieser höheren alleinwirklich. Unwirklichkeit und Alleinwirklichkeit aber sind eben nicht relativ und miteinander verträglich sondern absolut und schließen sich aus. Daher kann keine Manichfaltigkeit jeweils beides sein. Und zweitens gibt es für das Nacheinander in jener Stufenreihe von unendlich vielen Manichfaltigkeiten den Gegensatz von wirklich und unwirklich jeweils nicht unendlich oft sondern nur einmal. Ist dort nämlich eine Manichfaltigkeitsstufe als Gegenwart alleinwirklich, dann sind zugleich auch alle in ihr eingeschlossenen niederen Stufen wirklich. Alle sie einschließenden höheren aber sind dann unwirklich. Das verlangt die Alleinwirklichkeit jener einen Stufe. Demnach gibt es für das Nacheinander jeweils nur einen Schnitt, diesseits von dem alles wirklich, und jenseits von dem alles unwirklich ist. D a g e g e n widerspräche sich eine gleichzeitige Reihe von mehreren, geschweige denn unendlichvielen solchen ontologischen Schnitten. Mithin ist jene Stufenreihe von unendlichvielen Nacheinander ontologisch unmöglich. W i r müßten also deren ontologische Seite vernachlässigen und uns mit ihrer kinematischen begnügen, mithin das Absolute in den unendlichvielen Nacheinander der gestaffelten Manichfaltigkeiten streichen und uns auf die Relativität ihrer bloßen B e w e g u n g beschränken. A b e r auch das führte zu Schwierigkeiten. Zunächst hätten wir dann ihre Geschwindigkeit, da sie mit abnehmender Dimensionalität zunähme, entweder als sich asymptotisch irgendeiner Grenze nähernd
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oder bei den unendlichvieldimensionalen relativ zu den endlichvieldimensionalen Manichfaltigkeiten als unendlichklein bzw. bei den letzteren relativ zu den ersteren als unendlichgroß anzusetzen. Dies sei als sinnvoll unterstellt. Sinnwidrig aber wäre auch hier wieder die Annahme einer Bewegung von wirklichen relativ zu unwirklichen Manichfaltigkeitsstufen. Wunderlich wäre es, daß sich diese nur bis zu der Manichfaltigkeit unserer dreidimensionalen Raum weit gegeneinander bewegten. Denn in der bewegen sich die nächstniederen Manichfaltigkeiten, Flächen, Linien und Punkte, wie wir wissen, nicht so gegeneinander. Und ad absurdum führte hier die Frage: was bewegt sich? Bei uns nämlich bewegt sich als Nacheinander der Alleinwirklichkeitsanspruch der Gegenwart, vielleicht, wie wir sahen, auch nur ein Wahrnehmungshorizont. Beides kann nicht unwirklich sein. Und doch wird das hier von der niederen für die jeweils höhere Manichfaltigkeit verlangt. Mithin können sich hier in dem Sinne des sekundären Nacheinander die jeweils höheren Manichfaltigkeiten nicht bewegen. Das sind einige der Widersprüche, zu denen wir kämen, wollten wir theoretisch das sekundäre Nacheinander der Zeitwelt durchführen. Alle hier dargelegten Schwierigkeiten unseres Zeitbegriffes aber beruhen auf dessen Doppelschichtigkeit, also darauf, daß wir der Zeit, obwohl sie für uns nach ihrer Wirklichkeit, ihrer Bestandfülle und ihrer geometrischen Struktur nur eine ist, dennoch zwei kinematisch verschiedene und sich ontologisch ausschließende Ordnungsweisen beilegen, nämlich erstens das Nacheinander und zweitens die Zeitwelt. Das erfordert, wie wir sahen, das Nacheinander, das ohne eine ihm korrelative Zeitwelt nicht bestehen kann. Somit ist das Nacheinander der Grund aller hier dargelegten Schwierigkeiten. Nun aber ist, wie die vorangehende Erörterung zeigte, das Nacheinander die Zeitauffassung nur der Froschperspektive. Aus dieser erklären sich daher die hier geschilderten Verhältnisse. In ihr nämlich sind wir ontologisch an die Horizontenge der jeweiligen Gegenwart gebunden. Gnoseologisch dagegen greifen wir von dort in die adäquat nur aus der Vogelperspektive zu erfassende Weite der Zeitwelt hinüber und ziehen sie in die ihr inadäquate, uns aber praktisch allein verständliche Ontotogie der Froschperspektive hinein. Dies bekundet die Doppelschichtigkeit unseres Zeitbegriffes. Denn da zeigt das Nacheinander der Gegenwart die infinitesimalen Zeitschnitte, die in die Horizontenge unserer Froschperspektive eingehen und die daher unseren praktischen Zeitbegriff konstituieren. Ihr Korrelat, die Zeitwelt dagegen zeigt die darüber hinausreichende gnoseologisch von uns erfaßte Weite der Zeit selber, die nicht in jene Horizontenge eingeht, und die wir uns des-
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halb in deren Sinne umdeuten. Mithin ist die Doppelschichtigkeit unseres Zeitbegriffes durch die Froschperspektive bedingt. Sie verschwindet, wenn man diese aufhebt. Und damit verschwinden alle hier dargelegten Schwierigkeiten. Denn für die Vogelperspektive gibt es kein Nacheinander sondern nur die eine in sich widerspruchsfreie, nacheinanderlose, einschichtige Zeitwelt. Ein bekannter didaktischer Kunstgriff der Geometrie definiert höhere Manichfaltigkeiten genetisch durch eine Bewegung von niederen. Ihm gemäß entstünde die Linie aus der Bewegung eines Punktes, die Fläche aus der Bewegung einer Linie, der Raum aus der Bewegung einer Fläche. Aus der Bewegung eines Raumes entstünde eine vierdimensionale, aus der Bewegung einer n—1-dimensionalen eine n-dimensionale Manichfaltigkeit. Auf dieselbe Weise entsteht aus dem Nacheinander als einer Bewegung der dreidimensionalen Gegenwart deren vierdimensionale Bahn in der Zeitwelt. Darum sind die Eigentümlichkeiten jenes Kunstgriffes auch Eigentümlichkeiten unseres Zeitbegriffes, und manches an diesem wird durch jenen geklärt. So zunächst die in unserem Zeitbegriffe enthaltene und früher von uns behandelte Darstellung endlicher durch eine stetige Scharung unendlichkleiner Größen. Sie führt uns der Kunstgriff vor Augen. Wir brauchen als n—1-dimensionale Manichfaltigkeit beispielsweise nur eine gegen ihre Bewegungsrichtung geneigte Fläche durch unseren Raum als die n-dimensionale Manichfaltigkeit zu führen. Dann ist die Bahn dieser Bewegung ein Raumstück. Und das besteht als eine endliche dreidimensionale Manichfaltigkeit aus der stetigen Scharung seiner unendlichvielen von unserer Fläche in ihrer Bewegung durchlaufenen zweidimensionalen, dh. nach der dritten Dimension unendlichkleinen Querschnitte. Diese Scharung aber entsteht hier vor unseren Augen. Das entsprechende gilt, ob anschaulich oder nicht, für die Fläche als Bahn einer Linie, für die Linie als Bahn eines Punktes, für jede n-dimensionale als Bahn einer n—1-dimensionalen Manichfaltigkeit. Ueberall geht da eine niedere durch Bewegung in die nächsthöhere Manichfaltigkeit über. Und jedesmal baut sich hierbei aus einer stetigen Scharung von nach einer Dimension unendlichkleinen eine nach eben dieser Dimension endliche Größe als Bahn der Bewegung auf. Nach derselben Maßgabe, jedoch nicht für uns anschaulich, baut sich in dem Nacheinander als einer Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt eine stetige Scharung von dreidimensionalen Räumen als vierdimensionale Manichfaltigkeit auf. Das ist das erste, was uns jener Kunstgriff lehrt.
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Zweitens ist im Anschlüsse an unsere frühere Unterscheidung zwischen den beiden Arten der Phasenscharung zu beachten, daß die genannten n-dimensionalen Bahnen nur entstehen, wenn sich die n—1-dimensionalen Gebilde aus ihrer eigenen Manichfaltigkeit hinaus in einer neuen Dimension bewegen. Sonst durchlaufen sie keine höhere Manichfaltigkeit. So bliebe ein Punkt, der bei der Bewegung, wäre das möglich, in der Dimensionslosigkeit verharrte, in seiner Punktwelt. Er muß sich aus dieser hinaus in einer ersten Dimension bewegen, um durch die Linie zu gehen. Eine Gerade, die sich wie ein Pfeil in der Richtung ihrer Länge bewegte, bliebe in ihrer eindimensionalen Manichfaltigkeit. Erst wenn sie sich aus dieser hinaus in der zweiten Dimension, nämlich mit einer Neigung gegen ihre Bewegungsrichtung, zB. senkrecht zu dieser, also wie die Achse eines rollenden Eisenbahnwagens bewegt, geht sie durch die Fläche. Eine Ebene, die sich in ihrer eigenen Manichfaltigkeit wie ein Diskus nach seiner Kante hin bewegte, bliebe in der Flächenwelt. Sie muß sich gegen diese Richtung geneigt nach der dritten Dimension, also nach einer ihrer Breitseiten hin bewegen, um durch den Raum zu gehen. Ebenso bleibt ein Körper mit seiner uns allein vorstellbaren räumlichen Bewegungsart in der dreidimensionalen Manichfaltigkeit. Erst wenn er sich auf eine uns unvorstellbare Art aus dieser hinaus in der vierten Dimension bewegte, durchliefe er die vierdimensionale Welt. Kurz ein n—1-dimensionales Gebilde muß sich aus seiner eigenen Welt hinaus in einer neuen n-ten Dimension bewegen, um eine n-dimensionale Manichfaltigkeit zu durchlaufen. Die letztere, die durch die Bewegung des n—1-dimensionalen Gebildes erst entstehen sollte, wird also von ihr schon vorausgesetzt. Beansprucht daher jener Kunstgriff, genetische Definitionen zu geben, so drehen sich diese im Kreise. Uebertragen wir das auf unseren Zeitbegriff, so erkennen wir, daß das Nacheinander als eine Bewegung der Gegenwart durch die Zeit die hier gekennzeichnete Bedingung unseres Kunstgriffes erfüllt. Denn da bewegt sich eine dreidimensionale Manichfaltigkeit nicht nach einer ihrer eigenen Dimensionen sondern nach einer anderen, der zeitlichen. Mithin bewegt sie sich durch eine vierdimensionale Welt. Hier wäre also jene in einer neuen Richtung aus unserer Raumwelt hinausführende und uns, wie wir soeben sahen, unvorstellbare Bewegung körperhafter Gebilde eine Tatsache. Drittens ist zu beachten, daß die in einer genetischen Definition beschriebene Genesis kein Merkmal des durch sie definierten Gebildes zu sein braucht und in der Regel auch keines ist. Ebensowenig ist die in unserem Kunstgriffe benutzte Genesis höherer durch Bewegung
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niederer Manichfaltigkeiten ein Merkmal der ersteren. Denn die höheren Manichfaltigkeiten sind das, was sie sind, auch ohne eine solche Bewegung. Mithin ist ihnen diese nicht wesentlich. So gehört zu einer Linie keine Punktbewegung, zu einer Fläche keine Linienbewegung, zu einem Räume keine Flächenbewegung, zu einer vierdimensionalen Manichfaltigkeit keine Raumbewegung, zu einer n-dimensionalen keine Bewegung einer n—1-dimensionalen Manichfaltigkeit. Alle solche Bewegungen zeigen nur einen Weg von der niederen zu der höheren Manichfaltigkeit. Aber sie gehören nicht zu dieser. Wenden wir das auf die Zeit an, so bestätigt es unsere frühere Feststellung, daß das Nacheinander als eine Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt ein Merkmal nur jener, nicht aber dieser, mithin daß für uns nur die Gegenwart, nicht aber die Zeit nacheinander ist. Viertens ist folgendes zu beachten. Sind die in unserem Kunstgriffe beschriebenen Bewegungen geradlinig, so tritt die bewegte n—1-dimensionale Phase, da sie in der von ihr zu durchlaufenden n-dimensionalen Manichfaltigkeit nach der n-ten Dimension unendlichklein ist, bei jedem endlichen Fortschritte der Bewegung vollständig aus der zuvor von ihr eingenommenen Phase jener Manichfaltigkeit aus und in eine neue Phase ein. Sie wechselt also mit jedem solchen Fortschritte ihren gesamten Bereich. Und geometrisch liegen ihre früheren Bereiche dann jeweils hinter, ihre späteren vor ihr. Dem entspricht in dem Nacheinander der Umstand, daß dort jede Gegenwart mit ihrer gesamten Raumwelt individualbegrifflich von der ihr vorangehenden und der ihr folgenden Zeitphase verschieden ist, und daß die früheren Gegenwartsbereiche geometrisch jeweils hinter, die späteren vor ihr liegen. Endlich ist fünftens zu beachten, daß Bewegung Aenderung von Abständen ist. Man kann sie deshalb als Bewegung nur bemerken, wenn man diese Abstände gewahrt. Fingieren wir nun in der bewegten n—1-dimensionalen Manichfaltigkeit ein nur die letztere gewahrendes Wesen, so bemerkt es Abstände und Bewegungen nur in ihr. Deshalb bemerkt es nicht die Bewegung seiner eigenen durch die n-dimensionale Manichfaltigkeit. Denn die sich da ändernden Abstände liegen jeweils außerhalb seines Wahrnehmungsbereiches. Wohl aber kann es, wenn es über Erinnerung und Vorwegnahme verfügt, gnoseologisch ein Nacheinander der von ihm früher gewahrten und später noch zu gewahrenden n—1-dimensionalen Phasen entwerfen, deren geometrische, ihm selber anschaulich nicht erfaßbare Reihe die Bahn seiner n—1-dimensionalen in der n-dimensionalen Manichfaltigkeit ist.
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Auch hierin zeigt unser Zeitbegriff dieselben Züge. Denn in dem Nacheinander bewegt sich für uns die Gegenwart durch die Zeitwelt. Wir aber merken diese Bewegung nicht, weil unsere Wahrnehmung jeweils auf den Raum der bewegten Gegenwart beschränkt ist, und weil die Vergangenheit, relativ zu der unsere Abstände größer, und die Zukunft, relativ zu der sie kleiner werden, immer diesseits und jenseits der Gegenwart als unseres Wahrnehmungsbereiches liegen. Jedoch erfassen wir durch die Gnoseologie unserer Erinnerung und Vorwegnahme die uns anschaulich nicht vorstellbare Bahn der Gegenwart in der Zeitwelt als das Nacheinander ihrer Phasen. Nachalledem sind die Eigentümlichkeiten jenes didaktischen Kunstgriffes zugleich Eigentümlichkeiten unseres Zeitbegriffes. Denn was dort die Bewegung der n—1-dimensionalen durch die n-dimensionale Manichfaltigkeit leistet, leistet für unseren Zeitbegriff das Nacheinander als eine Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt. Unsere bisherigen Erörterungen werden dadurch bestätigt. Aber jetzt erhebt sich die Frage: was ist ontologisch Bewegung? Und die Vorfrage hierzu lautet: was ist Identität in der Zeit? Wir haben uns mit dem Begriffe der Identität schon früher beschäftigt. Damals erkannten wir. daß individualbegrifflich wie allgemeinbegrifflich identisch ein Gebilde nur mit sich ist. Deshalb betraf Identität stets nur ein Gebilde. Dagegen erforderten Aehnlichkeit oder Gleichheit mindestens zwei. Der konträre Gegensatz der Identität ist der sie ausschließende Widerspruch ohne Identitätsergänzung. Und ein Sonderfall des letzteren ist, wie wir früher sahen, die Kontiguität. Demgemäß waltet zwischen einander kontingenten Phasen keine Identität. Das ist uns für die Geometrie und für den Raum der Wirklichkeit geläufig. Denn da erkennen wir, daß nicht miteinander identisch sein kann, was an verschiedenem Orte ist. Für die Zeit aber gilt dasselbe. Denn deren Kontiguität schließt eine Identität zwischen ihren Phasen ebenfalls aus. Darum kann auch das, was zu verschiedener Zeit ist, nicht miteinander identisch sein. Nun aber ist für uns die Zeit das Nacheinander. Also sind dessen Phasen und ihre Raumwelten nicht miteinander identisch. Hieraus folgt, daß alle Identität nacheinanderlos ist. So nacheinanderlos mit sich identisch sind zunächst die als zeitenthoben gedachten Gebilde: Abstrakta wie die Zahl Drei oder der Begriff Treue und Konkreta wie die geometrischen Strukturen, wenn man sie gegenständlich meint, oder wie der Gott der Theologie. Denn das Nacheinander berührt sie nicht. Ihm gleichfalls entrückt und daher
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ebenso mit sich identisch ist ferner, wenn wir von ihrem sekundären Nacheinander absehen, die Zeitwelt und was zu ihr gehört. Aber auch in dem Nacheinander selber sind seine Phasen und Zeitstrecken nacheinanderlos mit sich identisch. So ist zB. der 10. November 1483 mittags 12 Uhr als Phase oder die Zeit von Luthers Geburt bis zu seinem Tode als Zeitstrecke nicht vor oder nach sich selber. Sie sind daher ohne Nacheinander mit sich identisch. Es gibt also in dem Nacheinander eine von dem Nacheinander freie Identität. Dieselbe, deren Nacheinanderlosigkeit, wie unsere vorletzte Erörterung zeigte, durch die Konstanz der Daten charakterisiert wird. Die Daten aber gehörten eben wegen dieser Konstanz zu der Zeitwelt als der Unterschicht des Nacheinander. Auf die letztere geht demnach in unserem Zeitbegriffe die echte nacheinanderlose Identität stets zurück. Neben ihr kennt diepraktischeBegriffsbildung aber noch einennacheinanderhaften zweiten Identitätstypus, der an der Oberschicht unseres Zeitbegriffes orientiert ist, und mit dem wir uns seinerzeit ebenfalls schon beschäftigten. Er besagt, daß nacheinander jede Zeitphase eines Bestandes ein und derselbe ganze Bestand, also etwa daß Luther in jeder Zeitphase seines Lebens der ganze und in ihnen allen identisch derselbe Luther sei. Ein solcher Bestand erneuerte demnach von Phase zu Phase die Identität seiner Ganzheit. Hier identifizieren wir also nicht nur jede seiner Phasen mit sich sondern außerdem alle seine Phasen miteinander. Das ergibt den Schein einer besonderen Art der Identität. Man hat sie Genidentität genannt. Wir bezeichnen sie genauer als die Genidentität des Bestandes. Sie beherrscht die praktische Begriffsbildung weithin. Denn sie erstreckt sich auf alles, was für uns in jeder Phase seines Daseins ganz ist, auf Personen, Sachen, Systeme, Fähigkeiten, Beschaffenheiten, Zustände usw. Wir setzen sie daher auch ohne besonderen Vermerk bei jedem solchen Gebilde als selbstverständlich voraus. Wenn wir also von einem Menschen, einem Gebäude, einem Staate, einer Befugnis, einer Farbe, einer Spannung oder was es sei, reden, so schließen wir darin die Genidentität seines Bestandes schon ein. Denn das alles ist für uns in jeder Phase seines Daseins ganz da und in jeder dasselbe Ganze. Allgemeinbegrifflich freilich kann es sich ändern. Individualbegrifflieh aber bleibt es dasselbe. Denn auch ändern kann sich nur dasselbe Ganze. Demnach ist die Genidentität des Bestandes unserem Wirklichkeitsbegriffe so konstitutiv wie der Glaube, daß zeitlich ausgedehnte Gebilde in jeder ihrer Phasen ganz da sind. Auf die Zeitgröße dieser Genidentität gehen die Begriffe Jünger und Aelter im Unterschiede zu Früher und Später. Beide Begriffs-
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paare nämlich bezeichnen relative Zeitabstände in der Richtung des Nacheinander. Aber Früher und Später gehen auf eine Relativität zwischen einzelnen Phasen der Zeit als solcher. Daher kann ihr Abstand beliebig groß sein. Denn in der Zeit gibt es vor und nach jeder Phase ewig andere Phasen. Jünger und Aelter dagegen gehen weder auf die Zeit selber noch auf die Lage einzelner Phasen in ihr sondern auf die Dauer der Genidentität von Beständen in ihrem Vergangenheitsstamme. Sie gehen also auf deren Zeitlängen. Daher ist auf diese der von ihnen bezeichnete Abstand beschränkt. Der Unterschied zwischen der echten nacheinanderlosen Identität und der Genidentität des Bestandes liegt auf der Hand. Nach der ersten ist Luther der Säugling am 11. November 1483 mittags 12 Uhr nur mit sich zu eben der Zeit identisch. Diese mit sich identische Lebensphase Luthers ist, wenn wir von ihrem sekundären Nacheinander absehen, nacheinanderlos. Sie war später als andere Phasen und früher als wieder andere, aber sie war nie jünger und wird nie älter. Nach der zweiten, der Genidentität des Bestandes ist Luther zu allen seinen Lebensphasen identisch derselbe ganze Luther. Als solcher war er erst jünger, wurde dann älter und ist nacheinander. Beide Identitäten widersprechen sich. Denn nach der ersten ist jede Phase Luthers nur mit sich, mit seinen anderen Phasen aber nicht identisch. Dagegen ist sie nach der zweiten nicht nur mit sich sondern außerdem, da jede immer wieder derselbe ganze Luther sein soll, mit allen seinen anderen Phasen identisch. Zudem widerspricht diese Genidentität auch sich selbst. Denn sie behauptet eine Identität zwischen den sich kontingenten Nacheinanderphasen eines Bestandes. Und die Kontiguität des Nacheinander schließt, wie wir sahen, eine Identität zwischen seinen Phasen aus. Von den beiden hier dargestellten Arten der Identität ist also die Genidentität des Bestandes fragwürdig. Um ihre Struktur zu erkennen, knüpfen wir an das Ergebnis unserer ehemaligen Ueberlegungen an. Bei simultanen Gebilden vertreten für uns, wie wir damals sahen, Phasen oder Teile, die wir von ihnen erfassen, den Gesamtbestand. Wir können, um auf unsere früheren Beispiele zurückzugreifen, ein Haus erst von vorn, dann von einer Giebelseite, dann von hinten, von dem Dache und dann von innen erfassen : in jeder seiner Phasen erfassen wir identisch dasselbe Haus. Denn es wird für uns als ganzes durch jede von ihnen repräsentiert. Oder wir mögen, um an unser anderes Beispiel zu erinnern, den Schienenstrang Berlin—Königsberg erst in Berlin, dann in Küstrin, Dirschau, Elbing, Königsberg sehen: an jedem Orte sehen wir identisch denselben Strang. Denn er wird für uns als ganzes durch jeden
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seiner jeweils erschauten Teile repräsentiert. Demnach bleibt für uns das Ganze eines solchen simultanen Gebildes in dem Wechsel seiner uns jeweils als Erkenntnismittel verfügbaren Phasen oder Teile als der in ihnen allen von uns gemeinte und durch jeden von ihnen vertretene Erkenntnisgegenstand mit sich identisch. Dies ist auf das Zeitliche übertragen der zu recht bestehende Sinn auch der Genidentität des Bestandes. Dh. jede Phase des letzteren repräsentiert für uns dessen zeitliche Ganzheit. Und diese ist mit sich in allen seinen Phasen identisch. Man kann sich das an der Hand des ersten unserer beiden Beispiele durch die früher geschilderte Verwandtschaft des Nacheinander mit dem Hintereinander vergegenwärtigen. Denn auch nach dieser Hinsicht verhalten wir uns in jenem so wie in diesem. Wie wir nämlich von einem in dem Hintereinander des Raumes erschauten Gegenstande jeweils nur eine Flächenphase, von jenem Hause zB. nur die Front gewahren, in ihr aber vertretungsweise den räumlichen Gesamtbestand, das ganze Haus meinen, das unserer früheren Darlegung gemäß wie jeder solcher Bestand die Summe unendlichvieler Flächen ist, so gewahren wir von den in dem Nacheinander derZeit erfaßten Beständen jeweils nur eine Raumphase, in nnserem Falle das Haus in einer Gegenwart, meinen damit aber vertretungsweise den zeitlichen Gesamtbestand, der die Summe unendlichvieler Gegenwartsphasen ist, nämlich das Haus von seinem Aufbau bis zu seinem Abbruche. Wir haben demnach, um zu der Genidentität eines Bestandes zu gelangen, seine nacheinander von uns erfaßten Raumphasen miteinander nicht zu identifizieren sondern zu addieren. Denn in dem Nacheinander ist nur diese Addition, das ist der nacheinanderlose, in allen seinen Phasen von uns gemeinte zeitliche Gesamtbestand mit sich identisch. Nur inbezug auf ihn, den sie für uns bedeuten, sind seine Phasen dann auch miteinander identisch. Inbezug auf das, was sie selber sind, aber schließen sie sich aus. Diese theoretische Interpretation des Sachverhaltes bestätigt praktisch der Film. Denn er bedient sich derselben Addition. Beruht er doch darauf, daß ein beliebiges Bild, das wir während einer Minute für genidentisch dasselbe halten, durch mehrere zB. 1800 ebensolche Bilder ersetzt werden kann, die uns während dieser Zeit nacheinander vorgeführt werden. Der Erfolg ist der gleiche. Der Film zeigt also handgreiflich, daß ein einzelnes Bild mit der Genidentität des Bestandes von einer Minute gleich der Summe von 1800 nacheinander geschalteten verschiedenen Bildern mit der entsprechenden Genidentität von je Vio Sekunde ist. Das letztere erkennen wir bei der Betrachtung des Filmstreifens. Das erstere erleben wir bei seiner Vorführung.
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Freilich bestehen zwischen einer solchen Filmvorführung und der naturbedingten Genidentität des Bestandes auch Unterschiede. Sie sind aber nicht wesentlich. Erstens nämlich, so könnte man einwenden, ist während jener Minute das genidentische Bild tatsächlich, dagegen sind die 1800 verschiedenen Bilder nur scheinbar kontinuierlich. Das ist richtig. Aber man kann in Gedanken an die Stelle der 1800 Bilder in diskontinuierlicher unendlichviele in kontinuierlicher Abfolge und damit an die Stelle ihrer Genidentität von je 1j30 Sekunde die echte Identität von je einem Zeitinfinitesimale setzen. Dann baut sich auch in der Filmvorführung die Genidentität des einen Bildes von einer Minute aus unendlichvielen nacheinander geschalteten echten Identitäten unendlichvieler Bilder von je einem Zeitinfinitesimale auf. Zweitens könnte man einwenden, jene 1800 Bilder seien nur scheinbar genidentisch dasselbe und in Wahrheit ebensoviele verschiedene genidentische Bilder. Denn jedes dieser Bilder sei nicht nur während seiner Vorführung sondern auch vorher und nachher da. Sie seien also in Wahrheit nicht nacheinander sondern während eines Nacheinander nebeneinander und würden nur nacheinander gezeigt. Auch das sei, obwohl es nicht notwendig so sein muß, als richtig unterstellt. Aber man kann sich diesen Umstand ebenfalls wegdenken, indem man jedem der unendlichvielen Bilder nicht nur die Vorführungszeit sondern auch das Dasein von je nur einem Zeitinfinitesimale gibt. Dann gleicht die nur scheinbare Filmidentität der vielen Bilder auch in dieser Hinsicht der angeblich wirklichen Genidentität des einen Bildes. Endlich könnte man drittens noch einwenden, die unendlichvielen Phasen der wirklichen Genidentität hingen kausal miteinander zusammen, die Bilder jener Filmgenidentität dagegen nicht. Auch das sei zugegeben. Denn in der Tat setzen wir, wie früher dargelegt wurde, bei jedem genidentischen Bestände einen Kausalzusammenhang zwischen seinen Phasen voraus. Wir hätten also auch diesen noch zu unseren Filmbildern hinzuzudenken. Und bei der Vorführung eines Filmes tun wir das auch. Aber Kausalzusammenhänge gibt es nur zwischen verschiedenen dh. solchen Gebilden, die nicht miteinander identisch sind. Durch sie wird daher die Genidentität des Bestandes nicht gestützt sondern aufgehoben. Und daß wir an dieser gleichwohl festhalten, gehört zu den Unfolgerichtigkeiten unserer Begriffsbildung. — Demnach bleibt es dabei, daß der Film, denkt man ihn entsprechend vervollkommnet, unsere Interpretation der Genidentität des Bestandes bestätigt. Es ist aber noch zu erklären, warum wir praktisch die letztere anders interpretieren. Offenbar liegt das daran, daß wir schon die Phasen des Bestandes jeweils als diesen selber ansprechen. Und das tun wir,
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weil wir seine zeitliche Erstreckung aus der Froschperspektive begreifen. Denn in der ist uns jeweils nur die Gegenwartsphase des Bestandes verfügbar. Nur sie gewahren wir dort. Und nur sie ist uns jeweils wirklich. Dagegen ist uns seine zeitliche Erstreckung jeweils bis auf diese eine Phase nicht verfügbar, nicht wahrnehmbar und nicht wirklich. Mithin ist uns jeweils praktisch die Gegenwartsphase des Bestandes alles, seine übrige Erstreckung nichts. Und eben darum ist uns schon jene und nicht erst diese der ganze Bestand. Dessen Genidentität jedoch geht auf seine zeitliche Erstreckung. Denn in der ist er genidentisch. Und füglich ist als die Gesamtheit seiner Phasen auch sie für uns ein Ganzes. Hier konkurrieren somit zwei Ganzheiten des Bestandes, sein Zeitganzes und sein Phasenganzes. Und nur eines von beidem kann der ganze Bestand sein. Ist er nämlich das erste, so ist sein Gegenwartsschnitt nur Phase. Denn der ganze Bestand ist dann sein Zeitganzes. Und von dem ist die Phase nur ein Infinitesimal. Ist er aber das zweite, so geht sein Zeitganzes leer aus. Denn mehr als ganz kann der Bestand nicht sein. Und ganz ist er dann schon in jeder Phase. Seine Genidentität erforderte das erste. Denn sie geht auf seine zeitliche Erstreckung. Darum entschieden wir uns theoretisch für das Zeitganze. Aber der Froschperspektive entspricht das zweite. Denn deren Welt ist die Einzelphase. Und darum entscheiden wir uns praktisch für das Phasenganze. Aus dieser Einstellung heraus identifizieren wir miteinander die Phasen des genidentischen Bestandes, statt sie zu addieren. Das letztere nämlich ist am Platze, wenn der ganze Bestand für uns dessen Zeitganzes ist. Denn dann sind seine Phasen voneinander verschieden. Ist uns dagegen schon jede Phase der ganze Bestand und wollten wir diese miteinander addieren, so wäre ihre Summe kein sich einheitlich durch das Nacheinander erstreckender zeitganzer Bestand sondern eine unendliche Zahl von verschiedenen nacheinander geschalteten phasenganzen Beständen. Die Genidentität des Bestandes aber geht auf dessen Zeitganzes als auf eine Einheit. Dementsprechend müssen wir, wenn er uns anderseits schon in jeder seiner Phasen ganz ist, die letzteren als nicht voneinander verschieden, dh. wir müssen sie als miteinander identisch setzen. Deshalb identifizieren wir sie miteinander, statt sie zu addieren. Damit aber widersprechen wir unseren Voraussetzungen inbezug auf das Zeitganze des Bestandes. Das nämlich ist uns nun erstens mehr als ein Phasenganzes. Denn es erstreckt sich durch unendlichviele Phasen. Und zweitens nicht mehr. Denn alle diese Phasen sind individualbegrifflich miteinander identisch, also nur eine Phase. Ueber
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diesen Widerspruch helfen wir uns praktisch dadurch hinweg, daß wir jenes Zeitganze in der Form eines Phasenganzen durch die Zeitdimension seines Daseins wandernd denken, ihm die letztere also zur Ergänzung beifügen. Demnach enthält unser Begriff des genidentischen Bestandes zwei ihm konstitutive Faktoren, ein Phasenganzes und die Zeitdimension seines Daseins. Luther zB. ist uns als Zeitganzes, mithin als Inbegriff aller seiner Lebensphasen nicht deren Addition sondern ihre Identifikation, also nur ein Phasenganzes, nämlich eine dreidimensionale Menschengestalt, meist von uns als Luther in irgendeiner seiner Lebensphasen vorgestellt. Diese Gestalt für sich hat keine zeitliche Erstreckung und kann daher auch nicht genidentisch sein. Aber wir denken sie als durch die Zeitdimension ihres Daseins wandernd. Und da ist sie uns von der Geburt bis zum Tode in jeder ihrer Lebensphasen der ganze, in ihnen allen aber derselbe Luther. Luther das Zeitganze ist uns also Luther das Phasenganze plus der von ihm durchwanderten Zeitdimension seines Lebens. Diese Erwägungen zeigen, wie sich die praktische Auffassung zu unserer theoretischen Interpretation des genidentischen Bestandes verhält. Sie entspricht dieser zunächst. Denn wenn wir sagen, derselbe Luther, der 1483 geboren wurde, starb 1546, so liegt darin, daß Luther der Säugling, Luther der Sterbende und dazwischen jede seiner Lebensphasen zu demselben Zeitganzen gehören, das wir Luther nennen. Mithin ist dieser für uns ein von 1483 bi9 1546 währender zeitlicher Gesamtbestand, der in allen Lebensphasen Luthers derselbe ist, den jede von ihnen vertritt, und der außer der Dimensionalität seiner Phasen noch eine Dimension mehr, seine Zeitdimension hat. Das alles besagt auch unsere Interpretation. Aber diese verleiht dem Zeitganzen eine einheitliche, bei dreidimensionalen Phasen also eine vierdimensionale Manichfaltigkeit. Deren Phasen sind für sie individualbegrifflich voneinander verschieden. Und jede vertritt nur das Zeitganze, ist aber nicht dieses selber. Für die praktische Begriffsbildung dagegen ist die Manichfaltigkeit des Zeitganzen nicht einheitlich sondern besteht in einem Phasenganzen plus der von ihm zu unterscheidenden Zeitdimension seines Daseins. Für sie sind individualbegrifflich alle Phasen dieses Zeitganzen miteinander identisch. Und jede von ihnen vertritt wohl das letztere, ist es aber außerdem selber. In diesen Verhältnissen liegt für uns auch der Unterschied zwischen jener Hausfront, die das ganze Haus, oder dem Schienenstücke, das den ganzen Strang in dem Nebeneinander vertritt, auf der einen und der jeweiligen Gegenwartsphase eines Bestandes, die dessen Zeitganzes in dem Nacheinander vertritt, auf der anderen
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Seite. Dort nämlich ist uns die Phase oder der Teil nur Vertreter des Ganzen und nicht dieses selber. Denn die Hausfront ist uns nicht selber das Haus und das Schienenstück nicht selber der ganze Strang. Das ist uns in dem Nebeneinander klar, weil wir da das Ganze und sein Verhältnis zu Phase oder Teil aus der Vogelperspektive gewahren. Dagegen ist uns in dem Nacheinander die Phase nicht nur ein Vertreter des Zeitganzen sondern individualbegrifflich außerdem dieses selber, weil wir da in der Froschperspektive sind, von der aus wir das Zeitganze und darum auch sein Verhältnis zu Phase oder Teil nicht gewahren, und für die deshalb schon jede Phase der ganze Bestand ist. Wir erfassen den Sachverhalt also in dem Nebeneinander aus der Vogelperspektive und in dem Nacheinander aus der Froschperspektive. Das bedingt den Unterschied in unserem Urteile. Diese Betrachtungen vertiefen sich, wenn wir beachten, daß es neben dem bisher behandelten noch einen zweiten Typus der Genidentität gibt. Er bestätigt zunächst unsere Darlegungen. Wir bedienen uns seiner nämlich da, wo in dem Nacheinander auch für die praktische Begriffsbildung nur das Zeitganze mit sich identisch ist, und dessen Phasen für uns das Ganze wohl vertreten aber nicht selber sind. Das ist bei jedem Verlaufe so. Jemand hört eine Symphonie, verläßt den Raum, kehrt zurück und stellt fest, daß noch derselbe Satz gespielt wird. Damit meint er nicht, daß die Phasen des Satzes unter sich identisch, oder auch nur, daß sie sich gleich seien. Denn es ist klar, daß sie es nicht sind. Sondern er meint, daß in den Phasen vor und nach seiner Abwesenheit der Satz als ihr zeitganzer Zusammenhang identisch derselbe sei. Hier weiß jeder, daß die Genidentität dieses Satzes die Identität seines Zeitganzen mit sich ist. Und in eben dem Sinne bedienen wir uns des Begriffes Derselbe in allen solchen Fällen. Er fiel in demselben Kriege. Er sagte das auf demselben Spaziergange. Er ist noch bei derselben Arbeit. Das geschah in demselben Jahre. Usw. Ueberall da bezeichnet das Wort Derselbe als Ausdruck für die Genidentität eines Ablaufes die Identität nicht seiner Phasen untereinander sondern seines durch jede von ihnen vertretenen Zeitganzen mit sich. Mithin bezeichnet es hier eben das, was nach unserer Interpretation auch die Genidentität des Bestandes bezeichnet. Und eine solche Identität setzen wir auch ohne Vermerk, wie es entsprechend bei den Beständen geschah, so bei jedem Verlaufe als selbstverständlich voraus. Wir wollen sie fortan als die Genidentität des Verlaufes von der des Bestandes unterscheiden. Beide Genidentitäten kann man miteinander verknüpfen. Bei der Wortverbindung Luthers Leben zB. verknüpft man in dem Be38
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griffe Luther die Genidentität des Bestandes mit der eines Verlaufes in dem Begriffe Leben. Das entsprechende gilt für Wortverbindungen wie das Laufen einer Maschine, das Verblassen einer Farbe, die Dauer einer Spannung usw. Einer solchen Verknüpfung sind beide Genidentitäten fähig. Die des Bestandes aber ist ihrer außerdem bedürftig. Denn deren Bestand ist für sich, wie wir sahen, als Phasenganzes ohne zeitliche Erstreckung und muß, um genidentisch sein zu können, durch die von iljm zu durchwandernde Zeitdimension seines Daseins ergänzt werden. Das ist ihm konstitutiv. Die Zeitdimension aber ist für uns das Nacheinander. Und das ist uns Grundform, Hintergrund und Rahmen aller Verläufe. Demnach ist es der Genidentität des Bestandes konstitutiv, mit der Genidentität eines Verlaufes, nämlich der seines Daseins verbunden zu sein. Nicht konstitutiv dagegen ist diese Verbindung der letzteren Genidentität. Denn wohl braucht das Phasenganze jene Ergänzung durch sein Zeitganzes. Aber dieses braucht keine Ergänzung durch eines seiner Phasenganzen. Denn die sind schon in ihm. Mithin ist die Genidentität des Bestandes unselbständig und die des Verlaufes selbständig. Als Phasenganzes ist der genidentische Bestand in dem Verlaufe seines Daseins als in seinem ihn umfassenden Zeitganzen enthalten. Das bezeugt auch der Sprachgebrauch. Denn er stellt ihn mit seiner Genidentität in dieses Zeitganze hinein. So sagen wir: Luther hat Großes in seinem Leben getan. Das Gut gehörte derselben Familie in der ganzen Zeit seines Bestehens. Die Spannung wechselte in ihrem Verlaufe. Usw. Ueberall liegt uns da der genidentische Bestand als das schon zu jeder Phase Ganze so in dem genidentischen Verlaufe seines Daseins wie eine Einzelphase in ihrem Zeitganzen. Anderseits aber ist ein solcher Bestand kraft seiner Genidentität schon selber dieses Zeitganze. Denn die Summe der Phasen, in denen er als Phasenganzes genidentisch derselbe ist, ist eben die Phasensumme, die den zeitganzen Verlauf seines Daseins ausmacht. Genidentisch ist daher Luther und sein Leben, ein Gut und sein Bestehen, eine Spannung und ihr Verlauf ein und dasselbe. Nur daß wir Luther, Gut und Spannung in der Genidentität des Bestandes, Leben, Bestehen und Verlauf in der des Verlaufes erfassen. Sind doch alle Phasen Luthers die seines Lebens, alle Phasen des Gutes die seines Bestehens und alle Phasen der Spannung die ihres Verlaufes. Nach dieser Maßgabe kann man beliebig die in der Genidentität ihres Bestandes erfaßbaren Gebilde auch in der ihres Verlaufes erfassen. Das hängt von der Begriffsbildung ab. Begrifflich erscheinen sie dann als verschiedene Gebilde. Sachlich aber sind sie dasselbe, dort in
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der Genidentität ihres Bestandes als Phasenganzes, hier in der ihres Verlaufes als Zeitganzes erfaßt. Aber diese Erfassungen widersprechen sich. Darum widerspricht sich auch ihre Verbindung. Und zwar erstens inbezug auf das Zeitganze. Denn der genidentische Bestand kann nicht einerseits als nur Phasenganzes in dem Zeitganzen enthalten und dieses anderseits selber sein. Hier liegt der Fehler, wie wir sahen, an ihm. Denn er beanspruchte für sich trotz des Widerspruches die Funktionen sowohl des Phasenganzen als auch des Zeitganzen. Der zweite Widerspruch aber betrifft die Beziehung zwischen seinen Phasen. Denn die sind individualbegrifflich für die Genidentität seines Bestandes miteinander identisch, für die seines Verlaufes dagegen voneinander verschieden. Und beides zugleich können sie nicht sein, da hier Bestand und Verlauf derselbe Sachverhalt sind. Handgreiflich zeigt diesen Widerspruch beispielsweise der Film. Sprechen wir nämlich von dessen Vorführung, so sind uns die in ihm vorgeführten Phasen individualbegrifflich voneinander verschieden. Denn da erfassen wir ihn in der Genidentität des Verlaufes. Sprechen wir aber von den vorgeführten Personen und den Orten, an denen sie auftreten, so sind uns deren Phasen individualbegrifflich miteinander identisch. Denn die erfassen wir in der Genidentität des Bestandes. Und doch sind jene für uns voneinander verschiedenen Phasen der Filmvorführung und diese für uns miteinander identischen Phasen der Personen und Orte dieselben Phasen. Wir können uns die gleichen Verhältnisse aber auch an dem Beispiele Luther und Luthers Leben vergegenwärtigen. Praktisch bemerken wir da keinen Widerspruch. Denn da uns sowohl Luther als auch sein Leben zu jeder Phase ihres Daseins derselbe Luther und dasselbe Leben sind, so erscheinen uns ihre Genidentitäten als gleichartig. Theoretisch aber widersprechen sie sich. Denn Luther ist uns nicht erst in dem Längsschnitte sondern schon in jedem Querschnitte seiner Zeit der ganze Luther. Luthers Leben dagegen ist uns nicht schon in jedem Querschnitte sondern erst in dem Längsschnitte derselben Zeit sein ganzes Leben. Und dort sind individualbegrifflich alle Phasen Luthers kraft seiner Genidentität miteinander identisch. Hier dagegen sind alle Phasen seines Lebens trotz dessen Genidentität voneinander verschieden. Gleichwohl sind es beidemale dieselben Phasen. Denn jede Phase Luthers ist auch eine Phase seines Lebens. Und jede Phase dieses Lebens ist auch eine Phase Luthers. Die beiden Genidentitäten sagen also Widersprechendes über identisch dieselben Phasen aus. Und da das bei jeder solchen Verbindung ein38*
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tritt, auf diese aber die Genidentität des Bestandes angewiesen ist, so sind ihr deren Widersprüche konstitutiv und kommen zu ihren anderen Widersprüchen hinzu. Sie machen sich übrigens, ohne daß wir den Grund erkennen, auch in der Praxis geltend. Nämlich in der Art, wie für uns die genidentischen Bestände in der Zeit enthalten sind. Denn die sind dort auf eine seltsame, uns unklare und andere Weise als in dem Räume und als sonst geometrische Gebilde in einer sie umfassenden Manichfaltigkeit. Das ist bei der Genidentität der Verläufe anders. Denn deren Art, in der Zeit zu sein, ist nicht so seltsam. Zwar walten auch da die Besonderheiten des Nacheinander und seiner vermeintlichen Eindimensionalität. Aber sonst sind solche Verläufe normale Teile und ihre Phasen normale Phasen der Gesamtzeit. Dagegen ist der genidentische Bestand jeweils anormal in der Zeit. Denn erstens sollen die Phasen dieser, während er auftritt, verschieden, er aber soll in ihnen allen derselbe, und zweitens soll er als identisch derselbe ganze Bestand sowohl schon in jeder Einzelphase als auch erst in deren Gesamtsumme, seinem Zeitverlaufe da sein. Das freilich wäre seltsam. Aber es ist auch unmöglich. Denn es widerspricht sich. Und jene Seltsamkeit ist dieser Widerspruch. Der verschwindet jedoch, und mit ihm verschwinden alle hier dargelegten Schwierigkeiten der Verbindung zwischen der Genidentität des Bestandes und der des Verlaufes, wenn wir unserer Interpretation folgend die erstere ebenso deuten wie die letztere, also die Genidentität des Bestandes nicht auf sein Phasenganzes sondern auf sein Zeitganzes beziehen. Denn dann ist auch sie normal in der Zeit. Von allen Widersprüchen in der Genidentität des Bestandes ist der offenkundigste der, daß nicht miteinander identisch sein kann, was voneinander verschieden ist. Das ist besonders klar, wenn sich die Phasen des Bestandes nicht nur nach ihrem individualbegrifflichen Sein sondern auch nach ihrer allgemeinbegrifflichen Beschaffenheit voneinander unterscheiden. So ist offenbar Luther trotz seiner Genidentität nicht als Säugling derselbe wie als Sterbender. Gleichwohl sagen wir, er sei derselbe Luther. Diese Redeweise läßt sich, soll der genidentische Bestand in jeder seiner Phasen ganz da sein, nur dahin verstehen, daß wir ihn in einen konstanten und einen oder mehrere variabele Faktoren zerlegen. Jener ist uns dann der eigentliche Bestand und genidentisch. Diese sind uns seine wechselnden Beschaffenheiten und nicht genidentisch. Demgemäß hätten wir bei Luther zwischen ihm, der zeitlebens derselbe Luther ist, und seiner leiblichen Gestalt wie seiner geistigen Haltung zu scheiden, die sich
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wandeln. In allen solchen Fällen weisen wir demnach dem Bestände selber die Identität und seinen Beschaffenheiten die Genesis der Genidentität zu. Wir denken uns also beides als voneinander trennbar. Diese Auffassung des Sachverhaltes findet für die echten substantiellen Bestände ihren theoretischen Niederschlag in der Zeitform der Substanzlehre. Denn die ist, wie früher dargelegt wurde, die schulphilosophische Deutung der Genidentität des Bestandes. Sie bezeichnet nämlich diesen als die Substanz und seine wechselnden Beschaffenheiten als deren Akzidentien. Die Substanz aber ist für uns nach einer anderen Hinsicht, wie wir früher sahen, das phänomenal bzw. metaphänomenal transzendente Ding. Und ihre Akzidentien sind dessen uns immanent wahrnehmbare Repräsentation. Spricht daher diese Lehre von einem Beharren der Substanz in dem Wechsel ihrer Akzidentien, so weist sie unserem Wahrnehmungsbereiche nur die letzteren zu. Die Substanz aber schiebt sie dann in die Transzendenz. Das entsprechende gilt, wie wir seinerzeit sahen, für das Ich als die Substanz seiner Akte und den Gegenspieler seiner Inhalte und Gegenstände. Denn in deren Wechsel ist es uns ebenfalls der allein mit sich identische Bestand. Dabei ist uns die Substanz auch dieses Ichs, wie sich zeigte, transzendent. Denn wir erleben von ihm nur die Tatsache seines Daseins. Sonst aber bleibt es jenseits unserer Reichweite. Daher steht es sowohl in seiner Genidentität als auch in seiner Transzendenz den von uns erlebten wechselnden Bewußtseinsgebilden ähnlich gegenüber wie die körperliche Substanz ihren Akzidentien. Unsere auf die Genidentität des Bestandes gemünzte Begriffsbildung umfaßt jedoch mehr als die Lehre von der Substanz. Denn sie geht, wie wir sahen, nicht nur auf die substantiellen Bestände und deren Beschaffenheiten sondern zB. auch auf die letzteren als solche und zugleich auf alles mögliche andere, Systeme, Fähigkeiten, Zustände usw. Bei allen diesen nicht substantiellen Gebilden unterscheiden wir nach der landläufigen Auffassung von der Genidentität des Bestandes ebenfalls zwischen ihm und seinen Eigenschaften, zwischen dem Identischen und dem Genetischen. Sagen wir zB., dieselbe Farbe leuchtet und verblaßt, dieselbe Spannung wächst und schwindet, dasselbe Fieber steigt und fällt usw., so setzen wir auch hier hinter dem Wechselnden irgendetwas als konstant an. Aber nun verhält sich dieses zu jenem nicht wie die Substanz zu ihren Akzidentien. Denn hier ist keine Substanz. Das Verhältnis ist jetzt vielmehr ein allgemeineres, nämlich das zwischen einem fundierenden Sachverhalte niederer und dem fundierten Sachverhalte höherer Ordnung. Jener ist uns nun das Identische, Konstante, dieser das Gene-
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tische, Variabele. Und das ist in Wahrheit unser Scheidungsprinzip für alle Fälle der Genidentität des Bestandes in landläufiger Auffassung. Also auch für die Substanzen. Aber bei diesen identifizieren wir den Sachverhalt niederer Ordnung mit der Substanz. Dagegen lassen wir ihn bei den nicht substantiellen Beständen unbestimmt. Die hier beschriebene Trennung zwischen dem Identischen und dem Genetischen genügt der Praxis. Theoretisch aber ist sie abwegig. Und zwar nicht nur wegen der nicht substantiellen Gebilde, bei denen die soeben erwähnte Unbestimmtheit ihres konstanten Faktors vielfach Unbestimmbarkeit ist, sondern auch noch aus zwei anderen Gründen. Erstens nämlich trennen wir wohl das sich allgemeinbegrifflich Aendernde von dem sich so nicht Aendernden. Jedoch bleibt dieses auch dann nacheinander. E s beharrt, wie man zu sagen pflegt. Und beharren schließt wie jedes Nacheinander zwar keine allgemeinbegriffliche, wohl aber die individualbegriffliche Verschiedenheit dh. die Nichtidentität der Phasen des beharrenden Gebildes ein. Daher lastet auf dem letzteren, soll es beharrend in allen seinen Phasen dasselbe sein, erneut der Grundwiderspruch der Genidentität des Bestandes. Denn der liegt eben nur sekundär in jenen allgemeinbegrifflichen Aenderungen, primär aber darin, daß individualbegrifflich nicht miteinander identisch sein kann, was voneinander verschieden ist. Und darüber kommt unsere Scheidung zwischen dem Genetischen und dem angeblich Identischen nicht hinweg. Denn individualbegrifflich ist dieses nicht identisch. Zweitens aber widerspricht jene Trennung auch dem von ihr gemeinten Befunde. Denn man kann einen Sachverhalt höherer von dem ihn fundierenden Sachverhalte niederer Ordnung nur begrifflich unterscheiden, nicht aber ontologisch absondern. Ist doch jener mit diesem in dem früher geschilderten Sinne der Teilhabe partiell identisch. Daher sind ontologisch beide nur ein Gebilde. Also kann nicht der eine beharren, wenn der andere wechselt. Vielmehr ist jede Aenderung des Wechselnden eine Aenderung auch des Beharrenden. Wechselt demnach ein Körper Gestalt oder Größe, so wird seine Substanz, und verblaßt eine Farbe, so wird diese selber dadurch geändert. Das angeblich Beharrende beharrt also nicht in dem Wechsel des sich Aendernden sondern ändert sich mit ihm. Mithin widerspricht unsere Trennung zwischen beiden dem von ihr gemeinten Befunde und ist inbezug auf diesen sinnwidrig. Dagegen ist unsere Rede, daß sich ein Bestand als identisch derselbe ändere, sinnvoll. Aber sie ist anders zu interpretieren. Denn sie besagt nicht, daß in jeder seiner Phasen etwas Beharrendes und
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etwas sich Aenderndes stecke. Sie folgt also nicht ihrer landläufigen Auffassung. Wohl aber folgt sie unserer Interpretation der Genidentität des Bestandes. Denn sie besagt, daß dessen Zeitganzes nacheinander verschiedene Stadien hat, und daß es in deren Wechsel seinerseits mit sich identisch sei. Derselbe Körper ändert sich, heißt demnach, daß sein zeitliches Dasein als identisch dasselbe in seinen verschiedenen Phasen verschieden ist. Dieselbe Farbe leuchtet und verblaßt, heißt, daß ihre zeitliche Erstreckung erst satter und dann bleicher ist. Usw. So verstanden hat unsere Rede einen und denselben guten Sinn für Verläufe und für Bestände, substantielle wie nicht substantielle. Hält man aber bei den genidentischen Beständen nach landläufiger Auffassung jede ihrer Phasen für den ganzen Bestand und identifiziert jede mit jeder und also auch mit ihrem Zeitganzen, dann bedeutet unsere Rede bei solchen Beständen etwas anderes als bei Verläufen. Und sie ist dann bei vielen nicht substantiellen Beständen unverständlich, bei den substantiellen aber sinnwidrig. Wie im kleinen die Genidentität des Bestandes zu der des Verlaufes, so verhält sich im großen die Genidentität des Raumes zu der der Zeit. Und zwar ist für uns der genidentische Raum so in der Zeit wie ein genidentischer Bestand in dem Verlaufe seines Daseins zB. wie Luther in Luthers Leben. Darauf weist auch unsere Rede, die Zeit im Unterschiede zu dem Räume fließe, der Raum sei statisch, die Zeit dynamisch. Denn dies bedeutet, daß in dem Nacheinander der Raum zu jeder Zeitphase derselbe, die Zeitphasen aber, in denen er auftritt, jeweils andere seien. Und das wieder heißt, daß wir den Raum in der Genidentität des Bestandes und die Zeit ifr der des Verlaufes erfassen. Wir verknüpfen also unsere Sachunterscheidung zwischen Raum und Zeit mit der Begriffsunterscheidung zwischen der Genidentität des Bestandes und der des Verlaufes. Nun aber erfassen wir praktisch die Zeit und ihren Verlauf nur in dem Rahmen der Genidentität des Raumes. Diese nämlich beherrscht unseren Weltbegriff. Denn unsere Welt ist die genidentische Raumwelt. Und die Zeit ist für uns deren Zubehör. Denn die Raumwelt kann wie jedes Phasenganze, da ihr die zeitliche Erstreckung fehlt, genidentisch nicht für sich sondern nur dank der Ergänzung durch die von ihr zu durchwandernde Zeitdimension ihres Daseins sein. Wir denken uns diese daher als von ihr gesondert. Demgemäß ist für uns die Zeit in ihrem Zusammenhange mit der genidentischen Raumwelt eine von der letzteren getrennte Einzeldimension. Das aber ist, wie wir früher sahen, eine falsche Auffassung der Sachlage. Denn in ihrer Eigenständigkeit ist die Zeit eine die Dimensionalität des Raumes
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einschließende vierdimensionale Manichfaltigkeit. Und so haben wir sie zu denken, wenn wir ihr außerhalb jenes Rahmens die Genidentität des Verlaufes, dem Räume aber die des Bestandes zusprechen. An den Begriffen Luther und Luthers Leben sahen wir nun, daß die Genidentität des Bestandes und der Verlauf seines Daseins, wenngleich in verschiedener Begriffsbildung, dasselbe sind. Daher sind mit verschiedener Begriffsbildung auch die Genidentität des Raumes und der Verlauf seines Daseins dasselbe. Dieser Verlauf aber ist hier die Zeit in ihrer eigenständigen Form. Somit ist sachlich der genidentische Raum diese Zeit. Beide unterscheiden sich nur begrifflich. Aber gerade daran scheitert ihre Verbindung. Denn wie wir an dem Beispiele Luther und Luthers Leben sahen, schließen sich als Begriffsbildungen die Genidentität des Bestandes und die des Verlaufes aus. Das gilt auch für den genidentischen Raum und die Zeit. Jener nämlich ist uns nicht erst in dem Längsschnitte sondern schon in jedem Querschnitte seines Daseins der ganze Raum. Dagegen ist uns die Zeit nicht schon in jedem Querschnitte sondern erst in dem Längsschnitte ihres Daseins die ganze Zeit. Und alle Phasen des Raumes sind uns kraft seiner Genidentität miteinander identisch. Dag e g e n sind uns alle Phasen der Zeit trotz ihrer Genidentität voneinander verschieden. Und das widerspricht sich, wenn sachlich, wie wir soeben sahen, der genidentische Raum die Zeit selber ist. W i r kennen diesen Widerspruch praktisch in den Begriffen W e l t und Gegenwart. Beide bedeuten sachlich jeweils dasselbe. Denn einerseits ist die Welt die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit und diese als Gegenwart jeweils die Welt. Und anderseits ist auch die Summe aller Weltphasen dasselbe Zeitganze wie die Summe aller Gegenwartsphasen, nämlich die Wirklichkeit in ihrer zeitlichen Erstreckung. A b e r genidentisch unterscheiden wir beide. Denn die W e l t erfassen wir wie den Raum, zu dem sie gehört, in der Genidentität des Bestandes. Daher sind uns alle ihre Phasen miteinander identisch, ist uns in jeder die ganze W e l t da, und hat uns auch deren zeitliche Erstreckung nur Phasengröße. Dagegen erfassen wir die Gegenwart wie die Zeit, zu der sie gehört, in der Genidentität des Verlaufes. Daher ist uns jede Gegenwartsphase von der anderen verschieden, ist uns in jeder nur ein Infinitesimal der Zeit da und diese uns dessen Unendlichvielfaches. Beides widerspricht sich hier. Denn sachlich sind, wie wir soeben sahen, W e l t und Gegenwart als Phasen und ihre Summen als die zeitliche Erstreckung der Wirklichkeit dasselbe. W i r kommen demnach zu dem Ergebnisse, daß sich die B e g r i f f e genidentischer Raum und Zeit widersprechen. Deshalb führt die land-
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läufige Verbindung beider, als stünden sie verträglich nebeneinander, irre. Hebt doch eines das andere auf. Der genidentische Raum aber bedarf der Zeit und hebt sich daher selbst auf. Mithin gibt es keinen solchen Raum. Sondern es gibt nur in der Genidentität des Verlaufes die Zeit, deren unendlichviele Gegenwartsphasen Räume sind. Diese Entscheidung ist für das Verhältnis von Nacheinander und Zeitwelt wichtig. Hat nämlich die Raumwelt die Genidentität des Bestandes, so ändert sie zwar ihre allgemeinbegriffliche Beschaffenheit, bleibt aber individualbegrifflich derselbe Bestand. Demgemäß wird dann nichts von ihr vernichtet und geschaffen. Sondern in dem Neuen ist sie individualbegrifflich immer die alte und in dem Alten immer die neue. Die Zeitwelt aber ist dann bis auf das eine sie durchwandernde Phasenganze dieser Raumwelt leer. Da nämlich die letztere immer dieselbe ist, so bestreitet sie ihre Phasenfolge, das Nacheinander aus sich. Denn aus ihrer Vergangenheit nimmt sie das, was sie war, es allgemeinbegrifflich umwandelnd in die Gegenwart mit. Und in dieser birgt sie für die Zukunft das, was sie sein wird, um es wieder zu verwandeln, schon in sich. Mithin stammt nun ewig alles Wirkliche nur aus ihr. Sie genügt sich. Und das Weltgeschehen ist ihre Parthenogenese. Die Zeitwelt aber ist dann leer. Denn aus der stammt nichts. Somit ist hier die Raumwelt, nur in das Räumliche und Unendlichgroße übersetzt, eine Leibnizsche Monade. Oder diese ist, in das Unräumliche und Unendlichkleine übersetzt, die sich selbst genügende Raumwelt. Beide tragen in der Genidentität des Bestandes ihre gesamte Zeitfülle noch und schon in sich. Hat dagegen die Raumwelt die Genidentität des Verlaufes, dann ist sie die Zeit in deren eigenständiger Form und damit zu jeder Gegenwart nicht nur allgemeinbegrifflich sondern auch individualbegrifflich eine andere Raumwelt. Ihre Phasenfolge aber ist dann als Nacheinander eine stete Vernichtung und Schöpfung. Denn die jeweils vorangegangene Raumphase ist nun nicht die gegenwärtige und diese nicht die folgende. Sondern jede ist zu ihrer Frist erstmalig und einmalig. Jede ersteht aus dem Nichts und verschwindet in ihm. Ist doch für die jeweils gegenwärtige Raumwelt die Zukunft, aus der sie kommt, und die Vergangenheit, in die sie geht, nicht wirklich. Die Zeitwelt aber, ob wirklich oder unwirklich, ist dann durch die Reihe dieser Raumwelten erfüllt. Sie ist hier also nicht leer. Sondern nun stammt aus ihr die Wirklichkeit aller Gegenwartsphasen. Darum ist jetzt das Weltgeschehen keine Parthenogenese der einen Raumwelt in der leeren sondern die stete Abfolge eines Wirklichseins von un•endlichvielen Raumphasen in der erfüllten Zeitwelt.
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Das Verhältnis des Nacheinander zu der letzteren ist somit verschieden, je nachdem man die Raumwelt in der Genidentität ihres Bestandes oder in der ihres Verlaufes faßt. Theoretisch richtig ist nur die zweite Fassung. Die praktische Begriffsbildung aber schwankt zwischen beiden dank der Doppelschichtigkeit unseres Zeitbegriffes. Denn bald entwickelt sie Vergangenheit und Zukunft aus der wandernden Raumwelt, bald verlegt sie beides in die zu durchwandernde Zeitwelt, bald auch huldigt sie, wie wir sehen werden, für die Zukunft der ersteren und für die Vergangenheit der letzteren Meinung. Aber noch nach einer anderen Hinsicht wirkt die Genidentität der Raumwelt auf das Verhältnis zwischen Nacheinander und Zeitwelt ein. Die letztere nämlich, an sich nacheinanderlos mit sich identisch, erhält durch ihre Korrelatkoppelung mit dem Nacheinander der Gegenwart, ganz gleich ob man dieses in dem Sinne der Genidentität des Bestandes oder der des Verlaufes faßt, nicht nur, wie wir früher sahen, ein sekundäres Nacheinander sondern auch eine sekundäre Genidentität und zwar eine solche des Bestandes. Denn jede Zeitweltphase wechselt für uns, wie sich damals zeigte, als identisch dieselbe relativ zu der jeweiligen Gegenwart ständig ihre Lage und absolut zweimal ihren ontologischen Status, hat also nacheinander unendlichviele Lagen und drei verschiedene Status. Identisch derselbe 1. Januar 1700 rückte als Zukunft immer näher an die Gegenwart heran, war als Gegenwart diese selbst und rückte als Vergangenheit immer weiter von ihr ab. War erst noch nicht wirklich, dann wirklich und dann nicht mehr wirklich. Das aber ist nicht mit der echten Identität der Zeitwelt sondern nur mit einer Genidentität ihres Bestandes vereinbar. Diese hängt also dem sekundären Nacheinander der Zeitwelt als eine ihm entsprechende sekundäre Genidentität ihres Bestandes an. Machte man damit ernst, so verlöschte der Unterschied nicht nur zwischen Zeitwelt und Nacheinander sondern auch zwischen echter Identität dort und Genidentität des Bestandes hier. Wir sind in dieser Erörterung von der Genidentität der einzelnen Bestände und Verläufe zu der des gesamten Raumes und der Zeit übergegangen. Aber das sachliche Verhältnis ist das umgekehrte. Denn die Genidentität der Zeit ist, wie wir schon sahen, Grundform, Hintergrund und Rahmen für die Genidentität jedes Verlaufes in ihr. Und ebenso ist die Genidentität des Raumes Grundform, Hintergrund und Rahmen für die Genidentität jedes Bestandes in ihm. Das erstere versteht sich von selbst. Denn die Genidentität eines Verlaufes ist die seiner Zeitlichkeit. Aber auch das zweite versteht sich. Denn der genidentische Bestand gehört jeweils zu seiner Raumwelt und
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hat deren, nicht aber ein selbständiges Verhältnis zu der Zeit. Mithin ist seine Phasenfolge in dem Nacheinander an die seiner Raumwelt gebunden. Ist uns doch jeweils gegenwärtig, wirklich und anschaubar nur diejenige Phase des Bestandes, die in der dann gegenwärtigen Phase seiner Raumwelt liegt. Und seine übrigen Phasen sind das nicht, weil sie dann in vergangenen und zukünftigen Raumweltphasen liegen. Die Phasensumme eines solchen Bestandes aber wäre für uns kein in sich zusammenhängendes Zeitganzes, wäre das nicht die Phasensumme seiner Raumwelt. Auch hielten wir nicht den Bestand in jeder seiner Phasen für den ganzen und in ihnen allen für denselben, hielten wir nicht die Raumwelt in jeder ihrer Phasen für die ganze und in ihnen allen für dieselbe Welt. Endlich aber wanderte uns nicht jeder Bestand durch die Zeitdimension seines Daseins, wanderte so nicht der Raum, zu dem er gehört, durch die Zeit. Die Genidentität der einzelnen Verläufe und Bestände ist demnach in diesen sekundär. Primär aber ist sie in unseren Begriffen von dem Räume und der Zeit, dh. in unserer Ontologie der Gesamtwirklichkeit. Jedes in der Genidentität des Bestandes erfaßte Gebilde ist mehrdeutig. Denn es tritt als individualbegrifflich immer wieder dasselbe in den unendlichvielen Phasen seines Zeitganzen auf und kann in deren jeder außerdem allgemeinbegrifflich anders sein. Es ist also als ein und dasselbe unendlichvieles. Sein Zeitganzes dagegen und jede seiner Einzelphasen sind eindeutig. Denn die sind nur sie selber. Demgemäß sind sie, wie wir sahen, auch nicht genidentisch sondern identisch, und nicht nacheinander sondern nacheinanderlos. Das genidentische Gebilde aber ist mehrdeutig, weil es in dem Nacheinander sowohl das sein soll, was nur eine seiner Phasen ist, als auch das, was seine unendlichvielen Phasen zusammen sind. Man kann sich das Wesen dieser Mehrdeutigkeit wieder an der Beziehung einer n—1-dimensionalen Phase zu der n-dimensionalen Manichfaltigkeit vergegenwärtigen, in der sie enthalten ist. So sind in einer Linie ein Punkt, in einer Fläche eine Linie und in einem Räume eine Fläche an sich eindeutig. Und ebenso eindeutig sind an sich die diese Gebilde enthaltenden Manichfaltigkeiten. Identifizierte man aber jenen Punkt mit den übrigen Punkten der Linie, die Linie mit den übrigen Linien der Fläche und die Fläche mit den übrigen Flächen des Raumes, so wäre jedes der so behandelten Gebilde mehrdeutig. Denn es hätte sich, obwohl es dasselbe bliebe, der Zahl solcher Identifikationen entsprechend vervielfältigt. Es wäre also erstens nur das eine und zweitens die unendlichvielen Gebilde seiner
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Scharung. Ebenso ist in der Vierdimensionalität der Zeit diese selbst wie der dreidimensionale Raum jedes ihrer Infinitesimale an sich eindeutig. Identifiziert man aber den einen dieser Räume genidentisch mit denen der übrigen Zeitinfinitesimale, so wird er mehrdeutig. Denn er hat sich nun, obwohl er derselbe bleiben soll, der Zahl dieser Identifikationen entsprechend vervielfältigt. Er ist der Raum erstens nur eines und zweitens unendlichvieler Zeitinfinitesimale. Bei den Punkten, Linien, Flächen und bei anderen geometrischen Gebilden vollziehen wir solche Identifikationen nicht. Denn da erkennen wir ihren Widersinn aus der Vogelperspektive. Für die Zeit dagegen vollziehen wir sie dank unserer Froschperspektive in ihr. Und doch sind sie da ebenso widersinnig. Dies merken wir in der Praxis nicht. In der Wissenschaft aber merkt man es und hebt, wenn es auf Eindeutigkeit ankommt, die Genidentität des Bestandes auf. So zB. in der Logik. Da fügt man in den Satz des Widerspruches die Bestimmung Zugleich ein und sagt: x kann nicht a und zugleich nicht a sein. Das tut man, weil man sich x nicht als einen nacheinanderlos mit sich identischen und darum eindeutigen sondern als einen nacheinanderhaft genidentischen und darum mehrdeutigen Bestand denkt, den man eben deshalb seiner Mehrdeutigkeit durch die Bestimmung Zugleich entkleidet. Zugleich nämlich sind Bestände nur je eines Zeitinfinitesimales. Jener Satz heißt also: x kann nicht in demselben Zeitinfinitesimale a und nicht a sein. Denn in diesem und nur in ihm ist es als Phasenganzes mit sich identisch und eindeutig. Dagegen ist es in dem Nacheinander mehrerer Infinitesimale genidentisch und mehrdeutig, kann also da sowohl a als auch nicht a sein. Kurz die Identität einer Phase mit sich ist nicht deren Identität auch mit den übrigen Phasen ihrer Scharung. Darum verkürzt die Logik genidentische Bestände, um sie eindeutig zu machen, auf nur eine Phase. Aehnlich steht es mit dem früher von uns behandelten Unterschiede der Zuordnung zwischen statischen und dynamischen Systemen. Bei jenen gilt, wenn sie wahrhaft statische dh. nicht ruhende sondern nacheinanderlose Systeme sind, jede Zuordnung zwischen ihnen ein für allemal, bei diesen nicht. Die ersteren Systeme nämlich sind auf echte Weise mit sich identisch. In der Regel sind sie nur gedacht und damit, wie sich noch zeigen wird, auch der sekundären Genidentität entzogen. Infolgedessen sind sie für uns ständig dieselben und eindeutig. Darum gelten einmal zwischen ihnen getroffene Zuordnungen für immer. Das garantiert ihre Konstitution. Dagegen sind die von uns in der Genidentität des Bestandes erfaßten Systeme,
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wie wir sahen, mehrdeutig. Denn sie sind individualbegrifflich mit jeder Phase ein anderes System und können es auch allgemeinbegrifflich sein. Somit garantiert ihre Konstitution die Dauer keiner Zuordnung zwischen ihnen. Denn ein solches System kann sich jederzeit inbezug auf das Zuordnungsprinzip ändern. Die aktuelle Statik seiner Ruhe ist also eine potentielle Dynamik. Demnach gelten Zuordnungen zwischen den auf echte Weise mit sich identischen Systemen unbedingt, zwischen den genidentischen dagegen nur bedingt. Und unbedingt gelten sie zwischen den letzteren lediglich für die P h a s e , in der sie getroffen sind. Hier muß daher die unbedingte Geltung jeder Zuordnung ebenso, wie das in der Logik mit dem Satze des. Widerspruches geschah, auf eine Einzelphase beschränkt werden. So kann man überall vorgehen, wo nicht die Zeiterstreckung eines Bestandes in unseren Begriff von seiner Identität miteingeht. Ist das aber der Fall, dann versagt dieses Verfahren. Denn dann kann man nicht den Bestand auf nur eine seiner Phasen zurückführen. Vielmehr muß man nun, um seine Eindeutigkeit zu wahren, als identisch in dem Sinne der vorangegangenen Erörterung sein Zeitganzes ansetzen. Das klassische Beispiel hierfür sind B e w e g u n g und Ruhe. Denn da es zu diesen gehört, daß sich ihr Bestand als ein und derselbe bewegt oder ruht, so geht nun dessen Identität auf ein Bezugsverhältnis zwischen den Raumlagen seiner Phasen, also auf deren Vielheit und kann nicht auf nur eine von ihnen beschränkt werden. B e wegt oder ruhend aber ist für uns jeder genidentische Bestand in Raum und Zeit. Und zwar sind dort alle seine Lagemöglichkeiten damit erschöpft. Denn relativ zu anderen Beständen kann ein Bestand mit jeder neuen Phase in der Zeit nur entweder an derselben Raumstelle sein, und dann ruht er, oder nicht an derselben, und dann bew e g t er sich. Zu den Bewegungen aber gehören, daran sei noch erinnert, auch die qualitativen Aenderungen. Denn die erwiesen sich als Inbegriffe einer großen Zahl von Teilbewegungen, deren jede unterhalb der uns noch erfaßbaren Kleinheits- sowie oberhalb der uns noch erfaßbaren Geschwindigkeitsgrenze liegt, und die wir deshalb nicht einzeln sondern nur im ganzen erfassen. Wir vergegenwärtigen uns das Problem zunächst an der Bew e g u n g und lassen die Ruhe noch außer acht. Ein Bestand heißt bewegt, wenn er als genidentisch derselbe nacheinander verschiedene Raumlagen relativ zu anderen Beständen hat. Mithin gehört zu jeder B e w e g u n g die Genidentität ihres Bestandes. Denn wäre dieser nicht nacheinander derselbe, so wäre seine B e w e g u n g weder die seine noch eine B e w e g u n g , sondern dann hätten verschiedene Bestände nachein-
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ander verschiedene Lagen, und unsere auf die Bewegung gemünzte Terminologie irrte sich. An die Genidentität des Bestandes gebunden zeigt die Bewegung aber auch deren Widerspruch und die aus ihm erwachsende Mehrdeutigkeit. Denn in ihr soll der bewegte Bestand als identisch derselbe erstens nacheinander sein und zweitens in dem Nacheinander unendlichviele Lagen haben. Und doch widerspricht sich schon das erste, wie wir sahen. Denn mit sich identisch ist nur das Nacheinanderlose. Und das zweite widerspricht sich erst recht. Denn entweder ist der Bestand derselbe, und dann hat er nur eine Lage. Oder er hat nicht nur eine Lage und dann ist er nicht derselbe. Praktisch freilich ist für uns alles in Ordnung, wenn der Bestand nicht zugleich sondern nacheinander verschiedene Lagen hat. Theoretisch aber ist das nicht in Ordnung. Denn miteinander identisch kann weder das sein, was an verschiedenen Zeitstellen, noch das, was an verschiedenen Raumstellen, geschweige denn das, was an verschiedenen Zeitstellen und an verschiedenen Raumstellen ist, nämlich sich nacheinander bewegt. Der Begriff der Bewegung widerspricht sich also. Sein Widerspruch aber betrifft die zeitliche Erstreckung eines Bestandes. Daher haben wir, um dessen Eindeutigkeit zu wahren, an die Stelle der vermeinten Identität seiner Phasen miteinander die Identität seines durch jede Phase vertretenen Zeitganzen mit sich einzusetzen. Und damit heben wir die Bewegung auf. Das Zeitganze nämlich bewegt sich nicht. Denn es ist zwar mit sich identisch, hat aber nicht verschiedene Lagen sondern nur eine und ist nacheinanderlos. Und seine Phasen bewegen sich auch nicht. Denn sie haben zwar verschiedene Lagen, sind aber nicht miteinander identisch und ebenfalls nacheinanderlos. Mithin gibt es in dem der Bewegung zugrundeliegenden und widerspruchsfreien ontologischen Befunde keine Bewegung. Vielmehr kommt diese erst dadurch zustande, daß wir in dem Nacheinander die dem Zeitganzen des Bestandes eigene Identität mit der seinen Phasen eigenen Verschiedenheit kombinieren. Und das tut die Praxis, indem sie nach dem Prinzip der Genidentität des Bestandes dessen Phasen bereits für diesen selber erklärt, die Identität seines Zeitganzen auf sie überträgt und sie daher miteinander identifiziert. Auf solche Weise kann dann ein und derselbe Bestand in verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten sein. Aber nur für die praktische Begriffsbildung. Denn theoretisch widerspricht es sich. Was für die Bewegung gilt, gilt entsprechend auch für die Ruhe. Nur daß diese die Genidentität eines Bestandes nicht an verschiedenen sondern an demselben Orte ist. Bei ihr also ist für uns nicht
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nur der Bestand sondern auch sein Ort genidentisch. Und darum tritt hier der Widerspruch nicht so hervor. Doch besteht er. Denn auch der ruhende Bestand ist erstens mit sich identisch. Sonst wäre seine Ruhe weder die seine noch eine Ruhe, sondern dann hätten verschiedene Bestände nacheinander die gleiche Lage, und unsere auf die Ruhe gemünzte Terminologie irrte sich. Und zweitens ist er nicht mit sich identisch. Denn, um zu ruhen, muß er nacheinander, mithin in verschiedenen Zeitphasen sein. Und was in verschiedenen dh. nicht miteinander identischen Phasen ist, ist nicht identisch dasselbe, auch wenn wir es für genidentisch erklären. Das in Wahrheit mit sich identische Zeitganze des Bestandes aber und jede seiner Einzelphasen ruhen so wenig, wie sie sich bewegen. Denn sie sind nacheinanderlos. Und zustandekommt die Ruhe, wie die Bewegung, erst dadurch, daß wir in dem Nacheinander die jenem Zeitganzen eigene Identität mit der seinen Phasen eigenen Verschiedenheit auf die unzulässige Weise der Genidentität des Bestandes kombinieren. Demnach sind Bewegung und Ruhe ontologisch etwas anderes, als sie zu sein scheinen. Sie sind kein örtliches Verrücken oder Verbleiben eines und desselben Phasenganzen in dem Nacheinander unserer dreidimensionalen sondern die von einer für uns maßgebenden Richtung abweichende oder mit ihr gleiche Richtung der Phasenscharung eines Zeitganzen in der vierten Dimension der nacheinanderlosen vierdimensionalen Welt. Uns aber enthüllt sich dieses Zeitganze, das alle seine Phasen umfaßt, in ihnen allen mit sich identisch ist und für uns durch jede von ihnen vertreten wird, in der Froschperspektive des Nacheinander als Bewegung oder Ruhe. Hierbei können wir einzeln alle jene Phasen gewahren. Denn jede von ihnen liegt nun einmal in unserem Wahrnehmungshorizonte. Aber ihre Summe, das Zeitganze selber gewahren wir nicht. Denn das liegt jeweils außerhalb jenes Horizontes in der Zeitdimension. Somit gibt es Bewegung und Ruhe nur für unsere Froschperspektive. In der Vogelperspektive sähe man sie als verschieden gerichteteZeitganzheiten. Denken wir diesen Sachverhalt für Gebilde von verschiedener Manichfaltigkeit durch, so erkennen wir in Uebereinstimmung mit unseren früheren Darlegungen, daß in der vierdimensionalen Welt jeder Punkt, den wir in unserer dreidimensionalen für eine beliebige Zeit als bewegt oder ruhend ansprechen, eine Linie, die sogenannte Weltlinie des Punktes ist; daß in demselben Sinne jede als bewegt oder ruhend angesprochene Linie der dreidimensionalen Welt eine Fläche der vierdimensionalen, jede bewegte oder ruhende Fläche dort ein dreidimensionaler Körper hier, und entsprechend jeder für uns
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bewegte oder ruhende dreidimensionale Körper ein vierdiraensionales Gebilde der Zeitwelt ist. In dieser haben also alle genidentischen Gebilde der Raumwelt, ob bewegt oder ruhend, eine Dimension mehr. Das ist da der Ersatz für ihr Nacheinander. In der Raumwelt aber ist das letztere der Ersatz für eine ihrer zeitweltlichen Dimensionen. Nennen wir die Verbindungslinie bestimmter, zB. der Mittelpunkte aller Phasen eines solchen zeitweltlichen Gebildes seine Weltlinie, so bewegt es sich oder ruht für unsere Froschperspektive, wie schon angedeutet wurde, je nach der Lage seiner eigenen zu einer für uns maßgebenden und als ruhend betrachteten anderen Weltlinie, zB. der der Erde. Es ruht, wenn seine und jene maßgebende Linie die gleiche Richtung haben. Es bewegt sich, wenn beide Linien gegeneinander geneigt sind, und zwar umso schneller, je größer derNeigungswinkel ist. Und es wird positiv oder negativ beschleunigt, wenn dieser Winkel wächst oder abnimmt. Jener Satz, daß in dem Nacheinander alle Möglichkeiten für die raumzeitliche Lage eines Bestandes durch dessen Ruhe und Bewegung erschöpft sind, besagt demgemäß in der Zeitwelt, daß zu einer von uns als maßgebend betrachteten Weltlinie jede andere Weltlinie entweder parallel oder nicht parallel ist. Ruhe und Bewegung sind dort also eine rein geometrische Angelegenheit* und ihre Relativität eine reine Relativität der Lage. Man kann sich diese Verhältnisse daran klarmachen, daß einem längeren Nacheinander in der dreidimensionalen eine umfangreichere Phasenschicht in der vierdimensionalen Welt entspricht. Wird also eine Raumstrecke dort in längerer Zeit durchlaufen, so sind hier die Phase, in der die Weltlinie des bewegten Bestandes zu Anfang, und die, in der sie am Ende der Bewegung liegt, nach der Zeitdimension weiter voneinander entfernt, als wenn der Bestand dieselbe Raumstrecke in kürzerer Zeit durchläuft. Von der Weltlinie des bewegten Bestandes wird daher relativ zu der für uns maßgebenden Ruhelinie die vierdimensionale Welt bei langsamen Bewegungen steiler und bei schnellen flacher durchschnitten. Bei einer für uns unendlichgroßen Geschwindigkeit, gäbe es das physikalisch, fiele die Weltlinie des bewegten Bestandes in die Gleichzeitigkeit einer Einzelphase. Bei einer für uns unendlichkleinen Bewegung ist sie der Ruhelinie parallel.. Die Weltlinien, genauer die Phasenscharungen selbst der Bestände sind deren eigentliche Bahn. Denn in ihnen ist der Ort jeder Phase eindeutig bestimmt, nämlich räumlich und zeitlich. Aber diese Bahnen liegen jenseits unseres Wahrnehmungshorizontes in der Zeitdimension. Daher können wir sie nicht sehen. Anderseits ist das, was wir innerhalb unseres Wahrnehmungshorizontes, also in unserer
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genidentischen Raumwelt Bahn einer Bewegung nennen, nur die Projektion einer Weltlinie auf die Dreidimensionalität unserer Phasen. Sie bestimmt nur die räumliche, nicht die zeitliche Lage jeder Phase des bewegten Bestandes, zeigt weder, wann überhaupt sich dieser bewegte, noch wann er an jedem Punkte der Bahn war, noch mit welchen Geschwindigkeiten und wie oft er sie durchlief. Auch gibt es Raumbahnen nur für Bewegtes, da Ruhendes nicht seine Raumstelle ändert. Kurz Raumbahnen verzeichnen nur die Raum-, nicht die Zeitlagen in der Weltlinie. Sie ähneln darin dem Hintereinander. Wie dieses im Unterschiede zu dem Nebeneinander unvollständig ist als Projektion des Raumes auf die Fläche, so ist die Raumbahn im Unterschiede zu der Weltlinie unvollständig als Projektion der Zeitwelt auf den Raum. Dagegen zeigen Weltlinien als echte Bahnen die räumliche wie die zeitliche Lage jeder Bestandphase. Sie sind daher eindeutig, verzeichnen Ruhe wie Bewegung, zeigen, wann ein Bestand ruhte oder sich bewegte, wann und wo er in jeder seiner Phasen war, ob seine Bewegung einmalig war, oder wie oft sie sich wiederholte, und mit welchen Geschwindigkeiten. Nur muß man dann die hier gewählte Sprache des Nacheinander in die der Zeitwelt übersetzen. Da es Raumbahnen nur für bewegte Bestände gibt, kann der früher geschilderte Kunstgriff der Geometrie, höhere Manichfaltigkeiten aus niederen nur durch deren Bewegung darstellen, nicht durch ihre Ruhe. Sein erstes Prinzip, dass Scharung in der Zeit jede Manichfaltigkeit um eine Dimension erhöht, gilt für Ruhe wie Bewegung. Sein zweites aber, die Darstellung dieser Scharung durch Raumbahnen gilt nur für Bewegungen. Es fusst darauf, dass bei geradliniger Bewegung eines •—m-dimensionalen Gebildes durch eine n-dimensionale Manichfaltigkeit jeder neuen Phase in dem Nacheinander jenes Gebildes eine neue ihr geometrisch gleichwertige Phase in dem Nebeneinander dieser Manichfaltigkeit entspricht. Die stetige Scharung der Phasen dort, das Zeitganze jenes Gebildes wird somit geometrisch durch eine entsprechende Phasenscharung hier, seine Raumbahn abgebildet. Darum stellen in unserem jeweiligen Gegenwartsraume die eindimensionalen Bahnen bewegter Punkte, die zweidimensionalen bewegter Linien und die dreidimensionalen bewegter Flächen deren Zeitganzheiten dar. Bei einem ruhenden Bestände dagegen entspricht jeder Phase in dem Nacheinander seiner Ruhe genidentisch immer wieder dieselbe Phase in dem Nebeneinander unseres Raumes. Darum projiziert sich in diesem seine Zeitganzheit nicht. Man kann sich die ontologische Struktur der Bewegung und Ruhe an einer Fiktion klarmachen, die zugleich den Bewegungscharakter 89
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unseres Nacheinander veranschaulicht. Auf dem Endquerschnitte eines Balkens sitze ein zweidimensionales, beliebig kleines, durchdringbares Wesen, dessen Wahrnehmungswelt jene Querschnittfläche sei. Durchliefe es die Länge des Balkens, so gewahrte es in steter Folge dessen sämtliche Schnittflächen. Deren jede wäre jeweils seine Welt, jede hielte es jeweils für alleinwirklich und alle für genidentisch immer dieselbe Welt. Nur solche Flächen könnte es sich vorstellen, nicht den Balken als Ganzes, obwohl es ihn ganz durchliefe. Es spräche ihn jeweils als Zeit seiner Flächenwelt an, das Stück hinter dieser als Vergangenheit, das vor ihr als Zukunft. Was in drei Dimensionen Balken ist, erschiene ihm in zwei als Fläche in der Zeit. Diese Zeit wäre existentiell die unsere. Denn in ihr wird das Wesen bewegt. Essentiell aber erlebte dieses etwas anderes. Die in seiner eigenen Bewegungsrichtung dem Balken eingelagerten Strukturen erschienen ihm als ruhende, anders gerichtete als bewegte Flächenstücke und je nach Art ihrer Abweichung als verschieden bewegte. Einen durch die Länge des Balkens gezogenen runden Draht sähe es als ruhende Kreisfläche, einen schräg seiner Bewegungsrichtung entgegen eingeschlagenen runden Nagel als einen von innen nach aussen, den umgekehrt eingeschlagenen als einen von aussen nach innen wandernden ovalen Metallfleck. IHese Wanderung wäre umso schneller, je größer der Winkel zwischen seiner Bewegungsrichtung und dem Nagel ist. Krümmt sich dieser in dem Balken, so wäre für unser Wesen der Fleck an der Stelle der Krümmung je nach derem Winkel zu seiner Bewegungsrichtung positiv oder negativ beschleunigt. Schrauben wir in die Längsrichtung des Balkens eine Spirale, so bewegte sich ihm der Fleck im Kreise und umso schneller, je enger die Windungen der Spirale liegen. Einen in derselben Richtung eingelassenen wellenförmig gebogenen Draht sähe es als Pendelbewegung des Fleckes. Etwaige Verengerungen oder Erweiterungen der Jahresringe in dem Holze wären ihm zentripetale oder zentrifugale Bewegungen von Kreisen. Kurz unser Wesen sähe Strukturen von dreidimensionalen Gebilden in dem Balken als Bewegung und Ruhe von zweidimensionalen in seiner Fläche. Verzeichnete es deren Bewegungsbahnen in ihr, so wären sie ebenso unvollkommene Projektionen der dem Balken eingelagerten dreidimensionalen Strukturen, wie die von uns in dem Räume verzeichneten Bewegungsbahnen der Körper unvollkommene Projektionen ihrer Zeitganzheiten sind. Denn sie zeigten zwar, wo jeweils in sfeiner Fläche die bewegten Gebilde waren, aber nicht, wann sie sich bewegten, wann sie an jedem Punkte waren usw., zeigten also nur die
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Breiten-, nicht die Tiefenlage jeder Phase jener Strukturen. Anderseits könnte sich dieses Wesen an solchen Bahnen wie wir an den unseren die Entstehung höherer aus einer Bewegung niederer Manichfaltigkeiten veranschaulichen. Denn auch ihm wäre die Bahn eines Punktes eine Linie und deren Bahn eine Fläche, wenn sich die Linie ausserhalb ihrer eigenen Dimension bewegt. Dagegen könnte es sich einen Körper, den Balken, sahen wir, als Bahn seiner Fläche so wenig vorstellen, wie wir uns die vierdimensionale Zeit als Bahn unseres Raumes vorstellen können. Kurz unser Wesen verhielte sich allseitig so zu dem Balken wie wir zu der Zeit. Es kennte zwei Bewegungen, beide in verschiedener Grössenordnung, erstens als Nacheinander seine für uns allein wirkliche, ihm unsichtbare, nur gedanklich fassbare Bewegung durch den Balken und zweitens die vermeinte, ihm allein sichtbare der Metallflecke in seiner Fläche. Die zweite Bewegung ist für uns eine durch die Froschperspektive des Wesens bedingte Mißdeutung der ersten. Es setzt, da es seine Bewegung durch den Balken nicht gewahrt, die ihm gewahrbare Aenderung der Entfernungen zwischen ihm und den Nägeln, Drähten usw. als eine Bewegung ihrer Flächenschnitte an. Allgemein erklärt so die Bewegung jeder n—1-dimensionalen Phase durch eine n-dimensionale Manichfaltigkeit die scheinbaren Bewegungs- und Ruhezustände in der Froschperspektive dieser Phase. Das gilt auch für unseren Zeitbegriff. Er enthält erstens in höherer Größenordnung das Nacheinander als eine uns unsichtbare, nur gedanklich fassbare Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt und zweitens in niederer die uns sichtbaren Bewegungen in der Raumwelt. Die zweite Bewegung ist eine durch unsere Froschperspektive bedingte Missdeutung der ersten. Gedanklich setzen wir auch diese an. Aber wir gewahren nicht sie sondern Raumschnitte durch zeitweltliche Einzelstrukturen als ruhende oder bewegte Körper. Neben deren Ruhe oder Bewegung besteht für uns jene Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt. Aber die genügt. Beide Bewegungen zusammen sind Pleonasmus. Das Nacheinander jedoch erfordert beide. Denn es selber ist die Bewegung der Gegenwart durch die Zeitwelt Und in ihm spielen für uns Bewegungen durch die Raumwelt. Bewegung widerspricht sich. Es gibt keine. Sie besteht nur für die Gnoseologie einer Froschperspektive. Für die Vogelperspektive, in der Zeitwelt bewegt sich und ruht nichts. Mithin bewegt sich dort auch nicht die Gegenwart. Sie hätte da, sahen wir, schon keinen Relator, gegen den sie sich bewegte. Denn der müsste nacheinanderhaft sein. Und die ihr korrelative Zeitwelt ist nacheinanderlos. Darum 39*
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hat unser Nacheinander auch keine Geschwindigkeit. Für uns freilich hat es eine, das feste Uhrenmass relativ zu unserer wechselnden Erinnerungsschätzung der Zeitabstände. Aber die ist subjektiv. Ein objektiver Relator fehlt. Gleichwohl legen wir ihm auch aussenwirklich mit Bewegung Geschwindigkeit bei. Denn wir verkennen jene Subjektivität so wie die der Farben, Schälle, Gerüche in der Wahrnehmungswelt. Das Nacheinander ist eine stetige Scharung zeitlich unendlichkleiner Gegenwartsphasen, deren jede geometrisch und ontologisch gegen die anderen geschlossen ist. Denn geometrisch ragt der Raum keiner in ihre Vergangenheit oder Zukunft. Jede bleibt in sich. Und ontologisch halten wir zu ihrer Frist jede für alleinwirklich, alle anderen für unwirklich. Durch beides scheidet sich für uns jede Gegenwart von den anderen. Hierauf fusst unser Zeitbegriff. Ist daher Gegenwart auch aussen- oder aber nur bewusstseinswirklich, dann ebenso das Nacheinander. Für uns ist sie aussenwirklich. Dagegen spricht jedoch die Weltstruktur. Ihr sind Phasenscheidung und Gegenwart fremd. Denn geometrisch geht in der Zeitwelt als stetiger homogener Manichfaltigkeit alles nach allen Richtungen grenzscheidelos ineinander über. Erst wir teilen sie nach der Zeit in eine stetige Scharung gegeneinander geschlossener Phasen. Ebenso unbegründet ist das physikalisch. Denn Energie, Masse, Naturgesetze zeigen nicht zeitlich geschlossene Schnitte sondern ragen über diese hinweg aus deren Vergangenheit in ihre Zukunft, sind zeitlich ganzheitliche Längsstrukturen. Und diese, nicht ihre Querschnitte sind physikalisch ausgezeichnet. Es ist wie bei dem Balken. Auch der ist für das Flächenwesen eine stetige Scharung gegeneinander abgegrenzter Phasen. An sich sind in ihm geometrisch wie physikalisch weder diese noch anders gerichtete Phasen gegeneinander abgegrenzt. Und ausgezeichnet sind auch da nur Längs- nicht Querstrukturen. Ebensowenig Anhalt bietet die Weltstruktur für die Auszeichnung einer ihrer Phasen durch den Gegenwartszustand. Vielmehr sind diese essentiell als Vergangenheit und Zukunft so wie als» Gegenwart. Nur existentiell, ontologisch, als alleinwirklich hat jede für uns zu ihrer Frist Gegenwartsauszeichnung. Alle zusammen können diese nicht haben. Die Weltstruktur aber sagt nicht, jeweils welche sie habe. Sie tut das so wenig wie in unserem Gleichnisse die Balkenstruktur sagt, welche Phase dort jeweils Gegenwart des Flächenwesens sei. Für Zeitwelt wie Balken sind vielmehr alle Phasen gleichwirklich. Da ist keine bevorzugt, weder geometrisch noch physika-
Die Gegenwart
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lisch noch ontologisch. Darum streicht die Physik den Begriff Gegenwart aus der Welt. Der Weltstruktur zuwider entspricht der Aufbau des Nacheinander der Bewusstseinsstruktur und nur ihr. Seine Phasenscheidung waltet zwar kaum in der Darbietung des Bewusstseins, die wie Aussenwirkliches zeitlich grenzscheidelos sein dürfte, und nicht in der psychischen Kausalität, die über Phasenscharen hinweggreift, wohl aber in den allein eigentlich bewussten Erlebniseinheiten. Denn die sind nach der Zeit ontologisch auf infinitesimale Simultanschnitte beschränkt. Und zu zeitlicher Endlichkeit erweitern wir sie nur gnoseologisch durch Präsenzzeit, Erinnerung, Vorwegnahme. Wichtig ist hier das Gegenwartphänomen. Wir denken uns ein Bewusstsein wie das unsere aber ohne Aussenwirklichkeitsdeutung, mithin ohne Nacheinander. Es erfasse seine Darbietung in ontologisch auf sich beschränkten, gegeneinander geschlossenen, nach der Zeit unendlichkleinen Erlebniseinheiten, deren jede aber gnoseologisch auch von der zeitlichen Längsstruktur des Bewusstseins wisse. Gegenwärtig dh. anwesend wäre dann für jede Erlebniseinheit nur, was in ihr i s t Was in anderen ist, wäre für sie abwesend. Daher wäre für jede an ihrer Stelle nur ihr Bereich Gegenwart. Deren aller stetige Ordnung aber wäre ihre Zeit. Diese bedürfte hier keines Nacheinander. Denn hier beanspruchte keine Erlebniseinheit Alleinwirklichkeit. Darum könnten zeitlich hier alle nacheinanderlos Zusammensein. Deutete aber jede ihren Bereich immanenzontologisch, so würde aus dessen Ueberschneidungsbezirke bei jeder eine Wahrnehmungswelt. Damit erhielte die Gegenwart jeder neben dem psychologischen Merkmale der innerbewußten Anwesenheit noch das ontologische der aussenweltlichen Alleinwirklichkeit. Das nacheinanderlose Zusammensein von Erlebniseinheiten würde ein Nacheinander von Weltphasen. Wie dieses Bewusstsein ist das unsere gebaut. Es besteht ontologisch aus deutungslosen, gegeneinander geschlossenen, nach der Zeit unendlichkleinen Erlebniseinheiten, deren jede nur ihren Eigenbereich als gegenwärtig erlebt, und die einzeln wie an sich auch zusammen nacheinanderlos sind. Zu Weltgegenwart und Nacheinander führt auch bei uns erst die Immanenzontologie. Ist doch die Wahrnehmungswelt, die wir jeweils als Gegenwart ansprechen, transzendenzontologisch der umgedeutete Ueberschneidungsbezirk eben unserer Erlebniseinheit Daher ist wie die von uns erlebte Aussenwelt so die ihr von uns zugeschriebene Zeit ontologisch nur in unserem Bewusstsein. In dem aber ist fiktiv bewusst.nur das Ich, dessen Bewusstheit auf Zeitinfiniteumal« beschränkt ist. Erkannten wir daher früher, daß wir der
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Wahrnehmungswelt das Sein unseres Ich erteilen, so jetzt, dass wir ihr damit die zeitinfinitesimale Struktur unserer Ichbewusstheit geben. Auf der fusst das Nacheinander. In ihr ist Gegenwart primär die je von dem Ich erlebte Bewusstseinsphase, in der sich eine transzendente Zeitweltphase spiegelt. Erst sekundär wird daraus für uns eine alleinwirkliche Phase des Nacheinander als der stetigen Scharung aller so erlebten Weltphasen. Könnten wir diese Deutung abschalten, so erlebten wir nacheinanderloses Sein. Die Bindung der Gegenwart an Erlebniseinheiten bezeugt auch ihr Name Jetzt. Jetzt ist Gegenstück zu Hier. Wie Hier das ist, was zu allen Zeiten meioe Raumstelle hat, die zeitlich unendliche Weltlinie meines jeweiligen Ortes, so Jetzt das, was an allen Raumstellen meine Zeitstelle hat, die räumlich unendliche Weltphase meiner jeweiligen Erlebniseinheit. In wechselseitiger Ergänzung bestimmen beide eindeutig meinen Weltort und nur ihn. Ohne mich haben sie keinen Sinn. Denn so wenig es Gegenwart räumlich als Hier, so wenig gibt es sie zeitlich als Jetzt ohne einen, dessen Gegenwart sie ist. Vielmehr sind Hier und Jetzt als Demonstrativa wesenhaft auf ein Ich bezogen, erst durch dieses definierbar. Jetzt heißt wie Hier Gegenwart. Darum ist nur durch ein Ich bestimmbar, welche Zeitphase jeweils. Gegenwart sei. Transzendenzontologisch sind Erlebniseinheit, Wahrnehmungsweltphase, Gegenwart individualbegrifflich dasselbe. Deshalb ist allgemeinbegrifflich das Erlebtheitsgepräge der Gegenwart zugleich das Immanenzgepräge der Wahrnehmungswelt. Beide enthalten denselben Widerspruch. Denn beide sind transzendenzontologisch nach ihrem Sein als bewusstseinswirklich von uns abhängig, immanenzontologisch nach ihrer Bedeutung als aussenwirklich von uns unabhängig. Wie das Grün und das Rauschen des Waldes so ist uns daher Gegenwart immanenzontologisch zwar Weltphänomen, aber denkbar nur mit ctinem, der sie erlebt. Und da transzendenzontologisch beides nur in Erlebniseinheiten ist, so ist eine Frage wie die, ob es vor dem Auftreten vonBewusstsein keine Gegenwart gegeben habe, nach ihm keine geben werde, von eben der Art wie die, ob der Wald nicht grüne und rausche, wenn es keiner sehe und höre. Immanenzontologisch müsste beides der Fall sein. Transzendenzontologisch aber sind Grün, Rauschen, Gegenwart nur bewusstseinswirklich und weder mit noch ohne uns aussenwirklich. Dagegen sind die dadurch repräsentierten transzendenten Befunde aussenwirklich. Mit ihnen verwechseln wir die immanenten. Immanenzontologisch war von den drei Merkmalen Alleinwirk-
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lichkeit, Dreidimensionalität, Erlebtheit das dritte für die Gegenwart nicht konstitutiv. Denn ist diese außenwirklich da, so auch ohne Erlebtheit. Transzendenzontologisch aber ist Erlebtheit ihr primäres Merkmal. Denn aus Erlebtem erdeuten wir die Dreidimensionalität, aus der die Alleinwirklichkeit der Gegenwart und aus dieser das Nacheinander. Auf der Erlebtheitsgrundlage überbauen Weltgegenwart und Nacheinander immanent die transzendente Zeitstruktur des Bewusstseins. Man könnte einwenden, fremde Iche seien keine immanenten Spiegelungen. Sie gehörten wie das unsere zu der transzendenten Welt. Trotzdem hätten sie mit uns dieselbe Gegenwart. Dies beweise deren Außenwirklichkeit. Aber es bewiese nur, daß solche Iche in der transzendenten Welt mituns\üeselbe geometrische Zeitlage haben und daher dieselbe Zeitweltphase wie wir als Gegenwart ansprechen. Darum können wir kausal mit ihnen verkehren. Nicht aber bewiese es, daß diese Phase in der Aussenwelt ontologisch als Gegenwart ausgezeichnet sei. Jede Gegenwart währt ontologisch eine unendlichkleine Zeit. Psychologisch aber glauben wir in jeder eine endliche Zeitstrecke zu erleben, die Präsenzzeit. So heisst die jeweilige Zeit des soeben Vergangenen, insofern sie für uns noch eine Einheit mit der Gegenwart bildet. Nicht zu der Präsenzzeit dagegen gehört das jeweils sogleich Zukünftige. Denn das ist uns dann nicht präsent, weil noch unbekannt. So ist uns, hören wir den letzten Buchstaben des Wortes Präsent, zwar dessen letzte Silbe, nicht aber schon die erste des folgenden Wortes präsent. Alles uns Erlebbare spielt in solchen rückläufigen Präsenzzeiten, deren Dauer unter anderem von der Beschaffenheit des präsenzzeitlich Erfaßten abhängt. Diese Präsenzzeit hält für uns sinnfällig zusammen, was kraft des Nacheinander in unendlichviele Infinitesimale zerfiele, von denen jeweils nur eines wirklich wäre, das wir wegen seiner unendlichen Kleinheit nicht erfassten. Vielleicht kommt man dem Wesen der Präsenzzeit durch folgende Erwägung näher. Zwischen Beginn und Ende jeder noch so kleinen endlichen Zeitspanne liegen, da diese stetig ist, in der Aussenwelt und, wie wir annehmen wollen, auch in der Darbietung des Bewusstseins unendlichviele Simultanschnitte. Wir aber erfassen von ihnen unstetig nur einzelne und ergänzen uns präsenzzeitlich den Rest aus den Nachwirkungen des in den Zwischenzeiten ebenfalls Dargebotenen, zu seiner eigenen Frist jedoch nicht von uns Erfassten. Dies erklärt sich schon daraus, dass wir eine gewisse Zeit brauchen, tun etwas innezuwerden. Wir ¿Hassen dann das in ihr Dargebotene als präsenz-
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zeitliche Ganzheit, das sich indes wieder Ansammelnde als eine neue usf. So rückt, während die Darbietung als Sachverhalt niederer Ordnung stetig weitergeht, ihre Erfassung als Sachverhalt höherer unstetig von Spanne zu Spanne in präsenzzeitlichen Quanten vor. Das gilt aber nur von unserer Erfassung der Zeit, nicht von dieser selber. Denn die intermittiert für uns nicht. Sie hat keine Präsenzzeiten sondern gilt uns als stetig und jeweils in nur einer Phase gegenwärtig. Die Präsenzzeit betrifft also, wie schon ihre von Fall zu Fall verschiedene Dauer zeigt, nur das Innewerden der Zeit, unser Erkenntnismittel, nicht den Erkenntnisgegenstand, die jeweils von uns gemeinte Zeit selber und daher auch nicht deren Begriff. Psychologisch dh. so, wie sie uns bewusst wird, erscheint die Präsenzzeit als einheitliches Ganzes. Aber in sie gehen verschiedene Komponenteq ein, ontologische und gnoseologische. Das ist bei längeren Präsenzzeiten offenkundig. Säge ich Präsent, so dauert bei meiner Erfassung des t die von s, e, n noch an. Ontologisch aber sind diese, ja ist selbst das t, dann nicht mehr da. Und auch gnoseologisch verlege ich s, e, n aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Daher ist das so Erfasste für mich erstens vergangen. Denn seine Darbietung ist weg. Und zweitens gegenwärtig. Denn seine Erfassung ist da. Jeweils ontologisch da ist demnach in einer Präsenzzeit nur, wfLS zu der Erlebniseinheit gehört, in der sie erfaßt wird, ein zeitliches Infinitesimal. Gnoseologisch in ihr gemeint ist das dann Vergangene, dessen präsenzzeitliche Nachwirkung wir erfassen, eine zeitliche Endlichkeit. Ontologischer Faktor der Präsenzzeit ist ihr Träger, die Bewusstheit des sie erfassenden Ich. Die ist, weil rein ontologisch, nacheinanderlos. Gnoseologisch aber erfasst sie in je einem Zeitinfinitesimale das Sein nacheinanderhaft. Und präsenzzeitlich erfasst sie in deren jedem eine Spaftne der Vergangenheit. Selber aber ist sie dann gegenwärtig, nicht vergangen. Sonst wäre ihre Vergangenheit als deren eigene Zukunft in der Gegenwart. Das widerspräche sich. Mithin hat die Bewusstheit des Ich keine präsenzzeitliche Ausdehnung sondern besteht jeweils in dem Infinitesimale einer Gegenwart. Und entsprechendes gilt von ihren Akten. Die sind zwar zeitliche Ganzheiten. Aber in dem Nacheinander ist von ihnen jeweils nur ein Infinitesimal wirklich. Will ich daher in sogenanntem Selbstbewusstsein die Akte meines Wollens, Aufmerkens, Zweifeins usw. erfassen, so greife ich präsenzzeitlich in ihre soeben verstrichene Vergangenheit und vergegenwärtige sie, soweit das möglich ist, gnoseologisch. Demgemäß sind alle Ichgebilde ontologisch wie aus den uns bekannten anderen Gründen so auch wegen ihres nur infinitesimalen Gegenwartscharak-
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ters zwar erlebbar, aber nicht für unser inhaltliches, auf endliche Ganzheiten angewiesenes Bewusstsein erfassbar. Für dieses stehen in Präsenzzeit zunächst unsere Inhalte. Wir erfassen sie in Deutungserfüllung. Braucht nun theoretisch, wie geschildert, jede Erfassung eine Zeit, so sind unsere Inhalte, wenn wir sie erfassen, ontologisch schon vergangen und liegen zeitlich in kleinstemMasstabe so hinter der Bewusstheit des Ich wie in grösstem unsere Schau der Sterne hinter dem astronomischen Geschehen. Gegenwart ist dann jeweils die Phase nur des erfassenden Ich, keine der erfassten Inhalte, auch deren präsenzzeitlich letzte nicht. Genaue Selbstbeobachtung bestätigt dies. Geläufiger aber ist der ungenaue Eindruck, jene Inhalte seien mit dem sie erfassenden Iche gleichzeitig. Präsenzzeitlich wie anwesende Inhalte erfassen wir auch abwesende Gegenstände. Denn auch deren Erfassimg dauert. Doch sind die Gegenstände selber, da jeweils abwesend, für unser Thema unerheblich. Ihre Zeitverhältnisse sollen uns, soweit sie problematisch sind, noch beschäftigen. Darum übergehen wir sie hier und stellen zusammenfassend fest, da nicht aus sich ist, aus anderem. Dies implizieren für das Weltsein die profanen Begriffe Gegeben, Getragen, Gehalten, Geworfen. Sie besagen, dass das so Seiende sein Sein empfängt, da es sich dieses nicht selbei gibt. Darin sind sie ohne Wollen und Wissen ihrer Benutzer supranaturalistisch. Denn sie implizieren als Passiva das, was aktiv gibt, trägt, hält, wirft. D e r Profanwissenschaftler expliziert das nicht, oft absichtlich nicht. Denn dazu müsste er den Welthorizont überschreiten. Und das will er nicht. In diesem aber ist er auf ontische Passivität beschränkt. Darum nimmt er jene Passiva nur passiv und verschweigt das zu ihnen gehörende Agens. A b e r dadurch beseitigt er dieses nicht. E r bejaht, ob er es wahr haben will oder nicht, mit jenen Begriffen Gott. Nur sind diese sachwidrig. Denn Geben, Tragen, Halten, W e r f e n sind Kausalvollzüge in bereits seiender Welt. Sie implizieren ein Schonvorhandensein des Gegebenen, Getragenen, Gehaltenen, Geworfenen. Und Gegeben impliziert außerdem einen schon daseienden Empfänger. Dagegen wird in ontischem Vollzuge dies alles erst geschaffen. W e l t und Empfänger sind nicht schon da. Schaffen ist nicht Geben, Tragen, Halten, Werfen. D e r Begriff Schöpfung ist hier der durchdachtere und der allein sachgemäße. E r bezeichnet im Unterschiede zu essentieller Abhängigkeit eines Vorhandenen von einem anderen die existentielle Abhängigkeit eines Seins von dessen Schöpfer und weist auf diesen hin. Aehnlich steht es mit dem Begriffe der ontischen Zufälligkeit der Welt. E r ist profan. Darum b e a c h t e t er nur das Zufallen, ohne zu fragen, woher es fällt. Die theologische Ontologie fragt danach. Und damit überwindet sie diese Zufälligkeit. Denn wie ein uns zufällig erscheinendes essentielles Geschehen dies meist nur in engem Horizonte, jenseits seiner aber begründet ist, so ist für den Christen existentielles Weltsein nur in dem Welthorizonte zufällig, jenseits seiner aber begründet in Gott. Zufällig erscheint es nur dem, der das verkennt. Gottbezogen ist es nicht zufällig. Denn G o t t schafft es. Somit ist ontische Zufälligkeit S a c h e der Horizontweite und Kennwort für Unglaube oder Glaube. F ü r den engeren profanen Horizont ist alles Weltliche ontisch zufällig, für den weiteren christlichen nichts, Gottsein nicht, weil a se, Weltsein nicht, weil a Deo, ideelles Sein nicht, weil a nobis. Es gibt dann nichts ontisch Zufälliges.
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Abwegig endlich ist die Lehre, wie die Welt zufälliges Sein, so habe Gott notwendiges. Er müßte dann sein. Das wäre Sein als Zwang, Ohnmacht, Gegenteil der Aseitas. Aber Notwendigkeit dieser Art, sahen wir einst, gilt nur für uns. Wir subjektiv müssen. Nicht mu(3 objektiv der Sachverhalt. Er muß für uns wegen seiner Identität mit unseren essentiellen Voraussetzungen über ihn. Die fehlen bei Existenz, Darum wäre notwendiges Sein Widersinn. Und nicht ist Gegenteil von Zufällig immer Notwendig. Zufälligkeit heisst Unbegründetheit von Seiendem, welche Art des Grundes auch fehle. Ihr Gegenteil ist Begründetheit. Ist diese logisch, dann ist es Notwendigkeit. Aber auch nur dann. Gegenteil ontischer Zufälligkeit ist bei Selbstbegründung Aseitas, bei Fremdbegründung Abalietas. Daher ist Gottsein nicht notwendig, sondern a se, und für den Christen Weltsein weder zufällig noch notwendig, sondern ab alio. Der Christ bezeichnet Gottsein als Ewigkeit, Weltsein als Zeit. Scheinbar temporal sind für ihn diese Begriffe ontisch. Ewigkeit heisst überweltliche Zeitüberhobenheit, ontische Freiheit, Aseitas. Zeit heisst, weil wir unseren Seinsbegriff in dem Nacheinander an unseren Zeitbegriff opfern, innerweltliche Zeitgebundenheit, ontische Abhängigkeit, Abalietas. Auf den hier dargelegten Erwägungen fußt der kosmologische Gottesbeweis e contingentia mundi. Eine Explikation des Schöpfungsbegriffes ist er der eigentlich ontologische. Denn er schließt existentiell von einem Sein auf ein anderes. Von ihm hängt der physikotheologische ab. Denn erst unter Voraussetzung jener existentiellen Abhängigkeit schließt dieser von dem essentiellen Bau der Welt auf den existentiellen Schöpferwillen Gottes. Der seit Kant ontologisch genannte des Anselmschen Proslogiums, der logisch von dem Begriffe Gottes auf dessen Sein schliesst, sollte demgegenüber begriffsanalytisch heissen. Er widerspricht sich, sahen wir einst. Ein Beweis aber ist auch der kosmologische nicht. Denn die ontische Zufälligkeit des Weltseins legt die Annahme seiner Geschaffenheit und damit eines schaffenden Gottseins zwar nahe, erzwingt sie aber nicht. Gott lässt sich rrur glauben, nicht beweisen. Für den Christen hängt Abalietas von Aseitas, die Schöpfung von dem Schöpfer, die Welt von Gott ontisch, existentiell, nach ihrem Sein selbst ab, nicht wie ein Weltbestand von dem anderen nur reell, essentiell, nach seinem Verhalten. Ontische Abhängigkeit der Welt selbst nenne ich metakosmisch im Unterschiede zu metaphysischer Abhängigkeit innerhalb der Welt. Metaphysisch ist das innerweltlich
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Transzendente, Weltwirkliche, das hinter dessen immanenter Erscheinung kausal mit dieser verbunden, aus ihr erschliessbar ist, das Ding an sich. Dagegen ist das überweltlich Jenseitige, Unerkennbare, Gott, mit dem wir ontisch, nicht kausal verbunden sind, metakosmisch. Denn es liegt jenseits der Welt selber, nicht wie das Ding an sich jenseits nur ihrer Erscheinung. Es übersteigt die Welt, fundiert ihre Realität, ihr Sein. Gott ist metakosmisch, nicht metaphysisch. Von der immanenten Erscheinung der Welt und ihrem transzendenten metaphysischen Felde handelt die profane Ontologie, von dem metakosmischen Felde jenseits ihrer die theologische. Die nietakosmische Abhängigkeit der Welt von Gott ist Gegenstand des Schöpfungsbegriffes. Er ist, wird sich zeigen, ontisch zu fassen, nicht temporal. Nun kennen wir innerweltlich nur Eine echte Schöpfung, die des Gedachten durch den Denker. Denn das ist der einzige Fall, wo in unserem Erfahrungsbereiche ontisch ein Sein, das gedachte, von anderem, dem des Denkers abhängt. Darum ist unser Schlüssel zu der metakosmischen Schicht des Christentums die Ideenontologie. Denn die handelt von jenem gedachten als einem geschaffenen Sein. Sie öffnet uns damit das Tor zu der Ueberwelt. Das leistete die Transzendenzontologie nicht. Denn das metaphysisch transzendente Ding an sich, von dem diese handelt, ist, sahen wir, welthaft, ungöttlich. Göttlich ist nur die metakosmische Aseitas. Die schafft für den Christen die Welt wie ein Denker das Gedachte. Insofern ähnelt der Schöpfungsglaube einem Idealismus. Aber der wäre hier ein überweltlicher, für den Gott in der Aseitas die Welt ontisch erschafft, kein innerweltlicher, für den der Mensch sie in der Abalietas gnoseologisch erdenkt. Also Analogon eines Idealismus, nicht selber einer. Und für den Christen ist dieser Quasiidealismus, wird sich zeigen, nur ein bildhaftes Modell der uns nach ihrem wahren Wesen unfassbaren Schöpfung. Deren Gegenstand ist die Welt. Darum ist das für uns geeignetste Bild einer Schöpfung die Dichtwelt. Denn die wird nach dem Vorbilde der unseren geschaffen, ja fiktiv mit ihr identifiziert. Aber nur fiktiv. Denn sie ist eine existentiell und essentiell andere. Das unterscheidet Dichtung von Geschichte. Der Historiker schafft nicht. Er schildert wirklich gewesene, von ihm ontisch unabhängige Vorgänge. Daher erkennt, irrt, berichtigt er. Der Dichter dagegen schafft. Er schildert von ihm selbst erdachte, als wirklich nur fingierte Vorgänge. Daher erkennt, irrt, berichtigt er nicht. Bei ihm ist richtig, was in Wirklichkeit unrichtig ist, und umgekehrt. Dass er mit dieser seine Dichtwelt identifiziert, ist Fiktion. Sie ist seine Schöpfung und
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könnte von ihm wie andere menschliche Gedankenwerke auch frei und anders als unsere Welt erdacht sein. Der Dichter bestimmt aus vielen möglichen Ideen einige für die Dichtwelt. Sein: Es sei! verleiht ihnen Dichtungsein, ist ihr complementum possibilitatis, dichterischer Schöpfungsakt. Ebenso ist nach dem christlichen Schöpfungsbegriffe für alles vor Gott Mögliche sein: Es sei! das complementum possibilitatis, das ihm Weltsein verleiht, göttlicher Schöpfungsakt. Die essentia der Welt ist dann ihre possibilitas. Und deren complementum ist ihre existentia. Ideisierende Gnoseologie erzeugt durch essentielle Denkvorgänge stets und in Dichtungen besonders offenkundig ideelle Pseudoexistenzen. Reelles Dichten dort erzeugt eine ideelle Dichtwelt hier. Eine causa secunda in dem wirklichen Felde wird kraft Gnoseologie causa prima für ein gedachtes. Energetik wird Ontik. Darum kommt für die Dichtwelt selber in derem Horizonte gesehen ihre eigene Existenz aus dem Nichts. Denn für sie kommt alles in ihr aus ihr selber. Sie aber ist, ohne irgendwoher aus ihr selber zu kommen, wie für uns die wirkliche Welt einfach da, Sie kommt da aus dem Nichts. Alles Geschaffene ist so. Denn es hat sein eigenes, von dem des Schaffenden und allem anderen verschiedenes Seinsfeld, aus dem es selber nicht kommt. Das unterscheidet die existentielle Geschaffenheit solcher Felder von allem essentiellen Wandel zB. auch dessen, was in ihnen selber vorhanden ist. Aber jenes Nichts ist nichts nur relativ zu dem ontischen Horizonte des jeweils Geschaffenen, nicht ablolut, nur ein Nichtweltsein. Bei Gott ist es etwas. So steht es für den Christen mit der Schöpfung auch unserer Welt aus dem Nichts. Für ihn schafft wie der Dichter die Dichtung aus seinem Menschsein so Gott die Welt aus seinem Gottsein. Und wie jener dabei nichts von seinem Sein an die Dichtung verliert, da Dichten essentiell ist, nicht existentiell, so Gott nichts von dem seinen an die Welt. Die hat ihr anderes Sein, geschaffenes. Darum sind Weltbestände so wenig von Gottes Sein wie erdichtete von dem des Dichters. Sie sind aus dem Nichts geschaffen, heißt: Schaffen impliziert, weil Erzeugen von Existenz aus Essenz, ohne Seinsverlust einen Sprung aus dem schaffenden Seinsbereiche in einen existentiell neuen, mit dem des Schöpfers unvergleichbaren, den geschaffenen. Das gilt auch für die göttliche Schöpfung. Denn wie gedachtes Sein anderer Art ist als wirkliches, so ist die geschaffene Abalietas der Welt anderer Art als die schaffende Aseitas Gottes. Und neu ist der geschaffene Bereich auch essentiell. Quantitativ neu. Denn in allem Schaffen ist für dieses die Menge des Geschaffenen belanglos. Die
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Schöpfung unendlichvieler unendlichgrosser Welten bedarf keines grösseren Aktes als die nur Einer unendlichkleinen. Auch darum kommt für das Geschaffene es selber aus dem Nichts. Und qualitativ neu. Denn Dichtwelten zwar denken wir wie die unsere. Aber wir denken auch Anderes, mit dieser Unvergleichbares. So andersartig schafft für den Christen Gott die Welt. Er ist mit deren Sein, Größe, Beschaffenheit unvergleichbar, aus diesen unerschließbar. Gott schafft für den Christen die Welt mit ihrer ganzen Fülle wie, werden wir sehen, auch der Dichter die Dichtwelt mit der ihren in nur Einem Akte. Was dort eine Unendlichkeit ist, ist hier dieser Akt. Dadurch erhalten die von Nicolaus von Cues geprägten Begriffe coincidentia oppositorum, complicatio und explicatio der Welt, sachlich alles Gut der Mystik, eine eigene Deutung. Denn wie die Fülle und Unendlichkeit einer Dichtwelt explicatio jenes Einen Dichtungsaktes ist, aus dem sie hervorgeht, ohne in ihm so wie in der Dichtwelt vorhanden zu sein, da vielmehr diese in jenem Akte als dem Schöpfungsnichtse eine Einheit ist, deren complicatio und coincidentia oppositorum die erdichteten Gestalten nicht begreifen können, weil sie mit ihrer Dichtwelt inkommensurabel ist, so steht es für den Christen mit der Welt. Wir kennen diese nur welthaft in explicatio. Ihre unweithafte complicatio, die coincidentia oppositorum suorum, ihr Beigottsein, der Akt ihrer Schöpfung, ist uns unbegreifbar. Denn er ist inkommensurabel mit Weltbegriffen. Uns scheint es selbstverständlich, daß es nur unsere Welt gibt. Denn für uns muss in deren räumlicher Unendlichkeit alles Wirkliche irgendwo, in ihrer zeitlichen irgendwann sein. Ist doch das Seinsfeld unserer Welt ihre Manichfaltigkeit, also für uns die Raumzeit. Die ist unser ontologischer Horizont. Aber Horizonte sind, weil subjektiv, für das, was jenseits ihrer ist, belanglos. Und objektiv ist es weder aus dem Sein noch aus der Beschaffenheit der Welt begründbar, daß es nur sie und jenseits ihrer nichts gebe. Es sind vielmehr noch andere Welten möglich. So wie wir würde auch eine erdichtete G e stalt meinen, es gebe nur ihre in Raum und Zeit unendliche Dichtwelt, und alles Wirkliche sei dort irgendwo und irgendwann. In Wahrheit aber gibt es so viele Dichtwelten wie Dichtungen und dazu die wirkliche der sie dichtenden Dichter. So könnte es auch mit der unseren stehen. Sie könnte einen Schöpfer haben. Und hat sie ihn, gibt es Gott, so dürfte er nach seinem Wesen, dem Wesen des Schaffens und dem allgemeinen Walten des Infiniten, aus dem, wie wir sahen, das von uns finit erfasste nur Ausschnitt ist, unendlichviele Welten schaffen, nicht nur unsere. Setzt doch schon arithmetisch
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Eins die Unendlichkeit der Zahlen an. Darum dürfte es, gibt es unsere eine Welt und besteht für deren Alleinwirklichkeit kein Grund, dann unendlichviele geben. Die wären dann ohne raumzeitliche Verbindung, so wie für uns die Dichtwelten ageometrisch voneinander und von unserer Welt getrennt. Und jede, fensterlos wie eine Monade, kennte nur sich. Aber als monas monadum umschlösse die schaffende Einheit Gottes sie alle. Darum wäre wie jede Dichtwelt nur mit dem Dichter, nicht mit dessen anderen Dichtungen so jede der unendlichvielen wirklichen Welten ontisch und unmittelbar nur mit Gott verbunden, nicht mit Gottes anderen Schöpfungen. Von denen wüssten sie nichts. Und wüssten sie etwas von ihnen, so bestünden sie für sie nur so wie für uns Dichtungen dh. nicht an sich aus eigenen sondern als Schöpfungen aus Gottes Gnaden. So sieht der Christ unsere Welt. Sie ist für ihn ontisch und unmittelbar nur mit Gott verbunden. Von anderen Welten wissen wir nichts. Denn schafft Gott diese, so von der unseren getrennt. Wir könnten daher von ihnen nur durch Gottes Offenbarung wissen. Sie bestünden nur für Gott, nicht an sich, also von sich aus nicht für uns. Man könnte einwenden, setze arithmetisch Eine Welt unendlichviele Welten an, so Ein Gott unendlichviele Götter. Aber für den Christen ist, sahen wir, im Unterschiede zu der nur mathematisch unendlichen Welt, die ontisch unendlichviele andere zuläßt, Gott ontisch unendlich, sv xzl räv. Umfasser alles Seins, neben ihm selbständiges Sein unmöglich, seine Einheit also seine Einzigkeit. Wie mengentheoretisch keine Menge neben der Menge aller Mengen so gibt es daher theologisch keinen Gott neben dem Einen, dem Schöpfer aller Schöpfungen, dem Inhaber der Aseitas. Denn gäbe es einen neben ihm, so nicht als anderen. Er gehörte als seiend zu dem ontischen rcäv, zu Gott. Sonach ist für den Christen alles Sein gottzugehörig, anderes unvereinbar mit Gottes Aseitas. Esse est Deus vel creatio divina. Da die Gestalten einer Dichtung nur von deren eigenem Sein wüssten, so erschiene ihnen dieses als einziges, und da es dort unabhängig von ihren Meinungen ist, als so wirklich und an sich wie uns das unsere. Jeder könnte da, Hesse der Dichter ihn so sprechen, sagen: cogito ergo sum, irrte aber, wenn er sein Sein für wirklich hielte. Denn es wäre erdichtet. Cogitare verbürgt nur Sein, nicht schon wirkliches. Es könnte auch ideelles, erdichtetes sein. Denn auch das existiert. Aber pseudo a se in dem eigenen Seinsfeld ist es außerhalb seiner ab alio. Daher könnte die erdichtete Gestalt mit gleichem Rechte sagem cogitor ergo sum. Ihr cogito wäre dann der Erkenntnisgrund ihres esse in dem erdichteten Seinsfelde, ihr cogitor
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der ontische in dem des Dichters. Mit uns steht es für den Christen ebenso. In der W e l t gilt für uns cogito, vor Gott creor ergo sum. W i e für uns das Weltsein so wäre für erdichtete Gestalten das ihrer Dichtwelt zwar von den da spielenden Meinungen unabhängig und insofern an sich, anderseits aber zufällig, gegeben, geworfen, ontisch ohnmächtig, nicht aus sich. Denn es wäre so nach Analogie des zufälligen Weltseins erdichtet. Doch hätte es solches Sein auch in Wahrheit, hätte es selbst dann, wenn der Dichter es als a se erdichtet hätte. Denn in Wahrheit wäre es von ihm gesetzt, also nicht a se sondern ab alio wie das wahre Sein aller Dichtungen. Gilt dies allgemein, so sind Seinsfelder, die in ihrem eigenen ontischen Horizonte an sich, aber nicht aus sich sind, jenseits seiner geschaffen und nicht an sich. W a h r e s Sein ist dann horizontfrei aus sich und für keinen Horizont zufällig. Die W e l t aber ist in dem ihren zufällig. Darum hat sie für den Christen kein echtes Sein, ist nicht aus sich sondern Schöpfung. Ihre Zufälligkeit deutet für ihn auf ihre Geschaffenheit. Zufällig ist sie für ihn daher nur in dem Welthorizonte wie eine Dichtung nur in ihrem erdichteten. Für Gott dagegen ist in der W e l t , da er sie schafft, sahen wir, wie für den Dichter in der Dichtwelt, da er sie dichtet, nichts zufällig. Und der Christ versteht die W e l t von Gott her. Ideelles gnoseologisches Sein von unseren Gnaden ist unwirklich gegenüber dem von uns unabhängigen reellen ontologischen. Aber es ist ein Sein. Es wird von uns, sahen wir einst, so gedacht, als wäre es dasselbe Eigensein wie das der W e l t und unseres. Es ist ein Etwas, kein Nichts. Sonst wäre es auch für unser Denken nicht. Seine Unwirklichkeit ist seine Abalietas, nur ein Nichtselbständigsein, kein Nichtsein. In seinem eigenen Horizonte erscheint es sich, sahen wir, als das einzige und ontisch selbständig. Denn da waltet nur es selber. Gleichwohl steht jenseits seines Horizontes hinter ihm unser ihm unbekanntes anderes reelles Sein, für das allein es besteht, von dem es geschaffen ist und ontisch abhängt. Somit ist ideelles Sein diesseits seines Horizontes wirklich, jenseits seiner unwirklich. Diese Doppelontik waltet in allen Schöpfungen. Darum erscheint sich für den Christen auch das Weltsein in seinem eigenen Horizonte als wirklich, ontisch selbständig und einzig. Denn da ist es nur es selber. J e n s e i t s seiner aber ist es für ihn trotz innerweltlicher Wirklichkeit unwirklich, ontisch unselbständig, ab alio und nicht einzig. Denn hinter ihm ist für ihn anderes, göttliches, wahrhaft wirkliches Sein, das der Aseitas. Nur durch das und nur für das besteht dann das Weltsein, ist von ihm so geschaffen und ontisch abhängig
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Ontologie
wie gedachtes Sein von uns. Heisst daher Abalietas Sein unter der Bedingung eines anderen, so ist ideelles Sein Abalietas gegen uns, a nobis, reelles Sein Abalietas gegen Gott, a Deo. Und wie vor uns jenseits ihrer eine Dichtwelt, so ist für den Christen vor Gott jenseits ihrer auch unsere Welt, so ansichseiend sie uns in ihrem Rahmen dünkt, in Wahrheit nur für Gott, geschaffen. Ihr Ansichsein wäre mit Gottsein inkompossibel. Wäre sie an sich, so wäre sie jenseits ihrer so wirklich wie diesseits. Ist sie aber nicht an sich, so ist sie unbeschadet ihrer innerweltlichen Wirklichkeit jenseits derer unwirklich und für andere Welten nicht da, so wie Dichtwelten unbeschadet ihrer Wirklichkeit in der Dichtung für uns unwirklich und für andere Dichtungen nicht da sind. Nur wenn unsere Welt so unwirklich ist, gibt es Gott. Denn entweder ist sie in dem uns geläufigen Sinne wirklich. Dann ist sie, weil ontisch selbständig, von Gott unabhängig. Gott ist dann nicht Gott, dh. er ist als Gott unwirklich. Oder Gott ist wirklich. Dann hängt von ihm die Welt ab, ist ontisch unselbständig und in dem bezeichneten Sinne ihrerseits unwirklich. Wer die Wirklichkeit der Welt behauptet, leugnet somit die Wirklichkeit Gottes. Und wer die Wirklichkeit Gottes behauptet, leugnet die Wirklichkeit der Welt. Die Welt besteht dann nur für iGott und von seinen Gnaden für bewusste Wesen in ihr, sonst nicht, so wie eine Dichtwelt nur für den Dichter oder Leser und von Dichters Gnaden für die erdichteten Gestalten, sonst nicht besteht. An sich, aus sich, wahrhaft wirklich ist dann nur Gott, er das einzige ens reale. Alles andere ist nur durch ihn und für ihn, ohne ihn nicht. Damit wird nicht die Wirklichkeit geleugnet, die wir der Welt innerhalb ihres Rahmens beilegen, wohl aber die ausserhalb seiner. Das klingt paradox, ist aber so unwiderlegbar wie unbeweisbar. Vergebens beriefen wir uns darauf, dass Dichtungswelten doch nur in dem Meinungsfelde des Dichters seien. Das ist richtig. Aber davon wüssten die erdichteten Gestalten nichts. Und für den Christen ist hintergründig auf dieselbe Weise ohne unser Wissen auch die Welt nur in dem Schaffemsfelde Gottes. Vergebens beriefen wir uns auf die handgreifliche Wirklichkeit unserer Welt. Das täten erdichtete Gestalten, liesse der Dichter sie so reden, auch für die Dichtwelt. Vergebens auf unser eigenes unmittelbares Erleben. Jene Gestalten erleben von Dichters Gnaden ebenso. Vergebens auf die Unwirklichkeit unserer Dichtungen. Das täten jene Gestalten auch mit den ihren. Für sie wären diese unwirklich, sie aber wirklich. Gleichwohl sind in Wahrheit auch sie selber unwirklich, erdichtet. Mit unserer
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Welt könnte es ebenso stehen. Denn dass diese auch jenseits ihrer selbst wirklich sei, was das objektive Charakteristikum ihres wahren Ansichseins wäre, das können wir nicht feststellen, da wir, in ihr stehend, sie nur in Gedanken, nicht wirklich übersteigen können. Es fehlt uns ein subjektives Kriterium für ihre Wirklichkeit. Die Welt wäre dann wie eine Dichtung Gottes. Und Dichtungen sind als ideelle Sachverhalte ausserhalb ihres Rahmens zwar unwirklich, aber, sahen wir soeben, nicht nichts, da wir sie denken. Sie haben kein wirkliches, aber ein Gedachtsein. So steht es für den Christen mit der Welt. Sie ist für ihn jenseits ihrer nicht nichts. Vielmehr ist sie da für Gott etwas. Aber nichts ist sie durch sich und ohne Gott. Alles, was sie ist, ist sie durch Gott und für Gott. Sie hat kein eigen- sondern ein gottständiges, kein wahrhaft wirkliches sondern ein Geschaffensein. Das ist das Wesen ihrer Abalietas, ihres Seins unter der Bedingung eines Alius, durch den und für den sie ist. Und wie Gott anders ist als wir, wie schaffende Aseitas anders als dichtende Abalietas, Beigottsein anders als Beidemdichtersein, so ist das Fürgottsein der Welt jenseits ihres Horizontes anders als das Fürunssein der Dichtwelt jenseits des ihren, Geschaffensein anders als Gedachtsein. Das unterscheidet überweltliche theologische Schöpfungslehre von innerweltlichem philosophischen Idealismus. Lässt in einer Dichtung der Dichter seinen Helden wieder dichten, so verhält sich dessen Dichtung zu ihm so wie er selbst zu seinem Dichter. Und wie sich erdichtetes Sein gegen unseres staffelt, so staffelt sich für den Christen unser welthaftes gegen das göttliche. In Richtung auf das Geschaffene ist diese Staffelung beliebig fortsetzbar. In Richtung auf den Schöpfer aber gibt es einen ersten, hinter den man nicht zurück kann, der allein an sich ist, und von dem die Gesamtstaffel als ihm gegenüber unwirklich in ontischem Abstiege abhängt. Das ist für die profane Ontologie der Mensch, für die theologische Gott. Und nur die ist ontisch einwandfrei. Denn grundsätzlich könnte dank der Zufälligkeit des Weltseins dieses selber und mit ihm der Mensch geschaffen sein. Dagegen ist Gott dank seiner Aseitas grundsätzlich ontisch letzthaft. Keine Existenz ohne Essenz. Mit dem Dasein der Welt ist ihr Sosein geschaffen. Also auch ihre Kausalität. Das wird für deren nacheinanderhafte Form dadurch undurchsichtig, daß diese selber ein Pseudoschaffen ist. Ihre echte Geschaffenheit wird dadurch verdeckt. Denn schafft für uns in dem Nacheinander jede vorangehende Weltphase kausal die folgende, und schafft Gott ontisch die Welt, so konkurrieren für uns zwei Schöpfungen. Die Geschaffenheit der
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Welt wird dann doppeldeutig. In der Zeitwelt aber, und nur die ist wirklich, nur sie besteht vor Gott, entfällt das Pseudoschaffen. Kausalität ist da, sahen wir, eine nacheinanderlose, essentielle Energiestiuktur nach der vierten Dimension. Darum ist ihre echte Geschaffenheit dort eindeutig. Aus der Logik dieser Struktur sind, nacheinanderlos wie nacheinanderhaft gelesen, innerweltliche essentielle Einzelheiten jeder Phase erklärbar. Deren existentielles Vorhandensein aber ist wie das der Welt aus dieser selber unerklärbar. Der Christ erklärt es aus ihrer überweltlichen ontischen Geschaffenheit. Erst unter deren Voraussetzung gibt es für ihn Kausalität. Er unterscheidet also zwischen innerweltlicher und überweltlich ontischer Bedingtheit. So stünde es auch in einer Dichtwelt. Für die erdichteten Gestalten wäre durch das in dem erdichteten Nacheinander spielende Pseudoschaffen der Kausalität die echte ontische Geschaffenheit der Dichtwelt selbst verdeckt. Dadurch würde diese für jene Gestalten, wüssten sie um sie, undurchsichtig, doppeldeutig. Durchsichtig und eindeutig wäre sie erst in zeitweltlicher Sicht. Essentiell erklärten sich für sie alle Einzelheiten jeder Phase aus der erdichteten Kausalstruktur. Aber deren existentielles Vorhandensein erklärte sich wie das der Dichtwelt nicht kausal aus dieser sondern ontisch aus ihrer Geschaffenheit durch den Dichter. Darum erscheint in Welt wie Dichtung kausal alles so, als gäbe es keinen Schöpfer. Ontisch aber steht dort wie hier er hinter allem. Nur in diesem Sinne ist für den Christen Gott Baumeister unserer Welt, nämlich ontisch wie ein Dichter der seiner Dichtung, nicht kausal wie ein Architekt der eines Hauses. Gott schafft dann die Welt samt ihrer Kausalität überweltlich und existentiell. Nicht bearbeitet er ein existentiell vorgegebenes Material innerweltlich und essentiell. Der kosmologische Gottesbeweis, der von dem Schöpfer spricht, verhält sich daher zu dem physikotheologischen, der von dem Baumeister spricht, so wie die Geschaffenheit des existentiellen Daseins zu der seines essentiellen Soseins. Er ist Voraussetzung und Rahmen des physikotheologischen. Auf den hier beschriebenen Sachverhalt gehen, der christlichen Doppelung zwischen Jenseits und Diesseits entsprechend, die Begriffe der jenseitigen causa prima und der diesseitigen causa secunda. Der Schöpfer ist die ontische causa prima. Er schafft existentiell, absolut, zeitüberhoben, überweltlich, daher uns unerkennbar, für uns hintergründig die Welt. In dieser wirkt die energetische causa secunda, die Kausalität essentiell, relativ, zeitlich, innerweltlich, daher uns erkennbar, für uns vordergründig. Die causa prima ist zu jedem Weltbestande unmittelbar. Denn sie fundiert ontisch dessen eigenes
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Sein. Die causa secunda nur mittelbar. Denn sie ist eine seiner Realbeziehungen zu etwas ihm ontisch Fremden. Und sie ändert nur die essentielle Beschaffenheit von Beständen. An deren ihr fremdes existentielles Sein kann sie nicht heran. Daher die Formel: existentia est, per quam aliquid est extra suas causas, nämlich secundas. Sie besagt: innerweltliche Ursachen ändern nur die Essenz des Seienden, seine Beschaffenheit. Dessen Existenz, sein Sein bleibt von ihnen unberührt. Es kann nur ontisch geschaffen oder vernichtet, nicht kausal betroffen werden. Daher als selbständig seiend auch die Substanz nicht. Der Satz von der Erhaltung der Weltsubstanz, ob Energie, Masse oder Raumzeit, ist somit auch ontisch begründet, nicht nur empirisch. Den Unterschied beider causae zeigt ihre Aktivität. Die causa prima schafft ein Sein, das es ohne sie nicht gibt. Sie schafft existentiell Substanzen, das in der Schöpfung selbständig Seiende. Die causa secunda ändert essentiell das in dieser schon Vorhandene, auch ohne sie Seiende, die Beschaffenheit der Substanzen. Also setzt die causa secunda die causa prima voraus. Nicht aber umgekehrt. Denn das Seiende hätte sein Sein auch ohne die causa secunda. Dagegen gibt es diese erst durch die causa prima. Und entsprechend steht es mit der Passivität beider. Das kausale Passivum hat d&sselbe Sein wie sein Aktivum, ist Seinesgleichen, kann ihm Widerstand leisten, ihm gegenüber selber aktiv werden. Das ontisch Passive dagegen, das Geschaffene ist durch das ontisch Aktive, seinen Schöpfer erst da, ist nicht Seinesgleichen, kann ihm keinen Widerstand leisten, ihm gegenüber nicht aktiv sein. Es ist creatura, nicht opus. Aus diesem Grunde ist für den Christen Gott als causa prima und Schöpfer der W e l t in ihr allmächtig. Denn ihre Geschaffenheit ist die Voraussetzung von allem in ihr. Das gehört zu ihrer Abalietas. Allmacht ist somit ein ontischer Begriff, kein kausaler. Sie ist als existentiell und überweltlich von jeder noch so unendlichen essentiellen, innerweltlichen Energie art-, nicht gradverschieden, grundsätzlich anders, schaffende, absolute, ontische, unvermehrbare, unverminderbare Macht der causa prima im Unterschiede zu der nur wirkenden, relativen, kausalen, zu- und abnehmenden der causae secundae, die es erst durch sie gibt. Ihr Gegenstück ist die absolute Seinsohnmacht der Geschaffenheit, die ontische Passivität des W e l t seins. Essentiell und vordergründig sind in diesem die causae secundae mächtig. Von Gottes Allmacht ist da nichts zu spüren. Die ist da verborgen. Denn sie ist extra causas mundi. A b e r existentiell schafft sie für den Christen als ontische causa prima hintergründig
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die Welt selbst mit aller ihrer Kausalität. Sie ist überweltlich sakral, nicht wie die causae secundae innerweltlich profan. Nur der Schöpfer hat sie. Geschaffenes, und wäre es kausal noch so energiestark, ist ihrer unfähig, ontisch ohnmächtig, untersteht ihr. Denn erst durch sie ist es. Ebenso geht in Dichtwelten alles kausal so zu, als gäbe es keinen Dichter. Von dessen ontischer Macht ist da nichts zu spüren. Aber ohne ihn wäre die Dichtung nicht. Seine ontische Allmacht steht über ihrem Sein. So steht für den Christen Gottes Allmacht über dem Weltsein. Auch über unserem eigenen. Denn das Machtverhältnis zwischen Gott und uns ist so einseitig wie das zwischen Dichter und erdichteten Gestalten. Essentiell gegen die causae secundae sind wir relativ mächtig, existentiell gegen die causa prima absolut ohnmächtig. Und mit dem Sein der Welt ist für uns auch das unsere unantastbar. Wohl können wir uns das Leben nehmen, wie wir es durch Empfängnis und Geburt erhielten. Aber Leben ist nur Zustand. Seine Substanz, das in uns selbständig Seiende dh. letzlich, sahen wir, sein Raumzeitbezirk ist unentstehbar, unvernichtbar, für uns unantastbar. Daher sind wir gegen dessen Substantialität, sein Sein, unser Weltsein ontisch ohnmächtig, absolut unfrei. Diese existentielle Unfreiheit unseres Seins gegen die causa prima besteht unbeschadet der essentiellen Freiheit unseres Tuns gegen die causae secundae. Denn sie liegt in ontisch anderer Ebene als diese, vertikal zu ihr als der horizontalen. Und wieder steht es ebenso in Dichtwelten. Denn da kann der Dichter die erdichteten Gestalten mit noch so großer essentieller Freiheit ausstatten, existentiell bleiben sie absolut unfrei. Sie können kausal gegen die Beschaffenheit der Dichtwelt an, nicht aber ontisch gegen deren Sein, den Dichter. So können wir kausal gegen die Beschaffenheit der Welt an, nicht aber ontisch gegen deren Wirklichkeit dh. für den Christen gegen ihren Schöpfer, gegen Gott. Und das liegt an dem Weltsein, nicht an dem Schöpfungsglauben. Denn das Sein der Welt ist mit wie ohne Gott unfrei. Darum sind wir ontisch immer Knechte, als Christen die des schaffenden Gottseins, der Aseitas, als Atheisten die des geschaffenen Weltseins, der Abalietas. Für Kant phänomenal unfrei, noumenal frei, sind wir für den Christen umgekehrt kausal, innerweltlich, vordergründig frei, dagegen ontisch, überweltlich, hintergründig unfrei, haben die Freiheit eines Christenmenschen, essentielles liberum arbitrium gegen die Welt und das davon artverschiedene existentielle servum arbitrium gegen Gott. Kausal mögen wir selbstherrlich sein. Ontisch ist nur Gott Herr, Herr der Welt, unser Herr, Herr von seinen, nicht
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unseren Gnaden. Die absolute Freiheit seiner schaffenden Aseitas gebietet über die absolute Unfreiheit unserer geschaffenen Abalietas. Causa secunda heißt diesseitige Determination, innerweltlich kausale Bestimmtheit in der Horizontale, causa prima jenseitiges Fatum, überweltlich ontische Bestimmtheit in der Vertikale. Demgemäß besagt Determinismus: alles in der Welt, auch unser eigenes Tun stammt essentiell aus den causae secundae. Er betrifft als areligiöser Glaube an die Unverbrüchlichkeit profaner Kausalität unser liberum arbitrium gegen die Schöpfung. Von ihm spricht in dem Welthorizonte die Naturwissenschaft. Er ist neuzeitliche, explizite, theoretische Vermutung Intellektueller. Denn unser praktisches Bewußtsein spricht gegen ihn. Es erklärt uns für kausal frei. Erst für Wissenschaftler gibt es Determinismus. Fatalismus besagt demgegenüber: die Welt selbst stammt existentiell aus der causa prima. Er betrifft als religiöser Glaube an die Ewigkeitsbestimmtheit sakraler Schöpfung unser servum arbitrium gegen Gott, ist altes Völkergut und stammt aus praktischer Begriffsbildung, nämlich unserem impliziten Wissen um die ontische Geworfenheit des Weltseins, seine Zufälligkeit, deren Bedeutung von der Profanwissenschaft beiseite geschoben wird, weil sie außerhalb ihres Horizontes liegt. Von ihm spricht aus dem Standorte überweltlicher Horizontfreiheit die Theologie. Er besagt, daß die Welt und alles in ihr unbeschadet unserer innerweltlichen kausalen Freiheit Gottes Wille, Fatum ist, Gott die Welt auch nicht oder anders und uns in ihr zu anderer Zeit, an anderer Stelle, unter anderen Bedingungen, mit anderen Eigenschaften hätte schaffen können. Denn darüber, daß die Welt da und so ist, wie sie ist, verfügt weder sie selbst noch jemand in ihr. Das ist für den Christen überweltlich bestimmt, Fatum. Darum ist für ihn alles in der Welt kausal natürlich, ontisch aber übernatürlich. Denn aus ihr selbst erklärt sich nur ihre Beschaffenheit, nicht ihr Sein. Das ist extra causas mundi, akäusal, ontisches Wunder. Nun gilt, sahen wir, die Erklärungsfunktion der Kausalität, weil an das Nacheinander gebunden, nur für uns. An sich, in der Zeitwelt sind stattdessen Weltkörperstrukturen. Die erklären nichts. Sie bedürfen selbst der Erklärung und zwar ontischer. Dann aber ist kausale Erklärbarkeit in der Welt nur Schein, in Wahrheit aus ihr nichts erklärbar, alles ontisch, ein Seinswunder. Und verstehbar ist dieses nur durch Ueberweltglauben. Darum glaubt der Christ an göttliche Fügung trotz der Naturgesetze. Sie waltet für ihn in deren Ontik. Alles verläuft für ihn kausal, ist aber ontisch so von Gott gefügt. Der lenkt die Welt. Aber ontisch durch die von ihm geschaffenen Naturgesetze,
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nicht kausal gegen sie. Es kommt alles so, wie es kommen soll, sagt das Volk. Damit meint es die göttliche Ordnung des Fatums über und hinter der welthaften Kausalität der Determination. Gott schafft nacheinanderlos, zeitlos, ewig. Wir aber erleben die Welt nacheinanderhaft, zeitlich. Darum impliziert für uns der Fatalismus mit der Unterscheidung zwischen Zeit und Ewigkeit auch die zwischen Nacheinander und Zeitwelt. Unserer nacheinanderhaften Weltansicht, für deren jeweilige Froschperspektive wir die Welt nach der vierten Dimension als ein ontologisches Nichtzusammen erleben, als aufgelöst in eine stete Folge von Seinsphasen, unter denen jeweils nur eine, die Gegenwart, wirklich ist, die vergangenen und künftigen unwirklich sind, tritt hier die ewige gegenüber, für deren Vogelperspektive die Zeitwelt als das nacheinanderlose Zusammen aller ihrer Phasen zeitlos vor Gott steht. Das gilt auch für unsere Kausalfolgen. Sie sind zeitweltlich, sahen wir soeben, nacheinanderlose, essentielle, vierdimensionale Strukturzusammenhänge. Indem der Fatalismus diese aus der Froschperspektive mit den Kategorien des Nacheinander zu begreifen versucht, erscheinen sie ihm für die jeweilige Zukunft als deren Vorbestimmtheit. Denn zeitweltlich, vor Gottes Ewigkeit scheint, da sie die ganze Zeit umfaßt, von uns aus gesehen alles, was geschieht, für die jeweilige Zukunft schon so bestimmt, wie es für uns Vergangenheit und Gegenwart sind. Das ist unser menschliches, nacheinanderhaftes Mißverständnis der Lehre von der göttlichen nacheinanderlosen, ewigen Weltbestimmtheit. Fatum scheint dann aus drei Gründen Freiheit auszuschließen. Denn erstens scheint uns diese nur möglich bei leerer Zukunft. Erfüllte scheint uns vorbestimmt. Und vor Gott, in der Zeitwelt ist sie erfüllt. Darum scheint uns Freiheit da unmöglich. Doch ist das ein Missverständnis. Denn leerer Zukunft bedarf Freiheit nur für uns in dem Nacheinander, nicht an sich in der Zeitwelt. In der ist sie eine bewusstseinsbedingte, nacheinanderlose, essentielle Energiestruktur nach der Zukunftrichtung unseres vierdimensionalen Zeitweltkörpers. Nur so ist sie wirklich. Und so ist sie für den Christen vor Gott. Ob leer aus der Frosch- oder erfüllt aus der Vogelperspektive gesehen, unsere Zukunft ist dieselbe. Unsere Freiheit bleibt davon unberührt. In Zusammenhang damit betrifft der zweite Einwand die beschriebene vermeintliche Vorbestimmtheit der Zukunft. Denn hat Gott diese bestimmt, meint man, so bestimmen nicht wir sie. Doch ist auch das ein Missverständnis. Fatum bestimmt nichts vor. Gott kennt kein Vor. Er schafft die Zeit nach allen ihren Dimensionen von Ewigkeit her in Einem Akte. Und wir erleben diesen als unend-
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liches Nacheinander. Daher schafft Gott die Welt zwar an sich zeitlos, nacheinanderlos, für uns aber in jedem unserer Zeitinfinitesimale nacheinander. Mithin bestimmt uns seine Schöpfung nichts vor sondern wie alles an seiner Stelle so nach unserer vierten Dimension alles zu seiner Zeit dh. für uns zu unserer dann, wenn wir sie erleben. Dann aber sind in der Schöpfung wir selber essentiell mitbestimmende kausale Faktoren, für G o t t ewige, für uns nacheinanderhafte. Der dritte Einwand betrifft die Vollständigkeit der Schöpfung. Auch sie scheint Freiheit auszuschließen. Denn, so könnte man argumentieren, wohl sei existentielle Seinssetzung durch die causa prima aaders als essentielle Beschaffenheitsänderung durch die causae secundae. A b e r mit Existenz sei auch Essenz, mit dem Dasein der W e l t auch ihr Sosein in allen Einzelheiten nach allen Dimensionen geschaffen. Dann aber bleibe für die causae secundae und also für unsere Freiheit kein Raum. Schaffe Gott in der Vertikale alles, so habe die Horizontale keine Aufgabe. Doch ist auch das ein Irrtum. Denn wohl ist für den Christen alles Weltgeschehen, auch sein eigenes Tun, Fatum. A b e r für ihn schafft Gott in der Vertikale die W e l t so, daß in deren Horizontale Energiezusammenhänge walten, eines an dem anderen hängt, mithin in unserem B e r e i c h e auch an uns und unserer Freiheit. Denn unser Leben ist bewußte Energie. Daher ist für ihn, was wir nacheinanderhaft als Wirksamkeit der causae secundae erfassen, mitsamt unserer freiheitsbedingten eigenen, zeitweltlich und vor Gott jener Energiezusammenhang nach unserer Zukunftrichtung. Der und unsere innerweltliche Freiheit gehören zu der Schöpfung. Und das ist so mit wie ohne Gott, für den Christen wie für den Atheisten. Denn auch für den ist alles in der W e l t existentiell, ontisch absolut passiv, essentiell, kausal relativ aktiv wie passiv. Das Problem der essentiellen Freiheit bei existentieller Unfreiheit entsteht also nicht erst mit dem Schöpfungsbegriffe. Es gehört zu dem Weltsein als solchem. Der Fatalismus führt da nichts ein, was ohne ihn nicht bestünde. Nur ist für ihn die bestehende, sonst unerklärbare ontische Unfreiheit der W e l t unbeschadet ihrer Eigenenergetik und unserer Freiheit gottbedingt, Schöpfung. Demnach gibt es Freiheit mit wie ohne Fatum. Gott schafft a se existentiell und ontisch aus der Ueberwelt. Die Geschöpfe wirken per se essentiell und kausal unfrei wie frei in der Welt. In die greift Gott kausal so wenig ein wie ein Dichter in die Dichtung. Daher ist wie die Ontik der causa prima e x t r a causas secundas so deren Energetik unter Vorbehalt ihrer Geschaffenheit e x t r a causam primam. Sie spielt nur innerhalb der Schöpfung. Und da sind wir keine Mario-
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netten Gottes. Denn die führt man an Drähten kausal unfrei. Wir aber führen uns selber, handeln in unseren Grenzen kausal frei. Gott führt uns nicht kausal in der Welt. Unfrei gegen ihn sind wir nur ontisch. Und so ontisch unfrei ist auch unsere kausale Freiheit. Frei sind wir darin, wie wir sie gebrauchen, nicht aber darin, daß wir sie auf der Welt haben. Für den Christen bestimmt sonach der Schöpfer in der Schöpfung essentiell alles durch sie selber, also auch durch uns und unsere Freiheit, jedes an seiner Stelle. Kausal sind wir für ihn trotz ontischen Fatums relativ frei, ontisch auch bei grösster kausaler Freiheit absolut unfrei. Kausal hätten die Energetiker recht, für die es nur Energien, ontisch die Occasionalisten, für die es nur Schöpfung gibt. J e n e sehen als Naturwissenschaftler nur das Innerweltliche des Geschehens, diese als Theologen nur das Ueberweltliche. J e n e vernachlässigen die Geschaffenheit der Welt, diese ihre Realbeziehungen. Der Christ beachtet beides. Für ihn haben wir innerweltlich Perseitas, aber keine Aseitas, energetische, aber keine ontische Selbständigkeit. Kausal heißt es: agimur et agimus, ontisch: creamur. Nun geht unser Weltleben auf das Kausale. Denn da entscheiden wir selber. Da liegt unsere Aufgabe, unsere Verantwortung. Darum erfüllt innerweltliche Energetik unseren Alltag, den subjektiven Geist. Erst jenseits dessen erwachen mit Glauben und Seelenleben die über die Welt hinausführenden Fragen, auch die des Fatums. Weil voneinander verschieden, sind Fatalismus und Determinismus auch voneinander unabhängig. Eine kausal undeterminierte Welt könnte ontisch von ihrem Schöpfer abhängen, eine kausal determinierte ontisch ungeschaffen sein. Man kann daher Fatalist sein, ohne Determinist, Determinist, ohne Fatalist zu sein, an kausale Freiheit in geschaffener, ontisch bestimmter, an kausale Unfreiheit in ungeschaffener und, gäbe es das, ontisch unbestimmter Welt glauben. Man kann auch keines von beidem sein, also an Freiheit in ungeschaffener Welt, oder aber beides, an Unfreiheit in geschaffener glauben. Denn beides ist miteinander verträglich. Immer aber ordnet sich für den Christen der überweltliche Fatalismus dem innerweltlichen Determinismus wie Indeterminismus, die causa prima der causa secunda als deren Voraussetzung über. Und immer berührt Fatalismus nur ontische, nicht kausale, Determinismus nur kausale, nicht ontische Freiheit. Ein Analogon des Fatalismus ist auch in dem Rahmen des Atheismus, also ohne Gott, ohne Schöpfer möglich. Denn auch so könnte mit unseren Nacheinanderkategorien die Zeitwelt als vorgegeben, die Gesamtzeit als jeweils noch und schon da, die Zukunft
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also als so schon bestimmt erscheinen wie eine von uns zu durchwandernde Landstrasse. Es gibt diese Auffassung. Aber auch sie ist ein Mißverständnis des zeitweltlichen Sachverhaltes. Und vor allem, sie ist kein echter Fatalismus. Denn Fatum heißt überweltliche ontische Setzung. Die fehlt hier. Und ohne die ist die zu durchwandernde Zeit zwar als vorgegeben gedacht und wir in ihr ontisch als servi, aber als servi mundi. Sie wäre eine in sich sinnlose Realität, in der alles so kommt, weil es nun einmal so ist. Für den echten Fatalismus kommt alles so, wie es kommen soll, weil Gott es so bestimmt. Und was Gott bestimmt, ist für ihn sinnvoll. Unsere Zeit geht von diesem echten mehr und mehr zu jenem unechten Fatalismus über, von seinem religiösen Verständnisse zu dessen areligiöser Entfärbung. Darum verschweigt sie seine sakralen Implikationen, säkularisiert ihn. Rein innerweltlich, passivistisch, subjektivistisch nur auf den Empfänger eingestellt unterschlägt sie wie bei Gegebenheit den Geber, bei Getragenheit den Träger, bei Geworfenheit den Werfer, bei Zufälligkeit den, von dem her es fällt, so bei Verhängnis den Verhänger, bei Fügung und Schicksal den Füger, denn Schicken heißt hier Fügen, nicht Senden. Oder sie läßt, um Gott zu vermeiden, Schicksal, Fügung, Verhängnis, Vorsehung unpersönlich weltdurchwirkende Mächte sein, ein Mana. Das ist Aberglaube. Es fehlt der von jenen Begriffen implizierte Urheber. Und denkt man sie durch, so führen sie zu diesem. Ohne ihn waltet, da es jenes Mana nicht gibt, Grundlosigkeit, Sinnlosigkeit, Blindheit, Unerklärbarkeit der Welt, kein Fatum. Das Dichtungsgleichnis veranschauliche auch hier den Sachverhalt. Der Dichter schafft in Einem Dichtungsakte die ganze Dichtwelt, zwar nicht zeitlos ewig, aber jenseits ihrer Eigenzeit. Und die erdichteten Gestalten erleben diesen Einen Akt als ihr unendliches Nacheinander. Was in dem geschieht, erschiene ihnen daher, wüssten sie um den Dichter, als das von diesem in jenem Einen Akte bestimmte, für sie vorgegebene Fatum. Und ontisch, obwohl nicht kausal, hätten sie recht. Denn der Dichter schaffe sie als kausal unfrei oder frei: ontisch bestimmt, ohne in diese einzugreifen, er die gesamte Dichtung. Denn nur durch ihn gibt es sie. Trotzdem wären jene Gestalten nicht seine Marionetten. Denn kausal, in der Dichtung, wären sie frei. Er greift da nicht ein, führt sie nicht. Sie führen sich selber. Aber so, wie es ihrer Natur und Rolle in der Dichtweltdynamik entspricht. Und die schafft der Dichter. Daher hängen sie ontisch von ihm ab. Er mag sie kausal so frei sein lassen, wie wir es sind, und freier, ontisch wären die Freiesten unter ihnen und ein erdich-
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teter unfreier Stein gegen ihn, da beide von ihm Sein, Wesen, Schicksal haben, gleich unfrei. Kausal ist der Dichter extra causas secundas. Ontisch sind diese sub causa prima. Kausal ginge da alles natürlich zu. Ontisch wäre alles übernatürlich. Daher wären auch da Determinismus und Fatalismus voneinander unabhängig. Man könnte auch da jenem wie diesem, keinem von beiden oder beiden anhängen. Und immer ordnete sich da so wie bei uns der Fatalismus dem Determinismus wie Indeterminismus über. Wüssten die erdichteten Gestalten aber nicht um den Dichter, so könnten gleichwohl auch sie einem unechten Fatalismus huldigen, das Dichtungsgeschehen als Verhängnis ohne Verhänger, als Fügung und Schicksal ohne Füger, als sinnlose Vorbestimmtheit ohne Bestimmer auffassen. Aber sie irrten dann. Wie Fatum von Determination so unterscheiden sich Segen und Fluch von Glück und Unglück. Diese sind Sache der Determination, innerweltlich, kausal, kosmisch bedingt, vordergründig, stehen zuweilen in unserer Hand und treffen den subjektiven Geist. Segen und Fluch, ursprünglich Wortzauber, sind für den Christen Sache des Fatums, überweltlich, ontisch, metakosmisch bedingt, hintergründig, stehen in Gottes Hand und treffen die Seele. Beglücken können daher auch wir. Aber segnen kann nur Gott. Glückwünsche sind profan, Segenswünsche sakral. Daher wünscht, wer Glück und Segen wünscht, Glück dem subjektiven Geiste, Segen der Seele. Und nicht immer geht beides zusammen. Vielmehr gibt es auch Segen im Unglücke, weil die Seele erwacht, und Fluch im Glücke, weil die Seele verkommt. Denn Glück und Seligkeit sind bewusstheitliche Haltungen, nicht äussere Güter. Wieder spielt hier die Doppelung der christlichen Begriffe. Wie Gottes Allmacht so ist für den Christen seine Allgegenwart ontisch, hintergründig, uns verborgen, überweltlich, sakral, nicht geometrisch, vordergründig, offenkundig, profan. Der Dichter ist jenseits der Dichtwelt. Gott ist jenseits der unseren. Darum ist vordergründig der Dichter dort, Gott hier nirgend und niemals, hintergründig aber überall und immer, kosmisch scheinbar abwesend, metakosmisch in Wahrheit anwesend. Denn als Schöpfer der Welt steht weltüberhoben Gott hinter dieser. Nicht geometrisch. Sonst gehörte er zu ihr. Sondern ageometrisch von ihr geschieden, in reinem Widerspruche ohne Identitätsergänzung zu ihr, als anderes Sein. Dieses Verhältnis ist uns unvorstellbar und doch bekannt, wenn auch nur in menschlicher Zeitlichkeit, nicht in göttlicher Ewigkeit. Es ist das des Dichters zu seiner Dichtung. Kraft seiner ist wie der Dichter der Dichtwelt so Gott der unseren weder fern noch nahe. Denn das könnte er nur geometrisch innerhalb ihrer sein. Ontisch aber ist er in
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raumzeitüberhobener Ewigkeit als Seinsgrund der Welt nach allen ihren Dimensionen dh. für uns überall und immer hinter und in ihr gegenwärtig, gegenwärtiger, als es jeder Bestand in ihr dem anderen ist. Denn die sind zueinander nur mittelbar. Zu Gott aber sind sie alle und ist die Welt selber unmittelbar. So ontisch, unmittelbar, hintergründig, nicht räumlich, mittelbar, vordergründig leben, weben und sind für den Christen auch wir in Gott. Wie das Sein der Welt so ist ihre Substanz, die Raumzeit extra suas causas. Denn Substanz ist ein ontologischer Begriff. Er bezeichnet da? selbständig Seiende, das für sein Sein keines anderen bedarf. Die geschaffene Substanz erfüllt in der Welt diese Bedingung. Denn da bedarf sie keines anderen Seins. Sie ist da ontologisch selbständig gegen ihre Akzidentien, welche für ihr eigenes Sein eines substantiellen bedürfen. Und sie ist da ausserdem als Teilsubstanz selbständig gegen andere Teilsubstanzen, die nur ihre Akzidentien, nicht aber, da sie extra causas mundi ist, sie selber affizieren können. Darum beharrt Raumzeit als Weltsubstanz, sahen wir, a priori in dem Wechsel ihrer Zustände. Nicht selbständig für den Christen aber ist diese Substanz gegen Gott, Denn ohne Gott ist sie nicht. Gott schafft sie. Und Geschaffenes ist Substanz nur in der Schöpfung, Welthaftes nur in der Welt als dort profane substantia secunda, nicht vor Gott, der sakralen substantia prima. Für den Christen ist Gott allein absolute, echte, urständige Substanz. Denn nur er ist keines anderen Seins bedürftig, schlechthin selbständig, ontisch a se. Die profane substantia secunda der raumzeitlichen Welt ist göttlichen Seins bedürftig, ontisch a Deo, ontologisch zwar per se, aber nicht a se, nur in der Welt, nur relativ selbständig, vor Gott absolut unselbständig, von ihm geschaffen, durch ihn vernichtbar, Pseudosubstanz. Dabei ist es das Pseudos ihrer Substantialität, daß ihr Sein eines anderen Seins bedarf, nicht a se ist. Es ist das Pseudos ihrer Abalietas. In Wahrheit gibt es dann nur die eine schaffende Substanz, Gott. Die Raumzeitsubstanz der Welt, so substantiell sie nach ihrer Geschaffenheit ist, hat daher für den Christen nach ihrem wahren Beigottsein nur akzidentielles Sein. Denn wie eine Dichtwelt zwar in ihrem erdichteten Sein erdichtete Substanz, in ihrem wahren bei dem Dichter aber ein diesem inhärentes, ontologisch unselbständiges Dichten, nur er da Substanz ist, nicht sie, so ist für den Christen die Welt zwar in ihrem geschaffenen Sein Substanz, in ihrem wahren bei Gott aber ein ihm inhärentes, ontologisch unselbständiges Schaffen. Sie hat also eine Doppelontik. In ihrer Geschaffenheit substantiell ist sie bei ihrem Schöpfer akzidentiell. Daher ist Christentum zwar in vor-
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dergründiger Abalietas ein Theismus, für den wir zu Gott nur mittelbar, mit ihm nur gnoseologisch-logopsychisch verbunden, in hintergründiger Aseitas aber ein Panentheismus, für den wir unmittelbar zu Gott, mit ihm ontisch verbunden sind. Dort glauben wir uns in Gottferne als Pseudosubstanz in dem Cartesischen Sinne einer substantia creata von Gott so geschieden wie erdichtete Gestalten von dem Dichter, treten mit unserem Ich Gott wie einem Du gegenüber. Hier sind wir in Gottnähe ein ihm inhärentes Schaffen, können ihm nicht gegenüber treten, weil wir von ihm nur unterscheidbar, nicht trennbar sind, seine eigene Substanz haben in dem Spinozistischen Sinne als modi eines göttlichen Attributes. Die Eigenzeit einer Dichtwelt hat wie deren andere Dimensionen und wie die Weltzeit weder Anfang noch Ende. Aber ihr wirkliches Sein bei dem Dichter, ohne das auch ihr erdichtetes nicht ist, beginnt und endet mit ihrer Setzung durch ihn. Die dauert in Wahrheit nur einen Augenblick. Denn sie ist schon bei Beginn der Dichtung vollendet, wird da samt ihrer unendlichen Zeit als vorhanden vorausgesetzt. Der Dichter schildert nur einen als ebenfalls schon vorhanden gedachten Ausschnitt aus ihr und setzt diesen, auch wenn er sich das Geschilderte erst nach und nach ausdenkt, als vorgeblich unabhängig davon bestehend so voraus wie ein nach und nach erarbeiteter historischer Bericht die von diesem unabhängige wirkliche Vergangenheit. So steht es für den Christen mit Schöpfung und Ende der Welt. Deren Eigenzeit ist so anfang- und endlos wie alle ihre Dimensionen. Aber ihr wahres Sein bei Gott und damit auch ihr geschaffenes beginnt und endet für ihn jenseits ihrer in dem einen überzeitlichen Schöpfungsakte. In dessen Andersartigkeit, sahen wir, fällt die gesamte Weltausdehnung einschließlich der zeitlichen dank coincidentia oppositorum so zusammen wie die Gesamtausdehnung einer Dichterwelt in dem einen Schöpfungsakte des Dichters. Daher gibt es wie in dessen Wirklichkeit nicht die erdichtete Welt so in Gottes Aseitas nicht die unsere. Bei Gott macht deshalb, um mit Christian Günther zu reden, auch die ganze Zeit keinen Punkt der Ewigkeit. Ist doch Zeit schon in der Welt selbst, sahen wir, mit deren Semsweise nur für uns verbunden, das Ansichsein der Welt nacheinancerlos, zeitlos. Deren Anfang und Ende spielen somit für den Christen nicht in ihr selber, sondern sind Anfang und Ende des überzeitlichen Schöpfungsaktes bei Gott. Und da wie ein Dichter vieles dichten kann, so Gott, sahen wir, nach menschlichem Ermessen unendlichviele Welten schafft, so dürfte die Schöpfung der unseren nur Bruchteil eines unendlichen Aktes seiner Unendlichkeit sein. Und
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das wäre ontisch zu verstehen, nicht geometrisch, geschweige zeitlich. Nur in diesem ontischen Verstände hat die Rede von Gottes Unendlichkeit und der Endlichkeit der Welt einen Sinn. Denn in sich und geometrisch ist die Welt selber unendlich. Ueberweltlich und ontisch aber ist für den Christen der Akt ihrer Schöpfung ein verschwindender Bruchteil in Gottes unendlicher Aseitas. Zeitliche Anfang- und Endlosigkeit der Welt widersprächen dann ihrer zeitüberhobenen Schöpfung und dem Weltende so wenig wie zeitliche Anfang- und Endlosigkeit einer Dichtwelt dem Anfange und Ende ihrer Erdichtung. Denn in unserer Zeit, nicht in ihrer wird die Dichtwelt, in Gottes Ueberzeitlichkeit, nicht in unserer Zeit unsere Welt geschaffen und beendet. Nach der Zeit von Schöpfung und Weltende fragen, wäre so, als fragte eine erdichtete Gestalt, wann in der erdichteten Zeit die Dichtwelt geschaffen und beendet sei. Das geschieht in unserer Zeit, nicht in der erdichteten. Der Fragende hätte diese mit jener verwechselt, weil es für ihn nur die Zeit der Dichtwelt gibt. Ebenso verwechseln wir Gottes Ueberzeitlichkeit mit unserer Zeit, wenn wir, da es für uns nur diese gibt, nach der Zeit von Schöpfung und Weltende fragen. Das sind ontische Begriffe, nicht temporale. Sie gehören zu Gottes schaffender überzeitlicher Aseitas, nicht zu unserer geschaffenen zeitlichen Abalietas. Die aber ist samt ihrer unendlichen geschaffenen Weltzeit nicht ohne jene. Das Nacheinander gibt es, sahen wir, nur für unsere Beschränktheit auf jeweils eine Weltphase. Die Welt selbst aber ist vierdimensional, nacheinanderlos. Und für den Christen waltet ontisch über ihr Gott wie ein Dichter über seiner Dichtung. So widersinnig es daher wäre, wollten erdichtete Gestalten, wüssten sie von ihrem Dichter, zwischen Schöpfung als angefangener und Erhaltung als fortgesetzter Schöpfung ihrer Dichtwelt unterscheiden, gleich als wäre beides in derem Nacheinander, die Schöpfung begänne und die Erhaltung führe fort, so widersinnig ist diese Unterscheidung bei uns. Sie verwechselt die causa prima, die die ganze Welt zeitlos in Einem Akte schafft, mit den causae secundae, die in der geschaffenen Zeit für uns nacheinander wirken. Gott ist überzeitlich. Er schafft nicht in unserer Zeit, fährt da so wenig fort, wie er anfängt und endet. Nur wir in der Froschperspektive des Nacheinander fahren fort. Was uns da als creatio continua erscheint, ist vor Gott die Stetigkeit der von ihm in jedem ihrer Punkte mit Einem Akte geschaffenen Welt nach der für uns vierten Dimension. Demnach ist die Lehre von der creatio continua falsch, wenn wir unser Nacheinander verabsolutieren. Fassen wir dieses aber als eine
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nur menschliche Sicht der überzeitlichen Schöpfung, so lässt sie sich rechtfertigen. Denn Gott schafft dann für den Christen die Welt zwar in Einem Akte. Und nur in dem gibt es sie. Wir aber erleben diesen Akt nach unserer Zeitdimension als ein nacheinanderhaftes, unendlichlange währendes Nichtzusammen von Phasen, ziehen seine complicatio in die explicatio unseres Zeitbegriffes auseinander und opfern an diesen mit unserem Seinsbegriffe auch den Schöpfungsbegriff. Denn was für uns wirklich ist, ist vor Gott Schöpfung. Nun schafft Gott wie räumlich so zeitlich alles an seinem Orte, also jede unserer Seinsphasen an ihrer Zeitweltstelle dh. für uns dann, wenn sie in unserem Nacheinander Gegenwart, alleinwirklich ist, ihr Sein hat. Also ist für uns Schöpfung immer jetzt, ist, war, wird sein in unendlichem Prozesse. Das Nacheinander ist dann nicht wie in rein innerweltlicher Betrachtung eine Pseudoschöpfung jeweils folgender Seinsphasen durch vorangehende, sondern für uns, aber auch nur für uns in überweltlicher Betrachtung eine stete Abfolge echter Schöpfungen aus Gott. Uns erscheint diese dann als creatio divina continua. Aber sie ist perceptio continua humana creationis divinae. Ebenso stünde es bei einer Dichtwelt. Der Dichter schüfe sie mit ihrer ersten Setzung in Einem Akte. Und die erdichteten Gestalten erlebten diesen als creatio continua in dem steten Nacheinander ihrer Seinsphasen. In Wahrheit aber wäre das ihre pereeptio continua creationis poetae. Entsprechendes gilt, sahen wir, für Weltlenkung und Vorsehung. Gott schafft und kennt überweltlich als causa prima das Weltgeschehen vollkommen im Ganzen und in allen Einzelheiten so wie unvollkommen ein Dichter das der Dichtwelt. Als kausales Lenken in Form der causae secundae und als nacheinanderhaftes Vorhersehen erscheint beides hier wie da nur innerweltlich. Ueberweltlich ist alles ontische zeitweltliche Schöpfung. Ebenso steht es mit Schickung und Fügung. Die causa prima fügt überzeitlich ontisch alles, indem sie in dem Einen Schöpfungsakte die Welt nach allen ihren Dimensionen schafft. Die causae secundae verursachen dort innerweltlich die Einzelheiten in unendlichvielen Akten kausal. Wir aber stehen in der Zeit. Das Ueberzeitliche bleibt uns verborgen. Darum fassen wir Schickung und Fügung leicht wie zeitliches Eingreifen Gottes in den Kausalverlauf auf. Darum Prädestination leicht wie zeitliche Vorbestimmtheit durch Gott. So erscheint uns das in dem Nacheinander. Sein wahrer Sinn aber ist: Gott schafft die Welt und samt Charakter, Rolle, Schicksal uns Menschen überweltlich, überzeitlich wie ein Dichter erdichtete Gestalten, aber von Ewigkeit her als vierdimensionale, nur von uns nacheinanderhaft in drei Dimensionen durch-
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lebte Strukturen. Nicht bestimmt er und sieht er etwas voraus. Voraus und Nachher sind nacheinanderhafte Menschenvokabeln. Widersinnig endlich ist die Rede, Gott könne Geschehenes nicht ungeschehen machen. Sie stellt Gott in die Welt und unter die Faktizität des Nacheinander. Gott ist überweltlich, überzeitlich. Es wäre so, als sagte das eine erdichtete Gestalt von dem Dichter. Wie für den das Erdichtete nicht geschehen, nicht ungeschehen ist, weil er nicht in dessen vermeintlichem Nacheinander lebt, er kausal da nichts ändert sondern alles, also auch das schafft, was für die erdichteten Gestalten jeweils schon vergangen oder noch ungeschehen ist, so ändert Gott nichts Welthaftes. Seine Allmacht ist wie die Macht des Dichters ontisch, überweltlich, überzeitlich, nicht kausal, innerweltlich, zeitlich. Dichtungen haben wie alles nur Gedachte doppeltes Sein, in sich das dem Dichter und von seinen Gnaden den erdichteten Gestalten allein bekannte vordergründige, gnoseologische, ideelle, fingierte, das dort überall und immer ist, und bei dem Dichter ein ihm und ihnen verborgenes, hintergründiges, ontologisches, wirkliches, das in der Dichtung nirgend und niemals, aber deren wahres Sein ist. Das erste Sein beansprucht, obwohl ontologisch in dem Dichter anwesend und von ihm abhängig, gnoseologisch Abwesenheit von ihm und existentiell wie essentiell unabhängige Selbständigkeit, Eigensubstantialität. Das zweite, rein ontologische Sein hat ohne diesen Anspruch an dem Sein des Dichters teil als ein ihm inhärentes, existentiell unselbständiges Implikat seines Dichtens, ist Zustand seiner Substanz. Von diesem zweiten Sein wissen die erdichteten Gestalten nichts. Denn es liegt jenseits ihres ontischen Horizontes. Und der Dichter nichts. Denn es ist für ihn gnoseologisch verdrängt. Er weiss nur, dass es irgendwie in ihm ist, das erdichtete Sein dagegen als von ihm getrennt gedacht wird, und dass beide zusammengehören, eines sind, das ontologische Sein in ihm selber als fundierend, das gnoseologische, von ihm getrennt gedachte als fundiert. Die Einheit beider trotz ihrer Verschiedenheit ist wie, sahen wir einst, die gnoseologische Relation selbst zwar offenkundige Tatsache, aber ungeklärt. Ist die Welt so geschaffen, wie Dichtungen erdichtet sind, dann steht wie hinter deren in ihnen vordergründigem und vermeintlich selbständigen ideellen Dichtungsein ihr reelles bei dem Dichter, so hinter dem vordergründigen und vermeintlich selbständigen Insichsein unserer Welt ihr hintergründiges, unselbständiges, fundierendes Beigottsein, hinter ihrer geschaffenen Getrenntheit von Gott ihre Teilhabe an seinem Schaffen, hinter ihrem zeitlichen Weltsein ihr
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ewiges Ueberweltsein. Und wie akzidentelles Sein in der Aseitas anders ist als pseudosubstantielles in der Abalietas, so ist das Beigottsein der Welt anders als ihr Insichsein, obwohl dieses nur durch jenes besteht, in ihm fundiert ist. Der Christ nennt das Insichsein der Welt Diesseits, ihr Beigottsein Jenseits. Diesseits und Jenseits sind für ihn also nicht zwei Welten sondern nur eine, aber dort in gottabgewandter unseliger, weil ungöttlicher, hier in .gottzugewandter seliger, weil göttlicher Seinsweise. Das Diesseits, für uns überall und immer, ist dann Abalietas, geschaffene, weltliche, zeitliche Unwirklichkeit, nur in eigenem Rahmen per se, Pseudoaseitas, Pseudosubstanz, selbstgenugsames Pseudoansichsein, Pseudowirklichkeit in Gottferne, nur eines Theismus fähig. Dagegen ist dann das Jenseits, für uns nirgend und niemals, aber unser wahres Sein, echte, ewige, göttliche, panentheistische Wirklichkeit, teilhaftig an der Aseitas Gottes, Akzidenz seiner Substanz, Implikat seines Schaffens, ihm eigen, in ihm gegründet, in unmittelbarem Seinsbezuge zu ihm, in Gottnähe. Die in dem Diesseits hintergründige, ihm verborgene Allmacht und Allgegenwart Gottes ist dort vordergründig und offenbar. Weil hinter dem vermeinten Ansichsein der Welt für den Christen ihr wahres Beigottsein steht, weiss er auch sich ontisch doppelbödig, diesseitig und jenseitig, weltständig und gottständig, als Bürger zweier Reiche, hat ein Doppelsein, nämlich geschaffenes, innerweltliches, vordergründiges, in dem er ontisch selbständig, kausal mächtig, im Sinne des Theismus nur mittelbar zu Gott ist, denn -Gott tritt nicht in die Welt, und wahres, überweltliches, hintergründiges, in dem er ontisch unselbständig und ohnmächtig, im Sinne des Panentheismus unmittelbar zu Gott bei diesem ist, entsprechend dem Beidemdichtersein einer erdichteten Gestalt im Unterschiede zu ihrem Inderdichtungsein. Innerweltlich, kausal, essentiell weiss er sich mit der Welt in wechselseitiger Bedingtheit verbunden, überweltlich, ontisch, existentiell mit Gott in einseitiger. Und die kausale Bedingtheit ist ihm äusserlich. Denn sie betrifft mittelbar sein Verhältnis zu Fremdem. Die ontische dagegen zuinnerst. Denn sie betrifft unmittelbar sein Sein, seine Substanz, sein Ich. Das Beigottsein des Ich ist für den Christen die Jenseitsseele. Implikat göttlichen Schaffens ist sie für uns so unerfahrbar wie Gott selber oder wie für erdichtete Gestalten ihr Sein bei dem Dichter. Aber wie dieses für jene Gestalten so ist für den Christen die J e n seitsseele unsere wahre Wirklichkeit. Wir kennen sie nicht. Wir können sie nur glauben.
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Die Diesseitsseele aber kennen wir. Sie ist etwas Natürliches, kein ontisch aus dem Jenseits in die Welt schneiendes Wunder. Gnoseologisch auf die Ueberwelt gerichtet ist sie ontologisch innerweltlich. Sie ist unsere Bewusstheit, unser Ich in seiner uns Gott gegenüber geziemenden Haltung. Negativ einer Haltung absoluter Lauterkeit, gedanklicher Befreitheit von Weltgebundenheiten, essentieller an Weltmotive, existentieller an das Weltsein. Positiv einer Haltung der Weltüberhobenheit, gedanklicher Gebundenheit an die überweltliche Aseitas. In diesem Sinne gibt es als bewusstheitliche, geheime, konstante, bald explizite, bald implizite hintergründige Haltung eine wirkliche Diesseitsseele hinter unserem von ihr zu unterscheidenden Alltagsbewußtsein und, werden wir sehen, auch hinter dem von Motivgebundenheiten ebenfalls freien absoluten Geiste. Sie ist eine besondere Funktion des Ich, keine besondere Substanz neben ihm. Wie leibgebunden der Trieb, wie durch den objektiven Geist gebunden der subjektive und welthaft eigenständig der absolute, so ist, sich über alle diese erhebend, die Diesseitsseele glaubensgebunden eine Haltung des Ich, seine letzte, höchste, besonnenste, begründet durch explizite oder implizite Einsicht in die Geworfenheit und damit für den Christen die Geschaffenheit des Weltseins, also auch des unseren. Sie ist wie alle unsere Haltungen wandelbar, nie fester Besitz. Darum kann sich Triebleben bis zu Seele erheben, Seele bis zu Triebleben hinabsinken. Wir müssen sie wie alles hohe Leben immer neu erringen. Und immer wechseln in einem und demselben Menschen je nach seiner Natur und Lebenslage Trieb, subjektiver, absoluter Geist und Seele die Vorherrschaft, bald relativ, bald absolut. Grundhaltungen unseres Ich, unseres Seins, unserer Tiefe, unserer Wurzel, des Letzten, das allem in uns zugrundeliegt, nennt der Existentialismus bei unbesonnenem Ich Dasein, bei besonnenem Existenz. In diesem Sinne ist für den Christen Dasein naiv dahinlebendes, innerweltlich profanes, vorletzthaft, grundlos, sinnlos erlebtes, dem Geiste unangemessenes Sein, Alltagsbewusstheit, Existenz dagegen ist für ihn besonnenes, sich Gott unterstellendes, letzthaft, grundhaft, sinnhaft erlebtes Sein, Vollendung des Geistes, Seele. Seele ist somit christlich verstandene Existenz. In der Welt wie alles Geschaffene ontologisch gebunden und ontisch ab alio erreicht sie gnoseologisch Gottes Aseitas, spiegelt deren logopsychische Wirkung auf uns, ist darum nach christlichem Bilde Tempel Gottes und dadurch mittelbar geheiligt, wenn auch nicht wie die Jenseitsseele ontisch und unmittelbar heilig. Sie ist unser gnoseologischer Diesseitszugang zu dem Jenseits, Brücke der Abalietas zu der Aseitas.
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Ueberwelt und Jenseitsseele sind, will man mit ihnen Ernst machen, für uns schwer vollziehbare Begriffe. Denn wie in Dichtwelten nichts von dem Dichter so steht in unserer nichts von dem Schöpfer. Daher erscheint beiden Welten in ihrem Horizonte ihr eigenes Sein als letztes, einziges, alleinwirkliches, trotz seiner Zufälligkeit selbständiges, dagegen Ueberweltsein, ein Sein dort bei dem Dichter, hier bei Gott, weil kein Weltsein, als Nichtsein. Das Weltsein verdeckt es. Und mit dem begnügen wir uns in ihm, vernachlässigen über essentiellen Problemen das existentielle der Welt. Darum ist uns der Glaube an deren Alleinwirklichkeit so naturgemäss wie erdichteten Gestalten der an die Alleinwirklichkeit ihrer Dichtwelt, Gott naturgemäss für uns so unwirklich wie der Dichter für erdichtete Gestalten. Denn Natur ist Welt. Und nur auf die sind wir eingestellt, so wie erdichtete Gestalten nur auf die Dichtwelt. Wir sind darum von Natur so gottblind, wie erdichtete Gestalten dichterblind sind. Wie aber für uns der Dichter wirklicher ist als die Dichtung, so ist für den Christen Gott wirklicher als die Welt. Sein explizites oder implizites Wissen um deren ontische Geworfenheit ist für ihn der Sachgrund seines Glaubens, dass hinter dem Weltsein Ueberweltsein, |Gott sei, für den allein die Welt besteht. Dieser Glaube sprengt unseren ontischen Horizont. Er fordert von uns eine uns widernatürliche Geisteswendung, wie der Glaube einer erdichteten Gestalt an den Dichter sie forderte. Denn für den das Ueberweltliche verneinenden Glauben nur an die Welt ist deren Sein von eigenen, für den christlichen ist es von Gottes Gnaden. Und in unserem praktischen Leben sind wir notgedrungen innerweltlich. Da ist Weltsein für den Gläubigen so selbständig wie für den Ungläubigen. Darum kann dort der Christ den Bedeutungsgehalt seines Glaubens nur theoretisch vollziehen, nicht praktisch. Wie praktisch der Astromon trotz anderen Wissens Sonne, Mond und Sterne auf- und untergehen sieht und praktisch der Transzendenzontologe trotz anderen Wissens Wahrnehmungswelt und Nacheinander als ontologisch wirklich behandeln muß, so muß praktisch der Christ die Welt, weil an deren Horizont gebunden, trotz anderen Glaubens als ontisch selbständig behandeln. In seinem Glauben aber durchbricht er diese seine Schranke wie jene Wissenschaftler die ihre. Er überschreitet gnoseologisch den Horizont des Weltseins. Er erkennt Gott nicht. Aber er kann ihn denken, ihn glauben. Und nur der Mensch kann das. Darum strahlt nur bei ihm Ueberwelt in die Welt. Gott ist nach christlicher Lehre allgegenwärtig, aber nur dem Menschen offenbar.
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Offenbarung, Apokalypsis, Revelatio heisst Enthüllung, Entschleierung, nämlich der Ueberwelt in der Welt. Die Hülle, der Schleier, der von unserem geistigen Auge entfernt wird, ist unsere ontische Weltbeschränktheit. Wird diese durch Glauben beseitigt, so ist das, obwohl Uebernatürliches geglaubt wird, natürliche, innerweltliche, mittelbare, uneigentliche Offenbarung. Eigentliche, übernatürliche, überweltliche, ein unmittelbarer, wunderhafter Verkehr des Schöpfers mit den Geschöpfen wäre so wie unmittelbarer Verkehr des Dichters mit erdichteten Gestalten, Missverständnis ontischer Geschaffenheit. Denn geschaffenes Sein ist unmittelbarer Berührung mit dem schaffenden, Abalietas der mit der Aseitas unfähig. Alle Offenbarungen, von denen berichtet wird, archaisch naiver Gottesauffassung entsprungen, haben sich als irrig erwiesen. Und Gott irrt .nicht. Er bedarf keiner übernatürlichen Offenbarung. Die seine ist die Schöpfung. Da offenbart er sich. In der aber ist alles natürlich, auch der Glaube an die Ueberwelt. Auf ihn ist die Diesseitsseele theistisch angewiesen. Unmittelbare Offenbarung gibt es nur für die Jenseitsseele. Denn sie hat panentheistisch an Gottes Aseitas teil. Zu ihr aber führt uns erst der Tod. Er wandelt Glauben in Schauen. Das ist für den Christen die wahre, eigentliche, übernatürliche Offenbarung, Abstreifung der Abalietas, ontische Enthüllung der Aseitas. Weil übernatürlich, ist Gott unerkennbar, Glaubenssache. Objektiv ist Glaube Doxa, gegenständliche, auf ein Nichtich gerichtete, rationale Vernunftmeinung des Bewusstseins, doctrina, creed, Glaube dass, Lehrglaube, Ueberzeugungsglaube. Subjektiv ist er Pistis, akthafte, ichhafte, emotionale Seelenhaltung der reinen Bewusstheit, fiducia, faith, Glaube an, Vertrauens-, Lebensglaube. Doxa ist Lehre der Vernunft. Pistis ist Religion der Seele. Doxa ist aus der Ueberlieferung des objektiven Geistes erworben und jeweils umstritten. Pistis ist als anima naturaliter christiana, werden wir sehen, und als reine Bewusstheit, als Form des absoluten Geistes ererbt, und alle, die zu ihr vordringen, sind in ihr einig. In Orthodoxie herrscht einseitig Doxa, in Pietismus einseitig Pistis. Aber beide gehören so zueinander wie die beiden Pole christlichen Lebens, Deus et anima, Gott und Seele, Doxa als begrifflicher Inhalt des Glaubens, Pistis als seine lebendige Haltung. An unsere Pistis wenden sich die grossen Religionsführer. Denn nur sie ist Religion. Aber sie alle gründen sie auf Doxa. Denn erst kraft deren gibt es Pistis. Darum beginnt in Kinder-, Schul-, Konfirmandenunterricht, in Bekenntniswechsel und Heidenmission alle Einführung in das Christentum mit seiner Doxa. Und darum beginnt mit deren Zerstörung, da diese auch die Pistis
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Die t h e o l o g i s c h e
Ontologie
zerstört, alle Gottlosenbewegung. Bei intakter Doxa dagegen ist Pistis unzerstörbar. Auch der Buddhismus braucht Doxa, obwohl diese bei ihm ungeklärt bleibt. Denn er wäre ohne metakosmischen Hintergrund nur Lebenstechnik, nicht Religion. Und wie alle emotionale Stellungnahme einen Gegenstand voraussetzt, zu dem sie Stellung nimmt, so setzt immer explizit oder implizit Pistis eine gegenständliche Doxa voraus und schliesst diese ein, der Buddhismus ein metakosmisches Wesen des Nirwana. Beide ergänzen sich. Pistis ohne Doxa ist gegenstandslos. Doxa ohne Pistis ist tote Meinung. Aber erst kommt die Glaubenslehre, das Fürwahrhalten, dann das Glaubensleben, die feste Zuversicht, für den Christen erst Gott, dann die Liebe zu ihm. Die erwacht mit der Doxa, nährt sich von ihr, wächst durch sie. Denn nur Doxa erfaßt die Ueberwelt. Und eben deren bedarf die Pistis. Daher bedarf diese der Doxa wie der Leib des Brotes. Wie der nicht von Steinen so lebt die Seele nicht von Weltsein. Erst Ueberweltsein befriedigt, beseligt sie. Und nur als wirklich geglaubtes. Das unterscheidet Religion von Kunst. Beide führen aus der Welt. Aber Kunst mit gespielter Haltung in ungeglaubten, diesseitigen, vorübergehenden Schein, Religion mit echter in geglaubte, jenseitige, ewige Wirklichkeit. Wie für die Doxa hinter ihrer Lehre von Gott als dem ontischen Positivum die von der Abalietas der Welt als einem ontischen Negativum so steht für die Pistis hinter ihrer positiven, gottzugewandten Haltung als ständige negative Unterschicht unseres Seelenlebens ein implizites Innewerden der Grund- und Sinnlosigkeit des Weltseins, unser Ungenügen an ihm, unsere Abwendung von ihm. Wir nehmen das Weltleben auf uns. Aber es enttäuscht. Denn mit der grundsätzlichen Horizontfreiheit unserer Gnoseologie sind wir, da diese die Welt übersteigt, der Welt überlegen. Unsere ontologische Einbettung in sie, dem Tiere angemessen, ist des Menschen unwürdig. Denn sie ist geistwidrig. Sie genügt ihm nicht. Räumlich nicht die Enge seines Leibes. Er will Unendlichkeit. Zeitlich nicht die Kürze seines Lebens. Er will die ganze Zeit. Existentiell nicht die Abalietas seines Seins. Er will Aseitas. Auel) das Edelste der Welt befriedigt nicht sein letztes Wollen. Keiner bejaht geistig, auch wenn er biologisch an ihm hängt, sein Leben in der Welt zutiefst, keiner existentiell deren Sein, keiner essentiell ganz ihre Beschaffenheit. Keiner, erzählt das Märchen, will in die Altweibermühle, aus der man jung wieder herauskommt, aber sein Leben so, wie es war, nochmals leben muß. Alle verneinen letztlich die Welt. Wäre daher für uns der Sinn des Lebens sein Glück, dessen Voraussetzung Tiefenglück, so hätte das Welt-
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