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German Pages 610 [608] Year 1987
HERMAEA GERMANISTISCHE F O R S C H U N G E N NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON HANS FROMM UND HANS-JOACHIM MÄHL
BAND 52
ERIKA TIMM
Graphische und phonische Struktur des Westjiddischen unter besonderer Berücksichtigung der Zeit um 1600
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1987
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung des Fachbereichs II (Sprach- und Literaturwissenschaften) der Universität Trier gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Timm, Erika: Graphische und phonische Struktur des Westjiddischen ; unter bes. Berücks. d. Zeit um 1600 / Erika Timm. — Tübingen : Niemeyer, 1987. (Hermaea ; N . F., Bd. 52) N E : GT
ISBN 3-484-15052-1
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Walter, Tübingen. Druck und Einband: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten.
Inhalt
VORWORT
IX
EINLEITUNG
o.i 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8
Ι
Graphematik und Phonematik des Mitteljiddischen in der bisherigen Forschung Die drei Versionen von >Beria und Simra< als Kerntexte der vorliegenden Untersuchung Zur qualitativen Eignung der Kerntexte Zur quantitativen Eignung der Kerntexte Graphetik Möglichkeiten und Grenzen einer Graphotaktik auf graphetischer Grundlage Möglichkeiten und Grenzen einer phonemikfreien Graphemik Möglichkeiten und Grenzen einer phonemikorientierten Graphemik
ι 8 12 13 22 41 62 72
ANALYTISCHER TEIL
I. Die deutsche Komponente A) Vokalismus der Tonsilben §1 Mhd. a; Ökonomie des defektaren Systems § 2 Mhd. ä § 3 Mhd. ä, e, e; Ajin als Vokalgraphem §4 Mhd. ae § 5 Mhd. e § 6 Mhd. i und ie § 7 Mhd. ο § 8 Mhd. δ § 9 Mhd. u und uo § 10 Mhd. ö; die Bezeichnung der gerundeten Palatalvokale . . . § 11 Mhd. oe
93 109 121 138 142 149 i6o 165 171 174 181 V
§ 12 §13 § 14
Mhd. ii und üe Mhd. ei und ϊ Mhd. ou und ü; Waw-Jod als Zeichen für Diphthonge
I8J
183
§15 § 16
auf [-«] Mhd. tu und öu Entrundung
194 206 209
:
B ) Vokalismus der Nebensilben §17 § 18 § 19 § 20 § 21 § 22
Mhd. Vollvokale (außer finalem -iü) in Nebensilben . . . . Mhd. -e und -iu am Wortende; A p o k o p e D e r mhd. Indifferenzvokal im nichtfinalen Nachton; Synkope D e r mhd. Indifferenzvokal im Vorton Sproßvokale zwischen Diphthong und r Sproßvokale zwischen Konsonanten
215 217 223 229 232 233
C ) Schriftzeichen ohne phonische Entsprechung § 23 §24 §25
Nicht-phonemisches Aleph im Silbenanlaut Trennaleph im Silbeninnern Nicht-phonemisches Aleph im Auslaut
237 238 239
D ) Konsonantismus §26 §27 § 28 § 29 § 30 § 31
Geminaten M h d . ; und w Mhd. l , m , n , r Mhd. h und ch Mhd. stimmhaftes (bzw. lenisiertes) s Mhd. stimmloses (bzw. Fortis-)s, mhd. 3 , mhd. und
255 257 264 265 272
§ 32 §33
frühnhd. [s] Mhd. 2 (tz) Mhd./und ν
272 288 288
§34 §35 §3 6
Mhd .pfiph) Mhd. p, b, t, d, k, g >Binnendt. Konsonantenschwächung< und Relikte des >strengobd.< Konsonantenstandes § 3 7 Ausgleichsvorgänge zwischen d und t nach l , n und r . . . . § 3 8 Auslaut- und Kontaktverhärtung. Mit einem Exkurs: Der Rückgang der Verhärtungsgraphien im Deutschen . . . §39 VI
Sproßkonsonanten
294 296 298 302 303 325
§4° § 41
Schwund (bzw. totale Assimilation) Sonstige Assimilationen
326 329
II. Die romanische Komponente §42
331
III. Die slavische Komponente §43
333
IV. Die hebräisch-aramäische Komponente § 44 §45 §46
Relikte des >präaschkenasischen< Vokalismus >Aschkenasischer< Vokalismus Konsonantismus
335 343 353
RESÜMIERENDER UND GENERALISIERENDER TEIL § 47
Die nicht graphematisch-phonematischen Ebenen des älteren Jiddisch (insbesondere vor 1500) §48 Die graphematische Ebene § 49 Die phonematische Ebene in graphematischer Sicht § jo Die phonematische Ebene in retrospektiv-sprachgeographischer Sicht § 5 1 Lokalisierung von R § 5 2 Lokalisierung von V und Ρ §53 Methodenbilanz: Kerntexte und Außeninformation; Ursachen graphematisch-phonematischer Veränderungen . .
357 386 409 435 458 475 485
APPENDICES Appendix I:
Liste der Junkturzeichen und der >großen Zwischenräume< Appendix II: Vollständiges Lesartenverzeichnis der hebräischen Komponente in R , V und Ρ Appendix III: Textzeugen und Filiation Appendix IV: Die drei Versionen R, V und Ρ von >Beria und Simra< (Fotomechanischer Nachdruck der Ausgabe von 1975)
503 jo6 516
521 VII
Zitierte Literatur (einschließlich Quellen)
555
Fachspezifische Abkürzungen
595
Die Transkriptionszeichen
596
Orientierungstabelle zur Phonemik der Tonsilbenvokale
598
VIII
Vorwort
Die hier vorgelegte Studie ist zwischen 1974 und 1984 entstanden und wurde 1985 an der Universität Trier als Habilitationsschrift angenommen. Sie setzt meine 1975 erschienene Ausgabe der drei Fassungen von >Beria und Simra< voraus und sollte anfangs nur eine synchronische Beschreibung der graphematisch-phonematischen Systeme dieser Fassungen werden. Aber wenn man im Laufe der Zeit, wie ich es in Trier getan habe, unter anderem über zwanzig Pro- und Hauptseminare zu sehr unterschiedlichen Texten der alt- und mitteljiddischen Literatur abhält, kann man sich zwei komplementären Erfahrungen zur Sprache dieser Texte kaum entziehen: man ist zuerst sehr beeindruckt von der Vielfalt des irgendwann, irgendwo >Belegbaren< - und gewinnt erst ganz allmählich Sicherheit darin, solchen Belegen ihren Stellenwert in der Gesamtüberlieferung zuzuweisen. Auf Grund beider Erfahrungen verlagert sich das Interesse zwangsläufig vom Einzeltext auf das historische Kontinuum. N u n ist heute in der jiddistischen Linguistik wohl allgemein die Zeit reif für die Darstellung größerer Zusammenhänge: was für die überdachende Sprachgeschichtsschreibung Max Weinreichs posthume vierbändige >Geschichte< gezeigt hat, für die Lexikographie das >Große jiddische Wörterbuch< zeigt und für die Sprachgeographie im weitesten Sinne des Wortes zweifellos der >Sprach- und Kulturatlas des aschkenasischen Judentums< zeigen wird, gilt im Prinzip auch f ü r die historische G r a m matik. D a aber ein >Handbuch< zu diesem Gebiet die Arbeitskraft eines einzelnen noch immer weit überstiege, habe ich mich bemüht, wenigstens einen zentralen Teilbereich, die graphematisch-phonematische Entwicklung des Westjiddischen vor allem in seiner mittleren Epoche, über die exhaustive Darstellung der Verhältnisse in >Beria und Simra< hinaus der Handbuchreife so nahe wie möglich zu bringen - und selbst dafür erwies sich H o r a z ' Rat >nonumque prematur in annum* als etwas zu eng. Mit Walter Röll habe ich seit zwei Jahrzehnten erst in Hamburg, dann in Trier in jedem Semester Probleme der jiddischen Sprachgeschichte diskutiert — eine zu lange Zeit, als daß ein Dank in einem Vorwort ihr gerecht werden könnte.
IX
Für sein stetiges wohlwollendes Interesse und seine kompetenten Ratschläge habe ich Hans Peter Althaus zu danken. Außer ihnen haben als Jiddisten Pavel Trost (Prag) und Wolf Moscovitch (Jerusalem/Oxford) in liebenswürdiger Weise beim schriftlichen und mündlichen Habilitationsverfahren mitgewirkt. Pavel Trost erreicht mein Dank nicht mehr; ich kann stattdessen nur hoffen, daß die phonologischen Gedankengänge in der vorliegenden Arbeit jener Prager Tradition, die er vertrat, nicht ganz unwürdig sind. Der Mitbegründer und Nestor der jiddistischen Sprachwissenschaft, S.A. Birnbaum (Toronto), hat mir manche briefliche Information speziell zur aschkenasischen Paläographie und manche herzliche Ermunterung zukommen lassen. Meine früheren Fachbereichskollegen W.-O. Dreeßen (jetzt Stuttgart) und G . A . Beckmann haben große Teile des Manuskripts durchgesehen und mir Hinweise zur Präsentation gegeben; G . A . Beckmann hat mich außerdem in romanistischen Fragen beraten, W.-O. Dreeßen bei der Materialbeschaffung unterstützt. Mehrere bibliographische Hinweise haben H. Süß (Fürstenfeldbruck) und H.-J. Müller (jetzt Mailand) beigesteuert. Eine wesentliche Hilfe war mir, daß Liliane Gehlen und auf dem Höhepunkt des Zeitdrucks dann auch Ursula Becker die Korrekturen sorgfältig mitgelesen haben. Als Mitherausgeber der >Hermaea< hat Hans Fromm der Arbeit bis in die Schlußphasen hinein seine kritische Aufmerksamkeit angedeihen lassen, und die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat den Druck durch eine namhafte Beihilfe gefördert. Ihnen allen bin ich zu Dank verpflichtet. ERIKA TIMM
X
Einleitung
0.1
Graphematik und Phonematik des Mitteljiddischen in der bisherigen Forschung
0.1.1 Wer heute für den Bereich der historischen jiddischen Grammatik eine Zwischenbilanz der Forschung zu ziehen versucht, wird bald auf eine Erscheinung aufmerksam, die aus den Nachbarphilologien bekannt ist, dort aber inzwischen mehr oder minder systematisch überwunden wird: die relative Vernachlässigung einer mittleren Sprachperiode. Die Ursachen sind schnell skizziert. Die älteste Überlieferung einer Sprache darf immer eines spezifischen Ursprungsinteresses sicher sein; im Fall des Jiddischen hat hier vor allem das Bekanntwerden der Cambridger Handschrift stimulierend gewirkt. Mit der Sprache des 19. und 20. Jahrhunderts wiederum sind die unmittelbaren Interessen des Muttersprachlers verknüpft; für das Jiddische erwiesen sich dabei nacheinander als Antriebe der Forschung: zunächst die Erkenntnis, daß eine Sprache, die bereits eine literarische Klassik entwickelt hatte, nicht adäquat als >Jargon< einer anderen Sprache zu begreifen war; dann die Frage, inwieweit ebendiese Erkenntnis durch Einigung auf eine sprachliche Norm abgesichert werden sollte; schließlich komplementär dazu die Sorge, daß es - nach dem Holocaust und der folgenden Umsiedlung vieler Überlebender - für eine Bestandsaufnahme der historisch gewachsenen Vielfalt des osteuropäischen Jiddisch bald zu spät sein könnte. Zwischen den beiden chronologischen Polen macht sich speziell für den Zeitraum von 1500 bis 1700, in Max Weinreichs Periodisierung 1 also für die >mitteljiddische< Epoche, ein Forschungsdefizit bemerkbar. Es besteht eindeutig auch auf der graphematisch-phonematischen Ebene, 2 1
Z u l e t z t M . Weinreich ( 1 9 7 3 : i.}S}((.
und 4 - 3 8 5 f f . ) mit P l ä d o y e r f ü r 1 7 0 0 (statt des
g e w o h n t e r e n 1 7 J 0 ) als ungefähren E n d p u n k t . 2
H i e r u n d im weiteren Verlauf dieser A r b e i t setze ich zwei G r u n d z ü g e ( A n e r k e n n u n g einer relativ a u t o n o m e n
phonematischen
und
einer ebensolchen
morphematischen
E b e n e ) jenes >Ebenenmodells< der G r a m m a t i k v o r a u s , das t r o t z m a n n i g f a c h e r Variationen letztlich G e m e i n b e s i t z der meisten nichtgenerativistischen R i c h t u n g e n der L i n g u i s t i k ist; allerdings verwende ich >Monem< im Martinetschen Sinne (und d e m n a c h >Morphem< nur f ü r grammatische M o n e m e ) . D a weiterhin die schriftliche M a n i f e s t a t i o n s f o r m der hier behandelten Sprachen ( w i e f ü r alle A l p h a b e t s c h r i f t e n charakteristisch) mit der
1
obwohl diese, solange man nicht älteren Arbeiten ein spezifisch graphematisches Methodenbewußtsein abverlangt, noch die besterforschte ist. 0.1.2 Man überzeugt sich davon am schnellsten, wenn man fragt, für welche mitteljidd. Denkmäler eine monographische Beschreibung dieser Ebene - auf welcher methodischen Grundlage auch immer - im Druck vorliegt: hier sind nur die drei Arbeiten von Haines (1980), Heide (1974) und Korman (1930) zu nennen. Haines erstellt das dem Bovobuch (1507, gedruckt 1541) zugrundeliegende Phonemsystem, indem er die synchronischen Befunde (Graphien, Reimstand, Verhalten der italienischen Lehnwörter) in einen diachronischen Rahmen einspannt, der einerseits durch protojiddische Rekonstruktionsformen, andererseits durch das rezente ostfränkische Jiddisch gebildet wird. 3 Von den sechs Texten, deren Graphematik-Phonematik Heide beschreibt, gehören zwei, vielleicht drei dem 16. (die übrigen dem ij.) Jh. an. Im Druck erschienen ist davon die Darstellung der Tonsilbenvokale und der Entsprechungen des finalen mhd. -e (1974; ferner in Aufsatzform die der Ä-Laute, 1977); doch war mir für die vorliegende Arbeit auch das vom Verfasser zur Verfügung gestellte Rohmanuskript zum sonstigen Nebensilbenvokalismus und zum Konsonantismus von Nutzen. 4 mündlichen ganz überwiegend im ausdrucksseitig-submonemischen Bereich korrespondiert, darf man diesen kurz als >graphematisch-phonematische Ebene< bezeichnen, wenn man sich bewußt ist, daß die graphematische Struktur von einer Isomorphic mit der phonematischen ziemlich weit entfernt sein, insbesondere auch direkte Bezüge zur morphematischen Struktur aufweisen kann. - Der Versuch einer orthodox-generativistischen Darstellung etwa im Sinne von Chomsky-Halle (1968) liefe bei einer Sprache, die hinsichtlich ihrer Flexion, Wortbildung und Syntax so unerforscht ist wie das ältere
3
4
Jiddisch, schlechthin auf ein Abenteuer hinaus; zu Eklektizismus in dieser Richtung wiederum kann ich mich umso weniger verstehen, als damit nahezu jeder Standpunkt zwischen orthodox-generativistischer und nichtgenerativistischer Linguistik zu verteidigen wäre. Die Arbeit ist vorbildlich in der Erkenntnis, daß synchronische Befunde erst in diachronischer Interpretation Profil gewinnen, sowie in der sorgfältigen Untersuchung der relativen Chronologie; in beidem steht sie in der Tradition von U. Weinreich und M. Herzog. Doch schafft sich der Autor vorübergehend durch unzweckmäßige oder unrichtige protojiddische Ansätze Pseudoprobleme; speziell halten von den vermeintlichen Belegen für Reime zwischen den Entsprechungen von gedehntem mhd. α und mhd. ο bzw. ö, von gedehntem mhd. e und gedehntem mhd. e bzw. mhd. e sowie von mhd. ei und ι nur die wenigsten stand. Da Haines dann aber in seinen Schlußkapiteln diese Probleme in grundsätzlich richtiger Weise wieder eliminiert, erscheint mir eine Einzeldiskussion der fraglichen Reime in der vorliegenden Arbeit als überflüssig. Wichtiger als die Fakteninformationen zu den mitteljiddischen Texten war dabei, daß die von Heide erschlossene Tradition der altjiddischen punktierten Texte - die sich bis ins 13.Jh. zurückverfolgen läßt (Röll 1966a, Timm 1977) und damit in einer archaische2
Korman
untersucht mit dem Nebenziel, die komplizierte
Entste-
hungsgeschichte eines literarischen Werkes zu erhellen, den Reimstand der unedierten, 1 6 3 1 entstandenen Kopie einer umfangreichen Estherparaphrase (und vergleichsweise denjenigen einer 1 5 8 4 gedruckten R u t h paraphrase, die zunächst im Verdacht stand, v o m selben Verfasser herzurühren). Leider zitiert er in der Regel nicht die überlieferten Reimwörter, sondern deren nhd. (nach mhd. Vokalphonemen geordnete) Äquivalente; nur in dem gedrängten U b e r b l i c k über Nebensilbenvokale und K o n s o nanten stürzt er sich notgedrungen mehr auf die Graphien. 5 0.1.3
N o c h seltener enthalten allgemeinere M o n o g r a p h i e n über einen
Text leidlich vollständige Darstellungen seiner (Graphematik-)Phonematik. H i e r sind die beiden Kapitel von Süsskind über >Orthographie< und >Lautlehre< der H s . Ρ des Schemuelbuchs zu nennen. 6 D e h n t man den
5
6
ren Form faßbar wird als die Tradition der unpunktierten Texte - graphematisch wie dialektologisch einen stark kontrastierenden Hintergrund für die in der vorliegenden Arbeit sichtbar werdenden Stabilisierungs- und Ausgleichsvorgänge bildet. Dieses Kontrastverhältnis erklärt zugleich, warum die Darstellungsweise in den Einzelparagraphen beider Arbeiten auseinandergeht: Heide fand in tabellarischer Darstellung, knappster Gestaltung des Belegapparates und bewußtem Verzicht auf Ausblicke über sein Korpus hinaus eine Methode, der Variantenfülle seiner aj. Texte Herr zu werden; für die mitteljidd. Zeit ist demgegenüber eine diskursivere Darstellung der Kausalfragen und eine Verbreiterung der empirischen Grundlagen durch gezielte Exzerption angezeigt. Auch wenn Korman Beschlagenheit in der dt. Dialektologie und Einsicht in die Probleme des älteren Jidd. bekundet, wird doch seine einleitende Feststellung, die Reime des Werkes seien in der Sprache des Dichters fast alle rein gewesen (op.cit. 13), in der Folge allzu oft durch Fälle wie >halber< : >SilberVater< : >Hüterfahren< : >murrenessen< : >verdrossenwerfen< : >HaufenPelz< : >StolzEnde< : >Stunde< usw. (op.cit. §§7ff., 18, 23, 28 und passim) relativiert. (Vgl. in diesem Zusammenhang Turniansky [1973: 1, VII und 35-48, speziell 43f., 47f.] zu einem ähnlichen Befund bei Alexander b.Jizhak und zur Möglichkeit von Interferenzen zwischen abendländischen und hebr. Reimtechniken.) Aus diesen Gründen habe ich für die vorliegende Arbeit Kormans Darstellung zwar ständig verglichen, sah aber nur gelegentlich Anlaß, auf sie einzugehen; andererseits teile ich, wo es mir sinnvoll scheint, eigene graphematische Beobachtungen an der Hs. von 1631 nach einer vollständigen (maschinenschriftlichen) Umschrift von W.O. Dreeßen und solche an der Ruthparaphrase von 1584 - bzw. an Jakob Koppelmanns Thargum sei homes megilöss, von dem sie ein Teil ist- nach dem Exemplar der Universitätsbibliothek Basel mit. Süsskinds Dissertation (New York University, 1942) wurde erst 1978 (unverändert) im Druck zugänglich, als die vorliegende Arbeit (in der die Hs. Ρ gelegentlich nach den längeren Auszügen bei Falk-Fuks [1961: 2.2-103] sowie nach einer Photokopie herangezogen wird) schon weit fortgeschritten war. Ich habe seine Darstellung genau durchgesehen, aber ihre Einzelergebnisse überall dort nicht mehr eingearbeitet, wo ich gleiche Befunde bereits anhand mehrerer Texte des 16. Jh. vorgeführt hatte. Obwohl reich an Beobachtungen, scheint mir die Arbeit in nicht wenigen Fällen keine genügende Vorstellung von der quantitativen Verteilung zweier Graphien zu vermitteln; ein Beispiel mag genügen. Auf S. 153 heißt es von der Entsprechung Ajin ~ mhd. e, sie stehe »meistens vor >r< [was zutrifft] und in >gengehen< mit A j i n folgen zwei Belege, von denen einer nach Süsskind zweifelhaft (und m . E . zu streichen) ist. A u f derselben Seite werden dann auch für J o d ~ mhd. e u.a. drei Vorkommensfälle von >gehen< zitiert. Eine N a c h p r ü f u n g ergab jedoch für dieses Verbum in Süsskinds Teiledition 1 A j i n : 2 2 J o d und bei ausgedehnten Stichproben in den unedierten Teilen der H s . nur weitere J o d - B e l e g e ; die H s . hat also in E n t sprechung zu mhd. e außer vor r als N o r m durchaus J o d (wie zu erwarten, vgl. unten § 5). Die Tücke des Objekts liegt darin, daß jede Aussage, die - vielleicht ungewollt -
freie Variation suggeriert, w o in Wirklichkeit eine klare N o r m vorliegt, die
Entstehung umfassenderer Darstellungen der historischen jidd. Graphematik-Phonematik erschweren muß. 7
Hier kann ich mich außer mit manchen Einzelvorstellungen auch mit Wolfs Theorie vom essentiellen Abbildcharakter der älteren jidd. gegenüber der dt. Orthographie nicht einverstanden erklären. Übrigens findet man schon in M . Weinreichs maschinenschriftlicher Dissertation ( 1 9 2 3 b : 2 . 3 0 - 3 5 ) eine gedrängte Diskussion graphematisch-phonematischer Probleme bei Hanower, die durch Wolfs Artikel überholt ist.
4
keineswegs
untersuchten Graphemsysteme in ganz unnötigem Maße als >unzweckmäßig< zu bezeichnen.8 0.1.5 Von sonstigen diachronischen Untersuchungen lautlicher Einzelprobleme stützen sich meines Wissens nur die Aufsätze von Joffe (1954) über die unterschiedlichen Entsprechungen von altlangem und gedehntem mhd. α im Wj. sowie von Birnbaum (1934, erweitert 1981) über Palatalisierung von u- und Entrundung von «-Phonemen in nennenswertem Umfang auf mitteljidd. Belegmaterial.9 0.1.6
Es bleiben einzelne Arbeiten sui generis zu nennen.
Stifs orthographiegeschichtlicher Aufsatz (1928b) ist in der Hauptsache dem 19.Jh. gewidmet und in dieser Hinsicht klassisch geworden. Doch geht der Autor einleitend auch auf den mitteljidd. Zeitraum ein: er vervollständigt die zwölf elementaren orthographischen Regeln, die sich mehr oder weniger explizit in einem kurzen, erstmalig dem Sefer midöss (1542) beigefügten Traktat finden, aus der graphematischen Praxis etwa gleichzeitiger Drucke - allerdings ohne diese oder gar die Belegstellen anzugeben — durch 37 weitere, regelartig dargebotene Feststellungen und gelangt dadurch zu einer Art idealtypischem Graphemsystem der Zeit um 15 50;10 einige Beobachtungen zu Krakauer Drucken des späten 16. Jh. und zu nicht spezifizierten Drucken der Folgezeit leiten dann über zum frühen 19. Jahrhundert. 8
9
10
So 1901 (: 29). Zwei Beispiele für extrem unvollkommene Ausschöpfung von Strukturen: a.a.O. führt Landau aus, »daß [...] bei Glückel jeder nhd. Vokal und Diphthong, mit Ausnahme des i und ei, durch 1 ausgedrückt werden kann« - aber in den wenigen dann folgenden Belegen ist die Quantitätsfrage ausgeklammert, Waw in Entsprechung zu lateinschriftl. (a) repräsentiert sicher kein gesprochenes [a], der e-Bereich ist nur durch [a] vertreten und die Gleichsetzung von ducht mit nhd. >däucht< phonemisch verfehlt; ferner lesen wir, »daß auch im Jüdischdeutschen die Vokale, insbesondere α und e, soweit als tunlich gar nicht ausgedrückt werden« (1911: XXXVI). Beide Feststellungen müssen Fernerstehenden statistisch falsche Vorstellungen suggerieren. Exemplarisch im gegenteiligen Sinne ist z.B., daß U. Weinreich (1963) und R . D . King (1976) bei ihren Untersuchungen zur Aufgabe der Auslautverhärtung, U. Weinreich auch in seinem Aufsatz über das Entsprechungsphonem von mhd. « (1958b) ganz auf die sprachgeographische Rekonstruktion vertrauen. [Tendenziell ähnlich jetzt Kiefer (1985)·] Durch die überknappe Formulierung der >Regelnorthographische< Perspektive und z.T. die Beibehaltung der Ausdrucksweise des Traktats werden mehrere Hauptprobleme des Vokalismus trivialisiert; z.B. finden sich in Entsprechung zu den dt. a-Phonemen nur die unscharfen Feststellungen, Aleph »bedeute Pathachaber auch Kamez< (Regeln 1 und 2, art.cit.33; wann denn das eine, wann das andere?) sowie »selbst in betonten Silben fehle oft das Vokalzeichen, speziell bei Aleph ~ [a]< (Regel 45, art.cit. 37; wo außer bei \a\ kann es denn in betonten Silben noch fehlen?). Gegenüber dem
5
Systematischer hat die expliziten Äußerungen von Zeitgenossen zur jidd. Schreibung, wie sie im wesentlichen kurz nach 1500, und die zur Lautung, wie sie kurz vor 1600 einsetzen, M . Weinreich aufgearbeitet, und z w a r im D r u c k (1923a: 5 9 - 1 3 9 ) für das 16.Jh., in seiner gleichzeitigen maschinenschriftlichen Dissertation ( 1 9 2 3 b ) auch für die Folgezeit bis zur Moderne. Mit möglicher (nach Weinreich sogar sicherer) A u s nahme des schon erwähnten Traktats sind sie an eine christliche Leserschaft gerichtet. 11 Während es sich dabei im graphematischen Bereich durchweg um elementare Bemerkungen in der A r t des Traktats handelt, geht es im phonematischen Bereich in dem uns interessierenden Zeitraum meist um Aussagen in Form von Beispiel Wörtern, deren kategoriale Aussagekraft jeweils erst zu ermitteln ist. In beiden Bereichen ist dem Material gegenüber durchaus die von Weinreich geübte kritische Distanz am Platz. 12
sicheren historischen Blick und dem Informationsreichtum, die sich im Hauptteil des Aufsatzes manifestieren, fällt freilich die globale Darstellungsweise der Einleitungsseiten nicht ins Gewicht. - Sehr irritierend wirkt dergleichen hingegen an prominenter Stelle einer Dissertation, wie im Lautlehrekapitel von L. Schnitzlers >Prager Judendeutsch< (Prager Diss. 1922, im Druck 1966: 17-26): auch hier fehlen durchweg die Text- und Stellenangaben, obwohl von den fünf zugrunde gelegten Texten die drei datierten sich über den Zeitraum von 1619 bis 1742 erstrecken (und die beiden undatierten vielleicht mit Prag nichts zu tun haben!); viel zu oft wird (dem Sinne nach) freie Variation behauptet; die phonematische Deutung erfolgt ohne jede Rechtfertigung, so daß (z.B. bei >oa< ~ mhd. «, op.cit. 21 §14) nicht auszuschließen ist, daß der Autor ortsfremde rezente Aussprachen in die Graphien hineindeutet; dazu kommen Widersprüche (z.B. wird als Entsprechung von gedehntem mhd. e auf S. 20 zunächst >e'ee< angegeben und nunmehr - bewußt? - Zusammenfall mit der Entsprechung von gedehntem mhd. e, ä unterstellt). Alle diese Mängel machen die Darstellung für unsere Zwecke so gut wie wertlos; hinzuzufügen bleibt allerdings, daß Schnitzler seine Hauptaufgabe auf lexikalischem Gebiet sah (op.cit. 11). 11
12
Weinreichs Behandlung des Sefer midöss und des ihm beigefügten Traktats (1923a: iojff., mit photographischer Reproduktion des Traktats; 1923b: i.ijöff.) ersetzt die ältere, in mancher Hinsicht unbefriedigende Darstellung Güdemanns (1888: 28off., vgl. 22jff.). Faßt man den Begriff der expliziten Äußerung etwas weiter, so gehören zeitlich vor Weinreichs ersten Zeugen Böschenstein (1514) noch die (natürlich an Juden gerichteten) rabbinischen Entscheidungen des 15.Jh. über die Schreibung von Orts- und Personennamen (Güdemann op.cit. 72ff.) sowie die sehr knappen, mit Petrus Nigri (147J, 1477) beginnenden Angaben der frühen christlichen Hebraisten zur aschkenasischen Aussprache des Hebr. (die man wohl vom eigentlichen Hebr. auf die hebr. Komponente des Jidd. übertragen darf; Gumpertz 1953: 31, M. Weinreich 1963-1964: 239, 249, 333). Das gilt auch für die Aussagen der illustersten unter den frühen »Jiddistenc Wagenseil etwa lehrt ohne Einschränkung noch (ö), (ii) ~ Waw-Jod, obwohl »in den von ihm angeführten Texten die Entrundung [auch graphisch] schon so gut wie ausnahmslos durchgeführt ist« (Weinreich 1923b: 2.61); ferner zieht er z.B. aus der Präfixform jidd. der- ~ dt. er- den überraschenden Schluß: »Wenn ein langes Wort mit einem E- anfähet, setzen die Juden gemeiniglich ein 1 /d/ voran« (a.a.O.) - usw. 6
0.1.7 Wie unbefriedigend insgesamt dieser Stand der Einzelforschung schon in quantitativer Hinsicht ist, lehrt ζ. B. ein vergleichender Blick auf die Bibliographien zum Frühnhd. von V. Moser (1929, 1951), Besch (1967), Stopp (1973, 1978) und Piirainen (1980), und zwar in so evidenter Weise, daß sich darauf einzugehen hier erübrigt. Dazu kommt noch, daß von allen genannten jiddistischen Arbeiten eigentlich keine den jeweils späteren als methodisches Vorbild gedient hat; infolgedessen wird man bei dem Versuch, Angaben aus mehreren Arbeiten zum Bild einer Entwicklung zu verbinden, unverhältnismäßig oft schon durch Unterschiede im technischen Detail behindert. In dieser Situation werden zwangsläufig auch die übergreifenden Darstellungen, in denen man nach Titel und Umfang unter anderem eine Behandlung der mitteljidd. Graphematik-Phonematik vermuten könnte, dem Gegenstand nicht gerecht. 0.1.7.1 In seiner vierbändigen, posthum erschienenen Geschichte der jidd. Sprache (1973) behandelt M. Weinreich zwar mit bewundernswerter Akribie die Vorgeschichte der lautlichen Elemente des Jidd. in deren Ursprungssprachen und die >Selektivität< des Jidd. gegenüber den jeweiligen Möglichkeiten; doch innerhalb des Jidd. gründet er seine Phonematik fast ganz auf die diasystematische Auswertung rezenter sprachgeographischer Befunde und zitiert ältere Graphien nur hier und da. 0.1.7.2 N o c h eindeutiger prägt sich die gleiche Grundhaltung in BinNuns Jiddisch und die deutschen Mundarten< aus (Diss. Heidelberg 1935, Teildruck 1936, Gesamtdruck 1973); der Autor bekundet gegenüber der Aussagekraft älterer Texte global eine weitgehende Skepsis (op.cit. 4of., 64) und führt im übrigen fast nur in seiner Auseinandersetzung (op.cit. 285-292) mit Mieses' >Die jiddische Sprache< (1924) von diesem beigebrachte mitteljidd. Graphien an, um sie anders zu deuten. 0.1.7.3 Mieses' Buch schließlich will dem Untertitel zufolge eine h i s t o rische Grammatik des Idioms der integralen Juden Ost- und Mitteleuropas< sein und steht mit diesem verfrühten Anspruch bis heute allein. Doch selbst hier spielen mitteljidd. Materialien gegenüber den rezenten und den außerjiddischen quantitativ nur eine bescheidene Rolle, treten vor allem in so inkohärenter Weise auf und ab, daß der Leser weder von dem Graphemsystem eines bestimmten Textes noch von der durchschnittlichen Entwicklung eine Vorstellung gewinnen kann. 13 13
Zudem sind die begleitenden Erklärungen oft falsch. Wo immer sich bei Bin-Nun (a.a.O.) eine Widerlegung oder bei M. Weinreich (1973 passim, oft übrigens auch 1923b)
7
0.2
Die drei Versionen von >Beria und Simra< als Kerntexte der vorliegenden Untersuchung
0.2.1 Da zur Schließung der beschriebenen Forschungslücke eine Teamarbeit der wünschenswerten Größenordnung anscheinend in allen an der Jiddistik interessierten Ländern auf absehbare Zeit noch außerhalb der materiellen Möglichkeiten liegt, ist zu fragen, wie hier gegenwärtig eine Einzelarbeit einen möglichst wirksamen Beitrag leisten kann. Als erstes läßt sich feststellen, daß trotz diachronischer Zielsetzung und dadurch bedingter überwiegend diachronischer Methodik nicht global auf die synchronische Perspektive verzichtet werden sollte. Es ist offensichtlich wünschenswert, daß der Leser - wie viel oder wie wenig Diachronie ihm auch geboten wird - zumindest einen, nach Möglichkeit mehrere exemplarische Texte vorfindet, an denen er ein vollständiges Graphemsystem in actu beobachten kann. Zugleich lassen sich an diesen >Kerntexten< methodische Grundfragen abhandeln, desgleichen periphere Sachfragen, die aus Gründen des Arbeitsvolumens gegenwärtig noch nicht in diachronischer Kontinuität dargestellt werden können. Eben um dieser Funktionen willen sollte aber wenigstens für die Kerntexte eine exhaustive Darstellung in dem Sinne angestrebt werden, daß grundsätzlich auch alle >Ausnahmen< erwähnt werden müssen. Ihrerseits setzt natürlich die Exhaustivitätsforderung, besonders in einer individuellen Arbeit, der Zahl und dem Umfang der Kerntexte sehr enge Grenzen. 0.2.2 In der vorliegenden Arbeit dienen als Kerntexte die drei Fassungen (R, V, P) der Erzählung >Beria und Simra