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German Pages 175 Year 1996
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 35
Gesetzgebungsverfahren und Reichstag in der Bismarck-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen Von
Norbert Ullrich
Duncker & Humblot · Berlin
NORBERT ULLRICH
Gesetzgebungsverfahren und Reichstag
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von
Wemer Kaltefleiter, U1rich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Bemdt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 35
Gesetzgebungsverfahren und Reichstag in der Bismarck-Zeit unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen
Von
Norbert Ullrich
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Ullrich, Norbert: Gesetzgebungsverfahren und Reichstag in der Bismarck-Zeit: unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Fraktionen I von Norbert Ullrich. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 35) Zug\.: Göttingen, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08613-9 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-08613-9
e
Gedruckt auf a1rerungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis Erster Teil Das Staatssystem des Kaiserreichs
13
A. Das Reich als Bundesstaat ........................................................................................ 13 B. Das konstitutionelle System ..................................................................................... 17
Zweiter Teil Die innere Struktur des Reichtags
23
A. Der rechtliche Rahmen der Reichstagstätigkeit ........................................................ 23
I.
Die Reichsverfassung ........................................................................................ 23
11.
Die Geschäftsordnung des Reichstags ............................................................... 24 1. Geschichte der Geschäftsordnung ................................................................ 24 2. Charakterisierung ......................................................................................... 25 3. Inhalt und Aufbau ........................................................................................ 27
B. Wahl und Zusammensetzung des Reichstags ........................................................... 28 I.
Wahl des Reichstags ......................................................................................... 28 1. Das Wahlrecht ............................................................................................... 28 2. Die Kandidatenaufstellung ........................................................................... 29 3. Der Wahlkampf ............................................................................................ 30 4. Die Wahlen .................................................................................................. 31
Inhaltsverzeichnis
8
5. Die Wahlprufung .......................................................................................... 32 11.
Die Zusammensetzung des Reichstags .............................................................. 32 I. Landsmannschaftliche und konfessionelle Struktur .................................... 32 2. Berufs- und Standesgruppen ........................................................................ 33 3. Politische Erfahrung und Anteilnahme an den Reichstagsgeschäften .......... 35 4. Das Diätenproblem ...................................................................................... 36
C. Die Organisation des Reichstags .............................................................................. 37 I.
Der Gesamtvorstand .......................................................................................... 37
11.
Das Bureau ........................................................................................................ 38
111. Der Präsident. .................................................................................................... 38 IV. Schriftführer und Quästoren ............................................................................. .40 I. Die Quästoren ............................................................................................... 40 2. Die Schriftführer, das Protokoll und die Stenographischen Berichte ........... .41 V.
Der Seniorenkonvent. ........................................................................................ 41
VI. Die Ausschüsse ................................................................................................ .42 I. Die Abteilungen .......................................................................................... .42 2. Die Kommissionen ...................................................................................... .43 a) Die eigentlichen Kommissionen ............................................................ .43 b) Die Freien Kommissionen ...................................................................... 46 c) Kommissionsähnliche Organe ................................................................ .47
D. Die Stellung des einzelnen Abgeordneten ............................................................... .47 I.
Arbeitsbedingungen ......................................................................................... .47
11.
Rechtsstellung des Reichstagsmitglieds .......................................................... ..48 1. Rechtsstellung gegenüber dem Staat und Personen außerhalb des Reichstags .................................................................................................... 48
Inhaltsverzeichnis
9
2. Rechtsstellung innerhalb des Reichstags ...................................................... 49 III. Tatsächlicher Einfluß, Bedeutung der Fraktionsmitgliedschaft ........................ .49
Dritter Teil
Die Fraktionen
53
A. Überblick .................................................................................................................. 53 I.
Die relevanten Gruppierungen .......................................................................... 53
11. Politische Kriterien für die Fraktionsbildung und Einstufung der Gruppen ........ 54 III. Die einzelnen Gruppierungen: Programme und Persönlichkeiten ..................... 55 1. Die Sozialdemokraten ................................................................................. 55 2. Die Fortschrittspartei, die Liberale Vereinigung und die DeutschFreisinnige Partei ......................................................................................... 56 3. Die Nationalliberale Partei ........................................................................... 58 4. Die Deutsche ReichsparteilFreikonservative ................................................ 59 5. Die (Deutsch-)Konservativen ....................................................................... 60 6. Das Zentrum ................................................................................................. 61 7. Die übrigen Gruppen .................................................................................... 62 a) Liberale und demokratische Gruppen ..................................................... 62 b) Die bundes staatlich-konstitutionelle Vereinigung .................................. 63 c) Partikularistische Gruppen ...................................................................... 63
B. Strukturen der Fraktionen ......................................................................................... 64 I.
Die Stärke der Fraktionen ................................................................................. 64
II.
Innerer Aufbau .................................................................................................. 66 1. Fraktionsvorstand und Fraktionsführung ..................................................... 66
10
Inhaltsverzeichnis 2. Sonstige formelle und informelle Gremien!Aufgabenverteilung .................. 71 3. Geschlossenheit und Fraktionsdisziplin ....................................................... 73 111. Außenbeziehungen ................................... ........ ................................................. 76 1. Das Verhältnis zur eigenen Partei ................................................................ 76 2. Das Verhältnis zur Presse ............................................................................ 81 3. Das Verhältnis zu gesellschaftlichen Organisationen ................................... 83 4. Die Beziehungen zu den Exekutivorganen des Reiches und der Einzelstaaten ...................................................................................................... 86 a) Die Exekutivorgane des Reiches in ihren Beziehungen zu den Fraktionen ............................................................................................... 86 b) Kontakte zu einzelstaatlichen Regierungen ............................................. 89 5. Die Beziehungen zu anderen Fraktionen des Reichstags ............................. 90
Vierter Teil
Der rechtliche Rahmen der Reichsgesetzgebung
94
A. Das Gesetz ................................................................................................................ 94 I.
Der Gesetzesbegriff ........................................................................................... 94
11.
Die Bedeutung des Gesetzes ............................................................................. 97
B. Die Reichsgesetzgebung und ihr Verhältnis zur Landesgesetzgebung ...................... 98 I.
Die Ausschließliche Gesetzgebung des Reiches ........ ................... .................... 99
11.
Die Konkurrierende Gesetzgebung ................................................................. 100
III. Die Ausschließliche Gesetzgebung der Länder ............................................... 101
C. Der Gang der Reichsgesetzgebung ......................................................................... 101 I.
Die Gesetzesinitiative ...................................................................................... 101
Inhaltsverzeichnis II.
11
Die Behandlung der Gesetzesentwürfe in den Legislativorganen ................... 102 I. Der Bundesrat ............................................................................................ 102 2. Der Reichstag ............................................................................................. 103 3. Verfahren bei unterschiedlichen Auffassungen von Bundesrat und Reichstag .................................................................................................... 105
III. Vom Gesetzesbeschluß zum geltenden Gesetz ................................................ 105 IV. Bewertung der Stellung der verschiedenen Staatsorgane im Gesetzgebungsprozeß .................................................................................................... 108
Fünfter Teil
Gesetzgebung und Fraktionen in der Reichstagspraxis
109
A. Die Gesetzesanträge ................................................................................................ 109 I.
Anträge von Mitgliedern des Reichstags ......................................................... 109 I. Die Anregung zu einem Gesetz .................................................................. 109 2. Die Ausarbeitung und Diskussion von Gesetzesanträgen vor der Einbringung im Reichstag .......................................................................... 111 3. Die Einbringung und Begründung von Gesetzesanträgen .......................... 114
II.
Gesetzesvorlagen des Bundesrats .................................................................... 115 1. Anregungen und Vorarbeiten ..................................................................... 115
2. Die Beratungen im Bundesrat .................................................................... 117 3. Die Einbringung und Begründung im Reichstag........................................ I 19
B. Die Behandlung von Gesetzesanträgen in den Fraktionen ..................................... 119
c. Die Arbeit in den Kommissionen ........................................................................... 125 D. Das Plenum............................................................................................................. 130
12
Inhaltsverzeichnis I.
Der fonnelle Ablauf der Gesetzesberatung ..................................................... 130
11.
Die Reden ....................................................................................................... 134
111. Abstimmungen und Taktik .............................................................................. 135 IV. Hintergründe, Auswirkungen und Bedeutung der Plenarsitzungen ................ 138
E. Die Beziehungen zwischen der Arbeit in Reichstag und Regierungsorganen .......... 140
F. Kompromiß oder Konflikt? Gesetzesentstehung im Spannungsfeld zwischen Regierungsorganen, Reichstagsmehrheit und Reichstagsminderheit.. ..................... 150
Anhang ......................................................................................................................... 161
Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 163
Erster Teil
Das Staatssystem des Kaiserreichs Das bismarcksche Reich und damit auch Parlament und Gesetzgebung gewannen ihre besondere Prägung durch zwei Hauptmerkmale: Bundesstaat und Konstitutionelle Monarchie. Die Beharrongskraft der klein- und mittelstaatlichen Regenten, die ihre Stütze an dem System der europäischen Großmächte und dem deutschen Dualismus zwischen Preußen und Österreich gefunden hatten, bedingte den föderalen Charakter der geeinten (klein-)deutschen Monarchie. Dafür gab es kein unmittelbares Vorbild - die Bundesstaaten USA und Schweiz waren ja republikanisch verfaßt. Die konstitutionelle Monarchie ihrerseits war Staatsform aller deutschen Flächenstaaten und damit naturgemäß auch Grundlage des neugeschaffenen Reiches, zumal sie als "Komprorniß" zwischen monarchischer Allmacht und republikanischen Bestrebungen dem Zeitgeist entsprach. Die neugeschaffene Verbindung von Bundesstaatlichkeit und Konstitutionalismus in der Reichsverfassung setzte der parlamentarischen Gesetzgebung Grenzen, bot ihr aber auch Entwicklungschancen.
A. Das Reich als Bundesstaat Das Bismarckreich entstand als Zusammenschluß ursprünglich souveräner Staaten, und zwar zunächst 1867 als Norddeutscher Bund, 1871 dann unter Einbeziehung der süddeutschen Staaten - mit Ausnahme Österreichs - als Deutsches Reich I. Deutschland wurde damit vom Staatenbund (Deutscher Bund) zum Bundesstaat2. Der bundesstaatliche Charakter des Deutschen Reiches war
Quellen bei Fenske. Weg zur Reichsgründung; grundlegende Darstellung bei Becker. Bismarcks Ringen; von den zahlreichen Darstellungen der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seien hier aus neuester Zeit genannt Craig. Deutsche Geschichte 1866-1945. S. 13 ff.; Mommsen. Ringen um den nationalen Staat; Nipperdey, Deutsche Geschichte 18661918 2. S. lI ff., Stürmer. Ruheloses Reich; aus verfassungsgeschichtlicher Sicht Boldt. Deutsche Verfassungsgeschichte 2. S. 163 ff.; Huber, Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung; ders .• Verfassungsgeschichte 3. S. 510 ff.; Kröger. Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, S. 82 ff.; Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. S. 234 ff.; gegen die ganz herrschende Meinung von der Identität Norddeutscher Bund - Deutsches Reich Huber, Verfassungsgeschichte 3. S. 760 ff. 2 Arndt. Staatsrecht, S.I ff.• 41; Hänel. Staatsrecht I. S. 14ff., 192ff.; Meyer, Lehrbuch des Staatsrechts, S. 132 ff.• 169 f.; Rönne, Staat~recht I. S. 35 ff.; Zorn, Staatsrecht I, S. 75 ff.; aus heutiger Sicht besonders Huber. Verfassungsgeschichte 3. S. 786 ff.; vgl. Binder. Reich und Einzelstaaten. S. I ff.• jeweils m.w.N.
14
1. Teil: Das Staatssystem des Kaiserreichs
und ist kaum umstritten; die Souveränität3 lag zumindest nicht mehr ausschließlich auf der Ebene der Länder4. Für die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Reich und Ländern staatstheoretisch im einzelnen gestaltete, ist in erster Linie von der organisatorischen Struktur des Kaiserreichs auszugehen. Nach dem Verfassungstext war oberstes Organ der BundesratS, der aus Vertretern der Länder bestand. Er war Reichs-, nicht etwa gemeinsames Länderorgan 6, und übte sowohl Gesetzgebungs- als auch Regierungsfunktionen aus. Auch wenn sich letzteres durch die Einführung des verantwortlichen Reichskanzlers und die "normative Kraft des Faktischen" relativieren sollte, wie noch zu zeigen sein wird, hatten doch die Länder mittels ihrer Vertretung im Bundesrat maßgeblichen Einfluß auf die Reichspolitik. Gerade im Bereich der Gesetzgebung war, anders als nach dem Grundgesetz, stets die Zustimmung des Bundesrats erforderlich (Art. 5 RVerf). Die Länder hatten ihrerseits originäre Rechte7 ; soweit dem Reich nicht ausdrücklich die Gesetzgebungskompetenz für bestimmte Materien zugewiesen war, stand sie den Ländern zu. Eine mögliche Ausweitung der Reichskompetenz war im Bundesrat nach Art. 78 RVerf bereits durch 14 der 58 Stimmen, d.h. allein von Preußen oder den anderen drei Königreichen, zu verhindern. Die Übertragung aller Kompetenzen auf das Reich hätte ohnehin dem bundesstaatIichen Prinzip widersprochen 8 . Geschützt war auch die Existenz jedes Gliedstaats sowie die Gliederung des Reiches in Länder an sich9 • Besonders betont wurde die EigenstaatIichkeit der Länder durch die Entstehung des Reiches als eines Bündnisses von Staaten, die Übernahme der Stimmenverhältnisse im Bundesrat vom Bundestag des Deutschen Bundes und den Austausch von Gesandten der Länder untereinander sowie zum Teil sogar mit auswärtigen Mächten lO • Dem stehen gegenüber die
Zum Begriff der Souveränität aus heutiger Sicht Randelzhofer, Staatsgewalt und Souveränität, m.w.N. 4 A.A. Seydel, Bundesstaatsbegriff, S. 215 ff.; ders., Commentar, S. 13 ff. , Zum Bundesrat Arndt, Staatsrecht, S. 88 ff.; Meyer, Lehrbuch des Staatsrechts, S. 353 ff.; Riinne, Staatsrecht 1, S. 194 ff.; Schulze, Lehrbuch des Staatsrechts 2, S. 45 ff.; Zorn, Staatsrecht 1, S. 145 ff.; aus heutiger Sicht Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 41 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 848 ff.; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 48 ff.; Scholl, Bundesrat, S. 18 ff. 6 Arndt, Staatsrecht, S. 114; Hänel, Staatsrecht I, S.336; R{;nne, Staatsrecht I, S. 195; Schulze, Lehrbuch des Staatsrechts 2, S. 47; heute Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 853; Kröger, Einführung in die jüngere deut~che Verfassungsgeschichte, S. 94; Scholl, Bundesrat, S. 34 ff.; a.A. zeitgenössisch Seydel, Commentar, S. 124 f., 132. 7 Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 794. M Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 794 f., 803 f., mit Nachweisen zur älteren Literatur, in der diese Frage umstritten war . • Ebenda. JO Zu den Gesandtschaften siehe Binder, Reich und Einzelstaaten, S. 164 ff.
A. Das Reich als Bundesstaat
15
nach Art. 19 RVerf mögliche Exekution gegen Bundesmitglieder und die in der Präambel der Verfassung ausdrücklich erwähnte ewige Dauer des Bundes. Auch erfolgte die Besetzung wesentlicher Positionen der Reichsleitung nicht durch Entsendung seitens der Länderregierungen; hinzu kommen noch die gemeinsame Staatsangehörigkeit (Art. 3 RVert) und der Reichstag als "unitarisches" Element. Während also einige Relikte aus der Zeit des Deutschen Bundes bzw. Anknüpfungen daran in der Verfassung verblieben, die die Länder als eigenständige Staaten erscheinen lassen, drücken gerade die neugeschaffenen Versatzstücke im Verfassungsgefüge des Reiches dessen Charakter als nationaler Staat aus. Das entsprach sowohl der tatsächlichen Entstehungsgeschichte der Bismarckschen Gründung, in der neben dem formalen Bündnis mit den Fürsten das politische Zusammenwirken mit der liberalen Nationalbewegung eine entscheidende Rolle gespielt hatte, als auch der weiteren Entwicklung, die in Richtung einer Stärkung der Reichseinheit ging. Wollte man gleichwohl eine zum Teil noch bei den Ländern liegende Souveränität annehmen - wogegen aus verfassungstheoretischer Sicht bereits einzuwenden ist, daß Souveränität als höchste Staatsgewalt nicht teilbar ist ll -, so hätte sich diese in der Verfassungspraxis nicht ausgewirkt. Fraglich ist allerdings, ob die Souveränität beim Reich als höherer Einheit lag oder zwischen einem Zentralstaat ("Gesamtstaat") und einem Gesamtstaat ("Bundesstaat") zu differenzieren ist, wobei ersterer die zentralen Aufgaben wahrnimmt, letzterer als Zusammenfassung von Zentralstaat und Ländern aber den souveränen Staat darstellt. 12 Die hiermit angesprochene Dreigliederungslehre erklärt letztlich ein von der Verfassung weder genanntes noch gar mit Kompetenzen ausgestattetes und auch politisch nicht erkennbares Konstrukt zum eigentlichen Staat. Ob solcher Praxisferne ist sie abzulehnen. Staatsrechtlich war das Kaiserreich also ein Bundesstaat, bei dem über der Ebene der Länder das souveräne Reich stand. Aufgrund der Konstruktion des Bundesrats war allerdings der Einfluß der Länder auf die Tätigkeit des Reiches größer als umgekehrt. Die Bundesratsvertreter der Länder waren gemäß Art. 7 RVerf an Instruktionen ihrer jeweiligen Regierung gebunden, d.h. diese bestimmten nicht nur, wer sie vertrat, sondern auch wie er sie vertrat. Das Reichsorgan Bundesrat war daher ganz offiziell in seiner Beschlußfassung vom Willen der Länderregierungen abhängig. Wenn der Bundesrat die ihm ursprünglich zugedachten Regierungs11 Huber, Verf:)~sungsgeschichte 3, S. 794 f.; vgl. Randelmo/er, Staat~gewalt und Souveränität, S. 705; insoweit ijbereinstimmend Seydel, Bundesstaatsbegriff, S. 185 ff.; Zorn, Staatsrecht 1,
S.65.
12 Letztere Ansicht, die "Dreigliederungslehre", wurde vor allem vertreten von Hänel, Studien I, S. 63 ff.; dem folgt heute Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, S. 93; andere ältere Variante der Dreigliederungslehre bei Gierke, Labands Staatsrecht, S. 1168 ff.; Gegenargllmentation bei Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 792 ff.
16
l. Teil: Das Staatssystem des Kaiserreichs
aufgaben auch nicht im vorgesehenen Maß wahrnehmen sollte 13, gab doch die Beteiligung des Bundesrats an der Gesetzgebungspraxis, in der Vorlagen regelmäßig zunächst im Bundesrat und dann erst im Reichstag beraten wurden l4, ihm erhebliches Gewicht. Da das Reich nur im Bereich der Gesetzgebung auf die Zustände in den Ländern Einfluß nehmen konnte, nicht aber im Bereich der Regierung und nur wenig in dem der Jurisdiktion (Reichsgericht), lag es in der Hand der Einzelstaaten, ihre Selbständigkeit zu wahren. Dieses Bild relativiert sich insofern, als zwischen Preußen und den übrigenunter sich wiederum mit unterschiedlichem Gewicht ausgestatteten - Ländern zu differenzieren ist. Preußen, nach Räche, Bevölkerungszahl, Wirtschaftskraft und militärischem Potential allen anderen Ländern zusammen überlegen, war Hegemonialmacht und enger als die kleineren Staaten mit dem Reich verbunden l5 . Zwar entsprachen die 17 Stimmen Preußens im Bundesrat nicht einmal der Hälfte dessen, was Preußen nach den eben genannten Kriterien zugestanden hätte, und machten es auf den ersten Blick den übrigen Ländern leicht möglich, die Führungsmacht zu überstimmen. Doch angesichts der Abhängigkeit vieler nord- und mitteldeutscher Kleinstaaten von Preußen l6 und der fehlenden Koordination einer etwaigen antipreußischen Oppositionl 7 bedurfte es keiner größeren Pressionen l8 , um in aller Regel zumindest einen Kompromiß im preußischen Sinne durchzusetzen. Die Geringfügigkeit der preußischen Sonderrechte im Bundesrat wurde dadurch mehr als aufgewogen, daß nach Art. 11 RVerf das Präsidium des Reichs an die preußische Krone gebunden war, woraus sich die Ernennung des Reichskanzlers durch den preußischen König in seiner Eigenschaft als Kaiser ergab (Art. 15 RVerf). Dessen - noch zu behandelnde l9 - zentrale Stellung und die übliche Koppelung seines Amtes mit dem des preußischen Ministerpräsidenten und Außen ministers band das Reich an Preußen und umgekehrt (!)2O. Dieser Trend wurde durch die Nutzung preußischer Ministerialbürokratie durch das Reich und die Verbindung preußischer Ministerämter mit Reichsstaatssekretärsstellen noch verstärkt.
" S.u. l.Teil B., S. 18 ff. " S.u. 4.Teil C., S. 101 ff.; 5.Teil A. 11., S. 115 ff. " Zum Verhältnis Reich-Preußen besonders Hauser, Problematik "Preußen und Reich", mit Beiträgen diverser Autoren; Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 780, 798 ff.; Mommsen, Ringen um den nationalen Staat, S. 342 ff.; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 47 ff.; Schulze, Preußen und das Reich, S. 156 Cf.; Triepel, Hegemonie, S. 541 ff. I. Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 60 f. 11 Rauh, a.a.O., S. 52 ff. " Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 799. S.u. l.Teil B., S. 19 f.
I.
'0
Darauf weist besonders Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 800 f. hin, der Preußen als "Hausmacht des Reiches" bezeichnet.
B. Das konstitutionelle System
17
B. Das konstitutionelle System Das Kaiserreich wird gemeinhin als konstitutionelle Monarchie angesehen 21 , auch wenn bereits Zeitgenossen - nicht nur Staatsrechtler, sondern auch Parlamentarier22 - konstatierten, es weiche von der typischen Form des deutschen Konstitutionalismus stark ab. Da das Reich als Zusammen schluß deutscher Staaten, die größtenteils als konstitutionelle Monarchien organisiert waren, unter Führung des zweifellos ebenfalls konstitutionellen Preußen entstand, prägte diese Staatsform fast zwangsläufig auch die Bismarcksche Verfassung. Die Staatsorganisation des Reiches läßt sich daher nur vor dem Hintergrund des Konstitutionalismus verstehen. Die typisch konstitutionelle Doktrin 23 geht zunächst vom "monarchischen Prinzip"24 aus. Souverän, d.h. (ursprünglicher) Träger der Staatsgewalt, ist danach der Monarch. Dessen Krone vererbt sich innerhalb der regierenden Dynastie. Seine Legitimation bezieht der Herrscher nicht vom Volk, sondern sie ist theoretisch - falls im Gegensatz zur praktisch wohl wichtigeren Tradition danach überhaupt gefragt wird - göttlichen Ursprungs; diese Auffassung ist auch noch Teil des Staatsdenkens Bismarcks25 . Konstitutionell wird der Staat dadurch, daß die Befugnisse des Herrschers Einschränkungen durch eine Verfassung erfahren. Der Monarch gibt freiwillig einen Teil seiner Rechte ab. Um dem Monarchischen Prinzip zu genügen, darf die Verfassung an sich nicht vom Monarchen mit Vertretern des Volkes bzw. der Stände vereinbart werden; er gibt sie vielmehr aus eigener Machtvollkommenheit26 . Praktisch beruhten allerdings viele Verfassungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts - einschließlich der preußischen - auf Vereinbarung. Dem Monarchen verblieb dabei anders als in manchen westeuropäischen Staaten nicht bloß die Herrschafts-, sondern auch die Regierungsgewalt. Er ernennt und entläßt den oder die Minister. Verwaltung und vor allem Militär sind mittels der Minister oder unmittelbar Sache des Herrschers. Gesetze treten nur mit seiner Zustimmung in Kraft.
Einschränkend Mommsen, Ringen um den nationalen Staat, S. 340: "halbkonstitutionell" . Unruh, Erinnerungen, S. 274. 2) Dargestellt besonders bei Böckenförde, Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie, S. 147 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 3 ff. m.w.N. 24 Grundlegend Stahl, Monarchisches Prinzip; dazu heute außer den soeben Genannten vor allem Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 37 ff.; Wiegand, Über Friedrich Julius Stahl, S. 255 ff. 25 Lösener, Grundzüge von Bismarcks Staatsauffassung, besonders S. 68 f. (mit Nachweisen). 2. Böckenförde, Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie, S. 149. 21 22
2 Ullrieh
18
I. Teil: Das Staatssystem des Kaiserreichs
Gegenpol zum Monarchen im konstitutionellen System ist die Volks- oder Ständerepräsentation, wobei die zur Zeit der Reichsgründung historisch überholte ständische Variante27 hier vernachlässigt werden kann. Die Rechte der Volksvertretung, des Parlaments, liegen im wesentlichen in der Beteiligung an der Gesetzgebung und der Kontrolle der Regierung. Gesetze werden vom Parlament beschlossen; regelmäßig haben sowohl die Krone als auch die Parlamentarier das Recht der Gesetzesinitiative. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die in Gesetzesform vorgenommene Bewilligung der Staatsausgaben; dieses Budgetrecht28 gab der Volksvertretung grundsätzlich Einfluß auf alle Bereiche der staatlichen Politik, soweit sie mit Kosten verbunden war, und ermöglichte gleichzeitig eine effektive Kontrolle. Der Kontrolle diente außerdem die Verantwortlichkeit des oder der Minister gegenüber dem Parlament. Ein Einfluß des Parlaments auf die Berufung und Abberufung des Ministeriums war damit - rechtlich - nicht verbunden. Das Parlament selbst bestand vielfach aus zwei Kammern, von denen eine nach ständestaatlichen Gesichtspunkten besetzt, die andere vom Volk gewählt war - selten allerdings in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen. Typisch für konstitutionelle Monarchien waren daneben noch die Rechtsstaatlichkeit und - damit zusammenhängend - ein Grundrechtskatalog in der Verfassung. Das Bismarckreich29 hatte demgegenüber eine komplizierter organisierte Staatsspitze. Oberstes Organ war der Theorie nach nicht ein einzelner Monarch, sondern der Bundesrat (Art. 6 ff RVert)3o, in dem die Monarchen bzw. Regierungen der Länder repräsentiert waren. Als mit dem Bundesrat um die Führung konkurrierendes Organ gab es außerdem das Präsidium, den Kaiser, der gleichzeitig König von Preußen war (Art. 11 RVert). Der vom Kaiser ernannte Reichskanzler führte den Vorsitz im Bundesrat (Art. 15 RVert). Der Kanzler
27 Dazu Mager, Problem der landständischen Verfassungen, S. 296 ff.; Wunder, Landstände und Rechtsstaat, S. 139 ff.; vergleichend Grawerr, Gesetzgebung im Wirkungszusammenh~g konstitutioneller Regierung, S. 115 ff. 2K Heun, Staatshaushalt und Staat~leitung; speziell zum Bismarckreich S. 76 ff. 29 Zur Reichsverfassung zeitgenössisch Arndt, Staatsrecht; Hänel, Staatsrecht I; Laband, Staatsrecht; Meyer, Lehrbuch des Staatsrechts; Rönne, Staatsrecht; Schulze, Lehrbuch des Staatsrechts; Seydel, Commentar; Zorn, Staatsrecht; heute Boldt, Deut~che Verfassungsgeschichte 2, S. 160 ff.; Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 767 ff.; ders., Bismarcksche Reichsverf:l$sung, S. 171 ff.; Kröger, Einführung in die jüngere deutsche Verfassungsgeschichte, S. 92 ff.; Mommsen, Ringen um den nationalen Staat, S. 339 ff.; Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-19182, S. 85 ff.; Pikart, Rolle der Parteien, S. 295 ff.; Rauh, Föderalismus und Parlamentarismus, S. 48 ff.; Wahl, Preußischer Verfassungskonflikt und konstitutionelles System, S. 208 ff.; Wil/oweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 250 ff. '" Vgl. Scholl, Bundesrat, S. 39 f.
B. Das konstitutionelle System
19
stand an der Spitze der Reichsleitung 31 , die mit der Verselbständigung neuer Reichsämter allmählich einen organisatorischen Unterbau gewann. Diese Organe lassen sich bestimmten Funktionen am sinnvollsten aus der Sicht des Parlaments zuordnen. Parlament des bismarckschen Staates war der Reichstag. Er war ein für seine Zeit ausgesprochen demokratisch, nämlich gemäß Art. 20 RVerf in allgemeiner, gleicher, direkter und geheimer (sowie auch freier) WahP2 zustande kommendes Nationalparlament. Seine Rechte lagen auf dem Gebiet der Gesetzgebung, der Regierungskontrolle und im dazwischen angesiedelten Budgetbereich. Der Reichstag hatte, soweit die Gesetzgebungskompetenz des Reiches ging, das Recht der Gesetzesinitiative (Art. 23 RVerf) , und zwar sogar für verfassungsändernde Gesetze33 . Zum Zustandekommen eines Gesetzes bedurfte es eines entsprechenden Reichstagsbeschlusses; allerdings war auch ein übereinstimmender Beschluß des Bundesrats notwendig (Art. 5 RVerf). Der Bundesrat war hinsichtlich der Gesetzgebung mit dem Reichstag völlig gleichberechtigt und hatte in der Praxis sogar insoweit Priorität, als Gesetzesinitiativen meist aus den Reihen der Regierungen kamen und dementsprechend zuerst im Bundesrat, dann im Reichstag behandelt wurden 34 • Dem Kaiser blieb im Gesetzgebungsverfahren nur die Sanktion 35 , d.h. die Erteilung des Gesetzesbefehls, und die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes. Er war dabei an die Beschlüsse von Reichstag und Bundesrat gebunden; ein Vetorecht stand ihm nicht zu 36 . Im Bereich der Gesetzgebung übernahm nach der Verfassung also der Bundesrat die Funktion des konstitutionellen Monarchen, soweit der materielle Gesetzesinhalt betroffen war, während formell die monarchischen Befugnisse zwischen Bundesrat und Kaiser aufgeteilt waren. Die wirkliche Gewichtsverteilung sah allerdings anders aus, besonders wenn man die Gesetzesinitiative37 mit in die Überlegungen einbezieht. Hier kommt nämlich der Reichskanzler ins Spiel, der üblicherweise auch preußischer Ministerpräsident und stets preußischer Außenminister war. Er ließ den weit überwiegenden Teil der Gesetzesvorlagen einbringen, und zwar entweder als preußische Vorlagen oder im Namen des Präsidiums. Dank deren Ausarbeitung in preußischen Ministerien bzw. später zunehmend in Reichsämtern gewann die im politischen Geschäft durch den Reichskanzler handelnde kaiserliche Staatsspit" Die Bezeichnung "Reichsregierung" wurde von den Zeitgenossen vermieden. 32 Zu Wahlen und Wahlrecht s.u. 2.Teil B. 1., S. 28 ff. " S.u. 4.Teil C. 1., S. 101. " S.u. 5.Teil A. 11., S. 115 ff. 3S S.u. 4.Teil C. III., S. 105 ff. 3. Ebenda. 37 Zur Gesetzesinitiative s.u. 4.Teil C. 1., S. 101., 5.Teil A., S. 109 ff.
20
l. Teil: Das Staatssystem des Kaiserreichs
ze einen erheblichen Einfluß auch auf die Inhalte der Gesetzgebung. Die Persönlichkeit Bismarcks trug das Ihrige dazu bei, diesen Einfluß noch zu verstärken - die Besetzung des Kanzlerpostens mit dem Fürsten prägte die Verfassungswirklichkeit, nachdem bereits der Verfassungstext in der Urfassung auf Bismarck selbst zurückging 38 • Daß Wilhelm I., Friedrich III. und zunächst Wilhelm 11. persönlich wenig in das politische Tagesgeschäft eingriffen, schwächte das kaiserliche Amt und seine Position im Gesetzgebungsverfahren nicht, sondern befestigte eher die kaiserliche Autorität. Auch der Kanzler Bismarck war letziich vom Vertrauen des Monarchen abhängig. Und Bismarck war schon aufgrund der von ihm bekleideten Ämter, erst recht wegen seiner Regierungsweise und persönlichen Autorität, das Verbindungsglied zwischen Kaiser, Preußen, Bundesrat und Reichstag. Auch während des im Reichstag laufenden Gesetzgebungsverfahrens war er der zentrale Ansprechpartner auf Regierungsseite für die Abgeordneten 39 • Gleichzeitig war - neben dem Budgetrecht - die verfassungsrechtliche Stellung des Reichskanzlers der Ansatzpunkt für eine parlamentarische Kontrolle der Regierungspolitik. Art. 17 RVerf schrieb die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers fest. Auch wenn mangels eines Ministeranklagegesetzes oder gar eines Verfassungsgerichtes diese Verantwortlichkeit nicht justiziabel war, stellte die Bestimmung doch den Kanzler als politisch für die Regierungen stehende Person heraus. Der Reichstag erhielt damit statt der unangreifbaren, anonymen vielköpfigen Ministerbank Bundesrat einen klar erkennbaren Gegenpart auf Seiten der Exekutive. Obgleich diese Konstruktion nicht Bismarcks ursprünglicher Absicht entsprach, stärkte sie die Stellung des Kanzlers erheblich. Für den Reichstag lag in der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers - abgesehen vom dadurch gewahrten Prinzip der parlamentarischen Regierungskontrolle - eine Chance, in Zukunft größeren Einfluß auf die Reichspolitik zu gewinnen. Solange Bismarck das Amt bekleidete, gab sein hohes Prestige eher der Exekutive Einfluß auf das Parlament«>. Sehr weitgehende Rechte gewährte die Reichsverfassung dem Reichstag auf dem Gebiet der Reichsfinanzen (Art. 69 ff RVerf). Der Reichshaushalt war jährlich durch ein Gesetz zu beschließen (Art. 69 RVerf) , die Mittelverwendung unterlag der Kontrolle des Reichstags (Art. 72 RVerf). Das Parlament hatte ein
JK
Entstehungsgeschichte der Reichsverfassung bei Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 649 ff.,
724 ff.
,. S.u. 3.Teil B. IlI. 4., S. 86 ff., 5.Teil E., S. 148 ff. Vgl. Mommsen, Ringen um den nationalen Staat, S.346; aber auch (anders akzentuierend) Pikart, Rolle der Parteien, S. 305. 40
B. Das konstitutionelle System
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umfassendes Steuerbewilligungsrecht4'. Auch das Volumen des Militäretats wurde im Wege der Gesetzgebung bestimmt (Art. 60, 62 RVerf). Im letztgenannten Bereich, der den Löwenanteil des Reichshaushalts ausmachte, ergaben sich allerdings erhebliche Einschränkungen: Eine Kontrolle war schon verfassungsmäßig nicht vorgesehen, und durch die faktisch seit 1874 über die gesamte Bismarckzeit auf jeweils sieben Jahre erfolgende Festlegung der Friedenspräsenzstärke begab sich der Reichstag auch seiner ständigen Eint1ußnahmemöglichkeit. Im Verhältnis zwischen den Staatsorganen ist insoweit noch hervorzuheben, daß der Bundesrat im Finanzbereich mehr die Züge eines Parlaments als einer Exekutive trug. Er war nicht nur mit dem Reichstag gleichgeordnet an den Beschlüssen beteiligt, sondern nahm nach Art. 72 auch ebenso an der Kontrolle teil. Damit stellt sich die Frage nach dem Bundesrat als zwar möglicherweise nicht gewichtigsten, aber am schwersten einzuordnenden Organ des Bismarckreichs. Trotz vieler Parallelen in den Rechten von Reichstag und Bundesrat war der Bundesrat keine zweite Parlamentskammer42 . Art. 9 RVerf trennte beide durch das Verbot der gleichzeitigen Mitgliedschaft streng voneinander. Der Bundesrat seinerseits war über den Vorsitz, den der Reichskanzler in ihm führte (Art. 15 RVerf), und die Praxis der Ernennung derselben Männer zu preußischen Ministern, Bundesratsbevollmächtigten und Reichsstaatssekretären eng mit der Reichsleitung verbunden. Außerdem war das in Art. 9 RVerf festgesetzte Recht der Bundesratsmitglieder, jederzeit im Reichstag das Wort zu ergreifen, typisch für konstitutionelle Minister43. Somit ist der Bundesrat der Regierungsseite zuzuordnen. Er diente einer föderativen Regierungsbeteiligung der Einzelstaaten. Inwiefern man das Reich als konstitutionelle Monarchie einordnet und ob man eher eine klare Kompetenzaufteilung 44 oder ein kunstvolles Chaos 45 sieht, hängt mithin sehr von der Perspektive ab. Aus Reichstagssicht läßt sich durchaus von einer - im Kontrast zum fehlenden Grundrechtskatalog insgesamt durch erhebliche demokratische Rechte gekennzeichneten - konstitutionellen Monarchie mit klarer Kompetenzaufteilung zwischen Parlament einerseits und Regierungsorganen andererseits sprechen. Aus Sicht der Exekutive komplizierte die föderale Struktur das konstitutionelle System sehr. Solange man die konstitutionelle Monarchie als gegeben hinnimmt, läßt sich also das System Bismarck zumindest nicht als im Sinne der Volksbeteiligung negative Abweichung vom
4' Darin sieht Unruh, Erinnerungen, S. 274, einen der Unterschiede zu typischeren konstitutio· nellen Systemen. 4Z Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 853. 43 Z.B. Art. 60 Preußische Verfass ung . .. So z.B. sinngemäß Scholl. Bundesrat. S. 40 . ., In diese Richtung tendiert etwa Pikart. Rolle der Parteien. S. 299 ff.
22
1. Teil: Das Staatssystem des Kaiserreichs
üblichen Typus einordnen. Eine andere Akzentsetzung kann sich erst aus einer Einschätzung der konstitutionel1en Monarchie als Übergangsform auf dem Weg zur parlamentarischen Regierung ergeben 46 •
46 Dazu insbesondere einerseits BiJckenj(jrde, Verfassungstyp der deutschen konstitutionellen Monarchie, S. 146 ff.; andererseits Huber, Verfassungsgeschichte 3, S.3 ff.; ders., Bismarcksche Reichsverfassung, S. 194 ff.
Zweiter Teil
Die innere Struktur des Reichstags A. Der rechtliche Rahmen der Reichstagstätigkeit I. Die Reichsverfassung
Die Reichsverfassung beschäftigte sich in ihrem V. Abschnitt mit dem Reichstag. Sie orientierte sich dabei nur in geringem Maße an älteren deutschen Verfassungen, unter denen namentlich die Paulskirchenverfassung von 1849 und die Preußische Verfassung von 1850 in Betracht gekommen wären. Vielmehr legte das vor allem von Bismarck persönlich bestimmte Verfassungs werk 1 in diesem Bereich Originalität und zum Teil Modernität an den Tag. So war der Reichstag als Einkammerparlament konzipiert, während Preußen oder etwa auch die anderen europäischen Großmächte zwei Kammern besaßen - der Bundesrat, kein eigentliches Parlament, ist nicht als zweite Kammer anzusehen 2. Diese 1867 neu begründete Tradition ist in Deutschland mit dem Reichstag der Weimarer Zeit und dem heutigen Bundestag weitergeführt worden. Die Abgeordneten des Reichstags waren gemäß Art. 29 "Vertreter des gesamten Volkes", wobei das Wort "Vertreter" untechnisch gemeint ist - das Volk wirkte ausschließlich und einmalig bei der Wahl des Reichstags auf dessen Willens bildung ein 3 . Gemeint war das gesamte deutsche Volk, nicht etwa die Bevölkerung der Einzelstaaten, was dem Reichstag einen unitarischen Charakter gab4 . Die Wahl war nach Art. 20 allgemein, direkt und geheim. Das diesen modernen Grundsätzen erst die demokratische Spitze aufsetzende gleiche Wahlrecht folgte nicht unmittelbar aus der Verfassung, sondern wurde durch das Wahlgesetz (§ 1) festgelegt. Dabei orientierte man sich an dem Wahlrecht des Revolutionsjahres 1848. Eine starke Volksbeteiligung ergab sich auch aus der kurzen Legislaturperiode von 3 Jahren (Art. 24), die 1888 allerdings auf 5 Jahre verlängert wurde. Über die Ordnung des gewählten Parlaments sagte die Verfassung nur wenig. Art. 26 schützte den Reichstag vor willkürlicher Vertagung seitens der Staatsspitze. Auch dem einzelnen Abgeordneten garantierten die Artikel 29, 30 Zur Entstehungsgeschichte Huber, Verfassungsgeschichte 3, S.642 ff, 742 ff. Vgl. Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 880. Laband, Staatsrecht 2, S. 502 ff. Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 880 f.
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2. Teil: Die innere Struktur des Reichstags
(Indemnität) und 31 (Immunität) eine unabhängige Stellung. Eine Besoldung oder Entschädigung schloß Art. 32 ausdrücklich aus. Außerdem regelte die Verfassung noch die Frage der Beschlußfassung (mit absoluter Mehrheit) und der Beschlußfähigkeit (Art. 28) sowie die Öffentlichkeit der Verhandlungen, die durch Art. 22 zwingend vorgeschrieben wars. Im übrigen gab Art. 27 dem Reichstag das Recht, über seine Interna selbst zu bestimmen, d.h. er besaß die Geschäftsordnungsautonomie.
11. Die Geschäftsordnung des Reichstags
1. Geschichte der Geschäftsordnung
Für den erstmals am 25.2.1867 zusammentretenden Konstituierenden Reichstag bestand noch keine Geschäftsordnung, er mußte sich vielmehr selbst eine ganz neue geben. Gemäß dem Antrag des Abgeordneten Schwerin-Putzar wurde die Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses in leicht abgewandelter Form en bloc als provisorische Geschäftsordnung angenommen6 . Der Konstituierende Reichstag behielt diese seit dem 6.3.1867 auch als definitive Geschäftsordnung bei? Der neugewählte erste Reichstag übernahm provisorisch die Geschäftsordnung des Konstituierenden Reichstags (10.9.1867)8. Vor allem die Abgeordneten Twesten und Lasker, aber auch andere traten seit dem 8.10.1867 9 mit Änderungsanträgen zur Geschäftsordnung hervor. Nach mehrmaliger Verweisung in die am 8.10.1867 gebildete Geschäftsordnungskommission kam es am 6.6.1868 zu dem Beschluß, die Geschäftsordnung in ihrer neuen Form drucken zu lassen und dem Haus zur Schlußabstimmung vorzulegen 10. Letztere erfolgte am 12.6.1868 11 • Damit lag die Geschäftsordnung in ihrer grundsätzlich für die gesamte Kaiserzeit gültigen Fassung vor. Charakteristisch und neu war vor allem die Geset-
Laband, Staatsrecht 2, S. 560; Seydel, Commentar, S. 198 f, setzt sich auch mit der Gegenmeinung auseinander (m.w.N.). • Stenographische Berichte I, S.2 ff, 5. Stenographische Berichte I, S.66. Stenographische Berichte 3, S.3. Stenographische Berichte 3, S.295. 10 Stenographische Berichte 5, S.281 ff,299. 11 Stenographische Berichte 5, S.369.
A. Der rechtliche Rahmen der Reichstagstätigkeit
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zesberatung in drei Lesungen (§§ 18 ff)12, die sich bis heute als in Deutschland übliches Verfahren erhalten hat (§§ 78 ff GOBTag). Sukzessive nahm der Reichstag danach noch kleinere Änderungen vor\3. Sie dienten in erster Linie der Stärkung des Präsidiums, dem Schutz der Minderheit und der Verhinderung von Obstruktion. Zu erwähnen sind besonders die Einführung des "Hammelsprungs" (9.4.1874)14 und die Einrichtung einer Wahlprüfungskommission (26.1.1876) 15. Im übrigen übernahm der Reichstag die Geschäftsordnung grundsätzlich unverändert 16 von Wahlperiode zu Wahlperiode 17 .
2. Charakterisierung
Art. 27 RVerf übertrug dem Reichstag das Recht (und die Pflicht), sich selbständig eine Geschäftsordnung zu geben. Eine Zustimmung des Bundesrats oder eine Ausfertigung und Verkündung durch den Kaiser kam nicht in Betracht l8 . Die Geschäftsordnung wurde zwar (vom Reichstagsbüro) veröffentlicht, aber nicht im juristischen Sinne publiziert l9 . Streitig war und ist die Rechtsnatur der Geschäftsordnung. Zur Zeit des Kaiserreichs wurden dazu im wesentlichen drei Auffassungen vertreten 20: Laband 21 sah in der Geschäftsordnung eine Satzung, statuarisches Recht einer Körperschaft. MohI22 wollte in ihr eher eine Verordnung erblicken. Hatschek23 schließ-
12
Hatschek, Parlamentsrecht, S. 65 f. Dazu Hatschek, a.a.O., S. 67 ff. 14 Stenographische Berichte 31, S.680 ff, 687; dazu Richter, Im alten Reichstag I, S.97; Unruh, Erinnerungen, S.336 f. iS Stenographische Berichte 39, S.920 ff. 16 Jungheim, Geschäftsordnung, S. I f. 17 Seydel, Commentar, S. 207. 1ft Huber, Verfassungsgeschichte 3, S. 884. I. Hatschek, Parlamentsrecht, S. 45. 20 Darstellung des Streitstands bei Hatschek, Parlamentsrecht, S. 39 ff. 21 Laband, Staatsrecht I, S. 559; ebenso Pereis, Autonomes Reichstagsrecht, S. 2 ff; wohl auch Riinne, Staats-Recht I, S. 283; Zorn, Staatsrecht I, S. 231, 236. 22 Mohl, Kritische Bemerkungen über die Wahlen zum Deutschen Reichstag, S. 12; ähnlich Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 169; gegen die Satzungstheorie auch Anschütz, Deutsches Staatsrecht, S. 144. 2J Hatschek, Parlamentsrecht, S. 42 ff.
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2. Teil: Die innere Struktur des Reichstags
lich versuchte nachzuweisen, daß die Geschäftsordnung kein Recht, sondern nur eine Sammlung von Konventionalregeln sei. Die Diskussion setzt sich bis in die Gegenwart fort 24• Herrschend ist heute, nachdem das Bundesverfassungsgericht sie übernommen hat, die von Laband begründete Satzungstheorie25 • Die anderen zur Kaiserzeit vertretenen Auffassungen haben später keine Gefolgschaft mehr gefunden; dafür sind neue Theorien hinzugekommen. So siedelt Böckenförde26 die Geschäftsordnung als Verfassungssatzung in der Normenhierarchie höher an. Dagegen hält Arndt27 sie für internes Recht des Parlaments ohne Rechtssatzcharakter, und Achterberg 28 stuft sie als parlamentarisches Innenrecht ein. Auszuscheiden ist zunächst die extreme Lösung Hatscheks (Konventionalregel-Theorie). Sie wird der Tatsache nicht gerecht, daß die Geschäftsordnung ausdrücklich von der Verfassung vorgesehen ist, "unterschätzt" sie also gewissermaßen. Die ins andere Extrem fallende Verfassungssatzungs-Theorie verkennt, daß auch gesetzliche Regelungen interner Angelegenheiten des Parlaments möglich sind, die dann der Geschäftsordnung keineswegs nachgeordnet wären 29 ; sie ist daher ebenfalls abzulehnen. Auch gegen die Verordnungstheorie sprechen zahlreiche Gründe30: Eine Verordnung ist üblicherweise ein Rechtssetzungsakt der Exekutive, der der Reichstag nicht zugehörte; im Gegensatz zu sonstigen Verordnungen bedeutet die Geschäftsordnung auch keinen Eingriff in eine fremde Rechtssphäre. Schließlich hat auch die herrschende Satzungstheorie bisher keine fundierte Begründung3 ), wohl aber vielfache Kritik erfahren. Insbesondere ist das Parlament keine Körperschaft, die eine Satzung erlassen könnte, sondern ein Staatsorgan ohne eigene Rechtspersönlichkeit32 . Außerdem 24
Kurze aktuelle Darstellung des Streitstands bei Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, S. 353 ff; ausführlich Achterberg, Parlamentsrecht, S. 38 ff. '-, BVerfGE I, 144 (148); MaunvDürig-Maunz Rn. 21 zu Art. 40 00; v. Münch-Versteyl Rn. 17 zu Art. 40 GG (mit Einschränkungen); Schmidt-B1eibtreuiKlein Rn. 6 zu Art. 40 00; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 233 (Rn. 577); vgl. auch Schneider, Gesetzgebung, S. 184 f; ähnlich Stern, Staatsrecht 2, S. 81 ff (§ 26 JII 6), der die Geschäftsordnung "Organsatzung" nennt. 2. Biickenförde, Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 122 ff; ihm folgend Steiger, Orf,anisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssysterns, S. 44 f. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie und autonomes Parlamentsrecht, S.156ff. 21 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 59 ff. 29 Vgl. Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, S. 354 f; Kritik auch bei Achterberg, Parlamentsrecht, S. 56 f; zum Problem vgl. BVerfGE 70, 324, 360 f. '" Kritik bei Hatschek, Parlamentsrecht, S. 39 ff; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 52 f. 31 Ausdrücklicher Hinweis darauf bei Achterberg, Parlamentsrecht, S. 51. " So bereits Anschütz, Deutsches Staatsrecht, S. 144; Hatschek, Parlamentsrecht, S. 39; heute besonders Achterberg, Parlamentsrecht, S. 54.
A. Der rechtliche Rahmen der Reichstagstätigkeit
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fällt das ungeschriebene, der Geschäftsordnung gleichrangige Parlamentsrecht aus dieser Qualifikation heraus 33 . Am meisten spricht letztlich für die - einander ähnlichen 34 - Theorien, die die Geschäftsordnung als parlamentarisches Innenrecht bzw. internes Recht des Parlaments ansehen. Sie werden am ehesten der Tatsache gerecht, daß die Geschäftsordnung immer wieder durchbrochen wird. Auch läßt sich mit ihnen die ganz herrschende Auffassung vereinbaren, wonach Gesetzesbeschlüsse auch bei Verstoß gegen die Geschäftsordnung gültig sind 35 - letzteres spricht im übrigen für die weitgehend akademische Natur des Meinungsstreits 36 .
3. Inhalt und Aufbau Die Geschäftsordnung regelte in neun Kapiteln mit insgesamt 70 Paragraphen das Innenleben des Reichstags. Großes Gewicht legte sie auf die Konstituierung eines arbeitsfähigen Reichstags mit Wahlprüfungen in den Abteilungen und (ab 1876) in der Wahlprüfungskommission sowie den Präsidiumswahlen (§§ 1-16)37. Daran anschließend beschäftigte sie sich ausführlich mit der Behandlung von Vorlagen, Anträgen, Petitionen und Interpellationen (§§ 17-34)38. Die allgemeinen Geschäftsvorschriften für die Plenarsitzungen wurden erst danach behandelt, und zwar gleichfalls in eingehender Form (§§ 35-59)39. Es folgten die Ordnungsvorschriften. Hinzu kamen noch Bestimmungen über Urlaub, Ausscheiden und Neuwahl sowie Adressen und Deputationen. Insgesamt war die Geschäftsordnung des Reichstags eine strukturierte und recht ausführliche Ordnung für den sich ja erst entwickelnden Parlamentarismus im Deutschen Reich. Verglichen mit der Geschäftsordnung des Bundestags n
Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 41. Stern, Staatsrecht 2, S. 82, Fn. 204 (§ 26 III 6 a), setzt die Theorien Arndts und Achterbergs sogar gleich, womit er allerdings auf Protest Achterbergs stößt: Achterberg, Parlamentsrecht, S.52; gleichwohl betont auch Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, S.353, Fn.71, die Ähnlichkeit der Theorien. Pietlcker, Schichten des Parlamentsrechts, S. 355; Stern, Staatsrecht 2, S. 84 (§ 26 m 6 e), jeweils m.w.N .. 1. Die Bedeutung des Streits relativien auch Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts, S. 354. 37 Vgl. §§ 1-3 GOBTag; die kürzere Regelung in der Geschäftsordnung des heutigen Bundestags erklärt sich durch den WegfaIl der Abteilungen und die Vornahme der Wahlprüfung durch den Wahlprüfungsausschuß. 3R Vgl. §§ 75-112 GOBTag. 3. Vgl. §§ 19-53 GOBTag. 34
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28
2. Teil: Die innere Struktur des Reichstags
(128 Paragraphen) erscheint sie allerdings knapp und in manchen Bereichen lückenhaft. Insbesondere nimmt sie von den Fraktionen keinerlei Notiz40• Die Geschäftsordnung spiegelt insoweit noch eine IdealvorsteIlung vom unabhängigen Abgeordneten wider, die der Gefahr ausgesetzt war, den Realitäten des Parlamentswesens weichen zu müssen 41 •
B. Wahl und Zusammensetzung des Reichstags I. Wahl des Reichstags42
1. Das Wahlrecht
Die Reichsverfassung traf im Abschnitt über den Reichstag einige zentrale Aussagen zum Wahlrecht; Näheres regelte das Wahlgesetz. Die Wahlen mußten allgemein, direkt und geheim sein (Art.20 RVerf). Unter "allgemeinen" Wahlen verstand man solche, die nicht auf "gewisse Stände oder Klassen beschränkt" oder "nach Ständen oder Klassen" ausgeübt wurden 43 • Das Wahlgesetz konkretisierte das dahingehend, daß alle männlichen Reichsangehörigen vom 25. Lebensjahr an wahlberechtigt waren (§ 1 WG), allerdings mit geringfügigen Ausnahmen (§§ 2,3 WG), die in erster Linie die Soldaten betrafen (sie durften nur das passive Wahlrecht ausüben). Der Zählwert jeder Stimme war nach § 1 WG gleich, d.h. es gab - anders als bei den Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus - kein Klassenwahlrecht44. Im Gegensatz zum preußischen Wahlrecht standen auch die direkte und geheime Wahl. Wahlfreiheit wurde nicht ausdrücklich erwähnt, aber vorausgesetzt. Insgesamt wareri die auf dem Wahlrecht der Frankfurter Nationalver-
.0 .. Vgl. dazu Molt, Reichstag, S.309; demgegenüber heute §§ 10-12 GOBTag. Vgl. Loewenberg, Parlamentarismus, S.68 ff. 42 Verschiedene mit den Wahlen zusammenhängende Aspekte beleuchtet der Sammelband von Büsch!Wälk/Wölk, Wählerbewegung in der deutschen Geschichte. Seydel, Commentar, S.194. 44 Zu den Unterschieden im Vergleich zum preußischen Wahlrecht Huber, Verfassungsgeschichte 3, S.862 f.
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B. Wahl und Zusammensetzung des Reichstags
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sammlung von 1848/49 beruhenden Wahlrechtsgrundsätze45 für ihre Zeit sehr modem und durchaus umstritten 46 • Durchgeführt wurde die Wahl gemäß §§ 5,6 WG in Wahlkreisen zu grundsätzlich je 100.000 Einwohnern, die einen Abgeordneten entsandten 47 • Die Wahlkreise waren allerdings von Beginn an unterschiedlich groß; obwohl diese Ungleichheit sich durch das Wachstum der Städte noch verstärkte48 , blieb die Zahl der Wahlkreise gleich (397 einschließlich Elsaß-Lothringen), und die Wahlkreisgrenzen wurden prinzipiell nicht geändert. Gewählt war der Kandidat, welcher die absolute Stimmenmehrheit erhalten hatte (§ 12 WG); gelang dies im ersten Wahlgang keinem Bewerber, so fand eine Stichwahl zwischen den beiden Bestplazierten des ersten Wahlgangs statt. Der Reichstag prüfte die Wahlen anschließend (Art.27 RVerf). Die Legislaturperiode betrug nach Art.24 RVerf drei Jahre, ab 1888 fünf Jahre.
2. Die KandidatenauJstellung
Das System der Personenwahl in Wahlkreisen legte einen dezentralen Modus der Kandidatenaufstellung durch eine örtliche Organisation nahe. Typischerweise49 widmeten sich dieser Aufgabe sogenannte Komitees. Das Komitee trat nur jeweils vor den Wahlen zusammen. Allmählich stabilisierten sich die Komitees, d.h. es waren zu jeder Wahl wieder weitgehend die gleichen Personen, die sich der Aufgabe annahmen 50 • Sie waren einer politischen Richtung zuzurechnen, in Bezug auf den Reichstag aber gelegentlich fraktionsübergreifend 51 • Die Zusammensetzung war je nach Parteirichtung unterschiedlich: bei den Liberalen
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Zur Geschichte Hatschek. Parlamentsrecht. S.267 ff. Auseinandersetzung mit den verschiedenen Standpunkten sowie Geschichte und internationaler Vergleich bei Meyer. Wahlrecht. S.411 ff; vgl. Bismnrck. Gesammelte Werke 15. S. 287 f. (Gedanken und Erinnerungen 11.10.111); zu den Überlegungen und Zielsetzungen Bisrnarcks hinsichtlich der Einführung des gleichen Wahlrechts und den Ergebnissen. die dieses zeitigte: Steinbach. Zähmung des politischen Massenmarktes. S. 18 ff. 47 Vgl. dazu im einzelnen Riinne. Staatsrecht I. S.242 ff. 4. Vgl. Tabelle bei Ritter. Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. S.98: gab es 1871 noch keinen Wahlkreis. der doppelt so viele Wahlberechtigte hatte wie der "Normalwahlkreis" mit ca. 20.000. so lagen 1890 bereits 18 in dieser Kategorie. und einer der Wahlkreise umfaßte sogar schon mehr als viermal so viele Wähler; in der Zeit nach Bismarck ging diese Entwicklung weiter. Zur Parteiorganisation im einzelnen Nipperdey. Organisation. S.9 ff. so Nipperdey. Organisation. S.47 (bezüglich der liberalen Komitees). " Z.B. "liberal" (Nationalliberale und Fortschritt) oder "national" (Nationalliberale und Freikonservative. so in Württemberg: Langewiesche. Hölder. S.ll fO.
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2. Teil: Die innere Struktur des Reichstags
bürgerliche Honoratioren52 , beim Zentrum kamen noch Geistliche und (auf dem Lande) Adlige hinzu 53 ; die ostelbischen Konservativen wurden weitgehen von Gutsbesitzern dominiert54. Im Laufe der Zeit kamen Wahlvereine auf, womit die Basis verbreitert wurde. Diese Tendenz zeigte sich um so stärker, je städtischer der Wahlkreis und je linksorientierter die Partei war. Sonderformen waren die fortschrittlichen Wähierversammiungen 5S und die zentrale Kandidatenaufstellung der Sozialdemokraten 56. Als Kandidat kam, sofern die Partei den bisherigen Wahlkreisabgeordneten stellte, zunächst dieser in Betracht57 , denn andernfalls drohte der Verlust des Wahlkreises 58 • Ansonsten mußte sich das Komitee meist von sich aus um einen geeigneten Bewerber bemühen. Es kam auch vor, daß Personen selbst eine Kandidatur anstrebten oder die Parteileitung für einen Mann einen Wahlkreis suchte59 • Nicht seiten kamen Kandidaturen auf Empfehlung hochgestellter Parteimitglieder zustande60• Insgesamt herrschte kaum Überschuß an zur Kandidatur bereiten Personen; sie wurde vielfach eher als lästige Pflicht empfunden 61 .
3. Der Wahlkampf62
Der Wahlkampf wurde meist mit geringer Intensität geführt. In den siebziger Jahren gab es noch viele Wahlkreise, in denen nur ein ernsthafter Kandidat auftrat; Drei- oder Mehr-Parteien-Konkurrenz in einem Wahlkreis waren seIten63 . Auch wo der Wahlausgang nicht von vornherein festzustehen schien, kam es seiten zu heftigen Kämpfen. Viel hing vom Kandidaten ab. Mancherorts traten
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Nipperdey, Organisation, SA2 ff. Nipperdey, Organisation, S.265 ff. 54 Nipperdey, Organisation, S.241 ff. 55 Nipperdey, Organisation, S.55 ff. Nipperdey, Organisation, S.304 f. Nipperdey, Organisation, SA7 (bezüglich der Liberalen). Vgl. Schrader, in: Wentzcke/Heyderhojf. Deutscher Liberalismus 2, SAI8. Beispiel: Suche nach einem sicheren Wahlkreis für Stauffenberg, in: WentzckelHeyderluif.!, Deutscher Liberalismus 2, S.212 ff. 60 Z.B. die Kandidatur HertIings, Hertling, Erinnerungen I, S.269 f. Nipperdey, Organisation, S.242 (bezüglich der Konservativen). 62 Die einzelnen Wahlkämpfe und ihre Austragung in der Presse beschreibt Steinbach, Zähmung des politischen Massenmarktes, S. 93 ff. Nipperdey, Organisation, S.36 f; zur Erklärung dieses Faktums und auch zu anderen Fragen des (regionalen) Parteiensystems in Bezug auf die Wahlen Rohe, Wahlen und Wlihlertraditionen in Deutschland, besonders S. 57 ff. 5~
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B. Wahl und Zusammensetzung des Reichstags
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die stärksten Bewerber gar nicht im Wahlkampf auf64. Andere konnten durch starke Agitation sogar Überraschungserfolge erzielen6s . Üblicherweise arbeitete man mit Zeitungsanzeigen, Wahlreden in den größeren Orten und der Ausgabe von gedruckten Stimmzetteln mit dem Namen des Kandidaten, da die Wähler ihre Stimmzettel selbst zur Wahl mitbringen mußten 66• Den ostelbischen Konservativen reichte oft sogar schon der Einfluß des Gutsherrn und der Landesregierung, um konservative Wahlen zu garantieren67 . Eingriffe der jeweiligen Regierung in den Wahlkampf kamen öfter und mit Erfolg vor68.
4. Die Wahlen 69
Die Hauptwahl fand im ganzen Reich gleichzeitig an einem Werktag statt. Die Wahlbeteiligung lag anfangs nur bei gut 50%, stieg aber fast kontinuierlich an, um gegen Ende der Bismarck-Zeit über 70% zu erreichen. Sie hing nicht unbedingt davon ab, ob in einem Wahlkreis mehrere ernsthafte Bewerber auftraten 70. Meist erhielt bereits in der Hauptwahl (= erster Wahlgang) ein Kandidat die absolute Mehrheit und war damit gewählt. Ein weiterer Wahlgang war erforderlich, wenn entweder der Gewählte die Wahl nicht annahm oder im ersten Wahlgang kein Kandidat die absolute Mehrheit erhalten hatte. Im letzteren Fall fand eine Stichwahl zwischen den beiden Kandidaten statt, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen auf sich vereinigt hatten. Es kam nun vor allem auf das Verhalten jener Wähler an, die im ersten Wahlgang für einen anderen Bewerber gestimmt hatten. Deren Parteien gaben in der Regel eine - taktisch bestimmte - Stichwahlparole aus, empfahlen also "ihren" Wählern einen der bei den übriggebliebenen Kandidaten. Zu einem festen, auf das ganze Reich bezogenen großangelegten Stichwahlbündnis kam es nur bei den "Kartellwahlen"71 1887 .
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Beispiele bei Biedermann, Mein Leben, S.317; Mahl, Lebenserinnerungen, S.160. Nipperdey, Organisation, S.39 (mit Beispielen) . Nipperdey, Organisation, S.38 . •7 Nipperdey, Organisation, S.241 ff. M Beispiel bei Eiben, Lebenserinnerungen, S.211 ff. 6Y Wahlergebnisse tabellarisch im Anhang sowie detailiierter bei Ritter, Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch, S. 38 ff. 70 Nipperdey, Organisation, S.38 f. 71 Nationalliberale, Freikonsc:rvative und Konservative hatten sich zum "Kartell" zusammengefunden.
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2. Teil: Die innere Struktur des Reichstags
Gelegentlich nahmen erfolgreiche Kandidaten die Wahl nicht an, so daß eine Ersatzwahl nötig wurde. Der Grund dafür lag in den - bei den Wahlkreisen unbeliebten72 -Doppelwahlen: Ein Politiker hatte in mehreren Wahlkreisen mit Erfolg kandidiert, durfte aber nur ein Mandat annehmen. Nachwahlen wurden auch beim Ausscheiden eines Reichstagsabgeordneten aus dem Parlament durchgeführt. Als Ursache hierfür kamen in erster Linie Tod oder (nach Art. 21 RVerf) Beförderung in ein höheres Amt in Betracht.
5. Die Wahlprüjung
Bevor ein gewählter Abgeordneter endgültig Mitglied des Reichstags wurde, fand noch eine Wahlprüfung statt, die nach Art. 27 RVerf dem Parlament selbst oblag. Das Wahlprüfungsverfahren (§§ 3-8 GORTag), ursprünglich Sache der Abteilungen, wurde 1876 einer Revision unterzogen; fortan behandelte eine besondere Wahlprüfungskommission die schwierigen Fälle. Proteste gegen die Wahl (Wahlanfechtungen, Einsprachen, § 4 GORTag) hatten nur bei knappen Wahlausgängen Aussicht auf Erfolg. In diesen Fällen waren sie recht häufig. Gelegentlich erklärte der Reichstag eine Wahl für ungültig oder veranlaßte sogar den Kanzler, einen anderen Bewerber als gewählt zu proklamieren73 . Bis zu diesem Zeitpunkt hatte allerdings der zuerst zum Sieger Erklärte Sitz und Stimme im Parlament (§ 8 GORTag).
11. Die Zusammensetzung des Reichstags74
1. Landsmannschajtliche und konfessionelle Struktur
Während im Bundesrat kleinere Länder im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl überrepräsentiert waren (Stimmenverhältnis nach Art.6 RVerf) , kam im Reichstag grundsätzlich auf je 100.000 Einwohner ein Wahlkreis-Abgeordneter (§ 5 WG). Eine Ausnahme ergab sich lediglich aus § 6 WG für die Zwergstaaten, die auch bei geringerer Einwohnerzahl einen Abgeordneten in den Reichstag entsandten. Ansonsten kam aber die Größe eines Bundesstaats voll zur 72
Lasker, in: Wentzcke/Heyderhof{, Deutscher Liberalismus 2, S.384. Jungheim, Geschäftsordnung, S.29 (mit Aufzählung der Fälle). 7. Eine (leider nicht völlig zuvf'rlässige) Grundlage für Berechnungen bietet Schwarz, MdR, S.139 ff, mit biographischen Angaben; vgl. im übrigen Malt, Reichstag, S.38 ff, mit Schwerpunkt auf der Zeit nach Bismarck. n
B. Wahl und Zusammensetzung des Reichstags
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Geltung, woraus sich ein klares preußisches Übergewicht ergab: Preußen stellte 236 der 397 Reichstagsmitglieder. Gewicht hatten daneben noch Bayern mit 48, Sachsen mit 23, Württemberg mit 17, Elsaß-Lothringen mit 15 und Baden mit 14 Abgeordneten. Wichtig war das insofern, als die Parteiverhältnisse in den Einzelstaaten recht unterschiedlich waren und ihrerseits den Reichstag beeinflußten 7S • Allerdings mußte ein Abgeordneter in der Regel nicht in dem Wahlkreis, ja nicht einmal in dem Bundesstaat seinen Wohnsitz haben, in dem er sich zur Wahl stellte. Vor allem für bekanntere Politiker suchten Parteifreunde gelegentlich Wahlkreise aus, zu denen der Kandidat zunächst keine Beziehung hatte76• Das änderte aber nur wenig an der landsmannschaftlichen Zusammensetzung des Reichstags; auffällig ist lediglich der hohe Anteil von in Berlin ansässigen Abgeordneten77. Letzteres erklärt sich daraus, daß ein Berliner leichter als ein Auswärtiger seine parlamentarische Tätigkeit neben einem bürgerlichen Beruf ausüben konnte. Politisch von größerer Bedeutung waren die konfessionellen Verhältnisse78 . Während die Katholiken ansonsten beim Aufstieg in Führungspositionen benachteiligt waren 79 , lag ihr Anteil im Reichstag in etwa auf der Höhe ihres Bevölkerungsanteils von ca. 36%. Zum einen gab es nämlich mit dem Zentrum sowie den Polen (und Elsässern) praktisch rein katholische Gruppen mit einem Anteil von (ab 1874) konstant fast 1/3 der Sitze, zum anderen waren auch in den übrigen Fraktionen einige Katholiken zu finden.
2. Berufs- und Standesgruppen80
Nicht anders als modeme Parlamente wie der Bundestag81 war der Reichstag in seiner Zusammensetzung kein getreues Abbild des ganzen Volkes. Vielmehr muß der Reichstag als ausgesprochenes Honoratiorenparlament bezeichnet 7