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German Pages 304 [306] Year 2014
Christine Ottner / Klaus Ries (Hg.)
Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert Ideen – Akteure – Institutionen
Wissenschaftsgeschichte Franz Steiner Verlag
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Christine Ottner / Klaus Ries (Hg.) Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert
PALLAS A T H E N E Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte Herausgegeben von Rüdiger vom Bruch und Lorenz Friedrich Beck Band 48
Christine Ottner / Klaus Ries (Hg.)
Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert Ideen – Akteure – Institutionen
Unter Mitarbeit von Julia Zieger
Franz Steiner Verlag
Finanziert aus Mitteln des „Austrian Programme for Advanced Research and Technology“ (APART-Stipendium) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Umschlagabbildung: Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Dr. Ignaz-Seipel-Platz 2, 1010 Wien, Detail des Deckengemäldes: Philosophie Foto: Stefan Sienell, Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (2011) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Druck: Offsetdruck Bokor, Bad Tölz Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10671-9
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG ....................................................................................................
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I. IDEENGESCHICHTLICHE ANSÄTZE ..................................................... 11 1. Otto Gerhard Oexle: Macht und Grenzen des Historismus ..................... 11 2. Klaus Ries: Jenseits des Rankeanismus: Historismus als Aufklärung ............................................................................................... 46 3. Franz Leander Fillafer: Jenseits des Historismus: Gelehrte Verfahren, politische Tendenzen und konfessionelle Muster in der Geschichtsschreibung des österreichischen Vormärz ............................ 79
II. AKTEURE IN IHREM FORSCHUNGSKONTEXT ................................... 120 1. Sibylle Wentker: Das Schreiben persischer Geschichte am Beispiel des österreichischen Orientalisten Joseph von HammerPurgstall (1774–1856) .............................................................................. 120 2. Miloš Řezník: Wácslaw Wladiwoj Tomek, das Ministerium für Cultus und Unterricht und die Einführung der historischen Seminare in Österreich: Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft zwischen Staat, Nation und akademischer Neuorientierung................................................................. 139 3. Martin E. Urmann: Geschichtswissenschaftliche Forschungsbedingungen an der Universität Innsbruck im Tiroler Umfeld: Julius Ficker und seine historische Schule ............................................... 158 4. Torsten Kahlert: Theodor Mommsen, informelle Netzwerke und die Entstehung des Corpus Inscriptionum Latinarum um 1850 ............. 180
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Inhaltsverzeichnis
III. PROZESSE DER INSTITUTIONALISIERUNG ....................................... 198 1. Jan Surman: Objektivität, Bestandsaufnahme, Territorium: Galizische Quelleneditionen und ihre Verortung zwischen wissenschaftlichen und ideologischen Ansprüchen ................................. 198 2. Matthias Berg: Zur Institutionalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft: Der Verband Deutscher Historiker um 1900 ..................... 223 3. Christine Ottner: „Für den Mann vom Fache“: Redaktion und Standardisierung historischer Publikationen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien ................................................... 243 4. Reinhard Heydenreuter: Die Historische Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts .................................................................................................... 266 5. Irene Ranzmaier: Professorenkollegium oder Ministerium? Allianzen und Netzwerke im Kontext der Wiener Philosophischen Fakultät um 1900 ..................................................................................... 284
EINLEITUNG Im Zeichen des Historismus avancierte die Geschichte zu einer Wissenschaft, der im 19. Jahrhundert eine übergeordnete intellektuelle Orientierungsfunktion zuerkannt wurde. Durch den damit einhergehenden Ausdifferenzierungsprozess wurde die Geschichtswissenschaft als akademisches Fach in Forschung und Lehre institutionalisiert. Den Universitäten kam dabei unbestritten eine zentrale Rolle zu; die universitäre Lehre ist als bedeutende Sozialisationsinstanz auch der geschichtswissenschaftlichen Disziplin im 19. Jahrhundert anzusehen. Zugleich setzten – etwa durch die Initiierung verschiedener historisch-quellenorientierter „Langzeitprojekte“ – ebenso an wissenschaftlichen Akademien Spezialisierungsprozesse ein, die hohes Untersuchungspotential bieten. Dabei ergibt sich einerseits die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Universität und Akademie und nach ihren (oftmals auch personellen) Verflechtungen sowie andererseits nach einer eventuellen gegenseitigen Instrumentalisierung. Der vorliegende Band geht auf eine von Christine Ottner organisierte Tagung zurück, die im Dezember 2011 am „Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte“ der Österreichischen Akademie der Wissenschaften stattfand. Die Tagungskonzeption entstand in enger Anlehnung an das Forschungsprojekt „Programme und Produktionsweisen der Historischen Forschung an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien zwischen 1847 und 1902“, das von Christine Ottner bearbeitet wird. Für die Drucklegung wurden zur thematischen Straffung einige Veränderungen vorgenommen. Im Wesentlichen kommen jetzt drei Themenbereiche zur Sprache: I. Zunächst werden die ideengeschichtlichen Ansätze im Zeichen des Historismus diskutiert. Der Beitrag von Otto Gerhard Oexle, der dankenswerter Weise gesondert für diesen Band verfasst wurde, thematisiert das komplexe Problem von Macht und Grenzen des Historismus. Hierin wird der Historismus in erster Linie als ein umfassendes kulturgeschichtliches Phänomen Europas in der Moderne behandelt, welches in seiner Unhintergehbarkeit ein enormes, längst nicht ausgeschöpftes Entwicklungspotential aufweist. Erstmals wird in diesem Text auch der Historismus in Russland, der auf der Suche nach einer russischen Identität in der Dichotomie ‚St. Petersburg-Moskau‘ seinen deutlichsten Ausdruck findet, thematisiert. Für den geschichtstheoretischen Zusammenhang erweist sich auch der folgende Beitrag von Klaus Ries als relevant: Vor dem Hintergrund der anhaltenden Historismus-Debatte versucht Ries, den Historismus jenseits des Rankeanismus zu verorten und in seinen erkenntnistheoretischen Wurzeln auf die kritischen Auseinandersetzungen der Aufklärungshistorie mit Konzentration auf Friedrich Schiller, Georg Gottfried Gerwinus und Johann Gustav Droysen zurückzuführen. Im
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Einleitung
Anschluss daran untersucht Franz Fillafer die Bedingungen für die Aneignung des Historismus in den habsburgischen Ländern, den Wandel von Denkfiguren und Argumentationstypen zwischen Gelehrtenpatriotismus und Nationalliberalismus, die mangelnden Voraussetzungen für die Etablierung einer nationalliberalen Tendenz unter den deutschösterreichischen Historikern des Vormärz und die Konfessionalisierung der Geschichte philologischer Methoden in ihrem Zusammenhang mit der Historisierung der Aufklärung. II. Im zweiten Hauptkomplex werden exemplarisch Akteure in einigen Teilen der Habsbugermonarchie und Deutschland in ihrem Forschungskontext analysiert. Mit Bezug auf einen Orientalisten widmet sich Sibylle Wentker dem österreichischen Gelehrten Joseph von Hammer-Purgstall, der – obschon zeitlebens institutionell ungebunden – gleichwohl versuchte, seine persisch-historiografischen Interessen an der von ihm mitbegründeten Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien zu verankern. Am Beispiel des tschechischen Politikers und Prager Unversitätsprofessors W.W. Tomek thematisiert Miloš Řezník die Einführung des Seminars als konkrete Form geschichtswissenschaftlicher Institutionalisierung. Tomek erhielt im Zuge der österreichischen Universitätsreform durch das Ministerium für Kultus und Unterricht um 1850 den Auftrag, einen Entwurf zur Gestaltung der historischen Seminare zu unterbreiten, wofür er vorbildwirkende Einrichtungen in Deutschland und Frankreich besuchte. Auf Tomeks Vorschläge, zur Vorbereitung künftiger Historiker und Archivare historische Seminare einzuführen, folgten heftige Diskussionen, in denen er sowohl den gesamtstaatlichen als auch den tschechischen Standpunkt vertrat. Im Anschluss daran skizziert Martin Urmann das Forschungsumfeld des Bonner Privatdozenten Julius Ficker, der nach seiner Berufung an die Innsbrucker Universität – neben dem 1854 gegründeten Institut für Österreichische Geschichtsforschung in Wien – ein Zentrum historischer Grundlagenforschung etablierte. Hierzu trugen Fickers Vorlesungen zum Thema der Quellenbearbeitung und seine Beiträge zur Urkundenlehre ebenso bei wie das Historische Seminar seines Schülers Alfons Huber. Anhand von Theodor Mommsen und dem von ihm initiierten Inschriftenprojekt (Corpus Inscriptionum Latinarum) demonstriert Torsten Kahlert die Entwicklung der bisher wenig beachteten ‚projektförmigen‘ Forschung. Er zeigt, dass das gegen zahlreiche Widerstände zustande gekommene Vorhaben weniger der Durchsetzungskraft eines einzelnen Großorganisators geschuldet war als vielmehr dem Zusammenspiel eines losen informellen Gelehrten-Netzwerkes und der – sich zunehmend ‚projektförmig‘ orientierenden – Preußischen Akademie in Berlin. III. Der dritte und letzte Themenkomplex widmet sich dem Prozess der Institutionalisierung der Geschichtsforschung anhand von deutschen und österreichischen Beispielen. Exemplarisch für die in den nordöstlichen Teilen der Habsburgermonarchie betriebene Geschichtsforschung verdeutlicht Jan Surman an programmatischen Aspekten galizischer Forschungsunternehmen, wie etwa der Monumenta Poloniæ Historica und der Publikationen der Akademie der Wissenschaften und Künste in Krakau, die starke identifikatorische Bedeutung von Quelleneditionen und ihre mögliche ideologische Instrumentalisierung. Surman zeigt die differenzierten Aushandlungen im Spannungsfeld von Staat und Nation und
Einleitung
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wie sehr man sich in der Entwicklung des historisch-geografischen Denkens auch an Entitäten orientierte, die das Gebiet der Monarchie deutlich überschritten. Formen der innerfachlichen Kommunikation untersuchen in der Folge Matthias Berg und Christine Ottner. Berg präsentiert eine Pilotstudie zu einer künftig zu verfassenden Geschichte des „Verbandes Deutscher Historiker“. Hiermit werden Bedingungen von Institutionalisierungen um die Wende zum 20. Jahrhundert angesprochen, als sich die historischen Wissenschaften in ein Feld eingebettet sahen, das mit konkurrierenden Institutionen wie Seminaren oder Akademiekommissionen bereits gut „gefüllt“ war. Als Hauptaufgabe des Verbandes hebt Berg besonders die Ausrichtung der Historikertage hervor, auf denen fast alle Aspekte fachlicher Entwicklung Niederschlag fanden. Ottner thematisiert die begutachtende Redaktionsarbeit historischer Publikationen als wichtige Bedingung für die fachliche Standardisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Am Beispiel der Zeitschriften und Editionsreihen der Historischen Kommission der Kaiserlichen Akademie werden die individuellen, methodischen, inhaltlichen und politischen Ansprüche erläutert, die sich hinter den offiziell propagierten Gestaltungsdetails verbargen. Dabei verdeutlichte sich der Anspruch, die quellenorientierte historische Forschung (innerhalb der Monarchie) zu fördern, aber auch zunehmend zu standardisieren und dabei zugleich einen professionellen Bereich abzugrenzen. Zum direkten „interakademischen“ Vergleich mit der Kaiserlichen Akademie in Wien regt Reinhard Heydenreuters Abriss über das Profil und die Programme der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an. In München fand – etwa im Gegensatz zu Wien – keinerlei personelle Verflechtung zwischen Akademie und Universität statt, hingegen waren in der Klasse ebenso wie in der 1858 gegründeten Historischen Kommission der Bayerischen Akademie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich hauptsächlich Archivare vertreten. Inhaltlich lassen sich durch den starken Fokus auf historische Quelleneditionen, den die 1858 gegründete „Bayerische“ Historische Kommission repräsentierte, deutliche Parallelen zur Kaiserlichen Akademie in Wien erkennen. Die politische Komponente hingegen trat durch den bayerischen Landtag zutage, der die Geschichtsforschungen der Klasse häufig in öffentlichen Landtagsdebatten hinterfragte. Innerfachliche Allianzen und Verhandlungen behandelt schließlich der letzte Beitrag von Irene Ranzmaier, die die Entwicklung der Geschichtsforschung an der Wiener Universität anhand von Lehrstuhlbesetzungen aufzeigt: Um 1900 rangen hier die Fachvertreter der Philosophischen Fakultät um die Vorherrschaft der mittelalterlichen historischen Hilfswissenschaften, die durch ihre Konzentration auf den methodischen Bereich auch einen Ausweg aus dem politischen Zwiespalt zwischen deutscher und österreichischer Geschichte boten. Diesen Absichten stand jedoch der Wunsch des Ministeriums nach einer stärkeren Vertretung der neueren österreichischen Geschichte gegenüber. Versteht man Institutionalisierung als die „Verfestigung eines an sich flüssigen akademischen Diskurses und ebenso kontinuierlich wie chaotisch verlauf-
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Einleitung
enden Forschungsprozesses“ 1, so können alle drei Themenbereiche diesen komplexen Prozess in einigen ideengeschichtlichen, personenbezogenen und infrastrukturellen Facetten begreiflich machen. In diesem Sinn erproben die Beiträge teilweise neue Ansätze und erschließen zusätzliche Horizonte auch für die Weiterentwicklung traditioneller Fragestellungen nach der Organisation und dem Verständnis von Geschichtswissenschaft. Zum Abschluss möchten wir uns zuallererst sehr herzlich bei Julia Zieger für ihre großartige Unterstützung in allen redaktionellen Dingen und für die gesamte Einrichtung der Formatierung bedanken. Außerdem danken wir Rüdiger vom Bruch als Reihenherausgeber und dem Steiner-Verlag für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Pallas-Athene. Die Finanzierung des Bandes erfolgt gänzlich aus den Mitteln des APART-Stipendiums der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW); in diesem Zusammenhang ist Barbara Haberl als Leiterin der Abteilung für Stipendien und Preise der ÖAW für ihr freundliches Entgegenkommen sehr herzlich zu danken. Christine Ottner und Klaus Ries, Wien, November 2013
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Matthias Middell, „Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net. Gedanken zur Geschichte der Zeitschriften als Elementen der Institutionalisierung moderner Geschichtswissenschaft“, in: ders. (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert (II)), Leipzig 1999, S. 7–31, hier S. 22.
MACHT UND GRENZEN DES HISTORISMUS Otto Gerhard Oexle
I. ‚Historismus‘ bei F. Meinecke und bei E. Troeltsch Was ist Historismus? 1 Unter deutschen Historikern von heute gibt es als Antwort auf diese Frage Stimmengewirr. Einige beziehen sich noch immer auf den Historiker Friedrich Meinecke 2 und sein Buch Die Entstehung des Historismus von 1936, ein Alterswerk, für das er seine Definition von Historismus seit 1918 gebahnt hatte. 3 Meinecke zufolge war der Historismus eine „geistige Revolution“, 1
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Dazu Johannes Heinßen, Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte (CXCV)), Göttingen 2003; Reinhard Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus (= ebd. (CXCVI)), Göttingen 2004; Otto Gerhard Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft (CXVI)), Göttingen 1996; ders., „Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne“, in: ders. (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932 (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte (CCXXVII)), Göttingen 2007, S. 11–116; Annette Wittkau, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, 2. durchgesehene Auflage, Göttingen 1994. Über ‚Problemgeschichte‘: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 9ff.; ders. (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932 (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft (XII)), Göttingen 2001. Zum Ansatz einer Problemgeschichte von ‚Historismus‘: Heinßen, Historismus und Kulturkritik, S. 47ff.; Laube, Karl Mannheim, S. 27ff. Stefan Jordan, „Art. ‚Historismus‘“, in: ders. (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 171ff.; ders., Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn u. a. 2009, S. 39; Jens Nordalm, „Historismus im 19. Jahrhundert. Zur Fortdauer einer Epoche des geschichtlichen Denkens“, in: ders. (Hg.), Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart 2006, S. 7–46; HansChristof Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte (LXXXII)), München 2008, S. 12f. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hg. und eingeleitet von Carl Hinrichs (= Friedrich Meinecke Werke (III)), München 1965. Dazu Otto Gerhard Oexle, „Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition“, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenkonzepte (= Beiträge zur Geschichtskultur (XII)), Köln/Weimar/ Wien 1996, S. 139–199; wieder in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, (vgl.
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Otto Gerhard Oexle
die wesentlich „deutsch“ war, das Ergebnis einer „deutschen Bewegung“, die „deutscheste Leistung des deutschen Geistes“, die „zweite seiner (des deutschen Geistes) Großtaten nächst der Reformation“, nämlich: die „Ersetzung einer generalisierenden Betrachtung geschichtlich-menschlicher Kräfte durch eine individualisierende Betrachtung“, also durch die Entdeckung von ‚Individuum‘ und ‚Entwicklung‘ in der Geschichte. Sie ist, so Meinecke, verbunden mit den Namen Goethes und Leopold von Rankes. Dieser Historismus sei Ausdruck des deutschen „Andersseinwollens“, er stehe im Gegensatz zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts und im Gegensatz zum „westlichen Denken“ überhaupt. Vor allem sei er fundamental gegen die Prinzipien der Aufklärung gerichtet. Seit Ende der 1960er Jahre, im Zeichen der Durchsetzung von „Geschichte als Historischer Sozialwissenschaft“, wurde Meineckes Auffassung gewissermaßen ‚umgestülpt‘: Historismus galt zwar immer noch als etwas spezifisch Deutsches, wurde jetzt aber als Inbegriff eines fatalen deutschen „Sonderwegs“ verurteilt.4 Die Parole hieß nun, so formulierte Wolfgang J. Mommsen 1970, „Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus“. ‚Historismus‘ wurde als ein Inbegriff des Überholten, des schlechthin Gestrigen definiert. 5 Die Überwindung dieses Historismus wurde somit zum zentralen Motiv eines geschichtswissenschaftlichen Epochenwandels im Sinne einer Fortschrittsgeschichte. 6 Freilich war Meineckes Historismus damit nicht erledigt. In dem von Wolfgang Küttler, Jörn Rüsen und Ernst Schulin herausgegebenen, fünf Bände umfassenden Werk Geschichtsdiskurs taucht der Begriff im Sinne Meineckes wieder auf, vor allem im dritten Band mit dem Titel Die Epoche der Historisierung von 1997. 7 Damit sollte offenbar Meineckes Begriff des ‚Historismus‘ im Sinne einer umfassend verstandenen ‚Historisierung‘ umgangen werden, was freilich nicht gelang, wie schon der diesen Band einleitende Essay von Ernst Schulin über Die Epochenschwelle zwischen Aufklärung und Historismus verdeutlicht. 8 ‚Historismus‘ blieb auch hier, durchaus im Sinne Meineckes, ein Phänomen der deutschen
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Anm. 1), S. 95–136. Dezidierten Einspruch gegen Meineckes Historismus erhob Klaus Ries, „Johann Gustav Droysens ‚Historik‘ und die Tradition der Aufklärungshistorie“, in: ders. (Hg.), Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers (= Pallas Athene Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte (XXIV)), Stuttgart 2010, S. 57–77, hier S. 57ff.; ders., „Geschichtsschreibung in Jena. Von Schiller bis Droysen. Peter Schäfer zum 80. Geburtstag“, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 65 (2011), S. 143–156, hier S. 143ff. Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971; ders., Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft. Ein internationaler Vergleich, München 1978. Wolfgang J. Mommsen, Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1970. Dazu Otto Gerhard Oexle, „Einmal Göttingen – Bielefeld einfach: auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft“, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 54–66. Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs in 5 Bänden, III: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a. M. 1997. Ernst Schulin, „Die Epochenschwelle zwischen Aufklärung und Historismus“, in: Die Epoche der Historisierung, (vgl. Anm. 7), S. 17–26.
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Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert; er blieb trotz aller Mühe mit diesem Begriff ein Element vor allem der deutschen Geistesgeschichte. 9 Bei alledem ist von Historikern kaum berücksichtigt worden, dass gleichzeitig mit Meineckes Begriff ein weitgehend anderer, ein damit konkurrierender Begriff von ‚Historismus‘ begründet wurde. Dies war die ausdrückliche Absicht des Theologen, Historikers und Philosophen Ernst Troeltsch, der mit seinen Publikationen zum Thema einen expliziten Gegensatz zu Meineckes Konzept intendierte. 10 Troeltsch begründete seine Auffassung vor allem in seiner Abhandlung Die Krisis des Historismus von 1921 und in seinem Buch Der Historismus und seine Probleme, das ein Jahr vor seinem Tod (1923) erschien. 11 Troeltsch gab seine Darstellung vor einem doppelten historischen Hintergrund, was beachtet werden muß. Zum einen war dies der Weltkrieg und der Zusammenbruch von 1918; zum andern die große Historismus-Debatte in Deutschland, die rund hundert Jahre zuvor, um 1830 begonnen hatte. Während Meinecke eine Überwindung und Beendigung dieser Debatte im Sinn hatte, argumentierte Troeltsch vor dem Hintergrund dieser Diskussion, wie seine ausdrückliche Bezugnahme auf Friedrich Nietzsche zeigt. Für Troeltsch 12 bedeutete Historismus „die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen hier alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in dem Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich.“
Dies war – im Gegensatz zu Meinecke – grundsätzlich europäisch gedacht und nicht bloß ‚deutsch‘. Dieser Historismus, so Troeltsch weiter, eröffnete und eröffnet Chancen und konfrontiert mit Zumutungen. Denn der Historismus habe
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Darüber in dem in Anm. 7 genannten Band die Beiträge von Friedrich Jaeger, „Geschichtsphilosophie, Hermeneutik und Kontingenz in der Geschichte des Historismus“, S. 45–66 und von Jörn Rüsen, „Historik – Überlegungen zur metatheoretischen Selbstauslegung und Interpretation des historischen Denkens im Historismus (und außerhalb)“, ebd. S. 80–99. 10 Otto Gerhard Oexle, „Troeltschs Dilemma“, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Ernst Troeltschs „Historismus“ (= Troeltsch-Studien (XI)), Gütersloh 2000, S. 23–64. Über den Gegensatz zu Meinecke, ebd. S. 36ff. und 49ff. 11 Ernst Troeltsch, „Die Krisis des Historismus“, in: Die Neue Rundschau. XXXIII. Jahrgang der freien Bühne, (I), Berlin/Leipzig 1922, S. 572–590. Danach wird im folgenden zitiert. Einen Neudruck der Abhandlung bietet: Ernst Troeltsch, Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923), hg. von Gangolf Hübinger (= Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe (XV)), Berlin/New York 2002, S. 437–455, mit einem editorischen Bericht S. 433ff. Außerdem Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (= Gesammelte Schriften (III)), 2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1922, Aalen 1977. 12 Die folgenden Zitate nach der Abhandlung „Die Krisis des Historismus“, (vgl. Anm. 11), S. 573 und 577ff.
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Otto Gerhard Oexle „auf der einen Seite den Sinn für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen (gefestigt) und jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit (zugeführt)“.
Darin lagen und liegen Chancen. Freilich impliziere der Historismus auch Zumutungen. Habe er doch „auf der anderen Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art“, aber auch „ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit“ erschüttert. Historismus in diesem Sinne sei also „die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken“. Das bedeute, dass im Historismus das fundamentale Problem des Relativismus impliziert ist. Gleichwohl sei Historismus „die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet“.
Als „Denkform“ der Moderne sah Troeltsch, auch wenn er die Aufklärung in einem bestimmten Sinn davon abgrenzte, in diesem Historismus eine unhintergehbare Gegebenheit der Moderne, deren negative Auswirkungen er durch historische Reflexion zu überwinden versuchte. Dazu sei umso mehr Anlaß, als die vom Historismus konstituierten Probleme des modernen Denkens von grundsätzlicher Art seien. Troeltsch zählte dazu erstens „die Aufrollung der erkenntnistheoretisch-logischen Probleme der Historie“, also die Frage, wie sich „die vom denkenden Geiste nach seinen Gesetzen hervorgebrachte Ordnung zum wirklichen Wesen und Zusammenhang der Dinge selbst“ verhalte, wie weit also „die Historie das reale Geschehen überhaupt erfassen und wiedergeben“ könne. Sodann gehöre zweitens zu den Auswirkungen des Historismus als der umfassenden Historisierung „die Einführung des soziologischen Elementes in die historische Forschung, Kausalerklärung und intuitive Vereinheitlichung“, also die Erkenntnis, dass „alle geistig-kulturellen und staatlich-organisatorischen Bildungen aufruhen auf den jeweiligen gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens“. Und schließlich drittens die mit alledem verbundene, „die aus alledem folgende und überdies eigene Gründe besitzende Erschütterung des ethischen Wertsystems sowohl in der Begründung als im sachlichen Inhalt“. Troeltsch verwies dazu auf die Auswirkungen der Französischen Revolution und des Weltkriegs, auf die Wirkungen des Darwinismus und der Philosophie Friedrich Nietzsches. „Der Kampf Nietzsches gegen diese ganze Kultur wirkte erschütternd bis in ihre letzten Begründungen hinein“. Auch „Schopenhauers Skepsis gegen Geschichte und Fortschritt, gegen die abendländischen, letztlich aus Antike und Christentum stammenden, Optimismen und Aktivitäten drangen wie feiner Staub bis in die geschütztesten Teile des Bildungsapparates“.
Das bedeutete eine „Zerbrechung der alten Werttafeln“; sie wurde „Parole“, und „neue Werttafeln gab es im Grunde nicht“. Damit aber „entfiel der Historie das Steuer, mit dem sie den ungeheuren Lebensstrom befahren konnte. Es gab keine
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Begründungsmöglichkeit für Werte mehr“. Signatur der Moderne sei deshalb die „Anarchie der Werte“: „Alles kämpft gegen alles“. Den „Gipfel der Verwirrung“ habe „zuletzt der Weltkrieg geschaffen, der eine Menge alter Wert-Selbstverständlichkeiten und entsprechender historischer Konstruktionen zerstört, aber neue nicht eröffnet hat“.
Und eine Ursache liege auch in der modernen Historie selbst: sie habe „durch den von ihr schwer zu vermeidenden, alles erklärenden und alles verstehenden Relativismus die Erschütterung der Werte angebahnt“. Die Definition und die Darlegungen von Troeltsch sind deutschen Historikern weitgehend abhandengekommen. 13 Damit stehen die Historiker – so ist festzustellen – im Gegensatz zu der intensiven Troeltsch-Forschung und Troeltsch-Debatte der protestantischen Theologie unserer Tage, die zugleich über den Bereich der protestantischen Theologie weit hinausgreift. 14 Der Verlust für die Historiker ist bedauerlich, da Troeltschs Definition, im Gegensatz zu der von Meinecke, eine Europäisierung der Analyse und Erörterung des Phänomens ‚Historismus‘ forderte und die komparatistische Frage nach ‚Historismus‘ in den anderen Ländern Europas aufwirft. Meinecke ging es um eine Ent-Problematisierung des beunruhigenden Phänomens des Historismus. Troeltsch hingegen ging es um eine entschiedene Re-Problematisierung, gerade weil er – als Theologe – am Ende auch selbst eine Ent-Problematisierung wünschte und in Aussicht stellte. Troeltsch hatte sich die Lösung des Problems im Sinne der von ihm geforderten „Überwindung der Geschichte durch Geschichte“ als Aufgabe gestellt, die er nicht mehr erfüllen konnte und die – wie man hinzufügen muss – auch nicht zu erfüllen war. Der „letzte Ausweg“ aus den Verstrickungen des Problems sei ein „für den wissenschaftlich gesinnten Menschen allein in Betracht“ kommender, nämlich eine „neue Berührung von Historie und Philosophie“. Dabei ging es nicht darum, „die historische Facharbeit mit philosophischen Ideen zu imprägnieren“, sondern es handle sich vielmehr um die Entwicklung einer „auf die Historie bezogenen Philosophie“, nämlich um die Entfaltung einer aus dem Geist der Neuzeit neu zu schaffenden Metaphysik, einer metaphysischen Begründung wissenschaftlich-historischen Denkens. Dies konnte prinzipiell nicht gelingen, da die Begrün-
13 Anders Anselm Doering-Manteuffel, „Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, S. 91–119, S. 100ff.; Jan Eckel, Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008. 14 Dazu die Beiträge in den von Friedrich Wilhelm Graf herausgegebenen Bänden Ernst Troeltschs „Historismus“ (= Troeltsch-Studien (XI)), Gütersloh 2000, und „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin (= Troeltsch-Studien. Neue Folge (I)), Gütersloh 2006.
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dung von Wissenschaft durch Metaphysik seit dem spätmittelalterlichen Nominalismus ausgeschlossen ist. 15 Aber auch wenn Troeltschs Versuch einer ‚Lösung‘ des Historismusproblems auf dem Wege der Begründung einer neuen wissenschaftlich belastbaren Metaphysik neuzeitlichen Stils nicht gelingen konnte, so ist doch seine Gewichtung des Historismusproblems in der durch den Bezug auf die Geschichte der Moderne und auf die Wissenschaft und Philosophie der Moderne nach wie vor unumgänglich. Troeltsch bezeichnete Nietzsche als den „großen geisteswissenschaftlichen Revolutionär des Zeitalters“. 16 Die von Meinecke betriebene Ausklammerung der spezifischen geschichtlichen ‚Probleme der Moderne‘ und die von ihm empfohlene ‚Beruhigungsphilosophie‘ einer Orientierung an Ranke hielt Troeltsch für unergiebig. Für eine Antwort auf die Probleme des Historismus und auf die Probleme des „wesensnotwendigen Relativismus des genetisch-historischen Denkens“ sei Werk und Denken Rankes denkbar ungeeignet: Denn „Rankes Hauptwerke und eigentliches Denken entstanden in der halkyonischen Stille des Vormärz und so mochte er rasch über die Wertprobleme des eigenen Standortes in der Kontemplation hinausgehen“,
während sich in der Gegenwart die „praktischen Kulturprobleme des Momentes fortwährend neu gesteigert und verwickelt“ hätten; Ranke hingegen habe sich allen Konsequenzen der Moderne in dieser Hinsicht „durch Anklammerung an freilich ziemlich undeutliche Reste des christlichen Offenbarungs- und Erlösungsglaubens“ entzogen. 17 Seine Begründung historischer Erkenntnis sei deshalb unbrauchbar. Es geht im Folgenden darum, auf der Linie der von Troeltsch skizzierten Wahrnehmung des Historismus-Problems erneut einen Blick auf die Problemgeschichte von ‚Historismus‘ in Deutschland zu werfen und dabei den Blick zu erweitern (Abschnitt II). Sodann soll die Bedeutung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts für die Genese des Historismus in Europa auf bisher noch kaum beschrittenen Wegen deutlich gemacht werden (Abschnitt III). Und schließlich wird versucht, zu einer Wahrnehmung des Historismus in einem europäischen Rahmen vorzudringen (Abschnitt IV).
15 Darüber Oexle, „Troeltschs Dilemma“, (vgl. Anm. 10). Zur wissenschaftsgeschichtlichen Bedeutung des spätmittelalterlichen Nominalismus als einer epochalen Wende der Wissenschaftsgeschichte und Epistemologie: Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Frankfurt a. M. 2008, S. 193ff. 16 So Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, (vgl. Anm. 11), S. 26. 17 Ebd. S. 114f. und S. 123.
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II. Eine deutsche Problemgeschichte: Kontroversen über Historismus seit dem frühen 19. Jahrhundert 1. Die Kontroversen über Historismus begannen in Deutschland um 1830 in Tübingen im Kreis der sogenannten ‚Jung-Hegelianer‘ oder ‚Links-Hegelianer‘. 18 Es handelt sich dabei um die Schüler des Theologen Ferdinand Christian Baur, der seit 1826 als Professor für Historische Theologie an der Universität Tübingen lehrte und der die Methoden der Geschichtswissenschaft in die Dogmen- und Kirchengeschichte einführte. Die ‚Jung-Hegelianer‘ waren also studierte Theologen, auch wenn sie zum Teil danach in ganz anderen Bereichen tätig waren. Zu Baurs Schülern gehörte der spätere Schriftsteller und Journalist Wilhelm Hauff, der 1826 sein berühmtestes Werk, den Roman Lichtenstein veröffentlichte, mit dem er zu einem Begründer des historischen Romans in Deutschland geworden ist. 19 Zu den Schülern Baurs gehörte der Theologe David Friedrich Strauss, der 1835 sein revolutionäres Werk Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet veröffentlichte, mit dem er in der Theologie ein Erdbeben auslöste, weil seine Analyse der Evangelien konsequent die historische Methode anwandte und damit den „Jesus der Geschichte“ vom „Christus des Glaubens“ trennte. 20 Zu den prominenten Schülern Baurs gehörte sodann der Schriftsteller, Politiker und Historiker Wilhelm Zimmermann mit seiner Geschichte des großen Bauernkrieges (1841), an der Friedrich Engels sein Konzept des Historischen Materialismus erprobte. 21 Zu den Schü18 Otto Gerhard Oexle, „Friedrich Theodor Vischer und das Problem des Historismus“, in: Barbara Potthast/Alexander Reck (Hg.), Friedrich Theodor Vischer. Leben – Werk – Wirkung (= Beihefte zum Euphorion (LXI)), Heidelberg 2011, S. 57–65. 19 Barbara Potthast, Die Ganzheit der Geschichte. Historische Romane im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 90ff. 20 David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. In Auswahl herausgegeben und eingeleitet von Werner Zager (= Theologische Studien-Texte (XV)), Waltrop 2003. Zu der wesentlich von Strauss begründeten zentralen ‚Problemgeschichte‘ der modernen Theologie neuerdings Joachim Ringleben, Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008, mit der Rezension von Thomas Södling, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 264 (2012), S. 135–142; Christian Danz/Michael Murrmann-Kahl (Hg.), Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus, Tübingen 2010. 21 Dazu die Beiträge in: Bauernkrieg und Revolution. Wilhelm Zimmermann. Ein Radikaler aus Stuttgart (= Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart (C)), Stuttgart/Leipzig 2008; vor allem die Beiträge von Peter Blickle, „‚Freiheitsbegeisterung‘. Wilhelm Zimmermann verankert den Bauernkrieg in der deutschen Geschichte“, S. 37–55, und von Günter Vogler „‚Noch gehet sein Geist um in Europas Gauen‘. Wilhelm Zimmermanns Thomas-MüntzerBild und die Rezeptionsgeschichte“, S. 83–131. Zur Wirkungsgeschichte Zimmermanns gehört auch das von Werner Tübke geschaffene, als Nationaldenkmal der DDR 1989 inaugurierte monumentale Panorama in Bad Frankenhausen. Dazu Werner Tübke: Reformation – Revolution. Panorama Frankenhausen. Monumentalbild von Werner Tübke, Dresden 1988; Werner Tübke, Monumentalbild Frankenhausen, Dresden 1989; Werner Tübke, Bauernkrieg und Weltgericht. Das Frankenhausener Monumentalbild einer Wendezeit, Leipzig 1995.
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lern von Baur zählte schließlich der Philosoph Friedrich Theodor Vischer, Sohn eines Pastors, der sich 1834 von der Theologie löste und der Philosophie zuwandte, vor allem der Philosophie der Kunst, und auf den sein Freund Strauss einen tiefgehenden und anhaltenden Einfluß ausgeübt hat. 22 Damit hat Vischer in der Geschichte des Historismus und des HistorismusProblems seine Wirkung erzielt. 1842 und abermals 1844 veröffentlichte er seine Betrachtungen über den Zustand der jetzigen Malerei. 23 Er hatte dabei vor allem die Historienmalerei im Auge. 24 Die Probleme dieses Zustands liegen, so Vischer, in der „allgemeinen unendlichen Unsicherheit in der Wahl der Gegenstände“ und der Stile: „Wir malen, so Vischer 1842, Götter und Madonnen, Heroen und Bauern, so wie wir griechisch, byzantinisch, maurisch, gotisch, florentinisch, à la Renaissance, Rokoko bauen und nur in keinem Stil, der unser wäre. Wir malen, was der Welt Brief ausweist; wir sind der Herr Überall und Nirgends“.
Denn der Künstler stehe heute „reflektierend und wählend (…) über allen Stoffen, die jemals vorhanden waren und sieht den Wald vor Bäumen nicht“. Deshalb sei die Kunst heute „heimatlos, ein Vagabund, der alles kennt und kostet und dem es mit nichts Ernst ist“. Das ist das Problem der Zumutungen des Historismus. Und die Lösung? Dazu Vischer: es bedürfe „neuer Lebensformen; sind sie erst da, so wird die Kunst ihren Stoff haben“. Der neue Stoff aber liege in der Vergangenheit, er liege in der Geschichte. Und so forderte Vischer bereits 1842: „Wir wollen wieder Geschichte haben, und darum ist die Geschichte, die da war, unsere Nahrung“. Eine „neue Kunst“ müsse aus der Beliebigkeit und Wurzellosigkeit des bisherigen ‚Historismus‘ herausführen, nämlich durch die Stiftung von ‚Sinn‘ und ‚Identität‘ als einer nationalen Aufgabe, die jedoch zugleich in „weltgeschichtlichem Sinne“ verstanden werden müsse, die der Begründung eines neuen ‚Historismus‘ diene und dabei die bisher „versäumte Anschließung ans Leben“ nachhole. Mit alledem hat Vischer 1842 einige Stichworte künftiger Historismus-Kontroversen vorgebracht. Das Thema des Historismus als „Krankheit des modernen Menschen“ werden wir bei Friedrich Nietzsche wiederfinden; ebenso die Forderung nach einer Verbindung mit dem „Leben“. Das Ziel der „Überwindung der Geschichte durch Geschichte“ hat sich dann – mit anderen Mitteln – Ernst Troeltsch gesetzt, wie wir schon wissen. Vischer blieb unbeachtet. Der Grund dafür liegt gewiss auch darin, dass die Jung-Hegelianer für die Revolution eintraten und dass mit dem Scheitern der Revolution von 1848 die Themen und Thesen der Jung-Hegelianer – nicht zuletzt auch durch ihre eigenen Meinungsänderungen nach 1848 und vor allem durch ihr 22 Über ihn die versammelten Beiträge in dem in Anm. 18 genannten Band. 23 Friedrich Theodor Vischer, Kritische Gänge, hg. von Robert Vischer, 6 Bde., 2. verm. Aufl. Leipzig 1914–1922, (V), S. 35–55. 24 Gegenstand seiner Kritik ist die Malerei der sogenannten ‚Nazarener‘, insbesondere eines Johann Friedrich Overbeck; dazu Oexle, „Vischer“, (vgl. Anm. 18), S. 61f.
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williges Sich-Einfügen in die Mentalitäten des von Bismarck gegründeten deutschen Kaiserreichs – erledigt waren. 25 2. Grundlagen künftiger Debatten lieferte vielmehr Friedrich Nietzsche, auch er ein Pastorensohn (was man wissen muss). Schon in seiner ersten „unzeitgemäßen“ Betrachtung von 1873, seinem zweiten Buch (über David Strauß der Bekenner und Schriftsteller und dessen Werk Der alte und der neue Glaube von 1872), eröffnete Nietzsche die Polemik gegen die „Kulturphilister“, die da meinten, der militärische Sieg über Frankreich signalisiere eine kulturelle Überlegenheit. Den Kampf gegen den Historismus nahm Nietzsche dann mit seiner zweiten „unzeitgemäßen“ Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben von 1874 auf. 26 Das zentrale Thema dieser Schrift war der Historismus (auch bei Nietzsche noch ohne Verwendung dieses Worts). 27 Nietzsche sah in ihm eine „Krankheit des modernen Menschen“, deren Ursache darin liege, dass die Historie eine Wissenschaft geworden ist. Denn dies bedeute eine ungeheure, rastlose, aber sinnlose Produktion historischer Fakten, die dazu noch – und auch dies ist ein Symptom der Krankheit – mit dem Anspruch auf objektive, auf wahre Erkenntnis vorgetragen wird, was ein leerer Anspruch sei. Der Inbegriff dieser verfehlten Geschichtswissenschaft ist für Nietzsche kein anderer als Leopold von Ranke. Hier wird also der Gegensatz von Nietzscheanern und Rankeanern begründet, der in unseren Überlegungen noch erörtert werden wird. Aus alledem ergibt sich die eigentliche Schadenswirkung, ergeben sich die wahrhaft „vernichtenden“ Folgen dieser Geschichtswissenschaft, nämlich der von ihr geförderte Relativismus. Denn die Historie, die Wissenschaft geworden ist, sei die „Wissenschaft des universalen Werdens“ und eben deshalb auch die Wissenschaft des universalen Vergehens. 28 Das will sagen: diese Wissenschaft zeigt die Gewordenheit und eben deshalb auch die Vergänglichkeit alles dessen, was ist. Nietzsche, der Pastorensohn, der sich auf diesem Gebiet gut auskannte, verdeutlicht dies an einem eklatanten Beispiel,
25 Ebd., S. 59f. Über das Spätwerk von Strauß und die Kontroversen darüber Heinßen, Historismus und Kulturkritik, (vgl. Anm. 1), S. 75ff. 26 Dazu die Beiträge in Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, (vgl. Anm. 1), und Heinßen, Historismus und Kulturkritik, S. 522ff. (zu Nietzsches „historischem Antihistorismus“). 27 Hier ist die Differenz zwischen ‚Wortgeschichte‘ von ‚Historismus‘ seit 1800 (dazu Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, S. 47f.) und ‚Problemgeschichte‘ zu beachten. Über die Bedeutungsvielfalt von ‚Historismus‘ im 19. Jahrhundert Heinßen, Historismus und Kulturkritik, S. 38ff. 28 So Nietzsche im zentralen Kapitel 7 seiner Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, hier zitiert nach der Edition im ersten Band der Kritischen Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München ²1988, S. 295ff.
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nämlich der protestantischen Theologie: die Historisierung des Lebens Jesu, wie sie David Friedrich Strauss mit seinem Buch von 1835 vorgeführt hat, bedeute nichts anderes als die „Vernichtung“ der christlichen Religion, nämlich die Auflösung des Christentums in „reines Wissen um das Christentum“. Die Theologie demonstriere, dass „der historische Sinn, wenn er ungebändigt waltet und alle seine Konsequenzen zieht“, die Zukunft „entwurzelt“. Die „historische Gerechtigkeit“ sei eine „schreckliche Tugend“, weil sie „immer das Lebendige untergräbt und zu Falle bringt“. Eine Religion, „die in historisches Wissen“ umgesetzt, „die durch und durch wissenschaftlich erkannt werden soll, ist am Ende dieses Weges zugleich vernichtet“. In solchen Wirkungen sei der Historie „die Kunst entgegengesetzt“: die Historie müsse also „zum Kunstwerk umgebildet, also reines Kunstgebilde werden“, was der „jetzigen theologus liberalis vulgaris“ freilich nicht begreifen könne. Zur Rettung des „Lebens“ vor der Geschichtswissenschaft und vor dem Historismus, den diese unaufhörlich fördert, forderte Nietzsche deshalb vielfältige Therapien, an erster Stelle das Vergessen. Er propagierte die Kunst und die Religion als Gegenmächte der historischen Wissenschaft. Vor allem aber müsse die Historie aufhören, eine Wissenschaft zu sein, um sich stattdessen in den „Dienst des Lebens“ zu stellen. Wie kann sie das? Sie kann es als „antiquarische Historie“, die dem Sammeln und Bewahren des Bewahrenswerten dient; sie kann es als „monumentalische Historie“, welche Vorbilder, Lehrer und Tröster zeigt und damit dem „Leben“ dient, weil sie zum richtigen Handeln anleitet; sie kann es schließlich auch als „kritische Historie“, die verurteilt und damit von der Last der Geschichte befreit. Zentrale Bedeutung wird dann künftig Nietzsches „monumentalische Historie“ gewinnen, eine Form der Historie, die aber – wie zu beachten ist – gerade nicht mehr wissenschaftliche Historie sein will. 3. In den 1880er Jahren 29 setzten die ersten fachwissenschaftlichen HistorismusStreite ein, die allesamt in anwendungsorientierten (also auf das „Leben“ im Sinne Nietzsches bezogenen) Wissenschaften ausgefochten wurden, nämlich: in der Nationalökonomie, in der Rechtswissenschaft und in der protestantischen Theologie. Und jetzt wurden die Debatten über Historismus auch unter dem „Leitbegriff“ des „Historismus“ geführt. 30 In der Nationalökonomie wurde der Streit 1883/84 ausgetragen, es war der berühmte „Methodenstreit“ zwischen Gustav Schmoller und Carl Menger, ein
29 Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart/Weimar 1996. 30 Dazu die Darstellung von Wittkau, Historismus, (vgl. Anm. 1). Zum Historismus in der Rechtswissenschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts Joachim Rückert, „Vom Umgang mit der Geschichte, juristisch und historisch“, in: Geschichtsdiskurs 3, (vgl. Anm. 7), S. 298–320.
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Streit über die Bedeutung der Wirtschaftsgeschichte für eine wissenschaftliche und der Gegenwart dienende Wirtschaftswissenschaft. 31 Es folgte 1888 in der Rechtswissenschaft die analoge Kontroverse zwischen Rudolf Stammler und Ernst Immanuel Becker über die Bedeutung der Rechtsgeschichte für die Rechtswissenschaft. Es folgte in den 1890er Jahren und erneut um 1900 eine Historismus-Kontroverse in der protestantischen Theologie. Diese war, wie nicht anders zu erwarten, ein Streit über die Leben-Jesu-Forschung eines David Friedrich Strauss. In diesen Zusammenhang der Historismus-Streite am Ende des 19. Jahrhunderts gehört auch die bisher wenig beachtete Kontroverse über die Rechtsbegriffe, die, ebenfalls in den 1880er Jahren, den Staatsrechtler Paul Laband und den Privatrechtler und Rechtshistoriker Otto von Gierke entzweite. 32 Denn Laband hielt das Bismarck-Reich für die ultimative Form von Staatlichkeit in Deutschland und plädierte deshalb für Rechtsbegriffe, die aus diesem Staat abgeleitet und ein für allemal gültig seien. Gierke hingegen machte auf die unabweisliche geschichtliche Gewordenheit auch aller Rechtsbegriffe aufmerksam, auf ihre historisch-kulturelle Bedingtheit und damit auf ihre ständige Wandelbarkeit. Und Gierke benannte das zentrale Problem für Juristen, für Rechtshistoriker und alle Rechtswissenschaftler, das sich aus dieser Bedingtheit und Wandelbarkeit der Rechtsbegriffe ergebe: zum einen müsse der Rechtshistoriker historische ‚Wirklichkeit‘ erkennen mit Begriffen der Gegenwart (weil gar keine anderen zur Verfügung stehen). Zum anderen müsse der Jurist die Gegenwart juristisch normieren mit Begriffen, die eine Vergangenheit haben, also mit historisch bedingten und somit wandelbaren Begriffen. Für dieses Problem aber – so Gierke – gebe es keine „Lösung“. Die „Lösung“ sei vielmehr, sich des Problems bewusst zu werden und es bewusst zu halten. 4. Im Lauf der 1890er Jahre gewannen die Historismus-Kontroversen an Dynamik. 33 Denn jetzt traten die Kantianer auf den Plan. Sie hießen: Georg Simmel, Max Weber, Ernst Cassirer. Das Problem des Historismus wurde hier zuerst und exemplarisch von Georg Simmel, dem Philosophen und Soziologen vorgeführt: 1896,
31 Dazu Aliki Lavranu, „Deskription, Kausalität und Teleologie. Zu Gustav Schmollers methodologischen und wissenschaftstheoretischen Positionen im Anschluß an den ‚Methodenstreit‘“, in: Oexle (Hg.), Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 181–206. 32 Dazu Otto Gerhard Oexle, „Otto von Gierkes ‚Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft‘. Ein Versuch wissenschaftsgeschichtlicher Rekapitulation“, in: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 193–218, hier S. 201ff; ders., „‚Begriffsgeschichte‘ – eine noch nicht begriffene Geschichte“, in: Philosophisches Jahrbuch 116/II (2009), S. 381–400, hier S. 393f. 33 Über die Entstehung einer ‚Historischen Kulturwissenschaft‘ in der „Krise des Historismus“ Heinßen, Historismus und Kulturkritik, (vgl. Anm. 1), S. 561ff.
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in seiner Abhandlung Was ist uns Kant? 34 Simmel skizziert hier zunächst die bleibende Bedeutung der „berühmten Lehre Kants, daß wir nicht die Dinge an sich, sondern nur ihre Erscheinungen erkennen“. Er stellte die „strenge Beschränkung der Tragweite unseres Erkennens“ fest, und er würdigte zugleich die „unendliche Bereicherung“, die Kants Theorie der Erkenntnis gleichwohl bedeute, nämlich die „Erkenntnis der Gestaltungskraft unseres Bewußtseins“, die Einsicht also, dass „die gewußte Welt nicht ein uns wesensfremdes, wie eine tote Masse in unseren Geist hineingeschüttetes Objekt ist, sondern durch die Funktionen dieses Geistes entsteht, in ihnen besteht“.
Zugleich aber weist Simmel auf den fundamentalen Unterschied zum Denken Kants hin, der das moderne Denken bestimmt, und das ist die Erkenntnis der Historizität der Welt und des Denkens selbst, die Kant noch fremd war. Wir haben es also – so Simmel – mit einem Problem zu tun, das sich Kant noch gar nicht gestellt hat. Erscheine doch dem modernen Menschen des beginnenden 20. Jahrhunderts der menschliche Geist „so gut wie jedes andere organische Gebilde als eine Station einer ins Unendliche gehenden Entwicklung“. Der menschliche Geist sei jedoch „kein systematisches Ganzes, sondern sozusagen ein Werdendes“, und eben dies sei der Punkt, an dem sich, so Simmel 1896, „die moderne Weltanschauung aufs entschiedenste von der Kantischen trennt“. Simmel hat dieses Problem in seiner Philosophie des Geldes (zuerst 1900) weiter entfaltet und schließlich in der zweiten, ganz neu konzipierten Auflage seines Buches über Die Probleme der Geschichtsphilosophie von 1905 im Sinne Kants gefragt: Wie ist Geschichte möglich, wie ist Wissen von der Geschichte möglich? Das heißt: Wie wird „aus dem Stoffe der unmittelbaren gelebten Wirklichkeit das theoretische Gebilde (…), das wir Geschichte nennen?“ 35 Historische Erkenntnis ist also empirisch, die Geschichtswissenschaft ist sogar „die Wirklichkeitswissenschaft schlechthin“, wie Simmel betont, sie bietet aber keine Substanzenerkenntnis, sie bietet keine absolute Wesenserkenntnis und kann es auch nicht. Sie ist vielmehr relationale Erkenntnis. Relationale Erkenntnis heißt: keine historische Erkenntnis kann jemals Abbildung irgendeiner historischen „Wirklichkeit“ sein, vielmehr ist jede historische Erkenntnis konstituiert von der Frage, die gestellt wird; und die Fragen verändern sich, je nach dem historisch-kulturellen Kontext, in dem sie gestellt werden. Das heißt auch, dass jede Erkenntnis sogleich neue Fragen aufwirft, so dass der „Prozeß der Erkenntnis niemals an seinem Ende
34 Georg Simmel, „Was ist uns Kant?“, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900 (= Georg Simmel Gesamtausgabe (V)), Frankfurt a. M. 1992, S. 145–177. Die Zitate hier S. 152ff. 35 Georg Simmel, Kant. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (zweite Fassung 1905/1907), (= Georg Simmel Gesamtausgabe (IX), Frankfurt a. M. 1997, S. 227ff. Vgl. Otto Gerhard Oexle, „Georg Simmels Philosophie der Geschichte, der Gesellschaft und der Kultur“, in: Barbara Schlieben/Olaf Schneider/Kerstin Schulmeyer (Hg.), Geschichtsbilder im GeorgeKreis. Wege zur Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 19–49.
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anlangen wird“ (G. Simmel). Hier eröffnet sich der Gegensatz von Kantianern und Neo-Rankeanern, deren Gewährsmann von theologisch-metaphysischen Prinzipien aus historische Erkenntnis „wie es eigentlich gewesen“ in Aussicht gestellt hatte. Diese Art der Erörterung des Problems der Erkenntnis im Zeichen des Historismus hat dann auch Max Weber in seiner Abhandlung über die „Objektivität“ der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis von 1904 gegeben, mit der auch er historische Kulturwissenschaft als „Wirklichkeitswissenschaft“ begründete. 36 Auch Weber bekennt sich zu der „auf Kant zurückgehenden, modernen Erkenntnislehre“. Auch er erklärt sich gegen Ranke und gegen die Rankeaner und NeoRankeaner seiner Zeit ebenso entschieden wie gegen den naturwissenschaftlichen Objektivismus und Szientismus seiner Zeit. Nämlich mit dem berühmten Satz: „Nicht die sachlichen Zusammenhänge der Dinge, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde“.
Instrumente der kulturwissenschaftlichen Erkenntnis sind die Begriffe. Aber die Begriffe können nicht mehr sein als „Nothäfen“ (Max Weber). Ihre logische Funktion ist, Ordnung zu schaffen. Ihre Bildung hängt von der „Stellung der Probleme“ ab; und letztere ist wandelbar mit dem Inhalt der Kultur selbst. Daraus ergibt sich die stete Wandelbarkeit der Begriffe und damit die stete Wandelbarkeit der Ergebnisse der Wissenschaft. In seinen vielfach berüchtigten, bis heute als nicht akzeptabel befundenen dezidierten Aussagen über den Sinn der Wissenschaft (Wissenschaft als Beruf, 1917/19) hat Weber später festgestellt, dass „der Sinn der Arbeit der Wissenschaft“ darin bestehe, dass sie „überboten werden und veralten will“: „Wissenschaftlich (…) überholt zu werden, ist (…) nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck“. „Prinzipiell“ gehe der Fortschritt der Wissenschaft also „in das Unendliche“. Wissenschaft ist ein „ins Unendliche laufender Betrieb“. 37 Das aber war Kants Feststellung: Erkenntnis ist Bewegung in eine „unbestimmbare Weite“, ins „Indefinite“. 38 Zur selben Zeit wie Simmel und Weber hat der Philosoph Ernst Cassirer im ersten Band seines Werks Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit aus dem Jahr 1906 eine gleichartige, ebenfalls an Kant orientierte Position vertreten: Auch wenn sich der „naiven Auffassung“ das Erkennen als ein Prozess darstelle, „in dem wir uns eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewußtsein bringen“, so sei die Tätigkeit des Geistes doch keineswegs ein bloßer „Akt der Wiederholung“. Vielmehr bestehe sie
36 Max Weber, „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“, 1904, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, S. 146–214. 37 Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“, 1919, in: ders., Gesammelte Aufsätze, (vgl. Anm. 36), S. 582–613 und S. 592f. 38 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 541ff.
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Otto Gerhard Oexle „nicht in der nachahmenden Beschreibung, sondern in der Auswahl und der kritischen Gliederung, die an der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungsdinge zu vollziehen ist“. 39
So Cassirer in der Einleitung dieses Buches. Hier fällt das Stichwort vom „Apriori und seiner Geschichte“: „Denn das ‚Faktum‘ der Wissenschaft ist und bleibt (…) seiner Natur nach ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum“. 40 Die ‚Kritik‘ im Sinne Kants musste „folglich die ‚Geschichte der reinen Vernunft‘ zu einer historischen ‚Phänomenologie‘ der Vernunft erweitern, aber ohne jeden Anspruch, das Telos der Rationaliltät in ein endgültiges Resultat einzuschließen“. 41
Diese Absicht prägt auch Cassirers (kurz vor der ihm aufgezwungenen Emigration veröffentlichtes) Buch über Die Philosophie der Aufklärung (1932), und er hat sie noch in seinem letzten Buch An Essay on Man (1944) ausgesprochen: „History is not a narration of dead facts and events. History (…) is an organon of our selfknowledge, an indispensable instrument for building up our human universe“. 42
5. Die Positionen der Kantianer fanden heftigen Widerspruch von Seiten der Jünger Stefan Georges, die wie ihr Meister dezidierte Anhänger Friedrich Nietzsches waren. Auf der Grundlage der Philosophie Friedrich Nietzsches 43 verurteilten sie den von Kant her begründeten „Relationismus“ der Erkenntnis als „Relativismus“. So der Literaturwissenschaftler Friedrich Gundolf in seinem für das Selbstverständnis der Georgeaner repräsentativen Essay Über Wesen und Beziehung von 1911, einem vehementen Plädoyer gegen „Relativismus“ und gegen „Historis-
39 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, (I), 1906, hier zitiert nach dem Nachdruck Darmstadt 1974, S. 1f. 40 Ebd., S. 17f. 41 Massimo Ferrari, Ernst Cassirer. Stationen einer politischen Biographie. Von der Marburger Schule zur Kulturphilosophie (= Cassirer-Forschungen (XI)), Hamburg 2003, S. 1ff. Das Zitat ebd. S. 30. Zum Thema auch Enno Rudolph, „Was heißt: Sich in der Geschichte orientieren? Zur Überwindung des Historismus“, in: ders., Ernst Cassirer im Kontext. Kulturphilosophie zwischen Metaphysik und Historismus, Tübingen 2003, S. 148–158; Michael Hänel, „Problemgeschichte als Forschung: Die Erbschaft des Neukantianismus“, in: Oexle (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte, (vgl. Anm. 1), S. 85–127; ders., „Begriff, Wissenschaft und Wirklichkeit: Ernst Cassirers ‚Begriffsreform‘ und die ‚Krise der Wirklichkeit‘“, in: Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, (vgl. Anm. 1), S. 295–312. 42 Ernst Cassirer, An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, 1944, Nachdruck New Haven 1972, S. 206. 43 Über die ‚Georgeaner‘ als ‘Nietzscheaner’: Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, (vgl. Anm. 29); Thomas Karlauf/Stefan George. Die Entdeckung des Charismas. Biographie, München/Zürich 2007, passim.
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mus“, wie Gundolf erläuterte. 44 Er empfahl die „monumentalische Historie“ im Sinne Nietzsches, wie wir sie in den Veröffentlichungen der Georgeaner über „Cäsar“, „Dante“, „Goethe“ oder „Kaiser Friedrich den Zweiten“ finden. 45 Das sollte Wesenserkenntnis in der Kunst und mit den Mitteln der Kunst sein. Widerstand gegen die Kantianer kam auch von Seiten der Fachhistorie, also von den Neo-Rankeanern. Denn sie sahen durch die Kantianer zwei ihrer „Lieblingsvorstellungen“ in Frage gestellt. 46 Zum einen, weil die Kantianer bestritten, „dass es in der Wissenschaft pure Faktizität“ gebe, da doch „schon in der Auswahl der Erkenntnisgegenstände und Vorgehensweise Vorannahmen“ lägen, „die argumentativ begründet werden müssten“ und vom kulturellen „Kontext abhängig seien“. Und zum anderen, weil die Kantianer „die überzeitliche Gültigkeit wissenschaftlicher Aussagen in Frage“ stellten. Und beides bedeutete – so kann man mit dem Philosophiehistoriker Ulrich Sieg feststellen – eine „narzistische Kränkung für jene Professoren, die es gewohnt waren, für ihre Behauptungen sowohl empirische Richtigkeit als auch weitreichende Geltung zu beanspruchen“.
In diesem Sinne ist auch der Philosoph Eduard Spranger zu verstehen, wenn er noch 1951 an Friedrich Meinecke schreibt (dessen Zustimmung er gewiss sein konnte): Max Webers Rede über ‚Wissenschaft als Beruf‘ sei der „Sündenfall in höchster Potenz“ gewesen. 47 6. Man kann diese Kontroversen seit den 1890er Jahren in den Kulturwissenschaften als Auseinandersetzungen verstehen, die von drei Standpunkten aus gegeneinander vorgebracht wurden; diese Standpunkte heißen: ‚Kant‘, ‚Ranke‘ und ‚Nietzsche‘. 48 Sie stehen zugleich in einem Kontext, den man, unter Einbeziehung naturwissenschaftlicher Diskussionen dieser Zeit, als Debatten über die ‚Krise der Wirklichkeit‘ begreifen kann. 49 Reinhard Laube hat die Debatten über Historis44 Friedrich Gundolf, „Wesen und Beziehung“, in: Jahrbuch für die Geistige Bewegung 2 (1911), S. 10–35, hier S. 11ff. 45 Otto Gerhard Oexle, „Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz‘‚Kaiser Friedrich der Zweite‘ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik“, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 163–215. 46 Ulrich Sieg, „‚Deutsche Wissenschaft‘ und Neukantianismus. Die Geschichte einer Diffamierung“, in: Hartmut Lehmann/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften, II: Leitbegriffe – Deutungsmuster – Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte (CCXI)), Göttingen 2004, S. 99–222, S. 120. 47 Zitiert bei Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 123f. 48 Otto Gerhard Oexle, „Ranke – Nietzsche – Kant. Über die epistemologischen Orientierungen deutscher Historiker“, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 2 (2001), S. 224–244; ders., Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 73ff. 49 Ebd., S. 79ff und 85ff.
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mus als eine Auseinandersetzung im Sinne von ‚Re-Problematisierung‘ und ‚EntProblematisierung‘ gedeutet. 50 Der Rankeaner Friedrich Meinecke suchte seinen Standpunkt im Sinne einer ‚Ent-Problematisierung‘ des Problems. Der Historiker und Theologe Ernst Troeltsch fand seinen eigenen Standpunkt, indem er – als intellektueller und aufmerksamer kritischer Beobachter seiner Zeit – den Historismus als eine unausweichliche Gegebenheit der Moderne erkannte und deshalb eine ‚Re-Problematisierung‘ betrieb. Andererseits suchte der Theologe Troeltsch gültige Werte und Maximen des Handelns in der Gegenwart und für die Gegenwart mit den Mitteln historischer Erkenntnis und doch zugleich stabil, also im Sinne einer ‚Ent-Problematisierung‘ zu begründen. Dies war es, was er „Geschichte durch Geschichte überwinden“ nannte. Deshalb nahm er Stellung gegen die Kantianer (also gegen Georg Simmel, gegen Max Weber und auch gegen Kant selbst und ihre Auffassung von der ‚Relationalität‘ wissenschaftlicher Erkenntnis); er nahm Stellung gegen Nietzsche und die Nietzscheaner (also gegen George und die Seinen) und positionierte sich zugleich gegen Ranke, gegen die Rankeaner und also auch gegen Meinecke. Sein Ziel war es, die Zumutungen des Historismus zu überwinden, in der kühnen Absicht der Begründung einer neuen, einer modernen Metaphysik, welche wahre historische Erkenntnis und damit auch wahre, also definitiv belastbare, gegen jeglichen Historismus resistente Werte für das Handeln in der modernen Welt historisch begründen können. Das war Troeltschs Dilemma. 51 7. Die Positionen Ernst Troeltschs wurden im Laufe der 1920er Jahre ihrerseits Gegenstand vehementer Paradigmenkämpfe. Zu diesen Paradigmenkämpfen gehörte die „antihistoristische Revolution“ in der protestantischen Theologie, also die Attacken der neuen, der sogenannten „dialektischen Theologie“ gegen Ernst Troeltsch, zum Beispiel bei Karl Barth. Sein Ausgangspunkt war Friedrich Nietzsche. 52 Mit Troeltschs Ansichten setzte sich auch der Kantianer Karl Mannheim auseinander, der die Wissenssoziologie begründet hat. 53 Hierher gehört auch die Auseinandersetzung des seinerseits von Nietzsche inspirierten Martin Heidegger mit
50 Reinhard Laube, „‚Perspektivität‘: Ein wissenssoziologisches Problem zwischen kulturbedingter Entproblematisierung und kulturwissenschaftlicher Reproblematisierung“, in: Oexle (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte, (vgl. Anm. 1), S. 129–179; ders., „Platon und die Sophisten“, in: Lehmann/Oexle, Nationalsozialismus, (II), (vgl. Anm. 46), S. 139–164; ders., Karl Mannheim und die Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1). 51 Vgl. Anm. 10. 52 Dazu Kurt Nowak, „Historische oder dogmatische Methode? Protestantische Theologie im Jahrhundert des Historismus“, in: Küttler/Rüsen/Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, III: Die Epoche der Historisierung, (vgl. Anm. 7), S. 282–297. 53 Zum folgenden Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 199ff.
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dem Kantianer Ernst Cassirer – es ist die Auseinandersetzung von Davos 1929.54 Hierher gehören die gleichgerichteten Attacken des Nietzscheaners Carl Schmitt, des Staatsrechtlers, gegen Karl Mannheim. Sie fanden bereits im Vorfeld des Jahres 1933 statt und in diesem Jahr selbst, in dem die Kantianer, sowohl der Soziologe Karl Mannheim als auch der Philosoph Ernst Cassirer, Deutschland verlassen mussten. Die sogenannte Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde benutzt, um mit dem Nationalsozialismus nietzscheanische Positionen durchzusetzen, die man zuvor schon vertreten hatte. Das gilt für Carl Schmitt ebenso wie für Martin Heidegger. Ernst Cassirers Buch über die Philosophie der Aufklärung von 1932, mit einem Kapitel über „Die Eroberung der geschichtlichen Welt“ in der Aufklärung, kam hier nicht mehr zum Zuge. Friedrich Meinecke hat 1936 dieses Buch, das einen Gegenentwurf zu seiner eigenen Auffassung von „Historismus“ vertrat, nicht berücksichtigt und nicht gewürdigt als das, was es tatsächlich war, nämlich eben ein Gegenentwurf. 8. Aber auch Friedrich Meinecke wurde mit seinem Historismusbuch von 1936 ein Gegenstand nationalsozialistisch ausgerichteter Kritik, 55 wie ein Vortrag des Historikers und SS-Hauptsturmführers Reinhard Wittram Über Historismus und Geschichtsbewußtsein von 1937 trotz höflicher Reverenz vor dem älteren Kollegen mit Goethe und Ranke deutlich macht. Für Wittram war das Problem des Historismus im Nationalsozialismus ganz und gar erledigt. Weil doch der Nationalsozialismus, wie Wittram schrieb, „die doktrinären Maßstäbe der Aufklärung und des Liberalismus“, welche heute nur noch „Museumsstücke“ seien, „zerbrochen“ habe. Das „Gewoge der Relativitäten“ sei definitiv beendet, weil der Nationalsozialismus – mit „Blut“ und „Boden“, mit „Volk“ und „Rasse“ – ab jetzt und für alle künftige Zeit ein neues Geschichtsverständnis heraufgeführt habe. Die Epoche des „Historismus“ sei beendet. Ähnlich der Theologe Erich Seeberg über Meineckes Buch von 1936: „Der Relativismus, über den der Historismus eben nicht hinauskann“, sei nun überwunden; das Individuum lebe im Zeichen einer neuen „Ganzheit“ und „Gemeinschaft“, im „Lebensstrom des Ganzen“. Und ebenso der Philosoph Erich Rothacker in seiner Abhandlung über ‚Historismus‘ von 1938. Auch Rothacker erklärte Meineckes Sichtweise explizit mit dem Hinweis auf Nietzsches zweite „unzeitgemäße Betrachtung“ als erledigt.
54 Oexle, „Begriffsgeschichte“, (vgl. Anm. 32), S. 386ff. 55 Zum folgenden Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 88ff.; Oexle, Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 107ff.
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9. Auch dieser Sachverhalt kennzeichnet die Situation der Debatten über Historismus in Deutschland nach 1945. 56 Es gab Historiker, die den Historismus nicht mehr zu den „Lebensproblemen der modernen Welt“ zählten, wie Ernst Troeltsch formuliert hatte. Der Historismus galt manchen jetzt als „vollendet“ (Reinhard Wittram); oder er galt als etwas Gewesenes und Überholtes („der Historismus in seiner alten Form ist untergegangen“, wie Theodor Schieder 1965 feststellte); oder man vertrat die Ansicht, Historismus sei „eine abgeschlossene Größe“, welche der „Geschichte angehöre“, jedenfalls keine „aktuelle Herausforderung“ mehr darstelle. 57 Andere Historiker beförderten eine Revitalisierung von Meineckes Historismus, der alsbald aber heftig widersprochen wurde, wie wir schon wissen. 58 Es gibt genug Anlaß zu bedauern, dass die Kantianer, die, wie wir gesehen haben, die lebhafteste Kontroverse über Historismus ausgelöst hatten, in der Emigration verschollen waren. Sie kamen nicht zurück; und niemand hat sie nach 1945 vermisst.59 Das ist eine Verwerfung, ja ein Abbruch der Erörterungen über Historismus, den man bedauern muß. Neue Impulse in der Erforschung des Historismus sind möglich, wenn man den Zusammenhang von Historismus und Aufklärung in den Blick nimmt (Abschnitt III) und wenn man die Frage nach Historismus und Historismus-Kontroversen in anderen europäischen Ländern stellt (Abschnitt IV). III. Zum Historismus der Aufklärung „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss“. So äußerte sich Kant in der ersten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft, 1781. 60 Aus dieser Feststellung Kants ergibt sich eine tiefgehende Affinität von Aufklärung und Historismus, weil Historisierung eine Perspektivierung bedeutet und deshalb ein vehementes Instrument der Kritik ist. Die Frage der ‚Perspektivität‘ wurde als zentrales Problem der historischen und kulturwissenschaftlichen Forschung mit Beginn des 20. Jahrhunderts erschlossen. 61 Die folgenden Überlegungen knüpfen jedoch nicht an die Erörterung von ‚Aufklärung‘ und ‚Historismus‘ bei Historikern um 1800 und am Beginn des 19. Jahrhunderts an, 62 und Dazu Laube, Karl Mannheim, (vgl. Anm. 1), S. 100ff. Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 67. S. oben S. 11f. Otto Gerhard Oexle, „Die Fragen der Emigranten“, in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 51–62. 60 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A XII. Zum Folgenden bereits Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, (vgl. Anm. 1), S. 28ff. und 35ff. 61 Dazu Laube, „Perspektivität“, (vgl. Anm. 50). 62 Vgl. dazu jetzt den Beitrag von Klaus Ries in diesem Band; siehe dazu auch Stefan Jordan, Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen
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auch nicht an die Reflexionen der Philosophie dieser Zeit. 63 In Erinnerung an die Feststellungen eines Friedrich Theodor Vischer 64 wird ein Wechsel zur Einbeziehung kunstgeschichtlicher Befunde vorgeschlagen. 65 Hier hat schon vor geraumer Zeit, bisher allerdings ohne Konsequenzen für die Überlegungen der Historiker zu diesem Thema, der Kunsthistoriker Werner Hofmann in seinem Buch Das Irdische Paradies (zuerst 1960) auf den Gegensatz von ‚Historismus‘ und ‚Anti-Historismus‘ als einem fundamentalen Problem der Kunst der Moderne hingewiesen, auf den Gegensatz von ‚historistischer‘ Kunst und jener Kunst, die – im Gegensatz dazu – an die Gegenwart die „Forderung“ stellt, „nichts als sie selbst zu sein“. 66 An eine solche Perspektive sei hier angeknüpft. 1. Eine grundlegende Veränderung hat Werner Hofmann in seinem Buch Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830 erörtert. 67 Hofmann erinnert hier an die Wiederentdeckung der Gotik in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Sie bedeutete die Entstehung einer „Bifokalität“, nämlich der Bifokalität von Klassizismus und Gotik, also von gedachter und gebauter Antike und gedachtem und gebautem Mittelalter. Damit traten zum ersten Mal jene „Wahlmöglichkeiten“ und „Kontrastkoppelungen“ (W. Hofmann) auf, in denen sich ein zentrales Moment des modernen Historismus manifestierte. In den Parks seit der Mitte des 18. Jahrhunderts sehen wir etwas Neues. Wir sehen nämlich die Gleichzeitigkeit von griechischen Tempeln und „gotischen Häusern“, zum Beispiel in ‚Strawberry Hill‘,
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Pragmatismus und Klassischem Historismus, Frankfurt a. M. 1999; ders., „Einleitung: Deutschsprachige Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Schwellenzeittexte. Quellen zur deutschsprachigen Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. und eingeleitet von Stefan Jordan (= Wissen und Kritik (XVII)), Waltrop 1999, S. XIX–LV. Giuseppe D’Alessandro, Dalla causa alla vita. Il pensiero storico tedesco tra fine dell’illuminismo e inizi dell’idealismo, Napoli 2008. S. oben S. 17ff. Zu den Positionen der Kunstgeschichte im Blick auf ‚Historismus‘: Oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, (vgl. Anm. 1), S. 44f. mit 254f. Über Historismus in der Kunst des 19. Jahrhunderts die Beiträge in: Otto Gerhard Oexle/Áron Petneki/Leszek Zygner (Hg.), Bilder gedeuteter Geschichte. Das Mittelalter in der Kunst und Architektur der Moderne, 2 Bde. (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft (XXIII)), Göttingen 2004. Über „Renaissancismus“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Heinßen, Historismus und Kulturkritik, (vgl. Anm. 1), S. 342ff. Werner Hofmann, Das Irdische Paradies, München ²1974, S. 254ff. („Das entzweite Jahrhundert“). Bes. ebd. S. 256 in Anknüpfung an die oben S. 18 zitierte Feststellung von F. Th. Vischer von 1842. Werner Hofmann, Das entzweite Jahrhundert. Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995, S. 112ff.
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das Horace Walpole um 1750 erbaute, 68 oder, in Deutschland, im Park von Wörlitz bei Dessau. Hier wurden erstmals Antike und Mittelalter, Klassik und Gotik, als gleichzeitige aber gegensätzliche Wunschbilder von Ganzheit und Harmonie, als gleichzeitige, aber gegensätzliche Imaginationen historischer Wertwelten beschworen. Im Park zu Wörlitz wurde das von Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau geschaffene ‚Gotische Haus‘ (in seiner Gleichzeitigkeit mit klassizistischen Tempelbauten) zum Emblem einer neuen Kunst, was sich bis heute erkennen lässt. 69 In Wörlitz waren und sind bereits die kommenden Entwicklungschancen, zugleich aber auch kommende Zumutungen zu erkennen. Anders gesagt: in dieser Erweiterung historischer Wahrnehmungs- und Orientierungsmöglichkeiten werden Chancen sichtbar. Zugleich steht aber dem die Reduzierung, ja die Relativierung aller Orientierungen gegenüber, weil die Gleichzeitigkeit aller die Verbindlichkeit und Normativität jeder einzelnen in Frage stellt. Ein anderes Beispiel, aus dem frühen 19. Jahrhundert, bietet Berlin. Hier trat in den 1820er Jahren Karl Friedrich Schinkel mit den von ihm gemalten imaginären mittelalterlichen Städten und Kathedralen in Erscheinung, – und: mit deren Pendant in dem Gemälde ‚Blick in Griechenlands Blüte‘ von 1825. 70 Im Auftrag des Königs hat Schinkel 1824 für die neue Friedrichswerdersche Kirche in Berlin gleichzeitig antike und gotische Entwürfe vorgelegt (verwirklicht wurde, wie man noch heute sehen kann, ein gotischer). Und eben dieses auch hier zutagetretende Dilemma der Gleichzeitigkeit von Entwicklungsmöglichkeiten und Relativierungen hat dann bald danach (wir wissen es schon) der Philosoph Friedrich Theodor Vischer in seiner Weise erläutert. 2. Ein anderes Moment ist die Wahrnehmung der Gegenwart als zukünftige Vergangenheit. Montesquieu – auf den hier mit Nachdruck hinzuweisen ist – hat bereits 1721 in seinen Lettres persanes eine räumliche Perspektivierung dadurch erzielt, dass er französische Institutionen und Lebensformen in der Perspektive von Per68 Vgl. Norbert Miller, Strawberry Hill. Horace Walpole und die Ästhetik der schönen Unregelmäßigkeit, München/Wien 1986. 69 Dazu Reinhard Alex, „Das Gotische Haus – ein Refugium des Fürsten“, in: Kulturstiftung Dessau – Wörlitz (Hg.), Unendlich schön. Das Gartenreich Dessau – Wörlitz, Berlin ²2006, S. 130–142. Zur Deutung Klaus Niehr, Gotikbilder – Gotiktheorien. Studien zur Wahrnehmung und Erforschung mittelalterlicher Architektur in Deutschland zwischen ca. 1750 und 1850, Berlin 1999, S. 127ff. Zu Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt, einem Vertreter der Aufklärung in Deutschland: Heinrich Dilly/Holger Zaunstöck (Hg.), Fürst Franz. Beiträge zu seiner Lebenswelt in Anhalt – Dessau 1740–1817, Halle (Saale) 2005; Holger Zaunstöck (Hg.), Das Leben des Fürsten. Studien zur Biografie von Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt – Dessau (1740–1817), Halle 2008. 70 Dazu jetzt die Beiträge in dem Katalog Karl Friedrich Schinkel. Geschichte und Poesie der Schinkelausstellung in Berlin und München, München 2012, vor allem der Essay von Werner Hofmann, „Die Baukunst in der Kette des Universums“, ebd., S. 17–25.
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sern vorstellte. Fiktive Perser berichten in Briefen über die Franzosen und ihre Gewohnheiten und Institutionen. Diese Art der Perspektivierung durch Verschränkung von Sehweisen hat dann Diderot in seinen Bemerkungen über den Kunst-Salon von 1767 anhand der dort ausgestellten Gemälde in die Dimension der Zeit übertragen. 71 Jetzt ging es also auch um zeitliche Perspektivierungen. Diderot wurde zu seinen Überlegungen von den Ruinendarstellungen des Malers Hubert Robert angeregt, in denen dieser aktuell bestehende Bauten, in einem Blick auf deren Zukunft, als Ruinen darstellte. Hubert Robert hat zum Beispiel seinen Entwurf für die Umgestaltung der Grande Galerie des Louvre in einen Zusammenhang gestellt mit einer imaginären Ansicht eben dieser Galerie als Ruine, die gleichzeitig ausgestellt wurde. Es handelte sich also um eine auf „zwei Gemälde verteilte Bifokalität“. 72 Das bedeutete einen „Gewinn an sachlicher Inhaltlichkeit“, zugleich aber „relativieren sich die beiden Ansichten gegenseitig: in ihrem Dialog hat keine das letzte Wort“. Die Beispiele solcher gemalter Perspektivierungen aus dem 18. Jahrhundert lassen sich vermehren. 73 „Im Wahrbild der Ruine“, so äußerte dazu der Philosoph Reinhard Brandt, „werden alle gleich, die orientalischen und europäischen, die vorgeschichtlichen und die geschichtlichen, die glänzenden und die geringen, die gegenwärtigen und die antiken Bauwerke, der Stall und der Palast“.
Die „Verschränkung von Vergangenheit, Gegenwart und imaginierter Zukunft“ ist ein Gewinn an Perspektive, aber sie wirkt zugleich relativierend: „Retrospektive und Prospektive hängen vom Standpunkt ab“. Oder anders gesagt: „Jede Moderne ist in der Selbstreflexion immer schon die Antike einer künftigen anderen Moderne“, jede Gegenwart lässt sich in der Zukunft als deren Vergangenheit darstellen. 74 In der Theorie der historischen Erkenntnis wird dann seit 1857 Johann Gustav Droysen in seiner Historik diese Thematik verankern: mit seinen Reflexionen über die Differenz zwischen vergangenen „Gegenwarten“ und gegenwärtigen „Vergangenheiten“, zwischen gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart. 75
71 Dazu und zum Folgenden Reinhard Brandt, Arkadien in Kunst, Philosophie und Dichtung (= Rombach Wissenschaften – Reihe Quellen zur Kunst (XXV)), Freiburg/Berlin, 22006, S. 102ff. 72 Hofmann, Das entzweite Jahrhundert, (vgl. Anm. 67), S. 346ff. Hier auch das folgende Zitat. 73 Hofmann, ebd., und Brandt, Arkadien, S. 104f. 74 Ebd., S. 105ff. 75 Dazu Otto Gerhard Oexle, „Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte“, in: ders. (Hg.), Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit – Gegensatz – Komplementarität? (= Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft (VI)), Göttingen 1998, S. 99–151, hier S. 114ff.; Ries, Johann Gustav Droysens „Historik“, (vgl. Anm. 3).
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3. Und noch ein dritter Hinweis auf die Beiträge der Aufklärung zur Genese des Historismus. Man könnte darüberschreiben: auf der Suche nach neuen Werten – aus der Geschichte. 76 Die Forschung über die Feste der Französischen Revolution hat auf den ‚Horror vacui‘ hingewiesen, der schon von den Revolutionären selbst aufs Eindringlichste empfunden wurde. Die von der Revolution zerstörten Traditionen, die von der Revolution abgeschafften Rituale, so empfand man schon in der Revolution selbst, mussten durch neue ersetzt werden. Demzufolge machte man noch in der Revolution selbst den Versuch, anstelle der zerstörten Traditionen neue zu schaffen und zwar durch historische Erinnerung. Mit historischer Erinnerung sollte anstelle der Religion des Christentums eine neue, eine republikanische Religion geschaffen werden. Auf welche Weise, das demonstriert das Verfassungsfest vom 10. August 1793 ebenso wie das berühmte Fest des Höchsten Wesens 1794, das von Robespierre selbst veranlasst war, das von ihm geleitet und von dem Maler Jacques Louis David künstlerisch gestaltet wurde. Die künstlerische Gestaltung macht deutlich, worum es ging. Durch einen großen Festzug, der sich in Paris am Pfingstsonntag von den Tuilerien zum Marsfeld bewegte, mit Musik und Dichtung und vor allem mit historischen Inszenierungen verschiedenster Art, nämlich mit historisch vermittelten Personifikationen, mit historischen Allegorien und Kostümierungen, sollte eine neue, normative Symbolik geschaffen werden – eine neue, normative Symbolik, die durch eine historisch vermittelte Inszenierung legitimiert war. Die neue Religion der Revolution war also genuin historistisch. Die Revolution erzeugte Historismus, weil sie ihn für die Gegenwart brauchte. IV. Historismus-Kontroversen in Europa Der Historismus der Aufklärung impliziert die Aufforderung, nach Momenten des Historismus in europäischen Ländern während des 19. und 20. Jahrhunderts Ausschau zu halten. In dieser Absicht folgen Hinweise auf Italien, Ungarn, Frankreich und Russland. 77
76 Zum Folgenden bereits Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, (vgl. Anm. 1), S. 43f.; mit Hinweis auf Mona Ozouf, La fête révolutionnaire 1789–1799, Paris 1976, S. 322 ff., und auf Henning Ritter, „Die Religion der Zukunft“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. März 1997. 77 Im Vorübergehen sei auf die Bedeutung der englischen Präraffaeliten für die Geschichte des Historismus hingewiesen; vgl. Anm. 110 und 112.
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1. In Italien gibt es seit Jahrzehnten eine intensive Reflexion über Historismus in philosophischer Sicht. Hier geht es um einen „problematisch-kritischen“ Historismus im Kontext der italienischen philosophischen Kultur des 20. Jahrhunderts (G. Cacciatore), um den Historismus als eine Philosophie, ein theoretisches Modell des 19. und 20. Jahrhunderts (F. Tessitore). 78 2. Im Blick auf Ungarn hat Reinhard Laube gezeigt, wie nach dem österreichischungarischen Ausgleich von 1867 und nach dem Zusammenschluss der Städte Buda und Pest zur Hauptstadt Budapest im Jahre 1873 die neue Metropole einen Aufschwung erlebte, der von zahlreichen ‚historistischen‘ Bauprojekten begleitet wurde: „Hierzu zählten das Ringstrassensystem mit seinen Radialstrassen, der Süd-, West- und Ostbahnhof, die imposante Szent Istvań–(Stephans–)Basilika des Erzbischofs von Esztergom
78 Zur Orientierung: Fulvio Tessitore, Kritischer Historismus. Gesammelte Aufsätze (= Collegium Hermeneuticum (XI)), Köln/Weimar/Wien 2005, darin besonders die Abhandlung „Die Historismusfrage, heute“, S. 68–131; Giuseppe Cacciatore, „Die Tradition des problematisch-kritischen Historismus im Rahmen der italienischen philosophischen Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, in: Oexle/Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, (vgl. Anm. 3), S. 331–339; Giuseppe Cacciatore/Giuseppe Cantillo/Giuseppe Lissa (Hg.), Lo storicismo e la sua storia. Temi, problemi, prospettive, Milano 1997; Giuseppe Cacciatore/Antonello Giugliano (Hg.), Storicismo e Storicismi, Milano 2007. Grundlegend: Fulvio Tessitore, Contributi alla storia e alla teoria dello storicismo, 5 Bde. (Storia e Letteratura 190/191, 197, 201, 204), Roma 1995/2000; ders., Nuovi contributi alla storia e alla teoria dello storicismo (= Storia e Letteratura (CCXI)), Roma 2002; Altri contribute, ebd. 233, Roma 2007; außerdem die Beiträge in dem von Fulvio Tessitore herausgegebenen Archivio di Storia della Cultura’ zuletzt Band 25, 2012; und dazu Fulvio Tessitore, Per una critica di me stesso. I vent’ anni dell’Archivio di storia della cultura, Roma 2008. Sodann Giuseppe Cacciatore, Storicismo problematico e metodo critico, Napoli 1993; Fulvio Tessitore, Interpretazione dello storicismo, Pisa 2006. Über Benedetto Croce: Giuseppe Cacciatore/Girolamo Cotroneo/Renata Viti Cavaliere (Hg.), Croce filosofo, 2 Bde., Soveria Mannelli 2003; Domenico Conte, Weltgeschichte und Pathologie des Geistes. Benedetto Croce zwischen Historischem Denken und Krise der Moderne, Berlin 2007. Zur Auseinandersetzung mit der deutschen Tradition der Historismusreflexion auch Domenico Conte, Storicismo e storia universale. Linee di un’interpretazione, Napoli 2000; Silvia Caianiello, Scienza e tempo alle origini dello storicismo tedesco, Napoli 2005; Fulvio Tessitore, “Ermeneutica contro Historismus”, in: Archivio di storia della cultura 25, 2012, S. 105–152 (über H. G. Gadamer).
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Otto Gerhard Oexle mitsamt ihrem Pendant, der größten Synagoge Europas an der Dohány Strasse, die Ausgestaltung des Burgbereichs und die Erbauung des Parlaments“. 79
Vor allem das im Zusammenhang der Jahrtausendfeier der ungarischen Staatsgründung von 1896 errichtete „Millenniumsdenkmal“ auf dem Budapester Heldenplatz wurde zu einem Knotenpunkt, zu einem ‚Bild gedeuteter Geschichte‘, in dem verschiedene, ja heterogene Momente des kulturellen Gedächtnisses der Ungarn zusammengeführt werden sollten. Nachdem mit historischen Argumenten zunächst das Jahr 895 und aus organisatorischen Gründen dann 896 als chronologischer Bezugspunkt festgesetzt wurde, wurde „um eine angemessene Gestaltung der Millenniumsfeierlichkeiten auf höchster politischer Ebene“ gestritten. Der Stammesfürst Árpád und der heilige König Stephan sollten in einem Denkmal die gesamte historische Vergangenheit Ungarns repräsentieren. „Dabei gruppierten sich die unterschiedlichen Positionen (…) um einen national-antihabsburgischen und einen staatstragend-habsburgischen Pol“, verdichteten sich konträre Elemente der ungarischen Geschichte und der nationalen Selbstthematisierung in einer doppelten Bedeutungszuweisung: Stephan repräsentierte den „Westen“, er repräsentierte „Katholizismus, Universalismus, Königtum, Multinationalität, Reichsgedanken, Heiligkeit und Legislatur“. Demgegenüber wurden mit Árpád „Vorstellungen von Osten, Paganismus, nationaler Unabhängigkeit, Einsprachigkeit, landnehmendem Waffenrecht und durch den ‚Willen der Nation‘ legitimierter Adelsherrschaft verknüpft“. 80
Auf diese Weise wurde die Memoria des ungarischen Staates zur Anschauung gebracht, in einem Versuch historischer Rückversicherung, die man mit Reinhard Laube als „identifikatorischen Historismus“ bezeichnen kann. Bald darauf fand sich im Haus des Schriftstellers Béla Balázs eine Gruppe von Budapester Intellektuellen zusammen, unter ihnen Georg Lukács und Karl Mannheim. 81 Kurz vor dem Epochenjahr 1918 wurden hier gerade jene Probleme diskutiert, „die ein identifikatorischer Historismus in seinem Versuch historischer Rückversicherung ausblenden musste: die Unhintergehbarkeit moderner Multiperspektivität, die Unerfassbarkeit einer wirklichen Wirklichkeit und die Unverfügbarkeit von, aber Sehnsucht nach Einheit“.
Aus der „historischen Identifikation“ wurde hier, im Budapester Sonntagskreis, eine historische Reflexion, die „die Historizität des Beobachters mit einbezieht“. 82 Die wohl bekanntesten Mitglieder dieses Kreises waren Georg Lukács und sein intellektueller wie politischer Antipode, der junge Karl Mannheim. Mit seiner 79 Reinhard Laube, „Ein Bild – zwei Geschichten. Der Budapester Heldenplatz – Árpád und der Heilige Stephan“, in: Oexle/Petnieki/Zygner (Hg.), Bilder gedeuteter Geschichte, (II), (vgl. Anm. 65), S. 449–508. Die Zitate hier S. 455. 80 Ebd., S. 458f. 81 Reinhard Laube, „Zwischen Budapester und Berliner Historismus. Eine Pathologie der ‚Krise des Historismus‘ aus der Sicht eines ungarischen Emigranten“, in: Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit, (vgl. Anm. 1), S. 207–246. 82 Ebd., S. 211. Zum Ganzen Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus, (vgl. Anm. 1).
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Emigration nach Deutschland 1919 hat Mannheim seine Impulse zu den Debatten über Historismus in die deutschen Historismus-Reflexionen eingebracht. In die Topographie europäischer Historismus-Debatten in der Moderne gehören die Kontroversen, die – wiederum in jeweils spezifischer Weise – in Frankreich und in Russland stattfanden. Ihr Ort ist die Literatur. 3. Bei dem Roman Notre-Dame de Paris, den Victor Hugo im März 1831 und dann, um einige zentrale Kapitel erweitert, in zweiter Auflage im August 1832 veröffentlichte, handelt es sich um ein „hochartifizielles“ Werk (B. Potthast), um einen Mittelalterroman (die Handlung spielt im Jahr 1482) mit einigen Reflexionen über Geschichte, die im dritten und im fünften Buch hinzugefügt wurden. Der Roman wurde im Zeichen der Julirevolution von 1830 verfasst, deren Augenzeuge der Verfasser war. Für die Historismus-Reflexion in Europa ist dieses Buch grundlegend. Darauf hat Barbara Potthast aufmerksam gemacht. 83 Im Zentrum der Handlung und der Reflexionen steht die Kathedrale, deren „majestätischer“ und „erhabener“ Bau eine „ungeheure steinerne Symphonie“ ist, eine „menschliche Schöpfung, die reich und machtvoll ist wie die göttliche Schöpfung selbst, von der sie das Doppelantlitz ‚Vielheit und Einheit‘ entlehnt zu haben scheint“. Was von dieser Kirche gesagt werden könne, gelte zugleich „für alle christlichen Kirchen des Mittelalters“. Sie ist ein „Werk der Jahrhunderte“, eine „soziale Schöpfung“, „eine Art Naturerzeugnis“: der „menschliche Geist in seiner Gesamtheit“ präge sich darin aus; „die Zeit ist der Baumeister, das Volk ist der Maurer“. Die „größte Schönheit“ des Baus aber sei „der Anblick von Paris, der sich damals von der Höhe ihrer Türme dem Auge darbot“, ein „Labyrinth, wo alles ursprünglich, vernünftig, schön und durchgeistigt war“, „ein künstlerisches und geschichtliches Erzeugnis des Mittelalters, eine steinerne Chronik“. Nur zwei Stile hätten damals die Stadt beherrscht, der Romanische und der Gotische. Das „Paris des fünfzehnten Jahrhunderts“ war die Idealgestalt der Stadt. Die Renaissance habe fünfzig Jahre danach noch die „blendende Pracht ihrer Erfindungen, das ausschweifende Gemisch ihrer römischen, griechischen und gotischen Elemente“ hinzugefügt, wodurch Paris „vielleicht noch schöner, wenn auch weniger harmonisch für Auge und Geist“ geworden sei. Doch diese Schönheit „war nur von kurzer Dauer“. Seit der Renaissance sei die Stadt von Tag zu Tag hässlicher geworden (“la grande ville a été se déformant de jour en jour”). Das Paris von 1830 habe keine Gestalt mehr (“aucune physionomie générale”) es sei nichts als eine hässliche Mustersammlung aus mehreren Jahrhunderten (“une collection d’échantillons de plusieurs siècles”), von denen die schönsten Exemplare ver83 Potthast, Die Ganzheit der Geschichte, (vgl. Anm. 19), S. 118ff., das Zitat ebd. S. 158. Der Text wird im Folgenden nach der Übersetzung von Else von Schorn (1914) zitiert: Victor Hugo, Der Glöckner von Notre-Dame, Berlin 2010, S. 149ff.
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schwunden seien. 84 Höhnisch lässt Hugo die berühmten Bauwerke des neuzeitlichen Paris in ihrer vermeintlichen Pracht und wirklichen Armseligkeit Revue passieren. Er endet mit der Pariser Börse von 1830, die wie in griechischer Tempel aussieht und Stilmuster aller vergangenen Jahrhunderte in völliger Beliebigkeit aufweist. Hugo kritisiert die „zentralen Merkmale der historistischen Ästhetik des neunzehnten Jahrhunderts: Stilsynkretismus, Trennung von Funktion und Form, Beliebigkeit der Gestalt, Widerspruch von archaischer Attitüde und moderner Technik. Der Historismus des neunzehnten Jahrhunderts wird als Folgephänomen der Renaissance aufgefasst, die erstmals durch Rückbesinnung auf die Antike in den natürlichen Verlauf der Stilentwicklung eingegriffen“ habe. Seiner Analyse und Kritik des Historismus gibt Victor Hugo im zweiten Kapitel des fünften Buches (“Ceci tuera cela”, „Dieses wird jenes töten“) eine geschichtsphilosophische Begründung: „Das Buch wird das Gebäude töten“; „die Buchdruckerpresse wird die Kirche töten“; „die Buchdruckerkunst wird die Baukunst töten“. Gemeint ist: dass „seit Anbeginn der Dinge bis zum 15. Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung“ die „Baukunst in Wahrheit das große Buch der Menschheit (war), das Hauptausdrucksmittel ihrer Kraft und ihres Geistes in den verschiedensten Entwicklungsstadien“. So waren „die Bauwerke in den ersten sechstausend Jahren der Geschichte, vom allerältesten indischen Götzentempel an bis hinauf zum Kölner Dom, die großen Schriftzüge der Menschheit, und das in des Wortes vollster Bedeutung; denn nicht nur die religiösen Symbole sind darin ausgedrückt, sondern jeder menschliche Gedanke hat in diesem Riesenbuch seine Seite und sein Denkmal“.
Und so war „bis Gutenberg die Baukunst die allgemeine Schrift, die Weltschrift“. Dann aber wurde „die Baukunst (…) vom Throne gestoßen. Die steinernen Buchstaben des Orpheus wurden von den bleiernen Buchstaben des Gutenberg verdrängt“. „Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereignis der Geschichte, die Mutter aller Revolutionen“. Sie führte den Triumph des Historismus mit sich; denn von jetzt an habe „die Baukunst bei Griechen und Römern geborgt“; „sie wurde eine unechte klassische Kunst“. Dieser „Verfall wird Renaissance genannt“, so erläutert Victor Hugo weiter: „Es ist ein glanzvoller Verfall“, aber mit dem Triumph Gutenbergs sprengte das 16. Jahrhundert die kirchliche Einheit. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst wäre die Reformation eine vorübergehende Spaltung geblieben; „das gedruckte Wort machte sie zur Revolution. Gutenberg war der Vorläufer Luthers“. Als aber das „Genie der Gotik“ für ewig am Horizont der Kunst erlosch, wurde die Baukunst „immer matter und farbloser“. Das gedruckte Buch „wurde zum zerstörenden Wurm, der sie aussaugte und verzehrte“. „Sankt Peter zu Rom, ein großes Werk“, war die „letzte ursprüngliche Tat der Baukunst“, die jetzt mehr und mehr zum „Zeugen zunehmender Verarmung“ wurde. Überall seit dem 16. Jahrhundert gebe es nur noch „Zeichen des Verfalls und der Schwindsucht“, und deshalb wird „das große Menschheitsepos (…) nicht mehr in Steinen, sondern in Worten geschrieben werden“. 84 Der Text hier zitiert nach Potthast, S. 126, mit dem folgenden Zitat.
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Es bedarf kaum eines Hinweises darauf, dass in Victor Hugos KathedralenRoman und zumal in den zitierten Äußerungen ein ‚romantisches‘ Mittelalter beschworen wird und die ‚romantische‘ Klage über den Verlust des Mittelalters zum Ausdruck kommt. Aber das ist nicht alles. Hugo schreibt seinen historischen Roman mit den Mitteln, die der Historismus zur Verfügung stellt, und er analysiert eben dabei diesen Historismus und seine ‚Probleme‘. Es geht um „Totalität und Vitalität der Geschichte“. 85 Das Thema wird ambivalent erörtert. Die Julirevolution von 1830 und die Revolution von 1789 werden historisch „überblendet“. Die Revolution vernichtet die Tradition, aber das ‚Revolutionäre‘ ist selbst eine ‚Tradition‘. Der Schlüsselsatz des Buches – „Ceci tuera cela“ – bezieht sich auf die Fortsetzung der Baukunst durch den Buchdruck. Das ist der Tod einer Tradition und läßt zugleich eine neue Tradition beginnen. Die kommende Revolution wird von der Literatur ausgehen. Die Gleichwertigkeit aller historischen Stile wird dargestellt und zugleich beklagt. „Das Töten des Alten durch das Neue“ kann die Verwandlung des Alten in etwas Neues bedeuten, aber auch das „endgültige Sterben des Alten“. Hugos „Revolutionsroman“ ist also zugleich ein „Resignationsroman“ (B. Potthast) und umgekehrt. Der „Widerspruch zwischen Verändern und Erhalten“ wird aber nicht aufgelöst oder entschieden, „sondern auf kunstvolle, Bild und Text verbindende Weise synthetisiert“. Hugo beschwört die „historischen Zentralbilder“ der Kathedrale und der (mittelalterlichen) Stadt und folgt dabei der „historistischen Ästhetik seiner Zeit“ mit ihren „Prinzipien der Synthetisierung, des Synkretismus, des holistischallegorischen Anspruchs und der Beliebigkeit des historischen Elements“. Sein Programm ist das eines „ästhetischen Historismus“: Schönheit kann „nur durch Historizität entstehen“. Hugo beklagt das Ende einer ursprünglichen Epoche der „Harmonie von Vergangenheit und Gegenwart“, er beklagt den Verlust der „Lebendigkeit, Ganzheit und Ewigkeit der Tradition“, gleichzeitig aber stellt er die „Erfahrung der Dissoziation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nach der Französischen Revolution“ fest. Die Geschichte wird im Bild der Kathedrale beschworen: Notre-Dame ist ein betörendes Sinnbild der Zeitlosigkeit und zugleich ein „Sinnbild ständiger Veränderung“. Dies sind Erfahrungen von ‚Geschichte‘, die, etwa zur selben Zeit, mit denen der Tübinger Theologen vergleichbar sind, diese aber an Komplexität übertreffen. In Frankreich bleibt der Historismus ein Thema und ein Gestaltungsmittel der Literatur. Gustave Flaubert wird seinen historischen Roman Salammbô 1862 mit den Mitteln des historischen Romans schreiben. Ihm liegt eine generelle, pessimistische Konzeption der Geschichte zugrunde. 86 Den Historismus aber wird Flaubert in dem 1874 begonnenen, unvollendeten Roman Bouvard et Pécuchet der Lächerlichkeit preisgeben. Erzählt doch diese Satire vom Leben zweier Biedermänner und Sonderlinge, die in dilettantischer Fröhlichkeit dem Geschmack ihrer Zeit folgend, archäologisches und historisches Wissen mitsamt den histori85 Zum folgenden Potthast, Die Ganzheit der Geschichte, S. 156 ff. und 159 ff. 86 Potthast, Die Ganzheit der Geschichte, S. 167ff.
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schen und archäologischen Artefakten und den Relikten der Geschichte sammeln: Es erwachte in ihnen „der Sinn für Nippes und die Liebe zum Mittelalter“, – bis ihr Haus einem Museum glich und ihnen schließlich buchstäblich die Luft zum Atmen fehlte. 87 Flauberts Roman von 1874 bietet die vollendete Metapher für das, was Nietzsche im selben Jahr über die „Krankheit des modernen Menschen“ in philosophischer Reflexion vorgebracht hat. 4. Ein Beispiel für Historismus und Historismus-Debatten von besonderer Eindringlichkeit bietet Russland. Die Reflexion über Historismus beginnt auch hier, wie in Deutschland und in Frankreich, in den 1830er Jahren. Das ist nicht überraschend. Denn in den 1830er Jahren beginnt in Russland, nach den Erfahrungen der napoleonischen Besatzung, die Zeit der russischen „Selbstfindung“, der Suche nach einer „russischen Identität zwischen West und Ost“. 88 Man kann sich diesem Streit über die Frage nach ‚Erinnerungsorten‘ nähern. Russische Erinnerungsorte besonderer Art sind nämlich St. Petersburg und Moskau. 89 Und eben darum geht es. Auslöser der Kontroverse ist St. Petersburg, eine Stadt, deren Kern in Bauten historischer Stile erbaut wurde. Der Streit beginnt mit Alexander Puschkins Gedicht Der eherne Reiter von 1833: Sankt Petersburg – das ist das „Fenster nach Europa“, die „prachtvoll-stolze Stadt“, die als „Peters Schöpfung“ aus „schwankem Sumpf“ entstanden ist, die „jüngere Hauptstadt“, vor der „die alte – Moskau – und ihr Ruhm verbleicht“. 90 Im Gegensatz dazu äußerte Nikolaj Gogol kurz danach, 1835, in seiner Novelle über den Newskijprospekt – die Hauptstrassenachse Sankt Petersburgs – und seine
87 Gustave Flaubert, “Bouvard et Pécuchet”, in: ders., Œuvres. Texte établi et annoté par Albert Thibaudet et René Dumesnil, (II), Paris 1952, S. 711ff. Das Zitat S. 799. 88 Dazu Manfred Hildermeier, Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution, München 2013, S. 850ff. 89 Otto Gerhard Oexle, „‚Erinnerungsorte‘ – eine historische Fragestellung und was sie uns sehen lässt“, in: Thomas Schilp/Barbara Welzel (Hg.), Mittelalter und Industrialisierung. St. Urbanus in Huckarde (= Dortmunder Mittelalterforschungen (XII)), Bielefeld 2009, S. 17– 37, hier S. 24ff. Ein Markstein der Reflexion ist das noch nach der Revolution entstandene Buch des Historikers Nikolai Anziferow (1922), mit dem Titel Die Seele Petersburgs; deutsche Übersetzung: Nikolai P. Anziferow, Die Seele Petersburgs, München/Wien 2003, mit einem Vorwort von Karl Schlögel, Die Seele Petersburgs von Nikolai P. Anziferow. Ein legendäres Buch und sein unbekannter Autor, hier S. 7–46. Weiteres Material zum Thema bietet Wolfgang Lange (Hg.), Petersburger Träume. Ein literarisches Lesebuch, München 1992. Darin auch der 1990 geschriebene Essay von Boris Groys, „Petersburg/Petrograd/Leningrad. Eine Stadt und ihre Namen“, S. 291–302. 90 Puschkin, Der eherne Reiter. Petersburger Erzählungen. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Rolf-Dietrich Keil, Frankfurt a. M./Leipzig 2003, S. 101ff.; zum literarischen Kontext Reinhard Lauer, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 204f.
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Bauten ein hartes, ja vernichtendes Urteil: „Er lügt zu jeder Zeit, dieser Newskijprospekt“. 91 Damit waren die dissonanten Grundakkorde angeschlagen: Sankt Petersburg ist die „Hauptstadt des russischen Ruhms“, ist mit seinen ‚historistischen‘ Bauten für die einen das Symbol der Aufklärung und Europäisierung, und ist eben deshalb auch – für andere – das Symbol der „permanenten kulturellen Versklavung und psychologischen Erniedrigung der Russen“, der „Selbstkolonialisierung“ der Russen, auf Sümpfen erbaut, ständig von Überschwemmungen bedroht, eine unrussische Kulisse, von historischen Architekturzitaten des Westens lebend, ein „spezifisch außerhistorischer, irrealer, illusionärer Raum“ 92 – und ist zugleich doch auch immer wieder der Ausgangspunkt einer nicht abreißenden Kette brillantester Zeugnisse der russischen Literatur. 93 Zu der „glanzvollen, zwischen Rationalität und Phantastik ständig changierenden Künstlichkeit Petersburgs“ steht in „denkbar schärfstem Kontrast“: die Beständigkeit, die „bergende und nährende ‚Mütterlichkeit‘ Moskaus“, der „heiligen Stadt“. 94 Eben das ist der Stimulus des nicht abreißenden „Petersburg-Mythos“, der „Petersburg-Metaphysik“, der „Mythenmaschine Petersburg“ 95, die unaufhörlich auf ihren Gegenpol, den anderen russischen Gedächtnisort, eben Moskau verweist. Sankt Petersburg, das „Vierte Rom“ (und dass es eben dies sein sollte, zeigt der Name: Sankt Petersburg), verweist unaufhörlich auf seinen Gegenpol, das „Dritte Rom“, Moskau. 96 Daraus entsteht der im 19. und 20. Jahrhundert nicht abreißende Diskurs über die exemplarischen Gegensätze, in denen es immer darum geht, was denn nun das eigentlich Russische ist: die Gegensätze von „Natur und Kultur, Eigen und Fremd, Mitte und Rand, Ost und West, Volk und Staat, Sein und Schein“, und 91 Nikolaj Gogol, Petersburger Novellen, München 52006, S. 7ff.; das Zitat S. 53. Vgl. S. 52: „Oh, traut diesem Newskijprospekt nicht! Ich hülle mich stets fester in meinen Mantel, wenn ich über ihn gehe, und bemühe mich, den Gegenständen, die mir da unterkommen, überhaupt keine Beachtung zu schenken. Alles Trug, alles Traum, alles nicht das, was es scheint!“ Zum literarischen Kontext Lauer, Geschichte der russischen Literatur, (vgl. Anm. 90), S. 232f. 92 Groys, Petersburg, (vgl. Anm. 89), S. 293. 93 Über die Petersburg-Romane von Andrej Belyj (Petersburg, mehrere Fassungen, Anfang des 20. Jahrhunderts) und von Andrej Bitov (Das Puşkinhaus, 1964/71 entstanden) die Beiträge von Oleg Kling und von Andrea Meyer-Fraatz, in: Bodo Zelinsky (Hg.), Der russische Roman, Köln 2007, S. 319ff. und 459ff. 94 Vgl. den Artikel „Moskau ist Don Quijote, Petersburg der Hamlet“ von Felix Philipp Ingold, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. Juli 2003, Nr. 167, und ders., Russische Wege. Geschichte – Kultur – Weltbild, München 2007, S. 245ff. und 413ff. mit S. 504f. und 526ff. Das Zitat hier S. 417. Vgl. Alexander Shevyrev, “St. Petersburg and Moscow: Two Capitals, two Images of Power”, in: Otto Gerhard Oexle/Michail A. Bojcov (Hg.), Bilder der Macht in Mittelalter und Neuzeit. Byzanz – Okzident – Rußland (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte (CCXXVI)), Göttingen 2007, S. 583–611; Anna Pavlova, „Die Nationalidee in der Architektur der russischen Kathedralen und Münster des 19. Jahrhunderts“, ebd., S. 613–629. 95 So Karl Schlögel, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne 1909–1921, München/Wien 2002, S. 638. 96 Dazu noch immer Hildegard Schaeder, Moskau, das Dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, Darmstadt 21957.
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all der Fülle von Gegensätzen wie „weiblich/männlich, synthetisch/analytisch, geschichtsträchtig/geschichtslos, bunt/grau, Herz/Kopf“. 97 Die Dichtomie ‚Petersburg – Moskau‘ ist für die russische Kultur „grundlegend und unhintergehbar“. 98 Denn der Petersburg-Diskurs ist „die Façon de parler für die Verhandlung von Grundfragen russischer Existenz“. 99 Moskau ist, so der Moskauer Boris Pasternak in den letzten Sätzen seines Doktor Schiwago, die „heilige Stadt“ – und die eigentliche „Heldin“ des langen „Roman-Epos“, das er verfasst hat. 100 Sankt Petersburg aber, so hat es der in Sankt Petersburg geborene Vladimir Nabokov ausgesprochen, ist „die unheimlichste und rätselhafteste Stadt der Welt“. 101 Im Rahmen dieses Diskurses geht es um nichts weniger als um die Bestimmung dessen, was russisch ist, in diesem Diskurs artikuliert sich der Gegensatz von „Westlern“ und „Slawophilen“, werden die Auseinandersetzungen über die zentralen Fragen der Moderne geführt, und deshalb auch über die zentrale Frage des Historismus. Der Petersburger Stilpluralismus sei gesichts- und geschichtslos, so Dostojewskij in seiner Petersburger Chronik von 1847; die griechischrömische, byzantinische, holländische, gotische und die russische Architektur – all das sei „auf das Seltsamste zusammengewürfelt“. 102 Joseph Brodsky, der 1940 in Leningrad geboren und 1972 ausgebürgert wurde und in die USA emigrierte, der 1987 den Nobelpreis für Literatur erhielt (gest. 1996), notierte ironisch (sein Vater war Marineoffizier, bevor er als Jude aus der sowjetischen Marine ausgestoßen wurde): die „Geschichte der Marine, abgesehen von der Literatur der letzten zwei Jahrhunderte und vielleicht der Architektur der ehemaligen Hauptstadt, (sei) das einzige (…), worauf Russland stolz sein“
könne. 103 In seinem Essay Weniger als man (Less Than One) erinnert er sich an früheste Eindrücke: „Ich erinnere mich, wie ich auf meinem Schulweg an diesen Fassaden entlangging, (…). Ich muss sagen, dass ich von diesen Fassaden und Portikus – klassisch, modern, eklektizistisch, mit ihren Säulen, Pilastern und Stuckköpfen mythischen Getiers oder Personals –, von ihren Ornamenten und balkontragenden Karyatiden, von den Torsos in den Eingangsnischen mehr über die Geschichte unserer Welt gelernt habe als später aus irgendeinem Buch. Griechen-
97 Ingold, Russische Wege, (vgl. Anm. 94), S. 420. 98 Erika Greber, „Pasternaks unsystematische Kunst des Gedächtnisses“, in: Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.), Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik, Frankfurt a. M. 1991, S. 295–327 und S. 312. 99 So Karl Schlögel in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung des Buches von Anziferow, (vgl. Anm. 89), S. 22. 100 Boris Pasternak, Doktor Schiwago, Epilog, Kap. V. 101 Vladimir Nabokov, Erinnerung, sprich. Wiedersehen mit einer Autobiographie (= Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke (XXII)), Reinbek 1991, S. 319. 102 Zitiert bei Ingold, (vgl. Anm. 94). 103 Joseph Brodsky, Erinnerungen an Petersburg, München u. a. 2003, S. 94. Das folgende Zitat ebd., S. 9ff.
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land, Rom, Ägypten – alles war hier vertreten, und alles war während der Bombenangriffe (während der deutschen Okkupation seit 1941) von den Artilleriegeschossen angeschlagen worden.“ „Der bis heute fortgeführte interurbane Dialog zwischen Moskau und Petersburg ist nichts anderes als eine Kreuzung von zwei monologischen Diskursen, die eher auf Selbstbehauptung und Abgrenzung denn auf Übereinkunft oder Versöhnung angelegt sind. Durch diese kontroverse innere Zwiesprache ist Russland unausweichlich mit sich selbst ins Gespräch gekommen und hat daraus immer wieder neue Erkenntnisse gewonnen“. 104
V. Macht und Grenzen des Historismus Abschließend einige Bemerkungen als Zusammenfassung und Ausblick. 1. Der Historismus gehört zu den Grundkräften der Moderne. Historismus bedeutet, um noch einmal an die Formulierung von Ernst Troeltsch anzuknüpfen, die „Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt“. Das impliziert Chancen und Zumutungen, es bedeutet die Macht und zugleich die Grenzen des Historismus. Denn der Historismus „führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu“, aber er relativiert zugleich „alle ewigen Wahrheiten“ (E. Troeltsch), und darin liegt stets auch eine Grenze. 2. Dieser Historismus ist ein Erbe der Aufklärung. Die der Aufklärung des 18. Jahrhunderts eigenen Perspektivierungen und Historisierungen bahnen den Weg zum Historismus der Moderne. Die Reflexion darüber beginnt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, – und zwar nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern.
104 Ingold, Russische Wege, (vgl. Anm. 94), S. 420. – In dem Überblick über die russische Geschichtsscheibung des 19. und 20. Jahrhunderts von Zenonas Norkus, „Historismus und Historik in Russland (1865–1933)“, in: Oexle/Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, (vgl. Anm. 3), S. 369–386, ist von alledem nicht die Rede. Andere Eindrücke vermittelt das Œuvre von Boris Pasternak mit seinen Reflexionen über das kulturelle Gedächtnis und die Geschichte als ein „zweites Universum, das der Mensch mit Hilfe der Phänomene der Zeit und des Gedächtnisses als Antwort auf die Realität des Todes geschaffen hat“ (vgl. Oexle, „Erinnerungsorte“, vgl. Anm. 89, S. 29f.). Darüber auch die bedeutende Erinnerungsarbeit des Petersburger Mittelalterhistorikers Iwan Michajlowitsch Grews und seiner Schüler (unter ihnen Nikolai Anziferow) – um 1920 –, also noch nach der Revolution; dazu bes. der Beitrag von Schlögel, (vgl. Anm. 89); vgl. Oexle, (vgl. Anm. 89), S. 26f.
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3. Der Durchbruch der Reflexion über Historismus als Reflexion über seine Macht und seine Grenzen wird in den dreißiger und vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts sichtbar. In Deutschland ist dies ein Thema der jungen Tübinger Theologen. In Frankreich ist Victor Hugo mit Notre-Dame de Paris von 1831/32 ein Markstein, in dem über den Historismus und seine „Probleme“ (E. Troeltsch) reflektiert wird. In Rußland beginnen zu eben diesem Zeitpunkt die Kontroversen im Rahmen der „Selbstfindung“ Rußlands durch russische Intellektuelle und Schriftsteller, in deren Kern, wie wir gesehen haben, das Historismus-Problem steckt. Für Frankreich könnte man weitere Momente und Aufbrüche früher Historismus-Debatten anführen. Mme. de Staël hat in ihrem epochalen Werk De l’Allemagne (1814) die Franzosen am Beispiel Deutschlands aufmerksam gemacht auf die Bifokalität der Reflexion über die Vergangenheit. Sie spricht vom Klassizismus und zugleich von „der Wahrheit des Mittelalters“, die „die neue Schule“ der Kunst entdeckt habe, indem sie „das Christentum ganz laut für die Quelle des Genies der Modernen“ erklärte, – woraus freilich nicht folge, „dass die Modernen nur gotische Kirchen bauen können und dürfen“; denn „weder Kunst noch Natur wiederholen sich“. Es gehe lediglich darum, „die Verachtung zu beseitigen, die man auf alle Schöpfungen des Mittelalters hat werfen wollen“. Denn „nichts (schade) der Entwicklung des Genies mehr, als alles Originelle als barbarisch zu betrachten“. 105 An dem beginnenden Diskurs über Historismus hat in spezifischer Weise auch der junge Alexis de Tocqueville Anteil. 106 Als er im Mai 1831 anlässlich seiner ersten Reise in die Vereinigten Staaten in New York den East River befuhr, sah er am Ufer kleine Villen im Stil griechischer Tempel. Als er der Sache nachging, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass der weiße Marmor aus weiß getünchten Backsteinen bestand und dass die Säulen dieser Tempel aus Holz gezimmert waren. Welch eine Täuschung! Tocqueville hat sein Erlebnis im Sinne seiner Theorie demokratischer Gesellschaften gedeutet. 4. Von den ersten Historismus-Kontroversen des frühen 19. Jahrhunderts sind bedeutende Wirkungen ausgegangen, wie sich auf dem Feld der Architekturgeschichte feststellen lässt. Der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright schrieb noch in seinem „Testament“ von 1957 über Victor Hugos Notre-Dame de Paris, dieses Buch sei der „erhellendste Essay über Architektur, der jemals geschrieben wurde“; Victor Hugo sei “the greatest modern of his time” gewesen; er
105 Anne Germaine de Staël, Über Deutschland. Vollständige und neu durchgesehene Fassung der deutschen Erstausgabe von 1814. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Monika Bosse, Frankfurt a. M. 1985, S. 481ff. 106 Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique, (II), Paris 1961, S. 77.
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habe sein Buch mit vierzehn Jahren erstmals gelesen, und die Überlegungen des Franzosen hätten ihn tief geprägt und sein ganzes Leben als Architekt bestimmt: “His story of the tragic decline of the great mother-art never left my mind”. 107 Auch andere bedeutende Architekten der Moderne des 20. Jahrhunderts lassen sich hier nennen, zum Beispiel – in Berlin – Alfred Messel (mit dem Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz) und Ludwig Mies van der Rohe, dessen gesamtes Œuvre von einer tief erlebten Auseinandersetzung mit der Baukunst des Mittelalters getragen ist. 108 Der Architekt Peter Behrens hat in einem seiner frühen Werke, dem Krematorium in Hagen von 1907, eine Inkunabel der Moderne geschaffen, die aus der Erinnerung an die Florentiner Romanik des 11. und 12. Jahrhunderts konzipiert war. 109 5. Eine signifikante Rolle in den Auseinandersetzungen und Debatten über Historismus im 19. Jahrhundert spielt der bedeutendste Beitrag Englands zur Kunst des Jahrhunderts: es ist die Kunst der sogenannten „Präraffaeliten“. 110 Künstler und Kunstkritiker gründeten 1848 die präraffaelitische „Bruderschaft“, die allein schon mit ihrem Namen an jene Bruderschaft erinnert, die im Sommer 1809 von einigen deutschen Malern, den ‚Nazarenern‘ in Rom gegründet worden war. Und wie die ‚Nazarener‘, so hatten auch die ‚Präraffaeliten‘ sich die mittelalterliche Dombauhütte als Vorbild gewählt, – ein Motiv künstlerischer Programmatik und Selbstorganisation, das noch in der Gründung des deutschen ‚Bauhauses‘ von 1919 wirksam war. 111 Intellektuelle scharten sich alsbald um die Maler. Zu ihnen gehörte A. W. N. Pugin, der wichtigste Urheber und Vordenker des ‘Gothic Revival’ in England, sowohl was die Buchkunst wie auch das Alltagsdesign und die Architektur betrifft; der Schriftsteller John Ruskin, der seinerseits die Gotik propagierte, aber auch als Ästhetiker und Sozialreformer wirkte; und schließlich der Künstler, Schriftsteller, Designer und Unternehmer William Morris, der im politi107 Bruce Brooks Pfeiffer (Hg.), The Essential Frank Lloyd Wright. Critical Writings on Architecture, Princeton/Oxford 2008, S. 367. 108 Dazu Otto Gerhard Oexle, Die Gegenwart des Mittelalters (= Das mittelalterliche Jahrtausend 1. Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften hg. von Michael Borgolte), Berlin 2013, S. 29ff. 109 Darüber Otto Gerhard Oexle, „Das Krematorium als Monument der Moderne und die lange Geschichte der Toten“, in: Barbara Welzel (Hg.), „Eines der wichtigsten Monumente unserer Zeit überhaupt“. Das Krematorium von Peter Behrens in Hagen (= Dortmunder MittelalterForschungen), Bielefeld 2014. Zum Werk von Peter Behrens zuletzt Thomas Föhl/Claus Pese (Hg.), Peter Behrens. Vom Jugendstil zum Industriedesign, Weimar 2013; das Hagener Krematorium wird hier aber kaum erwähnt. 110 Aus der unübersehbaren Literatur sei hier nur genannt Elizabeth Prettejohn, The Art of the Pre-Raphaelites, London 2007. 111 Magdalena Bushart, Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst. Kunstgeschichte und Kunsttheorie 1911–1925, München 1990, S. 183 ff.
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schen Lager der Sozialisten umfangreiche Aktivitäten entfaltete, die zur ‘Arts and crafts’-Bewegung und zum sogenannten ‚Gildensozialismus‘ führten. Dies alles hatte mit einer Mittelalter-Nostalgie (wie immer noch unterstellt wird) nichts zu tun. Der ‚Mediävalismus‘ der Präraffaeliten, der von ihnen betriebene “revival of the Gothic spirit” steht im Dienst der Gestaltung der Moderne, 112 was gerade von führenden Architekten der Moderne wie Henry van de Velde immer wieder in Erinnerung gerufen wurde. 113 6. Es bleibt die Last der relativierenden Wirkung des Historismus. Sie ist die Kehrseite dessen, dass der Historismus „jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zuführt“ (E. Troeltsch). Mit solchen Relativierungen sind die Historiker zuweilen selbst konfrontiert, zum Beispiel, wenn die historische Erkenntnis sich durchsetzt, dass prominente deutsche Historiker sich mit dem Nationalsozialismus eingelassen haben. 114 Die Kontroversen darüber waren und sind noch immer heftig, was darauf aufmerksam macht, wie vehement die Auswirkungen des Historismus sein können. 7. Das Wechselspiel von Chancen und Zumutungen des Historismus, die Erfahrung seiner Macht und Grenzen und damit auch das ständige Wechselspiel von ‚ReProblematisierung‘ und ‚Ent-Problematisierung‘ lässt sich in einer Metapher zusammenfassen, die auch in diesem Fall dem Bereich der Kunstgeschichte entnommen ist. Es ist die Dialektik von historistischer Dekorierung und anti-historistischer „Entdekorierung“ und der darauf folgenden „Historisierung der Entdekorierung“ an Fassaden der Architektur seit der zweiten Hälfte des 19. und im ganzen 20. Jahrhundert. 115 Man könnte auch sagen: der Historismus gehört zu jenen Problemen der Moderne, in denen sich die „grundlegende Krisenhaftigkeit der Moderne, das Erleben, dass die Moderne nicht regierbar ist, die Erfahrung,
112 Dazu Otto Gerhard Oexle, „Das Mittelalter als Repräsentation der Moderne: Die Prä-Raffaeliten“, in: Andrea von Hülsen-Esch/Dagmar Täube (Hg.), „Luft unter die Flügel …“. Beiträge zur mittelalterlichen Kunst. Festschrift für Hiltrud Westermann-Angerhausen (= Studien zur Kunstgeschichte (CLXXXI)), Hildesheim/Zürich/New York 2010, S. 247–254, S. 251ff. 113 Henry van de Velde, Kunstgewerbliche Laienpredigten, Berlin 1999. 114 Dazu die Beiträge in: Winfried Schulze/Otto Gerhard Oexle (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999. 115 Hans Georg Hiller von Gaertringen, Schnörkellos. Die Umgestaltung von Bauten des Historismus im Berlin des 20. Jahrhunderts (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Beiheft (XXXV)), Berlin 2012.
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dass nichts zu einem Abschluss kommen kann“ ausspricht. Das bedeutet keine Resignation, wohl aber eine „Emanzipation von fertigen Lösungen“: „Viele mögen auch heute noch mit dem Anspruch ihres je eigenen Roma locuta auftreten, aber causa finita lässt sich nicht mehr durchhalten“. Denn: „was die Moderne so krisenhaft macht, ist letztlich zugleich auch das Potenzial, das sie auszeichnet“.116 Die „Krise des Historismus“, die in der Aufklärung ihre Wurzeln hat und die sich im frühen 19. Jahrhundert erstmals manifestierte, liefert dafür anschauliche Beispiele.
116 Armin Nassehi, „Der Ausnahmezustand als Normalfall. Modernität als Krise“, in: Kursbuch 170: Krisen lieben, Februar 2012, S. 34–49 und S. 44 (freundlicher Hinweis von Reinhard Laube).
JENSEITS DES RANKEANISMUS: HISTORISMUS ALS AUFKLÄRUNG Klaus Ries I. Von der Aktualität erkenntnistheoretischer Fragen und dem Desinteresse der Historie Brennender denn je scheint uns die Frage zu interessieren, wie wir mit unserer Vergangenheit umgehen, d. h. wie wir sie erinnern und aufbereiten können, um der Wirklichkeit so nahe wie möglich zu kommen. Ein Blick in die aktuelle Medien- und Kulturlandschaft kann dies leicht zeigen. Der soeben ausgestrahlte Fernsehfilm George des deutschen Dokumentarfilmemachers Joachim Lang über das Leben des berühmten Film- und Fernsehstars Heinrich George ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel. Der Film versucht der Wirklichkeit dadurch auf die Spur zu kommen, dass er mit drei Ebenen arbeitet, die ständig abwechselnd ineinander verschachtelt werden: der zeitgenössischen Dimension, die durch Originalbilder bzw. -filme der 1920er und 30er Jahre abgedeckt wird; der filmerisch-künstlerischen Ebene, in welcher sogar der Sohn selbst (Götz George) den Vater spielt, um damit der Geschichte eine besondere Authentizität zu verleihen; und schließlich der gegenwartsbezogenen Ebene, in welcher wiederum der Sohn gemeinsam mit seinem Bruder (Jan George) die wichtigsten historischen Stätten des Vaters abschreitet und damit den Kreis der Erinnerung schließt. Der Filmemacher wehrt sich allerdings gegen die Interpretation einer angestrebten vollständigen Abbildung der Wahrheit und meint vielmehr, „dass Ähnlichkeit oder Imitation nicht die entscheidenden Kategorien sein können. Die Spielszenen stellen Perspektiven der Wirklichkeit dar, und das wird schon dadurch offensichtlich, dass Götz über seinen Vater spricht und ihn auch spielt. Das vorgeführte Spiel wird nicht als ein für allemal unverrückbare Wirklichkeit genommen, sondern lässt unter anderem durch die Kombination zwischen Spielhandlung und dokumentarischer Aussage eine Haltung entstehen, die das Gezeigte als eine Sichtweise der Wirklichkeit erkennen lässt. Also keine geschlossene Spielhandlung mit einer vermeintlich objektiven Wahrheit, sondern eine offene Form, die den Zuschauer mit seinem Urteil dazwischen kommen lässt“. 1
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Ein Gespräch mit dem Autor und Regisseur Joachim A. Lang: http://www.daserste.de/unterhaltung/film/filme-im-ersten/sendung/george-gespraech-mit-regisseur-und-autor-joachim-alang-100.html, [aufgerufen am 01.10.2013].
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Dem Dokumentarfilmer kommt es demnach darauf an, ein Bewusstsein für die Perspektivengebundenheit unserer Erkenntnis zu wecken, dass wir die vergangene Wirklichkeit immer nur mit unseren Augen betrachten können und nie näher an das wirkliche Geschehen (was immer man darunter zu verstehen hat) heranreichen als es unsere Perspektive zulässt. Ein anderes Beispiel aus der aktuellen Literaturszene: Der Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts von Eugen Ruge erzählt u. a. in sechs verschiedenen Kapiteln aus unterschiedlichen Figurenperspektiven den 90. Geburtstag eines der Protagonisten (Wilhelm Powileit) und macht auf diese Weise ganz subtil deutlich, dass das Ereignis immer nur aus den spezifischen Wahrnehmungen heraus (re-) konstruiert werden kann, wobei jeweils ein neues Mosaiksteinchen hinzugefügt wird. 2 So entsteht ganz allmählich ein Bild, das der erzählten Wirklichkeit ziemlich nahe kommt, sie aber nie erreichen, sondern immer nur eine Annäherung darstellen kann. Am Ende muss der Leser selbst das Puzzle zusammensetzen und sich sein eigenes Bild machen, das wiederum eine neue Perspektive auf das Ereignis darstellt. Die Wirklichkeitsrekonstruktion wird so zu einer Endlosschleife. Im Prinzip lässt sich dieses Modell der Multiperspektivität auch hinter einem weiteren preisgekrönten, aktuellen DDR-Roman entdecken: Uwe Tellkamps Der Turm beschreibt die Endphase der DDR aus der Perspektive dreier Personen, die zugleich mehr oder weniger der intellektuellen Opposition angehören und so wiederum eine unterschiedliche Sicht auf das spezifisch akademische oppositionelle Milieu geben. 3 Auch hier wird deutlich, dass es nicht eine Wahrheit der DDROpposition gibt, sondern nur unterschiedliche Sichtweisen, die ihre ganz eigene Logik haben und nur in ganz loser Verbindung mit dem eigentlichen Ereignis stehen. Ganz abgesehen davon, dass bemerkenswerterweise im wiedervereinigten Deutschland nur diejenigen Romane ausgelobt werden, die einen ganz eingeschränkt-bildungsbürgerlichen Ausschnitt der DDR-Geschichte thematisieren und die proletarische Kultur des Arbeiter- und Bauernstaates überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, so erstaunt doch das derzeitige Interesse auch der Romanciers an geradezu philosophischen Fragen der Wirklichkeitskonstruktion. Die Liste ließe sich beliebig erweitern. Ein letztes Beispiel mag genügen: Der 2011 mit dem Bookerpreis ausgezeichnete Roman Vom Ende der Geschichte von Julian Barnes unternimmt den Versuch, in „Erinnerungsschleifen“ die eigene Vergangenheit des Protagonisten (Webster) so detailgetreu wie möglich zu rekonstruieren, um auf diese Weise den Suizid eines Jugendfreundes aufzuklären. 4 Auch dafür werden unterschiedliche Figurenperspektiven erzählt, um der Wahrheit ausgedrückt in dem zum Motto des Romans erhobenen Satz: „Nichts ersetzt die Aussage von ihm“ – so weit wie möglich auf die Spur zu kommen. 5 Der Leser bleibt auch in
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Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts, Reinbek 2011. Uwe Tellkamp, Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land, Frankuft a. M. 2010. Julian Barnes, Vom Ende einer Geschichte, Köln 2011. Vgl. dazu auch die Besprechung von Susanne Mayer, „Was war oder was gewesen sein könnte“, in: Die ZEIT, Nr. 50 vom 08. 11. 2011.
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diesem Falle auf sich allein gestellt und muss sich am Ende seinen eigenen Reim auf die Geschichte und den Sinn der Wirklichkeit machen. Dieses Problem der perspektivischen Sicht auf die Dinge, das die uralte erkenntnistheoretische Frage ‚was können wir wissen‘ zum Ausdruck bringt, findet sich auch in neueren fachwissenschaftlichen Darstellungen. So dreht sich beispielsweise das jüngste Buch von Deutschlands jüngstem Philosophieprofessor Markus Gabriel, um die Frage „warum es die Welt nicht gibt“, während es zugleich „alles gibt, bis auf eines: die Welt“. 6 Da die Welt nur als übergeordnetes „Ganzes“ existieren kann, das wiederum nicht zur Welt gehört, können wir sie auch nicht denken. Für Gabriel gibt es zwar „viele kleine Welten“, aber eben „nicht die eine Welt, zu der sie alle gehören“. Der Autor wendet sich damit sowohl gegen die „Metaphysik“, die – verkürzt – nach einer „allumfassende(n) Regel“ in der Weltgeschichte sucht, als auch gegen den „Konstruktivismus“, der – ebenso verkürzt – alle Wirklichkeit als perspektivische Verzerrung bzw. als „Illusion“ entlarvt; er plädiert vielmehr für einen „Neue(n) Realismus“, der einfach nur zeigen möchte, „was der Fall ist“. 7 Gabriel rettet damit wiederum die subjektive Perspektive als einen wichtigen Teil der Wirklichkeit und versucht so die eigentlich unhintergehbare Unterscheidung von „Struktur“ und „Phänomenen“ aufzuheben, indem er die Erscheinungen einer Sache oder eines Ereignisses selbst zum konstitutiven Bestandteil dieser Sache bzw. dieses Ereignisses erhebt. Abgesehen davon, dass hinter dieser Form des Denkens wieder ein gerüttelt Maß an Objektivismus, genauer: an ontologischem Objektivismus (getarnt als perspektivistischer Realismus) hervor scheint, so bleibt doch auch in diesem Falle das große Interesse an erkenntnistheoretischen Fragen festzuhalten, das derzeit in der intellektuellen Öffentlichkeit besteht und solchen Büchern eine enorme Publizität verschafft. Erstaunlicherweise beteiligt sich die Geschichtswissenschaft nicht an diesem öffentlichen Diskurs. Dabei müsste doch gerade sie ein ganz besonderes Interesse an der Frage haben, wie vergangenes Geschehen rekonstruiert werden kann. Die Geschichtswissenschaft interessieren derzeit aber nicht Fragen des ‚Wie‘, sondern bloß Fragen des ‚Was‘. Die möglichst rasche Zunahme von Veröffentlichungen erscheint wichtiger als das Reflektieren über das eigene Tun. Das zeigt sich vor allem an der schier unübersichtlichen Flut von biographischen Neuerscheinungen; denn offenbar enthebt die chronologische Rekonstruktion eines Lebens der erkenntnistheoretischen Problematisierung, weil angeblich das Leben einer Person für sich selbst spricht. Dies ist aber ein Trugschluss. Der Historiker bzw. die Historikerin muss sich immer über seinen/ihren Gegenstand im Klaren werden, es ist nicht der Gegenstand, der an ihn bzw. sie herantritt und geschrieben werden möchte, sondern er/sie tritt an den Gegenstand heran mit eigenen Fragen und Problemstellungen und schafft so erst in letzter Konsequenz den Forschungsgegenstand. Warum ist den Historikern der Drang zur Reflektion und Problematisierung
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Markus Gabriel, Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, S. 9. Gabriel, Welt, S. 21.
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solcher Fragen abhanden gekommen? Wie lässt sich dies wissenschaftsgeschichtlich erklären und vor allem: was kann man dagegen tun? II. Jenseits des Rankeanismus = jenseits des Historismus? Das Desinteresse insbesondere der deutschen Historie an erkenntnistheoretischen Fragen hängt – so paradox dies klingen mag – mit der Theoriedebatte der 1970er Jahre zusammen. Damals wurde das Theorieproblem auf eine ganz spezifische Weise erledigt, und zwar mit Auswirkungen bis heute. Völlig zu Recht hatte man sich gegen den Quellenpositivismus und Objektivismus der in erster Linie politikgeschichtlich ausgerichteten Geschichtsschreibung der 1950er und frühen 60er Jahre gewandt und eine theoriegesättigte Sozialgeschichte, die sich vor allem an Max Weber orientieren sollte, eingeklagt und auch begründet. 8 Eine der zentralen Forderungen dieser neuen Sozialgeschichte war dann jedoch (über das Ziel hinausschießend), sich „jenseits des Historismus“ zu stellen, wobei man – ganz der Definition Friedrich Meineckes aus dem Jahre 1936 folgend – unter Historismus eine spezifisch deutsche Verstehenslehre verstand, die mit Leopold von Ranke und dessen Diktum, er wolle „bloß zeigen, wie es eigentlich gewesen“, ihren kontemplativen Höhepunkt fand. 9 Genau dagegen, und das hieß auch gegen die damit verbundene Legende eines um 1900 positiv gewendeten „deutschen Sonderweges“, wollte man vorgehen und die „kritische Funktion“ der Geschichtswissenschaft in Stellung bringen, wobei man auch den Kritikbegriff in einer ganz spezifischen Weise gebrauchte. Dazu gleich mehr. Zunächst hieß es: „Die Gestaltungen und Ereignisse der Vergangenheit sind, für sich genommen, tot und sinnlos, allein schon ihrer unendlichen Zahl wegen. Auch die genialste historische Intuition vermag sie aus sich heraus nicht zu neuem Leben zu erwecken; die Annahme des Historismus, man könne dergleichen allein durch ‚Einfühlung‘, ‚Verstehen‘ oder ‚Nacherleben‘ bewerkstelligen, beruhte auf metawissenschaftlichen Prämissen problematischen Charakters (...). Die Geschichtswissenschaft fragt nicht einfach danach, ‚wie es eigentlich gewesen‘, sondern sucht die Vergangenheit im Lichte nicht nur der Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern auch ihrer zukünftigen Möglichkeiten zu sehen“. 10
Damit setzte man den Historismus in methodologischer und erkenntnistheoretischer Hinsicht mit dem Rankeanismus gleich und versuchte sich auf diese Weise von beidem zu verabschieden. Auch in diesem Punkte folgte man übrigens FriedVgl. dazu den sehr guten Überblick bei Winfried Schulze, Deutsche Geschichtsschreibung nach 1945, München 1993. 9 Vgl. dazu vor allem Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1972; mit den Verweisen auf Ranke. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1972; Zitat in: Leopold v. Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 (1824), hier zitiert nach den Sämtlichen Werken, zweite Gesamtausgabe. (XXXIII/XXXIV), Leipzig 1874, S. VII. 10 Mommsen, Historismus, S. 45 8
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rich Meinecke, der in der Tat eine Identität zwischen idealistischer Begründung der Geschichtswissenschaft und geistig-kultureller Bewegung herstellte. 11 Im Prinzip hält diese Sicht auf den Historismus als eine typisch rankeanische Auffassung von Geschichte bis heute an. 12 Der Historismus gilt bis heute immer noch (trotz gut begründeter kritischer Einwände) als „eine komtemplative Einstellung gegenüber der Vergangenheit“, als „eine Form des Objektivismus“, als eine „Ideologie des status quo“, als eine „auf das Einmalige, auf die sogenannte Individualität in der Vergangenheit“ abzielende Erkenntnisweise, weiter als „an Anschauung, an Deskription und Erzählung orientiert“ und schließlich als „methodisch fixiert an eine unklare und metaphysisch idealistische Kategorie, nämlich den Begriff des Verstehens“. 13 Diese Verdammung des Historismus als einer konservativen, objektivistischen und geradezu reaktionären Geschichtsauffassung schien der „kritischen“ Geschichtsschreibung der 1970er Jahre als unabdingbar, um ihre eigene Methode und Theorie nicht nur in Szene, sondern auch und vor allem ‚absolut‘ zu setzen. 14 Die erkenntnisleitende Perspektive der sog. Bielefelder Schule ging ganz eindeutig – trotz Berufung auf Max Weber und dessen Plädoyer für Wertfreiheit in der Wissenschaft – von gegenwartsbezogenen Werturteilen aus, die als Maßstäbe zur Be- und Verurteilung vergangenen Geschehens herangezogen wurden: 15 Demokratie, Zivilgesellschaft, westliches Verfassungssystem und westliche Werte, kurz: die Aufklärung und das unvollendete Projekt der Moderne wurden zum Dreh- und Angelpunkt einer modernen, sogenannten „nach-historistischen Geschichtswissenschaft“. 16 Der spezifische Kritikbegriff der kritischen Geschichtswissenschaft war ein werturteilsbehafteter Kampfbegriff, mit welchem man die
11 Vgl. Otto Gerhard Oexle, „Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichteforschung“, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Tübingen 1996, S. 30ff. 12 Vgl. die Studien von Jens Nordalm, Historismus im 19. Jahrhundert. Geschichtsschreibung von Niebuhr bis Meinecke, Stuttgart 2006 und Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Paderborn et. al. 2009; oder auch jetzt Daniel Fulda/Friedrich Jaeger, „Historismus“, in: Helmut Reinalter/Peter J. Brenner (Hg.), Lexikon der Geisteswissenschaften. Sachbegriffe – Disziplinen – Personen, Wien/Köln/Weimar 2011, S. 328–336. 13 So die rhapsodische Aufzählung von Thomas Nipperdey, „Historismus und Historismuskritik heute. Bemerkungen zur Diskussion“, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 62; die dieser 1975 schon erkannte und zu revidieren versuchte, allerdings vergeblich; denn auch er selbst fällt in seinem ersten Band der Geschichte des 19. Jh. in die alten meineckeschen Muster zurück. 14 Vgl. dazu auch die treffende Kritik von Thomas Nipperdey, „Kann Geschichte objektiv sein?“ (1979), in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1990, S. 218– 234, hier S. 227: „Für die Reduktion historischer Aussagen auf die soziale Position des Historikers aber wird absolute Geltung beansprucht“. Dasgl. nochmals ebd., S. 232f. 15 Vgl. zu dieser Kritik auch Reinhard Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, S. 87ff. 16 Mommsen, Historismus, S. 43.
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Vergangenheit vor den Richterstuhl der Gegenwart zerrte und aburteilte. 17 Die perspektivistische Herangehensweise der kritischen Schule, die gegen den Objektivismus der Rankeschen Schule in Stellung gebracht wurde, vertrat einen Absolutheitsanspruch, der eigentlich keine weitere Kritik mehr zuließ und so dem Fortschreiten des Wissenschaftsprozesses ganz enge Grenzen setzte. Auch in diesem Punkt widersprach man übrigens dem Säulenheiligen Max Weber, der ja gerade unter Wissenschaft den Fortschritt ins Indefinite verstand. Die theorieaffine Historie schuf sich so ihr eigenes Grab, weil sie nur noch eine Perspektive zuließ, und sie erledigte damit zugleich auch die von ihr stets propagierte „Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft“. 18 Auf dem Gipfelpunkt ihrer Machtstellung innerhalb des Faches hat Thomas Nipperdey, der neohistoristische Gegenpol, die vereinheitlichende Tendenz dieser Schule auf den Punkt gebracht: „In unserem Fach bestimmen zwar theoretisch die Anwälte der Perspektive-Gebundenheit der Historie das Feld, Pluralisten also, faktisch aber die Vertreter doch nur einer, nämlich moderat progressiven und kritischen Perspektive, der der einen und einzigen Vorgeschichte“. 19
So war die letzte große Theoriedebatte innerhalb der Geschichtswissenschaft fehlgeleitet von einer zu eng auf die Gegenwart bezogenen, ideologischen Perspektive-Gebundenheit, die den Keim der Überwindung in sich trug, weil sie die eigene politische Haltung zum wissenschaftlichen Beurteilungskriterium erhob. Eine richtige Theoriediskussion hat seither nicht mehr stattgefunden – eigentlich hatte sie nie wirklich stattgefunden, weil sie nicht primär an erkenntnistheoretischen Fragen orientiert war, sondern maßgeblich von politischen Werturteilen bestimmt wurde. Die quasi-theoretischen Debatten der Neueren Kulturgeschichte seit den 1980er Jahren, die nach dem „Eigen-Sinn“ und der „inneren Logik“ der Betroffenen fragen, 20 zeugen eher wieder von einem mit moderner Begrifflichkeit versehenen Rankeanismus, der ganz bewusst die Reflektion des eigenen Tuns ausklammert und sich ausschließlich um eine „dichte Beschreibung“ der Phänomene vergangenen Geschehens kümmert. 21 Überhaupt verspürt man diesen impliziten, unreflektierten Rankeanismus allenthalben, zuletzt und ganz deutlich bei der Me-
17 Vgl. zu dem eigentlich unkritischen Kritikbegriff der kritischen Geschichtswissenschaft: Thomas Nipperdey, „Kritik und Objektivität“, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Die deutsche Revolution von 1848/49, Darmstadt 1983. 18 Reinhart Koselleck, „Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft“, in: Werner Conze (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28. 19 Thomas Nipperdey, „Einheit und Vielfalt in der neueren Geschichte“, in: Lothar Gall (Hg.), Historische Zeitschrift, (CCLIII), München 1991, S. 2. 20 Vgl. z. B. die Beiträge in Rebekka Habermas/Nils Minkmar (Hg.), Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur Historischen Anthropologie, Berlin 1992 oder exakt dazu Alf Lüdtke, „Alltagsgeschichte; Eigensinn“. in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft: Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002. 21 Vgl. Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Beiträge, Frankfurt a. M. 2003. Dort vor allem die Einleitung, die den phänomenologischen Zugang erläutert.
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thode des sogenannten “Reenactement”, der „Wiederaufführung“ bzw. „Nachstellung“ von Ereignissen aus der Vergangenheit wie z. B. der „Völkerschlacht“ von Leipzig (1813) in der Hoffnung, auf diese naive Weise der Wirklichkeit so nah wie möglich zu kommen. 22 Wie kann die Historie den Anschluss an erkenntnistheoretische Diskurse finden, welche die öffentliche Kultur- und Medienlandschaft und auch die meisten anderen Wissenschaften derzeit so interessieren? Ein Weg mag darin bestehen, erneut über den Historismus nachzudenken 23 und ihn aus dem Meineckeschen Denkschema zu befreien. Dazu möchte der folgende Abschnitt einen Beitrag leisten. III. Historismus als Aufklärung Rufen wir uns noch einmal ins Gedächtnis, wie Friedrich Meinecke den Historismus definierte. 24 Zunächst einmal muss man sagen: Meinecke reduzierte den Historismus, der ein umfassendes Grundphänomen der Moderne darstellt, auf ein spezifisch deutsches, vornehmlich methodologisch-wissenschaftstheoretisches Phänomen der Geschichtsschreibung, das in Rankes objektivistischer Geschichtsauffassung (des berühmten „wie es eigentlich gewesen“) seinen Gipfelpunkt erreichte. Sodann setzte er diese angeblich typisch deutsche Form des Geschichtsdenkens in strikten Gegensatz zur Aufklärung, die er als ,westliches Denken‘ regelrecht diffamierte. Der Meineckesche Historismus war damit Teil eines ,deutschen Sonderweges‘. Nicht mehr die Suche nach Gesetzmäßigkeiten, generalisierenden Beschreibungen und erklärenden Kausalitäten standen im Zentrum dieses Denkens, sondern vielmehr „die Geltendmachung der Kategorien ,Individualität‘ und ,Entwicklung‘ und damit des historischen Sinnes überhaupt“. 25 Der Historismus war in den Worten Meineckes „das Gesamtphänomen des ,historischen Sinnes‘ (...), das seit den Tagen Mösers, Herders und Goethes das Verhältnis zur geschichtlichen Welt innerlich umgestaltet und die in Ranke gipfelnde Art von Geschichtsschreibung geschaffen hat“. 26
22 Hierzu gibt es sogar schon eine Veröffentlichung, nämlich eine Bachelorarbeit aus dem Jahre 2009: Chantal Walser, Reenactments in dokumentarischen Fernsehproduktionen. Untersuchung eines modernen Gestaltungsmittels, Saarbrücken 2010. 23 Dass dieses Thema immer noch aktuell ist, mag eine neueste Veröffentlichung auf dem Gebiet der Kirchengeschichte belegen: Gregor Klapczynski, Katholischer Historismus? Zum historischen Denken in der deutschsprachigen Kirchengeschichte um 1900. Heinrich Schrörs –Albert Erhard –Joseph Schnitzer, Stuttgart 2013. 24 Vgl. zum Folgenden, Otto Gerhard Oexle, „Meineckes Historismus. Über Kontext und Folgen einer Definition“, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zu Problemgeschichten der Moderne, Tübingen, 1996, S. 114–121. 25 So Oexle, „Meineckes Historismus“, S. 116. 26 Zit. nach Oexle, „Meineckes Historismus“, S. 116.
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Meinecke glaubte auf diese Weise, den von seinen Zeitgenossen seit Friedrich Nietzsche vielfach diskutierten Problemen des Historismus, vor allem der sich notwendigerweise aufdrängenden Frage des Relativismus aller Werte, zu entkommen; denn durch die Gleichsetzung des Historismus mit dem idealistischen Objektivismus Rankes war das Problem des Relativismus zwar nicht gelöst, aber doch ad acta gelegt. Erstaunlicherweise hat man diese reduzierte Lesart des Historismus in der deutschen Geschichtswissenschaft bis heute mehrheitlich übernommen, gleichwie, ob man sich positiv Meinecke anschloss oder negativ von ihm abgrenzte. Otto Gerhard Oexle hat vielfach dagegen angeschrieben und vor allem auf die umfassendere Bedeutung des Historismus als einem Grundphänomen der Moderne hingewiesen, indem er sich an der Definition des Theologen, Philosophen und Historikers Ernst Troeltsch orientierte, der im Unterschied zu Meinecke unter Historismus die „grundsätzliche[n] Historisierung alles unseres Denkens über den Menschen, seine Kultur und seine Werte“ verstand. 27 Damit sollte deutlich werden, dass der Historismus kein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen darstellt und dass das Problem des Relativismus konstitutiv zum Historismus gehört und auch nicht gelöst werden kann, sondern angenommen und sich stets neu bewusst gemacht werden muss. 28 Hier soll nun ein anderer Weg eingeschlagen werden. Ich werde mich auf Meineckes Reduzierung des Historismus auf ein methodologisches Phänomen einlassen und prüfen, ob und inwieweit die von ihm vor allem bei Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke herausgearbeitete objektivistische Geschichtsauffassung tatsächlich die dominierende Form des Geschichtsdenkens im frühen 19. Jahrhundert war oder ob es nicht vielmehr alternative Denkformen gab, die mindestens ebenso oder vielleicht sogar noch mehr den Historismus ideell vorbereiteten und daher auch viel eher an die Debatten um 1900 anschließen. Wenn dem so wäre, dann hätte Meinecke eine doppelte Reduktion vorgenommen: Er hätte nicht nur den Historismus von einer geistig-kulturellen „Bewegung“ auf eine typisch deutsche „Idee“ reduziert, er hätte vielmehr noch dazu die „Idee“ des Historismus selbst reduziert auf die objektivistische Geschichtsauffassung Rankes - mit bis heute anhaltenden Auswirkungen. Um das Geschichtsdenken um und nach 1800 auf seinen historistischen Gehalt zu prüfen, ist es sinnvoll, sich an der umfassenden Definition des Historismus von Ernst Troeltsch zu orientieren. In seinem Essay von 1922 Die Krisis des Historismus beschreibt Troeltsch den Historismus wie folgt: „Historismus ist die Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Wir sehen alles im Flusse des Werdens, in der endlosen und immer neuen Individualisierung, in der Bestimmtheit durch Vergangenes und in der Richtung auf unerkanntes Zukünftiges. Staat, Recht, Moral, Religion, Kunst sind in dem Fluß des historischen Werdens aufgelöst und uns überall nur als Bestandteil geschichtlicher Entwicklungen verständlich. Das festigt auf der einen Seite den Sinn 27 Vgl. Oexle, „Meineckes Historismus“, S. 95–136; die Zitate bei Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, 2. Neudr. der Ausgabe Tübingen 1922, Aalen 1977, S. 102. 28 Vgl. Oexle, „Meineckes Historismus“, S. 95–136.
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Klaus Ries für die Wurzelung alles Zufälligen und Persönlichen in großen, breiten überindividuellen Zusammenhängen und führt jeder Gegenwart die Kräfte der Vergangenheit zu. Aber es erschüttert auf der anderen Seite alle ewigen Wahrheiten, seien sie kirchlich-supranaturaler und darum von der höchsten autoritativen Art, seien es ewige Vernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, Recht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit, seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche Autorität und ihre herrschende Form beziehen. Der Historismus in diesem Sinne ist die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterli29 chen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet“.
Troeltsch verstand also unter Historismus ganz im Unterschied zu Meinecke zunächst einmal kein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen, das in einer prinzipiellen und unwiderruflichen Historisierung all unseres Wissens und Empfindens der geistigen Welt bestehe. Die Konsequenzen dieses allumfassenden historischen Bewusstwerdungsprozesses seien zum einen ganz positiv die Festigkeit und der Halt alles Zufälligen und Individuellen in größeren strukturellen Zusammenhängen, zum anderen aber auch die Erschütterung aller als fest geglaubten Wahrheiten und Eindeutigkeiten, seien sie kirchlicher-autoritativer oder aufgeklärt-rationaler Natur. Troeltsch sah daher im Historismus eine ‚Zumutung‘ und eine ‚Chance‘ zugleich. Für den Philosophen Troeltsch barg die ständige Historisierung unseres Wissens enorme Entwicklungspotentiale, während der Theologe in der Relativierung aller Wahrheiten und Werte eine schreckliche Zumutung erblicken musste und auch erblickte. Damit hat Troeltsch exakt das erkannt, was wir heute als das Spannungsfeld des modernen Menschen bezeichnen würden, der die Ambivalenzen der Moderne aushalten und sich ihnen gegenüber verhalten muss. Troeltsch hat bekanntlich das Historismusproblem durch die von ihm vorgeschlagene spezifische Form einer „Kultursynthese“ zu lösen versucht. 30 Dieser Lösungsvorschlag muss uns hier nicht weiter interessieren. Es ging vielmehr darum zu zeigen, dass der Historismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts als die moderne Form des Denkens angesehen wurde, die sich sowohl von der religiös geprägten antiken und mittelalterlichen als auch von der rational-aufgeklärten Denkweise unterschied. Die Frage, die sich nun stellt, ist, ab wann und bei wem lassen sich erste Formen eines derart gelagerten Geschichtsdenkens entdecken, die sich auch bereits von der aufgeklärt-rationalen Denkweise unterschieden. Wir bleiben - ganz ähnlich wie Meinecke - ebenfalls im deutschsprachigen Raum. 31
29 Ernst Troeltsch, „Die Krisis des Historismus“, in: Die Neue Rundschau. XXXIII. Jahrgang der freien Bühne, (I), Berlin/Leipzig 1922, S. 572–590, zit. S. 573ff. 30 Vgl. kritisch dazu Oexle, „Troeltschs Dilemma“, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Ernst Troeltschs „Historismus“ (= Troeltsch-Studien (XI)), Gütersloh 2000, S. 23–64; dazu auch Mommsen, „Historismus“. 31 Für Frankreich vgl. die insgesamt bedeutende und viel zu wenig rezipierte Studie von Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2007 (Erstver. 1932), bes. S. 97ff.
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1. Schiller und das „Vetorecht der Quellen“ Man kann es gleich zu Anfang sagen: Nicht Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke stehen am Beginn eines neuen Geschichtsdenkens, sondern Friedrich Schiller - und zwar (dies kann man ebenfalls gleich hinzufügen), weil Schiller von Kant ausgehend dachte. Schiller hatte sich intensiv mit historischen Themen befasst und selbst Geschichte geschrieben: Bevor er seine ersten geschichtstheoretischen Reflektionen in seiner Antrittsvorlesung vom Mai 1789 unternahm, hatte er sein erstes großes Geschichtswerk, die Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung vollendet (1788); und zwischen 1790 und 1792 war sein zweites historisches Monumentalwerk, die Geschichte des Dreyßigjährigen Krieges entstanden; und schließlich folgten noch zwischen 1791 und 1793 einige kleinere historische Arbeiten über die Geschichte der französischen Unruhen der sogenannten Hugenottenkriege der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 32 Vielleicht war es diese praktische Arbeit am konkreten historischen Stoff, die Schiller dazu brachte, vom aufgeklärten Ideal einer teleologischen Fortschrittsgeschichte abzurücken und erste ‚empirische‘ Zweifel anzubringen, die man – modern gesprochen – als ein Wissen um das „Vetorecht der Quellen“ bezeichnen könnte. 33 Schon in seiner „Vorrede“ zur Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande ging es Schiller vor allem um „Sorgfalt und Genauigkeit“ und weniger um ein Systemdenken; ihm war vielmehr daran gelegen, „alle“ Quellen gelesen zu haben, „um die Klarheit wieder zu gewinnen, die durch das Lesen vieler in manchen Stücken leidet“; denn er wünschte sich, die Geschichte der niederländischen Revolution „aus ihren ersten Quellen und gleichzeitigen Documenten zu studieren, sie unabhängig von der Form, in welcher sie mir von dem denkenden Theile meiner Vorgänger überliefert war, neu zu erschaffen und mich dadurch von der Gewalt frei zu machen, welche jeder geistvolle 34 Schriftsteller mehr oder weniger gegen seine Leser ausübt".
Schiller war sich des Aktes der Gewaltanwendung jeder Geschichtsschreibung bewusst, vor allem auch des Gewaltaktes, den die Aufklärer bei der Konstruierung ihrer Geschichte, die in ein vernunftgeleitetes System gepresst werden musste, begingen; daher fand er seine Absicht „mehr als erreicht, wenn er einen Theil des lesenden Publikums von der Möglichkeit überführt, daß eine Geschichte historisch treu geschrieben sein kann, ohne darum eine Geduld35 probe für den Leser zu sein“.
32 Klaus Ries: Wort und Tat. Das politische Professorentum der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert, Stuttgart 2007, S. 71–77. 33 Reinhart Koselleck, „Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt“, in: ders./Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik (I)), München 1977, S. 45f. 34 Friedrich Schiller, Schillers Werke. Nationalausgabe, XVII: Historische Schriften, S. 9. 35 Ebd.
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Damit wird schon in der „Vorrede“ zu seinem ersten großen historischen Unternehmen der empirische Charakter deutlich, der dann auch die Geschichtswerke und das Geschichtsdenken Friedrich Schillers kennzeichnen sollte. In der auf die „Vorrede“ folgenden „Einleitung“ zur Geschichte des Abfalls der Niederlande kommt noch eine zweite Grundfigur aufklärungskritischen Denkens zur Sprache: der Zufall bzw. die Kontingenzerfahrung, die von den Aufklärern entweder geflissentlich übergangen oder „kausal aufgelöst“, d. h. in ihr Vernunftsystem eingepasst wurde. 36 Schiller hingegen hielt am Zufall als einer Grundkategorie historischen Geschehens und ihrer Analyse fest, um so einen klaren Blick auf „das Übernatürliche“ (in diesem Falle der niederländischen Revolution) zu be- und erhalten: „Des Fatums unsichtbare Hand führte den abgedrückten Pfeil in einem höhern Bogen und nach einer ganz andern Richtung fort, als ihm von der Sehne gegeben war.“ 37 Schiller war sich schon sehr früh bewusst, wie risikobehaftet und unzulänglich die Vorgehensweise des Historikers ist, wenn er sich eine Geschichte nach seinem Plane zurechtlegt: „Der Mensch verarbeitet, glättet und bildet den rohen Stein, den die Zeiten herbeitragen; ihm 38 gehört der Augenblick und der Punkt, aber die Weltgeschichte rollt der Zufall“.
Schillers Vorstellung einer Universalgeschichte war demnach schon vor seiner Jenaer Antrittsvorlesung, die sich bekanntlich diesem Thema verschrieb, ernüchternd und durchaus kritisch gegenüber dem aufgeklärt-rationalen Programm der Universalhistorie, wie es paradigmatisch von der Göttinger Schule in der Nachfolge Schlözers vertreten wurde. Dementsprechend kritisch fiel daher auch – und dies wird bis heute häufig übersehen 39 – die Antrittsvorlesung mit dem fragenden Titel: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? aus, die Schiller am 26. Mai 1789 an der Universität Jena vor überfülltem Auditorium hielt.40 Schillers Antrittsvorlesung ist eine erste scharfe Abrechnung mit der dogmatischen Tendenz der Kantschen Geschichtsphilosophie, die in der Tat heute nicht mehr brauchbar erscheint. 41 Der „philosophische Kopf“, den Schiller von Kant entlehnte und dem von ihm selbst ins Spiel gebrachten „Brotgelehrten“ gegenüberstellte, erscheint längst nicht mehr als jener rationale Gelehrte, der – wie Kant meinte – den „Leitfaden a priori“ nur auszuwickeln und ein „sonst planloses Aggregat menschlicher
36 Grundsätzlich dazu: Arnd Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2005, zit. S. 73. 37 Schiller, NA XVII, S. 21. 38 Schiller, NA XVII, S. 21. 39 Vgl. z. B. Peter André Alt, Schiller. Leben – Werk – Zeit, 2 Bde., (I), München 2000, S. 604f. 40 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Eine akademische Antrittsrede Mai 1789, hg. von Volker Wahl, Jena 1996 (im Folgenden wird daraus zitiert als Schiller, Universalgeschichte). 41 Vgl. die neue Interpretation bei Klaus Ries, „Geschichtsschreibung in Jena. Von Schiller bis Droysen. Peter Schäfer zum 80. Geburtstag“, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte, (LXV), 2011, S. 147–151.
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Handlungen“ in ein vernunftgeleitetes „System“ zu verwandeln habe. 42 Der philosophische Kopf Schillers ist vielmehr ein empirsch geläuterter Zauderer und Skeptiker, der dem „neue(n) Trieb“ (sic!), „einen vernünftigen Zweck in den Gang der Welt und ein teleologisches Princip in die Weltgeschichte“ zu bringen, prüfend und kritisch gegenübersteht; denn: „Bald fällt es ihm schwer, sich zu überreden, daß diese Folge von Erscheinungen, die in seiner Vorstellung so viel Regelmäßigkeit und Absicht annahm, diese Eigenschaften in der Wirklichkeit verleugne; es fällt ihm schwer, wieder unter die blinde Herrschaft der Notwendigkeit zu geben, was unter dem geliehenen Lichte des Verstandes angefangen hatte, eine so 43 heitre Gestalt zu gewinnen“.
Wenn der philosophische Kopf mit dem teleologischen Prinzip in der Hand bzw. im Kopf die Weltgeschichte durchwandert und „prüfend gegen jede Erscheinung“ hält, „welche dieser große Schauplatz ihm darbietet“, dann sieht er es „durch tausend beistimmende Facta bestätigt und durch eben so viele andre widerlegt; aber so lange in der Reihe der Weltveränderungen noch wichtige Bindungsglieder fehlen, so lange das Schicksal über so viele Begebenheiten den letzten Aufschluß noch zurückhält, erklärt er die Frage für unentschieden, und diejenige Meinung siegt, welche dem Verstande die höhere 44 Befriedigung und dem Herzen die größre Glückseligkeit anzubieten hat".
Schiller war sich der Unzulänglichkeit und vielleicht sogar der Unmöglichkeit einer am Fortschrittsgedanken und Vernunftprinzip orientierten Universalgeschichte „nach letzterm Plane“ durchaus bewusst: „Eine vorschnelle Anwendung dieses großen Maßes könnte den Geschichtsforscher leicht in Versuchung führen, den Begebenheiten Gewalt anzuthun und diese glückliche Epoche für die 45 Weltgeschichte immer weiter zu entfernen, indem er sie beschleunigen will“.
Der philosophische Kopf Schillers war bereits nicht mehr jener aufgeklärte Dogmatiker, den Kant noch 1784 mit seiner Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht in Szene gesetzt hatte. Aber Schiller bleibt dennoch Kantianer, indem er die Erkenntnistheorie (und nicht die Geschichtsphilosophie!) Kants weiterentwickelt und auf das Gebiet der Historie überträgt. Deswegen steht Schiller auch am Anfang eines kritisch-historistischen Denkens. Schiller scheint tatsächlich (wie Kant noch in seiner Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft von sich selbst schrieb) von David Hume aus dem „dogmatischen Schlummer“ gerissen worden sein; denn er hatte in Fortführung und Transponierung der epistemologischen Überlegungen Kants die Konsequenz aus der „empiristischen Begründung Humes“ für die Historie gezogen. 46 Man kann sagen, dass Schiller die kant42 Vgl. dazu nochmals die Schrift von Immanuel Kant, „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“, in: J. H. von Kirchmann (Hg.), Immanuel Kants kleinere Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, Berlin 1870; hier spez. der neunte Satz. 43 Schiller, Universalgeschichte, S. 130f. 44 Ebd., S. 131. 45 Ebd., S. 132. 46 Vgl. zu dem Vergleich der empiristischen Begründung Humes mit Schillers Begründung einer Universalgeschichte wenn auch aus einer anderen Perspektive, nämlich dem Teil-
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sche „Kritik der reinen Vernunft“ gleichsam auf sein Geschichtskonzept und werk anwandte, während Kant sich bei einen geschichtsphilosophischen Überlegungen noch stärker vom Vernunftgedanken leiten ließ. 47 Hier hatte natürlich die Erfahrung der Französischen Revolution ihr Übriges getan und Schillers Desillusioniertheit gegenüber dem aufgeklärten Fortschrittsdenken noch bestärkt. In dem zwischen 1794 und 1796 verfassten Essay Ueber das Erhabene kommt diese aufklärungskritische Haltung besonders stark zum Ausdruck: „Wer freilich die große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint und bei weitem in den mehresten Fällen Verdienst und Glück mit einander im 48 Widerspruche stehn“.
Wenn diese Passage hinsichtlich des Zufalls auch durchaus noch mit seinen Reflektionen anlässlich der Abfassung der Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande aus dem Jahre 1788, also vor Ausbruch der Revolution, kompatibel sind, so zeigt doch die folgende Passage aus dem Essay Ueber das Erhabene, wie weit das resignative Moment nach dem Bekanntwerden der Terreur-Herrschaft der Jakobiner ging: „Die Welt, als historischer Gegenstand, ist im Grunde nichts anders als der Conflikt der Naturkräfte unter einander selbst und mit der Freiheit des Menschen, und den Erfolg dieses Kampfes berichtet uns die Geschichte. So weit die Geschichte bis jetzt gekommen ist, hat sie von der Natur (zu der alle Affekte im Menschen gezählt werden müssen) weit größere Thaten Ganze-Problem Otto Gerhard Oexle, „‚Der Teil und das Ganze‘ als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch“, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, S. 223. Als Schiller sich auf seine Antrittsvorlesung vorbereitete und dafür einige historische Werke zu Rate zog, darunter die zu seiner Zeit sehr berühmte, unvollendet gebliebene elfbändige Geschichte der Deutschen des aufgeklärten Würzburger Gelehrten und Direktors des kaiserlichen Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien Michael Ignaz Schmidt, schrieb er an seinen Freund Körner jene bezeichnenden Zeilen: „Schmidt ist unendlich schätzbar durch die Menge der Quellen, die er benutzt hat, und in seiner Zusammenstellung ist kritische Prüfung; aber er verliert durch seine befangene parteiische Darstellung wieder sehr.“ „Schiller an Körner vom 01. 01. 1789“; in: Schillers Werke. Nationalausgabe, XXV: Briefwechsel 01. 01. 1788–28. 02. 1790, Weimar 1979, S. 179; zu Michael Ignaz Schmidt vgl. den NDB-Artikel von Uwe Puschner, „Schmidt, Michael Ignaz“, in: Neue Deutsche Biographie 23 (2007), S. 210–211 [Onlinefassung]; URL: http:// www.deutsche-biographie.de/pnd119056151.html, [aufgerufen am: 03.10.2013]; sowie Peter Baumgart/Hans W. Bergerhausen, Michael Ignaz Schmidt (1736–1794) in seiner Zeit Der aufgeklärte Theologe, Bildungsreformer und „Historiker der Deutschen“ aus Franken in neuer Sicht (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg (IX)), Neustadt a. d. Aisch 1996. 47 Vgl. dazu die Beiträge zur Idee-Schrift von Kant in: Otfried Höffe (Hg.), Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Berlin 2011, vgl. dazu auch Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der Geschichtswissenschaft, Köln u. a. 2002; Prüfer sieht in Schillers Antrittsvorlesung „die erste moderne Historik“, S. 353. 48 Friedrich Schiller, Schillers Werke. Nationalausgabe, XXI: Philosophische Schriften, S. 48.
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zu erzählen, als von der selbständigen Vernunft, und diese hat bloß durch einzelne Ausnahmen vom Naturgesetz in einem Cato, Aristides, Phocion und ähnlichen Männern ihre Macht behaupten können. Nähert man sich nur der Geschichte mit großen Erwartungen von Licht und Erkenntniß – wie sehr findet man sich da getäuscht! Alle wohlgemeinten Versuche der Philosophie, das, was die moralische Welt fordert, mit dem, was die wirkliche leistet, in Uebereinstimmung zu bringen, werden durch die Aussagen der Erfahrungen widerlegt, und so gefällig die Natur in ihrem organischen Reich sich nach den regulativen Grundsätzen der Beurtheilung richtet oder zu richten scheint, so unbändig reißt sie im Reich der Freiheit den Zü49 gel ab, woran der Spekulationsgeist sie gern gefangen führen möchte“.
Diese harten Worte über die unmöglichen Forderungen der moralischen Welt, die viel zu großen Erwartungen von Licht und Erkenntnis und alle wohlgemeinten Versuche der Philosophie und des Spekulationsgeistes, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Schiller weiterhin am freiheitlichen Ideal der Aufklärung festhielt. Dies zeigt schon allein der Blick in seine historischen Werke, die sich allesamt mit Freiheitsthemen bzw. mit Krisen, Rebellionen oder politisch-sozialen Umbrüchen befassten (und diese durchaus positiv bewerteten). Auch der strikte und typisch aufklärerische Gegenwartsbezug, der in seiner Antrittsvorlesung zum Ausdruck kam, zeugt davon. 50 Daher wäre es völlig verfehlt, aus seiner Kritik an dogmatischen Engführungen der vernunftgeleiteten Aufklärungshistorie sogleich den Schluss einer anti-aufklärerischen Haltung zu ziehen und Schiller ins Vorfeld eines an Meineckes Definition orientierten „Historismus“ einzuordnen, wie dies Ulrich Muhlack unternommen hat. 51 Schiller war durch und durch Aufklärer und übte aus aufklärerischer Perspektive Kritik am aufgeklärt-rationalen Vernunftdenken. Nichts anderes hat übrigens auch Kant getan, indem er auf den Empirismus Humes verwies. Nur ging Schiller noch einen Schritt weiter als Kant und wandte die empiristische Begründung von Erkenntnis auch auf seine Geschichtstheorie und sein Geschichtswerk an. Von daher stand Schiller in der Tat am Scheidepunkt und leitete die ausgewogene moderne Sichtweise zwischen Rationalismus und Empirismus bzw. zwischen „Sinnlichkeit“ und „Vernunft“ ein, 52 die den Historismus des 19. Jahrhunderts, wie ihn Ernst Troeltsch verstand, vorbereitete.
49 Ebd., S. 49. 50 Die ganze Vorlesung hat diesen Fokus; er findet sich u. a. auch explizit in solchen Sätzen: „Aus der ganzen Summe dieser Begebenheiten hebt der Universalhistoriker diejenigen heraus, welche auf die heutige Gestalt der Welt und den Zustand der jetzt lebenden Generation einen wesentlichen, unwidersprüchlichen und leicht zu verfolgenden Einfluß gehabt haben.“ Schiller, Universalgeschichte, S. 127. 51 Ulrich Muhlack, „Schillers Konzepte der Universalgeschichte zwischen Aufklärung und Historismus“, in: Otto Dann/Norbert Oellers/Ernst Osterkamp, Schiller als Historiker, S. 27. 52 Vgl. Friedrich Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen“, in: Nationalausgabe, XX: Philosophische Briefe; hier vor allem die Briefe von 1793/94, die stets darauf bedacht sind, die Mitte zwischen Sensualismus und Rationalismus zu halten.
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2. Das konservative Gegenprogramm a) Wilhelm von Humboldt und das „Ahndungsvermögen“ Dieses an Kant geschulte Denken bestimmte ganz wesentlich die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen im Fach Geschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Linie reicht von Friedrich Schiller über Georg Gottfried Gervinus bis zu Johann Gustav Droysen. Wilhelm von Humboldt und Ranke stellen in ihrer Zeit eher die Ausnahmen dar, indem sie eine dezidiert antiaufklärerische Position vertraten, die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Siegeszug antrat. 53 Wir wollen zunächst kurz auf Wilhelm von Humboldts Geschichtsdenken eingehen, um den Unterschied zu Schiller deutlich zu machen. Humboldt hatte sich nach dem Untergang des Alten Reichs und der katastrophalen Niederlage Preußens 1806 mit der antiken und hier speziell der griechischen Geschichte befasst, die er als „Vorbild“, ja als „Muster für die anzustrebende Entwicklung Deutschlands“ ansah. 54 Aber dieser gegenwartsbezogene Geschichtsversuch blieb ein Fragment, Humboldt hatte in der Folge „nie den Versuch unternommen, selber ein größeres historiographisches Werk in Angriff zu nehmen“. 55 Allerdings hat er im Jahre 1821, d. h. im Schatten der Karlsbader Beschlüsse von 1819, die eine Liberalisierung und Politisierung von Wissenschaft verboten, eine Skizze „ueber die Aufgabe des Geschichtsschreibers“ entworfen, in welcher er seine Position über die Art und Weise, wie man Geschichte zu schreiben habe, darlegte. 56 Schon mit den ersten beiden Sätzen wird deutlich, wohin die Reise gehen sollte: „Die Aufgabe des Geschichtsschreibers ist die Darstellung des Geschehenen. Je reiner und vollständiger ihm diese gelingt, desto vollkommener hat er jene gelöst“. 57 Humboldt ging es um nicht mehr und nicht weniger als um die Suche nach der objektiven Wahrheit. Er glaubte sie in der Aufhebung der Differenz von Erkenntnissubjekt und Untersuchungsobjekt finden zu können: „Jedes Begreifen einer Sache setzt, als Bedingung seiner Möglichkeit, in dem Begreifenden schon ein Analogon des nachher wirklich Begriffenen voraus, eine vorhergängige, ursprüngliche Uebereinstimmung zwischen dem Subject und Object“. 58
Humboldt setzte diese harmonische Einheit voraus, weil er noch ein regelrecht vormodernes Geschichtsdenken vertrat, das davon ausging, „die Erkenntnis des Ganzen der Geschichte sei möglich und führe zu einer wahren Erkenntnis der Tei-
53 Vgl. für diese Linie Klaus Ries, „Johann Gustav Droysen und die Tradition der deutschen Aufklärungshistorie“ in: ders. (Hg.): Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers, Stuttgart 2010, S. 57–77. 54 Lothar Gall, Wilhelm von Humboldt. Ein Preuße von Welt, Berlin 2011, S. 125. 55 Gall, Humboldt. S. 355. 56 Wilhelm von Humboldt: Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers (1821), in: ders., Werke, hg. von A. Flitner und K. Giel, (I), Darmstadt 21969, S. 585–606. 57 Ebd., S. 586; Gall, Humboldt, S. 351–356. 58 Humboldt, Aufgabe, S. 597.
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le“. 59 Genau darin unterschied er sich auch von Schiller, dessen aufgeklärtes Geschichtsdenken gerade umgekehrt jenen „Typus von Reflektion über den Teil und das Ganze“ repräsentierte, „die das Ziel hat(te), das Ganze der Geschichte zu erkennen, indem sie es sich aus den Teilen allmählich aufbaut(e)“. 60 Als Humboldt in seinen späten Jahren, bereits nach seinem Rückzug nach Tegel, 1830 noch einmal über Geschichtsschreibung und speziell „über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“ nachdachte und einen kleinen Essay verfasste, markierte er diesen Unterschied ganz deutlich: „Schiller pflegte zu behaupten, dass der Geschichtsschreiber, wenn er alles Faktische durch genaues und gründliches Studium der Quellen in sich aufgenommen habe, nun dennoch den so gesammelten Stoff erst wieder aus sich heraus zur Geschichte konstruieren müsse, und hatte darin gewiss vollkommen Recht, obgleich allerdings dieser Ausspruch auch gewaltig missverstanden werden könnte. Eine Tatsache lässt sich ebenso wenig zu einer Geschichte, wie die Gesichtszüge eines Menschen zu einem Bildnis bloß abschreiben. Wie in dem organischen Bau und dem Seelenausdruck der Gestalt, gibt es in dem Zusammenhang selbst einer einfachen Begebenheit eine lebendige Einheit, und nur von diesem Mittelpunkt aus lässt sie sich auffassen und darstellen“. 61
Dieses romantisch geprägte Ganzheitsdenken hatte bei Humboldt eine dezidiert anti-aufklärerische und anti-spekulative Stoßrichtung. Humboldt suchte nach den „Ideen“ in der Geschichte und er glaubte, „dass diese Ideen aus der Fülle der Begebenheiten selbst hervorgehen, oder genauer zu reden, durch die, mit ächt historischem Sinn unternommene Betrachtung derselben im Geist entspringen, nicht der Geschichte, wie eine fremde Zugabe, geliehen werden müssen, ein Fehler, in welche die sogenannte philosophische Geschichte leicht verfällt“. 62
Nicht von außen herangetragene Fragen oder Probleme konstituierten in den Augen Humboldts die Aufgabe des Geschichtsschreibers, sondern die Sache selbst, die man ,erahnen‘ oder ,fühlen‘ könne; denn nicht auf „die blosse Verstandesoperation“ komme es an, sondern auf „Ahndungsvermögen und Verknüpfungsgabe“. 63 Daher stand auch nicht das aufgeklärte ,Erklären‘ historischer Phänomene im Zentrum der Geschichtsarbeit, sondern vielmehr das intuitive „Verstehen“. 64 Damit stand Humboldt in der Tat im unmittelbaren Vorfeld von Ranke, der sich ebenfalls so weit in die historischen Begebenheiten einfühlen wollte, bis er gleichsam in ihnen aufging und sie solcherart ganz verstehen konnte. Bekanntlich hat Ranke dieses Ideal in seiner Englischen Geschichte des 17. Jahrhunderts mit den berühmten Worten zum Ausdruck gebracht: „Ich wünschte, mein Selbst gleichsam auszulöschen und nur die Dinge reden, die mächtigen Kräfte erscheinen 59 Grundsätzlich dazu Oexle, „Teil“, S. 219. 60 Ebd., S. 222, mit dem Beispiel Schiller S. 223. 61 Wilhelm von Humboldt, Über Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung, Stuttgart 1830. (Erstdruck als „Vorerinnerung“, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Wilhelm von Humboldt, Stuttgart/Tübingen 1830). 62 Humboldt, Aufgabe, S. 595. 63 Ebd., S. 587f. 64 Ebd., S. 599.
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zu lassen“. 65 Humboldt wie Ranke verbanden damit einen Angriff auf die Aufklärungshistorie, die ihnen zu sehr die eigene Perspektive in den Mittelpunkt rückte und daher den historischen „Thatsachen Gewalt“ antaten, wie Ranke dies in einem Nachruf auf Gervinus als „eine große Gefahr“ bezeichnete. 66 Für Humboldt ging die aufgeklärte Geschichtsschreibung viel zu brutal mit der „einfache(n) und lebendige(n) Wahrheit“ um, er vermisste die „Freiheit und Zartheit“, die der Historiker nur entwickeln könne, wenn er die „Idee“, die in allem was geschehe, walte, „nur an den Begebenheiten selbst“ erkenne und „sein Gemüth empfänglich für sie und regsam erhalte[n], sie zu ahnden und zu erkennen“ und sich „vor allen Dingen“ davor hüte, „der Wirklichkeit eigenmächtig geschaffene Ideen anzubilden oder auch nur über dem Suchen des Zusammenhanges des Ganzen etwas von dem lebendigen Reichthum des Einzelnen aufzuopfern“ 67.
Dieser radikale Objektivismus, der die subjektive Perspektive gänzlich auszuschalten versuchte, war auch(!) ein Produkt der Karlsbader Beschlüsse, jener Wende hin zur Restauration, die jeglicher Vermengung von Wissenschaft und Politik einen harten Riegel vorschob. 68 Von daher passte der Essay Humboldts über die Aufgabe des Geschichtsschreibers politisch gesehen ganz in die beginnende Zeit der Restauration (wenn Humboldt selbst auch ein Gegner der Karlsbader Beschlüsse war und deswegen sogar sein Ministeramt für „ständische Angelegenheiten“ verlor). 69 b) Hegel und die „Eule der Minerva“ Ganz ähnlich wie Humboldt argumentierte übrigens zur gleichen Zeit auch Hegel in seiner „Vorrede“ zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts vom 25. Juni 1820. 70 Sein berühmtes Diktum „was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ 71 bringt die objektivistische Wissenschaftsauffassung Hegels ziemlich gut auf den Punkt 72. Hegel griff hier vor allem die aufge65 Zit. nach Ranke, Englische Geschichte. Vornehmlich im XVII. Jahrhundert, Stuttgart 1955. Vollständige Ausgabe in zwei Bänden mit einer Einleitung von Michael Freund, (I), Stuttgart 1955, (T. I), S. 449. 66 Leopold von Ranke, „Georg Gottfried Gervinus. Rede zur Eröffnung der zwölften Plenarversammlung der historischen Kommission“, in: Historische Zeitschrift, (XXVII), München 1872, S. 138. 67 Humboldt, Aufgabe, S. 605f. 68 Zur restaurativen „Wende“ vgl. Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, 4. überarb. Auflage. München 2001, S. 134. 69 Vgl. Gall, Humboldt, S. 324–337. 70 Vgl. die Vorrede von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Frankfurt a. M. 51996. 71 Hegel, Vorrede, S. 24. 72 Vgl. dagegen Karl-Heinz Ilting, der diese Einleitung als ein Tarnmanöver Hegels interpretiert, der seine wirkliche liberale Haltung angesichts des Drucks der preußischen Bürokratie kaschieren musste: Karl-Heinz Ilting, Hg., Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen
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klärt-idealistische Philosophie an, weil sie zu sehr „auf die subjektiven Zwecke und Meinungen, auf das subjektive Gefühl und die partikuläre Überzeugung“ abstelle – in seinen Augen allesamt „Prinzipien, aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe und des Rechts unter den Privatpersonen, als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgt“. 73
Dem stellte Hegel sein eigenes Wissenschaftsverständnis entgegen, das er als das einzig wahre und vernünftige ansah – nämlich eine Philosophie, die sich an der Wirklichkeit (und nicht an der Jenseitigkeit) orientiert, eine Philosophie, die sich nicht eine Welt und einen Staat baut, „wie er sein soll“, sondern „den Staat als ein in sich Vernünftiges zu begreifen und darzustellen“ versucht: „Das was ist zu begreifen, ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft“.74 Dies sei die Hauptaufgabe der Philosophie, die ohnehin nicht anders könne als „ihre Zeit in Gedanken“ zu fassen, eben weil sie Kind ihrer Zeit sei, ganz so wie jedes Individuum „ein Sohn seiner Zeit“ sei. 75 Hegel redete hier einer ganz und gar ‚unpolitischen Wissenschaft‘ und zugleich einem radikalen Objektivismus das Wort. Denn was „das Belehren, wie die Welt sein soll“, angehe, so komme dazu – so Hegel – „ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat. Dies, was der Begriff lehrt, zeigt notwendig ebenso die Geschichte, daß erst in der Reife der Wirklichkeit das Ideale dem Realen gegenüber erscheint und jenes sich dieselbe Welt, in ihrer Substanz erfaßt, in Gestalt eines intellektuellen Reichs erbaut. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“. 76
Diese Haltung, die übrigens bis in die jüngste Gegenwart in der deutschen Geschichtswissenschaft als ,neohistoristische‘ Position angepriesen und vertreten wird, 77 ist nicht nur methodologisch, sondern auch und vor allem politisch von
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über Rechtsphilosophie 1818-1831, Edition und Kommentar in 6 Bänden, Stuttgart 1973– 1974. Ich schließe mich vielmehr dem Kommentar von Ludwig Siep an: „Vernunftrecht und Rechtsgeschichte. Kontext und Konzept der Grundlinien im Blick auf die Vorrede“, in: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. von Ludwig Siep, Berlin 2005, S. 1–29. Ebd., S. 22. Ebd., S. 26. Ebd. Ebd., S. 27f. Vgl. die Rezension von Thomas Nipperdey (der über Hegel promoviert hat!) zu: „HansUlrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ (I–II), in: Geschichte und Gesellschaft 14 (1988), S. 403–415; hier fallen die bekannten, bis heute immer wieder zitierten Worte, die auffallend an Hegels „Vorwort“ zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts erinnern: „Wehler liebt Schwarz oder Weiß, gegeneinandergesetzt noch in Schachbrettmustern, Streifen, ja pointillistischen Flecken. Ich halte mich für meinen Blick auf die Geschichte an Max Liebermanns Ansicht von der Natur: Nicht die starken Farben und die Kontraste sind das Wichtige, sondern die Grautöne, die Nuancen, die Mischungen, die Übergänge. Die Ge-
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eminenter Bedeutung. Hegels Vorwort haucht in allen Zeilen den ,Geist von Karlsbad‘, es stellt eine einzige Verbeugung vor der restaurativen Politik Preußens dar, die mit den Karlsbader Beschlüssen erst so richtig eingeleitet wurde. Die geradezu infamen Angriffe auf die idealistische Philosophie des Jenaer Philosophen Jakob Friedrich Fries, der wegen seiner Feuer-Rede auf dem Wartburgfest all seiner Ämter enthoben wurde, 78 waren unmittelbar nach Hegels Berufung nach Berlin mehr als eine wissenschaftstheoretische Positionierung. Das war zugleich ein politisches Bekenntnis. Genauso verstand es auch der preußische Kultusminister von Altenstein, dem Hegel sein Werk zur Rechtsphilosophie zusandte und der gewiss nicht viel mehr als das Vorwort gelesen hatte. Schon am 24. August 1821 schrieb Altenstein an Hegel zurück: „Indem Sie in diesem Werke wie in ihren Vorlesungen überhaupt mit dem Ernste, welcher der Wissenschaft geziemt, darauf dringen, das Gegenwärtige und Wirkliche zu erfassen und das Vernünftige in der Natur und Geschichte zu begreifen, geben Sie der Philosophie, wie mir scheint, die einzig richtige Stellung zur Wirklichkeit und so wird es Ihnen am sichersten gelingen, Ihre Zuhörer vor dem verderblichen Dünkel zu bewahren, welcher das Bestehende, ohne es erkannt zu haben, verwirft und sich besonders in bezug auf den Staat in dem willkürlichen Aufstellen inhaltsleerer Ideale gefällt (...)“. 79
Die preußische Kultusbehörde sah offenbar einen Gleichklang zwischen der Hegelschen Wissenschaftsauffassung und der soeben eingeleiteten restaurativen Politik des preußischen Staates. c) Rankes „Gottesdienst“ Cum grano salis lässt sich die Wissenschaftsauffassung Leopold von Rankes mit derjenigen Hegels vergleichen und auch in den gleichen historischen Kontext einordnen (wenngleich Ranke sich gegen jede Form einer philosophischen Geschichtsschreibung à la Hegel vehement zur Wehr setzte). Rankes berühmtes Diktum, er wolle nur „zeigen, wie es eigentlich gewesen“, stammt aus dem Jahre 1824 80 und gehört damit ebenfalls ins Zeitalter der Restauration wie die Geschichtsauffassung Wilhelm von Humboldts und die Wissenschaftstheorie Hegels. Ranke hat sein konservativ-objektivistisches Geschichtsdenken in der Folgezeit noch weiter ausgefeilt und verfeinert. In seinen Vorträgen über die Epochen der neueren Geschichte, die er in der postrevolutionären Zeit der Reaktion – mutatis schichte ist grau. Darum ist mein Tugend-Ideal auch nicht die Emphase, sondern die Gelassenheit“; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, S. 415. 78 Vgl. Gerald Hubmann, Ethische Überzeugung und politisches Handeln. Jakob Friedrich Fries und die deutsche Tradition der Gesinnungsethik, Heidelberg 1997, S. 45ff. 79 Brief Altenstein an Hegel vom 24. August 1821 (Fragment), abgedruckt in: Hegel, Grundlinien, S. 517f. (vgl. Anm. 52). 80 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514 (1824), zit. nach den Sämtlichen Werken, zweite Gesamtausgabe (XXXIII/XXXIV), Leipzig 1874, S. VII.
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mutandis vergleichbar mit derjenigen der Restauration – vor dem bayerischen König Max II. 1854 hielt, hat er sich u. a. eingehend mit dem Fortschrittsbegriff in der Geschichte auseinandergesetzt. 81 Hier spürt man vor allem seine immer noch dominante theologische Prägung, die es ihm verbot, sowohl den Hegelschen Begriff des „Weltgeistes“ zu übernehmen als auch sich an der aufgeklärt-säkularen Fortschrittsidee zu orientieren. Ranke meinte, wenn man annehme, „dieser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkommen übertreffe, mithin die letzte allemal die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben; sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation wäre, und würde nicht in unmittelbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem eignen Selbst. Dadurch bekommt die Betrachtung der Historie, und zwar des individuellen Lebens in der Historie einen ganz eigentümlichen Reiz, indem nun jede Epoche als etwas für sich Gültiges angesehen werden muß und der Betrachtung höchst würdig erscheint“. 82
Man kann Rankes objektivistisches Geschichtsverständnis nur nachvollziehen, wenn man den religiösen Zusammenhang mitbedenkt; denn: „Rankes Historie ist Gottesdienst“! 83 Sein Objektivitätsideal ist durch und durch theologisch begründet und lässt sich nicht von diesem religiösen Kontext lösen. 84 Schon während der Abfassung seines Erstlingswerkes wird die grundlegend religiöse Haltung deutlich, wenn er gegenüber seinem Bruder Anfang Dezember 1823 festhält: „Es weiß wahrhaftig noch nicht ein einziger Mensch davon, und ich bitte Gott, daß er mir's nicht anrechnet, wenn ich vor der Tat einmal davon rede“. 85 Dabei handelt es sich aber nicht bloß (wie hier zu vermuten wäre) um ein allgemeines religiöses Verständnis; Ranke verband vielmehr sein theologisches Denken mit seinem Geschichtsdenken und hoffte auf diese Weise, absolute Wahrheit und Objektivität zu erreichen. Auf den Vorwurf seines Berliner Historikerkollegen Heinrich Leo, er bringe nur einen „Streuhaufen einzelner Data (...) ohne 81 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. Vorträge dem Könige Maxmillian II. von Bayern im Herbst 1854 zu Berchtesgaden gehalten. Vortrag vom 25. September 1854, Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Theodor Schieder und Helmut Berding, München 1971. 82 Ebd., S. 60. 83 Vgl. Thomas Nipperdey, „Zum Problem der Objektivität bei Ranke“, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988, S. 215–222, zit. S. 217. 84 Dagegen Nipperdey (ebd.), der argumentiert, dass man bei der Bezugnahme auf Ranke „die Religion gut und gerne außer Acht lassen“ könne (S. 218), um am Ende zu dem Schluss zu gelangen: „Rankes Theorie der Objektivität ist darum auch in postreligiöser Zeit eine starke Theorie“ (S. 222). 85 Zit. nach Ulrich Muhlack, „Das Problem der Weltgeschichte bei Leopold Ranke“, in: Wolfgang Hardtwig/Philipp Müller (Hg.), Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933, Göttingen 2010, S. 144, Anm.6.
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philosophische Bildung und überhaupt ohne eigentliche Wissenschaft“ zustande, 86 reagierte er scharf und stellte unmißverständlich klar: „Was soll ich nun weiter sagen? Man giebt mir Mangel an philosophischem oder religiösem Ernste Schuld (...). Daß es mir aber an philosophischem und religiösem Interesse fehle, ist lächerlich zu hören, da es just dies ist, und zwar ganz allein, was mich zur Historie getrieben hat“. 87
Ranke war ein verhinderter Theologe, der Geschichte betrieb und genau dies prägte sowohl sein Geschichtsdenken als auch sein Geschichtswerk. In seiner Berliner Antrittsvorlesung von 1836 lässt sich sein Geschichtsprogramm leicht nachlesen, wenn er auf seine Methode der Geschichtsbetrachtung zu sprechen kommt und sein Ahndungs- und Einfühlungsvermögen mit dem göttlichen Wissen gleichsetzt: „Denn was kann es wohl Angenehmeres und dem menschlichen Verstande Willkommeneres geben, als den Kern und das tiefste Geheimnis der Begebenheiten in sich aufzunehmen (sic!) (...). Und wie dann, wenn man allmählich dahin kommt, daß man entweder mit gerechtem Selbstvertrauen ahnen (sic!) oder vermittelst der schon geübten Schärfe der Augen vollständig erkennen kann, wohin in jedem Zeitalter das Menschengeschlecht sich gewandt, was es erstrebt, was es erworben und wirklich erlangt hat. Denn das ist gleichsam ein Teil des göttlichen Wissens. Eben nach diesem aber suchen wir mit Hülfe der Geschichte vorzudringen; ganz und gar in dem Streben nach diesem Erkennen bewegt sie sich“. 88
Wolfgang Hardtwig hat dieses Denken völlig zu Recht als „Geschichtsreligion“ bezeichnet. 89 Mit moderner Erkenntnis, die von der Differenz von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt ausgeht, hat diese Sichtweise nichts gemein. Wir müssen uns davor hüten, die Geschichtsauffassung Wilhelm von Humboldts und Leopold von Rankes als die entscheidende Form des Geschichtsdenkens anzusehen, die den Historismus prägte (wie dies Friedrich Meinecke noch getan hat). Sie ist vielmehr Produkt und Ausdruck des restaurativen Zeitalters und ihre anti-aufklärerische Stoßrichtung muss vor allem auch von daher erklärt werden. Dass damit jedoch ein aufgeklärt-liberales Geschichsdenken an ein Ende gekommen und von einem sogenannten Historismus à la Ranke abgelöst worden wäre, ist ein Fehlschluss und eine Legende, die sich insbesondere in der deutschen Historikerzunft bis heute hartnäckig hält. 90 Sowohl die Historik von
86 Ebd., S. 157. 87 Zit. nach ebd., S. 158, Anm. 85; wobei Muhlack allerdings Religion mit Philosophie gleichzusetzen und damit ihren Stellenwert abzumildern versucht. 88 Zit. nach dem Abdruck der Antrittsvorlesung Rankes bei Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 52. 89 Wolfgang Hardtwig, „Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht“, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1–32, hier S. 3ff. 90 Vgl. zu diesem angeblich epochalen Wechsel von der Aufklärungshistorie zum Historismus vor allem Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991; differenzierter Peter Hanns Reill, The German Enlightement and the Rise of Historicism, Berkeley et. al. 1975; der diese Zäsur aufbrechen möchte und die feinen Übergänge betont, ohne jedoch das Fortwirken aufgeklärten Geschichtsdenkens im 19. Jh. weiter zu verfolgen.
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Georg Gottfried Gervinus von 1837 als auch und vor allem die viel bedeutendere Historik von Johann Gustav Droysen von 1857 stellen Gegenbeispiele dar, die deutlich machen, wie lange der Schatten der Aufklärung ins 19. Jahrhundert hineinreicht und den Historismus als ein umfassendes Phänomen der Moderne (so wie ihn Ernst Troeltsch verstand) ideell vorbereitete. 3. Gervinus und der „pragmatische Historiker“ Die Historik von Gervinus aus dem Jahre 1837 steht im Kontext des Protestes der sogenannten Göttinger Sieben, jener Gruppe von Göttinger Professoren, die im gleichen Jahr gegen die unrechtmäßige Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover durch den neu inaugurierten, erzkonservativen Regenten Ernst August protestierten und daraufhin entlassen wurden. 91 Gervinus war einer jener Professoren, die den Protest provozierten, in dessen Gefolge ein regelrechter Methodenstreit über die Aufgabe und Pflichten von Wissenschaft zwischen den Göttinger Sieben und ihrem schärfsten Widersacher, dem Göttinger Philosophen und schulbildenden Pädagogen Johann Friedrich Herbart entfachte. 92 Herbart vertrat in seiner eigens angefertigten Denkschrift mit dem sprechenden Titel Erinnerung an die Göttingische Katastrophe die puristische Position, dass Wissenschaft eine eigene Welt mit eigenen Regeln sei, die sich nicht in Politik einmischen dürfe: „Wenn aber die Lehrer der Jugend in Tages-Begebenheiten eingreifen wollen, so müssen sie darauf gefasst seyn, dass die Macht nicht auf sie hört; die Macht, die vom Katheder nicht will belehrt seyn“. 93
Die Göttinger Sieben hingegen hatten bereits einen ganz modernen Gelehrtenbegriff: Sie handelten nicht nur als Universtitätsprofessoren, d. h. als Mitglieder einer Korporation, sondern eben auch als Staatsbürger und Staatsbeamte – eine Rolle, aus der sie nicht herauskönnten und die sie geradezu zwinge, zu öffentlichen Fragen mit bestem Wissen und Gewissen Stellung zu nehmen. ,Wissenschaft‘ und ,Leben‘– jene berühmten beiden Kategorien, um die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Nachfolge Nietzsches nochmals so hart gestritten wurde – standen für sie in einer engen, unauflöslichen Beziehung. Jakob Grimm beispielsweise (einer der Sieben) sprach dies in seiner Schrift über seine Entlassung offen aus, wenn er die einzelnen Fächer der Geisteswissenschaft und der Medizin durchging und hinsichtlich der Jurisprudenz und der Geschichte festhielt:
91 Zum Ablauf des Protestes Klaus von See, Die Göttinger Sieben. Kritik einer Legende, 3. erw. Auflage, Heidelberg 2000. 92 Anschaulich dargestellt bei Wolfgang Hardtwig, Vormärz – Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 20–27. 93 Herbart, J. F., „Erinnerung an die Göttingische Katastrophe im Jahre 1837“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von K. Kehrbach und O. Flügel, (XI), Aalen 1989, 2. Neudr. d. Ausgabe1906, S. 27–44, zit. S. 33f.
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Klaus Ries „Lehrer des öffentlichen Rechts und der Politik sind, kraft ihres Amts angewiesen, die Grundsätze des öffentlichen Lebens aus dem lautersten Quell ihrer Einsichten und Forschungen zu schöpfen; Lehrer der Geschichte können keinen Augenblick verschweigen, welchen Einfluss Verfassung und Regierung auf das Wohl und Wehe der Völker übten“. 94
Herbart wiederum hatte einen ganz anderen Wissenschaftsbegriff, der sowohl an Hegel als auch an Ranke erinnert: Für ihn war es eine „Anmaßung“, wenn sich die Philosophie um Angelegenheiten von Staat und Kirche kümmere; denn die philosophischen Resultate müssten sich von selbst darbieten und dürften nicht „gesucht“ oder „erschlichen“ werden und jeder einzelne Philosoph dürfe nicht vergessen, „dass nicht die Zeit, sondern das Unzeitliche sein eigentlicher Gegenstand sei“. 95 Herbart vertrat den Wissenschaftsbegriff der Restauration, während die Göttinger Sieben bereits für den modernen Wissenschaftsbegriff des Vormärz stehen. Genau in diesem Kontext muss auch die Historik von Georg Gottfried Gervinus gesehen werden. Gervinus knüpfte wieder an die Göttinger Tradition der Aufklärungshistorie an, indem er die Aufklärung als die große Zäsur der Weltgeschichte bezeichnete, vergleichbar mit der „Scheide der alten und neuen Welt bei Christus Geburt“, 96 eine Geschichtsepoche, „wo die Menschen zu wahrer Cultur und eigner Befriedigung gelangten“. 97 Allerdings wandelte Gervinus bereits auf den Spuren Schillers und warnte vor den Einseitigkeiten einer zu teleologisch ausgericheten Geschichtsschreibung: Der ,pragmatische Historiker‘– die Idealform für Gervinus (in etwa vergleichbar mit dem philosophischen Kopf von Kant und Schiller) – solle abwägen und tief in die Vergangenheit mit all ihren Verästelungen einsteigen, Leidenschaften, geheime Neigungen aufspüren, „die reine Gestalt des Geschehenden erkennen lernen, um aus den anhängenden Zufälligkeiten das wahrhaft Wichtige kühn und sicher herauszuheben“. 98 Wenn Gervinus sich auch häufig auf Humboldts Essay über die Aufgabe des Geschichtsschreibers bezog, so übernahm er dennoch nicht dessen antiaufklärerische Haltung. Im Gegenteil: Für Gervinus war der Historiker „Richter des Lebens, der Wissenschaften, der Politik“, ja „ein Partheimann des Schicksals, ein natürlicher Verfechter des Fortschritts“. 99 Er habe Geschichte immer aus der Gegenwart, und zwar „nur aus einem rechtfertigenden Gesichtspuncte seiner Zeit und ihrer Bedürfnisse“ zu schreiben und dieser rechtfertigende Gesichtspunkt sei die „Sache der Freiheit“. 100 Gervinus changierte zwischen aufgeklärt-rationaler Eindeutigkeit und aufklärungskritischer Reflektion: Er hatte ganz ähnlich wie Schiller die Grenzen der Aufklärungshistorie erkannt und mit meta-aufklärerischen Mitteln zu überwinden versucht. Seine Perspektive blieb das aufgeklärt-liberale Vernunftdenken in der Geschichte, das er reformieren, aber nicht überwinden wollte! Gervinus suchte, 94 95 96 97 98 99 100
Ebenfalls abgedruckt in ebd., S. 43. Ebd., S. 43f. Georg Gottfried Gervinus, Grundzüge der Historik, Leipzig 1837, S. 71. Ebd., S. 78. Ebd., S. 65. Ebd., S. 92 und 94. Ebd., S. 94.
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wie sein Biograph Gangolf Hübinger so treffend formulierte, „nach einer dritten, vermittelnden Möglichkeit zwischen konservativer Empirie und teleologischer Generalisierung“. 101 4. Droysen und das „forschende Verstehen“ Noch einen wesentlichen Schritt weiter, vor allem viel rationaler und reflektierter argumentierte schließlich Johann Gustav Droysen in seiner Historik aus dem Jahre 1857. 102 Die Historik Droysens ist ein sehr gutes Beispiel dafür, dass auch in der nachrevolutionären Epoche der sogenannten „Reaktion“ wissenschaftlich liberale Positionen aufrecht erhalten blieben und keineswegs die Rankesche Sicht auf Geschichte, die gewissermaßen mit der politischen Entwicklung konform ging, dominierte. Droysen war sich dessen durchaus bewusst, wenn er in seiner Historik auf die Rolle des Historikers bei der Behandlung von angeblich feststehenden „ethischen Ideen“ einging und festhielt, „daß wir so nachweisen, in welcher Richtung die Ideen fortschreitend geworden sind, daß wir so wenigstens die Richtung ihrer Bewegung, ihrer Entwicklung, ihres begrifflichen Werdens sicherstellen, damit sie nicht eines schönen Tages, wie z. E. jetzt, durch allerlei Reaktion (sic!) rückläufig gemacht werden“. 103
Droysens Historik war auch (!) eine Kampfschrift zur Verteidigung des Fortschritts- und Freiheitsgedankens im postrevolutionären Zeitalter. Gerade er, der Mann, der sich in der 1848er-Revolution auf liberaler Seite engagierte, 104 vertrat auch nach der gescheiterten Revolution weiterhin seine freiheitlichen Ideale, die sein gesamtes wissenschaftliches Oeuvre prägten. 105 Man hat sogar den Eindruck, dass Droysen sein politisches Engagement nach der Revolution auf den Bereich der Wissenschaft übertrug. An dem liberalen Verfassungskämpfer Droysen wird besonders deutlich, wie wenig man in moderner Zeit Wissenschaft und Politik trennen kann, wie sehr wissenschaftstheoretische Aussagen immer auch eine poli-
101 Gangolf Hübinger, Georg Gottfried Gervinus, Historisches Urteil und politische Kritik, Göttingen 1984, S. 98. 102 Johann Gustav Droysen, Historik, I: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), Stuttgard/Bad Canstatt 1977. 103 Droysen, Historik, S. 202. 104 Dazu jetzt kritisch Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008, S. 90–143. 105 Angefangen von der Geschichte der Freiheitskriege bis zu den Bänden über die preußische Geschichte bleibt der Freiheitsgedanke dominierend im Werk Droysens; vgl. Jörn Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J. G. Droysen, Paderborn 1969, S. 74ff.; sowie Georg Gerson Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Wien et. al. 1997, S. 137ff.
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tische Implikation haben, kurz: wie eng Wissenschaft und Leben aufeinander bezogen sind. Wissenschaftstheoretisch gesehen stellt die Historik von Droysen die entscheidende methodologische und erkenntnistheoretische Grundlage des Historismus dar. Darüber herrscht mehr oder weniger Einigkeit in der Forschung.106 Worüber gestritten wird, ist die Zuordnung der Historik in den wissenschaftstheoretischen Kontext und damit auch ihr Verhältnis zum Historismus. Während die einen Droysens Historik stärker aus dem Hegelschen Geschichtsdenken herleiten, 107 betonen die anderen mehr die kantianischen Wurzeln des Droysenschen Denkens. 108 Hier soll nun deutlich gemacht werden, wie sehr Droysen auf den Schultern Schillers stand und von dieser – wie gesehen – kantianisch geprägten Form des Geschichtsdenkens und der Geschichtsschreibung seine Gedanken zur Wissenschaftsmethodologie weiter entwickelte und genau in diesem Sinne auch ganz entscheidend den Historismus prägte. Droysens Historik enthält bereits alle Elemente des Historismus als eines umfassenden geistesgeschichtlichen Phänomens, wie sie Ernst Troeltsch um 1900 benannte und als Zumutung und Chance zugleich begriff. 109 Allerdings war die Historik Droysens in ihrer Zeit wenig bekannt, weil sie erst später (und dann auch zunächst nur auszugsweise) publiziert wurde und vor allem weil in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das objektivistische Denken Rankes in der Geschichtswissenschaft eine Führungsstellung besaß, wie überhaupt der Objektivismus und Positivismus bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den meisten Disziplinen die dominierende Lehrmeinung bildete. 110 Umso wichtiger erscheint es, die Historik Droysens in ihr Recht zu setzen, das ihr viel zu lange aus unterschiedlichen (auch politisch-ideologischen) Gründen verwehrt wurde. 111 Droysens Hauptmotiv, sich überhaupt der Methodologie der Geschichtswissenschaft zuzuwenden und eine Historik zu verfassen, war eine doppelte Frontstellung: gegen die spekulative Geschichtsphilosophie (wie sie Hegel noch betrieben hatte) und gegen den positivistischen Exaktheitswahn der im Vormarsch befindlichen Naturwissenschaften. Durch die beiderseitige Abgrenzung versuchte er der Geschichtswissenschaft eine ganz eigene Stellung im Wissenschaftsbetrieb zu verschaffen: 112 106 Erstaunlicherweise befasst sich die Biographie von Nippel (Droysen, S. 219–238) überhaupt nicht mit dieser Frage. 107 Vgl. Rüsen, Geschichte; sowie ders., „Johann Gustav Droysen“, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, (II), Göttingen 1971, S. 7–23. 108 Oexle, Geschichtswissenschaft, bes. S. 31–33. 109 Vgl. dazu nochmals vorne im Text, S.*** 110 Vgl. auch mit Blick auf die anderen Disziplinen Oexle, „Zeichen des Historimus“, S. 17ff. 111 Leider unternimmt dies auch nicht der jüngste Biograph Nippel, der die Historik nur als „geschichtsreligiöse(s) Geraune“ abtut und sich kaum auf die wissenschaftstheoretischen Aussagen einlässt. Nippel, Droysen, S. 219–238, zit. S. 231. 112 Vgl. Uwe Barrelmeyer, Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchung zu geschichtstheoretischen Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber, Münster 1997, S. 37ff.
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„Aber kaum daß sich unsere Wissenschaft der philosophisch-theologischen Umspannung frei macht, so sind die Naturwissenschaften da, sich ihrer zu bemächtigen. So wie vor zwanzig, dreißig Jahren die Philosophie im vollen Übermut der Alleinherrschaft sagte: nur das Philosophische ist wissenschaftlich und die Geschichte ist nur Wissenschaft, sofern sie philosophisch zu sein weiß - ebenso kommen jetzt die Naturwissenschaften und sagen: Wissenschaft ist nur, was in unserer Methode sich bewegt, und wenn vitale Erscheinungen als physikalische verstanden und erklärt werden, dann hat die Wissenschaft eine neue Eroberung gemacht. Es ist hier die Stelle, den bezeichneten qualitativen Unterschied der geschichtlichen von der natürlichen Welt genauer zu präzisieren“. 113
Im Unterschied zu dem englischen Historiker Henry Thomas Buckle, mit dem sich Droysen intensiv befasste 114 und der, sich an den Naturwissenschaften orientierend, eine positivistisch-exakte Methode für die Geschichtswissenschaft zu entwickeln versuchte, um aus den Fakten allgemeine „Gesetze“ abzuleiten, ging Droysen einen ganz anderen, eigenen Weg. Droysen glaubte in seiner Zeit, dass der Geschichtswissenschaft zunehmend ein Alleinstellungsmerkmal zwischen den positivistischen Naturwissenschaften und der spekulativen Philosophie zufalle, das von allgemeiner, alle Wissenschaften betreffender Bedeutung sei: Buckles Versuch, „eine Wissenschaftslehre der Geschichte zu begründen“, sei gescheitert, weil er die Aufgabe, die er sich gestellt habe, „nicht so gefaßt“ habe, „wie nötig war, um sie weiterzuführen, daß er weder ihren Umfang noch ihr Gewicht gewürdigt“ habe – „eine Aufgabe, die (...) außer der besonderen Bedeutung für unsere Studien noch eine andere, allgemeinere hat und eben darum die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Welt zu beschäftigen beginnt“. 115
Für Droysen war diese spezifische Aufgabe der Geschichtswissenschaft „dazu angetan, der Mittelpunkt der großen Diskussion zu werden, welche im Gesamtleben der Wissenschaften die nächste bedeutende Wendung bezeichnen wird. Denn die wachsende Entfremdung zwischen den exakten und spekulativen Disziplinen, den täglich weiter klaffenden Zwiespalt zwischen der materialistischen und supranaturalistischen Weltanschauung wird niemand für normal und wahr halten. Diese Gegensätze fordern einen Ausgleich, und jene Aufgabe scheint die Stelle zu sein, in der sie erarbeitet werden muß. Denn die ethische Welt, die Welt der Geschichte, die ihr Problem ist, nimmt an beiden Sphären Teil, sie zeigt in jedem Akt menschlichen Seins und Tuns, daß jener Gegensatz kein absoluter ist. Es ist das eigentümliche Charisma der so glücklich unvollkommenen Menschennatur, daß sie, geistig und leiblich zugleich, sich ethisch verhalten muß; es gibt nichts Menschliches, das nicht in diesem Zwiespalt stünde, in diesem Doppelleben lebte; in jedem Augenblick versöhnt sich jener Gegensatz, um sich wieder zu erneuern, erneut er sich, um sich wieder zu versöhnen. Die ethische, die geschichtliche Welt verstehen wollen, heißt vor allem erkennen, daß sie weder nur doketisch, noch nur Stoffwechsel ist. Auch wissenschaftlich jene falsche Alternative über-
113 Droysen, Historik, S. 16. 114 Vgl. die Rezension von Droysen zu Buckles Buch über die „Geschichte der Zivilisation in England“ unter dem Titel: „Die Erhebung der Geschichte zum Rang einer Wissenschaft“, in: Heinrich von Sybel (Hg.), Historische Zeitschrift, (IX), München 1863, auch als Beilage 1 zur Historik. 115 Droysen, Rezension, zit. aus Beilage 1 der Historik, S. 468.
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Klaus Ries winden, den Dualismus jener Methoden, jener Weltanschauungen, von denen jede die andere nur beherrschen oder negieren will, in derjenigen Methode versöhnen, die der ethischen, der geschichtlichen Welt entsprechend ist, sie zur Weltanschauung entwickeln, die in der Wahrheit des menschlichen Seins, im Kosmos der sittlichen Mächte ihre Basis hat - das, so dünkt mich, ist der Kern der Aufgabe, um deren Lösung es sich handelt“. 116
Droysen erblickte in der Geschichswissenschaft eine ausgleichende Macht, weil sie sich mit der ethischen Welt und den sittlichen Mächten befasste. Er war wohl einer der ersten, welcher der Geschichtswissenschaft eine neue bedeutende Aufgabe und gesellschaftliche Funktion zuwies, indem er sie als moderne Erfahrungswissenschaft verstand und zu begründen versuchte. 117 Welche methodologischen und erkenntnistheoretischen Schlüsse zog er daraus? Droysen wandte sich vehement gegen die objektivistische Geschichtsauffassung Rankes. Legendär ist seine abfällige Bemerkung, die er für diese Vorstellung von Geschichtsbetrachtung parat hatte: „Ich danke für diese Art von eunuchischer Objektivität, und wenn die historische Unparteilichkeit und Wahrheit in dieser Art von Betrachtung der Dinge besteht, so sind die besten Historiker die schlechtesten und die schlechtesten die besten“. 118
Droysen bezeichnete diese Form der Historie als im wörtlichen Sinne „unmenschlich“, weil sie nicht das Reflektionsniveau des Menschen widerspiegele, sondern sich noch auf der Stufe von Tieren befinde: „Das Tier mag vielleicht den Vorzug haben, nur objektiv wahrzunehmen, denn ihm fehlt die Fähigkeit, das Wahrgenommene zusammenzuschauen und aus der Richtigkeit zur Wahrheit zu erheben. Die menschliche Natur kann auch nicht das Geringste wahrnehmen, ohne es zusammefassend aus seiner Gedankenlosigkeit emporzuheben zu der Sphäre des menschlichen Gedankens“. 119
Für Droysen war geschichtliche Erkenntnis „nicht Abbildung geschehener Geschichte“, sondern „gedanklicher Entwurf“. 120 Das bedeutet nicht, dass Droysen sich gänzlich vom Objektivitätsideal verabschiedete, nur er verstand unter Objektivität etwas ganz anderes als Ranke oder Humboldt. 121 In der Nachfolge von Kant und Schiller rückte Droysen das erkennende Subjekt in den Mittelpunkt des Erkenntnisprozesses und entwickelte von hier aus seinen Objektivitätsbegriff. Während Ranke sein Selbst gleichsam auszuschalten wünschte, um die Dinge, d. h. die 116 117 118 119 120 121
Ebd., S. 468f. Vgl. Oexle, „Teil“, S. 233 mit dem frühen Verweis auf Pascal. Droysen, Historik, S. 236. Ebd., S. 218. Oexle, Geschichtswissenschaft, S. 31. Vgl. dagegen Barrelmeyer, Wirklichkeit, S. 81, der alle Objektivismen (auch den Droysenschen) unter dem Begriff des „metaphysischen Realismus“ zusammenfasst. Ähnlich argumentiert Nipperdey, Historismus, S. 71, der den Objektivitätsbegriff von Weber mit demjenigen von Ranke gleichsetzt, was nicht möglich ist, weil der webersche Objektivitätsbegriff kantianisch ist und von der relationalen Erkenntnis ausgeht, während der rankeanische Objektivitätsbegriff anti-aufklärerisch und anti-kantianisch ist, weil er unreflektiert eine Identität von erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt herzustellen wünscht.
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,mächtigen Kräfte‘, selbst sprechen zu lassen, unterzog Droysen das erkennende Individuum einer rationalen Reflektion nach allen Regeln der Kunst. Mit einem deutlichen Seitenhieb auf das sogenannte Erzählwerk Rankes führte Droysen aus: „Aber was ist es, dessen Werden, dessen Entwicklungen er [der Erzähler – KR] uns so vorfuhren will? Der Erzähler kann uns nicht alles und jedes erzählen wollen [...]. Nach welchem Kriterium wählt er aus, von welchem Gesichtspunkt aus relativ als Ganzes und in sich geschlossen stellen sich ihm die Dinge dar? Man sieht, von objektiver Vollständigkeit kann natürlich keine Rede sein, und ein Maß für das Wichtige oder Unwichtige in den Dingen selbst, ein objektives Kriterium gibt es nicht, die ganze Frage ruht auf dem Gedanken oder Gedankenkomplex, den der Erzähler darlegen will [...]. Diese erkannte historische Wahrheit ist freilich nur relativ die Wahrheit; es ist die Wahrheit, wie sie der Erzähler sieht, es ist die Wahrheit von seinem Standpunkt, seiner Einsicht, seiner Bildungsstufe aus; in einer verwandelten Zeit wird sie, kann sie anders erscheinen; man könnte sagen, jede Zeit hat von neuem die Gesamtheit der Geschichte durchzuarbeiten, zu begreifen. Und in diesem Begreifen der Vergangenheit wird sich zugleich die fortschreitende und fortgeschrittene Entwicklung jeglicher Gegenwart darstellen“. 122
Droysens Wissenschaftsbegriff ging von der relationalen Erkenntnis aus und genau darin sah er auch die Grenzen und Möglichkeiten der Objektivität, die sich immer nur in einer (im Weberschen Sinne) intersubjektiven Überprüfbarkeit niederschlagen könne. Droysen konzipierte Geschichtswissenschaft als Forschung und erblickte bereits (ebenfalls Weber avant la lettre) in dem Fortschreiten der Erkenntnis ins Indefinite das entscheidende wissenschaftskonstituierende Element: „Das historische Forschen setzt die Reflektion voraus, dass auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist“.123 Damit war eine doppelte Abgrenzung verbunden: Zum einen gegen die von der klassischen Aufklärungshistorie scharf gezogene Trennung von Erkenntnissubjekt und Untersuchungsobjekt (wie sie z. B. in der Lehre von den Sehepuncten von Chladenius zum Ausdruck kam) 124 und zum anderen gegen die von Ranke und Humboldt vollzogene Einheit von Subjekt und Objekt vermittels des Ahndungsvermögens und Einfühlens in den Gegenstand. Droysen hingegen sah ein prinzipielles Involviertsein des erkennenden Subjekts in den Gegenstand, indem er das eigene Ich historisierte und als Produkt vergangenen Geschehens ansah. 125 Damit hat er das Bewusstsein für eine der wichtigsten Erkenntnisse des Historismus geschaffen, „die Einsicht nämlich, daß alles, was ist, geschichtlich geworden und geschichtlich vermittelt ist“. 126 Allein schon von diesem kantianisch geprägten 122 Droysen, Historik, S. 230f. 123 Droysen, Historik, S. 106. 124 Vgl. Johann Martin Chladni (Chladenius), Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742. 125 Auch damit steht Droysen in der Nähe von M. Weber und dessen Konzeption einer methodologischen Trennung bei gleichzeitiger wertbezogener Verbindung von Wissenschaft und Leben. Vgl. Otto Gerhard Oexle, „Von Nietzsche zu Max Weber. Wertproblem und Objektivitätsforderungen der Wissenschaft im Zeichen des Historismus“, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, bes. S. 89ff. 126 Vgl. Oexle, Geschichtswissenschaft, S. 33.
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Grundgedanken her ist Droysen - und nicht Ranke, der sein Selbst ja am liebsten ausschalten wollte - der Gründervater des Historismus. Von daher ist auch der Verstehensbegriff Droysens ein gänzlich anderer als derjenige Rankes, der vom intuitiven einfühlenden Verstehen, d. h. von dem SichHineinversetzen in die Sache ausging. 127 Droysens Verstehensbegriff dagegen ist ein methodologisch kontrollierter und rationalisierter Begriff. Nicht von ungefähr sprach er vom ,forschenden Verstehen‘ und grenzte sich exakt in diesem Zusammenhang auch deutlich von Ranke und dessen sogenannter kritischer Schule (die eigentlich nur Quellenkritik betreibe) ab. Es lohnt sich, die Passage im Ganzen zu lesen: Nach Darlegung der morphologischen „Grundlage der geschichtlichen Methode“ gelangt Droysen zum „Inbegriff der historischen Methode“ und führt aus: „Wir haben den Mittelpunkt unserer Frage erreicht; wir dürfen jetzt sagen, das Wesen der geschichtlichen Methode ist forschend zu verstehen, ist die Interpretation. Hier ist der Punkt, an dem ich mit Bewußtsein scheide von der jetzt unter meinen Fachgenossen verbreiteten Methode; sie bezeichnen sie wohl als die kritische, während ich die Interpretation in den Vordergrund stelle. (...) Die Möglichkeit des Verstehens setzt voraus, daß sich in uns, den Betrachtenden, dieselben ethischen und intellektuellen Kategorien vorfinden, die in dem zu Verstehenden ihren Ausdruck haben; und nur soweit dieselben Kategorien hier sich geäußert haben, vermögen wir zu verstehen“. 128
Der Verstehensbegriff Droysens war gleichbedeutend mit Interpretation, er hielt die Trennung und Verbindung zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennendem Objekt aufrecht, weil der Charakter des Materials (im Unterschied zur Naturwissenschaft) ein morphologischer war, d. h. auf „die individuellen Formgebungen“ ausgerichtet, die sich wiederum in dem erkennenden Geist widerspiegelten. 129 Droysen ging es mit seinem Verstehen nicht simpel darum, sich soweit wie möglich in eine Sache einzufühlen und zu zeigen, ,wie es eigentlich gewesen‘, sondern „beim Begreifen von vergangenem Handeln (...) den Auslegungshorizont der Handelnden mit ins Begreifen einzubeziehen“. 130 Im Unterschied zum intuitiven Verstehensbegriff Rankes und Humboldts kreierte Droysen einen neuen, durch und durch rationalen und erkenntnistheoretisch hoch reflektierten Verstehensbegriff, der sowohl die sozio-kulturellen als auch die subjektiv-lebensweltlichen Bedingungen des verstehenden Individuums in den Verstehensprozess mit einschloss. Auch damit stand Droysen in der Tradition der Aufklärung, wenn er auch den rationalen Erklärungsbegriff der klassischen Aufklärung nicht übernahm, sondern vielmehr dessen dogmatische Grenzen erkannte und sich deswegen für den Verstehensbegriff entschied. Im Grunde dachte Schiller nicht anders, indem er sich kritisch mit dem Kausalitäts- und Systemdenken der Aufklärung auseinandersetzte und erste empirische Zweifel vortrug. Im Unterschied zu Schiller jedoch ging Droysen noch einen Schritt weiter und konzipierte Geschichte als 127 Vgl. dagegen Barrelmeyer, Wirklichkeit, S. 72, der auch bei Droysen ähnlich wie bei Ranke von der gleichen „Frage intuitiver Kompetenz“ ausgeht. 128 Droysen, Historik, S. 22. 129 Ebd., S. 20. 130 So Nipperdey, Historismus, S. 72, hinsichtlich der historistischen Verstehenslehre.
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Forschung, 131 weswegen er sich u. a. auch gegen Gervinus und dessen Ästhetisierungsabsicht, Geschichte als Poesie zu begreifen, wandte. 132 Es war tatsächlich eines der Hauptanliegen der Historik von Droysen, sich von der erzählerischen, einfühlenden Art und Weise der Geschichtsbetrachtung Rankes zu distanzieren und die Historie als Forschung zu konstituieren. Die „Geschichtserzählung“, so Droysen gegen Ranke, mag „von einem Anfangspunkt an den Verlauf der Dinge berichten, das Nacheinander des Werdens in der Darstellung imitierend“ – „die Forschung“ hingegen gehe genau „den entgegengesetzten Weg“; sie sei „sich bewußt, daß sie es mit einem Material zu tun hat, welches in der Gegenwart steht, und daß sie von diesem Punkt aus in die Vergangenheit zurückgeht; oder genauer zu sprechen, daß sie, diesen Punkt in der Gegenwart, dies Gewordene und Vorhandene analysierend und interpretierend, das Gedankenbild einer Vergangenheit zeichnet, die tot wäre und bliebe, wenn die Forschung nicht jenen Punkt gleichsam wieder erweckte und auseinanderlegte; wir dürfen sagen, das Wesen der Forschung ist, in dem Punkt der Gegenwart, den sie erfaßt, die erloschenen Züge, die latenten Spuren wieder aufleben, einen Lichtkegel in die Nacht der Vergessenheit rückwärts strahlen zu lassen“. 133
Aufs engste mit dem Forschungsanliegen verbunden, war der strikte Gegenwartsbezug, der ebenfalls eine aufklärerische Denkkategorie darstellt, gegen die Ranke sich bekanntlich mit seinem Diktum, ,jede Epoche sei unmittelbar zu Gott‘, vehement zur Wehr zu setzte. Allerdings gebrauchte Droysen seinen Gegenwartsbegriff wiederum nicht mehr in jenem dogmatischen Sinne wie die klassischen Aufklärer, die daraus zugleich auch ihr ,wissenschaftliches‘ Werturteil ableiteten. Droysens Gegenwartsverständnis besaß bereits etwas Wertneutrales, indem er die Gegenwart in den Fluss des vergangenen Geschehens einordnete und damit einmal mehr das moderne historistische Verständnis förderte: „Denn jeder Punkt in der Gegenwart, jede Sache und jede Person, ist ein historisches Ergebnis, enthält in sich eine Unendlichkeit von Bezügen, die in sie hinein versenkt und verinnerlicht worden sind“. 134
Die Gegenwart gerann ihm zum bloßen Produkt der Vergangenheit und wurde damit der ideologischen Besetztheit und Enge der klassischen Aufklärungshistorie entkleidet, ohne dass die prinzipielle Standortgebundenheit des Historikers in Frage gestellt wurde. Das dahinter aufscheinende Problem des Relativismus stellte für Droysen noch kein Problem dar. Es leitet sich vielmehr erst aus seiner Erkenntnis ab und wurde gegen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts (seit Nietz131 Vgl. dagegen Muhlack, Konzept, S. 27; der davon ausgeht, dass Schiller „ein völlig neues Wissenschaftsverständnis“ entwickelt und bereits „Wissenschaft als Forschung“ betrieben habe. 132 Die Belege der Historik gegen Gervinus sind bekannt, betreffen aber tatsächlich nur dessen Anliegen, Geschichte als „Kunst“ aufzufassen: vgl. dazu auch Daniel Fulda; Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin/New York 1996. 133 Ebd., S. 9. 134 Droysen, Historik, S. 10.
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sches Paukenschlag) mit aller Härte als das entscheidende Problem des Historismus diskutiert. Bei aller Kritik an einer teleologisch ausgerichteten Geschichtsschreibung oder Geschichtsphilosophie à la Hegel verfiel Droysen nicht in das Gegenteil, wie es Ranke mit seinem naiven Objektivitätsideal getan hat. Droysen wählte einen Mittelweg zwischen der klassischen, vernunft- und fortschrittsgeleiteten Aufklärungshistorie und der konservativen, antiaufklärerischen Geschichtstheologie Rankes – ein Weg, dessen Spuren wiederum in die Zeit der Spätaufklärung, die Zeit Schillers und Kants zurückreichen. Er hielt weiterhin am aufgeklärten Fortschritts- und Freiheitsgedanken fest, aber er setzte ihn nicht absolut, sondern band ihn in den geschichtlichen Prozess ein und relativierte ihn auf diese Weise. Droysen entwickelte seinen Fortschrittsgedanken erst relativ spät in der Historik zum ersten Mal bei der Darlegung der „Interpretation der Ideen“. 135 Seiner Meinung nach habe der Historiker aufzuweisen, „in welcher Richtung die Ideen fortschreitend geworden sind, daß wir so wenigstens die Richtung ihrer Bewegung, ihrer Entwicklung, ihres begrifflichen Werdens sicherstellen (...)“. 136
Droysens Fortschrittsbegriff war längst nicht mehr so optimistisch, ziel- und zweckgerichtet, wie dies noch bei den Aufklärungshistorikern um die Mitte des 18. Jahrhunderts der Fall gewesen war, sondern hatte etwas Wertneutrales und Undogmatisches. Für ihn stellte es kein Problem dar, „daß auch höchst unentwickelte Verhältnisse möglich seien“, die man als „Formungen“ und „Ausdrücke“ von „Ideen“ anerkennen müsse; denn er war weit entfernt, eine lineare Aufwärtsentwicklung zu zeichnen, für ihn ergab sich vielmehr „ein Netz, mit dem wir den unberechenbaren Kombinationen der geschichtlichen Welt gleichsam nachzukommen versuchen können“. 137 Droysen dachte gewiss in vielerlei Hinsicht noch hegelianisch (mit seiner Suche nach den sittlichen Mächten und ethischen Kräften in der Geschichte), aber Hegel war und blieb für ihn der Vollender einer falsch, weil zu einseitig und deterministisch (in Gesetzen und Notwendigkeiten) gedachten Fortschrittskategorie. Droysens Gewährsmann war in diesem Falle Montesquieu, und zwar derjenige Montesquieu, der bereits am aufklärerischen Ideal zu zweifeln begann, was er u. a. in der Einleitung zu seinem berühmten Esprit des lois zum Ausdruck brachte, aus der Droysen nicht von ungefähr in seiner Historik zitierte: „Tausendmal“ – so Droysen über Montesquieu – „habe er das Gewonnene den Winden wieder preisgegeben, die Wahrheit nur gefunden, um sie wieder zu verlieren“. 138 Diese skeptische Grundhaltung durchzog auch den droysenschen Fortschrittsbegriff. Geschichte war zweckgerichtet und offen zugleich, weil die Freiheit des Geistes diese prinzipielle Offenheit ermöglichte, ja geradezu erzwang. Droysen hielt (im Unterschied etwa zu dem relativ statischen Denken Rankes) 135 136 137 138
Droysen, Historik, S. 201ff. Ebd., S. 202. Ebd., S. 207. Droysen, Historik, S. 109.
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weiterhin am Fortschrittsgedanken und der Idee der Zweckgerichtetheit von Geschichte fest, die er vor allem in der Realisierung der modernen Freiheitsidee erblickte: „Und in der Geschichte der Zweck ist, daß das Ich der Menschheit, die Idee der Freiheit werde und sich erfasse“. 139 Diese „Überzeugung von einer höheren Zielsetzung“, die sich hauptsächlich im Freiheitsideal offenbarte, durchzog bekanntlich auch die historischen Werke Droysens. 140 Von daher stand Droysen auch hier in der Tradition der Aufklärung, wenngleich sein Fortschrittsbegriff kein teleologisch-hegelianischer war, sondern ganz abgeklärt eine „fortschreitende Bewegung in der Geschichte“ meinte. 141 Damit näherte er sich dem Fortschrittsbegriff von Ernst Troeltsch, der im Zusammenhang mit dem Historismusproblem ausdrücklich von einem „historische(n) Entwicklungsbegriff“ sprach, den er scharf von dem „geschichtsphilosophischen des Fortschrittes und dem naturwissenschaftlichen der Evolution“ schied. 142 Droysen dachte – wie gesehen – in vielerlei Hinsicht ‚morphologisch‘, d. h. in den Kategorien einer Goetheschen Beobachtungs- und Anschauungsmethode. 143 Vielleicht stellt diese Morphologie, die nicht von apriorischen Begriffen ausging und von Droysen als wissenschaftliche Grundlage alternativ zur Methode der Naturwissenschaft ins Spiel gebracht wurde, eine regulative Idee dar, d. h. den wertneutralen Kontrollpunkt einer zu wertbetonten Zweckgerichtetheit von Geschichte. Aber wir wissen insgesamt noch zu wenig über das morphologische Konzept Droysens, um es in seine Wissenschaftstheorie korrekt einordnen zu können. An den Kategorien Freiheit, Fortschritt und Vernunft wird deutlich, wie sehr Droysen noch von dem Denken der Aufklärung geprägt war, das er seiner Zeit anzupassen versuchte. Auch die Vernunft begriff er „geschichtlich“, indem sie sowohl in den sittlichen Mächten „real gegeben“ war als auch sich im „Akt der Reflektion“ niederschlug: „Die in diesem Akt der Reflektion sich konstituierende historische Erkenntnis ist selber ein Moment geschichtlicher Vernunft, holt sie doch die Vergangenheit als Bedingung gegenwärtigen Handelns in die vernunftgeleitete, theoretische Selbstbestimmung des Menschen ein“. 144
Auch das hier bereits grundgelegte Problem des Werturteils in der Historie bzw. überhaupt in den Sozialwissenschaften wurde zu einem Kernproblem der sogenannten Krise des Historismus um 1900. Droysens Historik enthielt tatsächlich bereits die wichtigsten Elemente der späteren Historismus-Debatte, aber eben nicht im Sinne Rankes, sondern weil sie die aufklärungskritischen Gedanken 139 Ebd., S. 385. 140 Vgl. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft, S. 137ff., zit. S. 139; vgl. dazu auch Rüsen, Geschichte, S. 74ff.; zum Freiheitsideal in der droysenschen Geschichte der Freiheitskriege vgl. Hans-Christof Kraus, „Die historische Entfaltung der Freiheit“, in: Klaus Ries (Hg.), Johann Gustav Droysen. Facetten eines Historikers, Stuttgart 2010, S. 79–98. 141 Droysen, Historik, S. 372. 142 Troeltsch, Historismus, S. 57. 143 Vgl. Droysen, Historik, S. 19ff. und S. 132. 144 Rüsen, Droysen, S. 128f.
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Kants und Schillers weiterführte und in ein Forschungskonzept für Geschichte transformierte. Hier liegen zugleich auch die wissenschaftstheoretischen Ansatzpunkte der Kontinuität einer ,langen Aufklärung‘. 145 IV. Schluss Vor allem die deutsche Historikerzunft sollte sich frei davon machen, den Historismus methodologisch mit dem Geschichtsdenken Rankes gleich zu setzen; denn am Ende bleibt dann nur ein Entweder-Oder: Entweder man entscheidet sich für Ranke und versucht mit allen nur möglichen Mitteln diese objektivistische Form des Denkens in die Moderne zu retten. Oder man ist gegen Ranke und meint dann auch gegen den Historismus überhaupt sein zu müssen. Beides führt vom Weg ab und kann das wirkliche Potential des Historismus nicht ausschöpfen. Wenn man jedoch den Historismus als ein Modernisierungsphänomen begreift, das seine epistemologischen Wurzeln in der Aufklärung hat, dann wird einem auch in wissenschaftstheoretischer Hinsicht die Vielschichtigkeit dieses Phänomens und seine enorme Aktualität bewusst. Friedrich Meinecke hat mit seiner Historismusdefinition von 1936 eine doppelte Reduktion vorgenommen, indem er nicht nur die umfassende geistes- und kulturgeschichtliche Bewegung auf eine bloße Idee reduzierte, sondern zudem noch die Idee selbst ganz einförmig auf den Objektivismus Goethes, Humboldts und Rankes reduzierte. Es ist an der Zeit, dass insbesondere die deutsche Historie sich aus diesem Denkschema befreit, um wieder erkenntnistheoretische Fragen diskutieren zu können, die derzeit nicht nur die Öffentlichkeit so brennend interessieren, sondern auch und vor allem für die Geschichtswissenschaft unabdingbar sind.
145 Vgl. zum Weiterwirken Droysenscher Gedanken bei Simmel und Weber: Barrelmeyer, Geschichtliche Wirklichkeit, passim.
JENSEITS DES HISTORISMUS Gelehrte Verfahren, politische Tendenzen und konfessionelle Muster in der Geschichtsschreibung des österreichischen Vormärz Franz Leander Fillafer Die Geschichte der habsburgischen Länder im Vormärz fristet ein Schattendasein. Mit Strukturen der Epoche hat sich die Forschung bisher kaum abgegeben, das Personal ist zumeist nur aus Fernsehschmonzetten bekannt: Lichtgestalten wie Erzherzog Johann übten vor Salzkammergutkulisse und bei ländlichen Rittermahlen Kritik am Metternich-Staat, die dann über geheime Kanäle verbreitet wurde. Ergänzt wird dieses Bild durch einige antichambrierende Romantiker im Gefolge der Revolution wie Adam Müller. 1 Was für Ideen- und Verwaltungsgeschichte gilt, trifft auch für das Profil der Wissenschaft und Gelehrsamkeit zu. Monographische Arbeiten über die Theologie, Rechtslehre und politische Ökonomie fehlen, und die Ausgangslage für die Geschichte der Geschichtsschreibung ist kaum einladender; 2 die einzige Ausnahme bildet hier der flamboyante kaiserliche Historiograph Joseph von Hormayr, 3 der 1828 in bayrische Dienste überging und eine recht giftige Einschätzung der Historiographie des Vormärz hinterließ. 1829 schrieb er aus München an den Gründer des Prager Vaterländischen Museums, Graf Kaspar Sternberg:
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Vgl. besonders Helmut J. Metzler-Andelberg, „Österreichs ‚schwarze Legende‘: Zur Kritik an der Habsburgermonarchie durch österreichische Zeitgenossen Erzherzog Johanns“, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs 16 (1963), S. 216–249. Überblicke bei Alphons Lhotsky, Geschichte der österreichischen Historiographie, Wien 1962, S. 124–156; František Kutnar/Jaroslav Marek, Přehledné dějiny českého a slovenského dějepisectví: Od počátku národní kultury až do sklonku třicátých let 20. století [Übersicht der Geschichte der tschechischen und slowakischen Geschichtsschreibung. Vom Anfang der nationalen Kultur bis zu den letzten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts], 2. Aufl., Praha 1997, S. 133–264; Petér Gunst, A magyar történetírás története [Geschichte der ungarischen Geschichtsschreibung], Budapest 1995; als hervorragender Problemaufriss Emil Niederhauser, “Problèmes de la conscience historique dans les mouvements de renaissance nationale en Europe orientale”, in: Acta historica 18 (1972), S. 39–73; weiterhin Franz Leander Fillafer, „Die Aufklärung und ihr Erbe in der Habsburgermonarchie. Ein Forschungsüberblick“, in: Zeitschrift für historische Forschung 32 (2013), S. 35–97. Zu ihm: Maria Paulina Prins, Joseph Freiherr von Hormayr. Van apostel der oostenrijksnationale gedachte tot pionier der Duitse eenheid, Assen 1938.
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Franz Leander Fillafer „Nur die Materie und das Material sind erlaubt, alles Urteil, alle wahre, fortschreitende Entwicklung des Geistes ist verpönt – eigentliche Geschichte, Philosophie, Theologie sind Contrebande, außer im Kleid des krassesten Ultraismus. Man hat gar keine Geschichte der Nationen, sondern nur eine durch Wien und Innsbruck, Prag und Ofen fortlaufende Geschichte der Dynastie, an welchen historischen Cichoriensurrogat statt des wahren Caffees die Jesuiten 4 uns gewöhnt haben“.
Bedingt durch die Dürftigkeit der Vorstudien ist es zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ein Gesamtbild der Geschichtsschreibung zu bieten. Im Folgenden wird daher ein knapper Überblick skizziert, der einige zentrale Motive und Themen heraushebt. Das mag auch deshalb von Interesse sein, weil es so gelingt abseits der ausgefahrenen Geleise von Aufklärungshistorie und Historismus 5 mit einem neuen Versuchsaufbau und kaum bearbeitetem Quellenbestand alternative Wege der Geschichtsschreibung in das 19. Jahrhundert aufzuzeigen. So lässt sich Hormayrs Verdikt von 1829 relativieren und es können Strukturen und Entwicklungslinien rekonstruiert werden, die es gestatten, die Anfänge der institutionalisierten „österreichischen Geschichtsforschung“ in den 1850er Jahren in ein neues Licht zu rücken. I. Wissenschaftsgeschichtliche Grundlagen Bei der Beschäftigung mit der Geschichtsforschung und -schreibung in den habsburgischen Ländern des Vormärz gilt es drei ineinandergreifende Problemfelder berücksichtigen: Erstens sind hier die Prozesse der Historisierung, Rekonfessionalisierung und Nationalisierung von Denkfiguren bemerkenswert, die für die Koselleck’sche „Sattelzeit“ im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert prägend wurden. 6 Zweitens gilt es auf die Ausdifferenzierung von Wissensfeldern aufmerksam zu machen. Neben der häufig diskutierten Parzellierung von Deutungsmilieus und Fachmethoden 7 ist hier auf ein mit dieser Ausdifferenzierung verzahntes und für 4 5 6
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Zit. nach Eduard Winter, Frühliberalismus in der Donaumonarchie, Berlin 1968, S. 114. Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1972. Reinhart Koselleck, „Geschichte“, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, (II), Stuttgart 1975, S. 593–718, bes. S. 647–658. Zur Kritik an Kosellecks kategorialer Apparatur, die sich aus Residuen idealistischer Philosophie und älterer germanistischer Wissenschaftsgeschichte speist und transnumeralen Kollektivsingularen wie „der Geschichte“ eine spezifische sattelzeitliche „Schubkraft“ zuweist, vgl. Jan Marco Sawilla, „Geschichte und Geschichten zwischen Providenz und Machbarkeit: Überlegungen zu Reinhart Kosellecks Semantik historischer Zeiten“, in: Hans Joas/Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 387–422. Vgl. Rudolf Stichweh, Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland, 1740–1890, Frankfurt am Main 1984.
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unser Thema zentrales Problem hinzuweisen: Auf die Vielfalt von Varianten der Aufklärung des 18. Jahrhunderts 8 und auf das Aufbrechen und Umschmelzen dieser Struktur nach 1800. Wie diese Vielfalt sich im Disziplinenraster nach 1800 abbildete, wie sie im Fächersystem aufgefangen und in den Binnengeschichten der sich etablierenden neuen Wissenschaftszweige sortiert wurde, 9 ist für den wissenschaftlichen Status und die Zielvorgaben der vormärzlichen Historiographie höchst relevant. Dabei zeigt sich im frühen 19. Jahrhundert einerseits ein wachsender Historisierungsdruck, unter dem Erklärungsstrategien und Heuristiken je nach Exponiertheitsgrad im Sinne ihres holistischen Deutungsanspruchs zu stehen begannen, andererseits ein scharfes Problembewusstsein für die trügerische formale Identität der erkenntnislogischen Strukturen und Methoden in verschiedenen Anwendungsbereichen, deren Objektivitätsparameter und Gegenstände spezifischer Rationalität sich unterschieden. Hier lassen sich die Übergänge der Aufklärung vom Geschehen zur Geschichte, die selektiven Anamnesen und polemischen Rückübertragungen sorgfältig lokalisieren, wenn man eine neue Perspektive einnimmt: In beiden Vorgängen, der Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Felder und dem Umbruch, der die Aufklärung erfasste, wirkte sich die sattelzeitliche Historisierung aus. Die Historisierung fungierte an einem Punkt als Scharnier zwischen beiden Prozessen, wenn es nämlich um die nach 1800 virulent werdende Relationsbestimmung zwischen der spezifischen Geschichte der Aufklärung im jeweiligen Fach und der Geschichte der Aufklärung überhaupt ging. Hier zeigt sich eine Auffächerung von verschiedenen Disziplinengeschichten, 10 die aufeinander über ein Verweissystem der Entstehungsherde, der Ausstrahlung und des Übergreifens von Methoden Bezug nahmen. Die asymmetrische Entwicklung und die fachübergreifende Ausbreitungschancen von Methodenensembles, wie etwa des naturrechtlichen, vertrags-
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Über Einheit und Vielfalt der Aufklärung schwelt seit einigen Jahren eine Debatte. John Pocock vertritt hier im Gefolge Arnaldo Momiglianos und Giorgio Tonellis die Konzeption pluraler Aufklärungen, während John Robertson die grundlegende Einheit der Aufklärung primär anhand von Quellen zur politischen Ökonomie in Schottland und Neapel verteidigt; vgl. John G. A. Pocock, “Enlightenment and Counter-Enlightenment, Revolution and Counter-Revolution: A Eurosceptical Enquiry”, in: History of Political Thought 20 (1999), S. 125– 39; ders., “Konzervatív felvilágosodás és demokratikus forradalmak: Amerika és Franciaország esete brit perspektívából” [Konservative Aufklärung und demokratische Revolutionen: Die Beispiele Amerika und Frankreich in britischer Perspektive], in: Ferenc Horkay Hörcher (Hg.), A koramodern politikai eszmetörténet cambridge-i látképe: John Dunn, John G. A. Pocock, Quentin Skinner és Richard Tuck tanulmányai, Pécs 1997, S. 223–242; John Robertson, The Case for the Enlightenment: Scotland and Naples 1680–1760, Cambridge 2005. 9 Vgl. dazu Franz Leander Fillafer, Escaping the Enlightenment. Liberal Thought and the Legacies of the Eighteenth Century in the Habsburg Monarchy. 1790–1848, Diss. (Universität Konstanz), Konstanz 2012. 10 Skizze bei Alois Kernbauer, „Die Historiographiegeschichte der Humanwissenschaften“ in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, 6 Bde. IV: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 263–305.
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theoretischen Argumentationsstils oder des Sensualismus, wurden eifrig diskutiert. Der Zusammenhang zwischen Historisierung und Ausdifferenzierung des Fächerspektrums bezeichnet ein weiteres Problem. Die antispekulativen Zielvorgaben der Geschichtlichkeit und die „Positivität“, der identitären Integration, die nach der Revolution die Gelehrtenwelt zu prägen begannen, wurden gleichzeitig in verschiedenen Sektoren als spezifisches Merkmal des jeweiligen Fachs verstanden und verteidigt. 11 So ergab sich das Problem der Parallelführung historischer Methoden in verschiedenen Fächern, die nicht notwendigerweise miteinander interagierten, ja im Spitzenfeld der im Vormärz geförderten „positiven“ Methoden um die Vorreiterschaft wetteiferten, was zwischen Theologie, Geschichtswissenschaft und empirischer Naturwissenschaft zu Deutungskämpfen und Überbietungswettbewerben führte. 12 In den langwierigen Debatten über die Errichtung einer Akademie der Wissenschaften für das Kaisertum Österreich ebenso wie über die Reform des Unterrichtswesens in der Studienhofkommission zeichneten sich diese Konkurrenzverhältnisse und Ausschließungsstrategien seit den 1830er Jahren eindeutig ab. 13 Für die Entwicklung der Geschichtsforschung und -schreibung 11 Zwei vormärzliche Konfliktkonstellationen seien hier erwähnt: Erstens sei als Beispiel innerfachlicher, in diesem Fall innertheologischer Konflikte auf die Auseinandersetzung zwischen dem Geschlossenheits- und Ganzheitsangebot der romantischen Kunstreligion und der moraltheologisch-sensualistischen Dietätik des „ganzen Menschen“ sowie auf die Historisierung der Romantik ab den 1820er Jahren hingewiesen; zweitens, als Beleg für zwischen entstehenden disziplinären Bereichen ausgetragene Konflikte, auf das wechselvolle Verhältnis zwischen philologischer Bibelhermeneutik und naturgeschichtlicher historischer Geographie Nordafrikas und des nahen Orients, vgl. Anm. 107 unten. 12 Vgl. weiterhin das Werk des Hohenfurter Zisterziensers, Theologen und Historikers an der Universität Prag, Max Millauer, Entwurf einer Geschichte des Studiums der Pastoraltheologie an der kais. kön. Karl-Ferdinand'schen Prager Universität, Prag 21832, S. 7 und 87 u. ö.; die Schrift Cassian Hallaschkas, Physiker an der Universität Prag, später infulierter Probst von Altwasser und Vorstand des philosophischen Referats der Studienhofkommission, Versuch einer geschichtlichen Darstellung und Beschreibung des Zustandes der Experimental-Physik an der Prager Universität, Prag 1818, mit handschriftlichen Notizen Hallaschkas, vermutlich für eine nicht zustandegekommene Neuauflage, Zámecká knihovna Mikulov, Mikulov, Sig. 963; weiterhin Joseph Scheiner: „Zur biblischen Wahrheit. Bauten die Egyptier auch mit Ziegeln? Eine archäologische Skizze zur Beleuchtung der historischen Wahrheit von Exodus I.V. mit Berücksichtigung eines Ausfalls von Prof. von Bohlen gegen die Authentie des Pentateuchs“, in: Neue Theologische Zeitschrift 9/1 (1836), S. 314–331; [Anonym:] „Über das Salzfeuer bei Markus IX:49, πᾶς γὰρ πυρὶ ἁλισθήσεται“, in: Quartalschrift für katholische Geistliche, als Fortsetzung theologisch-praktischen Linzermonathschrift, 2/1 (1813), S. 65–80. 13 Siehe etwa den Beitrag des Wiener spekulativen Theologen Anton Günther, „Ueber die Akademie der Wissenschaften ohne Geschichte und Philosophie“, in: Augsburger Allgemeine Zeitung, 1838, Nr. 365 Beilage 696–697, 2781–2783; und die Replik des Astronomen Joseph Johann Littrow, „Ueber Philosophen ohne Philosophie“, Augsburger Allgemeine Zeitung 1839, Nr. 48, Beilage 366; A[nton] von Schrötter-Castelli, „Bericht über die Leistungen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und die in derselben seit 30. Mai 1871 stattgefundenen Veränderungen“, in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 22 (1872), S.
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im Vormärz war diese Situation, die Dominanz historischen Argumentierens in verschiedenen Gegenstandsbereichen und fachlichen Sektoren, von elementarer Bedeutung. Drittens schließlich spielt für die Erforschung der Historiographie in den habsburgischen Ländern das Verhältnis zwischen Aufklärungshistorie und Historismus eine bedeutende Rolle. Seit den 70er Jahren, als die Aufklärungshistorie als Prestigeressource in das Repertoire der Bielefelder „historischen Sozialwissenschaft“ eingespeist wurde, galt der Historismus bei „kritischen“ Fachleuten als methodisch und politisch bedenkliches Projekt, das im nationalistischen Sendungsbewusstsein gipfelte und sich in das Eskalationsmuster des deutschen „Sonderwegs“ einfügte. 14 Damit wurde Friedrich Meineckes scharfe Zäsur zwischen Aufklärung und Historismus strukturell beibehalten, aber intentional umgewertet: Jetzt mangelte es der Aufklärungshistorie nicht mehr an „eigentlichem historischen Sinn“, 15 wie Meinecke behauptet hatte, sie galt nunmehr als Vorbild für eine kosmopolitische, sozialgeschichtlich fundierte Wissenschaft, die mit der Geschichte der großen Männer und hohen Politik brach und beherzt die Schlacken des schöngeistigen Stils abtrug. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich abseits der Bielefelder Ahnenpflege eine erfrischend undogmatische Diskussion entwickelt, die eine neue Sicht auf Poetik und gelehrte Praxis der Geschichtsforschung und schreibung in dieser „Schwellenzeit“ eröffnet. 16 Die Relevanz dieser Problembereiche für die Entwicklung in den habsburgischen Ländern zwischen 1790 und 1850 ist kaum zu überschätzen. Daraus ergeben sich vier Fragen: Gab es in den habsburgischen Ländern eine Aufklärungshistorie? Gab es einen geschichtswissenschaftlichen Historismus? Welche Rolle spielten konfessionell geprägte Muster gelehrter Verfahren und konfessionell gefärbte Geschichten der Methode und Gelehrsamkeit? Wie kann man diese gelehr-
99–144 und S. 103. Vgl. den Entwurf für die Reform des philosophischen Studiums von 1837, Vortrag der Studienhofkommission über die Revision des Studienplans von 1824 vom 10. September 1837, samt kaiserlicher Bewilligung vom 13. März 1838, ÖStA, AVA, Studienhofkommission 150 2 A. 14 Vgl. Horst Walter Blanke, Historiographiegeschichte als Historik, Stuttgart/Bad Canstatt 1991, S. 318, Anm. 973; Otto Gerhard Oexle, „Einmal Göttingen – Bielefeld einfach. Auch eine Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft“, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 54–66; Horst Walter Blanke/Jörn Rüsen (Hg.), Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens, Paderborn 1984; sowie Peter H. Reill, „Aufklärung und Historismus. Bruch oder Kontinuität?“, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln 1996, S. 69–97. 15 Friedrich Meinecke, „[Rezension von] Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932“, Historische Zeitschrift 149 (1934), S. 582–586; ders., „Aphorismen und Skizzen zur Geschichte“ (1936/1942), in: ders., Zur Theorie und Philosophie der Geschichte (Werke, IV) hg. von Eberhard Kessel, Stuttgart 1959, S. 215–263 und S. 242. 16 Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin 1996; jüngst Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft. Johann Christoph Gatterer und die Historiographie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart/Bad Canstatt 2012.
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tengeschichtlichen Parameter mit der Entwicklung politischer Präferenzen verbinden – wie also lässt sich die Entwicklung von der Spätaufklärung in zwei Richtungen, jene der gesamtstaatsorientierten Historiographie und jener der nationalen Geschichtsschreibungen erklären, wie lässt sich erfassen, auf welche Weise der Landespatriotismus zwischen diesen beiden Alternativen zerrieben wurde? Diesen Fragen gehen die folgenden Überlegungen nach. Der nächste Abschnitt rekonstruiert das Verhältnis von Aufklärungshistorie und Historismus und fragt nach den Bedingungen für die Rezeption des Historismus in den habsburgischen Ländern. Darauf folgt ein Unterkapitel, das die Beziehung zwischen aufgeklärtem Gelehrtenpatriotismus und nationalliberaler Geschichtsschreibung beleuchtet, woran sich ein Abschnitt zu den konfessionellen Mustern und zur Historisierung gelehrter Verfahren anschließt. II. Aufklärungshistorie und Historismus Die Aufklärungshistorie strebte nach Systematizität und Präzision, so suchte sie von der bloßen singularium rerum cognitio zu „fasslicher“ und „gewisser“ Evidenz, zur Wissenschaftlichkeit historischen Erklärens zu gelangen. Johann Christoph Gatterers Bestimmung geschichtsmächtig werdender Klimaquartiere, seine synchronistischen Tabellen und sein Linnaeismus graphicus, mittels dessen er die Diplomatik weltgeschichtlich nach Formvarianzen der Buchstabenschrift mit Majuskeln und Serifen gattungstypisch in ein Linnésches System ordnete und den Schriftbildwandel in kolorierte Sequenzen gliederte, 17 zielten auf eine Entdeckung der Regelhaftigkeit eines natürlichen und globalen Geschichtsprozesses. Das Material aus Gatterers Datenkabinetten floss in Diagramme und Bildtafeln ein. Gatterers jüngerer Göttinger Kollege August Ludwig Schlözer umriss scharf den Übergang der Geschichte vom bloßen „Aggregat“ angehäufter Merkwürdigkeiten zum universalhistorischen „System“. 18 Die Göttinger Spätaufklärer desavouierten das Erzählen, die Erzählung sei für „Fabeln“ und „Romane“ tauglich, eigne sich aber nicht für die Geschichtsschreibung. Johann Gottfried Herder dagegen rehabilitierte die Erzählung als Medium, das die Geschehenskohärenz der historischen Darstellung verbürge, als eine konstitutive Form, die über ein affektives, auf das Seelenvermögen wirkendes Modell
17 Johann Christoph Gatterer, „Vorrede von der Evidenz der Geschichtskunde“, in: Die Allgemeine Welthistorie die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten angefertigt worden. In einem vollständigen und pragmatischen Auszuge, hg. von Friedrich Eberhard Boysen, Alte Historie (I), Halle 1767, S. 10–12; Martin Gierl, Geschichte als präzisierte Wissenschaft, S. 45–180 und S. 181–278 18 August Ludwig Schlözer, Vorstellung seiner UniversalHistorie (1772/1773). Mit Beilagen, hg., eingel. u. komm. v. Horst Walter Blanke, in: Horst Walter Blanke/Dirk Fleischer (Hg.), Theoretiker der deutschen Aufklärungshistorie, Teilband 1–2, Stuttgart/Band Canstatt 1990 (II), S. 670.
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den Leser berührt und anspricht. 19 Während die Göttinger Aufklärer versuchten, aus ihren Repräsentationsformaten die Objektivation des beobachteten und verifizierbaren historischen Prozesses zu entwickeln, setzte die Ästhetisierung der Geschichtserkenntnis auf die schöpferische-erzählerische Verbindung des Materials zu einem großen Text oder „großen Gemählde“. 20 Das ästhetische Programm, das Friedrich Schiller in seinem Abfall der spanischen Niederlande ausführte, suggerierte eine Form der darstellerischen Gesetzmäßigkeit, die dem Material nicht „aufgedrungen“ 21 sein dürfe, sondern sich dem Stoff sujetadäquat anähnelte. 22 Aus dieser Maxime ergab sich eine Redimensionierung der Erkenntnisinteressen, das universal- und weltgeschichtliche Projekte ausschloss 23 und das Materialspektrum verengte, indem die kulturgeschichtlichen Interessen der Spätaufklärer marginalisiert wurden. 24 Die Geschichte entwickelte sich vom heterodiegetischen Datanarrangement zum nullfokalisierten Gesamtbild. Keimhafte Vorläufer und vorausdeutende Einschübe wurden in dieser Form der evidentia in narratione25 für die Entfaltung des Erzählflusses entscheidend. Das Symbol vermittelte zwischen Ausdruck und Wesen, das Besondere verwies synekdochisch auf das Ganze und Allgemeine. 26 19 Vgl. Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 191–227; Hinrich C. Seeba, „Geschichte als Dichtung. Herders Beitrag zur Ästhetisierung der Geschichtsschreibung“, in: Storia della Storiografia 8 (1985), S. 50–73. 20 Ute Daniel, „‚Ein einziges großes Gemählde.‘ Die Erfindung des historischen Genres um 1800“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 3–20. 21 Friedrich Schiller, „Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen“, in: ders., Werke. Nationalausgabe, begründet von Julius Petersen, fortgef. von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hg. von Norbert Oellers, (XXI), Weimar 1963, S. 13–14., zit. nach Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 242; vgl. weiterhin Stephan Jaeger, Performative Geschichtsschreibung: Forster, Herder, Schiller, Archenholz und die Brüder Schlegel, Berlin 2011, S. 181–262; Thomas Prüfer, Die Bildung der Geschichte. Friedrich Schiller und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft, Köln 2002. 22 Vgl. Johannes Süßmann, Geschichtsschreibung oder Roman? Zur Konstitutionslogik von Geschichtserzählungen zwischen Schiller und Ranke (1780–1824), Stuttgart 2000, S. 75–112 und S. 199–256; weiterhin Leopold Ranke, „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“, in: ders., Sämtliche Werke, hg. von Paul Joachimsen, (VI), München 1926, S. 361. 23 Vgl. Franz Leander Fillafer/Jürgen Osterhammel, “Cosmopolitanism and the German Enlightenment”, in: Helmut Walser Smith (Hg.), The Oxford Handbook of Modern German History, Oxford 2011, S. 119–143. 24 Hans Schleier, Geschichte der deutschen Kulturgeschichtsschreibung, I: Vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhundert, Waltrop 2003. 25 Quntilians Übersetzung der ἐνάργεια, Inst. Orat. (IV), S. 2 und 63. 26 Dietrich Harth, „Biographie als Weltgeschichte. Die theoretische und ästhetische Konstruktion der historischen Handlung in Droysens Alexander und Rankes Wallenstein“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 54 (1980), S. 58–104; Peter H. Reill, „Das Problem des Allgemeinen und des Besonderen im geschichtlichen Denken und in den historiographischen Darstellungen des späten 18. Jahrhunderts“, in: Karl Acham/ Winfried Schulze (Hg.), Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, 6 Bde. (VI), München 1990, S. 141–168; Bengt Algot Sørensen (Hg.), Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1972.
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Die Geschichtsschreibung des Historismus war erzählerisch anspruchsvoll, integrativ und ganzheitsorientiert. 27 Sie erstrebte, wie Barthold G. Niebuhr in seiner vernichtenden Rezension von Arnold H. L. Heerens Ideen über die Politik, den Handel und den Verkehr der vornehmsten Völker der alten Welt schrieb, das Aufweisen „innerer Evidenz“ gegen die „Quellengläubigkeit“ 28 der Aufklärungshistorie. Hier galt die Arbeitsweise der Spätaufklärer, ihre Technik der Autopsie (αὐτοψία) 29 eben als rein philologisch. Niebuhr fand Heerens Kollation der überlieferten Versionen von Schriften des Pompeius Trogus, Ammianus Marcellinus und Strabo unbefriedigend, weil sie die Quellen nicht auf die Interessengebundenheit ihrer Entstehung befragte, also nicht korrekt kontextualisierte. Die historistische Quellenkritik sollte, wie der Ranke-Schüler Floto bemerkte, nicht „zersetzen“, sie begriff sich als „etwas unmittelbares Schaffendes“, eine Kraft, die den „Leib der Zeit” vor Augen stelle. 30 Diese Modelle der Apodeixis und Ekphrasis (ἀπόδειξις, ἔκ-φρασις,) liefen aber keineswegs auf eine naive Haltung des „ut pictura poesis“ 31 hinaus. Um 1800 wurde die Rolle der Phantasie bei der historiographischen Verbindung und Ergänzung „zerstükkelter“ Daten eifrig diskutiert. Dabei wurde die Aufklärungshistorie auch als pragmatische Annalistik angegriffen, 32 vor allem aber – gemäß den ästhetischen Vorgaben – als Ausdruck eines techni27 Vgl. Gerrith Walther, „Der ‚gedrungene‘ Stil. Zum Wandel der historiographischen Sprache zwischen Aufklärung und Historismus“, in: Oexle/Rüsen (Hg.): Historismus in den Kulturwissenschaften, S. 99–116. 28 Barthold G. Niebuhr, „[Rezension von] A. L. H. Heeren, Ideen über die Politik, den Verkehr und den Handel der vornehmsten Völker der alten Welt, (III), Göttingen 1812“, in: Allgemeine Literatur-Zeitung 1813, Ergänzungsblätter, Sp. 49–80 und Sp. 62, zit. nach Horst Walter Blanke, „Verfassungen, die nicht rechtlich, aber wirklich sind. A. H. L. Heeren und das Ende der Aufklärungshistorie“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 6 (1983), S. 143–164 und S. 154. Dazu die Bemerkung des Historikers und Augustinerchorherrn von St. Florian Franz Kurz: „Unterscheidet man aber das innere Wesen der Kunst [Kriegskunst, Malerei, Bildhauerei, FLF] von dem historischen Theile derselben, so kann es dem Geschichtsschreiber nicht für eitle Anmaßung angerechnet werden, wenn er […] das rein Geschichtliche derselben aus Urkunden und Chroniken sammelt um seinen Lesern sagen zu können: So ist es einstens gewesen.“; Franz Kurz, Oesterreichs Militärverfassung in älteren Zeiten, Linz 1825, S. 371. 29 Franz Kurz, Österreich unter Herzog Rudolph IV., Linz 1821, S. 24; vgl. Franz Korger, „Franz Kurz. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschösterreichischen Historiographie am Beginne des 19. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereines 82 (1928), S. 177–242 und S. 190. 30 Hartwig Floto, Ueber historische Kritik, Basel 1856, S. 9, zit. nach Johan D. Braw, “Original Knowledge and True Enlightenment: Ranke’s Kritik in Historical Context”, in: Historein 10 (2010), S. 28–37 und S. 34. 31 N. László Szelestei, Irodalom- és tudományszervezési törekvések a 18. századi Magyarországon 1690–1790 [Literatur- und wissenschaftsorganisatorische Anstrengungen im Ungarn des 18. Jahrhunderts], Budapest 1989, S. 43–56. 32 Ludwig Häusser, „Die historische Literatur und das deutsche Publicum“ (1841), in: ders.: Gesammelte Schriften, (I), Berlin 1869, S. 3–17 und 7; Günther List, „Historische Theorie und nationale Geschichte zwischen Frühliberalismus und Reichsgründung“, in: Bernd Faulenbach (Hg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland: Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, München 1974, S. 35–53.
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schen Symmetriezwangs, das System als „Schönfärberei“ und gewaltsam an den Stoff herangetragene Konstruktion stipulativer Verbindungen kritisiert. 33 Die frühen Historisten gingen also bei den Autoren der Weimarer Klassik in die Schule. 34 In den österreichischen Ländern hatte die Rezeption der antiken Klassik wie der Weimarer Klassiker eine eigene Färbung. 35 Der Ästhetiker und Musikkritiker Eduard Hanslick beklagte in seinen Memoiren, dass man im Vormärz „von dem eigentlichen Wesen des Griechentums, vom hellenischen Geist und seiner in unsere Klassiker herüberleuchtenden ästhetischen Kraft“ 36 nichts erfahren habe. Heute wird dank einiger hervorragender Studien die ideengeschichtliche Vielgestaltigkeit der Literaturästhetik des Vormärz, wie auch der Goetheund Schillerrezeption vor 1848 sichtbar: Das lange vorherrschende Klischee der intellektuellen Abschottung und barock-josephinischen „Ordo“ ist höchst revisionsbedürftig. 37 Dennoch behält die Betonung einer spezifischen Entwicklung in den habsburgischen Ländern für den hier relevanten Zusammenhang ihre Gültigkeit: Das Bildungssystem der Monarchie bot nicht die Voraussetzungen für eine durch die Weimar Klassik vermittelte ästhetische Aufladung der Geschichtsschreibung, ebenso wenig für die „Bildungsreligion“ des Humboldt’schen Neuhumanismus. 38 33 Stefan Jordan, Geschichtstheorie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Schwellenzeit zwischen Pragmatismus und klassischem Historismus, Frankfurt a. M. 1999, S. 107. 34 Fulda, Wissenschaft aus Kunst, S. 296–331. 35 Walter Dietl, Die Literatur des österreichischen Biedermeiers und die Antike, Dissertation Universität Innsbruck, 1954, S. 69–77; Tomáš Hlobil, “Pražské přednášky z estetiky a poetiky Augusta Gottlieba Meißnera podle Johanna Joachima Eschenburga (S přihlédnutím k výuce estetiky na univerzitách ve Vídni a Freiburgu)” [August Gottlieb Meißners Vorlesungen über Ästhetik und Poetik nach J. J. Eschenburg (in Hinblick auf die Ästhetiklehre in Wien und Freiburg)], in: Estetika 40 (2004), S. 131–148; Karl Jax, „Geschichte der humanistischen Studien an der Universität Innsbruck“, in: Festschrift zu Ehren von Hofrat Prof. Dr. Otto Stolz, Innsbruck 1951, S. 385–406, hier: S. 393–396; Michael Maria Rabenlechner, „Hamerling als Schottengymnasiast“, in: Festgabe zum 100jährigen Jubiläum des Schottengymnasiums, Wien 1907, S. 242–260. 36 Eduard Hanslick, Aus meinem Leben, (I), Berlin 1894, S. 17; weiterhin Wilhelm Hartel, Bonitz und sein Wirken in Österreich. Vortrag gehalten in der Sitzung der „Mittelschule“ vom 15. December 1888, Linz 1889, S. 9. 37 Herbert Seidler, Österreichischer Vormärz und Goethezeit. Geschichte einer literarischen Auseinandersetzung, Wien 1982; Michael Kohlhäufl, Poetisches Vaterland. Dichtung und Politik im Freundeskreis Franz Schuberts, Kassel 1999; Primus-Heinz Kucher, Ungleichzeitige/Verspätete Moderne. Prosaformen in der österreichischen Literatur, 1830–1880, Tübingen 2002; zuletzt Christoph Fackelmann, „Annäherungen an Goethe in Melk, Pilsen und Brünn. Thesen zum literarästhetischen ‚Sonderweg’ Österreichs im 19. Jahrhundert“, in: ders. (Hg.), Literatur, Geschichte, Österreich: Probleme, Perspektiven und Bausteine einer österreichischen Literaturgeschichte, Wien 2011, S. 333–377. 38 Vgl. Wilhelm von Humboldt, „Über das Studium des Althertums und des griechischen insbesondere“ (1793), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Albert Leitzmann, 15 Bde., Berlin 1903–1918, (I), S. 255–281; „Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers“ (1821), in: ders., Gesammelte Schriften, (IV), S. 35–56; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte, I: Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 440–442.
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Die offiziöse Goetherezeption bevorzugte den olympischen Klassiker mit seinen „erhöhten und geläuterten Ansichten“. 39 Der Lateinunterricht dominierte die höheren Anstalten, die „Philologisierung“ des Lehrkörpers der überwiegend von gelehrten Mönchen betreuten Gymnasien unterblieb bis 1848, 40 gleichfalls die Gründung altphilologischer und germanistischer Seminare, vom recht dürftigen Griechischunterricht konnten Schüler dispensiert werden. Die Ausrichtung des Unterrichts war logisch-rhetorisch, 41 die praktizierte Methode war auf ein regelhaft erfassbares Vergleichsraster von Wirkungsintentionen gerichtet und fungierte als Bollwerk gegen die Ästhetik der Werkautonomie. 42 Die nach Gattungsregeln erfolgende Untersuchung von Texten nach Merkmalstypen der inventio und dispositio verfuhr anwendungsneutral, unterschied also nicht nach Sprachen und war ahistorisch. Obwohl Schiller sogar mit einem Auszug aus seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges in die für den Gymnasialunterricht vorgeschriebene Sammlung deutscher Beyspiele zur Bildung des Styls aufgenommen wurde, 43 änderten sich die Maximen und Methoden der Geschichtsforschung und -schreibung in den habsburgischen Ländern nicht einschneidend. Die Desavouierung der Aufklärungshistorie 44 fand in den habsburgischen Ländern nicht statt. Muster und Stoff 39 Ernst von Feuchtersleben, „Joh. Mayerhofer“, in: Johann Mayerhofer, Gedichte, Wien 1843, S. 1–26 und 7; ders., „Goethe und Schiller“, in: Feuchterslebens ausgewählte Werke, hg. v. Richard Guttmann, Leipzig 1907, S. 329–336; August Sauer, Goethe und Österreich: Briefe und Erläuterungen, 2 Bde., Weimar 1902–1904, (I), S. 213–214; Silvester Lechner, Gelehrte Kritik und Restauration: Metternichs Wissenschafts- und Pressepolitik und die Wiener ‚Jahrbücher der Literatur’ (1818–1849), Tübingen 1977, S. 310; Heinrich von Srbik, Metternich, der Staatsmann und der Mensch, 2 Bde., München 1925, (I), S. 276–278 und S. 496. 40 Georg Jäger, „Zur literarischen Gymnasialbildung in Österreich von der Aufklärung bis zum Vormärz“, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur. Eine Dokumentation ihrer literarhistorischen Entwicklung: Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1830), Graz 1979, S. 85–118. 41 Jäger, „Zur literarischen Gymnasialbildung“, S. 99; Rainer Klassen, Logik und Rhetorik in der frühen deutschen Aufklärung, München 1974; Kurt Adel, „Die Anfänge der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung“, in: Österreich in Geschichte und Literatur 13 (1969), S. 352–364. 42 Wolfgang Neuber, „Zur Dichtungstheorie der österreichischen Restaurion. Die ‚Institutio ad Eloquentiam’“, in: Herbert Zeman (Hg.), Die österreichische Literatur: Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, S. 32–53. 43 Sammlung deutscher Beyspiele zur Bildung des Styls, (I), Wien 1812, S. 258. 44 Joseph von Hormayrs Abkanzelung der Aufklärungshistorie wurde von seinen Korrespondenzpartnern nicht kommentiert; vgl. Lajos Vajk (Hg.), Hormayr és Böttiger. Levelek a bécsi szellemi élet történetéhez [Hormayr und Böttiger. Briefe zur Geschichte des Wiener Geisteslebens], Budapest 1942, S. 78, 98 und S. 113; “Vzájemná korespondence J. Dobrovského a J. v. Hormayra” [Die gegenseitige Korrespondenz Josef Dobrovskýs und Josef v. Hormayrs], hg. u. eingel. v. Miroslav Krbec und Zdeněk Simeček, in: Acta Universitatis Palackianae Olomucensis Facultas Paedagogica, Philologica III (1985), Český Jazyk a Literatura 5, S. 103–273, 201 und S. 232; zu Hormayrs politischen Aspirationen vgl. seinen Brief an Caroline Pichler vom 8. Juli 1814, in dem es heißt, die Freiheitsbestrebungen würden mitreißen, „wie ein muthwilliges Mädchen einen alten Perückenstock zum Walzen“ verleite: „Norwegen, die
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spätaufklärerischer Geschichtsschreibung, einschließlich der starken kulturhistorischen Akzente, blieben in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert populär. 45 In den Bildungsinstitutionen war die Geschichte als selbständiges Fach seit der Konfrontation zwischen Gottfried van Swieten und Karl Anton von Martini unter Leopold II. schwach verankert. 46 Im Gymnasialunterricht wurde der Geschichte kein Raum gegeben, an den Universitäten war die Welt- und Universalgeschichte, die gemeinsam mit der österreichischen „Staatengeschichte“ über drei, später nur zwei Jahrgänge gelehrt wurde, Bestandteil des Philosophicums und ein knapp gehaltenes propädeutisches Obligatfach für die Juristen. Dieses Defizit wurde in den 1840er Jahren von der Studienhofkommission als Problem im Sinne rivalisierender Ansprüche der „Nationalerziehung“ auf der Grundlage „vaterländischer Geschichte“ erkannt, denen die Bürger der Monarchie zusehends ausgesetzt waren. Über die Diagnose kam man aber nicht hinaus. 47 Cortes, Siziliens Konstitution, der preußische Landtag, überall das Erwachen repräsentativer Ideen wirkt unausbleiblich auch auf uns, wird bey der Individualität sovieler Tongebender, einen contre-coup geben, welcher der bürgerlichen Freyheit, der Geistesentwicklung, den Wissenschaften, der Censur etc. nichts weniger als günstig seyn [kann] [...] Denken Sie was in den so sehr vergrößerten, so genannten Jakobinerzeiten nicht Alles bedenklich und gefährlich war?“, zit. nach Helmut Reinalter/Barbara Gant/Dušan Uhlíř (Hg.), Joseph Freiherr von Hormayr zu Hortenburg. Politisch-historische Schriften, Briefe und Akten, Frankfurt a. M. 2003, S. 243, (am 28. Oktober 1818, ebenfalls an Pichler, Tochter des Dienstadeligen Hofrat von Greiner, über den „expansiven Ehrgeiz der noblesse de robe!“, ebda. S. 289). Dabei war Hormayr bei aller Faszination für das Rittertum und die ständische Repräsentation kein Sympathisant der politischen Spätromantik; vgl. seinen Brief an Hofkanzler Saurau vom 4. Februar 1829, in dem er von den verstorbenen Adam Müller und Friedrich Schlegel als „zwey Stangenpferde[n] des Fremden Hypokriten- und Absolutentrosses […] die der Tod plötzlich niedergerissen hat […]“ spricht; „Drei Briefe des Freih. Hormayr an den Grafen Franz von Saurau“, in: Steiermärkische Geschichtsblätter 5 (1884), S. 116–118, hier: S. 117. 45 Frank Hadler, “Počátky moravské historiografie” [Die Anfänge der mährischen Historiographie], in: Časopis Matice moravské 106 (1987), S. 228–239; Franz Krones, Handbuch der Geschichte Österreichs von der ältesten bis zur neuesten Zeit, mit besonderer Rücksicht auf die Länder-, Völker- und Kulturgeschichte, (I), Graz 1875, S. 43; István Vásáry, “Östörténet és nemzeti tudat a reformkorban“ [Frühgeschichte und nationale Identität während des Reformzeitalters], in: Irodalomtörténeti Közlemények 84 (1980), S. 15–25. 46 Vgl. Ernst Wangermann, „Das Bildungsideal Gottfried van Swietens“, in: Erna Lesky/Adam Wandruszka (Hg.), Gerard van Swieten und seine Zeit, Wien 1973, S. 175–181, hier: S. 179– 180. 47 Vgl. Anna Matiasek, Die Entwicklung des Geschichtsunterrichts an der Universität Wien vom Zeitalter des Humanismus bis 1848, Dissertation Universität Wien 1934; zu den Beratungen der Studienhofkommission über die Unzulänglichkeiten des Gegenstandes „österreichische Staatengeschichte“, in: Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv Studienhofkommission, 2 A Phil.: Zl 2099/1836; sowie Herbert Egglmaier, „Geschichte – ein Mittel staatsbürgerlicher Erziehung? Österreichische Geschichte und Landesgeschichte als Unterrichtsgegenstand an den habsburgischen Universitäten im Bildungswesen um die Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Herwig Ebner/Walter Höflechner/Otmar Pickl u. a. (Hg.), Forschungen zur Landes- und Kirchengeschichte. Festschrift für Helmut J. Mezler-Andelberg zum 65. Geburtstag, Graz 1988, S. 161–172, hier: S. 171. Hier das Zitat aus dem „Entwurf einer Einrichtung des philosophischen Studiums an den inlaendischen Lehranstalten“ aus dem
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Eigentliche Forschung wurde an den kaiserlichen Sammlungen, dem Hausarchiv, dem Kunst- und Naturalienkabinett sowie der Ambraser Wunderkammer getrieben. Daneben bestand eine ausgeprägte Tradition der Historiographie gelehrter Kleriker 48 und der monastischer Geschichtsschreibung, die sich seit der Editionstätigkeit der Mauriner und Bollandisten fortsetzte und bis 1848 etwa in Kremsmünster, Göttweig, St. Florian und Admont nicht abbrechen sollte. 49 Mit diesen skizzenhaften Strichen ist das Profil der Geschichtsschreibung im Vormärz freilich noch nicht vollständig umrissen. Es ist bekannt, dass sich zur gleichen Zeit nationalgeschichtliche Projekte in den Ländern der Monarchie bildeten, nationalliberale Historiographien entstanden. Obwohl es über die Verfasser dieser Werke wie František Palacký und Mihály Horváth recht ausführliche Darstellungen gibt, 50 liegen Voraussetzungen und Alternativen noch im Dunkeln. Dazu hat auch beigetragen, dass die Protagonisten der „nationalen Wiedergeburt“ sich mit Vorliebe auf die gelehrten Patrioten der Spätaufklärung beriefen. 51 So entstand die Stringenzillusion einer bruchlosen Kontinuität zwischen Spätaufklärung und der liberal geprägten Nationalhistoriographie, die einer genaueren Überprüfung nicht standhält. Im folgenden dritten Teil des Aufsatzes soll diese Beziehung von spätaufklärerischem Gelehrtenpatriotismus und nationalliberaler Historiographie dargestellt werden. III. Aufgeklärter Gelehrtenpatriotismus und Nationalgeschichtsschreibung Die Charmeoffensive der nationalliberalen Protagonisten des „Erwachens“ beruhte auf einer Sekundärausbeutung der Spätaufklärung. Ihr Wasser wurde auf die Mühlen der „Wiedergeburt“ gelenkt. Mit diesem Kult um die gelehrten Patrioten
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Jahr 1846: „[D]ie aus den philosophischen Studien tretenden Schüler [zeigen] gegenwärtig eine Erstaunen erregende Unkenntnis in diesen Dingen [im historischen Fach, FLF]“!, daher „müßte die Bildung des oesterreichischen Bürgers in eine sehr nachtheilige Stellung gegenüber jener der kultivierten Nachbarvölker kommen, bei denen überall das Studium der vaterländischen Geschichte im Interesse der Nationalerziehung weit voran gestellt wird.“. Vgl. György Hölvényi, “A magyar jezsuita történetírók és a jezsuita rend” [Die ungarischen Jesuitenhistoriker und der Jesuitenorden], in: Magyar Könyvszemle 90 (1974), S. 232–248. So wurde etwa für das Stift St. Florian durch ein Hofkanzleidekret (1799) und einen Regierungserlass (1811) die Pflege der Kirchengeschichte, der Diplomatik und Numismatik angeordnet; vgl. Engelbert Mühlbacher, Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Innsbruck 1905, S. 94. Vgl. die meisterliche Darstellung von Jiří Koralka, František Palacký (1798–1876): Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat, Wien 2007; Sándor Márki, Mihály Horváth, 1809–1878, Budapest 1917. Daniela Tinková, “Mezi psem a vlkem: Osvícenské příšeří v české historiografii” [Zwischen Hund und Wolf: Die Düsternis der Aufklärung in der tschechischen Geschichtsschreibung], in: Daniela Tinková/Jaroslav Lorman (Hg.), Post tenebras spero lucem: Duchovní tvář ceského a moravského osvícenství, Praha 2009, S. 14–29.
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wurden wichtige Divergenzen und Verlagerungen ausgeblendet, die es hier in groben Zügen typologisch zu rekonstruieren gilt. Damit soll nicht eine scharfe Zäsur postuliert werden, und es muss auch nicht der gemeinhin überschätzte Einfluss Herders beschworen werden, um den „historischen Sinn“ und die plötzliche Betonung der welthistorischen Rolle der Slawen in der Monarchie zu erklären. 52 Es geht vielmehr darum zu zeigen, wie mit den offenen Konzepten der Spätaufklärer gearbeitet wurde, während sich ein Verständnis der Aufklärung als vergangene Epoche herausbildete, und damit das Klischee der reibungslosen Stabübergabe zwischen den Generationen im Geist der „Wiedergeburt“ zu relativieren. Die Historiographie der Spätaufklärung demokratisierte die Geschichte, indem sie kulturgeschichtliche Stoffe von der Urnenbestattung bis zu den Essgewohnheiten, von der Glasbläserei bis zum Schicksal der Unziale im Kanzleistil integrierte; 53 diesen Akzent behielten die nationalliberalen Historiker bei, schufen jedoch ein neuartiges narrativ integriertes Genre vernakularer Geschichten in Werken, die nicht mehr auf Latein oder Deutsch, sondern auf Ungarisch oder Tschechisch verfasst waren. Diese Umstellung führte zunächst dazu, dass sich das Lesepublikum unter den „gebildeten Ständen“ eher verringerte als erhöhte. Obwohl die vormärzlichen Historiker, die im Zeichen der Nation schrieben, sich an die „staatsfernen“ Quellen der Aufklärer hielten, an Monumente, Artefakte und literarische Textsorten, veränderten sie den Modus der Rekonstruktion der
52 Holm Sundhaußen, Der Einfluß der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, München 1978; dazu den verdienstvollen Beitrag von Zdeněk V. David, Johann Gottfried Herder and the Czech National Awakening. A Reassessment, Pittsburgh 2007. 53 Vgl. August Ludwig Schlözer: „Die Gänge der Verbindung unter den Völkern suchte sonst der Weltgeschichtsforscher bloß auf Heerstraßen, wo Konqueranten und Armeen unter Paukenschall marschierten, nun sucht er sie auf Nebenwegen, wo unbemerkt Kaufleute, Apostel und Reisende schleichen. Rauschend trug Alexander die Kenntnisse und Laster Griechenlands an den Oxus und Indus hin; still stahl sich der Koch Kadmus aus Sidon nach Boötien, und brachte die Schreibkunst mit; in lautem Triumph verpflanzte Lucull Kirschen aus dem Pontus nach Italien. [...] Confutsee und Anakreon, Daniel und Tarquin der Ältere, der Mongol’sche Timur und die Scandische Margarethe hängen zusammen, den sie lebten zu gleicher Zeit, wußten aber nichts von einander“; Schlözer, Vorstellung seiner UniversalHistorie, 2 Bde., Göttingen 1772, (II), S. 221, zit. nach Julius Franz Schneller, Der Mensch und die Geschichte: Philosophisch und kritisch bearbeitet, (I), [Allgemeine Taschenbibliothek der menschlichen Kulturgeschichte 7], Dresden 1828, S. 18; „Der Historiker dringe unter das Strohdach des Landmanns ein, er folge ihm am Pfluge und bei seinen Kindern, um den Stand seiner Glückseligkeit zu begreifen“; Hannoversches Magazin, Juli 1787, S. 776; „Der Historiker schrecke nicht vor dem einfachen Menschen mit seinem alltäglichen Vergnügen und Verrichtungen zurück. Er muß sich in der Börse und im Kaffeehaus unter die Leute mischen, muß Zutritt zum Teetisch und zum Herdfeuer erhalten. Er scheue nicht die Niederungen des Elends!“; Mihály Horváth, “Gondolatok a történetírás teóriájából” [Gedanken über die Theorie der Geschichte], 1839, in: ders., Polgárosodás, Liberalizmus, Függetlenségi harc, hg. v. Lajos Pál, Budapest 1986, S. 18–21 hier S. 21; ders., “Az országtani teóriák eredete, kifejlése s gyakorlati befolyása az újabb Európában, Heeren után” [Ursprünge, Entwicklung und Einfluss von Staatstheorien im modernen Europa, nach Heeren], 1842, ebenda, S. 64–103.
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Vergangenheit: Während die Aufklärer von der Wandelbarkeit bürgerlicher Sitten ausgingen, die über Sprache, Handel, Künste und Philosophie erschließbar waren und der Inkommensurabilität und epochenübergreifenden Identität eines „Nationalgeists“ skeptisch gegenüberstanden, schritten die nationalliberalen Geschichtsschreiber zur Parzellierung der bürgerlichen Gesellschaft entlang sprachlicher Grenzen mit einer nationalisierten Rollendistribution, die neue Forschungsfragen und Friktionen, etwa im Bereich der Geschichte des Rechts und des Rechtstransfers, mit sich brachte: Die mittelalterlichen städtischen Institutionen etwa, die von den vormärzlichen Liberalen als Laboratorien des Gemeinsinns geschätzt wurden provozierten, zumal angesichts der „deutschen“ Kolonisierung, Konflikte über den nationalen Ursprung der Stadtrechte. 54 Diese Rechtsstudien wurden mit einer neuen Methode betrieben, die von grammatikalischen Spekulationen über Sprachfiliationen der romantischen „Schwertschlukker“ und „Seiltänzer“ geprägt war, was den Spott der Spätaufklärer herausforderte. 55 54 Josef Jireček (Hg.), M. Pavel Krystyan z Koldína. Práva městská Království českého a Markrabství moravského spolu s krátkou jich summou [Die alten Stadtrechte des Königreichs Böhmen und der Markgrafschaft Mähren nach P. Krystan v. Koldín], Praha 1876 [1579]; vgl. auch den Entwurf Bríkcí von Liczkos aus dem Jahr 1534, den die Städte nicht akzeptierten; Hermenegild Jireček/Josef Jireček (Hg.), Práva městská Mistra Brikcího z Licka [Das Stadtrecht Bríkcí v. Liczkos], Praha 1880 und Antonín Haas, “Omezení odúmrti a vdovská třetina v starém českém městském právu” [Die Begrenzung des Heimfallsrecht und des Witwendrittels im altböhmischen Stadtrecht], in: Právněhistorické studie 17 (1973), S. 199–216. Emil Franz Rößler erklärte: „Doch ist immerhin auch unser Statuarrecht auf das Brikcische und Koldinsche Stadtrecht von besonderem Einflusse gewesen“; Rößler: Deutsche Rechtsdenkmäler aus Böhmen und Mähren; I: Das altprager Stadtrecht aus dem 14. Jahrhunderte, Prag 1845, S. xiii–xiv, Anm. 2; betreffend die Eigentums- und Vermögensrecht, Erbenhaftung für Erblasserschulden, Volleist, Hollung usw.; „Wenn man die dem römischen Rechte nachgebildeten Eingänge, die darin aufgenommenen Parömien scheidet, so bleibt der Text unseres Stadtrechtes als die eigentliche Quelle, besonders hinsichtlich der wichtigen Lehren über die Vormundschaften, über Testamente, dann die einzelnen policeylichen Anordnungen erkennbar.“, ibid., S. xiv–xv, Anm. 2; weiterhin ebenda, S. xxvii; Pavel Stranský hatte in seiner Respublica Bojema a M. Paulo Stransky Z. descripta, recognita et aucta, Leyden 1643, S. 154–158 und S. 444–446, über Koldín und Bríkcí geschrieben, sie hätten das Eindringen des Magdeburger Rechts verhindert; siehe Dorota Leśniewska, Kolonizacja niemiecka i na prawie niemieckim w średniowiecznych Czechach i na Morawach w świetle historiografii [Die deutsche Kolonisation und das deutsche Recht im mittelalterlichen Böhmen und Mähren im Lichte der Geschichtsforschung], Poznán 2004, S. 13–34. Vgl. weiterehin József Eötvös, Magyarország 1514-ben [Ungarn im Jahr 1514], 2 Bde., Budapest 1847, (I), S. 26. 55 Joseph Dobrovský: „[Rezension von] Paul Joseph Šafařík, Geschichte der slawischen Sprache und Literatur nach allen Mundarten“, in: Jahrbücher der Literatur 37 (1827), S. 1–27 und S. 6: „‚Nichts ist dem Slawen fremder als Schimpf und Spott über andere Nationen; seine Sprache hat nicht einmal Wörter und Ausdrücke, um lieblos und höhnisch über anderer Völker Namen, Tracht, Sitten und Gebräuchen ein Gespötte zu treiben‘ – Im Gegentheile steht der Slawe, wie jeder andere Mensch, unter dem Naturgesetz der Reaktion [...] Nur steigende Kultur kann hier die schroffen Gegensätze mildern und dem Menschen neben und trotz dem Landsmanne sein Recht verschaffen.“; Bartholomäus Kopitar an Václav Hanka, 3. Juli 1819: “quare exspectemus dum cum imperatore redierit Fridr. Schlegel, unicus noster Indus; nimis enim periculosum est divinando tentare rem arbitrariam, quin totum scribendi systema no-
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Eine ähnliche Konstellation zeigt sich auch in der Geschichtsschreibung über die Gegenreformation. Obwohl Aufklärer und Liberale des späteren Vormärz in der Ablehnung des religiösen Fanatismus übereinstimmten, gab es zwei wichtige Differenzen: Erstens nahmen die Aufklärer die blutrünstigen Hussiten von dieser Kritik keineswegs aus, 56 zweitens führten sie die Exzesse der Rekatholisierung auf die zeitgenössische „Gemühtsbeschaffenheit“, auf zeitgebundene Werte und Weltanschauungen zurück, was in den 1830er Jahren bereits als Verharmlosung der gegenreformatorischen Gräuel galt. 57 Ähnliche Divergenzen zeigen sich auch was das Mittelalterbild anbelangt: Sahen die Spätaufklärer das Mittelalter als rohe und finstere Epoche, 58 so identifizierten die Nationalliberalen hier trotz aller Beschränkungen nationale Dynastien, die den späteren Entwicklungen vorzuziehen waren, und konstruierten einen autochthonen Übergang in die Neuzeit, der etwa im Falle Böhmens durch das Hussitentum, das die Erfolge der Reformation vorwegnahm, eingeleitet wurde und im goldenen Zeitalter des Renaissancenhumanismus gipfelte. So entstand im Vormärz eine alternative Deutung der Geschichte, die nicht bloß ein Gegengewicht zur Legitimationsstrategie des aufgeklärten Absolutismus, dem verordneten Fortschritt der unter dem habsburgischen Zepter vereinten Länder, schuf, sondern auch zwischen der gegenreformatorischen Politik von Hof und Episkopat und der zentralistischen Staatsverdichtung des 18. Jahrhunderts eine brisante Kontinuität aufweisen konnte. Dass das ein neuralgischer Punkt war, zeigte sich spätestens an den Spannungen über die Konstruktionsfehler der während des Neoabsolutismus verfassten Gesamtstaatsgeschichten, besonders in der Darstellung der josephinischen Reformen: 59 Der beanstandete
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ris.”, in: Vatroslav Jagić, Novyja pisma Dobrovskago, Kopitara i drugich jugozapadnych Slavjan [Neue Briefe von Dobrovský, Kopitar, und anderen Süd- und Westslawen], [Istočniki dlja istorii slavjanskoj filologii II], St Petersburg 1897, S. 32; Pavel Jozef Šafařík, Slovanksé starožitnosti [Slawische Altertümer], 2 Bde., Praha 1837; Paul Karel, Pavel Josef Šafařík a Bartoloměj Kopitar. Literárně historický příspěvek k charakteristice obou učencu [P. J. Šafařík und B. Kopitar. Literaturhistorischer Beitrag zur Charakteristik der beiden Gelehrten], Praha 1938, S. 56 und 71. Josef Taborský, Reformní Katolík Josef Dobrovský [Der Reformkatholik Josef Dobrovský], Brno 2007, S. 131. Ignaz von Cornova, Paul Stransky´s Staat von Böhmen, 5 Bde., Prag 1792–1797, (II), S. 86– 88 (Ferdinand II.). Vgl. etwa Franz Kurz an Joseph von Hammer, 15. August 1819: „Daß das Mittelalter unserer Aufmerksamkeit verdiene, leugnet niemand, denn unser Zustand ging ja aus demselben hervor. Die Deutschtümlichkeit hat aber wirklich schon angefangen, mit dem Lobe und der Bewunderung des Mittelalters einen großen Unfug zu treiben, welchem Einhalt zu tun hohe Zeit ist. Sie, ein Kenner und würdiger, keineswegs prosaischer Beurteiler ritterlicher Zeiten, bahnen mir eiskaltem Geschichtsforscher den Weg, daß ich es getrost wieder einmal wagen darf, aus historischen Daten die schulgerechte Folgerung zu ziehen: Während des Mittelalters lag die geistige Kultur der Menschen noch in der Wiege, und freuen müssen wir uns, daß diese rohe Zeit vorübergegangen ist.“, Steiermärkisches Landesarchiv, Graz, Depot Schloß Hainfeld, Sig. **424.28. Beispielsweise in der Debatte über W. W. Tomeks Darstellung der josephinischen Reformen, Johann Ptaschnik, „[Rezension von] W. W. Tomek, “Děje mocnářstwí rakauského”“, Praha
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oder wünschenswerte Rückgriff des neoabsolutistischen Regimes auf Josephs Methoden obrigkeitlicher Zwangsbeglückung 60 wurde in Rezensionen und Entgegnungen zu Geschichten des Gesamtstaats implizit debattiert. In den Jahrzehnten zwischen 1780 und 1850 veränderte sich nicht nur die Beschaffenheit der „Nation“, von der die Historiker handelten, auch der räumliche Radius des „Landes“, die Gewichtung der territorialen Haupt- und Nebenschauplätze des Geschehens wandelte sich. Die Untersuchungseinheit der Spätaufklärer war ihr Land oder Königreich mit seinen vorgelagerten Pufferzonen und Glacis, historische Werke über nichthabsburgische Länder waren relativ selten. 61 Es erschienen Geschichten des Gesamtstaats, der als „Erblandenation“ 62 als Resultat einer dynastisch-zentripetalen Verschmelzungs- und Verflechtungsgeschichte dargestellt wurde. Die nationalliberalen Historiker des späten Vormärz schrieben Geschichten ihrer Nation. Zu diesem Zweck griffen sie ein beliebtes Instrument der älteren Staatengeschichte auf, das im 18. Jahrhundert dazu gedient hatte, die Besitzansprüche der Dynastie zu legitimieren: die Geschichte der Nebenländer, die einst unter anderen Dynastien mit der Krone des jeweiligen Kernlandes vereint gewesen waren. Dieser Stoff wurde nun darstellungspragmatisch neu gefasst, indem man die vorhabsburgische Epoche der Nationalgeschichte hervorhob. Während sich also die Gelehrten des 18. Jahrhunderts stärker mit der territorialen Grenzbestimmung der Kronländer und mit ihrer Stellung in der binnenstaatlichen Architektur von Prärogativen befasst hatten, 63 wurden nun neue Akzente gesetzt:
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1852, in: Zeitschrift für österreichische Gymnasien 4 (1853), S. 655–661 und S. 659–660; zitiert Tomek: „‚Nur in den Ländern, wo die althergebrachte Abneigung gegen den gesetzlichen Zustand im allgemeinen (!) oder die Abneigung gegen die österreichische Herrschergewalt durch diese Einrichtungen sich von neuem entzündete, erhob sich jene Unzufriedenheit, u.s.w..‘ da doch der Hr. Verf. weiter oben demonstrirt hat: ,Bei der neuen Einrichtung der Schulen und Aemter nahm man eben so wenig Rücksicht auf die Nationalitäten im Staate, denn in beiden wurde fast ausschließlich die deutsche Sprache eingeführt [...]‘ und hieraus mußte eine Störung in Bezug der nationellen Entwickelung, des regelmäßigen Ganges bei Gerichten und anderen Aemtern hervorgehen.“ Dazu bemerkt Tomek in seiner Replik: „Was ich von der zu geringen Achtung der Nationalitäten unter Kaiser Joseph II. gesagt habe, ist auch von dem h. Ministerium aus didaktischen Gründen beanstaltet, und deshalb […] weggelassen worden.“; Wenzel Wladiwoj Tomek, „Über die Behandlung der oesterreichischen Gesammtgeschichte“, in: Zeitschrift für Oesterreichische Gymnasien 4 (1853), S. 824–833 und S. 830. Dass diese Assoziation nicht nur Teil der Imagepflege von Anhängern des Regimes war, zeigt etwa der Bericht des Preßburger Polizeidirektors Eduard Podolsky, der im Jahre 1853 in Bezug auf die Verwaltungsreformen in Ungarn und die neuen Beamten aus anderen Teilen der Monarchie notierte: „Die neuen Einrichtungen werden als Josefinische Projekte bezeichnet“, Bericht an das Gouvernement Ungarns, Preßburg 8 August 1853, Magyar Országos Lévéltar, Budapest D 44 334/1853. Ágnes Déak danke ich für diesen Hinweis. Vgl. aber Ämilian Petrasch, Gallia hodierna, sive historica relatio ..., Pragae 1774; ders., Reflexions sur la critique moderne, Prag 1776. Ingrid Klausbruckner, Die Literaturgeschichtsschreibung der Erblande-Nation Österreich von 1750 bis 1830, Dissertation, Universität Wien 1981. Constantin Franz F. A. v. Kauz: Pragmatische Geschichte des Markgrafthums Oesterreich vom Anfange des Landes bis zum angehenden Herzogthume: Zur Aufheiterung der deutschen
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Die Revindikation verlorener Territorien, die sich aus vorhabsburgischen Kronrechten ergab 64 untermauerte im frühen 19. Jahrhundert die dynastieunabhängige Identität des Landes. Die Verwirkung und Beschränkung von Landesrechten in den Jahren 1627 und 1687 wurden nun anhand von Archivalien überprüft und akribisch rekonstruiert. 65 Diese Studien waren der adeligen Opposition des späten Vormärz bekannt. Sie lieferten wichtiges Material für die Bemühungen, eine supranationale Plattform der antizentralistischen Ständeopposition zu schaffen 66 und boten die Grundlagen für das Ideal der Monarchie als Völkerfamilie, das diesen adeligen Kreisen vorschwebte. Versuche, diese Konzeption einzulösen, sollten aber nicht von den nationalliberalen Historikern kommen, sondern von jenen konservativen Patrioten, die nach 1848 dem Sieg über den revolutionären Radikalismus Priorität einräumten, ohne den – so ihre Überzeugung – jede echte Verwirklichung nationaler Ziele aussichtslos bleiben müsse. 67
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Reichsgeschichte, (I), Wien 1788, S. 274; weiterhin Stephanus Katona, Examen Vetustissimi Magnae Moraviae situ, Pestini, Budae Cassoviae 1786, S. 58; Stand der Forschung dokumentiert in Lubomír E. Havlík (Hg.), Magna Moraviae fontes historici, 4 Bde., Pragae 1966– 1977. Zur Diskussion den hervorragenden Überblick von Josef Macůrek, “České a uherské dějepisectví v počátcích českého a maďarskeho národního obrození: K otázce prvých zajmů J. Dobrovského o Uhry a Maďary” [Böhmische und ungarische Geschichtsschreibung in den Anfängen des tschechischen und magyarischen Erwachens: Zur Frage der Anfänge von Dobrovskýs Interesse an Ungarn und den Magyaren], in: Josef Dobrovský 1753–1953: Sborník studií k dvoustému výročí narození, Praha 1953, S. 473–506. Vgl. zum galizischen Beispiel Jan Surmans Beitrag im vorliegenden Band. Joseph von Hormayr an Josef Dobrovský, 22. April 1826: „Welche sind die Quellen nicht nur von Ferdinandeischer, sondern von nationaler und populärer Seite, wenn man die großen Bewegungen von 1619 und 1620 studiren will, die Häupter der Parteien, die Fensterabstürzung [...] die Praktiken der Jesuiten und die gewaltsamen Bekehrungen der Jesuiten, endlich das große Blutgericht und die vorzüglichsten Opfer deßselben?“, “Vzájemná korespondence J. Dobrovského a J. v. Hormayra”, S. 183–184; Viktor von Andrian-Werburg, „Tagebücher“ [Prag], 1. März 1847, Moravský zemský archiv v Brně, Rodinný archiv Belcrediů, H 2 Velkostatek Líšeň, Nr. 671–672, Karton 116; über Palacký, „Denkschrift über die Veränderungen der böhmischen Landesverfassung“ (1846), in: Palacký, Gedenkblätter. Auswahl von Denkschriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren. Als Beitrag zur Zeitgeschichte, Prag 1874, S. 135–144; zu Andrians Aktivitäten Ágnes Déak, “Együttműködés vagy konkurencia. Az alsó-ausztriaí, a csehországi és a magyarországi ellenzék összefogási kísérlete 1847–1848” [Zusammenarbeit oder Konkurrenz. Ein Versuch der Zusammenarbeit zwischen der niederösterreichischen, böhmischen und ungarischen Opposition, 1847–1848], in: Aetas 14 (1999), S. 43–61. Déak, “Együttműködés vagy konkurencia”; Kamil Krofta, “Snahy o společny sněm domu rakouského v letech 1526 až 1848” [Die Bemühungen um einen gemeinsamen Landtag des Hauses Österreich von 1526 bis 1848], in: ders., Byly jsme za Rakouska … Úvahy historické a politické, Praha 1936, S. 142–245; und Vilmos Heiszler, „Austroslawismus-Austrohungarismus. Die Aufnahme der tschechischen föderalistischen Vorstellungen in Pest 1860–1861“, in: Annales Universitatis Scientiarium Budapestensis de Rolando Eötvös Nominatae, Sectio historica 24 (1985), S. 23–48. Vácslav Vladivoj Tomek, “O synchronické methodě při dějepise rakouském” [Von der synchronischen Methode bei der Behandlung der österreichischen Geschichte], in: Časopis Českého museum 28 (1854), S. 375–406; Wenzel Wladiwoj Tomek, „Über die Behandlung
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Geschichten der Zeit bis 1526 (der Epoche „vor Bundesbeginn“) wurden populär. Im Vormärz fungierte die Nation mit ihren „Akzessorien“ 68 vor dem Regierungsantritt der Habsburger und nicht mehr die regierende Dynastie als Knotenpunkt der Erzählstränge, die Herrschaftsübernahme durch die Habsburger wurde mit Erklärungen rechtlicher Residuen, Garantien und Sonderrechte (etwa der Altranstädter Konvention im Falle Schlesiens) unterfangen. Alternative Ordnungssysteme und Konstellationen erlaubten es, die Eigenständigkeit zu belegen, sei es im Sinne der ungarischen respublica spiritualis und ihrer unveräußerlichen „commembra“ der Stephanskrone, 69 sei es mit anderen staatsrechtlichen Modellen: Parallel zur Herausentwicklung der habsburgischen Länder aus dem Heiligen Römischen Reich seit Josephs II. Kaiserpolitik erhielt etwa im Falle Böhmens der Status des Königreichs im Mittelalter und vor der Readmission der böhmischen Kurwürde 1708 70 neue Relevanz. Mit der „slawischen Wechselseitigkeit“ und der „slawischen Rechtsgeschichte“ nach Ignacy B. Rakowiecki und Wacław A. Maciejowski entstand zudem ein Programm, das es gestattete, die Parallelevolution einer sich verzweigenden Völkerfamilie nach einem inneren Entwicklungsgesetz als Palingenese zu rekonstruieren, ohne direkte Transfer- und Austauschbeziehungen nachweisen zu müssen. 71 In der Zeit, die zwischen der Regierung Josephs II. und der Revolution von 1848 lag, war viel vom „ursprünglichen“ Charakter der Nation, von ihrer Urfreiheit die Rede. Was verstand man darunter? Die Spätaufklärer arbeiteten mit einem Szenario ursprünglicher natürlicher Freiheit, mit taciteischen Topoi der Unverdorbenheit und Selbstbestimmung, während die nationalliberalen Historiker das
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der oesterreichischen Gesammtgeschichte“; vgl. Miloš Řezníks Beitrag im vorliegenden Band. Vgl. zum Konzept der “accessory rule” J. H. Elliott, “A Europe of Composite Monarchies”, in: Past and Present 137 (1992), S. 48–71. Lajos Thálloczy, “Pray György és a magyar korona melléktartományai” [György Pray und die Nebenländer der ungarischen Krone]; in: Századok 22 (1888), S. 523–532. István Kolos, “Gróf Mailáth János” [Graf Johann Mailáth], in: A budapesti király magyar Pázmány Péter tudományegyetem német intézetének irodalomtudományi évkönyve 5 (1939), S. 251–455, hier: S. 271; Stjepan Antoljak: “Jedan nepoznati akt o nacionalnom radu biskupa M. Vrhovca” [Eine unbekannte Episode aus dem nationalen Wirken Bischof M. Vrhovacs], in: Croatia sacra 7 (1937), S. 119–123 und S. 122; zum Vorschlag der Berücksichtigung aller einst zur böhmischen Krone gehörenden Nebenländer (Ober- und Niederlausitz, Luxemburg etc.), in Palackýs Entwürfen von 1825 und 1826 für eine Zeitschrift des vaterländischen Museums, vgl. Hugh Agnew: “Czechs, Germans, Bohemians? Images of Self and Other in Bohemia to 1848”, in: Nancy M. Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, New York 2003, S. 56–75, hier: S. 66; zur Kurstimme Franz Pelzel, Kurzgefaßte Geschichte der Böhmen von den ältesten bis auf die itzigen Zeiten, Prag 1774, S. 551; Cornova, Paul Stransky’s Staat von Böhmen, (V), S. 18; František M. Bartoš, “Osvícenská rozprava o poměru Čech k německé říši“ [Ein Traktat aus der Aufklärungszeit über Böhmens Beziehung zum Reich], Časopis Českého musea 91 (1917), S. 200–203. Hermenegild Jireček, “Palackého prace o dějinách právních” [Palackýs Arbeit über die Rechtsgeschichte], in: Památník na oslavu stých narozenin Františka Palackého, Praha 1898, S. 485–498.
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Naturzustandstheorem der Aufklärung, den savage noble, historisierten und lokalisierten, indem sie es in der Urgeschichte der jeweiligen Nation oder Völkerfamilie verankerten. Damit entstanden zeitliche Sedimentierungen, durch die diese ursprüngliche Freiheit, obwohl auf demselben Muster des Wahlkönigtums, der Volksversammlungen, des Gemeinbesitzes oder der allgemeinen Erwerbsfähigkeit und der Geschworenengerichtsbarkeit beruhend, beispielweise als „slawische“ oder „altgermanische“ Freiheit in einander ausschließende historische Epochen und nationale Entwicklungsreihen eingefügt wurde. Obwohl mehrere Historiker der Aufklärung überzeugt waren, dass die Slawen als freie, friedliebende und freigiebige Hirten gelebt hatten, 72 bestand keinerlei Einigkeit darüber worin diese Freiheit bestanden hatte, sei es in sippeneigenem Allmendenbesitz (leoðung, plegium liberale, soknastæmna) oder in der Gleichheit vor dem Gesetz, geschweige denn darüber, wann dieser Zustand ursprünglicher Freiheit zu Ende gegangen war. 73 František Palacký ging von der Existenz einer rein slawischen Bevölkerung in den böhmischen Ländern bis zum 12. Jahrhundert aus, er nahm daher eine Kontinuität unverfälschter, freier slawischer Sitten und Gebräuche an, die erst durch die deutsche Kolonisation des dreizehnten Jahrhunderts und die prophylaktische innere Feudalisierung durch Ottokar II. Přemysl ihr Ende gefunden habe. Die Institution der Leibeigenschaft war den alten Slawen laut Palacký fremd. 74 Viele Auf-
72 Franz Martin Pelzel, Kurzgefasste Geschichte von Böhmen, von den ältesten bis auf die itzigen Zeiten, 2 vols., Prague, 1774, (I), S. 19 und 28; Josef Haubelt, Dějepisectví Gelasia Dobnera [Die geschichtsschreibung des Gelasius Dobner], Prague 1979, S. 75–77; Eduard Maur, “Pojetí národa v české osvícenské historiografii: Ignác Cornova a František Martin Pelcl” [Der Begriff der Nation in der böhmischen Historiographie der Aufklärung: Ignác Cornova und František Martin Pelcl], in: Mezi časy ... Kultura a umění v Českých zemích kolem roku 1800. Sborník příspěvků z 19. ročníku sympozií k problematice 19. století. Plzěn, 4.-6. března 1999, Praha 2000, S. 134–146. 73 Josef Haubelt, “František Palacký a Gelasius Dobner” [František Palacký und Gelasius Dobner], Československý Časopis Historický 24 (1976), S. 885–915 und S. 913. 74 Die Leibeigenschaft beschränkte sich auf vom König Begnadigte, die zum Tode verurteilt worden waren, vgl. Wacław Aleksander Maciejowski, Historia prawodawstw słowiańskich, 4 Bde., Warszawa 1831–1838, (I), S. 146–147: „Zu verwundern ist es“, schrieb Palacký, „daß ein so verdienstvoller Schriftsteller wie G. W. v. Raumer (i. s. Werkchen ‚Die ältere Geschichte und Verfassung der Churmark Brandenburg‘, Zerbst 1830, S. 13) noch jetzt behaupten konnte, die Slawen hätten die Leibeigenschaft aus Asien (!) mitgebracht, ohne doch den geringsten Beweis dafür anzuführen.“; Franz Palacký, Geschichte von Böhmen, größten-theils nach Urkunden und Handschriften, (I), Prag 1836, S. 173. Palacký berief sich auch auf die Vita Sancti Adalberti, derzufolge der Heilige Leibeigene freikauft, was der These widersprach, es habe sich bei der Leibeigenschaft um eine nationale Institution gehandelt: „Wäre dieser Zustand einheimisch und längst eingewurzelt gewesen, so hätten diese hl. Männer nicht daran denken können, ihn durch Aufkaufen einzelner Leibeigener zu beseitigen, und den natürlichen Quell gleichsam auszuschöpfen.“; Geschichte von Böhmen, (I), S. 174; vgl. weiterhin Jaroslav Čechura, “Člověčenství”, in: Právněhistorické studie 33 (1993), S. 33–52; Pavel J. Šafařík, “O wzdání”, in: Časopis Českého Museum 18 (1844), S. 384–399 und S. 399.
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klärer hatten die Entstehung der Leibeigenschaft weit früher angesetzt und ausgeführt, dass sie nicht so haarscharf von den unverfälschten slawischen Anlagen zu trennen war, wie Palacký behauptete 75 – der friedliebende Charakter der Slawen war eher aus äußeren Umständen und Milieufaktoren zu erklären, als aus ihrer intrinsischen Natur. Die Ablehnung der feudalen Ordnung verband die Spätaufklärer mit den liberalen Auffassungen des Vormärz, aber neben den Friktionen über Existenz und Gehalt des „urslawischen“ Charakters vollzog sich nach 1800 eine weitere wichtige Verschiebung der historischen Einschätzung, die mit der Abkehr der Liberalen vom aufgeklärten Absolutismus zusammenhängt: Hatten die Aufklärer die Dynastie und Joseph II. als Überwinder des Privilegiensystems gepriesen, das die Erbuntertänigkeit hervorgebracht hatte, wurde nun der Akzent auf die ursprüngliche Freiheit gesetzt, die auch durch die habsburgische Herrschaft zerstört worden war. 76 Dieses „protochronistische“ 77 Argument, das die Errungenschaften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Abglanz der anfänglichen, durch die Dynastie gefährdeten oder vernichteten Freiheiten beschrieb, diskreditierte die Erfolge des aufgeklärten Absolutismus oder ließ das Reformprogramm als bloße Wiedergutmachung unverzeihlicher Verbrechen an der Nation erscheinen. Ähnlich verhielt es sich mit der Begeisterung für die Toleranzgesetzgebung Josephs, die seit der Spätaufklärung deutlich abkühlte, während man die Religions- und Gewissensfreiheit der vorhabsburgischen Jahrhunderte betonte. Das hing auch mit der liberalen Kritik am Staatskirchentum zusammen, die unter nationalen Vorzeichen geübt wurde. Die Geschichte der Dynastie vermochte es nicht mehr, als Darstellungsrahmen historische Kohärenz zu stiften. Um die Geschichte der Kirche war es kaum besser bestellt. Als Surrogat für imperiale Einheit erwies sich die katholische Prägung der Monarchie nicht nur wegen der konfessionellen Pluralität als konfliktträchtig. Wenn es um die Rolle der gegenreformatorischen katholischen
75 Cornova, Paul Stransky’s Staat von Böhmen, (I), S. 337–345 und S. 357–359; Peter Tobias von Wokaun, Historische Abhandlung von der Unterthänigkeit und Leibeigenschaft in Böhmen, Prag 1775; František Faustin Procházka, Kronyka Boleslawská o Poslaupnosti Knjžat a Králů Českých, a slawných národu Českého činech, Prague 1786, S. 1–15 [Boleslauschronik über die Sukzession der böhmischen Fürsten und Könige, und über die glorreichen Taten der tschechischen Nation]; Julius Max Schottky, Die Karolinische Zeit, oder der äußere Zustand der Sitten und Gebräuche Prag’s und Böhmen’s überhaupt [...], Prag 1833, S. 355–356; Kamil Krofta, “František Pubička předchůdce Palackého v zemském dějepisectví českém” [F. Pubička, Palackýs Vorgänger als Historiograph der böhmischen Stände], in: Časopis společnosti přátel starožitností 51–53 (1943-1945), S. 1–24. 76 Vgl. Josef Hanzal: “K názorům na poddanskou otázku na poč. 19. Stol: Rozbor díla Fr. K. Pelcla” [Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Umlauf befindlichen Meinungen über das Problem der Untertänigkeit], in: Časopis společnosti přátel starožitností 65 (1957), S. 213– 220. 77 Maciej Janowski, “Three Historians”, in: Central European University History Department Yearbook (2001–2002), S. 199–232.
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Kirche in der Förderung der jeweiligen Landessprache(n) ging, 78 um die Taufe und Toleranzpolitik der Gründerkönige, 79 oder um die Rolle der klösterlichen Gelehrsamkeit für der Ausbreitung des römischen Rechts – das die Liberalen als Ordnung der persönlichen Unfreiheit und des Absolutismus angriffen 80 – wurden rasch Divergenzen zwischen den aufgeklärten Patrioten und den vormärzlichen Nationalhistorikern greifbar. Zudem hatten sich die Spätaufklärer zum josephinischen Staatskirchentum mit dem ius supremae inspectionis und Jurisdiktionsprimat des Herrschers bekannt, 81 während die nationalliberalen Historiker auf die freie Kirche im freien Staat setzten: 82 Sie zielten darauf ab, den Klerus aus der Kuratel eines zentralistischen Kirchenregiments zu befreien, dessen Entwicklung über die Jahrhunderte sie nun nachzeichneten. 83 78 Vgl. Ignaz Cornova, Jesuiten als Gymnasiallehrer, Prag 1804; Gudrun Langer, Die Bewertung des Barock in der tschechischen und österreichischen Literaturgeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, München 1984, S. 51; Josef Johanides, František Martin Pelcl, Praha 1981, S. 107–146 (Balbín-Edition); Alois Kroeß, Geschichte der böhmischen Provinz der Gesellschaft Jesu, 2 Bde., Wien 1910–1938, (I), S. 34, 96 und S. 146–160; Giuseppe Dell’Agata, “Il Battesimo di S. Vladimiro di Karel Havlíček Borovský“, in: Harvard Ukrainian Studies 12– 13 (1988/89), S. 467–479; Kristina Kaiserová, „Die Barockzeit in den Schriften der Los von Rom-Bewegung“, in: Oh werthestes Vatter-Land. Kultur Deutschböhmens, 17–19. Jahrhundert [Zprávy Společnosti pro dějiny Němců v Čechách 2], Ústí nad Labem 2003, S. 29–33. 79 Noch Anton Bernolák hatte Stephan I. als Inbegriff des toleranten Monarchen gelobt; Mária Vyvíjalová, “Anton Bernolák a osvietenstvo” [Anton Bernolák und die Aufklärung], in: Historicky Časopis 28 (1980), S. 75–111 und S. 77. Für die crème der slowakischen „Erwecker“ der 1820er Jahre war dies schon inakzeptabel; Emilia Urhegyi, “Bernolák Antal jelentösége a tót müvelődés történetében” [Die Bedeutung Bernoláks für die slowakische Bildungsgeschichte], Emlékkönyv Melich János hetvenedik születésnapjára, Budapest 1942, S. 122–147, 122–124 und S. 145–147. 80 Joseph Wratislaw von Monse, Versuch einer kurzgefaßten politischen Landesgeschichte des Markgrafthums Mähren, 2 Bde., Brünn 1788, (II), S. 134; Georg Wolny, Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte, mit steter Rücksicht auf die Fortschritte in den Wissenschaften und Künsten, nach den Quellen und besten Hülfsmitteln bearbeitet, (I), Wien 1830, S. 245; Max Jörg Odenheimer, Der christlich-kirchliche Anteil an der Verdrängung der mittelalterlichen Rechtsstruktur und an der Entstehung der Vorherrschaft des staatlich gesetzten Rechts im deutschen und französischen Rechtsgebiet: Ein Beitrag zur historischen Strukturanalyse der modernen kontinental-europäischen Rechtsordnungen, Basel 1957; József Gerics, “Adalékok a Kézai krónika problémáinak megoldásához” [Beiträge zur Lösung der die Chronik Kézas betreffenden Probleme], in: Annales Universitatis Scientiarum Budapestinensis de Rolando Eötvös nominatae. Sect. Hist. I (1957), S. 106–134. 81 Monse, Versuch einer kurzgefaßten politischen Landesgeschichte des Markgrafthums Mähren, (II), S. 152; Adam Franz Kollár machte die Großzügigkeit der Jagiellonen gegenüber den Klöstern und den Bistümern für den Verfall der königlichen Macht verantwortlich, der zur Niederlage von Mohács geführt habe; Kollár, Historiae iurisque publici Regium Hungariae amoenitates, 2 Bde., Vindobonae 1783, (II), S. 184. 82 Vgl. etwa Míhály Horváth, Williams Roger, ,a szabad egyház a szabad államban’ elv megteremtője, s megtestesítője‘ [Roger Williams, der Initiator und Vorkämpfer des Prinzips der ‚freien Kirche in einem freien Staat‘], Pest 1868. 83 Hier liegt ein Konfliktfeld zwischen den verschiedenen Liberalismen der habsburgischen Länder im Vormärz: Die deutsch-österreichischen Liberalen tendierten zur josephinischen
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Auch die alten Kontroversen über die Ursprünge der Christianisierung, die lateinische oder byzantinische Mission und die Kontinuität des slawischen Ritus, die katholische Aufklärer mit der Frage einer modernen gemeinverständlichen Liturgiesprache verknüpft hatten, erhielten im Vormärz eine neue Fassung: Nun wurden diese Fragen stärker auf das Problem eines sprachlich und kirchlich homogenen urslawischen Staates, 84 des großmährischen Reiches und auf die ungarische Landnahme zugespitzt. Das Erbe Kyrills und Methods, über das Dobner und Dobrovský debattiert hatten, wurde in Regionalpatriotismen integriert. 85 Zugleich wurde es auch zum historischen Grundstein für ein loyalistisch-austroslawistisches Programm, das sich der Dynastie empfahl und gegen deutschnationale Aspirationen unter der österreichischen Intelligenz darauf hinwies, wie irrig es sei, von „Kernländern“ zu sprechen, deren einziger Vorzug darin bestand, dass sie früher vom Haus Habsburg erworben wurden, als andere Teile des Reichs: Die Debatte über Zentrum und Peripherie in der Geschichte des Kaiserstaats war, so wurde hier suggeriert, neu aufzurollen. Bevor ich bisherigen Überlegungen kurz resümiere und zum vierten Teil des Aufsatzes überleite, möchte ich noch auf einen markanten Konflikt des frühen 19. Jahrhunderts aufmerksam machen, an dem sich die Konfrontation zwischen Gelehrtenpatriotismus und nationalliberaler Geschichtsbetrachtung herauskristallisiert, der es aber vor allem erlaubt, die Dynamik des Erbes der Spätaufklärung aufzuzeigen und diese mit der gleichzeitigen Auflösung des Landespatriotismus zu verbinden. 86 Wie in einem Brennspiegel bündeln sich die Divergenzen zwischen dem spätaufgeklärten Gelehrtenpatriotismus und der nationalliberalen Agenda im Konflikt über die böhmischen Fälschungen der Georgenberger Handschrift (Rukopis Lösung, während die tschechischen und ungarischen Liberalen die freie Kirche befürworteten, vgl. Fillafer, Escaping the Enlightenment, S. 227–239. 84 Mária Vyvíjalová, “Sociálne a politické myslenie bernolákovcov” [Das soziale und politische Denken Bernoláks und seiner Anhänger], in: Historický časopis 26 (1978), S. 227–258; über das von Leibeigenschaft, Robot und Anfeilzwang freie Großmähren. 85 Vgl. zur Debatte von Anton Bernolák bis Ľudovít Štúr, vgl. Mária Vyvíjalová: “Formovanie ideológie národnej rovonprávnosti Slovákov v. 18. storočí“ [Die Herausbildung der Ideologie der nationalen Gleichberechtigung der Slowaken im 18. Jahrhundert], in: Historický časopis 29 (1981), S. 373–403; Jan Tibenský: “Funkcia cyrilometodskej a velkomoravskej tradície v ideológii slovenskej národnosti” [Die Funktion der kyrillo-methodischen und der großmährischen Traditionen in der Ideologie der slowakischen Nationalität], in: Historický časopis 40 (1992), S. 590–594. Über die kyrillo-methodische Tradition und die Regionalidentität des mährischen Klerus vgl. Josef Kolejka, “Morávsky klerikalismus v 19. století” [Mährischer Klerikalismus im 19. Jahrhundert], in: Bohuslav Černý u. a. (Hg), Církve v naších dějinách, Praha 1960, S. 74–92 und S. 81; Frank Hadler, “Počátky moravské historiografie“. 86 Vgl. Franz Leander Fillafer, „Imperium oder Kulturstaat? Die Habsburgermonarchie und die Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert“, in: Philipp Ther (Hg.), Kulturpolitik und Theater: Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich, Wien 2012, S. 23–53 und S. 44–50; weiterhin Jiří Kořalka, „Welche Nationsvorstellungen gab es 1848 in Mitteleuropa?“, in: Rudolf Jaworski/Robert Luft (Hg.), 1848/49. Revolutionen in Ostmitteleuropa, München 1996, S. 47–56.
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Zelenohorský) und der Königinhofer Handschrift (Rukopis Královédvorský), die 1817 und 1818 erschienen. 87 Josef Dobrovskýs geharnischte Kritik war in den Jahrbüchern der Literatur und in Hormayrs Archiv 88 zu lesen. Als 1836 der erste Band von Palackýs Geschichte Böhmens erschien der sich auf die gefälschten Handschriften stützte, veröffentlichte Batholomäus Kopitar, Kustos der Wiener Hofbibliothek, einen saftigen Verriss in Gersdorfs Repertorium. In Anspielung auf Palackýs Lob Heinrich Ludens zeichnete Kopitar seine Kritik mit dem Pseudonym „Cosmas Luden“, und bemerkte: „[S]o ist man mit Recht erstaunt, hier das von Dobrowsky im 27. Bande der Wiener Jahrbb. hinlänglich widerlegte Machwerk, das sogenannte Gericht der Libussa unter den Hauptquellen zu finden! […] Also weg mit dem Samo aus der böhmischen Geschichte, die ohnedem nur um so reiner ihre mythische Zeit vollendet! Ebenso unrichtig werden die Awaren über die Karpaten hinaus nach Böhmen einquartirt, bloß um das historische Vakuum der älteren Geschichte Böhmens auszufüllen“. 89
Damit trat Kopitar im Handschriftenstreit als Hüter der wissenschaftlichen Reputation Dobrovskýs auf, während dieser zur gleichen Zeit vor allem in den privaten Briefen der Protagonisten des tschechischen Erwachens als „Hyperkritiker“ und „Sophist“ angegriffen wurde. 90 Zugleich überspielte er elegant die Tatsache, dass Palacký in den gelehrten Konflikten, die Kopitar selbst mit Dobrovský ausgetragen hatte, meist auf Seiten des letzteren gestanden hatte (Großmährenfrage, Alter
87 „Chrudoš’s Ansinnen, das deutsche Recht der Primogenitur in Böhmen geltend zu machen, musste natürlich auf starken und entschiedenen Widerstand stoßen.“; Paul Josef Šafařik/ František Palacký, Die ältesten Denkmäler der böhmischen Sprache, Prag 1840, S. 101. 88 Josef Dobrovský, „[Rezension von] Ignacy Benedykt Rakowiecki, Prawda ruska/ Русская Правда (Das russische Recht des Großfürsten Jaroslaws, die Traktate Olegs und Igors mit den griechischen Kaisern etc.)“, in: Jahrbücher der Literatur 27 (1824), S. 88–119; ders., „Literarischer Betrug“, in: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 15 (1824), S. 260; vgl. Franz Palacký, “Uber die Königinhofer Handschrift und deren Herausgabe durch Hanka und Swoboda“, in: Jahrbücher der Literatur 48 (1829), S. 138–169. 89 Cosmas Luden [Bartholomäus Kopitar], „[Rezension von] Franz Palacký, Geschichte Böhmens (I), Die Urgeschichte und die Zeit der Herzöge in Böhmen bis zum Jahr 1197, Prag 1836“, in: Gersdorfs Repertorium der gesammten deutschen Literatur 14 (1837), S. 182–185 und S. 183. 90 Vgl. Josef Jungmann an Antonín Marek, 30. Dezember 1809, 13. Februar 1819, Boj o obrození národa: Výbor z díla Josefa Jungmanna [Kampf um das Erwachen der Nation: Eine Auswahl aus dem Werk Josef Jungmanns] hg. v. Felix Vodička, Praha 1948, S. 146 und S. 171; weiterhin Olga Votočková-Lauermannová (Hg.), Josef Josefovič Jungmanna Korespondence [Die Korrespondenz Josef Jungamns], Praha 1956, S. 49 und S. 113; Josef Vlastimil Kamarýt an František Ladislav Čelakovský, 3. Mai 1828, in: František Bílý (Hg.), Korespondence a zápisky Františka Ladislava Čelakovského [Briefe und Aufzeichnungen F. L. Čelakovskýs], (I), Praha 1907, S. 357; Miroslav Komárek, “Odkaz Josefa Dobrovského a boje proti RKZ” [Das Vermächtnis Josef Dobrovskýs und der Kampf gegen die Grünberger Handschrift], in: Pocta Josefu Dobrovskému: K demokratickým a internacionalistickým tradicím slavistiky, Praha 1982, S. 21–25.
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der glagolitischen und der kyrillischen Schrift). 91 Kopitars Intervention in den 1830er Jahren stand schon im Zeichen der Vermächtnisrhetorik des Vormärz, die sich aus der Auflösung des Landespatriotismus ergab und die Vereinnahmung der Spätaufklärung durch rivalisierende Erbstrategien begleitete. Hier zeigt sich eine Asymmetrie der Rückbezüge, wenn etwa deutschsprachige böhmische Publizisten den tschechischen „Hyperpatrioten“ das Erbe des Gelehrtenpatriotismus streitig machten und damit die bruchlose Entwicklung von der Spätaufklärung zum ethnolinguistischen Nationskonzept als Geschichtsklitterung entlarvten. 92 Das war eine durchaus ambivalente Position, waren doch die deutschsprachigen Patrioten, die diesen Nachweis zu führen suchten, häufig nicht weniger begeistert von der Entdeckung der böhmischen Rechtsaltertümer als ihre tschechischen Zeitgenossen. 93 Mit diesen tschechischen „Erweckern“ teilten die deutsch-böhmischen Patrioten auch das Unverständnis für die übertriebene Wertschätzung, die katholische Aufklärer der Christianisierung als Auftakt der Kultivierung der vormals barbarischen Slawen entgegenbrachten. 94 Wie fügen sich nun die Befunde der letzten Seiten unter dem Gesichtspunkt der politischen Implikationen historiographischer Methoden in die Tendenzen der Epoche ein? Als wichtiges Merkmal, das in das Gesamtbild der Entwicklung in den habsburgischen Ländern passt, ist festzuhalten: Trotz der dargestellten inhaltlichen Unterschiede zu den Spätaufklärern orientierten sich die nationalliberalen Historiker der habsburgischen Länder wie František Palacký und Mihály Horváth nicht am Historismus, sondern vielmehr an der spätaufklärererischen Geschichtsschreibung der „Schwellenzeit“, wie sie Arnold L. H. Heeren und Ludwig Wachsmuth vertraten. 95 Auch hier kann man methodisch also kaum von einer Ablösung und Diskreditierung der Spätaufklärung sprechen, sondern vielmehr von einer Konfrontation zweier Generationen aufgeklärter Geschichtsschreibung. Versucht man die Umbrüche im gesamten Zeitraum von den 1790er Jahren bis 1848 zu überblicken, so lässt sich diagnostizieren: Die Abkehr von antiquarischen und rechtshistorischen Methoden, der storia civile wie sie im Auftrag des Hofes Philipp Spannagl, Franz Ferdinand von Schrötter und Adam Franz
91 Sergio Bonazza, „Auseinandersetzung über die Großmährenfrage zwischen Dobrovský und Kopitar“, Contributi italiani al XIII Congresso Internazionale degli Slavisti, Ljubljana, agosto 2003, Pisa 2003, S. 627–641. 92 Gustav T. Legis-Glückselig, „Literarische Hof-Anekdoten: Maria Theresia und Rektor Dobner“, Österreichischer Beobachter (1846), S. 607–608 und 607; Anm. 1: „Also schon damals [zur Zeit Dobners, FLF], und nicht erst seit dem Jahre 1817, fiel dort dasjenige vor, was späterhin Kopitar mit den scharfen Worten: putes in Bohemia grassari pestem νοθείας (Evangelia slav., Paris, 1843, viii d. Einl.) gerügt hat [...].“. 93 František Michálek Bartoš, Rukopisy královédvorský a zelenohorský [Die Königinhofer und die Georgenberger Handschrift], Praha 1946, S. 78–81. 94 Gustav T. Legis-Glückselig, Biographie des Abbé Dobrovský, Prag 1837, S. 12. 95 Vgl. die hervorragende Darstellung von Monika Baár, Historians and Nationalism. EastCentral Europe in the Nineteenth Century, Oxford 2010, S. 103–135.
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Kollár 96 im 18. Jahrhundert getrieben hatten, und die Hinwendung zu kulturgeschichtlichen Studien der Sprache, Verwaltung, Religion und des Rechtsbrauchs führte in den habsburgischen Ländern zu einem Resultat, das dem Ergebnis der parallelen Entwicklung in Deutschland diametral entgegengesetzt war. In Deutschland bildete sich die Vision eines ungeteilten Vaterlandes heraus, die auf einem gemeinsamen kulturellen Realsubstrat beruhte und politische Grenzen unterlief. In der Habsburgermonarchie hingegen machte der kulturgeschichtliche Aufbruch – soweit er stattfand – deutlich, dass dieses Staatsgefüge ein Amalgam von der regierenden Dynastie zusammengefügter Völker war: ein Gebilde, dessen Geschichte sich mit „modernen“ Methoden vielleicht gar nicht schreiben ließ. Dieses Problem griff Josef Alexander Helfert, der Unterstaatssekretär des Unterrichtsministers Leo Thun, 1853 unter dem Titel Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege 97 und entwarf Grundsätze für eine supranationale Geschichte der Staatsnation. Eine ausführlichere Reflexion über die Frage, ob es auch konservative Nationalgeschichten gab, etwa jene W. W. Tomeks 98 oder Johann von Mailáths, muss hier unterbleiben. Zu klären wäre, wie sich die politische Präferenz und die methodische Praxis zueinander verhielten, ohne – wie bisher häufig geschehen – jene Geschichtsschreibung, die scheinbar in Genres wie der Geschichte der Dynastie, der Weltgeschichte oder der kirchlichen und lokalen Stoffe, in Werken über Adelshäuser, Landespatrone und Kirchentopographien „steckenblieb“, als konservativ abzustempeln. Produktiv wäre die Frage, ob diese Historiker es in ihrer Darstellung stringent vermieden, den „Geist der Nation“ als geschichtsmächtigen Ak96 Vgl. Brigitte Mazohl-Wallnig/Thomas Wallnig, „(Kaiser)haus – Staat – Vaterland? Zur österreichischen Historiographie vor der Nationalgeschichte“, in: Hans Peter Hye u. a. (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma „Nationalstaat“ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs, Wien 2009, S. 43–72; Andor Csizmadia, Adam Franz Kollár und die ungarische rechtshistorische Forschung, Wien 1982; Elisabeth GarmsCornides, „Il misterioso Filippi. Gottfried Philipp Spannagel zwischen den italienischen Staaten und der Habsburgermonarchie“, in: Thomas Wallnig/Thomas Stockinger u. a. (Hg.), Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession, Berlin 2012, S. 271–304. 97 Vgl. Constantin Höfler, „[Rezension von:] Josef Alexander Helfert, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege, Prag 1853“, in: Zeitschrift für österreichische Gymnasien 3 (1854), S. 579–584; und Franz Leander Fillafer, “‘Idea imperialna’ i misje cywilizacyjne” [‚Reichsidee‘ und Zivilisierungsmissionen], in: Hystorika 42 (2012), S. 27– 44. 98 Über Tomeks Konservatismus seinen Brief an Josef Alexander Helfert 26. April 1851, wo der als „Reaktionär“ verschriene hofft, dieses Schimpfwort werde sich eines Tages als neutrale politische Bezeichnung durchsetzen, und auf die Begriffsgeschichte von „Tory“ verweist; zit. nach Rudolf Kučera, “Historik a politika. V. V. Tomek a ministerstvo kultu a vyučování 1848–1863” [W. W. Tomek und das Ministerium für Kultus und Unterricht 1848–1863], in: Miloš Řezník (Hg)., W. W. Tomek, historie a politika (1818–1905). Sborník příspěvků královehradecké konference k 100. výročí úmrtí W. W. Tomka, Pardubice 2006, S. 59–67 und S. 62; weiterhin Dušan Jeřábek, Václav Vladivoj Tomek a Karel Havlíček v letech bachovské reakce [V. V. Tomek und K. Havlíček in den Jahren der Bach’schen Reaktion], Brno 1979.
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teur auftreten zu lassen, es bliebe zu erörtern, inwiefern sie das mit der spätaufklärerischen Theorie wandelbarer Kulturstufen verband. IV. Konfessionelle Muster, gelehrte Praktiken, Historisierung des Vormärz Die Ablösung der historiographischen Praxis der Spätaufklärung fand in den habsburgischen Ländern nicht statt, ebenso wenig kam es vor 1848 zu einer neuartigen institutionellen Verankerung der Geschichtsforschung oder zur Etablierung eines fachlichen Ausbildungssystems für Historiker. Geschichte wurde in den habsburgischen Ländern entweder von im philosophischen Propädeutikum ausgebildeten Juristen, von theologisch gebildeten Philologen oder von ebenfalls philologisch geschulten Kustoden der Sammlungen und Bibliotheken getrieben. Die im letzten Kapitel besprochenen Gelehrten und nationalliberalen Historiker wirkten in der Regel nicht an den Universitäten, sie waren entweder auf adeliges Mäzenatentum angewiesen – Palacký stand im Dienst der böhmischen Stände, die mährischen Stände beauftragten Antonín Boček 99 – wirkten als Lehrer an bischöflichen Lyzeen und Seminaren, oder unterrichteten an Gymnasien. Die meisten von ihnen publizierten sowohl in lokalen Periodika, Kalendern und Taschenbüchern zur Landesgeschichte als auch in den gesamtmonarchisch-vaterländisch angelegten Zeitschriften wie Hormayrs Archiv, den Jahrbüchern der Literatur, Adolf Schmidls Österreichischen Blättern für Literatur und Kunst und Johann P. Kaltenbäcks Österreichischer Zeitschrift für Geschichts- und Staatenkunde. Bei den Universalhistorikern an den Universitäten beherrschten Lehrbücher und Tabellenwerke, die nach Göttinger Vorbildern gestaltet waren, den Unterricht. 100 Der historische Lesegeschmack des adeligen und bürgerlichen Publikums orientierte sich an Schriften der schottischen “moderate literari”, Fergusons und Robertsons, sowie an Edward Gibbon. 101 Später waren die historischen Werke des Freiburger liberalen Naturrechtlers Karl von Rotteck sehr beliebt. 102 99 Josef Borovička, “Česká Praha a Moravan Boček. Z historie vědeckých styků Cech a Moravy v době předbřeznové. Akademiku V. Vojtíškovi k 75. Narozeninám” [Das böhmische Prag und der mährische Boček. Aus der Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Böhmen und Mähren während des Vormärz], in: Časopis Společnosti přátel starožitnosti, 66 (1958), S. 144–157. 100 Vgl. neben Gatterers Synopsis historiae universalis sex tabulis comprehensa (1766) etwa Johann Blair, Synchronistische Tabellen für die allgemeine Weltgeschichte, von Erschaffung der Welt bis 1753, aus dem Engl. vermehrt und fortgesetzt bis auf Leopold II., von Heinr. Jos. Watteroth, Wien 1790; Franz Ficker, Literaturgeschichte der Griechen und Römer, nebst Anhängen von synchronistischen Tabellen über die Staaten-, Literatur- und Kunstgeschichte beider Völker, 2. Aufl., Wien 1835; Anna Matiasek, Die Entwicklung des Geschichtsunterrichtes an der Wiener Universität vom Zeitalter des Humanismus bis 1848. 101 Vgl. Tagebucheintrag von Gräfin Franziska Khevenhüller am 31. Juli 1809: “Il faisait si chaud que je ne suis pas sortie ce matin et j ’ai bien avancé dans la 2e volume de Gibbon qui est bien intéressant et a ce moment actuel.”, Státni oblástni archiv Třeboň, Rodinný archiv Czernin, nicht inventarisiert; vgl. Milena Lenderová, “Teorie a praxe cestování osvícenců:
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In diesem letzten Teil des Beitrags möchte ich die bisherigen Resultate mit einem weiteren Gesichtspunkt verknüpfen, der für die Entwicklung der historiographischen Praxis um 1800 und für das fachliche Selbstverständnis der Gelehrten von elementarer Bedeutung war, nämlich mit konfessionellen Mustern. Dadurch gewinnt die Situation, in der die vormärzlichen Historiker agierten, an Plastizität und Farbe, vor allem aber wird ihr Selbstbild greifbar, das nicht zuletzt auf einer kulturgeschichtlichen Genealogie der eigenen Methoden beruhte. Diese Perspektive ermöglicht es, den Bogen vom Vormärz zu den Prinzipien und politischen Zielvorgaben zu schlagen, die für die offiziöse Institutionalisierung der Geschichtsforschung unter Leo Thun maßgeblich wurden und diesen Prozess mit zwei zentralen Aspekten zu verknüpfen, mit der Historisierung der Aufklärung in der Geschichtsschreibung und mit der Vorbildfunktion der wissenschaftlichen Fortschritte in den deutschen Ländern. Abschließend wird kurz zu überprüfen sein, inwiefern die ostentative Abgrenzung vom geistigen Leben des Vormärz, die Thun zum Programm erhob, den Übergängen und Entwicklungsrhythmen wissenschaftlicher Praxis entsprach. Dass die Entwicklung der Geschichtsforschung im frühen 19. Jahrhundert und das Problem ihrer Verwissenschaftlichung 103 mit konfessionellen Prägungen zu tun haben, ist schon gelegentlich festgestellt worden. Das darf freilich keineswegs so verstanden werden, dass die katholische Historiographie erkenntnistheoretisch auf „Stillstand“ und „objektive Ordnung“ und die protestantische auf „Fortschritt“
cesta Pavlíny z Arenbergu do revoluční Paříže” [Theorie und Praxis der Reise der Aufklärer: Die Reise der Pauline von Arenberg in das revolutionäre Paris], in: Eva Frimmová/Elisabeth Klecker (Hg.), Itineraria Posoniensia. Zborník z medzinárodnej konferencie „Cestopisy v Novoveku“, ktorá sa konala v dňoch 3. – 5. novembra 2003 v Bratislave, Bratislava 2005, S. 167–176; Simeon Potter, “Palacký a anglické písemnictví” [Palacký und die englische Literatur], in: Časopis Matice Moravské 53 (1929), S. 87–141. 102 Vgl. zur Rotteck-Rezeption Robert Sak, Rieger: Konzervativec nebo liberál? [(František Ladislav) Rieger: Konservativer oder Liberaler?], Praha 2003, S. 17–22; Wilhelm Brauneder, Leseverein und Rechtskultur: Der Juridisch-Politische Leseverein zu Wien 1840 bis 1990, Wien 1992, S. 136–143; Wilhelm Wadl, „Adolf von Tschabuschnigg und die bürgerliche Lesekultur in Kärnten um die Mitte des 19. Jahrhunderts“, in: Primus-Heinz Kucher (Hg.): Adolf Ritter von Tschabuschnigg (1809-1877): Literatur und Politik zwischen Vormärz und Neoabsolutismus, Wien 2006, S. 185–194; István Kajtár, “Az újkori német jogi kultúra szakirodalma a Pécsi Püspöki Könyvtárban (Kitekintéssel a XIX. század közepéig)” [Die Fachliteratur der neuzeitlichen deutschen Rechtskultur in der Fünfkirchner bischöflichen Bibliothek: (bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts)], in: Mária Anna Moró (Hg.), A Pécsi Egyetemi Könyvtár kiadványai, I, A Klímo-Könyvtár a tudományos kutatások szolgálatában, Pécs 2001, S. 15– 27; Elisabeth Fiorioli, Die Salonkultur der Wiener Aristokratie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel der Fürstin Maria Anna Schwarzenberg, Diplomarbeit Universität Graz 1991, S. 92; Jana Michlová, “Knizní sbírka Karla Ludvíka Ficquelmonta (1777–1857)” [Die Büchersammlung K. L. Ficquelmonts], Problematika historických a vzacných knižních fondu Čech, Moravy a Slezska, Olomouc 2005, S. 173–181. 103 Georg G. Iggers, „Ist es in der Tat in Deutschland früher zur Verwissenschaftlichung der Geschichte gekommen?“, in: Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, II: Anfänge modernen historischen Denkens, Frankfurt a. M. 1994, S. 73–86.
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und „Subjektivität“ festgelegt gewesen wäre; eine solche Sicht gibt einen Historisierungseffekt des späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wieder, ohne ihn zu diagnostizieren 104 und erhebt ein partikulares Muster zeitgenössischer Konfessionspolemik zum Interpretament der Epoche. 105 Die epistemischen Bedingungen für den Aufstieg des Historismus, der ja durchaus auf einem spezifisch protestantischen Kulturideal beruhte, 106 waren in den habsburgischen Ländern nicht einfach reproduzierbar. Neben der bereits angesprochenen selektiven Rezeption der Weimarer Klassik und des neuhumanistischen Antikenideals tritt hier noch ein dritter Faktor hinzu, der die spezifische Entwicklung in den habsburgischen Ländern erklären kann. Die katholische Aufklärung hatte die bibelexegetische Rehabilitierung des Mythos als Quelle für die Entstehungsbedingungen und -motive der Texte des Pentateuchs und des Neuen Testaments abgelehnt, und sich gegen die geniereligiöse Priorität des Poetischen als genretypischer Ausdruck göttlicher Inspiration verwahrt. 107 Die Kritik an der 104 Marcus Sandl, „Heilige Stagnation. Mediale Konfigurationen des Stillstands in der großdeutsch-katholischen Geschichtsschreibung des frühen 19. Jahrhunderts“, in: Historische Zeitschrift 285 (2007), S. 529–564 und die Kritik von Winfried Becker, „Eine kleine Würdigung der großdeutschen Historiographie des Vormärz“, ebenda, S. 565–594. 105 Vgl. dazu Thomas Brechenmacher, Großdeutsche Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Die erste Generation (1830–1848), Berlin 1996. Eine Studie zur Konfessionalisierung der Geschichtswissenschaft, bzw. des über konfessionelle Zugehörigkeiten vermittelten Prestiges und der Leistungsfähigkeit historiographischer Arbeit im Vormärz fehlt; vgl. aber Carl C. Höfler, „Über katholische und protestantische Geschichtsschreibung“, in: Historischpolitische Blätter für das katholische Deutschland 16 (1845/II), S. 297–321; für die Rechtswissenschaft vgl. die Vorstudie von Merio Scattola, „Die Geburt des katholischen Natur- und Völkerrechts aus dem Geist des Protestantismus im 19. Jahrhundert“, in: Pascale Cancik/Hubert Simon/Steffan Ruppert/Miloš Vec (Hg.), Konfession und Recht. Auf der Suche nach konfessionell geprägten Denkmustern und Argumentationsstrategien in Recht und Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009, S. 95–120. 106 Vgl. zum Zusammenhang von religiös geprägter Gnoseologie und revelatorischer Anlage der historiographischen Praxis Jan Marco Sawilla, Antiquarianismus, Hagiographie und Historie im 17. Jahrhundert: Zum Werk der Bollandisten. Ein wissenschaftlicher Versuch, Tübingen 2009, S. 57–61; Wolfgang Hardtwig, „Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht“, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1–32; Carl Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, Göttingen 1954. 107 Dass sich die protestantischen theologischen Rationalisten des Vormärz stolz auf Johann David Michaelis beriefen, tat für die katholische Kritik ein übriges, um die genuin protestantischen Verinnerlichung des privatoffenbarten, kunstreligiösen Enthusiasmus (ἐνθουσιαστικός), die ästhetisierend-romantischen Mythographie und den individualexegetischen Rationalismus auf eine gemeinsame Quelle zurückzuführen und die katholische Aufklärung von dieser Entwicklungstendenz abzugrenzen (H. B. F.: „Religionsschriften: Schriften über die neuesten Angriffe auf den Rationalismus“, in: Allgemeine Literatur-Zeitung (1830) 115, Sp. 273– 280, 116, Sp. 281–288, 117, Sp. 289–296, 118, Sp. 297–304, 119, Sp. 305–312, 120, Sp. 313–320, 121, Sp. 321–328, 122, Sp. 329–331, 275). Die Bibelexegese der katholischen Aufklärung konnte die Diastase zwischen Vernunft und Offenbarung durch die Vollkommenheit Gottes und die Möglichkeit des Eingriffs in die Welt auf übernatürlich wundertätige Weise versöhnen und historisch über Akkommodationsvarianten, die in zeittypischen Vermittlungsschemata auftraten, eruieren (Jakob Frint, „Über den Ursprung und die Ausbreitung des Rati-
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onalismus“, in: Wiener Theologische Zeitschrift (1815) 2, S. 87–170, hier: S. 147: „Man hat daher in dem Katholicismus von jeher auf den Genius der Sprache, in welcher Jesus und seine Apostel geredet haben, auf die Zeit-, Personen- und Ortsverhältnisse, auf den Zusammenhang, die Parallel-Stellen und auf alle Regeln einer richtigen Exegese Rücksicht genommen, wenn man den Sinn der h. Urkunden aufsuchte.“) Es ist ganz unrichtig zu behaupten, dass den „restaurativen“ Katholiken die exegetische Wissenschaft ein Dorn im Auge gewesen sei, sie blieb bis zu den Nachfolgern Alois Sandbichlers, Johann Jahns und Altmann Ariglers wie Joseph Scheiner, die sich in der Tradition von Erasmus und Richard Simon sahen, intakt (obwohl es, was die in Tolands Tetradymus thematisierte Deutung von מלאך, die vaticinia sacra und Heilungsepiphanien wie am Brunnen von Bethesda anging, neue mitteilungsexegetische Nuancierungen zwischen Textintegrität und Wundergeschehen gab). Unter dem Banner einer historisch fundierten Vernunft, der Vernünftigkeit des biblischen Geschichtsberichts (Commonitorium S. Vincentii Lerinensis, praemisit epistolam et prolegomena ac notis illustravit Engelberti Klüpfel, Vindobonae 1809, S. viii–ix; Altmann Arigler, De certitudine studii biblici, Vindobonae 1809; [Anonym], “P. T. Engelberti Klüpfel, Institutiones Theologiae Dogmaticae in usum auditorium quartis curis recognitae opera et studia, 1819–1821”, in: Jahrbücher der Literatur 17 (1822), S. 107–131) traten die Exegeten gegen die spekulative Theologie Günthers auf, die sich offenbarungstheoretisch von der insrtukitven “locutio dei attestans“ und der „moralischen Aufklärung“ abkehrte, und anthropologisch-personaler Verständniskategorien jenseits des Extrinsezismus zu formulieren suchte. Günthers Bemerkungen über die überlieferte Offenbarung als „flüssiges Wort“ Gottes, dass wie ein „Thautropfe in einem Petrefakt“ im „Geist der Rede“ eingeschlossen sei, aus dem es die Religionswahrheit zu gewinnen gelte, machte die Anstrengungen der Bibelhermeneutik überflüssig; vgl. Anton Günther, „[Rezension von] Thomas Ziegler, Akademische Rede über die Verwerflichkeit des theologischen Rationalismus und von der einzigwahren, göttlichbestimmten Glaubensregel“, in: Jahrbücher der Literatur 15 (1821), S. 14–21, hier: S. 19. In Eduard Winters anregender Typologie der Restauration spielen Verfahren aufgeklärter Gelehrsamkeit und ihr Stellenwert für die Redistribution des Aufklärungserbes keine Rolle; Winter, „Differenzierungen in der katholischen Restauration in Österreich“, in: Historisches Jahrbuch 52 (1932), S. 442–450. Die Abgrenzungs- und Attributionsverläufe, durch die im frühen 19. Jahrhundert der Aufklärungsprozeß neu gedeutet und getaktet wurde, lassen sich über Valenzen des Vernunftbegriffs rekonstruieren: Die Exegetik argumentierte an zwei Fronten historisch, gegen Güntherianer und Bolzanisten, Bolzanos Theologie mit ihrer aus der wolffianischen Scholastik übernommene Harmonisierung (praedicatum inest subjecto), beschrieb die Substanz als Eigenschaftsträger unter Inklusion aller virtuellen Zustände der Monade und sah die Welt als aufklärungsmetaphysische und „univoke“, außersinnliche „objektive Realität“, die der Erkenntnis zugängliche transzendentale Begriffe als „Wahrheiten an sich“ über die Denksubstanz vermittelte, Bolzano konnte also, wie Günthers Theologie von Natur und Geist, die Bibelexegese gut entbehren. Jakob Frints Exzerpt aus Bolzanos Erbauungsreden für Kaiser Franz, das Bolzanos Enthebung einleitete, moniert eben solche eklatanten Fehldeutungen der heiligen Schrift: „Auch unser Herr las die Bücher [sc. des alten Bundes, FLF] und mit seiner frohen, ihm nicht nach nachzuempfindenden Verwunderung fand er, daß somanches von dem, was diese Bücher von Messias sagten, an ihm bisher recht wunderbar in Erfüllung gegangen sei. Er fand, daß alles bereits beschrieben stehe, und konnte nicht umhin, hierin den Finger Gottes anzuerkennen.“; Jakob Frint, „Auszüge auffallender Stellen aus Bolzanos gedruckten Religionslehren- und Reden“, Haus- Hof- und Staatsarchiv, Wien, Kabinettsarchiv, 569 ex 1819, No. 7 (Hervorhebung Frint). Auch die Debatte über die „Perfektibilität“ des Katholizismus zwischen Bolzano und dem exegetisch geschulten Johann-Baptist Stoppani speist sich aus dem Problem der Historizität der Bibel.
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masoretischen Notation ()מסורה, 108 der späteren Beifügung der Vokalpunkte, und am Alter der Quadratschrift ( )מ ְֻרבָּע כְּתָ בhatte katholische Gelehrte lange beschäftigt. Josef Dobrovský etwa hatte früh hebraistisch gearbeitet und sich mit einem Traktat De Antiquis Hebræorum Characteribus Dissertatio 1783 für einen Lehrstuhl empfohlen. Das Aufblühen der Mythostheorien von Vico bis zu Herder und Christian Gottlob Heyne wurde von katholischen Gelehrten aber nicht mitvollzogen. 109 So konnte sich ein textwissenschaftlich-antiquarischer Zugriff behaupten, der mittels Überlieferungskomplexen und paläographischen Nomenklaturen operierte. Im Vergleich mit der Geschichtsschreibung in den deutschen Ländern war man weniger auf die Vermittlung von experientia aliena orientiert, 110 und kritisierte die emendatio ope codicum der Renaissancehumanisten. 111 Dass die protestantischen Historisten die Objektivation der Vorsehung in den Geschichtsprozess verlagerten, wurde als typisch für die lutheranische Hybris gesehen, die zugleich den Anteil des freien Willens und der menschlichen Werke an der Gnadenwahl leugnete. Dieser protestantischen Tradition wurde die Originaltextphilologie der Bollandisten und Mauriner, 112 Lodovico Muratoris 113 sowie der Melker Gebrüder P369F
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108 Vgl. Dopisy Josefa Dobrovského s Augustinem Helfertem [Briefwechsel Josef Dobrovskýs mit Augustin Helfert] hg. v. Josef Volf und František Martin Bartoš, Praha 1941, S. 61–68; Stanislav Segert, „Das hebraistische Werk von Joseph Dobrovský“, in: Archiv Orientální 28 (1960), S. 73–90. 109 Johann Jahn: Biblische Archäologie, I: Häusliche Alterthümer, Wien 1796, S. 26–75; Aristoteles, τέχνη ῥητορική, (I), 1:1; 1354 a 6–11. 110 Arno Seifert, „Von der heiligen zur philosophischen Historie. Die Rationalisierung der universalhistorischen Erkenntnis im Zeitalter der Aufklärung“, in: Archiv für Kulturgeschichte 68 (1986), S. 81–117, hier: S. 103; ders. Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie, Berlin 1976. 111 Camillo Ferrari, „‘Mutuare non lubuit’. Die mediävistische Philologie der Jesuiten im frühen 17. Jahrhundert“, in: Filologia mediolatina 8 (2001), S. 225–250; Christopher Ligota, „Von der Autorität zur Quelle. Die humanistische Auffassung des Textes“, in: Wolfenbüttler Beiträge 8 (1988), S. 1–20; Sawilla, Antiquarianismus, Hagiographie und Historie, S. 112–113, Fn. 43; weiterhin Peter G. Tropper, Urkundenlehre in Österreich: vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Errichtung der ‚Schule für österreichische Geschichtsforschung’ 1854, Graz 1994. 112 Vgl. den Beitrag des Klosterneuburger Augustinerchorherrn Vinzenz Seback, „Johann Mabillon aus dem Orden des heiligen Benedikt“, in: Neue Theologische Zeitschrift 1831/2, S. 190– 211, 1832/1, S. 24–53, 145–176 und S. 278–300; sowie Anton Ruland, „Die ‘Germania Sacra’ der St. Blasianer“, in: Österreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie 1 (1862), S. 565–592 und S. 573; über den letzten Band der Germania Sacra, der die Kritik der Würzburger Zeitung vom 27. Januar 1796 anführt, die Annalen seien „saftlos“: „‚Wäre der Herausgeber ein philosophischer Kopf, wie leicht hätte er in der Geschichte des Bisthums die wichtigsten Punkte auffassen, seine Geschichte darnach eintheilen können.’ So die Würzburger damaliger Zeit, deren Werke längst verschollen sind, indessen Ussermann’s Episcopatus auch nach 70 Jahren seinen vollen Werth behauptet.“. 113 Vgl. Eleonore Zlabinger, Muratori und Österreich, Innsbruck 1970; weiterhin Elisabeth Garms-Cornides, „Lodovico Antonio Muratori und Österreich“, in: Römische Historische Mitteilungen 13 (1971), S. 333–351.
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Pez gegenübergestellt, 114 die realienkundlich zu ergänzen sei. Die Scholastikkritik der gelehrten Mönche und Editoren aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhundert versüßte für Gelehrte des Vormärz diesen Rückgriff unter konfessionellen Prämissen, 115 besonders wenn es um die Neuentdeckung einer katholisch-humanistischen τεκμήρια ging, die gegen den Leibniz-Wolffschen, in den idealistischen Systemen kulminierenden Panlogizismus in Stellung gebracht wurde. 116 Gerade diese historischen Methoden und Argumente zeigen, wie einseitig es ist, die katholische Aufklärung auf den protestantischen Naturrechtsdiskurs und den Jansenismus festzulegen. 117 Die genaue Analyse der Überformungen und Brechungen verschiedener Spielarten der Aufklärung im Vormärz erweist sich als sehr ergiebig: Die Naturrechtskritik des Ensdorfer Benediktinerabts Anselm Desing etwa, eines Korrespondenzpartners des Bernhard Pez, stellte die grundlegenden Argumente gegen den Wolffianismus bereit, wie er nach Carl Anton von Martinis im Vormärz tradierten Lehrbüchern immer noch gelehrt wurde. 118 Mit der irenischen Richtung der vormärzlichen aufgeklärten Katholiken, die sich für die sodalitas literaria danubiana, die Donaugesellschaft Maximilians I. begeisterten, 119 vertrug sich diese Betonung der Empirie und Induktion gut. Poli114 Theodor Mayer, „Der Nachlaß der Gebrüder Petz in der Benedictiner-Abtey Melk“, in: Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst 18 (1827), S. 497–501, 515–517, 532–536, 542–544, 549–552, 557–559, 605–607, 613–616, 621–623, 629–631, 638–640 und S. 644– 646; 19 (1828), S. 766–768, 774–776, 789–792, 797–800, 806–808, 813–816 und S. 821– 824; ders., „Beitrag zur Biographie des Johann Christian Freiherrn von Bartenstein“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichts- und Staatenkunde 1 (1835), S. 17–19 und S. 21–27. 115 Jean Gouhier, “La crise de la théologie au temps de Descartes”, in: Revue de théologie et de philosophie, 3e Série 4 (1954), S. 19–54; Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Text, Regesten, Kommentare (I): 1709–1715, hg. v. Thomas Wallnig und Thomas Stockinger, Wien 2010, S. 3, 679 und S. 682–683. 116 Gottschalk E. Guhrauer, „Antonius Zara, ein österreichischer Philosoph im Zeitalter Bacons“, in: Jahrbücher der Literatur 109 (1845) Anzeigenblatt, S. 20–35; 110 (1845) Anzeigenblatt, S. 33–46. 117 Vgl. etwa Harm Klueting, „‚Der Genius der Zeit hat sie unbrauchbar gemacht.’ Zum Thema Katholische Aufklärung – oder: Aufklärung und Katholizismus im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung“, in: ders., Norbert Hinske/Karl Hengst (Hg.), Katholische Aufklärung – Aufklärung im katholischen Deutschland, Hamburg 1993, S. 10. 118 Briefwechsel Anselm Desings mit Anton Roschmann, Universitätsbibliothek München, Cod. ms. 703, fol. 1–2v, 283f., Cod. ms. 704, fol. 172f.; Angelus Theodosius Villa, Caroli Comiti Firmiani Vita, Mediolani 1783, S. xii und xiii; weiterhin Martin Mádl/Anke Schlecht/Marcela Vondráčková, Detracta larva juris naturae: Studien zu einer Skizze Wenzel Lorenz Reiners und zur Dekoration der Klosterbibliothek in Břevnov, Praha 2006; und Hans Lentze, „Joseph von Spergs und der Josephinismus”, in: Mitteilungen des österreichischen Staatsarchivs, (Ergänzungsband II/II), [= Leo Santifaller (Hg.), Festschrift zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchivs II], 1951, S. 165–193. Zur vormärzlichen Diskussion Fillafer, Escaping the Enlightenment, S. 375–421. 119 Stephan Ladislaus Endlicher, „Konrad Celtis, ein Beytrag zur Geschichte der Wiederherstellung der Wissenschaften in Deutschland“, in: Archiv für Geographie, Historie, Staats- und Kriegskunst 12 (1821), S. 381–384, 393–396, 417–418, 461–463 und S. 485–487; 16 (1825), S. 753–754, 758–761 und S. 773–774; Engelbert Klüpfel, De vita et scriptis Conradi Celtis
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tisch fügte sich hier Hammer-Purgstalls monumentale Geschichte Kardinal Melchior Khlesls ein, die von 1847 bis 1851 erschien, 120 eines Staatsmanns, den Hammer so prinzipientreu und frei von „Verblendung“ wie „Schwärmerei“ schildert, dass an ihm ein Josephiner verloren gegangen zu sein scheint. 121 Beispielhaft für die konfessionelle Konfrontation über Formen der Geschichtsschreibung im Vormärz sei hier nur die Kritik erwähnt, die der katholische Münchner Historiker Constantin Höfler 1845 an Johann Gottfried Herder übte. 122 In seinem Beitrag „Über katholische und protestantische Geschichtsschreibung“ bot Höfler eine von Herder ausgehende Genealogie protestantischer Arbeit am Text, in der er die Exegese als Angelpunkt und methodisches Leitbild des gelehrten Verfahrens benannte. Von Herder, schreibt Höfler, „stammt die Krankheit der Deutschen, in der thatsächlichsten aller Wissenschaften, in der Geschichte, nicht Thatsachen, nicht positive Belehrung, sondern nur Ansichten zu suchen und sie dazu zu verwenden, wozu man längst die Bibel verwandte, das plus oder minus vom Christenthum, das Jedem noch beizubehalten beliebte, mit denjenigen Stellen zu belegen, die dafür sprachen oder sich in solchem Sinne deuten ließen, die übrigen aber zu ignorieren [...] Diese Übertragung protestantischer Bibelexegese auf die Geschichte hat derselben ihren wah123 ren Charakter geraubt und alle Objektivtität zerstört“.
Höflers Beitrag zeigt auf prägnante Weise die konfessionell gefärbte Polemik, die sich an dem eingangs angesprochenen Problem der Übertragung von Methoden zwischen entstehenden Feldern entzündete. Zugleich verdeutlicht Höflers Essay, wie die von der katholischen Aufklärung formulierte kritische Genealogie des Protestantismus sich in der Restauration fortpflanzte, ein Phänomen, das sich etwa
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Protucii: praecipui renascentium in Germania literarum restauratoris primique Germanorum poetae laureati, opus posthumum B. Engelberti Klüpfelii, hg. v. Johannes Caspar Ruef, Freiburg 1827; vgl. die Rezension des Werks Klüpfels in: Jahrbücher der Literatur 45 (1829), S. 141–179, bes. S. 148. Joseph von Hammer-Purgstall, Khlesl des Cardinals, Directors des geheimen Cabinetts Kaiser Matthias, Leben, 4 Bde., Wien 1847–1851. Hammer-Purgstall, Khlesl, (I), S. 18, (IV), S. 260–270. Martin Gierl danke ich für den Hinweis auf Hammers Werk. Vgl. Höfler, „Über katholische und protestantische Geschichtsschreibung“, S. 313–314: „sind wir doch von unserm, dem Standpunkte der Geschichte der Historiographie aus, so kühn oder verblendet zu glauben, daß die Principien, die er [Herder] in die Geschichte einführte, dieser Altweibersommer eines Christenthums, oder richtiger dieser künstlich geschaffene Gegensatz der Humanität zum Christenthum eine Fluth schlechter Ideen in die Geschichte brachte.“; ebenda, S. 315: „Die vermeintlich philosophische Behandlung der Geschichte ist bei den Deutschen etwas zu früh gekommen. Noch war man des Materials viel zu wenig Meister, und so ist denn das wirklich Positive und Bleibende den philosophischen Windbeuteleyen zur Liebe aufgeopfert worden.“; als ersten Überblick Claus Arnold, „‚Ansehnliche Trümmer‘. Aspekte der katholischen Herder-Rezeption in Deutschland, 1840–1950“, in: HerderGedenken. Interdisziplinäre Beiträge anlässlich des 200. Todestages von Johannes Gottfried Herder, Frankfurt a. M. 2005, S. 1–18. Höfler, „Über katholische und protestantische Geschichtsschreibung“, S. 314.
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auch an den Beiträgen des Zittauer Leibnizforschers Gottschalk E. Guhrauer 124 und der ausführlichen Rezension von Rankes Deutscher Geschichte im Zeitalter der Reformation in den Wiener Jahrbüchern der Literatur 125 beobachten lässt. Zugleich erlaubt es Höflers Aufsatz den Wandel zu erfassen, dem die Deutung dieser Genealogie im Vormärz unterlag: Während nämlich die katholischen Aufklärer selbstverständlich für sich die „wahre“ Aufklärung in Anspruch genommen hatten, und trotz ökumenischer Offenheit und vielfältiger Kooperation genau die Defizite des protestantischen, konfessionellen Modells kulturellen Fortschritts benannten, übernahmen die restaurativen Katholiken nun die von Protestanten stolz behauptete Herleitung der Aufklärung von der Reformation. Sie präsentierten den bewahrenden Katholizismus als Gegenpol der Aufklärung, freilich ohne die Denkfiguren aus dem späten 18. Jahrhundert preiszugeben. So blieben die Argumente der aufgeklärten Katholiken gegen die protestantische Gelehrsamkeit in Gebrauch, während die katholische Aufklärung, der sie entstammten, als Widerspruch in sich zu gelten begann. Für mein Thema im vorliegenden Beitrag ist das in zweierlei Hinsicht relevant: Zum einen zeichnet sich hier eine Bruchlinie zwischen den Spätaufklärern auf der einen und den Anhängern der Restauration sowie den Liberalen auf der anderen Seite ab. Die deutsch-österreichischen Liberalen des späten Vormärz identifizierten sich ebenfalls mit dem protestantischen Muster des intellektuellen und kulturellen Fortschritts, das die Aufklärung aus der Reformation ableitete, bewerteten diesen Zusammenhang aber im Unterschied zu den Parteigängern der katholischen Restauration positiv.126 Das führte dazu, dass diese Liberalen von Spätaufklärern als Abtrünnige kritisiert wurden, die vom „Jungen Deutschland“ soufflierte Stichworte aufgriffen. 127 Der supranationale, gesamtmonarchische Ge124 Vgl. Anm. 116 oben, und die gegen Gervinus’ Goethelektüre gerichtete Studie Guhrauers, „Über Goethe’s Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: Jahrbücher der Literatur 116 (1846), S. 66–106; weiterhin ders., „Die Unionsversuche seit der Reformation bis auf unsere Zeit“, in: Deutsche Vierteljahresschrift 9 (1846), (I), S. 85–153, (II), S. 139–195. 125 [Anonym], „[Rezension von] Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 3 Bde., Berlin 1839–1840“, in: Jahrbücher der Literatur 93 (1841), S. 153–197; 115, (1846), S. 106–138, hier S. 138: „Es ist eine eigenthümliche Leidenschaft moderner protestantischer Schriftsteller, dem Protestantismus die ganze neue Cultur zuzuwenden, als wenn die Erfindung so vielfacher großartiger Wirkungen der dem Menschen dienstbar gemachten Naturkräfte ein Werk lutherischer Dogmatik sei!“. 126 Vgl. Julius Franz Schneller, Oesterreichs Einfluß auf Deutschland und Europa, seit der Reformation bis zu den Revolution unserer Tage, 2 Bde., Stuttgart 1828–1829, (II), S. 204; Andreas Posch, „Julius Schneller, ein Grazer Historiker zwischen Aufklärung und Liberalismus“, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Steiermark 48 (1957), S. 3–21; weiterhin Novalis: „Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment“, in: ders., Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, II: Das philosophisch-theoretische Werk, München 1978, S. 732–750 und S. 732; Überblick bei Michael Neumüller, Liberalismus und Revolution. Das Problem der Revolution in der deutschen liberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, Düsseldorf 1973. 127 Sebastian Brunner, Die Prinzenschule von Möpselglück, Schildereien aus der jungen Welt, Wien 1848; Moritz Enzinger: „Franz v. Bruchmann, der Freund J. Chr. Senns und des Grafen
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lehrtenpatriotismus, den die Spätaufklärer vertraten, eine Konzeption die sich ebenso gegen den antibürgerlichen Absolutismus wie gegen den deutschen bürgerlichen Nationalismus wandte, geriet so in Gefahr. 128 Zweitens gestattet es die Debatte über die Auswirkungen von Aufklärung, Reformation und Revolution auf Methoden und Heuristiken, das Selbstbild der österreichischen Geschichtsforscher jener Zeit herauszuarbeiten. Prestige und Plausibilität der historischen Methoden, die als die „allerpositivsten“ 129 galten, standen im Vormärz hoch im Kurs und wurden von der Regierung für förderungswürdig befunden. 130 Dennoch ergaben sich, wie eingangs erwähnt, Deutungskämpfe und Konkurrenzsituationen aus der Verwendung historischer Methoden in verschiedenen Fächern und aus den Alleingültigkeitsansprüchen, die daraus abgeleitet wurden. Jedes Fach befasste sich nun zwischen literärgeschichtlicher Zusammenschau und spezialisierter Disziplinengeschichte mit der Genealogie der eigenen Methoden. Als die „Philosophie“ der Aufklärung als Grundlage der spekulativen Selbstermächtigung des Subjekts zu gelten begann, von der aus sich einschlägige Denkstile auf die anderen Wissenschaften ausgebreitet hatten, 131 bedurfte es nicht nur einer Abriegelung von solchen Einflüssen, sondern auch einer Sichtung des Methodenrepertoires. Hinter diesen Revisionen und Revirements stand ein Konflikt über die Quellen, die Gegenstandsbereiche und Begründungsstrategien positiver Erkenntnis. Das zeigte sich etwa an der Debatte über die Historizität der Bibel, die zwischen Theologen, historischen Geographen und geologischen Vertretern der Erdgeschichte geführt wurde. 132
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Aug. v. Platen. Eine Selbstbiographie aus dem Wiener Schubertkreise nebst Briefen“, in: Veröffentlichungen des Museum Ferdinandeum 10 (1930), S. 117–379; Franz Grillparzer, Sämtliche Werke: Historisch-kritische Gesamtausgabe, (I), S. 461; Sigmund Engländer: „Junge Literaten“, in: Österreichisches Morgenblatt, Nr. 15 (1846), S. 58–59; Uffo Horn: „Die Literatur der Gebildeten“, in: Österreichische Blätter für Literatur und Kunst 1 (1844), No. 10, S. 73. Lechner: Gelehrte Kritik, S. 322. Joseph Hormayr an Joseph Leonhard Knoll, 19. September 1820, „Ihr Lehrfach ist das allerpositiveste. Es ist das concommé der Erfahrung, somit kann ich den Wunsch nicht ungerecht finden, Sie sollten mehr positiv u. weniger Philosophisch lehren, mehr nazional, weniger kosmopolitisch. [... ]“ zit. nach Reinalter/Gant/Uhlíř, Joseph Freiherr von Hormayr, S. 298; vgl. weiterhin Joseph Leonhard Knoll, „Betrachtungen über eine Stelle in Hormayrs Taschenbuche“, Denkschrift für Obersthofkanzler Anton F. Mittrowsky, 20. Juni 1833, zit. in: Josef Hanuš, Národní museum a naše obrození: K stoletému jubileu založení musea [Das Nationalmuseum und unser Erwachen: Zum hundertjährigen Jubiläum der Gründung des Museums] 2 Bde., Praha 1921–1923, (II), S. 468–469. Vgl. Hedwig Kadletz-Schöffel, Metternich und die Wissenschaften, 2 Bde., Wien 1992. Werner Sauer, „Von der ,Kritik‘ zur ,Positivität‘. Die Geisteswissenschaften in Österreich zwischen josefinischer Aufklärung und franziszeischer Restauration“, in: Hanna SchnedlBubeniček (Hg.), Vormärz: Wendepunkt und Herausforderung. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Kulturpolitik in Österreich, Salzburg 1973, S. 17–46. Vgl. Franz Unger, Chloris protogaea. Beiträge zur Flora der Vorwelt, Leipzig 1847, S. vii, viii, 22 und 28; Marianne Klemun, “Franz Unger and Sebastian Brunner on Evolution and the
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Für die Vertreter der „österreichischen Schule“ der Geschichtsforschung, von der seit 1848 die Rede war, blieb die Originaltextphilologie maßstabsetzend. Sie verwahrten sich gegen die Ästhetisierung des Historismus, die neuhumanistische Antikenrezeption und die poetische Gnoseologie des Mythos und bewegten sich in jenem katholischen politisch-kulturellen Referenzrahmen, den ich kurz umrissen habe. Die Koordinaten des Selbstverständnisses, der positive Bezug auf das gelehrt-antiquarische 18. Jahrhundert blieben unverändert. 133 Aber auch hier stellte sich die Frage der Übertragbarkeit gelehrter Verfahren und mit ihr wurden sowohl die Grenzbestimmung zwischen Theologie und Geschichtsforschung als auch die Historisierung der Aufklärung virulent, wie etwa an Albert Jägers Autobiographie deutlich wird. Albert Jäger, der erste Direktor der Wiener „Schule“, des späteren Instituts für Geschichtsforschung, erinnert sich an sein Theologiestudium in Brixen, besonders an seinen Professor der Bibelhermeneutik Jakob Probst, den Jäger einer aufgeklärt-rationalen Exegese bezichtigt. 134 Jäger erzählt, er habe aus Protest gegen Probsts Schlussfolgerungen zu den Werken des Exegeten Augustin Calmet gegriffen, schätzte aber die methodischen Übungen, die Probst mit seinen Studenten abhielt. 135 Probsts exegetische Methode entsprach immer noch der gängigen Praxis, als Jäger mit seinen ersten Schriften als Historiker hervortrat. Dennoch war Probst für Jäger der Abhängigkeit von protestantischen Exegeten verdächtig, hier zeigt sich schon der Sog der kulturgeschichtlichen Genealogie, welche den Katholizismus als Widerpart des revolutionären „Zeitgeists“ beschrieb, der in einer ahistorischen, ja geschichtsfeindlichen Aufklärung gipfelte. Jägers mit dieser Einschätzung verbundenes Plädoyer zielte eigentlich auch auf einen epistemischen cordon sanitaire, eine Beschränkung, die aber nach der Übertragung der Methoden greifen sollte: eine Perpetuierung des gelehrten Verfahrens, von dem sein ursprünglicher Anwendungsbereich ausgeschlossen blieb. Die Originaltextphilologie sollte, obwohl an biblischen Quellen entwickelt und erprobt, 136 auf profane
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Visualization of Earth history; a Debate between Liberal and Conservative Catholics”, in: Geology and Religion: A History of Harmony and Hostility, London 2009, S. 259–267. Vgl. etwa die Beiträge zum Schicksal der Orientalisten und Philologen aus den säkularisierten Schwarzwaldklöstern in den habsburgischen Ländern: Ambros Eichorn und Trudpert Neugart fanden in St. Paul im Lavanttal Zuflucht, wo Ludwig von Ankershofen ihr Schüler wurde, Anton Ruland, „Die ‘Germania Sacra’ der St. Blasianer“, zu Georg Maurer in Fiecht; vgl. Nikolaus Grass, „Jakob Probst“, in: ders., Österreichische Historikerbiographien, (I), Innsbruck 1957, S. 1–85 und S. 28. Nikolaus Grass, „Jakob Probst“, S. 25–26. Nikolaus Grass, „Jakob Probst“, S. 26. Lorenzo Valla, Antidotum primum (La prima apologia contra Poggio Bracciolini), hg. von Ari Wesseling, Assen 1978, § 134, 112; Nicolas Piqué, “Du texte de l’origine à l’origine du texte. La querelle entre Richard Simon et Jean Le Clerc“, in: Denis Thouard/Friedrich Vollhardt/ Fosca Mariani Zini (Hg.), Philologie als Wissensmodell, Berlin 2010, S. 285–308; Gottlob Wilhelm Meyer, Geschichte der Künste und Wissenschaften, 5 Bde., Göttingen 1802–1809, (V), S. 499; zur Inspiration des Literalsinns, nicht der Sachverhalte und Geschehnisse bei Johann August Ernesti, Johann August Ernesti, Institutio Interpretis Novi Tes-
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Quellen beschränkt und die Dignität der heiligen Schrift unberührt bleiben. Jägers Kritik stellt das österreichische Pendant zur Desavouierung der Aufklärungshistorie in den deutschen Ländern dar. Diese Sichtweise war ein produktiver Ansporn für die Neugestaltung des innertheologischen Fächerspektrums, dessen Methodensystem für die vormärzlichen Kritiker seit Joseph II. nach seltsam seitenverkehrt wirksamen Prinzipien funktionierte: Während man die Bibel historisch-philologisch zerkleinerte, „vernünftelte“ man ungescheut im Bereich des natürlichen Kirchenrechts und der Kirchengeschichte. 137 Auf dieses Verdikt bezogen sich die Stichwortgeber Leo Thuns in den frühen 1850er Jahren: Gerade die deduktiv betriebene Kirchengeschichte, die vor 1848 gepflegt wurde, war den kanonistisch geschulten Reformern des Unterrichtssystems, die Leo Thun nach Österreich berief, vor allem George Phillips und Karl Ernst von Moy de Sons, 138 ein Dorn im Auge. 139
tamenti, Leipzig 21761, S. 11–16; Wilfried Ziegler, Die ‚wahre strenghistorische Kritik‘. Leben und Werk Carl Lachmanns und sein Beitrag zur neutestamentlichen Wissenschaft, Hamburg 2000; Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen 1969. 137 Thomas Hahn, Staat und Kirche im deutschen Naturrecht. Das natürliche Kirchenrecht des 18. und 19. Jahrhunderts (ca. 1680 bis ca. 1850), Tübingen 2012. 138 Willibald M. Plöchl, „Das Kirchenrecht in der ältesten Studien- und Prüfungsordnung der Wiener Rechtsfakultät“, in: Studia Gratiana 2 (1954), S. 565–581; ders., „Die Berufung von George Phillips an die Wiener Universität“, in: Juristische Blätter 74 (1952), S. 242–243; ders., „Die Vorlesungstätigkeit von George Phillips an der Wiener Universität“, in: Jus Sacrum. Festgabe für Klaus Mörsdorf, München 1965, S. 157–161; Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Grafen Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962, S. 120–122, 128, 144–146, 263 und S. 265; Peter Leischnig, „Aus der Zeit des Aufstieges der österreichischen Kirchenrechtswissenschaft“, in: Kurt Ebert (Hg.): Festschrift Nikolaus Grass zum 70. Geburtstag, dargebracht von Fachkollegen und Freunden, Innsbruck 1986, S. 303–316. 139 Emil Clemens Scherer, Geschichte und Kirchengeschichte an deutschen Universitäten: Ihre Anfänge im Zeitalter des Humanismus und ihre Ausbildung zu selbständigen Disziplinen, Freiburg im Breisgau 1927, bes. S. 462–463; Anton Anwander, Die allgemeine Religionsgeschichte im katholischen Deutschland während der Aufklärung und Romantik, Salzburg 1932; vgl. zu Matthias Dannenmayers und Georg Rechbergers indizierten Werken den Brief Carl Cajetan Gaisrucks, Erzbischof von Mailand, an Franz Freindaller, Herausgeber der Theologisch-praktischen Quartalschrift, 24./25. März 1820, Stiftsarchiv St. Florian, Korrespondenz Freindaller: „Rechbergers Enchiridion wurde in Venedig italienisch übersetzt, und hier übergab ich dieses Fach einem sehr gebildeten Mann [...] Allein wider alle Erwartungen in gegenwärtigen Verhältnissen, geschah es, daß zu Rom schon Dannenmaiers historia ecclesiae und Rechbergers Enchiridion, das schon 2 Jahre in Pavia tradirt wurde, condamniret und in dem indice librorum prohibitorum gesetzt worden ist. [...] Vermutlich wird Rechberger auch dies Schicksal haben. Wenn der gute Rechberger dies erlebt hätte, das hätte ihn tief gekränkt [...] Es war ein heimlicher Gedanke von mir, aus der theol.-pr. MS und dann Quartalschrift die besten Stücke sammeln, sie ins Italienische übersezen zu lassen und meinem Clero in die Hände zu geben. Die Ausführung dieses meines wahrhaft frommen Wunsches dürfte aber nun nach den neuen Ereignissen, wenn und bis nicht andere Constellationen eintreten, wohl gehemmt sein.“; weiterhin Sebastian Brunner, Clemens Maria Hoffbauer und seine Zeit. Miniaturen zur Kirchengeschichte von 1780 bis 1820, Wien 1858, S. 142–146.
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Albert Jäger trug mit zur Etablierung eines neuen Verständnisses der historischen Aufklärung bei, für welches das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Naturreligiöser Rationalismus und historisch-grammatische Exegese wurden zwar – historisch durchaus richtig – in eine enge Wechselbeziehung gestellt, aber Naturrecht und „wahre“ Historizität in parallele geistesgeschichtliche Entwicklungsreihen eingeordnet. 140 Gleichzeitig koppelte Jäger in seinen Studien über das 18. Jahrhundert, den Spätjosephinismus vor Augen, den Deismus politisch an das Staatskirchentum, und verschmolz beide zum Inbegriff der Aufklärung. Jäger war bemüht, die historische Methode als „Überwindung“ der Aufklärung von diesem ideengeschichtlichen Komplex abzugrenzen. 141 Mit der historistischen „Wissenschaft aus Kunst“ und ihren großdeutschprotestantischen politischen Implikationen wollte die Originaltextphilologie, die der „österreichischen Schule“ vorschwebte, freilich nichts zu tun haben. Theodor Sickels Brief über seine Wiener Situation aus dem Jahr 1858 illustriert diese Haltung und die Spannungen, die sich daraus zwischen den Alteingesessenen und den neuberufenen deutschen Professoren ergaben. Zugleich lässt Sickels Wiener Schreiben die begütigende Entwicklungshelfer-Attitüde des Gelehrten aufblitzen: Hier greift ein Historiker zur Feder, der die Deutschland entfremdete, hiesige Intelligenz der Segnungen der deutschen Wissenschaft teilhaftig werden lassen will. In der „Schule für österreichische Geschichtsforschung“, schrieb Sickel an seinen Onkel, „begegnete ich in der Person des Direktors Professor Jäger, ehemaliger Benediktiner [...] einem hartköpfigen Vertreter der altösterreichischen Schule, deren Bekämpfung gerade die mir auch von oben zugedachte Aufgabe mit sich bringt. Ueberhaupt ist gerade jetzt die Spannung zwischen der älteren und der jüngeren Schule sehr groß. Auf dem Gebiete der Geschichte stehen sich die Parteien so gegenüber wie in München. Wie sich die jüngere (meist sind wir ja auch zugleich die jungen) an Pertz, Ranke, Sybel, anlehnt, so vertritt sie das Deutschtum nicht allein in der Wissenschaft, sondern auch in allen nationalen, politischen und kirchlichen Dingen. So entschieden ich nun auch mich zu ihr halte, so vorsichtig bin ich doch in meinem Auftreten. Ich achte gerade die Männer der alten Schule in hohem Maße: sie haben vor uns allen das Verdienst voraus in sehr schwieriger Zeit, als der Staat gegen die Wissenschaft entweder gleichgültig oder sogar feindlich sich verhielt, der Wissenschaft gedient und ihr Bahn gebrochen zu haben. Ich achte sie, da sie es von der deutschen Wissenschaft Jahre lang abgeschlossen, auf dem mühsamen Wege der Autodidaxie immerhin weit genug gebracht haben.
140 Wie die naturrechtlichen Urzustandstheoreme war die historische Exegese ein Rettungsversuch der gattungsgeschichtlichen Gesamtschau des „Menschengeschlechts“, beide wurden aber in der Diskussion des 19. Jahrhunderts aus diesem Verweiszusammenhang herausgebrochen, als „Aufklärung“ und als „historische“ Revolte gegen die Aufklärung gedeutet und epochentypisch nacheinander geschaltet; vgl. Carlo Antoni, „Zur Auseinandersetzung zwischen Naturrecht und Historismus“, in: Schweizer Monatshefte 37 (1957/1958), S. 1027–1039; kritisch: Christopher Ligota, “Topics in the History of Scholarship“, in: Intellectual News, Herbst 1996, S. 11–12. 141 Albert Jäger, „Das Eindringen des modernen kirchenfeindlichen Zeitgeistes in Österreich unter Karl VI. und Maria Theresia“, in: Zeitschrift für katholische Theologie 2 (1878), S. 259–311 und S. 417–422.
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Franz Leander Fillafer Also habe ich mir in dem unvermeidlichen Kampf Vorsicht und Schonung zur Pflicht gemacht“. 142
Nach 1848 wurden aus kultur- und gelehrtengeschichtlichen Sensibilitäten wissenschaftspolitische Präferenzen. Die Geschichtsfeindlichkeit des Geisteslebens im Vormärz wurde mit der Abschottung von den Entwicklungen der deutschen Gelehrsamkeit erklärt, die Leo Thun und die Revolutionäre des Jahres 1848 zu überwinden trachteten. 143 Dass Thuns Gefolgsleute ganz verschiedene Diagnosen der vormärzlichen Misere stellten und dementsprechend unterschiedliche Rezepte für ihre Behebung bereithielten, sollte sich bald zeigen: Wo Thun und sein enger Kreis vor 1848 einen „verseichtigten Kantianismus“, 144 eine rationalistische Doktrin autotelischer Sittlichkeit am Werk sahen, orteten liberale 48er klerikalen Obskurantismus. Ähnlich diffus war das Unbehagen am Zustand der Geschichtsforschung im Vormärz: Während manche dem vormärzlichen Regime vorwarfen, keine gesamtstaatlich-patriotische Geschichtskultur geschaffen zu haben, 145 beklagten andere die systematische Diskriminierung der Nationalsprachen und der Nationalgeschichtsschreibung. 146 Als es nach 1848 um Österreichs Ort in Deutschland ging, wurde die Kluft der Gelehrsamkeit, die trennend zwischen beiden klaffte, vielfach als Niveaugefälle der historiographischen Techniken gesehen und das Defizit durchaus auf die vormärzliche Abkapselung Österreichs von Goethezeit und Geniereligion zurückgeführt. 147 Wie Leo Thun unablässig betonte, 148 vertrat das neue IFÖG einen ex-
142 Zit. n. Otto Brunner, „Das österreichische Institut für Geschichtsforschung und seine Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft“, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 52 (1932), S. 385–416 und S. 392–393. 143 Vgl. etwa Christian d’Elverts programmatische Äußerung von 1848: „[W]enn wir vor allem und zuerst Oesterreicher – Glieder und Brüder eines mächtigen Oesterreich, das über Alles, wenn es nur will – seyn und bleiben wollen, so begehren wir doch auf das Lebhafteste den innigsten Verband mit dem großen und herrlichen Deutschland, dem Heimatlande unserer Kultur, dem Sitze des geistigen Lebens, freier Forschung, gediegener Wissenschaft […]“; Christian F. d’Elvert, Die Vereinigung der böhmischen Kronländer Böhmen, Mähren und Schlesien zu einem gemeinschaftlichen Landtage und zu einer Zentralverwaltung, Brünn 1848, S. 77, zit. in Frank Hadler, „Die mährische Geschichtsschreibung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 31 (1988), S. 265–280 und S. 268. 144 Leo Thun/Alois Flir, Die österreichische Universitätsfrage. Beleuchtet vom Standpunkte der Lehr- und Lernfreiheit, Leipzig 1853, S. 22. 145 Franz Leander Fillafer, “‘Idea imperialna’ i misje cywilizacyjne”. 146 Jiří Kořalka, „Palacký und Czoernig. Eine tschechisch-deutsche Zusammenarbeit im Geist des böhmischen Landespatriotismus“, in: Catherine Horel (Hg.), Nations, cultures et sociétés d’Europe centrale au XIX e et XXe siècles. Mélanges offerts au Professeur Bernard Michel, Paris 2006, S. 139–155. 147 Zur Revision dieses Bildes: Seidler, Österreichischer Vormärz und Goethezeit; Leopold Warnkönig, „Ficker und von Sybel. Über die deutsche Nation, das deutsche Kaiserreich und die österreichische Monarchie“, in: Österreichische Vierteljahresschrift für katholische Theologie 1 (1862), S. 125–153.
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plizit antispekulativen Kurs. 149 Mit der damals schon verrufenen und verkannten Aufklärung hatte das mehr zu tun, als es den Begründern dieses Kurses wie Albert Jäger lieb war. 150 V. Resümee und Ausblick Zusammenfassend sei festgehalten: In den habsburgischen Ländern bestand eine stark ausgeprägte Tradition der Aufklärungshistorie, die auch im frühen 19. Jahrhundert nicht diskreditiert wurde. Sie beruhte auf einem philologischen, nicht erfahrungswissenschaftlichen Evidenzmodell und konnte an die maurinisch inspirierten Editionsprojekte des 18. Jahrhunderts gut anknüpfen, was auch im Sinne der antischolastischen Präferenzen der katholischen Aufklärung bis in den Vormärz opportun blieb. 151 Der Historismus konnte hier nicht reüssieren. Die durch Herder und die Weimarer Klassik vermittelte Ästhetisierung der historischen Darstellung, der erzählungskonfigurierende Nachweis des Wirkens sittlicher Mächte 148 Vgl. Lhotsky, Geschichte des Instituts, S. 25; Albert Jäger, „Graf Leo Thun und das Institut für österreichische Geschichtsforschung“, in: Österreichisch-Ungarische Revue N.F. 8 (1899/1900), S. 1–22; Josef Karl Mayr, „Die Anfänge Theodor Sickels“, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 62 (1954), S. 537–573, 548, hier auch S. 550; über die Grundlagen der Diplomatikkurse, Mabillons De re diplomatica und Gottfried Bessels Chronicon Gottwicense; weiterhin Ludwig Bittner, „Ein vormärzlicher Plan zur Errichtung einer Archivschule“, in:Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 41 (1926), S. 273–278 und S. 276. 149 Lhotsky, Österreichische Historiographie, S. 166–167 und S. 178; ders., Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung [Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsschreibung, Ergänzungsband 17], Graz 1954; Nikolaus Grass, „Benediktinische Geschichtswissenschaft und die Anfänge des Instituts für österreichische Geschichtsforschung“, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 68 (1960), S. 485–505; Paula Sutter Fichtner, “History, Religion, and Politics in the Austrian Vormärz”, in: History and Theory 10 (1971), S. 33–48. 150 Albert Jäger, Kaiser Joseph II. und Leopold II.: Reform und Gegenreform [Österreichische Geschichte für das Volk XIV], Wien 1867, S. 8, wo über Michaelis zu lesen ist, er „wendete nach seiner Rückkehr aus England und Holland die Lehre Montesquieu’s und die neue Kritik auf die Erklärung des Testaments an.“ Weiterhin: „Einseitiges Gefallen an der kritischen Filosofie und das Verwerfen alles Historischen erzeugte gegen die Kirche, die ständischen Verfassungen, die Unterschiede der Stände und gegen so manche andere althergebrachte Verhältnisse eine Abneigung, die vorzüglich die mittleren Schichten der Bevölkerung durchdrang. Es war dies der Geist des sogenannten Liberalismus oder Radikalismus, der in seiner weitern Entwicklung die verderblichen Revoluzionen am Ausgange des XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts in fast allen westlichen und mitteleuropäischen Staaten hervorbrachte. Damals, in seinen ersten Anfängen, zeigte sich die Verderblichkeit dieser Richtung noch nicht genug; erst spätere blutige Erfahrungen stellten sie im vollen Lichte dar.“; W[enzel] Wladiwoj Tomek, Geschichte des österreichischen Kaiserstaates, zum Gebrauche an Gymnasien und Realschulen, Prag 1853, S. 198–199. 151 So lässt sich auch die für die Zeit vor 1848 häufig angenommene Naturrechtsdominanz in den habsburgischen Ländern relativieren.
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und leitender Tendenzen, wurde in den habsburgischen Ländern ebenso wenig prägend, wie das Antikenbild der neuhumanistischen Bildungsreligion. Dazu kam als dritter Faktor die Bibelexegese der katholischen Aufklärung, die sich der von Herder und Heyne ausgehenden Analyse des Mythos als Poesie und ihrer Anwendung auf die heilige Schrift verschloss. Daraus ergab sich, verbunden mit der Vorbildfunktion, die die kulturellen Fortschritte im „größeren Deutschland“ beanspruchten, ein politisch formulierter Aufholbedarf, den die Universitätsreform Leo Thuns im Bereich des Rechts, wie auch der Geschichte und der Philologie, zu erfüllen trachtete. Im Vormärz hatte sich, vor allem in den böhmischen Ländern und in Ungarn, eine nationalliberale Historiographie entwickelt, die den Gelehrtenpatriotismus der Spätaufklärung zwar recht erfolgreich vereinnahmte, dessen Methoden und Intentionen jedoch zielstrebig umbaute und neu akzentuierte. Auch diese nationalliberalen Historiker beschäftigten sich weniger mit den Historisten wie Niebuhr, Ranke und Droysen. Sie orientierten sich vielmehr an den Göttinger Spätaufklärern der „Schwellenzeit“ wie Heeren und Wachsmuth. Eine vergleichbare nationalliberale Entwicklung unterblieb unter den deutsch-österreichischen Historikern. Das war einerseits durch die starke Präsenz der editionsphilologischen Tradition bedingt, andererseits durch den charakteristischen intra muros–Effekt 152 der dynastischen Staatsloyalität, der großdeutsche Aspirationen, die Spiritualisierung der Nation und die historistische Ästhetisierung der Geschichtsschreibung blockierte. Hormayr, Joseph von Hammer-Purgstall und Julius Franz Schneller blieben als Historiker Außenseiter. Bildeten sich nationalliberale Tendenzen, dann zeigten sie im Regelfall großdeutsche Resultate. Eine gewisse Ausnahme bildete der großdeutsche Katholizismus, der sich vom deutsch-österreichischen Liberalismus durch seine radikal antijosephinische Haltung und historisch ausgearbeitete Sicht auf die „germanisch-christliche“ Prägung des frühen Mittelalters scharf unterschied. Daneben lebten ältere landespatriotische Interessen, jetzt häufig mit positiver Bewertung der katholischen Kirche, mit klösterlichen und auf Landespatrozinien bezogenen Regionalhistorien und –topographien fort, ebenso wie von den Ständen geförderte Prestigeprojekte – wie die Editionen der Landtafeln. Nach 1848 kam es unter der Federführung von Leo Thun zu einer Neuorganisation der vaterländischen Geschichtsforschung, die den antispekulativ-editionsphilologischen Stil institutionalisierte (ungeachtet der Konflikte der altösterreichischen Gelehrten mit Frischberufenen wie Theodor Sickel). Damit wurden die nationalliberalen historiographischen Tendenzen in anderen Ländern der Monarchie, die sich eben in den deutschösterreichischen Ländern nicht entwickelt hatten, ausgehebelt. Ihnen wurde in den 1850er Jahren zusätzlich mit gesamtstaatlichen Geschichten begegnet, die auf ministerielle Empfehlung entstanden. Ihre Autoren wie W. W. Tomek machten oft die Erfahrung, dass die Gesamtmonarchie, die sie 152 Vgl. Peter Hanák, „Österreichischer Staatspatriotismus im Zeitalter des aufsteigenden Nationalismus“, in: Reinhard Urbach (Hg.), Wien und Europa zwischen den Revolutionen 1789– 1848, Wien 1978, S. 315–330 und S. 322.
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herbeischrieben, schwer mit der Konzeption der Gewährsleute im Ministerium und im brain trust der Universitätsreformer vereinbar war, hinter deren großösterreichischer Pose sich aus austroslawistischer Perspektive großdeutsche Prämissen verbargen. Das zeigte sich schon an der Herleitung der Ursprünge von Grundfiguren monarchischer Ordnung, die beide Gruppen befürworteten, die aber nach 1848 aufgrund postrevolutionärer Schuldzuweisungsymmetrien historisch nicht kohärent interpretiert werden konnten. 153 Ein vergleichbarer Prozess entfaltete sich durch die von Joseph Unger begründete historische Schule der Rechtswissenschaft, in der die rigide Architektur der Pandektenwissenschaft eben nicht nur, wie stolz betont wurde, die als exegetisch und vernunftrechtlich attackierte Auslegungsmethode des Vormärz ablöste, sondern auch die Rechtsgeschichten der habsburgischen Länder, die in den 1840er Jahren entwickelt worden waren, staatsrechtlich marginalisierte und in Spezialgremien wie der Weistümerkommission neutralisierte. Hier bot der vielgescholtene Vormärz mehr Freiräume als der Neoabsolutismus. Zuletzt wurde angedeutet, dass die Charakteristika der editionsphilologischen Wissenschaft durchaus für die österreichische Situation nach 1848 prägend blieben, dass aber die Konfrontation mit den protestantischen Prämissen des Historismus und dem, wie es damals schien, in den deutschen Ländern verwirklichten Ideal „fortschrittlicher“ Bildung einen Sogeffekt entwickelte, der auch eine neue Selbstdeutung der österreichischen Geschichtsforschung und der Zeitgeschichte der eigenen Zunft hervorbrachte. Hier spielten zwei Entwicklungen eine Rolle, die Historisierung der Aufklärung im Disziplinensystem und die damit verbundenen Argumente über fachspezifische Erkenntnisformen (vgl. oben Albert Jägers Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Probst), durch welche die Aufklärung auf eine geschichtslose, ja geschichtsfeindliche Weltanschauung festgelegt wurde, und die gleichzeitige Etablierung eines Verständnisses der Aufklärung als eng mit der Reformation und dem Protestantismus verbundenem Phänomen. Dass die österreichische editionsphilologische Schule selbst ihre Wurzeln in der Aufklärung hatte, passte nicht in dieses Geschichtsbild. Es entstand eine Selbstdeutung der österreichischen Geschichtsforschung, die deren historische Voraussetzungen verschüttete.
153 Vgl. etwa Johann Ptaschnik, „[Rezension von] W. W. Tomek, Děje mocnářstwí rakauského, Praha 1852“, in: Zeitschrift für österreichische Gymnasien 4 (1853); Anm. der Redaktion, die anlässlich von Tomeks Kommentierung der Kolonisierung unter Ottokar II. Přemysl auf Seite 661,*, darauf hinweist, dass die „bloße Einführung des Königtums und seiner Consequenzen“ bereits die Aufnahme eines germanischen Elements in die „Urgrundlagen“ der altböhmischslawischen Verfassung bedeute.
DAS SCHREIBEN PERSISCHER GESCHICHTE AM BEISPIEL DES ÖSTERREICHISCHEN ORIENTALISTEN JOSEPH VON HAMMER-PURGSTALL (1774–1856) Sibylle Wentker I. Das Interesse an der Geschichte Persiens zeigte sich auf zwei Ebenen, namentlich der Betrachtung des antiken Persien und der Betrachtung der islamischen Periode im Iran. Diese Ebenen mussten sich nicht notwendigerweise berühren. Die Beschäftigung mit dem antiken Persien erlangte ihren festen Platz in der Darstellung des Fremden bei den klassischen griechischen Historikern. Als Schullektüre des Gymnasiums fand das dort vermittelte Bild von den Persern allgemeine Verbreitung. 1 Die antike Geschichte Persiens wurde allerdings nicht von Orientalisten geschrieben, sondern von klassischen Philologen. Ab dem späten 18. Jahrhundert gesellte sich eine Begeisterung hinzu, die aus Reiseberichten für das antike Persien gespeist wurde, in denen die antiken Stätten des persischen Reiches beschrieben wurden. Eine große Rolle kommt hier der Beschäftigung mit Persepolis zu. Die Existenz von Persepolis war grundsätzlich lange bekannt gewesen und die Ruinenstätte unweit der Stadt Schiras von Don Garcia Figuera bereits 1618 eindeutig als der Königssitz der Achämeniden identifiziert worden. 2 Eine breite Rezeption lösten aber erst die Beschreibungen Carsten Niebuhrs aus, der als einziger Überlebender einer dänischen Expedition 1787 zehn Tage in den Ruinen von Persepolis verbrachte, sie genau studierte und in seinen Reisebeschreibungen von Arabien und anderen umliegenden Ländern beschrieb. 3 So brachte Johann Gott-
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Seit den von Wilhelm von Humboldt 1808–10 angestoßenen Reformen für das Schulwesen hatte der Latein- und Griechischunterricht im Gymnasium eine Schlüsselposition im höheren Bildungswesen inne. Wilfried Nippel, „Einleitung“, in: Wilfried Nippel (Hg.), Über das Studium der Alten Geschichte, München 1993, S. 11–31, hier S. 13. Zum Bild der Perser aus antiken Quellen vgl. Irene Madreiter, Stereotypisierung – Idealisierung – Indifferenz, Wiesbaden 2012. Josef Wiesehöfer, „‚... Sie waren das Juwel von allem, was er gesehen‘. Niebuhr und die Ruinenstätten des alten Iran“, in: Josef Wiesehöfer/Stephan Conermann (Hg.), Carsten Niebuhr und seine Zeit, Stuttgart 2002, S. 267–285, hier S. 269. Carsten Niebuhr, Reisebeschreibung nach Arabien und den umliegenden Ländern, Nachdruck der Ausgabe Kopenhagen 1774/1778 und Hamburg 1837, Graz 1968, 3 Bde.
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fried Herder 1787 die einflussreiche Schrift Persepolis, eine Muthmaassung heraus, in der er die Ruinen von Persepolis für ebenso bedeutend wie die ägyptischen erklärte. 4 Dass sich Persepolis und die persische Mythologie in Iran selbst einer starken Identifikationskontinuität erfreuten, war den europäischen Rezipienten des antiken Persepolis nicht bewusst bzw. vielleicht sogar gleichgültig. Persepolis wurde seit den ersten iranischen Dynastien aus verschiedenen Gründen als Identifikationsobjekt verwendet und wird auch heute in der Islamischen Republik Iran noch als solches herangezogen. 5 Genauso wurden Rückgriffe auf Motive aus der persischen Mythologie seit der Herrschaft der Mongolen in Iran zur Herrschaftslegitimation immer wieder eingesetzt, ab der Zeit der Kadscharen (ab 1796) in verstärkter Form. Die Dynastie der Pahlavi schließlich setzte die antike Geschichte Persiens als den hauptsächlichen Legitimationsmythos für die eigene, nicht sehr alte Dynastie ein. 6 Einen besonderen Höhepunkt dieser Identifikationsverklärung darf man fraglos in der aufwendigen Selbstinszenierung von Schah Mohammad Reza Pahlavi als legitimem Erben des Kaisers Kyros erblicken, der das Jubiläum dessen 2.500 Jahre verstrichenen Todes in der Kulisse von Persepolis 1971 mit allergrößtem Pomp beging. Neben Staatsmännern und Königshäusern aus aller Welt huldigten auch deutschsprachige Orientalisten dem Ereignis mit einer Festgabe deutscher Iranisten zur 2500 Jahrfeier Irans. 7 Die Majorität der Beiträge beschäftigte sich mit dem antiken Iran, die Beiträge über moderne Geschichte Irans waren in der Minderheit. So trug die Festschrift bewusst oder unbewusst dem Identifikationsmythos der Pahlavi Rechnung. Die Frage, wie die deutsche Orientalistik überhaupt strukturiert war, ist in den letzten Jahren verschiedentlich behandelt worden. Suzanne Marchand hat in mehreren Beiträgen herausgearbeitet, dass eines der wesentlichen Merkmale der deutschen Orientalistik das nahe Verhältnis zur klassischen Philologie bei gleichzeitiger kolonialer Absenz des Landes sei. Die orientalische Philologie in Deutschland, die von den Fesseln der Theologie befreit worden war, bewirkte ihrer Ansicht nach einerseits die Hinwendung zur Arianophilie und andererseits die Abkehr von Europa als Ursprungsort der Geschichte. 8 Marchand betont mehrfach, 4 5
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Johann Gottfried Herder, Persepolis. Eine Muthmaassung, Gotha 1787. Ali Mousavi, “Persepolis in Retrospect: Histories of Discovery and Archaeological Exploration at the Ruins of Ancient Parseh”, in: Ars Orientalis 32/2002, S. 209–251. Der Autor äußert vor allem sein Bedauern, dass die westliche Orientalistik sich in wenig befriedigender Weise mit der iranischen Beschäftigung mit Persepolis auseinandergesetzt hat. Zum Prozess der iranischen Nationalisierung: Mohammed Tavakoli-Targhi, Refashioning Iran. Orientalism, Occidentalism and Historiography, Houndsmills 2001 und Afshin Marashi: Nationalizing Iran. Culture, Power, and the State, 1870–1940, Seattle 2008. Wilhelm Eilers, Festgabe deutscher Iranisten zur 2500 Jahrfeier Irans, Stuttgart 1971. “... it is my contention that, though focused on the languages of the ancient world, German orientalism helped to destroy Western self-satisfaction, and to provoke a momentous change in the culture of the West: the relinquishing of Christianity and classical antiquity as universal norms.” Suzanne Marchand, “German Orientalism and the Decline of the West”, in: Proceedings of the American Philosophical Society 145/2001, S. 465–473, hier S. 465. Zusammenfas-
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dass sämtliche Verallgemeinerungen zur Klassifizierung einer sogenannten „deutschen Orientalistik“ fehl am Platz seien, allerdings hinterfragt sie auch nicht die allgemeine wissenschaftshistorische Ausklammerung der Beschäftigung mit der islamischen Geschichte und konzentriert sich selbst nur auf die vorislamische Geschichte. Genauso wie die allgemeine islamische Geschichte blieb auch die Beschäftigung mit der islamischen Geschichte Persiens wissenschaftsgeschichtlich weitgehend unbeachtet. II. Die ersten Kenntnisse über die Geschichte des Iran nach der islamischen Eroberung wurden aus mannigfaltigen historischen Reiseberichten gewonnen, die von Autoren stammten, die ihre Reiseeindrücke als politische Gesandte oder Geschäftsleute (wie Jean Chardin, der eigentlich Juwelenhändler war) am Hof des Schahs von Persien in Isfahan mitteilten. Bei allem Einfluss auf die späteren Geschichtsbilder waren die Beschreibungen des persischen Staates bzw. der Reisen nach Persien mehr politischen als historischen Charakters. Gegenstand der Berichte war zumeist eine Beschreibung des persischen Hofes und die Reiseschilderung nach Iran. Die Reiseberichte wurden stark rezipiert, ihr Inhalt jedoch immer wieder anders gewichtet. Die Berichte über den Zustand des persischen Reiches sprachen sich beispielsweise im Allgemeinen recht neutral über die orientalische Despotie in dem Sinne aus, dass die Macht des persischen Königs nicht wie in der europäischen Monarchie durch Stände oder Adel beschränkt wurde. Mit der Wandlung des neutralen Despotiebegriffes ins Negative litt auch die Betrachtung des persischen Staates bis hin zur vollkommenen Verunglimpfung, wie Osterhammel gezeigt hat. 9 Unter Verweis auf Jürgen Osterhammel hat Stefan Brakensiek diese Entwicklung am Beispiel des Reiseberichtes von Engelbert Kaempfer beschrieben. 10 Kaempfer hatte eine Reise bis nach Japan unternommen und verbrachte etwas mehr als eineinhalb Jahre vom März 1684 bis November 1685 in Isfahan, wo er an offiziellen Audienzen des Schahs teilnahm. Nach seiner Rückkehr verfasste send aufgearbeitet vgl. auch Suzanne Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009. 9 Siehe hierzu: Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, im Kapitel „Wirkliche und unwirkliche Despoten“, S. 271–309, in dem er die Entwicklung des Begriffes bei verschiedenen Autoren diskutiert. 10 Stefan Brakensiek, „Politische Urteilsbildung zwischen Empirie und Tradition. Der PersienBericht des Engelbert Kaempfer 1684/85“, in: Sabine Klocke-Daffa et al. (Hg.), Engelbert Kaempfer (1651–1716) und die kulturelle Begegnung zwischen Europa und Asien, Lemgo 2003, S. 93–124. Identisch dazu auf Englisch: Stefan Brakensiek, “Political Judgement between Empirical Experience and Scholarly Tradition: Engelbert Kaempfer’s Report on Persia (1684–85)”, in: The Medieval History Journal 5,2/2002, S. 223–246. Vorliegender Aufsatz verwendet die deutschsprachige Version.
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Kaempfer seinen berühmt gewordenen Reisebericht, der 1712 unter dem Namen Amoenitates exoticae, exotische Köstlichkeiten, in Lemgo erschien. 11 Der erste Teil des insgesamt fünfteiligen Werkes beschäftigte sich mit dem Zustand des persischen Reiches, er beschrieb die uneingeschränkte Macht des persischen Königs, allerdings auch die isolierte Erziehung der Prinzen und den Einfluss des Harems. Hier übernahm Kaempfer Beschreibungen früherer Reisender, allen voran des Franzosen Jean Chardin, dessen Beschreibung großen Einfluss auf das Persienbild der französischen Aufklärung hatte. 12 Auch wenn Kaempfers Beschreibungen keinen Hehl aus seiner Missbilligung machten, dass die Thronerben in vollkommener Isolation erzogen wurden, intellektuell und körperlich verkümmerten und zu Opiumgenuss und sexuellen Ausschweifungen verleitet wurden, so bewunderte er doch auf der anderen Seite die religiöse Toleranz, die in Iran vorherrschte. 13 Analog zum europäischen Geisteswandel änderte sich nun die Rezeption der Reiseberichte. In ihren Wiedergaben der Berichte Chardins und Kaempfers beschränkten sie sich auf die Informationen über Dekadenz und Despotie und ließen deren Berichte über die religiöse Toleranz weg. Das Bild von Persien wandelte sich somit komplementär in der Weise, in der sich das europäische Selbstverständnis wandelte und definierte. „Zur Epistemologie der Urteilsbildung gehört das Prinzip der Alterität: An der Erfahrung des Anderen wird die Wahrnehmung des Eigenen geschärft. In allen herangezogenen PersienBerichten des 17. Jahrhunderts fällt ins Auge, dass die abendländischen Reisenden über die Erfahrung der Fremde zu einer Bestimmung dessen kamen, was europäisch war.“ 14
Auch wenn Persien im 18. Jahrhundert eines der Länder war, über das unverhältnismäßig viel geschrieben wurde, begünstigte die unsichere und unstabile politische Situation in den letzten Jahrzehnten vor dem Beginn der Kadscharenherrschaft eine genaue Bereisung des Landes keineswegs. 15 Im 19. Jahrhundert geriet Persien durch seine geostrategische Lage als Zugang nach Indien verstärkt in den politischen Blick der Großmächte England, Frankreich und Russland. Gleichzeitig versuchten die seit 1796 regierenden Kadscharen, das Land durch externe Berater
11 Engelbert Kaempfer, Amoenitatum exoticarum politico-physico-medicarum fasciculi V, Lemgo 1712. Die Übersetzung des ersten Buches liefert: Walter Hinz, Am Hofe des persischen Großkönigs, Leipzig 1940, Neuauflage Stuttgart 1984. Dazu vgl. Monika Gronke, „Am Hof von Isfahan – Engelbert Kaempfer und das safawidische Persien“, in: Detlef Haberland (Hg.), Engelbert Kaempfer (1651–1716). Ein Gelehrtenleben zwischen Tradition und Innovation, Wiesbaden 2004, S. 189–198. 12 Brakensiek, „Politische Urteilsbildung“, S. 110. 13 Ebd., S. 112. 14 Ebd., S. 115. 15 Osterhammel, Entzauberung Asiens, S. 102–104; mit Verweis auf die zu Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzende, intensive Persiendiplomatie der Engländer: Rose Greaves, “Iranian Relations with Great Britain and British India, 1798–1921”, in: Peter Avery (Hg.), The Cambridge History of Iran, 7: From Nader Shah to the Islamic Republic, Cambridge 1991, S. 374–425, v. a. S. 374–389.
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militärisch und infrastrukturell zu reformieren und zu stabilisieren. Sie holten ausländische Militärberater ins Land, und Teheran, die neue Hauptstadt des Landes, entwickelte sich zu einer international bewohnten Stadt. 16 Die Teilnehmer dieser Missionen und Gesandtschaften interessierten sich nicht nur zunehmend für Land und Geschichte, sondern erwarben vielfach Kenntnisse der persischen und arabischen Sprache und konnten die reichen Quellen über persische Geschichte der islamischen Periode überhaupt erst benutzen und erschließen. Die englische East India Company spielte hier eine bislang noch wenig bearbeitete Rolle. Das aus ihr hervorgegangene Personal hat auf die Entwicklung der historischen Forschungen über Persien einen großen Einfluss gehabt, und ihre Arbeiten verliehen der Erforschung der Geschichte Irans bedeutende Impulse. Eines der herausragenden Beispiele bietet der englische Offizier und spätere Gouverneur von Bombay, John Malcolm. 17 Über die East India Company kam Malcolm in jungen Jahren nach Indien und machte rasch Karriere. 1799 wurde er zum Gesandten an den Hof in Persien bestimmt und sollte das Land auf insgesamt drei Missionen besuchen. Dabei interessierten ihn nicht nur die aktuellen politischen Verhältnisse, sondern auch die gesamte Geschichte Persiens. So schrieb er seinem Vater: “I employ every leisure hour in researches into the history of this extraordinary country, with which we are but little acquainted.” 18 Nach Indien zurückgekehrt, sammelte er Material, verschaffte sich Abschriften von persischen Geschichtswerken und veröffentlichte in England The History of Persia in zwei Bänden. 19 Als die früheste Gesamtdarstellung der persischen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart erfreute sich Malcolms Buch großer Resonanz und wurde ins Russische und sogar ins Persische übersetzt. Malcolms erklärtes Ziel war es, die Engländer mit der Geschichte eines weitgehend unbekannten Landes vertraut zu machen, das seiner Ansicht nach und aus eigener Anschauung heraus die Aufmerksamkeit der Allgemeinheit sehr wohl verdient hatte. Malcolm ist ein gutes Beispiel für die vielen englischen Wissenschaftler, die im Verwaltungsdienst der englischen Kolonialmacht mit dem „Orient“ in Berührung kamen und diesen zum Gegenstand ihres intellektuellen Interesses machten, auch wenn selbstverständlich Malcolms Referenzrahmen als Offizier eines expandierenden Empires in sein historisches Werk eingeflossen ist.
16 Zur Geschichte der Militärreformen in Iran siehe Stephanie Cronin, “Building a new army: Military reform in Qajar Iran”, in: Roxane Farmanfarmaian (Hg.), War and Peace in Qajar Persia. Implications past and present, London 2008, S. 47–87. 17 A. K. S. Lambton, “Major General Sir John Malcolm (1769–1833) and the ‘History of Persia’”, in: Iran 33/1995, S. 97–109. Zu seiner beeindruckenden Karriere in Indien vgl. v.a.: Jack Harrington, Sir John Malcolm and the Creation of British India, New York 2010. 18 Lambton, “Major General”, S. 99. 19 John Malcolm, The History of Persia from the most early period to the present time, London 1829, 2 Bde.
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III. Die Beschäftigung mit persischer Geschichte entwickelte sich in Österreich nach anderen Mustern als in England oder Frankreich. Das Land hatte kein koloniales Interesse an Persien, sondern es versuchte dort eine möglichst neutrale Position zu wahren, um keine der Großmächte zu verärgern. Österreich beteiligte sich auch nicht sehr intensiv an den zahlreichen Missionen nach Iran, die die Modernisierung des Landes zum Ziel hatten. Lediglich zwei Missionen österreichischer Wissenschaftler, Militärs, Ingenieure und Techniker wurden auf offizielle iranische Einladung nach Iran geschickt. 20 Die auf den Missionen und sonstigen Kooperationen erworbenen Kenntnisse über das Land legten einen wesentlichen Grundstein für die späteren exzellenten Wirtschaftsbeziehungen Österreichs mit Iran. Der eigentliche Fokus Österreichs in seinen auswärtigen Beziehungen zum Orient lag bekanntlich im Osmanischen Reich. Die für die Ausübung dieser Beziehungen notwendigen Diplomaten und Übersetzer wurden seit 1754 in der Orientalischen Akademie ausgebildet. Die Universität spielte damals für den Spracherwerb der orientalischen Sprachen keine Rolle. Dort wurden orientalische Sprachen nur im Zusammenhang mit Theologie gelehrt, was sich erst änderte, als die philologischen Fächer sich im Rahmen der aufgewerteten philosophischen Fakultäten als eigenständige Disziplinen entwickeln konnten. Die Orientalische Akademie war nach französischem Vorbild gegründet worden und sollte die österreichische Diplomatie von den professionellen Dolmetschern und Übersetzern in Konstantinopel unabhängig machen. 21 Aus der Orientalischen Akademie ging eine Reihe von österreichischen Orientalisten hervor, die ihre sprachliche Ausbildung nicht nur beruflich nutzten, sondern auch für meist private Forschungszwecke. Der bekannteste Absolvent der Orientalischen Akademie ist zweifellos der Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall (1774–1856).22
20 Vgl. dazu die detailreiche, wenn auch Iran gegenüber herablassende Darstellung von Helmut Slaby, Bindenschild und Sonnenlöwe. Die Geschichte der österreichisch-iranischen Beziehungen bis zur Gegenwart, Graz 1982, Kap. 3–5. 21 Ernst Dieter Petritsch, „Die Anfänge der Orientalischen Akademie“, in: Oliver Rathkolb (Hg.), 250 Jahre – von der Orientalischen zur Diplomatischen Akademie in Wien, Innsbruck/Wien 2004, S. 47–64; Ernst Dieter Petritsch, „Erziehung in guten Sitten, Andacht und Gehorsam. Die 1754 gegründete Orientalische Akademie in Wien“, in: Marlene Kurz et al. (Hg.), Das Osmanische Reich und die Habsburgermonarchie, Wien/München 2005, S. 491– 501. 22 Ausführlich mit Literatur Sibylle Wentker, „Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall. Ein Leben zwischen Orient und Okzident“, in: Hannes D. Galter et al. (Hg.), Joseph von HammerPurgstall, Graz 2008, S. 1–12. Seit 2011 online die Quellen- und Briefzusammenstellung: Walter Höflechner/Alexandra Wagner (Hg.), Joseph von Hammer-Purgstall. Erinnerungen und Briefe, unter Heranziehung der Arbeiten von Herbert König, Gerit Koitz-Arko, Alexandra Manes, Gustav Mittelbach, Thomas Wallnig u.a., 3 Bde., Graz 2011 (http://gams.unigraz.at/context:hp). Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (I), stellt das Exzerpt der Erinnerungen aus meinem Leben Joseph von Hammer-Purgstalls dar, die in Abschrift durch Reinhart Bachofen von Echt im Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
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Er gilt als einer, wenn nicht als der bedeutendste österreichische Orientalist, gewiss aber war er der produktivste. Er besuchte die Orientalische Akademie und lernte dort neben anderem die orientalischen Hauptsprachen Arabisch, Persisch und Türkisch, wobei es wahrscheinlich um sein Persisch am besten bestellt war. Sein späterer Berufswunsch war es dann auch vordringlich, nach Persien entsandt zu werden, allerdings blieb Hammer dieser Wunsch unerfüllt. 23 Nach der Beendigung der fünf Schuljahre musste Hammer 24 weitere fünf Jahre warten, bevor er eine Verwendung an der Internuntiatur in Konstantinopel zugewiesen bekam. Diese fünf Jahre verbrachte er in der Staatskanzlei und dort hauptsächlich mit dem Exzerpt des Kašf aẓ-ẓunūn ͑an asāmī wa-l-funūn, einer bibliographischen Enzyklopädie des osmanischen Gelehrten Ḥāǧǧī Ḫalīfa oder Kātib Čelebī, wie er auch genannt wird. 25 Der Kašf aẓ-ẓunūn umfasst nicht weniger als 14.500 Buchtitel in alphabetischer Reihenfolge, wobei Ḥāǧǧī Ḫalīfa nach Maßgabe der Möglichkeiten Angaben zu Titel, Sprache, Name des Autors, Datum der Entstehung des Werkes, incipit, Kapiteleinteilung und etwaigen Übersetzungen und Kommentare machte. Hammer erwarb bei der intensiven Beschäftigung mit diesem Werk enorme bibliographische Kenntnisse der orientalischen Literatur. Diese waren ihm vor allem bei der Verfolgung seiner späteren wissenschaftlichen Arbeit und seinen intensiven Recherchen in den Bibliotheken und Buchmärkten von Konstantinopel dienlich. Hammers Anstellung im österreichischen Staatsdienst sah eigentlich wissenschaftliche Arbeit nicht vor, allerdings war die dortige Arbeit auch nicht intensiv genug, um Hammer von der Verfolgung seiner orientalistischen Interessen abhalten zu können. Hierin ähnelt er John Malcolm, dessen wissenschaftliche Arbeit auch reinem Privatinteresse entsprang. Der Kašf aẓ-ẓunūn war bereits von d’Herbelot für die Bibliothèque orientale verwendet worden, wie Antoine Galland in seinem Vorwort der Ausgabe Den Haag 1777 schreibt. 26 Hammer benutzte dieses Werk zwar eingehend, 27 dachte jedoch nicht daran, d’Herbelots Arbeits-
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aufbewahrt werden. Etwa auf ein Sechstel gekürzt gedruckt bei: Reinhart Bachofen von Echt, Joseph von Hammer-Purgstall, Erinnerungen aus meinem Leben, 1774–1852, Wien/Leipzig 1940. Eine ständige österreichische Gesandtschaft in Teheran bestand erst seit 1872 mit Viktor Graf Dubsky als erstem Gesandten. Der erste ständige Vertreter Persiens mit Sitz in Wien war über 25 Jahre Neriman Khan (1878–1903). Vgl. Slaby, Bindenschild, S. 383–385. Hammer-Purgstall erst ab 1835, nach dem Erbe des Namens Purgstall und Schlosses Hainfeld des letzten, kinderlos verstorbenen Grafen Purgstall und seiner Frau. Vgl. Orhan Şaik Gökyay: “Kātib Čelebī”, in: Enyclopaedia of Islam 4/1997, S. 760–763. Barthélemy d’Herbelot de Molainville, Bibliothèque orientale ou dictionnaire universel, Nachdr. d. Ausg. The Hague 1777–1779, 4 Bde. in 8, Frankfurt 1995, (I), XXIII. Dazu vgl.: Nicholas Dew, “The Order of Oriental Knowledge: The Making of d’Herbelot’s Bibliothèque orientale”, in: Christopher Prendergast (Hg.), Debating World Literature, London 2004, S. 233–252, bes. S. 238–240. Vgl. Briefe von Sacy an Hammer, Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (II).
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weise zu kopieren. 28 Während d’Herbelot für sein großes Werk die konzentrierte Form eines alphabetisch geordneten Lexikons gewählt hatte, zog Hammer es vor, seine Forschungen in zahlreichen einzelnen Werken zu publizieren. Die Kenntnis des Kašf aẓ-ẓunūn ist ein Schlüssel zu Hammers Werkverständnis, denn viele der Urteile Ḥāǧǧī Ḫalīfas übernahm er. Gewöhnlich wird der Name Hammer-Purgstall mit seinem zehnbändigen Werk Geschichte des Osmanischen Reiches 29 in Verbindung gebracht und damit automatisch ein starkes Interesse am Osmanischen unterstellt. Hammers Hauptinteresse lag jedoch auf dem Persischen, sowohl auf der Literatur als auch auf der Geschichte. Es soll hier nur daran erinnert werden, dass es die Übersetzung Divan des Hafis von Hammer war, die Goethe zum nahezu rauschhaften Verfassen des West-östlichen Divans veranlasst hat. 30 Abgesehen von der Übersetzung des Hafis schrieb er 1818 die erste europäische Geschichte der persischen Literatur mit dem etwas sperrigen Titel Geschichte der schönen Redekünste Persiens. 31 Nima Mina hat den Verdacht geäußert, dass die starke Aufmerksamkeit auf den west-östlichen Divan Goethes, als er 1819 erschien, das Werk Hammers um seine verdiente Anerkennung gebracht habe. 32 Hammer verwendete als Hauptquelle für diese Literaturgeschichte die Sammlung von Dichterbiographien des um 1494 verstorbenen Gelehrten Amīr Daulatšāh Samarqandī. 33 Er begnügte sich jedoch nicht mit der Übersetzung dessen Taḏkirat aš-šuʿarāʼ, die als eine der ersten persischen Literaturgeschichten gilt, sondern änderte die Gruppierung der Dichter und fügte zusätzliche hinzu. Bedeutsam ist jedoch, dass die Periodisierung Hammers später von europäischen Darstellungen der persischen Literaturgeschichte übernommen wurde. Hammer teilte die persische Literaturgeschichte in sieben Zeiträume, wovon der vierte lautet: „Zeitalter der lyrischen Dichtkunst. Höchster Flor persischer Poesie und Rhetorik. Hafis und Wassaf.“ In diesem Kapitel behandelte Hammer zwei persische Schriftsteller, die er selbst übersetzte. Der eine ist der bereits er-
28 So schreibt er in seinen Erinnerungen: „An einen Riesenplan, wie der meines Freundes und Lehrmeisters Johannes Müller [gemeint ist der schweizerische Universalhistoriker, Anm. SW], die Auszüge aus allen gelesenen Werken, jemals ein einziges, ganzes, großes Werk, wie die Bibliotheken des Plotins, die Wörterbücher Bayles oder Herbelots zu verarbeiten, hatte ich nie gedacht.“ Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (I), S. 117. 29 Joseph von Hammer, Geschichte des Osmanischen Reiches grossentheils aus bisher unbenützten Handschriften und Archiven, Pesth 1827–1835, 10 Bde. 30 Joseph von Hammer, Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis. Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt, Stuttgart 1812–1813, 2 Bde. Zu dessen Rezeption ausführlich: Hamid Tafazoli, Der deutsche Persien-Diskurs. Zur Verwissenschaftlichung und Literarisierung des Persien-Bildes im deutschen Schrifttum, Bielefeld 2007, v. a. S. 429–540. 31 Joseph von Hammer, Geschichte der schönen Redekünste Persiens mit einer Blüthenlese aus zweyhundert persischen Dichtern, Wien 1818. 32 Nima Mina, “Joseph von Hammer-Purgstall’s Historiography of Persian Literature and its Aftermath”, in: Rüdiger Görner (Hg.), Wenn die Rosenhimmel tanzen. Orientalische Motivik in der deutschsprachigen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 26–51, bes. S. 41. 33 Ḏabīḥ-Allāh Ṣafā, “Dawlatšāh Samarqandī”, in: Encyclopaedia Iranica VII/1996, S. 149f.
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wähnte Hafis und der andere ist der persische Historiker Waṣṣāf, dessen Verbindung von literarischer Kunstfertigkeit und historischem Inhalt ihn sehr anzog. IV. Bis zum Zeitpunkt seiner Pensionierung 1839 war Hammer im Staatsdienst in der Staatskanzlei angestellt. Die meiste Zeit seiner beruflichen Laufbahn verbrachte Hammer in Wien, nur fünf Jahre verbrachte er in Konstantinopel an der Internuntiatur, von 1799–1800 und von 1802–1806, von wo er nach Jassy im Fürstentum Moldau versetzt wurde. Nach seiner Rückkehr 1807 arbeitete Hammer als Hofdolmetscher in Wien. In dieser Funktion besorgte er die Korrespondenz mit der Pforte und kümmerte sich um Gäste aus dem „Orient“, was freilich nicht zu häufig vorkam. Als eine Ausnahme darf der Besuch einer offiziellen persischen Gesandtschaft nach Wien gelten, die Hammer 1819 zu betreuen hatte. 34 Die berufliche Verankerung Hammers legitimierte mithin seine wissenschaftliche Arbeit nach heutigen Begriffen keineswegs, vor allem, wenn man den Umfang seines immer noch nicht ganz erfassten Werks berücksichtigt. 35 Hammer blieb in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit „Dilettant“ im eigentlichen Wortsinn, was bis zur Reform der Universitäten im deutschsprachigen Raum um die Mitte des 19. Jahrhunderts keinen abfälligen Sinn enthielt. Durch die fortschreitende Institutionalisierung des Wissenschaftsbetriebes an den Universitäten geriet der klassische Privatgelehrte in den Geruch der Unprofessionalität, und alle diejenigen, die nicht an Universitäten tätig waren, wurden nach und nach aus dem wissenschaftlichen Betrieb ausgegliedert. Sabine Mangold hat in ihrem Buch über die Geschichte der Orientalistik in Deutschland am Beispiel der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft sehr schön gezeigt, wie aus der Gelehrtengesellschaft der „Liebhaber“ des Faches Orientalistik eine geschlossene Vereinigung von Spezialisten wurde. 36 In späteren Jahren wurde es zunehmend schwieriger bis schließlich unmöglich, ohne universitäre Verankerung in die Deutsche Morgenländische Gesellschaft aufgenommen zu werden. Hammers wissenschaftliche Karriere fällt genau in diese Periode der Professionalisierung und Institutionalisierung der Wissenschaftslandschaft, die alle Außenstehenden ausschloss. Je näher die Hälfte des Jahrhunderts heranrückte und auch darüber hinaus, desto wütender wurden zum Teil die Polemiken gegen ihn, die sich oftmals an den philologischen Mängeln – 34 Sibylle Wentker, „Besuch aus Persien: Die Gesandtschaft von 1819 an den Wiener Hof“, in: Ralph Kauz et al. (Hg.), Diplomatisches Zeremoniell in Europa und im Mittleren Osten in der frühen Neuzeit, Wien 2009, S. 131–154. 35 Siehe die Werkverzeichnisse bei Constant von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Österreich, (VII), Wien 1861, S. 267–289; Bachofen, Joseph von Hammer-Purgstall, S. 571–575; Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (III), S. 1882–2098. 36 Sabine Mangold, Eine „weltbürgerliche Wissenschaft“ – die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte, (XI)), Stuttgart 2004, S. 193f.
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Philologie war ein Merkmal der sich neu entwickelnden universitären Orientalistik – der Arbeiten Hammers orientierten und die Gesamtleistung seines Werkes nicht beachteten. Erst allmählich hinterfragt man die harten Urteile des 19. Jahrhunderts, womit sich auch das Bild von Hammer-Purgstall selbst wandelt. Hammer unterhielt Zeit seines Lebens ein umfangreiches Netzwerk. Dieses zeigte sich beispielsweise bei der Herausgabe der zu ihrer Zeit sehr bedeutsamen Fachzeitschrift Fundgruben des Orients, die von 1809–1819 in sechs Bänden erschien. 37 Die Geschichte dieser Zeitschrift ist bislang wenig beachtet worden, sie dient allerdings als hochinteressante Quelle für Hammers Leben und wissenschaftliche Arbeit und auch für den Austausch innerhalb jenes wissenschaftlichen Netzwerks, das Hammer mit und in dieser Zeitschrift entwickelte und pflegte. Abgesehen von den zahlreichen eigenen Publikationen Hammers in den Fundgruben befand sich unter den Kontribuenten eine Vielzahl von international bekannten Orientalisten, Freunden und Reisenden in den Orient. 38 Das umfangreiche Netzwerk Hammers kann ebenso aus seinem überwiegend unerschlossenen Briefwechsel erschlossen werden. 39 V. Es spricht einiges dafür, Joseph von Hammer eine gewisse Beliebigkeit bei der Auswahl seiner Forschungsobjekte zu unterstellen. Vieles von dem, was er in seinen ausführlichen Einkaufstouren auf dem Buchmarkt in Konstantinopel fand, versuchte er später nicht ganz gerechtfertigt als maßgebliche Quellen auszuweisen. Der Erwerb der persischen Handschrift Taǧziyat al-amṣār wa tazǧiyat alaʿṣār, in Hammers Übersetzung „Sanfte Antreibung der Regionen und linde Betreibung der Aeonen“, 40 erwies sich jedoch als ein glücklicher Griff. Es handelte sich um die Geschichte der Mongolen in Iran von etwa 1250 bis 1330. Über den Autor Šihāb ad-Dīn Faḍl Allāh Šīrāzī, besser bekannt unter seinem Ehrennamen Waṣṣāf (Panegyriker), ist wenig überliefert, und das Wenige ist ausschließlich seinem Werk zu entnehmen. 41 In Analogie zu den anderen zeitgenössischen Historikern der Mongolenperiode in Iran war Waṣṣāf Mitglied der höheren Fiskalad37 Dazu Hannes D. Galter, „Fundgruben des Orients. Die Anfänge der Orientforschung in Österreich“, in: ders. (Hg.), Joseph von Hammer-Purgstall. Grenzgänger zwischen Orient und Okzident, Graz 2008, S. 13–28. 38 Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (III); Ein berichtigtes Inhaltsverzeichnis der sechs Bände der „Fundgruben des Orients“, S. 2106–2131. 39 Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (I). 40 Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte Wassaf’s, Wien 1856, S. 22. Vgl. Judith Pfeiffer, “‘A turgid history of the Mongol empire in Persia’. Epistemological reflections concerning a critical edition of Vaṣṣsāf’s Tajziyat al-amṣār wa tazjiyat al-aʿṣār”, in: Judith Pfeiffer et al. (Hg.), Theoretical Approaches to the Transmission and Edition of Oriental Manuscripts. Proceedings of a symposium held in Istanbul March 28–30, 2001, Beirut 2007, S. 107–132, hier S. 120, Anm. 96, zu den Schwierigkeiten, den Titel angemessen zu übersetzen. 41 Den umfassendsten Überblick zu Waṣṣāf bietet Pfeiffer, “Turgid history”.
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ministration. Protegiert durch den Wesir und bekannten Historiker Rašīd ad-Dīn wurde Waṣṣāf beauftragt, eine Geschichte über und zum Lobe der ilchanischen Herrscherdynastie in Iran zu schreiben, wie er selbst berichtet. Sein Tārīḫ-i Waṣṣāf, die Geschichte Waṣṣāfs, wie sein Werk gewöhnlich genannt wird, besteht aus fünf Teilen und behandelt die Geschichte der Mongolen in Iran von der Eroberung durch Hūlāgū an bis zur Regierungszeit von Abū Saʿīd. 42 Dabei beschränkt sie sich nicht nur auf inneriranische Angelegenheiten, sondern beschreibt auch die Verhältnisse in Zentralasien, Indien und Ägypten sowie die Geschichte der Lokaldynastien in Iran, wie die der Salghuriden in Waṣṣāfs Heimatprovinz Fars. Die Verbreitung der Geschichte Waṣṣāfs in Handschriften ist beeindruckend. Judith Pfeiffer nennt in ihrer umfassenden Studie über Waṣṣāf eine Anzahl von ungefähr 160 Handschriften, von denen viele im Osmanischen Reich geschrieben und benutzt wurden, weil das Werk Waṣṣāfs wegen seiner gehobenen elaborierten Sprache als Lehrbuch für die persische Sprache und Rhetorik angesehen wurde. 43 Wahrscheinlich hat Hammer seine beiden Exemplare des Textes während seines Aufenthaltes in Konstantinopel gekauft, 44 auf jeden Fall aber, bevor er die Redekünste schrieb, in denen er sich eingehend damit beschäftigte. So schrieb er: „Diese Geschichte ist in Hinsicht des Styls im Persischen (...) nämlich das unübertroffene Muster rhetorischer, und nach dem Urtheile der Perser zugleich historischer Kunst“. 45
Sein Enthusiasmus rührte einerseits von der Schwierigkeit und Kunstfertigkeit des persischen Textes her, andererseits war Hammer selbst überzeugt vom Wert der darin enthaltenen historischen Informationen. 46 Hammer verwies mehrfach auf die doppelte Funktion, die Waṣṣāf selbst seinem Werk zugeschrieben hatte, nämlich das Zusammenfügen der Funktion eines historischen Berichtes in vollendeter poetischer Form. Nicht ganz gesichert ist, wann Hammer den Text übersetzte, 47 aber 42 Einen Überblick zur mongolischen Geschichte in Iran bietet Bertold Spuler, Die Geschichte der Mongolen in Iran. Politik, Verwaltung und Kultur der Ilchanzeit 1220–1350, Berlin 1985. 43 Pfeiffer, “Turgid history”, S. 107 und 116. 44 Heute Österreichische Nationalbibliothek, Cod. ÖNB N.F. 220a und 220b. 45 Hammer, Redekünste, S. 244. 46 So schreibt er in einer von der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin mit einem Preis geehrten Schrift über Staatsverwaltung: „Schon die hier berührten Gegenstände des statistischen Ausweises der Einkünfte des Chalifates und der Abhandlung über die Verschiedenheit des bürgerlichen und des Steuerjahres sind eine Probe des reichen historischen Gehaltes dieser Geschichte, welche bisher von europäischen Geschichtsschreibern nur der einzige Verfasser der zu Paris im Jahre 1824 erschienenen Histoire des Mongols [von Mouradgea d’Ohsson, Anm. SW] zum Theile benutzt hat. Ausserdem, dass Wassaf in der früheren Geschichte der mongolischen Herrscher, Nachfolger Dschengischan’s, der besten Quelle persischer Geschichte, nämlich dem Tarichi Dschihanguscha Dschoweini’s gefolgt ist, so spricht er volle fünf und zwanzig Jahre als Augenzeuge der Begebenheiten, die er beschrieben hat, mit, und ist nebst Raschideddin die zuverlässigste Quelle dieser Zeit, (...).“ Joseph von Hammer, Über die Länderverwaltung unter dem Chalifate, Berlin 1835, S. XIIf. 47 Ob er den Text gleich nach der Erwerbung übersetzt hat, muss offen bleiben. Hammer berichtet in seinen Erinnerungen, im Jahr 1832 die erste Hälfte übersetzt zu haben. Höflechner, Jo-
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es regte seine Beschäftigung mit der mongolischen Geschichte an. Im Gegensatz zum hohen Ansehen, welches das Werk Waṣṣāfs im Osmanischen Reich genoss, traf dies nicht auf die europäische Rezeption zu. Dies hatte vor allem drei Gründe. Erstens erlangte die Geschichtsschreibung über den islamischen Orient nicht die gleiche Bedeutung wie die Geschichte des antiken Orients. Hammer beklagte diesen Umstand in seinen Erinnerungen sehr, wenn er im Zusammenhang mit seinen erfolglosen Projekten in der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1851 festhielt, es liege wohl „an dem gänzlichen Mangel an Interesse der übrigen Mitglieder [der Akademie, Erg. SW] für orientalische Literatur und an der Teilnahmslosigkeit für historisches Interesse, sobald dieses das Pfahlwerk des Westens überstieg und nach Osten übergriff“. 48
Ein weiterer Grund für die geringe europäische Rezeption lag natürlich in der für viele unüberwindlichen Sprachbarriere zu dem als schwierigen und auch für Hammer nur mit der Hilfe von Kommentaren zur Gänze verständlichen Textes. In diesem Sinn gibt Hammer in seinen Erinnerungen eine Unterhaltung mit dem deutsch-französischen Orientalisten und Übersetzer des persischen Šāhnāma ins Französische, Julius Mohl 49 wieder, in der sie sich über das allgemeine Desinteresse an orientalischen Belangen unterhielten. 50 Ein dritter Grund liegt in der fortschreitenden Abgrenzung der Disziplinen im Laufe des 19. Jahrhunderts. War Hammer die Intention Waṣṣāfs, Geschichte in der schönsten sprachlichen Form zu präsentieren, noch vertraut, galt dies nicht mehr für die nachkommenden Historiker und Literaturwissenschaftler. Sowohl Historiker als auch Literaturwissenschaftler tadelten Waṣṣāf wegen seines schwülstigen Stils, dessen künstlerische Form in ihren Augen nicht mit dem Genre der historiographischen Darstellung harmonierte. Noch in rezenten Darstellungen wird einerseits Waṣṣāfs Intention der Verbindung von Form und Funktion als “standard disclaimer” abgetan und das Werk so beschrieben, dass es “infamously takes ornamentation to its extreme, and up to the limits of intellegibility, so that even substantive details are presented in a stylized way.” 51
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seph von Hammer-Purgstall, (I), S. 226. Das handschriftliche Manuskript der zu HammerPurgstalls Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen Teile seiner Übersetzung dürfte allerdings nach 1835 geschrieben oder fertiggestellt worden sein, da Hammer 1835 Namen und Titel der Grafen von Purgstall erbte und auf dem Titel des Manuskripts bereits als Hammer-Purgstall erscheint. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wassaf’s Geschichte. Handschriftliches Manuskript der Übersetzung Hammer-Purgstalls, (II-V). Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (I), S. 485. Julius Mohl (1800–1876), Deutscher Orientalist; siehe Carl Gustav Adolf Siegfried, „Mohl, Julius”, in: Allgemeine Deutsche Biographie 22/1885, S. 57–59. „Wir suchten den Grund dieser Abneigung und Widerborstigkeit wider alle Vorschläge zu Gunsten orientalischer Literatur einzig und allein in der Unbekanntschaft der Herren mit den Schätzen und den Sprachen des Orients.“ Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (I), S. 531. Beides vgl. Charles Melville, “Historiography IV, Mongol Period”, in: Encyclopaedia Iranica XII/2004, S. 351.
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Obwohl Hammer stets betonte, dass die sprachliche Kunstform der Geschichte Waṣṣāfs nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass wertvolle historische Informationen darin enthalten seien, legte er die Übersetzung der Geschichte Waṣṣāfs rein philologisch an. Er passte seine Übersetzung sprachlich an die Form Waṣṣāfs an, wobei er versuchte, die Stilmittel der persischen Rhetorik in die deutsche Übersetzung einzubringen. Wo Waṣṣāf reimte, tat Hammer das auch, und wenn ein persisches Wortspiel unübersetzbar schien, so ersetzte er es durch ein deutsches, auch wenn das Ergebnis keine Übersetzung des persischen Textes, sondern ein Nachempfinden der künstlerischen Form war. Hammer versah seine Übersetzung mit einem reichen Anmerkungsapparat, in dem er ausführlich die persischen Wortspiele kommentierte und analysierte, auf die Aussagen der osmanischen Kommentare einging und Koranzitate auflöste, genauso wie er die islamischen Daten in christliche umrechnete und auf Fehler bei der Bestimmung von Wochentagen hinwies. Auffallend bleibt, dass Hammer die gesamte Übersetzung der Geschichte Waṣṣāfs nicht auf ihren historischen Gehalt kommentierte. Er verglich weder die Aussagen Waṣṣāfs mit den Berichten anderer persischer Historiker, noch ordnete er die gewonnenen Informationen vorerst in die europäische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der mongolischen Geschichte ein. Das sollte er erst im Zuge seiner Beschäftigung mit der mongolischen Geschichte ab den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts tun. VI. Der Auslöser für Hammer, sich mit der Geschichte der Mongolen zu beschäftigen, liegt einerseits gewiss in dem Erwerb der Handschrift der Geschichte Waṣṣāfs und zweier osmanischer Kommentare, die die sprachlichen Schwierigkeiten des Werks erklärten. 52 Andererseits hatte die Preisfrage der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg daran einen bedeutenden Anteil. Diese schrieb 1832 die Aufgabe aus, „eine Geschichte des Ulusses Dschutschi’s, oder der sogenannten goldenen Horde, kritisch bearbeitet nach Grundlage sowohl der Orientalischen, besonders Muhammedanischen Geschichtschreiber und der Münzdenkmäler der Chane dieser Dynastie selbst, als auch der alten Russischen, Polnischen, Ungrischen etc. Chroniken und der sonstigen in Schriften gleichzeitiger Europäer zerstreuten Nachrichten“,
zu verfassen. 53 Nachdem der Ausgang der Angelegenheiten um diese Preisfrage für Hammer zu einer großen Enttäuschung geriet, sind wir aus seinen Schriften über den Gegenstand des Konfliktes einerseits und über seine Arbeitsweise andererseits gut informiert. 54 Hammer stürzte sich mit großer Energie auf diese Auf52 Hammer-Purgstall, Geschichte Wassaf’s, (I), Vorrede. 53 Hammer-Purgstall, Goldene Horde, S. XIII. 54 Der Konflikt, auf den hier nicht näher eingegangen werden kann, wurde von HammerPurgstalls Kritikern wohl tatsächlich mit unnötiger Härte geführt. Das bekundete Henry
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gabe und verfasste aus seinen Forschungen zwei große Arbeiten, einmal die Geschichte der Goldenen Horde in Russland55 und zum anderen die Geschichte der Ilchane. 56 Obwohl er der einzige Einsender einer Beantwortung der Preisfrage war, erhielt er den Preis, dessen er sich sicher fühlte, nicht. Die Gutachten von Philipp von Krug, Isaak Jakob Schmidt und Christian Frähn 57 ließen sich sehr zurückhaltend über die von Hammer-Purgstall erbrachte Leistung aus und verwehrten ihm den Preis. 58 Die Veröffentlichung der beiden Bücher von 1840 bis 1843 ist also das Resultat der von Hammer-Purgstall so stark empfundenen Kränkung. Beide Werke sind eng miteinander verwoben und bilden eine Einheit. In der Geschichte der Goldenen Horde trug Hammer-Purgstall dem Konflikt insofern Rechnung, als er die drei Gutachten seiner Kritiker abdruckte und sie gleichzeitig
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Hoyle Howorth, der es bedauerte, dass die Kritiker Frähn, Schmidt und Krug die ungeheure Leistung Hammer-Purgstalls in keiner Weise gewürdigt hatten. “There breathes through them all a littleness which is unworthy of such names, (...)”. Henry Hoyle Howorth, History of the Mongols from the 9th to the 19th Century, Part 2: The so-called Tartars of Russia and Central Asia, London 1880, S. XXVIII. Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der Goldenen Horde in Kiptschak, das ist der Mongolen in Russland, Pesth 1840. Joseph von Hammer-Purgstall, Geschichte der Ilchane, das ist der Mongolen in Persien, Darmstadt 1842–1843, 2 Bde. Zur Geschichtsschreibung in Russland siehe Birgit Scholz, „Russische Historiographie auf neuen Wegen von Tatiščev zur Archäographischen Kommission“, in: Erich Donnert (Hg.), Mittel-, Nord- und Osteuropa (Europa in der Frühen Neuzeit 6), Köln 2002, S. 381–395. Zu Frähn siehe Gabriele Ziethen, „Christian Martin Joachim von Fraehn (Rostock 1782–St. Petersburg 1891) – Leben und Werk nach neuen Archivfunden“, in: Ludmila Hanisch (Hg.), Der Orient in akademischer Optik. Beiträge zur Genese einer Wissenschaftsdisziplin, (Orientwissenschaftliche Hefte, (XX)), Halle 2006, S. 9–18. Seiner Entäuschung machte Hammer-Purgstall in seinen Erinnerungen mehrfach Luft. Vgl. das folgende Beispiel, das zeigt, dass Hammer-Purgstall durchaus selbst auszuteilen wusste: „Drei Jahre lang hatte ich ganz dieser Arbeit gelebt, hatte mehr als 50 Dukaten bloß auf den Ankauf russischer und altslawischer historischer Werke ausgegeben, welche die Hofbibliothek nicht besaß, hatte mir durch ein halbes Jahr einen russischen Sprachmeister gehalten, um dieselben lesen und verstehen zu lernen, hatte ein Werk vollendet, dem in den zwölf Jahren, die seit dem verflossen, sich kein anderes über mongolische Geschichte an die Seite stellen kann. Und der Dank dafür war eine schmähliche Abfertigung mit einigen wegwerfenden Zeilen im Bulletin der Akademie; da ich den ganzen Hergang der Sache in der Vorrede zu dieser ‚Geschichte der goldenen Horde‘ erzählt und die neidischen und kleinlichen Ränke der Herren FRÄHN und SCHMIDT an das Tageslicht gezogen, so genügt es, hier darauf zu verweisen. FRÄHN, ein großer Numismat[iker], aber ebenso großer Pedant, konnte mir meinen als Orientalist erworbenen Ruf nicht verzeihen und war über die Maßen glücklich, ein paar aus Flüchtigkeit begangene Übersetzungsfehler zu rügen, und SCHMIDT, der seiner Herkunft und Natur nach ein Bauer und seiner Sitte nach ein Mongole, verzieh mir ebenso wenig, die Mongolen als das, was sie unter DSCHINGISCHAN waren, nämlich als blutdürstige Schweine geschildert zu haben, wie den DSCHINGISCHAN selbst, ihr großer Eroberer im Jahre des Schweins geboren und im Jahre des Schweins gestorben war.“ Vgl. Höflechner, Joseph von Hammer-Purgstall, (I), S. 265f.
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mit seinen eigenen Entgegnungen versah. 59 Von Bedeutung ist die Auflistung von 400 Quellen, die Hammer-Purgstall für die Beantwortung der Preisfrage benutzte. 60 Er führte insgesamt 63 persische, arabische und türkische Quellen an, wobei er auch auf die Aufbewahrungsorte der zum überwiegenden Teil nur in Handschriften vorhandenen Quellen einging. In seinen Beschreibungen zeigte Hammer-Purgstall, dass er die Quellenlage gut beurteilen und einordnen konnte. 61 Auch die zitierte Sekundärliteratur zeigt, dass Hammer-Purgstall sein Thema sicher beherrschte. Die gesamte Anlage des Werkes entsprach allerdings einer Rechtfertigungsschrift gegen seine drei Kritiker. So beschränkte sich Hammer nicht nur auf die Kommentierung der Gutachten im Anhang, sondern verwies in den Anmerkungen häufig auf die konkreten Irrtümer seiner Kritiker. Bei seinem zweiten Werk, das aus der Beschäftigung mit der Preisfrage der russischen Akademie der Wissenschaften hervorging, unterließ Hammer-Purgstall diese ausführliche Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, obwohl er das Buch Geschichte der Ilchane selbst als ein „Seitenstück“ seiner Geschichte der Goldenen Horde bezeichnete. 62 Über Formalitäten hinaus machte er jedoch einen großen Unterschied zwischen den mongolischen Reichen in Russland und Persien, wenn er schreibt: „Die Geschichte der Mongolen in Kiptschak liegt dem Europäer zwar näher wegen der verheerenden Raubzüge durch Polen und Ungarn bis ins Herz von Deutschland, und wegen der tatarischen Herrschaft in Russland; aber die Geschichte der Mongolen in Iran hat das grössere Interesse wichtigerer asiatischer Weltereignisse, wie der Ruin der Assassinen und des Chalifats, der Sturz alter Dynastien und die Gründung neuer, bisher selbst den Orientalisten kaum dem Namen nach bekannter, die Feldzüge wider Aegypten und das dschagatai’sche Reich, die diplomatischen Verhältnisse zwischen den Kreuzfahrern und dem Papste“. 63
In seinen Augen konnten die Mongolen in Iran zu Förderern von Wissenschaft, Kunst und Geschichte werden, weil sie das Erbe der großen persischen Zivilisation angetreten hatten. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang seine Widmung
59 Hammer-Purgstall, Goldene Horde, S. 543–642. Wissenschaftshistorisch ist dieser Konflikt hochinteressant, erfordert jedoch noch eine eingehendere Analyse. 60 Ebd., S. XXI–L. 61 So schreibt er unter Punkt 2 seiner Zusammenfassung der persischen Quellen: „Tarichi Dschhanguschai, d.i. die Geschichte des Welteröffners, oder auch: die weltenerobernde Geschichte, von Alaeddin Ata Melik Dschuweini, dem Wesir Hulagu-Chan’s, gest. i. J. 680 (1281); geht zwar der Zeit nach der vorhergehenden Geschichte Reschideddin’s vor, steht derselben aber an Umfang und Vollständigkeit bey weitem nach. Diese beyden und die folgende Geschichte Wassaf’s, welcher gleichzeitig mit Reschideddin gelebt und geschreben, dann die vier Geschichten der Geschichtschreiber Binaketi, Hamdallah Mestufi, Hafis Ebru und Beidhawi, welche Zeitgenossen Wassaf’s unter der Regierung Ebusaid’s, sind die sieben Hauptquellen, aus welchen die späteren Geschichtschreiber Nisawi, Dschordschani, Nikbi, Jahja von Kaswin, Mirchuand, Chuandemir, Ghaffari u.a. geschöpfet haben.“ Hammer-Purgstall, Goldene Horde, S. XXIf. 62 Hammer-Purgstall, Ilchane, Vorrede, o. S. 63 Ebd.
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des Buches Die Geschichte der Ilchane an König Ludwig I. von Bayern. 64 Er sprach Ludwig als Förderer der Künste und Erneuerer der Stadt München an, der somit in eine Linie mit den mongolischen Herrschern Ġāzān und Olǧeitū gestellt wurde, deren bedeutende Baudenkmäler heute allerdings im Gegensatz zu denen Ludwigs in Trümmern lägen. Über das reine Lob hinaus, das ein wenig schwerfällig konstruiert wirkt, verfolgte Hammer-Purgstall auch ein wissenschaftspolitisches Ziel: Die Erwähnung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Ludwig I. als „Schutzgenius der schönen Künste“ zielte auf den österreichischen Hof ab und darf als deutlicher Wink verstanden werden, es in Wien den Bayern endlich gleichzutun und auch hier eine Akademie der Wissenschaften zu gründen. VII. Die Gründung der Akademie der Wissenschaften in Wien, an der Hammer maßgeblich beteiligt war und auf deren Notwendigkeit er, wie skizziert, auch durch vereinzelte Seitenhiebe, mehrfach hingewiesen hatte, schuf ihm ein institutionelles Umfeld für wissenschaftspolitische Aktionen, die ihm bislang verwehrt geblieben waren. Als erster Präsident der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften versuchte Hammer-Purgstall buchstäblich von der ersten Stunde an, seine fachlichen Interessen durchaus auch auf Kosten anderer zu stärken. Nachdem etwa der Historiker und Archivar Joseph Chmel 65 in der allerersten Sitzung der historisch-philologischen (ab 1848: philosophisch-historischen) Klasse am 24. November 1847 einen Vortrag über die Notwendigkeit der Erfassung der sogenannten „vaterländischen Geschichtsquellen“ gehalten und damit die Gründung einer 64 „Von der deutschen Hauptstadt der Künste, von der Residenz Euerer Majestät, wo ich vor drei Tagen mit der Akademie der Wissenschaften das Allerhöchste Geburtstags- und Namensfest gefeiert, bin ich nach Berchtesgaden geeilt, wo der erhabene Schutzgenius der schönen Künste im schönsten Tempel der Natur residirt, um demselben in Allerhöchst Ihrer Person die Verehrung und Bewunderung zu zollen, womit der Verein der Kunstwunder zu München jeden Besucher erfüllt. Da mir Euere Majestät allergnädigst erlaubet haben, mit Allerhöchst Ihrem namen das Giebelfeld eines meiner Werke zu schmücken, so erscheint die Geschichte der Mongolen Persiens, wenigstens durch die Namen ihrer grossen Fürsten, Bauherren Gönner der Künste und Beschützer der Wissenschaften, solcher Ehre nicht unwürdig. Wenn die Bauten Ghasan’s und Chodabende’s zu Tebris und Sultania nach einem halben Jahrtausend die Namen ihrer Erbauer nur in Ruinen verherrlichen, so liegt die Schuld davon nicht sowohl in Elementarereignissen und in eindlicher Verheerung, als in dem Mangel an erhaltender Fürsorge, welche Werken der Kunst wie den Staaten Dauer versichert. (...)“; Hammer-Purgstall, Ilchane, Widmung, o. S. 65 Joseph Chmel (1789–1858), Archivar im Geheimen Hausarchiv, ab 1846 dessen Vizedirektor; zu seinem Werdegang siehe Christine Ottner, „Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer: Die Anfänge der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft“, in: Karel Hruza/Paul Herold (Hg.), Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters (= Forschungen zur Kaiser-und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii (XXIV)), Wien/Köln 2005, S. 259–293.
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Kommission ausgelöst hatte, startete Hammer-Purgstall sofort eine Gegenoffensive. In der Sitzung der hist. Klasse vom 1. Dezember 1847 beschwor er die Verfolgung orientalistischer Inhalte als gewissermaßen vaterländische Pflicht und unterstrich gleichzeitig seine eigenen Leistungen. So betonte er die Tradition der Orientalischen Akademie auf dem Gebiet der Orientalistik und lenkte sodann auf seine Pionierleistung der Herausgabe der Fundgruben des Orients als erster orientalistischer Fachzeitschrift Europas über. Durch diese Arbeiten habe Österreich einen ehrenvollen Platz in der Erforschung des Orients eingenommen, und es müsse die Enttäuschung darüber, dass die Deutsche Morgenländische Gesellschaft statt in Wien in Leipzig und Halle stationiert worden war, mit orientalistischen Publikationen der Akademie der Wissenschaften wettgemacht werden. 66 Das erste dieser ehrgeizigen Publikationsprojekte sollte der von ihm schon so ausführlich benutzte Text der Geschichte Waṣṣāfs sein. Obwohl Hammer die Geschichte Waṣṣāfs bereits seit langem übersetzt hatte, ließ er es so erscheinen, als erkläre er sich erst jetzt bereit, die Übersetzung der Chronik in Angriff zu nehmen, womöglich um den Sachverhalt herausheben zu können, dass er dieses Unternehmen unentgeltlich betreiben würde. Hammer äußerte sehr klare Vorstellungen, wie er den Text im Druck aussehen lassen wollte, der nicht nur die deutsche Übersetzung, sondern auch den persischen Text enthalten sollte. 67 Im Äußeren sollte die Übersetzung und der persische Text stark Hammers Haupthandschrift angepasst werden. Der Druck sollte aufwendig gestal-
66 „Seit der Herausgabe des neuen Meninski, d. i. seit mehr als einem halben Jahrhunderte, ist in Österreich im Fache der orientalischen Litteratur Vorzügliches geleistet worden; durch die Herausgabe der von einem Privatmanne, dem Grafen Wenzeslaus Rcewuski unterstützten Fundgruben des Orients, deren Mitarbeiter eben so wenig als der Herausgeber je ein Honorar für ihre Mühe angesprochen haben, ist Oesterreich allen europäischen asiatischen Gesellschaften mit dem Beispiele einer morgenländischen Zeitschrift vorausgegangen, welches von der französischen asiatischen Gesellschaft erst zwölf Jahre, von der englischen erst sechs und zwanzig Jahre später nachgeahmt worden. Durch die Fundgruben des Orients und durch die Arbeiten anderer seiner Orientalisten hat Oesterreich im Gebiete der orientalischen Literatur einen ehrenvollen Rang eingenommen, welchen ferner zu behaupten umso mehr eine Ehrensache der vaterländischen Litteratur ist, aöes öeeider die deutsche morgenländische Gesellschaft nicht in Wien zu Stande gekommen, und seit sie ihren Sitz zu Leipzig und Halle genommen, in Wien, wo dermalen nur ein paar arbeitende Orientalisten, keine andere zu Stande kommen kann. Wien, welches durch drei Jahrhunderte die Schutzwehre Deutschlands gegen den Orient, der grosse Stapelplatz östlichen und westlichen Verkehrs, Wien darf der Schmach nicht ausgesetzt werden, des guten Namens, den es sich bisher in der orientalische Litteratur erworben, verlustig zu gehen, darf dieser Schmach um so weniger ausgesetzt werden, als in der kaiserlichen Staatsdruckerei orientalische Typenschätze wie nirgends anderswo in Europa vereiniget sind.“ Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften (künftig: SB phil.-hist.), (I), (1848), S. 66. 67 „Das schönste der drei Exemplare der Hof-Bibliothek, aus der Bibliothek Sultan Mohammed’s II. des Eroberers Constantinopels, entspricht in seinem Formate ganz dem ImperialOctav der kaiserlichen Staatsdruckerei; es hat vierhundert Blätter, welche mit der dem Texte auf der anderen Seite paralell laufenden Uebersetzung hundert Bogen gibt, zu deren Druck zwei Jahre erforderlich sind.“ SB phil.-hist., (I), (1848), S. 67.
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tet werden, auch sollten die beiden der Handschrift nachempfundenen Rosetten und Vorsatzblätter farbig gedruckt werden. Der Bedarf an 100 Druckbögen für die Herausgabe des ganzen Textes war ebenfalls nicht bescheiden. Damit meldete der erste Präsident der Akademie für sein Unternehmen immerhin die Hälfte dessen an, was Joseph Chmel für seine neugegründete Kommission an Druckbedarf pro Jahr deklariert hatte. Hammer betrachtete Chmel überhaupt mit Argwohn, sah er doch seine ganzheitliche Sicht auf die historischen Wissenschaften durch die – in seinen Augen – enge Beschränkung Chmels auf österreichische bis maximal europäische Belange bedroht. Er hielt mit seiner Meinung auch nicht zurück. In seinen Erinnerungen erwähnt Hammer-Purgstall etwa ein Gespräch, das er mit dem Kurator der Akademie, Alexander von Bach, 68 über die Nützlichkeit einer orientalischen Kommission führte, deren Sinn er offenbar weit über die Historische Kommission seines Konkurrenten Chmel stellte, 69 in diesem Zusammenhang fügte er hinzu: „Ich fragte, ob denn durch das Neue und Interessante, das in den Notices et extrait des manuscripts de la bibliotheque du roi seit einem Jahrhundert zu Tage gefördert sei, die Wissenschaft nicht ungemein mehr befördert worden sei, als durch so vielen in der historischen Kommissionen zu Tage geförderten Moder und Quark“. 70
Hammer-Purgstall musste insgesamt neun Jahre warten, bis sein Wunsch in Erfüllung ging und seine Übersetzung der Geschichte Waṣṣāfs endlich veröffentlicht werden konnte. Unter dem Argument der hohen Druckkosten vereinbarte man, die fünf Bände nacheinander zu veröffentlichen, wobei der Druck durch die Verkaufserlöse des jeweils vorhergehenden Bandes finanziert werden sollte. Erst 1856 wurde der erste Band veröffentlicht. Bekanntlich setzte der Tod Josephs von Hammer-Purgstall am 23. November 1856 dem Erscheinen der folgenden Bände ein vorübergehendes Ende. 71
68 (1813–1893), vgl. zu ihm NDB 1, Berlin 1953, S. 489f. 69 „Ich machte ihn auf das viele leere gelehrte Stroh aufmerksam, das die historische Kommission bisher unter Chmel’s Leitung ausgedroschen, erklärte mich wider die unnütze Ausgabe für die Commission des Baseler Conciliums, welche alljährlich der Klasse einige hundert Gulden koste, welche Chmel bloss aus Wohldienerei gegen Palacky hervorgerufen, (...).“ Hammer-Purgstall, Original-Erinnerungen, Buch 66, Heft 1, S. 15–16. 70 Ebd., S. 16. 71 Vgl. die Neuausgabe seit 2010: Geschichte Wassaf’s, (I). Persisch herausgegeben und Deutsch übersetzt von Hammer-Purgstall. Neu hg. von Sibylle Wentker nach Vorarbeiten von Klaus Wundsam, Wien 2010; Geschichte Wassaf’s, (II). Deutsch übersetzt von HammerPurgstall. hg. von Sibylle Wentker nach Vorarbeiten von Elisabeth und Klaus Wundsam, Wien 2010; Geschichte Wassaf’s, (III). Deutsch übersetzt von Hammer-Purgstall. hg. von Sibylle Wentker nach Vorarbeiten von Elisabeth und Klaus Wundsam, Wien 2012. Die Bände 4 und 5 sind in Vorbereitung.
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VIII. Das Beispiel, das Hammer-Purgstall durch seine Beschäftigung mit der Geschichte der Mongolen in Iran bietet, illustriert seine Interessen nicht nur auf dem Gebiet der Literatur. Ganz im Gegenteil scheint Hammer-Purgstall mit seinen historischen Forschungen am Puls der Zeit gelegen zu haben. Die Liste der Sekundärliteratur, die Hammer in der Geschichte der Goldenen Horde anführt, legt ein beredtes Zeugnis davon ab, wie viel auf dem Gebiet der außereuropäischen asiatischen Geschichte geforscht wurde. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Tendenz der Regionalisierung der Geschichtsforschung mehr und mehr durch. Auch in Österreich ließ der starke Akzent auf Regional- und Dynastiengeschichte wenig Platz für außereuropäische Geschichte. Hammer-Purgstall blieb stark in dem ganzheitlichen Wissenschaftsgedanken des 18. Jahrhunderts verhaftet. In seiner Sicht war die Geschichtsforschung, die nicht vor den Grenzen des eigenen Landes halt machte, ein wesentlicher Bestandteil der Wissenschaft. In der Festrede zur ersten Feierlichen Sitzung der neu gegründeten Akademie der Wissenschaften am 2. Februar 1848, legte Hammer-Purgstall ein Bekenntnis zur Vereinigung aller Wissenschaften ab: „Die Geschichte wie die Sprachkunde, die Naturwissenschaft wie die Mathematik sind alle nur Glieder des grossen encyclopädischen Leibes der Wissenschaft, welcher ohne Zusammenwirkung und gegenseitige Hilfe und Unterstützung der einzelnen Glieder nicht großgezogen werden und nicht gedeihen kann“. 72
Abschließend ist zu fragen, weshalb die reiche Forschung, die bis ins 19. Jahrhundert zu islamischer und persischer Geschichte angestellt worden ist, bislang kaum wissenschaftshistorische Betrachtungen auf sich gezogen hat. Dabei scheint der Faktor sehr bedeutsam, dass es sich bei den historischen Forschungen nicht um regionale oder institutionelle Trends handelt. Es ist wesentlich, wenngleich schwierig, Gruppen zu identifizieren, denn nicht die Institutionen an sich bewirken die Entwicklung wissenschaftlicher Trends, sondern Personen, die innerhalb der Institutionen agieren und mit anderen Personen unter Umständen auch nur temporäre Netzwerke bilden. Es wäre zielführend, diese Netzwerke bzw. Netzwerkgruppen und ihre gegenseitigen Beeinflussungen zu analysieren. Hammer-Purgstall und sein ausgeprägtes Netzwerk böten dafür ein lohnendes Beispiel.
72 SB phil.-hist. , (I), (1848), S. 24.
WÁCSLAW WLADIWOJ TOMEK, DAS MINISTERIUM FÜR CULTUS UND UNTERRICHT UND DIE EINFÜHRUNG DER HISTORISCHEN SEMINARE IN ÖSTERREICH: Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft zwischen Staat, Nation und akademischer Neuorientierung Miloš Řezník Die Reformen des österreichischen Bildungswesens in den 1850er Jahren hatten bekanntlich einen prägenden Einfluss auf die weitere Ausgestaltung der universitären Fächer. Sie evozierten in der Habsburgermonarchie ein teilweise neues Verständnis des universitären Studiums und der Funktion von Universitäten. 1 Etwas überspitzt ließe sich sagen, dass sich die Universitäten in Österreich damals das sogenannte „Humboldtsche Modell“ aneigneten bzw. aneignen sollten, das im heutigen Verständnis als postulierte Einheit der Forschung und der Lehre verankert ist. 2 Die prinzipielle Verwissenschaftlichung wurde dabei auf drei Ebenen angedacht: auf Ebene der wissenschaftlichen Fundierung des Unterrichtes, auf Ebene der Etablierung der Universitäten als Forschungsinstitutionen und auf Ebene einer generellen Neuorientierung der Fächer, und zwar nicht nur im Hinblick auf die praktische Berufsvorbereitung von Juristen, Theologen, Ärzten, Gymnasiallehrern etc., sondern auch auf die Ausbildung von Wissenschaftlern, die sich in ihren jeweiligen Fächern künftig forschend betätigen würden. Dieser zweifellose Modernisierungsschub der österreichischen Universitäten, der auch mit einer Neustrukturierung des Studiums und des universitären Betriebs verbunden sein musste, brachte zugleich neue Formen der Institutionalisierung mit sich. Die Geschichtsforschung blieb von diesen Trends nicht ausgespart; ganz im Gegenteil: Mit ihrem Bedeutungszuwachs, ihrer polyvalenten Relevanz im historistischen Zeitalter sowie ihrem Potential für die immer ernster zu nehmende 1 2
Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962. Joachim H. Knoll/Horst Siebert, Wilhelm von Humboldt. Politik und Bildung, Heidelberg 1969; Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975; HansJosef Wagner, Die Aktualität der strukturalen Bildungstheorie Humboldts, Weinheim 1995 u. a. Als Beispiel für die Hinweise auf das „Humboldtsche Modell“ in den aktuellen Bildungsdebatten siehe Franz Schultheis/Paul Frantz Cousin/Marta Roca i Escoda (Hg.), Humboldts Albtraum – Der Bologna-Prozess und seine Folgen, Konstanz 2008.
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Miloš Řezník
österreichische, auf den staatlichen und dynastischen Patriotismus orientierte, Geschichtspolitik lenkte diese Wissenschaft quasi ganz „natürlich“ die Aufmerksamkeit auf sich. Im Zusammenhang mit der Ausarbeitung und Standardisierung der positivistischen Methoden der Quellenkritik und Interpretation 3 und im Hinblick auf die Entwicklung des Faches wie etwa in Preußen und Frankreich war dabei selbstverständlich, dass eine neue Institutionalisierung über den Rahmen der bisherigen einzelnen Universitätslehrstühle hinausgehen musste. Zunächst schien die im Jahr 1847 an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien gegründete historisch-philologische (ab 1848: philosophischhistorische) Klasse in Richtung einer wissenschaftlichen, zumindest teilweise forschungsorientierten Institutionalisierung der Geschichte zu gehen. Da sie jedoch nicht als universitärer Standort diente, an dem zukünftige Forscher ausgebildet wurden, war eine Verbindung von Forschung und Lehre hier folglich nicht realisierbar. Gleichwohl trug die Akademie eine der Richtungen der habsburgischen, identitätsstifenden Geschichtspolitik mit, indem von hier aus insbesondere in der Person Josef Chmels konzeptuelle Überlegungen zur (gesamt-) österreichischen Geschichte angestellt wurden 4 – ein Punkt, an den bald auch Tomek anknüpfte. Die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vermehrt entstehenden Museen – für das spätere Cisleithanien seien die frühen umfassenden Museumsgründungen in Graz (1811), Troppau (1814), Brünn (1817) und Prag (1818) genannt 5 – stellten hier nur in sehr begrenztem Ausmaß eine Alternative dar: Vielmehr sind sie als potentiale Adressaten und „Abnehmer“ für die Absolventen der wissenschaftlich orientierten Universitätsfächer zu sehen. Zudem waren sie territorial, aber auch fachlich betrachtet auf eigene Schwerpunkte konzentriert. Des Weiteren handelte es sich dabei nicht um staatliche Anstalten, sondern in der Regel um Landesinstitutionen, die in ihren Anfängen noch in der Trägerschaft der einzelnen ständischen Gemeinden und unter der Verwaltung eigener Gremien standen, die sie aus ihrer Mitte erkoren hatten. Als solche bestimmten die Museen im Wesent3
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Im historiosophischen Kontext siehe unter vielen anderen Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffasssung von Herder bis zur Gegenwart, Wien/Köln/Weimar 1997, insb. S. 85–162; Daniel Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin/ New York 1996; Wolfgang Küttler/Jörn Rüsen/Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, III: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt am Main 1997; Erhard Wiersing, Geschichte des historischen Denkens. Zugleich eine Einführung in die Theorie der Geschichte, Paderborn u. a. 2007, S. 369–394. Alphons Lhotsky, Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854– 1954, (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. (XVII), [= Festgabe zur Hundert-Jahr-Feier des Instituts]), Graz/Köln 1954, S. 1–3. Peter Pakesch/Wolfgang Muchitsch, 200 Jahre Universalmuseum Joanneum 1811–2011, Graz 2011; Karel Sklenář, Obraz vlasti. Příběh Národního muzea [Das Bild des Vaterlandes. Die Geschichte des Nationalmuseums], Praha 2001; Slavomír Brodesser/Jan Břečka/Jiří Mikulka, Serving Understanting and the Glory of the Land. History of the Moravian Museum, Brno 2002; Josef Duda (Hg.), 150 let Slezského muzea 1814–1964 [150 Jahre Schlesisches Museum 1814–1964], Opava 1964.
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lichen selbst ihre Orientierung, Schwerpunktsetzung und Programmatik. So stellten sie eine ergänzende, potentiell aber auch eine konkurrierende Alternative zur staatlichen Identitätspolitik dar, indem sie sich auf die Traditionen und Realien ihrer eigenen Länder fokusierten. Das Böhmische Museum in Prag mit der Gründung der Matice Česká (1841) 6 oder das galizische Ossolineum in Wien (1817) und später in Lemberg (1827) 7 nahmen die Pflege und direkt oder indirekt auch die Propagierung der tschechischen bzw. polnischen Nationalidentität als wesentlichen Punkt in ihre Programme auf. Vor allem in Prag wurden mit der Herausbildung des Museumsvorstandes, des Matice-Vereins sowie anschließend der Fachabteilungen die Grundlagen für eine – den Universitäten gegenüber stehende – Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft, zunehmend auch der Sprach- und Literaturwissenschaft, der Naturwissenschaft, der Archäologie oder der Kunstgeschichte geschaffen. In den 1850er Jahren hatte dieser Prozess bereits relativ deutliche Konturen gewonnen. Indessen konzentrierte sich die staatliche, komplexe Wissenschafts-, Bildungs-, Geschichts- und Identitätspolitik auf die Gründung von institutionalisierten Formen der Geschichtswissenschaft, die an der österreichischen Geschichtspolitik orientiert waren und den Ansprüchen auf die forschungsorientierte Qualifikation gerecht wurden. Alle diese Richtungen wurden in der neoabsolutistischen Ära durch das Wiener Ministerium für Cultus und Unterricht unter der Führung des Grafen Leo von Thun-Hohenstein verfolgt. Sie fanden Ausdruck in der Einrichtung von Professuren für österreichische Geschichte, in den Versuchen zur Einführung historischer Seminare an den Universitäten sowie in der 1854 erfolgten Gründung des Instituts für Österreichische Geschichtsschreibung. Für die Realisierung dieser eng miteinander verflochtenen wissenschaftspolitischen Ideen wurde von Minister Thun persönlich ein Historiker ausgesucht: Der junge Prager Professor Wácslaw Wladiwoj Tomek (1818–1905) sollte als Inhaber eines neuen Lehrstuhls für die Geschichte der Monarchie die Verwissenschaftlichung des Geschichtsstudiums mittragen. 8 Thun dachte ihm eine Expertenrolle zu, um die Einführung der historischen Seminare als institutionalisierte Form des universitären Wissenschaftsbetriebs und der Vorbereitung zukünftiger Fachleute zu
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Zum Museum und zur Matice siehe u. a. Karel Sklenář, Obraz vlasti (mit weiterführender Literatur), und immer noch: Karel Tieftrunk, Dějiny Matice České [Geschichte der Matice Česká], Praha 1881; in deutscher Sprache: Anna M. Drabek, „Matice Česká und Matice Moravská. Ihre Bedeutung für die kulturelle und nationale Entwicklung der tschechischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert“, in: Ferdinand Seibt (Hg.), Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 25. bis 27. November 1983 und vom 23. bis 25. November 1984 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum (XIII)), München 1986, S. 71–96. Marian Tyrowicz, “Ossolineum a życie polityczne Galicji w dobie przedautonomicznej” [Ossolineum und politisches Leben Galiziens in der vorautonomen Zeit], in: Ossolineum. Księga pamiątkowa w 150-lecie zakładu [Ossolineum. Gedenkbuch zum 150. Jahrestag des Instituts], Wrocław 1967, S. 143–168. Vgl. auch Lentze, Die Universitätsreform, S. 250.
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konzipieren. 9 Zugleich war Tomek auch als Autor von Lehrbüchern zur österreichischen Geschichte an der Formierung eines geschichtspolitischen Verständnisses direkt beteiligt. Auch aus rein politischen Gründen schien er für diese Aufgaben in den 1850er Jahren geeignet zu sein. Tomek agierte als offener Vertreter der tschechischen Nationalbewegung, prägte die sich formierende nationale Geschichtswissenschaft mit und war ein wichtiger Akteur in der nationalen Institutionalisierung der Historiographie und anderer Fächer auf dem Boden des Böhmischen Museums sowie der Matice Česká. Tomek brachte einige fachliche, politische und biographische Voraussetzungen mit, um im Kontext der angestrebten Einführung und Institutionalisierung des historiographischen Faches am Anfang der 1850er Jahre eine besondere Rolle spielen zu können. Als durchaus typischer Repräsentant des tschechischen Bildungsbürgertums, das sich zur gesellschaftlichen, auch tschechischen nationalen Elite formierte, hatte er eine erstklassige historische Ausbildung genossen: Er war Schüler von František Palacký, einer damals längst schon international anerkannten Autorität in der Geschichtswissenschaft; im Gegensatz zu Palacký war Tomek allerdings, auch das sollte hier kurz erwähnt werden, Katholik. Unter der Führung Palackýs hatte sich Tomek den sicheren Umgang mit historischen Quellen angeeignet und in eigenständiger historischer Arbeit erprobt. Da er für das Böhmische Museum bzw. die Matice Česká aktiv tätig war, fehlte es ihm auch nicht an Erfahrung im wissenschaftlichen Betrieb. Seit den 1830er Jahren betätigte er sich zudem als Autor, wobei er in den 1840er Jahren verstärkt zur Abfassung wissenschaftlicher Schriften überging, die er sowohl in Form von Artikeln – vor allem für die Zeitschrift des Böhmischen Museums (Časopis Českého Museum) – als auch in Form von selbstständigen Büchern veröffentlichte. 10 So war Tomek im Jahr 1850 mit 32 Jahren in wissenschaftlichen An-
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Der Rolle Tomeks bei der Einführung der historischen Seminare in Österreich widmete sich – mit mehreren Hinweisen auf die Verbindungen zwischen seiner Tätigkeit und der Entstehung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung – eingehender bereits in den 1990er Jahren Zdeněk Šimeček. Er gab auch einige wichtige Hinweise auf die Rolle der ohnedies bekannten Kontakte Tomeks nach Wien (zu Joseph Alexander Helfert), konzentrierte sich aber vornehmlich auf die Analyse der historischen Seminarübungen, die Tomek in den Jahren von 1852 bis 1854 an der Prager Universität anbot: Zdeněk Šimeček, “Seminární cvičení k českým dějinám V. V. Tomka v letech 1852–1854” [Seminarübungen von W. W. Tomek zur böhmischen Geschichte in den Jahren 1852–1854], in: Lubomír Slezák/Radomír Vlček (Hg.), K poctě Jaroslava Marka. Sborník prací k 70. narozeninám prof. dr. Jaroslava Marka [Zu Ehren von Jaroslav Marek. Festschrift für Professor Dr. Jaroslav Marek zum 70. Geburtstag], Praha 1996, S. 49–72. Der vorliegende Beitrag richtet seinen Blick im Unterschied zu Šimečeks Aufsatz eher auf die Zusammenhänge mit der Universitäts- und Bildungsreform, mit der Geschichts- und Identitätspolitik des Staates bzw. des Kultus- und Unterrichtsministeriums, mit der politischen Situation Österreichs im Neoabsolutismus, mit der tschechischen Nationalbewegung und mit den politischen Ansichten Tomeks und Thuns. 10 Eine fast komplette Übersicht der Veröffentlichungen Tomeks in chronologischer Ordnung bietet Václav Novotný, “Bibliografický přehled literární činnosti V. V. Tomka” [Bibliographische Übersicht der literarischen Tätigkeit von W. W. Tomek], in: V. V. Tomek (1818–
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gelegenheiten bereits durchaus erfahren, zugleich aber jung genug, um perspektivenreich zu erscheinen. 11 Dennoch fehlte ihm noch eine feste, dauerhafte Anstellung. Ein genauerer Blick auf seine Publikationen zeigt, dass Tomek im Jahre 1845 mit dem Versuch einer Gesamtdarstellung der Geschichte der Habsburgermonarchie als eine historisch zusammengewachsene Einheit aufwarten konnte. Diese Darstellung entsprach im Übrigen der ersten tschechischsprachigen Bearbeitung des Themas und erschien in der – durch die Idee der nationalen Bildung inspirierten – Reihe Kleine Enzyklopedie der Wissenschaften (Malá encyklopedie nauk) des Böhmischen Museums. 12 Dieser Schrift fehlte zwar eine ausgearbeitete Methodik und ein fundiertes Konzept der österreichischen Geschichte; auch wurde nicht deutlich, ob sie mit früheren oder zeitgleichen Bemühungen etwa eines Julius Franz Schneller bzw. Joseph Chmel um eine Geschichte des Gesamtstaates in Zusammenhang stand. Tomeks Gesamtdarstellung ging jedenfalls in eine ähnliche Richtung und sein Konzept fügte sich in die Vorstellungen ein, die in den 1850er Jahren der Regierung und besonders Thun für die Formierung eines gesamtstaatlich-österreichischen Patriotismus bedeutsam erschienen. So hatte Tomek in seinem Werk von 1845 die Notwendigkeit einer länderübergreifenden Perspektive auf die Geschichte des Habsburgerreiches seit dem 16. Jahrhundert betont, und zwar „als einen jedem Tschechen durchaus notwendigen Gegenstand zur vollständigen Erkenntnis seines Vaterlandes, dessen Geschichte seitdem mit der Geschichte jener ganzen Familie der 13 verschiedenen Völker in ein Ganzes verschmilzt“.
Ein besseres Programm, wie die „partikulare“ Landes- bzw. Nationalgeschichte mit der gesamtösterreichischen Geschichte identitätsstiftend in Einklang zu bringen war, konnte man sich von Wien aus nicht wünschen – zumal diese Vorstellung von einem Vetreter einer ethnisch-nationalen Bewegung formuliert wurde. In der Betonung der landesspezifischen und individuellen Traditionen einschließlich Sprache, Kultur und Ethnie einerseits und des gesamstaatlichen Zu-
1918). Na památku jeho stých narozenin [W. W. Tomek (1818 – 1918). Zur Erinnerung an seinen 100. Geburtstag], Praha 1918, S. 49–71. 11 Obwohl Tomek am Ende seines Lebens umfangreiche, zweibändige Memoiren für eine Veröffentlichung vorbereitete (Wácslaw Wladiwoj Tomek, Paměti z mého žiwota [Erinnerungen aus meinem Leben], 2 Bde., Praha 1904/1905) und insbesondere am Anfang des 20. Jahrhunderts mehrere Texte zu seinem Leben und Werk verfasst wurden, fehlt es bis heute an einer umfassenden, modernen Biographie. Verschiedene Aspekte seiner wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Tätigkeit sowie teilweise seiner Biographie werden in einem Tagungsband aus der Konferenz zum 100. Todestag Tomeks analysiert, die 2005 in Tomeks Geburtsort Königgrätz (Hradec Králové) stattfand: Miloš Řezník (Hg.), W. W. Tomek, historie a politika (1818–1905) [W. W. Tomek, Geschichte und Politik (1818–1905)], Pardubice 2006; siehe hier auch weitere Literaturhinweise. 12 W. Wladiwoj Tomek, Děje mocnářstwí Rakauského [Geschichte der Österreichischen Monarchie], Praha 1845. 13 Ebd., Vorwort (unpaginiert).
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sammenhalts der Habsburgermonarchie andererseits entsprach Tomeks Position, obwohl er perönlich viel stärker eine ethnisch-nationale Identität vertrat, den Positionen von Leo Thun, die dieser bereits im Vormärz vertrat: Denn Thun, der fließend tschechisch sprach, hatte sich bekanntlich auf der Seite der böhmischständischen Opposition profiliert und Verständnis und aktives Interesse für die tschechische und slowakische Sprache und Literatur gezeigt. 14 In der Phase der Annäherung zwischen den böhmisch-ständischen Patrioten und den tschechischen Aktivisten mit Palacký an der Spitze ergab sich zwischen Thun und Tomek bald auch eine persönliche Bekanntschaft, die in gegenseitiges Vertrauen und Sympathie überging. Auf Palackýs Empfehlung war Tomek bereits 1840 vorübergehend nach Tetschen (Děčín), die nordböhmische Residenz der Familie Thun-Hohenstein, gereist, um dort das umfangreiche Familienarchiv zu ordnen. Die in dieser Zeit geknüpften Kontakte zwischen Tomek und Thun dauerten bis zum Tod des letztgenannten im Jahr 1888 an. Im sogenannten „Völkerfrühling“ kam es zu einer Intensivierung der Beziehungen, als sich Tomek aktiv auf der Seite der nationalen Liberalen unter der Führung von Palacký einsetzte und gegen eine liberal-demokratische Radikalisierung auftrat. Thun, der im Frühling 1848 als neuer Landesgouverneur aus Galizien nach Prag kam, fand folglich in Palacký und vor allem in Tomek seine Verbündeten. Auf Palackýs Empfehlung hin beauftragte er Tomek Anfang Juni 1848, eine neue Zeitung mit dem Titel Pokrok (Fortschritt) zu redigieren, die als tschechischsprachiges Presseorgan der Landesregierung fungieren und den Einfluss der immer radikaleren prager Presse ausgleichen sollte. Zwar erschienen nur wenige Ausgaben des Pokrok, der die Prager Juni-Revolution nicht überlebte, aber die folgenden Ereignisse des radikal-demokratischen Aufstandes in Prag und seiner Niederschlagung brachten Tomek in noch engere Verbindung zu Thun: Tomek machte nämlich in erster Linie die radikalen Demokraten für das Scheitern der liberalen und nationalen Hoffnungen im Frühjahr 1848 verantwortlich. In den folgenden Jahren, vor allem in der ersten Phase des Neoabsolutismus, plädierte er daher für den nichtpolitischen Charakter der tschechischen Bewegung und für 14 Zu Thuns Formierungsphase und zu seinen ersten Aktivitäten siehe vor allem Christoph Thienen-Adlerflycht, Graf Leo Thun im Vormärz. Grundlagen des böhmischen Konservativismus im Kaisertum Österreich (= Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts (VI)), Graz 1967; in der neuen Literatur finden sich zahlreiche Hinweise auf Verbindungen Thuns mit dem tschechischen Programm: Ralph Melville, Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz (XCV), Abteilung Universalgeschichte) Mainz 1998; Rita Krueger, Czech, German, and Noble. Status and National Identity in Habsburg Bohemia, Oxford 2009; Ute Hofmann, Aristokraten als Politiker. Der böhmische Adel in der frühkonstitutionellen Zeit (1860–1871), (= Studien zum mitteleuropäischen Adel (IV)), München 2012; siehe auch Jiří Rak, „Graf Leo Thun in den Ansichten der tschechischen patriotischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Tatjana Tönsmeyer/Luboš Velek (Hg.), Adel und Politik in der Habsburgermonarchie und den Nachbarländern zwischen Absolutismus und Demokratie, München 2011, S. 103–116.
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eine enge Zusammenarbeit mit der Regierung, um die Bedrohung für die bereits erreichte Positionierung der tschechischen Sprache und vor allem der tschechischen Institutionen abzuwenden. In den 1850er Jahren galt er folglich als regierungstreuer Konservativer, weshalb sich für fast ein Jahrzehnt seine (und Thuns) Wege von denen Palackýs trennten, der seitens den politischen und polizeilichen Behörden inzwischen als politisch vertrauensunwürdige Person angesehen wurde und kurze Zeit später – nicht ohne Tomeks Zutun – gezwungen war, sich aus seiner öffentlichen Tätigkeit zurückzuziehen. 15 In dieser Situation erschien nun Tomek aus Perspektive der Regierung als willkommene Alternative zu Palacký und dessen liberalen Vorstellungen. So wurde Tomek zum Prager Hauptprotagonisten der so genannten „Regierungspartei“, die sich zu Beginn der 1850er Jahre um Thun herausbildete und die aus einigen tschechischen Aktivisten, darunter vor allem Wissenschaftlern, bestand, deren Zentrum sich allerdings am Kultus- und Unterrichtsministerium in Wien befand. 16 Möglicherweise versuchte Thun durch diese Parteiinitiative auch, seine Position im Regierungskabinett zu verstärken und seine dezentralistischen Ansichten zu legitimieren. Da diese Entwicklung in die Phase der Thunschen Reformbemühungen fällt, lassen sich hier deutliche Zusammenhänge zwischen verschiedenen politischen Bereichen aufzeigen, namentlich der Innenpolitik, der böhmischen Politik, der Bildungs- und Wissenschaftspolitik sowie der Geschichts- und Identitätspolitik. Denn von allen vier Standpunkten aus erschien die Entscheidung Thuns für Tomek plausibel. Der Minister bot Tomek einen neu einzurichtenden Lehrstuhl für österreichische Geschichte an der Universität in Prag an, 17 an dem er in der Folge – zunächst als außerordentlicher Professor – tatsächlich installiert wurde. 18 Zunächst forderte er Tomek aber auf, ein Konzept für die Einrichtung historischer Seminare in Österreich zu entwerfen. Fast parallel zu seinem Wiener Amtskollegen, dem künftigen Gründungsdirektor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Albert Jäger, der 1851 auf eine ähnliche Professur in Wien berufen wurde, sollte Tomek also eine neue wissenschaftlich orientierte und institutionalisierte Form für die historische Ausbildung erarbeiten. Zu diesem 15 Zur politischen Tätigkeit Tomeks, insbesondere um 1848 und in den 1850er Jahren: Miloš Řezník, “Český a rakouský politik W. W. Tomek” [Der tschechische und österreichische Politiker W. W. Tomek], in: ders. (Hg.), W. W. Tomek, S. 31–57. 16 Zu den Kontakten zwischen Tomek und dem Ministerium in der Ära Thun siehe zuletzt Rudolf Kučera, “Historik a politika. V. V. Tomek a ministerstvo kultu a vyučování 1848– 1863” [Der Historiker und die Politik. W. W. Tomek und das Ministerium für Cultus und Unterricht 1848–1863], in: Řezník (Hg.), W. W. Tomek, S. 59–68. 17 Zum ersten Mal wurde Tomek in der Regierung für diese Position jedoch bereits im April 1849, also vor der Übernahme des Ressorts durch Thun, ins Gespräch gebracht, und zwar ausdrücklich als Alternative zu Palacký. Jiří Kořalka, František Palacký (1798–1876), Praha 1998, S. 325. 18 Karel Kazbunda, Stolice dějin na pražské universitě [Der Lehrstuhl für Geschichte an der Prager Universität], (II), Praha 1965, S. 24–50; zum ordentlichen Professor wurde Tomek erst 1860 ernannt.
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Zweck sollte Tomek den wichtigsten Institutionen in Europa, die der fachlichen Ausbildung der Geschichtswissenschaftler dienten – der École des Chartes in Paris sowie einigen historischen Seminaren an preußischen Universitäten –, einen persönlichen Besuch abstatten. Demgemäß unternahm Tomek noch im Jahr 1850 zwei Reisen: Nach einem einmonatigen Pariser Aufenthalt besuchte er Seminare in Breslau, Berlin und Göttingen und traf sich auch mit deren Leitern. Interessanterweise war es Tomeks und nicht Thuns Idee, zunächst Paris zu besuchen und sich dort genauer über die École zu erkundigen. Demgegenüber rechnete das Ministerium offensichtlich nur mit einer Deutschlandreise 19 und mit einem Besuch in England, dessen Institutionen sowohl Thun als auch seinem Unterstaatssekretär Joseph Alexander Helfert bekannt waren. Doch entgegen der urspünglichen öffentlichen Ankündigung in der Österreichischen Correspondenz stand ein Aufenthalt in England gar nicht auf Tomeks Reiseprogramm. 20 Tomek unternahm in seinem langen Leben kaum ausgedehntere Reisen. Seine Erkundungsreise nach Paris und Preußen im Jahre 1850 war auch die einzige, die außerhalb der Monarchie stattfand. Es ist daher anzunehmen, dass die Besuche in Paris, Breslau, Berlin und Göttingen für ihn jeweils wichtige Stationen bedeuteten, da er sich dort auch persönlich mit wichtigen Vertretern seines Faches traf und über die Einrichtung der Seminare austauschte: in Breslau mit Gustav Stenzel, in Berlin unter anderem mit Leopold von Ranke, Wilhelm Wattenbach, Wilhelm von Giesebrecht und Georg Heinrich Pertz, in Göttingen mit Georg Waitz; außerdem traf er sich während seiner Reiseunterbrechung in Frankfurt am Main mit Johann Friedrich Böhmer. 21 Die genannten Personen übten in der Folge direkten bzw. indirekten Einfluss auf die Konzeption und Entwicklung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung aus. 22 Während der Reise informierte Tomek seinen Freund, den Konzeptadjutanten im Kultus- und Unterrichtsministerium, Josef Jireček, 23 über seine ersten Ein-
19 Joseph Alexander von Helfert an Wácslaw Wladiwoj Tomek, Wien 8. Februar 1850: „Ich habe dem Minister erzählt, daß Sie nach Paris zu gehen gedenken; er billigt Ihren Vorsatz – vorausgesetzt daß Sie die anderen Universitäten darüber nicht vergessen […]“. Archiv des Nationalmuseums Prag, Nachlass V. V. Tomek, Karton 5, Inv.-Nr. 254; vgl. auch Tomek, Paměti, (I), S. 336. 20 Šimeček, Seminární cvičení, S. 51. 21 Tomek, Paměti, (I), S. 343–350. 22 Lhotsky, Geschichte, passim. 23 Josef Jireček (1821–1888), ein tschechischer Nationalpatriot, Literaturhistoriker und liberalkonservativer Politiker, gehörte in den 1850er Jahren zu den nächsten Parteigängern um Thun. Als junger Jurastudent wurde er 1848 bei der erwähnten Zeitung Pokrok engagiert, wo er feste Verbindungen zu Thun knüpfte und Freundschaft mit Tomek schloss; anschließend machte er Karriere direkt im Ministerium. Er war maßgeblich an der Formierung der tschechischen „Regierungspartei“ beteiligt und besorgte ihre Kommunikation mit Prag, insbesondere mit W. W. Tomek. 1871 wurde er selbst zum österreichischen Kultus- und Unterrichtsminister im Kabinett Hohenwart. Die schriftliche Kommunikation zwischen Thun und Tomek lief meistens über Josef Jireček. Eine kritische Ausgabe der teilweise politischen Korrespondenz zwischen Tomek und Jireček fokussiert leider erst die Jahre um 1860: Magdaléna
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drücke und Beobachtungen. Diese wurden von Jireček direkt an Thun weitergegeben. Erst nach seiner Rückkehr nach Prag verfasste Tomek im August 1850 einen in tschechischer Sprache gehaltenen Spezialbericht an das Kultus- und Unterrichtsministerium, in dem er seine Beobachtungen nochmals zusammenfasste und die besuchten Einrichtungen kurz darstellte und miteinander verglich. Des Weiteren schlug er einige Grundsätze für die Realisierung der Seminare in Österreich vor, betonte aber ausdrücklich, dass ein umfassender Entwurf dieser historischen Seminare nicht seine Aufgabe war. 24 Das Dokument besprach er anlässlich seiner Reise nach Wien zu Anfang September 1850 mit Helfert und Jireček nochmals mündlich und übergab es im Rahmen einer längeren Unterredung auch Minister Thun persönlich. 25 Ein näherer Blick auf Tomeks Bericht zeigt, dass er hierin einerseits institutionelle, andererseits inhaltlich-programmatische Unterschiede zwischen den Einrichtungen in Paris und Preußen betonte. Im ersteren Fall bestanden sie in der Tatsache, dass die École des Chartes eine staatliche, formal institutionalisierte und relativ große Anstalt mit mehreren Professuren war, während es sich in Berlin, Breslau, Göttingen und Königsberg, wo es ebenfalls je ein historisches Seminar gab, um private Initiativen von Professoren handelte, für die nur sehr begrenzte Ressourcen zur Verfügung standen. Daher erschien Tomek die Pariser Form viel günstiger. Er räumte zwar ein, dass sie wegen allzu hoher Kosten in Österreich kaum realisierbar wäre, warnte aber zugleich davor, sich auf den privaten Charakter der Seminare nach preußischem Vorbild zu beschränken. Im Übrigen hatte er in einem Brief an Jireček schon zwei Monate zuvor ausdrücklich und unverhohlen konstatiert, dass „es in ganz Deutschland nichts gibt, was den Namen eines historischen Seminars verdienen würde.“ 26 Tomek verwies damit auf die bereits erwähnte Tatsache, dass es sich dort um das persönliche Engagement einzelner Professoren ohne jegliche institutionelle Grundlagen handelte. Auf der anderen Seite erschien Tomek der Inhalt der Seminare in Deutschland sinnvoller: Im Unterschied zur École des Chartes ging es hier nicht nur um die theoretisch-methodische Vorbereitung, sondern auch um die Bearbeitung von konkreten, praktischen Forschungsaufgaben. Während diese in Pokorná et al. (Hg.), Spoléhámť se docela na zkušené přátelství Vaše (..). Vzájemná korespondence Josefa Jirečka a Václava Vladivoje Tomka z let 1858–1862 [Denn ich verlasse mich völlig auf Ihre erwiesene Freundschaft (...) Die gegenseitige Korrespondenz zwischen Josef Jireček und Václav Vladivoj Tomek aus den Jahren 1858–1862], Praha 2008. Die gesamte umfangreiche Korrespondenz zwischen Tomek und Jireček befindet sich in: Literární archiv Památníku národního písemnictví [Literarisches Archiv des Museums des Nationalen Schrifttums], Nachlass Josef Jireček, in: Archiv Národního muzea [Archiv des Nationalmuseums (Prag)], Nachlass W. W. Tomek, sowie in: Archiv Akademie věd České republiky [Archiv der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik (Prag)], Nachlass Hermenegild Jireček. 24 Der komplette Bericht findet sich abgedruckt in Tomeks Memoiren: Tomek, Paměti, (I), S. 353–361. 25 Tomek, Paměti, (I), S. 362. 26 Zitiert bei Šimeček, Seminární cvičení, S. 54.
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Frankreich erst den Absolventen der École gestellt wurden, bildeten sie in Preußen den inhaltlichen Mittelpunkt der Seminare. Tomek selbst sprach sich für eine zentrale Rolle der Quellenkunde und der historischen Hilfswissenschaften aus; der zeitliche Schwerpunkt sollte auf dem Mittelalter liegen, inhaltlich sollte die österreichische Geschichte im Vordergrund stehen. Die Konzentration auf die Mediävistik erklärt sich aus der im 19. und 20. Jahrhundert weit verbreiteten Annahme, dass sich diese Epoche für die Aneignung der quellenkundlichen Methoden und Arbeitsweisen besonders eignete. In seinem Bericht polemisierte Tomek allerdings auch gegen einen anderen Seminarentwurf, der just im Sommer 1850 von dem kürzlich an die Wiener Universität berufenen Professor Heinrich Wilhelm Grauert vorgelegt und publiziert wurde. Möglicherweise bedeutete Grauerts Konzept für Tomek eine unangenehme Überraschung, da hier bereits eine konkrete Institution anvisiert wurde, noch ehe er seinen eigenen Abschlussbericht über die Reise nach Frankreich und Preußen vorlegen konnte. Der klassische Philologe und Historiker Grauert gehörte allerdings eben gerade zu jener Gruppe von Professoren, die nach der Übernahme des Kultus- und Unterrichtsressorts durch Thun aus dem deutschsprachigen Ausland berufen wurden, um die Universitäten als wissenschaftliche und auf Forschung orientierte Institutionen zu etablieren; von Tomeks Kollegen an der Prager Universität gehörten in diese Gruppe auch der aus Berlin berufene Philologe Georg Curtius und der Geschichtsprofessor und Palacký-Kritiker Constantin Höfler. Grauert, ein Absolvent der philologischen Seminare in Bonn und Schüler des Althistorikers Barthold Georg Niebuhr, brachte eigene Vorstellungen des historischen Seminars mit nach Wien, die von Tomeks Grundprinzipien in zwei entscheidenden Punkten abwichen: Das Seminar sollte nämlich nicht forschende Wissenschaftler, sondern in erster Linie Gymnasialprofessoren ausbilden; der Schwerpunkt sollte nicht auf der Geschichte, sondern auf der klassischen Philologie liegen, die an Österreichs Gymnasien eine zentrale Rolle spielen sollte. 27 Grauert war in der Angelegenheit des Seminars durch Hermann Bonitz engagiert worden, der seinerseits für die Gymnasialreform verwantwortlich war. Folglich wurde Grauerts Konzeption in der parallel zur genannten Reform gegründeten Zeitschrift für Oesterreichische Gymnasien veröffentlicht. 28 In dieser Situation traten deutlich die prinzipiellen Auffassungsunterschiede zwischen Grauert und Tomek hervor: Erstgenannter konzentrierte sich auf die Gymnasiallehre und die Gymnasialprofessorenausbildung an den Universitäten, zweitgenannter auf die aktive Forschung und den wissenschaftlichen Betrieb. Beide Herangehensweisen waren miteinander unvereinbar, da sie sich auf unterschiedlichen Ebenen mit unterschiedlichen Zielsetzungen bewegten. So konnte Tomek dem 27 Wilhelm Heinrich Grauert, „Plan eines historischen Seminars“, in: Zeitschrift für Oesterreichische Gymnasien 1 (1850), S. 321–344. 28 Peter Wozniak, “The organizational outline for the gymnasia and technical schools in Austria and the beginning of modern educational system in the Habsburg Empire”, in: Sonja Rinofner-Kreidl (Hg.), Zwischen Orientierung und Krise. Zum Umgang mit Wissen in der Moderne (= Studien zur Moderne (II)), Wien/Köln/Weimar 1998, S. 71–108, hier S. 104.
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Konzept von Grauert nicht zustimmen, obwohl sich Thun eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Proponenten gewünscht hätte. 29 Ein weiteres Missverständnis lag auch darin, dass Grauert eher an ein klassisch-philologisches Seminar dachte, denn solche Seminare wurden im Zusammenhang mit der Reform ebenfalls angestrebt. Ein solches war im Auftrag des Ministeriums in institutionalisierter Form direkt an der Prager Universität bereits 1849 eingeführt worden und von Curtius als Gründungsdirektor geleitet, noch ehe Tomek überhaupt seinen Auftrag erhalten hatte. 30 Auch Grauert selbst konnte sein Seminar an der Wiener Universität anschließend realisieren. 31 Noch im Frühjahr 1850 hatte Jireček gegenüber Tomek versichert, dass dieser als Direktor des historischen Seminars fungieren und das Seminar nicht ohne seinen Rat gegründet werde. 32 Diese Zusage schien sich bereits im Sommer 1850 aufzulösen, obwohl Tomek noch vor dem Jahresende eine wichtige Position erreichte, als er nämlich zum außerordentlichen Professor der österreichischen Geschichte in Prag ernannt wurde. Zur Einführung eines Seminars – weder nach Tomeks Entwurf noch in einer anderen Form – kam es allerdings zunächst nicht. Ab dem akademischen Jahr 1852/53 sah sich Tomek daher dazu veranlasst, dieses Seminar in eben jener Form anzubieten, die er selbst für ungünstig hielt: als eine private Seminarübung. Er eröffnete seine fakultativen Seminare in Prag fast zeitgleich mit Constantin Höfler. Im Unterschied zum eher spekulativen Charakter der Übungen von Höfler strebte er an, die interessierten Studenten auf eine etwaige wissenschaftliche Tätigkeit vorzubereiten und sie durch quellenkundliche Arbeiten in die historische Werkstatt einzuführen. Bei der Auswahl der Themen und Quellen konzentrierte er sich vor allem auf das böhmische Mittelalter, gemäß seinem eigenen Grundsatz, die vaterländische Geschichte und die Mediävistik in den Mittelpunkt stellen zu wollen. Seinem Bericht vom Sommer 1850 entsprechend, orientierte er sich sowohl an deutschen Vorbildern als auch an dem Programm der École des Chartes. Er verlangte jedoch, dass die Teilnehmer eine eigene Seminararbeit abzugeben hatten, was damals ein Novum war. Das Ausbleiben einer institutionalisierten Seminarform, die sinkende Zahl der Studenten sowie vermutlich auch die Gründung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung führten letztendlich dazu, dass Tomek seine Seminarübungen im Jahr 1854 einstellte und zu dieser Form auch nicht mehr zurückkehrte. 33 Ganz im
29 Josef Jireček an W. W. Tomek, 4. August 1850, zitiert bei Šimeček, Seminární cvičení, S. 55. 30 Martin Svatoš, Česká klasická filologie na pražské univerzitě 1848–1917. Působení Jana Kvíčaly a Josefa Krále [Tschechische Klassische Philologie an der Prager Universität 1848– 1917. Das Wirken von Jan Kvíčala und Josef Král], Praha 1995, S. 26. 31 Zu Grauert, der bereits im Januar 1852 starb, bisher am umfangreichsten: Heinrich von Srbik, Ein Schüler Niebuhrs. Wilhelm Heinrich Grauert (= Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien, Philosophisch-Historische Klasse (CLXXVI), 4. Abhandlung), Wien 1914. 32 Šimeček, Seminární cvičení, S. 54. 33 Umfassend zum Inhalt von Tomeks Seminarübungen Šimeček, Seminární cvičení, bes. S. 59– 70.
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Gegenteil blieb Tomek, der im Jahr 1888 pensioniert wurde, in den folgenden Jahrzehnten in seinem Universitätsunterricht jeder Seminar- und Übungsform fern und überließ dieses Feld später seinen jüngeren Kollegen. Gleichwohl widmete er sich auf individueller Ebene bei einzelnen Studierenden durchaus der Einführung in die wissenschaftliche Forschungsarbeit. Die Seminarbübungen Tomeks und Höflers beeinflussten auch einige Teilnehmer, die später sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch auf anderen Gebieten eine wichtige Rolle spielen sollten. 34 Demgegenüber verlief die Gründung und Ausgestaltung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung ohne direkte Teilnahme Tomeks. Auch unterhielt er keine unmittelbaren Kontakte zum Kreis des Instituts. Daher wird er im Zusammenhang mit diesem Institut auch kaum gesehen. Immerhin ist es doch bemerkenswert, dass in der umfangreichen und detailreichen Monographie zur Geschichte des Instituts von Alphons Lhotsky der Name Tomeks ein einziges Mal und eigentlich nur zufällig auftaucht. 35 Dennoch scheinen sich Tomeks Informationen und Ideen bei der Gestaltung des Instituts ausgewirkt zu haben, auch wenn sie sicher keine entscheidende Rolle spielten. Auch die Streitfrage zwischen ihm und Grauert, ob nämlich die zu gründenden Seminare forschungsorientiert sein oder sich der Ausbildung zukünftiger Gymnasialprofessoren widmen sollten, wurde letzlich im Sinne der Ansichten Tomeks gelöst. Vorerst wies zwar die Entscheidung Thuns, den Innsbrucker Professor Albert Jäger als ersten Direktor der Schule bzw. des Seminars, wie diese Anstalt zunächst bezeichnet wurde – denn erst in den Jahren 1856/7 setzte sich die Bezeichnung „Institut“ durch – zu installieren, in die entgegengesetzte Richtung. Schließlich stand Jäger den Meinungen von Grauert näher und hatte den Minister vor allem durch seine erfolgreiche Reform des Gymnasiums in der südtirolischen Stadt Meran auf sich aufmerksam gemacht. In weiterer Folge wies aber das Institutsprogramm ganz deutlich in Richtung einer Anstalt, die sich rein auf Wissenschaft und Forschung konzentrierte: Thuns Vortrag an den Kaiser im September 1853 über die vorläufige Errichtung einer provisorischen Schule an der Wiener Universität nannte eindeutig die „Herausbildung junger Männer zur tieferen Erforschung der oesterreichischen Geschichte“ als ihren Zweck und die Aneignung der Kenntnisse über historische Hilfswissenschaften sowie die Einarbeitung in die Methoden der quellenkritischen historischen Forschungsarbeit als zwei inhaltliche Hauptsäulen. Mutatis mutandis entsprach dies auch dem Wortlaut der Institutsstatuten aus den Jahren 1853, die vorläufig von Albert Jäger entworfen worden waren, und jenen von 1854 sowie 1857, die vermutlich von Jäger und seinem Nachfolger Theodor Sickel gemeinsam konzipiert wurden. 36 Das gymnasiale Lehramt oder die domi34 Zu Tomeks didaktischer Tätigkeit und zu seinen Schülern siehe Miloš Řezník, “W. W. Tomek jako pedagog” [W. W. Tomek als Pädagoge], in: Bohumil Jiroušek/Josef Blüml/ Dagmar Blümlová (Hg.), Jaroslav Goll a jeho žáci [Jaroslav Goll und seine Schüler], České Budějovice 2005, S. 131–150. 35 Lhotsky, Geschichte, S. 147, im Register außerdem verwechselt mit dem späteren Stipendiaten und Kirchenhistoriker Ernst Tomek, ebd. S. 421. 36 Alle drei Dokumente vollständig abgedruckt bei Lhotsky, Geschichte, S. 25–27 und S. 29–33.
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nante Rolle der klassischen Philologie findet hier keine Erwähnung. Hierdurch bestätigt sich auch der Eindruck, dass Grauert im Jahr 1850 Seminare völlig anderer Art und für ein anderes Fach konzipierte und für sie nur die unglückliche Bezeichnung „historisches Seminar“ verwendet hatte, womit er zumindest kurzfristig für Verwirrung sorgte. Auch die Schwerpunkttrias aus vaterländischer, d. h. österreichischer Geschichte, Mediävistik und historischen Hilfswissenschaften, die sich im Institut durchsetzte, entsprach Tomeks Vorschlägen. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch die direkte Rolle der École des Chartes als Vorbild für das Institut. Dessen Ausstattung blieb zwar weit hinter der Pariser Anstalt zurück; aber dennoch entsprach seine Gründung als staatliche Institution, die trotz ihrer engen Bindung an die Wiener Universität direkt dem Kultus- und Unterrichtsministerium unterstand, alles andere als den privaten Seminarübungen an preußischen Universitäten. Folglich kam der Universitätscharakter der neuen Anstalt in Wien den Überlegungen Tomeks zum historischen Seminar sehr nahe. Auch übernahm das Institut in seinem provisorischen Statut von 1853/1854 und in seinem Bildungsprogramm in etwa die Struktur der École des Chartes. 37 Die Institutsgestaltung korrelierte mit der damals im Zusammenhang mit seiner Gründung verfassten Schrift des Unterstaatssekretärs im Ministerium für Kultus- und Unterricht, Joseph Alexander von Helfert. Dieser war ein politischer Verbündeter Thuns – ähnlich wie dieser war auch Helfert Großgrundbesitzer in Böhmen – und ein Freund Tomeks, mit dem er 1848 gemeinsam aus dem revolutionären Wien geflüchtet war. Helfert, der neben Jireček der zweite Kontaktmann zwischen Tomek und Thun war und vermutlich die Sonderrolle Tomeks für das Ministerium im Jahr 1849 vermittelt hatte, 38 kannte die École nicht aus eigener Erfahrung, sondern über Tomeks Berichte und Kommentare. 39 Freilich trifft Lhotskys Hinweis zu, dass nämlich die Betrauung Albert Jägers mit der Leitung der Anstalt und mit der weiteren Konzeptvorbereitung lange vor dem Erscheinen der Schrift Helferts stattgefunden hatte, und dass sich diese Schrift nicht direkt auf die Gründung des Instituts ausgewirkt haben konnte. 40 Demgegenüber ist aber zu beachten, dass zu dem Zeitpunkt, als Minister Thun Albert Jäger an die Universität Wien berief, dem Ministerium seit einem Dreivierteljahr jener Bericht Tomeks vom August 1850 bekannt war, auf dem Helferts Schrift basierte. Helfert selbst, der die École erst 1856 persönlich kennenlernte, stützte sich darin auch auf einen ausführlichen Bericht, den Tomek in seinem Brief an Josef Jireček gleich nach seiner Rückkehr aus Paris im April 1850 erstattet hatte. 41 Der Grund, weshalb Tomek dem Wiener Unternehmen fern blieb, in Prag keine Seminarleitung übernehmen konnte und seine Seminarübungen nur zwei akademische Jahre führte, liegt vermutlich in den politischen Umständen. Tomeks 37 Lhotsky, Geschichte, S. 34f. 38 Kučera, Historik a politika, S. 60. 39 Joseph Alexander von Helfert, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, Prag 1853; Šimeček, Seminární cvičení, S. 56f. 40 Lhotsky, Geschichte, 19f. 41 Šimeček, Seminární cvičení, S. 51.
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Verständnis von einer vaterländischen Geschichtsforschung, der das Seminar dienen sollte, war zwar mit dem Gesamtstaat, dem Konzept einer gesamtösterreichischen Geschichte, dem staatlichen Patriotismus und der Dynastietreue eng verbunden. Gleichzeitig verband Tomek seine Vorstellungen allerdings auch mit der Pflege der partikularen Landes- bzw. Nationalpatriotismen. Eine solche Konzeption entsprach durchaus der föderalistischen Konzeption, die im Vormärz die böhmisch-ständische Opposition einschließlich Thun vertrat und die später mit Modifikationen sowohl von den tschechischen Repräsentanten, darunter auch Tomek, als auch vom konservativen Adel, darunter auch Thun, befürwortet wurde. Das Elaborat über die historischen Seminare von August 1850 zeigt, dass Tomek bewusst war, dass eine vollständige Übernahme des École-Modells vor allem aus Kostengründen nicht möglich war; in dieser Ansicht wurde er sowohl von Jireček wie auch von Thun und Helfert bestätigt. 42 Er postulierte jedoch die Gründung historischer Seminare an allen Universitäten in allen Kronländern, denn „wegen der Verschiedenheit der Nationalitäten kann man sich mit der Errichtung eines einzigen solchen Instituts für das ganze Reich nicht begnügen“ 43: Die Seminare waren seiner Ansicht nach in bescheidenerem Umfang so zu gründen, dass sie an der jeweiligen Universität mit einer historischen Lehrkanzel verbunden waren. Falls Tomek für sich selbst eine Schlüsselpostion bei der Gründung eines historischen Seminars erwartete, so dachte er dabei offensichtlich an ein Universitätsseminar in Prag, nicht an eine Zentralinstitution in Wien. Abgesehen von den Kosten war eine solche Konzeption jedoch auch auf Grund des Föderalismusverdachts, den die tschechischen Liberalen mit ihrer im Jahre 1848 deutlich formulierten Vorstellung eines föderalistischen Umbaus der Monarchie auf sich gezogen hatten, in den 1850er Jahren nicht durchsetzbar – und auch Thun hätte sie nicht durchsetzen können. Ob gerade dies der Hauptgrund für sein praktisches Handeln in der Sache des zukünftigen Instituts war, ist unklar. Jedenfalls schlug Thun trotz seiner föderalistischen Ansichten, seines böhmischen Landespatriotismus‘ und seines Verständnisses etwa für die tschechische oder slowakische Nationalbewegung in seinem Vortrag an den Kaiser im September 1853 nicht nur eine streng zentralistische Lösung vor, sondern argumentierte hierfür sogar mit Nachdruck und in offener Abgrenzung zu jeder Art von landespatriotischer Geschichtspolitik: „Auch wird diese Schule ihrem eigentlichen Zwecke nur dadurch möglichst nahe kommen, daß sie jüngere Talente aus den verschiedenen Kronländern des Kaiserstaates in sich vereinigt und dieselben jenem engen Anschauungskreise entrückt, welcher nicht selten sonst talentvolle Kräfte unter dem Einflusse nationaler Bestrebnisse von dem rechten Ziele der Geschichtsforschung ablenkt und zu bloßen Partheimännern macht“. 44
42 Šimeček, Seminární cvičení, S. 54. 43 Tomek, Paměti, (I), S. 356. 44 Joseph Alexander Helfert im Namen des Ministers Grafen Leo Thun-Hohenstein an Kaiser Franz Joseph I., 14. September 1853, zitiert bei Lhotsky, Geschichte, S. 26.
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So stellte sich Thun vollständig auf den Standpunkt einer Verbindung zwischen staatlicher Historikerausbildung und gesamtösterreichischer Geschichts- und Identitätspolitik. Die Position Thuns stand jedoch dem Wunsch Tomeks nach Betonung der landesspezifischen Traditionen nicht gänzlich entgegen. Im Gegenteil unterstützte und beauftragte Thun ihn teilweise mit Aufgaben, bei denen der Prager Professor seine Konzeptionen verwirklichen konnte. Paradoxerweise erfolgte dies eben auf jenem Gebiet, dessen Relevanz für die Konzipierung der historischen Seminare Tomek in der Polemik mit Grauert ablehnte: dem gymnasialen Geschichtsunterricht. Als Professor der österreichischen Geschichte sollte er ein entsprechendes Lehrbuch vorbereiten, das Verwendung in der ganzen Monarchie finden würde, und wurde somit als Lehrbuchautor für die Realisierung der Gymnasialreform engagiert. Tomeks Lehrbuch entstand noch im Jahr 1852 und wurde aus dem tschechischen Original 45 bald ins Deutsche und in weitere Unterrichtssprachen des Kaisertums übersetzt. 46 Tomek wandte sich hierin von der Konzentration auf die Geschichte der österreichischen Kernländer seit dem Mittelalter ab und musste sich aus diesem Grund einigen Problemen mit der Zensur sowie der Kritik seiner Opponenten stellen. 47 Diese unterstellten ihm, dem Gymnasiallehrbuch eine föderalistische, nationale und damit potentiell staatszersplitternde Tendenz implementiert zu haben. Unter den Gutachtern war übrigens auch Albert Jäger, der sich allerdings trotz einiger Kritikpunkte zu Tomeks Werk sehr positiv äußerte. 48 Der Verfasser zögerte damals nicht, den Minister um die Beendigung der Kritik zu bitten, und erhielt zumindest teilweise Rückendeckung durch Thun, der sich sogar selbst einige Meinungsverschiedenheiten mit dem Polizeiministerum einhandelte. Nach der persönlichen Entscheidung durch den Kaiser musste Tomek gleichwohl dem Druck der Zensur nachgeben. 49 45 Wácslaw Wladiwoj Tomek, Děje mocnářstwí Rakauského ku potřebě na gymnasiích [Geschichte der Österreichischen Monarchie zum Gebrauch an Gymnasien], Praha 1852. Das Lehrbuch folgte einer für die Gymnasien überarbeiteten Version seiner bereits erwähnten österreichischen Geschichte aus den 1840er Jahren: Wácslaw Wladiwoj Tomek, Děje mocnářstwí Rakauského. Druhé školní wydání [Geschichte der österreichischen Monarchie. Zweite Schulausgabe], Praha 1851. 46 Wenzel Wladiwoj Tomek, Geschichte des oesterreichischen Kaiserstaates. Zum Gebrauche an Gymnasien und Realschulen, Prag 1853; V. Tomek, Storia dell´imperio austriaco da uso di Ginnasi e delle scuole reali compilata, Vienna 1854; V. Vladivoj Tomek, Az Austriai birodalom történelme a gymnasiumok s reáliskolák használatára, Pest 1856. 47 Jana Kovaříková, “Učebnice dějepisu jako nástroj formování českého historického povědomí ve 2. polovině 19. stol.” [Geschichtslehrbuch als Mittel zur Formierung des tschechischen historischen Bewusstseins in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts], in: Miroslav Hroch (Hg.), Úloha historického povědomí v evropském národním hnutí v 19. století [Die Rolle des historischen Bewusstseins in den europäischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert], Praha 1976, S. 71–94, hier S. 75. 48 Tomek, Paměti, (I), S. 387–389. 49 Tomek, Paměti, (I), S. 395–396; Zdeněk Šimeček, “Slovanské a rakouské dějiny v české historiografii poloviny 19. století” [Slawische und österreichische Geschichte in der tschechischen Historiografie um die Mitte des 19. Jahrhunderts], in: Problémy z dějin
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Im Zusammenhang mit der anvisierten Einführung historischer Seminare in Österreich, der Übernahme des Lehrstuhls für österreichische Geschichte und dem gymnasialen Geschichtslehrbuch entwickelte Tomek in den frühen 1850er Jahren eine eigene Konzeption der österreichischen Geschichte, die er in „synchronischer“ Form bearbeiten und darstellen wollte. Ähnlich wie bei seiner Behandlung des Themas in den 1840er Jahren betonte Tomek erneut die Notwendigkeit, die Geschichte der habsburgischen Länder seit dem Jahr 1526 einerseits als ein Ganzes, andererseits mit Blick auf die Spezifika einzelner Länder darzustellen und zu unterrichten – ein Ansatz, der sich seiner Meinung nach sowohl für historische Synthesen als auch für die Lehre eignete. Nun grenzte sich Tomek auch durch die Behandlung der Perioden vor der Wahl Ferdinands I. zum König von Böhmen und Ungarn (1526) gegen die von ihm so bezeichnete „Stammlandmethode“ ab, bei der die Aufmerksamkeit auschließlich den Ländern unter habsburgischer Herrschaft gewidmet wurde, während die anderen Länder (einschließlich der böhmischen) erst durch den Herrschaftsantritt der Habsburger in die Geschichtsdarstellung „einflossen“. Tomek forderte, dass den böhmischen, ungarischen und anderen Ländern bereits bei der Behandlung der mittelalterlichen Geschichte die gleiche Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Mit diesem Vorschlag knüpfte er an die früheren Ansätze von Josef Chmel oder Karl Johann Vietz 50 aus den 1840er Jahren und sogar an konzeptuelle Überlegungen des Grazer Historikers Julius Franz Schneller vom Beginn des 19. Jahrhunderts an. 51 Tomek postulierte allerdings zum ersten Mal eine konsequente Umsetzung, und zwar auch im schulischen Geschichtsunterricht (in Gymnasien und Realschulen) in der gesamten Monarchie. Freilich gewannen seine Argumente im Kontext der 1850er Jahre an neuer politischer Relevanz. Durch seinen „synchronischen“ Ansatz, 52 der seinen Geschichtslehrbüchern zugrunde lag, und vor allem durch seine direkte Argumentation für eine derartige
historiografie, vol 2 [Probleme der Geschichte der Historiografie (II)], (= Acta Universitatis Carolinae, Philosophica et Historica (V)), Praha 1986, S. 91–117; Kazbunda, Stolice dějin, S. 52–54. 50 Jiří Štaif, Historici, dějiny a společnost. Historiografie v českých zemích od Palackého a jeho předchůdců po Gollovu školu, 1790–1900 [Historiker, Geschichte und Gesellschaft. Die Historiographie in den Böhmischen Ländern seit Palacký und seinen Vorgängern bis zu Golls Schule, 1790–1900], Praha 1997, S. 86f. 51 Julius Franz Schneller, „Geist der Geschichtsschreiber des Kaiserthums Oesterreich“, in: Hesperus 1818, S. 17–23 und S. 27–29, worauf er dann sein Werk baute: ders., Staatengeschichte des Kaiserthums Oesterreich von Christi Geburt bis zu den neuesten Zeiten, 7 Teile, Stuttgart, 2. Aufl. 1837–1841; noch vor Schneller unternahm der Gothaer Historiker Galletti den – eher unprogrammatischen – Versuch, die Aufmerksamkeit parallel auf die österreichische, ungarische und böhmische Geschichte zu verteilen: Johann Georg August Galletti, Handbuch der neuen Staatengeschichte, I: Geschichte des österreichischen Kaiserthums, Leipzig 1810. 52 Seine programmatischen Artikel erschienen in zwei Versionen (in tschechischer und deutscher Sprache), wobei sich die tschechische Fassung im Allgemeinen an das gelehrte, nationale Publikum, die deutsche Fassung speziell an die Lehrenden in den Gymnasien wandte.
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Geschichtsauffassung zog Tomek, nicht ganz unbegründet, den Verdacht auf sich, sein Ansatz stehe mit den föderalistischen oder zumindest autonomistischen Vorstellungen von der Neuorganisation der Monarchie in Zusammenhang. Zugleich sah er sich allerdings auch dem Vorwurf ausgesetzt, dass seine Methode der Untermauerung des gesamtstaatlichen Patriotismus und damit der von Thun vertretenen idenditätsstiftenden Geschichtspolitik diene. In der Tat beschrieb Tomek die Voraussetzung, dass die Formierung der Habsburgermonarchie als ein dauerhaft zusammenhaltendes Ganzes aus verschiedenen historischen Ländern nicht bloß Ergebnis der dynastischen Zufälle und politischen Konstellationen war; vielmehr seien die Länder auf natürliche Weise historisch zusammengewachsen und hätten bereits in früheren Phasen eine Tendenz zur gegenseitigen Annäherung gezeigt. Tomek formulierte die historische Genese des Kaisertums als natürlichen Ausdruck einer geschichtlichen Logik, als Vollendung von Kräften, die dem Geist der Geschichte zugrunde lagen. Mit anderen Worten war die Zusammenfügung der habsburgischen Kronländer das Ergebnis einer Integrationsneigung, die ihrer aller Historie immanent war. Hätte Tomek seine Gedanken nicht nur in sehr knapper und wenig ausgearbeiteter Form publiziert, wäre seine Methode wohl die beste historische Legitimation für das Kaisertum, aber auch für die historische Individualität seiner Teile gewesen. Dies galt insbesondere für das Kultus- und Unterrichtsministerium: Denn wenn gerade die Gymnasien ein wichtiges Instrument der gesamtstaatlich orientierten Bildung werden und durch die Erziehung zum übernationalen Staatspatriotisums eine bedeutende integrative Rolle spielen sollten, 53 so stellte sich zumindest die Frage, inwieweit ein „Gesamt-Österreichertum“ auch durch die Vielfalt seiner historischen und kulturellen Einheiten konstruiert werden konnte. Tomek bemühte sich hier von Seiten der identitätsstiftenden Geschichtspolitik um eine bemerkenswerte Balance, die den Ansichten des landespatriotisch orientierten Ministers Thun sicher vollkommen entsprach. Fast zeitgleich mit der Gründung und dem Beginn des Lehr- und Forschungsbetriebs des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in den Jahren 1854–1856 endeten sämtliche der beschriebenen Aktivitäten Tomeks. Er verfasste keine weiteren gymnasialen Lehrbücher, setzte die Propagierung des „synchronischen“ Ansatzes kaum fort und erarbeitete keine Konzepte für die Seminare mehr. Ein direkter Zusammenhang mit dem Institut wird zwar nicht expressis verbis bestätigt, er liegt aber nahe. Tomeks Enttäuschung resultierte vermutlich
Dies verdeutlicht auch den Zusammenhang mit seinem Lehrbuchauftrag im Hinblick auf die Geschichte des Kaisertums: Wenzel Wladiwoj Tomek, „Über die Behandlung der oesterreichischen Gesammtgeschichte“, in: Zeitschrift für Oesterreichische Gymnasien 4 (1853), S. 824–833; Vácslav Vladivoj Tomek, “O synchronické methodě při dějepise rakouském” [Von der synchronischen Methode bei der österreichischen Geschichte], in: Časopis Českého museum 28 (1854), S. 375–406. 53 Christoph Stölzl, Die Ära Bach in Böhmen. Sozialgeschichtliche Studien zum Neoabsolutismus 1849–1859, (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum (XXVI)), München 1971, S. 71.
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nicht daraus, dass er in Wien keine direkte Rolle spielte, 54 sondern daraus, dass entsprechende Einrichtungen nicht auch an anderen Universitäten der Monarchie, wie etwa in Prag, gegründet wurden. Da er private Übungen nach preußischem Vorbild bekanntlich für ungeeignet hielt, stellte er auch seine Seminarübungen in Prag ein, sobald sich zeigte, dass keine Institutionalisierung vor Ort erfolgen würde. 55 In den folgenden Jahren und Jahrzehnten widmete sich Tomek überwiegend eigenen Forschungen und Publikationen. Seine Lehre trat in den Hintergrund, und auch seine politische Tätigkeit spielte keine zentrale Rolle mehr. Zwar blieb Tomek als Vertreter der konservativ-liberalen Linie der tschechischen Politik ein überzeugter dynastietreuer österreichischer Patriot, ein Verbündeter Leo Thuns in der Landes- und Reichspolitik, und ging seiner Lehrverpflichtung als Professor der österreichischen Geschichte nach. Seine Kurse hielt er allerdings nur in tschechischer Sprache, was ihn schließlich in den 1870er Jahren für eine eventuelle Berufung an die Wiener Universität – als Nachfolger von Albert Jäger – ungeeignet erscheinen ließ. 56 Als engagierter Befürworter einer identitätsstiftenden Geschichtspolitik trat er zudem seit den 1860er Jahren ausschließlich im Interesse der tschechischen politischen Repräsentation auf. Resümee In der Zeit um 1850 bot sich Wácslaw Wladiwoj Tomek aus fachlichen, politischen und persönlichen Gründen für das Ministerium für Cultus und Unterricht als besonders geeigneter Protagonist an, um die Grundzüge einer neuen identitätsstiftenden Geschichtspolitik zu erarbeiten. Dazu gehörte im Kontext der Universitäts- und Bildungsreform, der angestrebten Verwissenschaftlichung der Universitäten und der Verbindung von Forschung und Lehre auch die fachliche Ausbildung professioneller Historiker und Archivare. Im Auftrag des Minis54 Tomek stand nur gelegentlich in indirektem Kontakt zum Institut. So korrespondierte er bspw. im Jahr 1858 mit Jireček über Stipendiatenempfehlungen, betonte aber, über die Bedingungen am Institut nicht informiert zu sein; Pokorná et al. (Hg.), Spoléhámť se docela, S. 70. Hieraus erfährt man auch, dass er zur selben Zeit Theodor von Sickel zu den politischen Gegnern zählte: ebd., S. 204, 211 und 218. Mit Albert Jäger verbanden Tomek dagegen von Anfang an durchaus positive, wenn auch nur gelegentliche kollegiale Beziehungen, die 1851 während seines Aufenthalts in Wien über Helferts Vermittlung geknüpft wurden; Tomek, LhotskiL, (I), S. 379. 55 Später allerdings (1858) erwähnte er seine „historischen Exerzitien“, die der Arbeit mit Quellen gewidmet waren, aber auf wenig Interesse stießen, so dass es ihm „immer nur mein privates Vergnügen“ war; Pokorná et al. (Hg.), Spoléhámť se docela, S. 70. 56 Lhotsky, Geschichte, S. 147. Schon Ende der 1850er Jahre zog Kultus- und Unterrichtsminister Leo von Thun-Hohenstein eine Berufung Tomeks aus Prag an eine andere österreichische Universität in Betracht, um die Ernennung zum ordentlichen Professor zu beschleunigen; Josef Jireček an Tomek, Wien, 19. Mai 1858, zitiert bei Pokorná et al. (Hg.), Spoléhámť se docela, S. 72.
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teriums besuchte Tomek die preußischen Universitäten und die École des chartes in Paris und erarbeitete anschließend die Grundzüge, an denen sich die Einrichtung der Seminare orientieren sollte. Obwohl das preußische Konzept sein Elaborat beeinflusste – vor allem unter dem Aspekt, dass die Seminaristen schriftliche Forschungsarbeiten verfassen sollten – stellte er eindeutig die von ihm von Anfang an präferierte Pariser École des Chartes als Vorbild für ähnliche Einrichtungen in Österreich dar. Dementsprechend legte er zentralen Wert auf mittelalterliche Quellenkunde, die historischen Hilfswissenschaften und die vaterländische Geschichte, worunter er sowohl die Geschichte der Monarchie als auch die Ländergeschichte verstand. Sein in groben Zügen skizziertes Konzept enthielt allerdings keine genauen organisatorischen und programmatischen Richtlinien und diente dem Ministerium bei der Konzipierung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung vermutlich eher als bloße Informationsgrundlage, obschon wichtige Vorschläge Tomeks später ohne seinen direkten Einfluss durchaus umgesetzt wurden. Ein wesentliches Anliegen Tomeks wurde allerdings nicht verwirklicht: Das Institut wurde als zentrale Anstalt bei der Wiener Universität angelegt, ähnliche Einrichtungen an anderen Universitäten der Monarchie blieben jedoch aus. Aus diesem Grund spielte Tomek in der Folge persönlich keine Rolle bei der Institutionalisierung der professionellen Historikerausbildung. Seine Seminarübungen in Prag blieben eine vorübergehende private Initiative als Professor für österreichische Geschichte. Im Zusammenhang mit der Einrichtung der Seminare sind auch weitere Aktivitäten Tomeks im selben Zeitraum zu sehen. Hierbei agierte er stets im direkten oder indirekten Auftrag des Ministeriums; er forcierte dessen identitätsstiftende Geschichtspolitik auf Basis von Geschichtslehrbüchern und der Erarbeitung eines „synchronischen“ Ansatzes, mit dessen Hilfe er versuchte, gesamtösterreichische und länderbezogene Perspektiven miteinander zu verknüpfen.
GESCHICHTSWISSENSCHAFTLICHE FORSCHUNGSBEDINGUNGEN AN DER UNIVERSITÄT INNSBRUCK IM TIROLER UMFELD: Julius Ficker und seine historische Schule Martin E. Urmann „Ich glaube, das gute Österreichische (…) ist besonders schwer zu verstehen. Es ist in gewissem Sinne subtiler als alles andere, und seine Wahrheit ist nie auf Seiten der Wahrscheinlichkeit.“ 1 (Ludwig Wittgenstein, 1929) „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen – wie es denn eigentlich gewesen ist – Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ 2 (Walter Benjamin, 1940)
Im Vormärz waren es die wissenschaftlichen Anstalten und Sammlungen im Umkreis des Hofes, namentlich das Geheime Haus-, Hof- und Staatsarchiv und das kaiserliche Münz- und Antikenkabinett, sowie einzelne Stiftsabteien gewesen, 3 an denen die Avantgarde einer auf Quellenstudium basierenden Geschichtswissenschaft beheimatet war. 4 Im Zuge der Universitätsreform des Ministers Thun-
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Zitiert nach Rudolf Haller, Studien zu Österreichischen Philosophie. Variationen über ein Thema (= Studien zur Österreichischen Philosophie (I)), Amsterdam 1979, S. 5–23, hier S. 5. Walter Benjamin, „Über den Begriff der Geschichte“, in: Gerard Raulet (Hg.), Werke und Nachlass, Kritische Gesamtausgabe, (XIX), Berlin 2010, These VI. Das Zitat hier will als Historismuskritik verstanden werden und soll, als Tigersprung in die Vergangenheit die Aporie der großdeutschen Geschichtsidee in einer Momentaufnahme um 1860 beleuchten. Dazu weiter (ebd. Anhang A): „Der Historismus begnügt sich damit, einen Kausalnexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren. Aber kein Tatbestand ist als Ursache eben darum bereits ein historischer. (…) Der Historiker, der davon ausgeht, hört auf, sich die Abfolge von Begebenheiten durch die Finger laufen zu lassen wie einen Rosenkranz. Er erfasst die Konstellation, in die seine eigene Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist.“ Etwa in Tirol: Neustift (Augustiner-Chorherren), Wilten (Prämonstratenser) und Marienberg (Benediktiner); herausragend St. Florian bei Linz (Augustiner Chorherren); siehe dazu Ronald Bacher, „Zwischen katholischer Restauration und franziszeischem Staatskirchentum. Der Klerus im Vormärz, dargestellt am Beispiel Alois Röggls, Abt von Wilten“, in: Innsbrucker Historische Studien 7-8 (1985), S. 152–178. Dazu allgemein: Michael Hochedlinger, „Stiefkinder der Forschung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie. Probleme –
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Hohenstein 5 ergaben sich ab den frühen 1850er Jahren freilich zahlreiche Neuerungen, die das höhere Bildungs- und Ausbildungswesen in der Habsburgermonarchie bekanntlich nachhaltig veränderten. So erfolgte etwa auf Vermittlung Johann Friedrich Böhmers 6 (1795–1863) die Berufung des Bonner Privatdozenten Julius Ficker (1826–1902) auf den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte nach Innsbruck (1852). Damit wurde die hiesige Fakultät, neben dem 1854 gegründeten Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung, zu einem Zentrum historischer Grundlagenforschung. 7 Das Wiener Institut sollte nach 1867 – einem berühmten Diktum zufolge – zum „unpolitischen Werk politischer Bestrebungen“ werden. 8 Dies kann demgegenüber für die Schule Ficker-Huber in ihrer prononciert katholisch-großdeutschen Ausrichtung nicht in gleichem Ausmaß konstatiert werden; ganz deutlich wird dies auch am Ficker-Sybel-Streit von 1859/61, 9 in dessen Rahmen eine längere Auseinandersetzung über die Bewertung der mittelalterlichen Kaiserpolitik entbrannte. 10 Im folgenden Text sollen die wissenschafts-
Leistungen – Desiderate“, in: Michael Hochedlinger/Thomas Winkelbauer (Hg.), Herrschaftsverdichtung, Staatsbildung, Bürokratisierung. Verfassungs-, Verwaltungs- und Behördengeschichte der Frühen Neuzeit (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (LVII)), Wien 2010, S. 293–395, hier S. 337–359. 5 Leopold von Thun-Hohenstein (1811–1888), Minister für Cultus und Unterricht 1849–1860; gilt als einer der „Väter“ des politischen Katholizismus in Österreich; zusammen mit Franz Serafin Exner (1802–1853) nahm Thun die große Reform des Österreichischen Bildungswesens in Angriff; immer noch maßgeblich: Hans Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein (= Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CCXXXIX/II)), Graz/Wien u. a. 1962. Vgl. dazu auch das Forschungsprojekt am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck: http://thun-korrespondenz.uibk.ac.at/?page_id=65 (abgerufen am 01. 09. 2013). 6 Johann Friedrich Böhmer (1795–1863), Frankfurter Stadtbibliothekar, ab 1823 Sekretär der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica; Begründer der Regesta imperii (Vorarbeiten ab 1829); zu seiner Person: Erwin Kleinstück, Johann Friedrich Böhmer (= Frankfurter Lebensbilder (XV)), Frankfurt 1959. 7 Gerhard Oberkofler/Peter Goller, Geschichte der Universität Innsbruck (1669–1945), Frankfurt a. M., u. a. 21996, S. 203–225; zum Verhältnis der Ficker-Schule zur Wiener Diplomatik eines Theodor von Sickel siehe Gerhard Oberkofler/Peter Goller (Hg.), Alfons Huber. Briefe 1859–1898. Ein Beitrag zur Geschichte der Innsbrucker Historischen Schule um Julius Ficker und Alfons Huber, Wien 1995, S. 54. 8 Alphons Lhotsky, Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854– 1954 (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsbd. (XVII) = Festgabe zur Hundert-Jahr-Feier des Instituts), Graz/Köln 1954, S. 7. 9 Heinrich Sybel 1817–1895, westfälischer Protestant, seit 1856 Professor für Geschichte an der Universität München, gründete das Historische Seminar, 1859 die Historische Zeitschrift (HZ); ab 1861 Professor in Bonn; ab 1875 Leiter des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin. Heinrich Sybel, Die deutsche Nation und das Kaiserreich, Düsseldorf 1862; kontrovers zu Julius Ficker, Deutsches Königtum und Kaisertum, Innsbruck 1862. 10 Below etwa verortete Ficker als katholisch-großdeutschen Historiker innerhalb der politischen Geschichte: Georg von Below, Die deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen, Leipzig 1916, S. 59f.
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organisatorischen Rahmenbedingungen im Zusammenhang mit Fickers Tätigkeit in Innsbruck erläutert werden. Fickers Vorlesung Anleitung zur quellenmäßigen Bearbeitung der Geschichte 11 sollte in der österreichischen und deutschen Geschichtswissenschaft alsbald als klassisch und schulbildend gelten. Fickers Kolleg, seine Beiträge zur Urkundenlehre (1877/78) und das Innsbrucker Historische Seminar (1871) seines Lieblingsschülers Alfons Huber (1834–1898) dürfen demnach als Mutterboden der sogenannten „Innsbrucker Historischen Schule“ angesehen werden. 12 Die Innsbrucker Richtung suchte einen gangbaren Weg zwischen der Subjektivität narrativer Darstellung und den formal-exakten, aber blutleeren und arkan anmutenden Editionen, wie sie die neuere Diplomatik des gleichaltrigen Theodor Sickel (1826–1908) in Wien, oder des berühmten Georg Waitz (1813–1886) in Göttingen lieferte, zu beschreiten. 13 Den beiden österreichischen „Schulen“ in Wien und Innsbruck war jedoch der weitestgehende Verzicht auf eine geschichtsphilosophische Diskussion historischer Fragestellungen gemeinsam, wie sie in Deutschland etwa durch Johann Gustav Droysens „forschendes Verstehen“ angestoßen wurde. 14 Die Theorieferne und die Weigerung des österreichischen „Histo11 Das Kolleg, mit dem er „der gesamten deutschen Geschichtswissenschaft unter die Arme greifen zu können“ glaubte, umfasste Allgemeine Quellenkunde, Anleitung zur Kritik, Arten der äußeren Überlieferung, Entstehungsverhältnisse, Verwandtschaft, Verfälschungen, Emendation und Veröffentlichung, Echtheit, sowie Glaubwürdigkeit der Tatsachen. Ficker ließ das Kolleg solcherart von Engelbert Mühlbacher und Arnold Busson weiterführen; Julius Jung, Julius Ficker (1826–1902). Ein Beitrag zur Deutschen Gelehrtengeschichte, Innsbruck 1907, S. 204; siehe auch Gerhard Oberkofler/Peter Goller, „… in letzter Linie entscheiden ja doch Persönlichkeiten den Gang der Geschichte. Zum Briefwechsel zwischen Alfons Huber und Julius Jung (1874–1897)“, in: Der Schlern 68.7 (1994), S. 379–436; dazu auch: Thomas Brechenmacher, „Julius Ficker. Ein deutscher Historiker in Tirol“, in: Geschichte und Region/ Storia e regione. Jahrbuch der Arbeitsgruppe Regionalgeschichte Bozen 5 (1996), S. 53–92, hier S. 66f. Auf das Kolleg rekurrierte u. a. Ernst Bernheim, Lehrbuch der Historischen Methode und der Geschichtsphilosophie (1889), Leipzig 1908; auch: ders., Einleitung in die Geschichtswissenschaft, Leipzig 1907, S. 72–153. 12 „Unter Schule darf man sich da ja nichts Schematisches oder Pedantisches vorstellen; Ficker war eine viel zu ausgesprochene Individualität, um nicht auch jeden Schüler in seiner Art gewähren zu lassen.“ Siehe: Emil von Ottenthal, Julius von Ficker, †10. Juli 1902. Rede bei der vom Akademischen Senat der Universität Innsbruck am 13. Dezember 1902 veranstalteten Gedächtnis-Feier, Innsbruck 1903, S. 19. Aus der „Schule“ gingen jedenfalls zahlreiche bedeutende Historiker hervor; hier stellvertretend: Alfons Huber, Arnold Busson, Julius Jung, Engelbert Mühlbacher, Oswald Redlich, Emil von Ottenthal; siehe Oberkofler/Goller (Hg.), Alfons Huber, S. 17–94. 13 Der strengen Schule der Wiener Diplomatik, aber vereinzelt auch der Innsbrucker Richtung, wurde später der Vorwurf der einseitigen „Stoffhuberei“ gemacht: Harold Steinacker, „Julius Ficker und die deutsche Geschichtswissenschaft“, in: Die Universität Innsbruck. Aus Geschichte und Gegenwart, Innsbruck 1928, S. 22–31, hier S. 29; ergänzend dazu: Oberkofler/Goller (Hg.), Alfons Huber, S. 46–67. 14 Johann Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 1868, S. 9, §8: „Die Methode der historischen Forschung ist bestimmt durch den morphologischen Charakter ihres Materials. Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehn.“
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rismus“, eine vordergründige Sinnstiftung zu offerieren, sei es durch eine metahistorische Figur oder auch nur durch die Einnahme einer universalistischen sive planetarischen Perspektive (Heinrich von Srbik), 15 lässt die dahin gehenden Unternehmungen zugleich als Utopie und Aporie erscheinen. Hinzu kommt, und dies gilt besonders für die Innsbrucker Schule, der weitestgehende Verzicht auf eine künstlerisch-darstellerische Komponente, die Vernachlässigung der rhetorischen Figur, die das geschichtsphilosophische Defizit bis zu einem gewissen Grade hätte wettmachen können. Sicherlich kam damit auch die um 1900 innerhalb der österreichischen Intelligenz weit verbreitete Diskreditierung aller Historie (im Gefolge Nietzsches und der Lebensphilosophie) auf den Weg. 16 Dem katholischen Westfalen Ficker, der ehrenvolle Berufungen nach Bonn und Wien ablehnen sollte, „weil ihm die hiesigen Studenten so sympathisch seien“, 17 gelang jedenfalls eine fruchtbare Zusammenschau historischer und juristischer Fragestellungen. Unter erstmaliger Einbeziehung der großen Masse von Urkunden außerhalb der Herrscherdiplome und durch die Trennung von „actum“ (Handlung) und „datum“ (Beurkundung), vermochte er die Entstehungsgeschichte je einer solchen Quelle zu präzisieren, wobei er aber stets auf den Sach- und Rechtsinhalt fokussiert blieb; denn im Rahmen seiner Forschungen, etwa zum Reichskirchengut, taten sich für ihn vornehmlich Fragen der Verfassungs- und
15 „Sein Begriff gesamtdeutsch erweitert sich folgerichtig von der nationalstaatlichen Basis zu einem neuen universalistischen Prinzip, dem ein bestimmtes politisches Wunschbild zugrunde liegt.“ Albert Brackmann/Fritz Hartung (Hg.), Jahresberichte für deutsche Geschichte, 12. Jg., Leipzig 1936-1937, (XIV), S. 155. Dazu: Heinrich Ritter von Srbik, Österreich in der deutschen Geschichte. 3 Vorträge., München 1936, S. 44: „Schwer lastet die Verantwortung auf dem Historiker, der den gesamtdeutschen Gedanken in sich trägt, das rechte Maß in der Beurteilung zu finden. Das Ganze des deutschen Volkes, nicht der staatliche und konfessionelle Teil, muss der Bewertung zugrunde liegen.“ 16 Oberkofler/Goller (Hg.), Alfons Huber, S. 19. So spielen die Historikerschulen in den intellektuellen Auseinandersetzung des Fin de siècle kaum eine Rolle: „(…) man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, (…) würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernem Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen.“; siehe Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 55. 17 1875, anlässlich seiner Ernennung zum Hofrat, wurde Ficker mit einem Fackelzug seiner Studenten geehrt; Ottenthal, Julius von Ficker, S. 20. Innsbruck war in der Rangordnung der österreichischen Universitäten auf den hinteren Plätzen angesiedelt: „(…) erst nach Czernowitz verbannt, hernach auf Innsbruck begnadigt (…)“ – so wurden österreichische Professorenkarrieren kommentiert; hierzu Gerhard Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck 1850–1945 (= Veröffentlichungen der Universität Innsbruck (XXXIX), (= Forschungen zur Innsbrucker Universitätsgeschichte (VI)), Innsbruck 1969, S. 11.
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Institutionengeschichte auf. 18 Mit seinen Arbeiten zur Reichsgeschichte und zur deutschen und italienischen Rechtsgeschichte begründete Ficker, der 1863 die Lehrkanzel für Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte übernahm, um sein Ordinariat für Alfons Huber freizumachen, zudem eine rechtshistorische Schule, deren Wirkung weit über Innsbruck hinaus reichen sollte. 19 Fickers langjährige Innsbrucker Tätigkeit zeigt gleichsam Wissenschaftsorganisation “in statu nascendi”. Dies lässt sich im Kontext der Geschichtsforschung auch durch einige lebenspraktische und alltagsrelevante Aspekte veranschaulichen. Zunächst ist hier der „jugendliche Aufbruch“ zu erwähnen: 20 Der 26-jährige „blondlockige, stattliche Westfalenjüngling“ war „(…) mit den lebhaftesten Sympathien für den Kaiserstaat“ 21 nach Innsbruck gekommen und frequentierte unmittelbar nach dem Antritt seiner Professur die nach dem Vormärz fragmentiert darniederliegenden Bildungsstätten: das Ferdinandeum, 22 die Universitätsbibliothek und das Statthaltereiarchiv der kleinen Landeshauptstadt mit ihren gut zwanzigtausend Einwohnern. Anschließend suchte er den Dialog mit der schmalen geistigen Elite, die sich in Tischgesellschaften und literarischen Zirkeln lose zusammengefunden hatte. 23 Auf eigene Kosten beschaffte er sich grundlegende historische Literatur aus dem Ausland, da er an einer Geschichte Ludwigs des Bayern arbeitete. Dabei galt er den rudimentär verbliebenen Josephinern, meist Juristen, unbegründeter Weise, wie sich noch herausstellen sollte, anfangs als scharfer Katholik. Rasch sammelte er einen Kreis begabter, nur unwesentlich jüngerer Schüler um sich. Seine romantisch anmutende Liebe zu seiner neuen Heimat ließ ihn zahlreiche Bergwanderungen und Erstbegehungen in den Tiroler Alpen sowie 18 Siehe bereits in Fickers Dissertation: Julius Ficker, De Henrici VI. Imperatoris conatu electiciam regum in imperio romano-germanico Successionem in hereditariam mutandi, Dissertatio historica, Köln 1850. 19 Als Beispiel sei hier Otto von Zallinger (1856–1933) genannt: 1880 habil. für Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte; Österr. Rechtsgeschichte (1883), 1892 Ordinarius für Deutsches Recht und Österreichische Rechtsgeschichte in Wien. 20 Darauf hingewiesen hat erstmals: Fritz Fellner, „Alfons Huber. Werk und Wirken im Umfeld der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft“, in: Gunda Barth-Scalmani/Hermann J. W. Kuprian (Hg.), Alfons Huber (1834–1898). Ein Gelehrter aus dem Zillertal. Österreichische Geschichtswissenschaft im Spannungsfeld zwischen Region und Nation, [Sonderdruck aus: Tiroler Heimat 64 (2000)], S. 10. 21 Ottenthal, Julius von Ficker, S. 17. 22 Zum Ferdinandeum siehe Ellen Hastaba, „Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum und seine Bibliothek. Die Geschichte ihres Bestandes. Ihre Funktion als Museums- und Tirolensienbibliothek. 1823–1900“, in: Tiroler Heimat 68 (2004), S. 141–237. 23 Gemeint ist etwa das Judenstübele im Hotel zur Goldenen Sonne; hierzu gehörten: Alois Flir (1805–1859), ab 1835 Professor der Philologie und Ästhetik in Innsbruck (ab 1853 Rektor des Collegio Teutonico di Santa Maria dell’Anima in Rom); Johannes Schuler; Josef von Kern (Redakteur der populären Volks- und Schützenzeitung); David Schönherr; Sebastian Ruf. Später entstand dann das Noricum, eine Tischgesellschaft um Ficker selbst, die bis zur Jahrhundertwende existierte; siehe Christian Schwaighofer, Literarische Gruppen in Tirol. Vereine, Zeitschriften, Almanache 1814–1914, Inauguraldissertation Innsbruck 1983, S. 17–40 und S. 181–186.
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regelmäßige Spaziergänge in der Innsbrucker Umgebung unternehmen; seine heitere Geselligkeit machte ihn populär, ja charismatisch, da er die Nähe seiner Schüler zuließ und sich in der Innsbrucker Vorstadt (Wilten) ansiedelte. Des Weiteren ist die Entstehung der Innsbrucker Schule, wie hier nur am Rande bemerkt wird, auch im Kontext eines in Tirol früh einsetzenden Ultramontanismus zwischen Romantik und Historismus zu sehen. Man kann sich den charismatischen, jungen Ficker im Kreise seiner Eleven wohl vorstellen; unter diesen befanden sich der erwähnte geniale Stipendiat Alfons Huber, aus bitterarmen, bergbäuerlichen Verhältnissen stammend, der Westfale Arnold Busson, vom Nimbus Fickers angezogen und als siebzehnjähriger Gymnasialabbrecher in Innsbruck eingetroffen, schließlich auch Josef Durig aus dem Hochtal Montafon, ebenfalls ein Stipendiat aus kleinsten Verhältnissen, der intensiv am Codex Wangianus, i. e. das Urkundenbuch des Hochstiftes Trient, arbeitete. In Tirol reiste man noch mit der Postkutsche, während man schon im revolutionären Deutschland von 1848 mit der Eisenbahn gefahren war. In Kaltern bei Bozen waren ein paar Jahre zuvor zahlreiche Gläubige, die „Gottseeligen“, wie sie der aus Tirol stammende Orientalist Gottfried Philipp Fallmerayer nannte, zur stigmatisierten Jungfrau Maria von Mörl gepilgert; Schließlich waren auch 1837 die dort verbliebenen letzten Protestanten (Inklinanten) aus dem Zillertal vertrieben worden – das Land entwickelte sich erst langsam von einem heterogenen Untertanenverband zu einer disparaten Verwaltungseinheit. 24 Aus grundsätzlichen Überlegungen heraus lohnt hier ein genauerer Blick auf die neuartige, dialogische Lehrmethode und den daraus resultierenden Prozess der eigentlichen Wissensfindung. Die Studienreform hatte grosso modo eine Umgestaltung bzw. Erweiterung der Lehrformen an Österreichs Universitäten nach sich gezogen: Als bisher dominante Unterrichtsform geriet die „Vorlesung“, die im Vormärz streng nach Vorgaben der Studienhofkommission als der zentralen Planungs-, Lenkungs- und Verwaltungsinstitution für Universitäten und Gymnasien nach approbierten Lehrbüchern gestaltet war, wegen der immer umfangreicheren und detaillierteren Wissensinhalte mehr und mehr ins Hintertreffen; dies gerade auch deswegen, weil man der Philosophischen Fakultät in zunehmendem Maße die Funktion zuwies, Wissen nicht bloß zu tradieren, sondern zugleich auch neues Wissen zu schöpfen. Erst jetzt wurde die Forschung, vornehmlich die der Grundlagen der historischen Wissenschaften, in den Aufgabenbereich der Ordinariate integriert. In Folge der fortschreitenden Spezialisierung der Disziplin und einer forcierten empirischen Aufrüstung gegen die „Universalhistorie“ der Aufklärungszeit hatten die Universitätshistoriker in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts begonnen, neben den Überblicksvorlesungen aus Allgemeiner Geschichte historische Übungen abzuhalten, die zunächst meist privatim und unter einer streng ausgewählten, kleinen Zuhörerschaft stattfanden. Leopold Rankes Historische Übung in Berlin, die er seit 1825 angeboten hatte, darf in dieser Entwick24 Nicole Priesching, „Frömmigkeitskultur und Ultramontanismus in Tirol um 1850“, in: Geschichte und Region/Storia e Regione 12-2 (2003), S. 15–36.
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lung, neben derjenigen von Georg Waitz in Göttingen, die erstmals 1849 abgehalten wurde, als Wegmarke angesehen werden. In diesem Zusammenhang ist auch Fickers Anleitung zu sehen. 25 Ficker begann seine Vorlesungstätigkeit mit einem vierstündigen Überblick über die Geschichte des Altertums bis zum Ende des punischen Krieges und einer einstündigen Geschichte der Kreuzzüge vor insgesamt 73 Hörern, darunter 59 Juristen. Im Sommersemester 1854, mit Beginn seiner Anleitungen, bemerkte er in seinem Tagebuch: „Vor allem hoffe ich hier eine Art historische Schule zu bilden, habe diesen Sommer den Anfang gemacht und denke die Sache, ohne mich die Mühe verdrießen zu lassen, rüstig fortzusetzen“. 26
Fickers Intentionen waren mit Thun dahingehend akkordiert, dass man geeignete katholische Studenten aus dem Deutschen Bund für Innsbruck anzuwerben gedachte, um auf diese Weise eine Avantgarde an tüchtigen, großdeutsch gesinnten Gymnasiallehrern heranzuziehen. Das Unterfangen zeigte beachtliche Anfangserfolge, wurde aber durch die Zuspitzung des deutschen Dualismus immer aussichtsloser und nach 1866 schließlich völlig obsolet. 27 Ficker selbst bemerkte hierzu: „Ich kündigte die Übungen unter dem Namen Anleitung zur quellenmäßigen Bearbeitung der Geschichte für Lehramtskandidaten an, mir sogleich vorbehaltend, die Zulassung von meiner Entscheidung abhängig sein zu lassen (…). Daran glaube ich auch in Zukunft festhalten zu dürfen, da eine Beschränkung auf 5 bis 6 Teilnehmer nötig sein wird [für die sich Ficker beim
25 Dazu: Gabriele Lingelbach, „Lehrformen der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts als Vorbild für Reformen in Frankreich? Das Beispiel der Geschichtswissenschaft“, in: Themenportal Europäische Geschichte, (2007), URL: http://www.europa.clio-online.de-2007-Article =270, (26.11.2013). Ficker lehnte, wie vor ihm Ranke und Waitz, eine festere Anbindung an die Universität und eine Reglementierung durch Statuten, mithin eine definitivere Institutionalisierung ihrer Übungen in Form Historischer Seminare ab. Das Innsbrucker Historische Seminar wurde dann auch erst 1871 gegründet; in Berlin und Heidelberg kam es zur Gründung des Historischen Seminars überhaupt erst in den 1880iger Jahren; zur Situation in Innsbruck: Gerhard Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck 1850–1945, S. 44 und S. 59–64. 26 Hier und im Folgenden nach Jung, Julius Ficker, S. 202–241, hier S. 202. Zur Studienfrequenz: Im Wintersemester 1850/51 waren (neben 195 Juristen) an der philosophischen Fakultät mit den 6 Ordinariaten Philologie, Mathematik, Physik, Geschichte, Philosophie und Naturgeschichte 15 ordentliche und 18 außerordentliche Hörer inskribiert; die Zahl stieg wegen des hohen Bedarfs an Gymnasiallehrern bis zur Mitte der siebziger Jahre stark, im Wintersemester 1900/01 betrug sie 149; dazu Oberkofler/Goller, Geschichte der Universität Innsbruck, S. 165–178, hier S. 171. 27 Paul Scheffer-Boichorst (1843–1902), ab 1862 Schüler Fickers, 1876 Professor in Straßburg, ab 1890 in Berlin, von 1891 bis 1902 Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica; Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 48f.; Oberkofler/Goller (Hg), Alfons Huber, S. 354–356; Arnold Busson (1844–1892), seit 1861 in Innsbruck, 1867 Privatdozent, 1971–1891 Professor ebd., ab 1891 in Graz. Oberkofler/Goller (Hg), Alfons Huber, S. 140–157.
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Ministerium erfolgreich um Stipendien einsetzte, 28 Anm. MU], um die gesetzten Zwecke zu erreichen, und auch kaum anzunehmen ist, dass hier mehr Studierende sein könnten, die sich mit historischen Studien vorzugsweise befassen (…)“. 29
Wegen des ungleich besseren Bestandes an Handschriften und literarischen Behelfen las Ficker ab 1854 durch viele Jahre hindurch sein akademisches Kolleg im Ferdinandeum als einstündiges Publicum. Auf diesem Kolleg, dem er später den Titel Anleitung zur historischen Kritik gab, lag der Schwerpunkt der Wirksamkeit in der Lehre Fickers. Seine Art zu lehren entsprach einer Anleitung zu selbständiger, historisch-kritischer Forschung, in der (tirolische) Geschichtsquellen, Urkunden und Statuten den zentralen Ausgangspunkt bildeten. Dem Problem der fehlenden Lehrbehelfe konnte durch ideenreiche wissenschaftliche Pionierarbeit abgeholfen werden. Fickers große Karte von Tirol (1855), gezeichnet nach der Gerichtseinteilung im Jahre 1800, präfigurierte spätere Arbeiten zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer, der im Jahr 1899 von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften im Rahmen einer eigenen Kommission initiiert wurde. 30 Durch seine Mitarbeit in der Auswahl geeigneter Schriftstücke für die sogenannten Monumenta Graphica Medii Aevi, einem beispielhaften diplomatisch-paläographischen Lehrapparat photographisch faksimilierter Urkunden, konnte die Diskussion der Schriftentwicklung auf ein anschauliches Fundament gestellt werden. Theodor Sickel, formalkritischer Spezialdiplomatiker und seit 1869 Direktor des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, besorgte die Edition, als deren angestrebtes Ziel die mit einem Anmerkungsapparat ergänzte Darstellung zumindest einer exemplarischen Urkunde jedes deutschen Königs sowie jedes österreichischen Landesfürsten galt. Ebenso aufgenommen werden sollten Papsturkunden und privatrechtliche Urkunden, wie auch Fälschungen und Inedita, wohingegen griechische Handschriften und Buchschriften nicht berücksichtigt wurden. Zwischen 1858 und 1882 konnten 10 Lieferungen à 10 Urkunden fertiggestellt werden. Die Veröffentlichung des gesamten Werkes fand in den Jahren 1891 und 1893 statt. 31
28 Ficker an Böhmer, 17. 3. 1860: „Was Huber bisher außer Staatsunterstützungen bedurfte, überstieg meine Mittel nicht; fürs laufende Jahr hat er ein Stipendium von 400 fl.“ Jung, Julius Ficker, S. 226. (vgl. dazu das Jahresgehalt eines Dorfschullehrers: 70 fl. bei freier Logis; Industriearbeiter: 250 fl. bei 80 Arbeitsstunden/Woche). 29 Jung, Julius Ficker, S. 206. 30 Franz Wieser, „Drei Nekrologe. Tappeiner, Mitterrutzner, Ficker“, in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 3–47(1903), S. 315–332, zu Ficker S. 325–332 und S. 328. 31 Theodor Sickel (Hg.), Monumenta graphica medii aevi ex archivis et bibliothecis imperii austriaci collecta, 10 Lieferungen, 3 Bde., Wien 1858–1882. Die Idee der photographischen Reproduktion von Urkunden geht auf den Direktor der Hof- und Staatsdruckerei, Alois Auer Ritter von Welsbach (1813–1869) zurück, unter dem die Institution einen international anerkannten hohen künstlerischen und drucktechnischen Standard erreichte; dazu Alphons Lhotsky, Geschichte, S. 53–61, hier S. 58.
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Ficker verband in seinem Unterricht die konkrete praktische Anleitung mit Überblicksvorträgen und Impulsreferaten, wobei ihm letztere anfangs noch Schwierigkeiten bereiteten, was er auch reflektierte: „(…) aber ich lerne selbst manches dabei und werde auf Sachen aufmerksam, an die ich früher nie gedacht habe. Eine systematische Behandlung des ganzen Gebietes der historischen Forschung ist meines Wissens noch nicht versucht worden. Das System entwickelt sich mir selbst erst allmählig und bei einer nochmaligen Behandlung würde ich es vielfach ganz ändern; es ist übrigens von vorn herein vorzugsweise auf die Reichsgeschichte des Mittelalters berechnet, doch im Allgemeinen auch Altertum, Orient und Neuzeit berücksichtigt“. 32
Die Kollegsteilnehmer sollten sich wie in einer „historischen Anatomiestunde“ am Quellenkorpus und unter Anleitung des Professors das erforderliche epistemologische und praktische „Rüstzeug“ eines Angehörigen der jungen historischen Disziplin, die sich erst von der Philologie zu emanzipieren begonnen hatte, aneignen. Diese Form des zumindest in Ansätzen gemeinsamen Forschens auf Augenhöhe mit dem Lehrer und in kleinem Kreis, war keine revolutionäre Neuerfindung. Sie geht vielmehr auf die Traditionen der septem artes liberales, der Benediktinischen Gelehrsamkeit und des Humanismus zurück, bewährte sich in den historisch ausgerichteten Sitzungen der Gelehrtengesellschaften, wurde rudimentär in den biedermeierlichen, hauptstädtischen Salons gepflegt, und sollte nun, nach den Vorstellungen Thuns, stets nahe an den historischen Quellen, brauchbare Gymnasiallehrer und Archivare heranbilden. Im Zuge der Durchsetzung dieser Lehr- und Lernmethode wurde die philologische Hegemonie innerhalb des Lehrberufs rasch abgelöst durch den kometenhaften Aufstieg der Mediävisten und Rechtshistoriker: die historischen Hilfswissenschaften „strenger Observanz“, wie die Sickel-Schule einmal, nicht ganz unzutreffend, genannt wurde, 33 dienten mit ihren Teilfächern Chronologie, Genealogie, Heraldik, Diplomatik und Paläographie als Initiation des wissenschaftlichen Nachwuchses, wobei Exklusion, Exklusivität und Elite als Distinktionsmerkmale bewusst eingesetzt wurden und die ausgezeichnetsten Vertreter des Faches gleichsam als Staatsnotare auftraten. Auf diese Weise konnten zwar die komplizierten technischen Verfahren, Regelnormen und Zeitangaben spezifischer historischer Quellen höchst erfolgreich dekonstruiert werden, jedoch blieb der Zusammenhang zwischen dem Text und der sozialen Praxis, die seiner Entstehung zugrunde lag und in ihm ausgehandelt wurde, bemerkenswert unbestimmt und unterbelichtet. 34 Die „techne“ der Edition und der partiellen Dechiffrierung mittelalterlicher Herrscherurkunden, wenn möglich auch in Zusammenhang mit der politischen Bedeutung der österreichischen Geschichte, trug teilweise Züge einer arkanen Wissenschaft und wurde zum vornehmsten For-
32 Ficker an Böhmer, 12. 12. 1854; Jung, Julius Ficker, S. 202. 33 Siehe dazu als neuere Reflexion: Theo Kölzer, „Die Historischen Hilfswissenschaften – gestern und heute“, in: Archiv für Diplomatik 54 (2008), S. 205–222, hier S. 219. 34 Siehe dazu die einleitenden Überlegungen von Hannes Obermair, „Soziale Produktion von Recht. Das Weistum des Gerichts Salurn in Südtirol von 1403“, in: Tiroler Heimat. Jahrbuch für Geschichte und Volkskunde 65 (2001), S. 5–24, hier S. 5–11.
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schungsziel innerhalb der Eliteinstitute des österreichischen progressiven Feudalstaates, 35 der damit seine Anciennität nachweisen konnte und sich trotz aller Krisen (bis 1918) behaupten sollte. Besonders ab 1870 kamen diese insgesamt realitätsfremden, positivistischen Urkundeneditionen und Staatsgeschichten gerade ob ihres partikularen, „historischen Tatsachenblicks“ 36 dem restaurativen Wunschtraum einer bürgerlichen Gesellschaft und ihrem vagen, mythologisierenden Kulturbegriff eines „österreichischen Wesens“ entgegen, in der der Gesellschaftsvertrag in der Verehrung stiller und fleißiger Untertanen für einen ewigen Kaiser vollends eingelöst erschien. 37 Mit Einschränkungen gilt dies auch für Innsbruck. 38 I. Zum Aufbau der universitären Lehrtätigkeit Julius Fickers Die historische Grundlagenarbeit entwickelte sich nach einem genau umrissenen Stufenplan, auf den er seine Lehre aufbaute. Dabei kamen folgende Aspekte zum Tragen: 1. die Frage nach den verschiedenen Arten historischer Quellen überhaupt; 2. das Aufsuchen der Quellen und Hilfsmittel für eine bestimmte Arbeit, also die Kenntnis der literarischen Hilfsmittel, der Repertorien, Direktorien und Regesten, sowie der Einrichtung der Quellensammlungen, Anleitungen für die Benutzung von Bibliotheken und Archiven, Hinweise für die Auffindung unbekannter Quellen; 3. die Aneignung von Vorkenntnissen zum Verständnis der Quellen, also das Hauptrepertoire der Historischen Hilfswissenschaften, die Ficker aber als mittelalterliche Altertumskunde in einer systematischen Ordnung zur Darstellung bringen wollte, wobei vor allem die Diplomatik in unterschiedlicher Gewichtung ihrer Teilzweige und in Bezug auf das jeweilige Lehrziel hin analysiert werden müsste. 35 Begriff nach Ernst Nolte, Der Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1970. In diesem Zusammenhang soll auch auf die verspätete, marginale und wiederholt abgebrochene Kantrezeption an den Universitäten des österreichischen Kaiserstaats hingewiesen werden; besonders für den Zeitraum nach den Reformen Minister Thuns, der Wegmarke 1848, war diese nun auch im Gewande der Naturrechtslehre an den Rechtsfakultäten unerwünscht und obsolet geworden; siehe dazu Werner Sauer, Österreichische Philosophie zwischen Aufklärung und Restauration. Beiträge zur Geschichte des Frühkantianismus in der Donaumonarchie (= Studien zur Österreichischen Philosophie (II)),Würzburg/Amsterdam 1982, S. 107–155. 36 Der Begriff wurde von Wolfgang Bonß geprägt und rekurriert auf die Sozialwissenschaften: Wolfgang Bonß, Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung, Frankfurt a. M. 1982, S. 59; dazu auch Daniela Saxer, „Vermittlungsweisen des Quellenblicks im Geschichtsunterricht an den Universitäten Wien und Zürich (1833–1914)“, in: Gabriele Lingelbach (Hg.), Vorlesung, Seminar, Repetitorium. Universitäre geschichtswissenschaftliche Lehre im historischen Vergleich, München 2006, S. 21–59. 37 Werner M. Bauer, „Franz Grillparzers Armer Spielmann und die Erzähltradition der Spätaufklärung“, in: ders., Aus dem Windschatten. Studien und Aufsätze zur Geschichte der Literatur in Österreich (= Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft, Germanistische Reihe (LXVI)), Innsbruck 2004, S. 187–215, hier S. 190. 38 Zur besonderen Situation in Innsbruck: Oberkofler/Goller (Hg.), Alfons Huber, S. 54 und S. 62–67.
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Martin E. Urmann „Ich würde mich damit begnügen zu zeigen, was bei den einzelnen Teilen alles zur Sprache kommt und anzugeben, wo nähere Anleitung zu finden sei; es würde eine Einleitung, nicht eine Darstellung der Hilfswissenschaften selbst. Chronologie, die mir vor allem nötig schien, lese ich jetzt ohnehin eine wöchentliche Stunde; in der Paläographie habe ich schon praktisch Anweisung gegeben (…)“; 39
4. ein Zwischenschritt für die Prüfung des Wertes der einzelnen Quellenzeugnisse auf Echtheit, Unverfälschtheit und Glaubwürdigkeit, die Voraussetzungen einer wissenschaftlich begründeten historischen Kritik bilden: „Damit habe ich jetzt begonnen und finde natürlich große Schwierigkeiten. Natürlich gebe ich nie eine Regel an, ohne zugleich die Beispiele vorzulegen und lasse auch die Studenten berichten – über einzelne kritische Untersuchungen, um zu sehen, ob sie begreifen, worauf es ankommt“. 40
Zur praktischen Einübung des Gelernten gab Ficker seinen Schülern beispielsweise schlechte Drucke oder von ihm aus schlechten Handschriften gefertigte Abschriften und absichtlich für diesen Zweck entstellte Texte zur Emendation; 5. eine vorsichtige Bewertung der Quelle in ihrem Gesamtzusammenhang nach dem kritischen Vergleich aller nun geprüften Angaben, die allenfalls zur Diskussion gestellt wurde, um so am Ende eines dialektischen Prozesses schließlich „das Resultat der ganzen Forschung zu gewinnen“. 41 Sein Hauptkolleg führte Ficker im Sommersemester 1853 bis zum Ende der Völkerwanderung fort; ferner hielt er noch die zweistündige Vorlesung Übersichtliche Gestaltung der Entstehung und des Verfalls des deutschen Kaiserreiches, während die Kollegien und Übungen aus vaterländischer Geschichte, anfangs nach den Vorlesungsheften Albert Jägers, von dem gleichzeitig mit Ficker auf das Ordinariat für Österreichische Geschichte berufenen Heinrich Glax bestritten wurden. 42 Seine Tätigkeit in Innsbruck resümierte Ficker mit folgenden Worten: „Im Großen und Ganzen bin ich mit meiner jetzigen Stellung durchaus zufrieden, viel zufriedener wie in Bonn. Vor allem habe ich hier nicht das lähmende Gefühl, mit großem Aufwand an Zeit und Mühe Kollegienhefte für 3 oder 4 Studenten arbeiten zu müssen, die nur mir zu 39 Zitiert nach Jung, Julius Ficker, S. 202. 40 Ebd., S. 203–204; Böhmer antwortet Ficker, 13. 1. 1855: „ Auf das dabei zu befolgende System kommt meiner Meinung nach nicht so viel an. Sie haben den ganz natürlichen Weg gewählt, wie man allmählig mit dem Stoffe bekannt wird. Die direkte Belehrung der Schüler ist nur die halbe Aufgabe des Lehrers, sie zur Selbsttätigkeit heranzuziehen die andere. (…) Wenn auch der größere Teil der Studierenden dadurch nur allgemeine Bildung und Tüchtigkeit gewinnt, so wird doch auch eine Minderheit hervorgehen, die auf dem Felde der Wissenschaft den Österreichischen Standpunkt, also auch denjenigen des Reiches und der Kirche behauptet gegen die rückwärtigen Wahrheitsfälschungen, die man anderwärts in ganz modernen Interessen betreibt.“; ebd., S. 204. 41 Ficker an Böhmer, 12. 12. 1854, zitiert nach Jung, Julius Ficker, S. 202. 42 Heinrich Glax (1808–1879); Jung, Julius Ficker, S.146; Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 22–23. Albert Jäger hatte unter Fachgenossen einen glänzenden Ruf; Albert Jäger, „Der Engedeiner Krieg im Jahre 1499, mit Urkunden. Von Albert Jäger, Benediktiner des Stiftes Marienberg“, in: Neue Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg 4 (1838), S. 1–227.
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Gefallen und von Freunden bestimmt, das Kolleg hören; ich habe in der alten Geschichte 50, in den Kreuzzügen an 40 Zuhörer“. 43
Auch über seine Studenten äußerte er sich positiv: „Die Studenten gefallen mir besser wie zu Bonn; wenigstens die Deutschen sind aufmerksam und fleißig; auch scheint, wenigstens bei denen vom Innsbrucker Gymnasium, die Vorbildung nicht viel schlechter zu sein, als sie auf manchem unserer Gymnasien erlangt wird“. 44
Zum Selbstverständnis seiner universitären Lehrtätigkeit gehörte es auch, dass Ficker rigoros über den späteren beruflichen Werdegang seiner Schüler entschied: Ganz im Sinne der Erwartungen, mit denen er von Thun berufen worden war, bestimmte er die einen für den Archivdienst, die anderen für den Lehrberuf an Gymnasien, und einzelne, wie eben Alfons Huber oder Arnold Busson, für eine universitäre Laufbahn. Seit dem Abgang Albert Jägers und des Supplenten Rudolf Kink45 nach Wien im Jahr 1851 war das Geschichtsordinariat vakant gewesen. Dies bedeutete gerade für die Juristenausbildung zunehmend ein Problem, da jetzt rasch die rechtshistorische Schule an Stelle des bis 1848 unverändert geltenden Naturrechts mit Martini-Zeiller‘scher Prägung trat. Hierdurch erhöhte sich auch die Bedeutung der historischen Fächer für die Juristenfakultät. Zur Vorbildung der Innsbrucker Geschichtsstudenten dürfen etwa Teilkenntnisse aus dem Werk von Joseph Annegarn (1794–1843), nämlich seiner siebenbändigen Allgemeinen Weltgeschichte für die katholische Jugend, 46 in Betracht gezogen werden. Auch die Geschichte der italienischen Staaten des Hallenser Ordinarius Heinrich Leo (1799–1878), 47 wurde für den gymnasialen Geschichtsunterricht herangezogen, da sie vom Nestor der Innsbrucker Historiker, Albert Jäger, geschätzt und empfohlen wurde. 48
43 Ficker an Böhmer, 19. 11. 1852; Jung, Julius Ficker, S. 162. Die hohe Zahl an Hörern erklärt sich daraus, dass die historischen Vorlesungen für Juristen obligatorisch (jedoch ohne Prüfung; seit 1855 mit Schwerpunkt aus Österreichischer Geschichte) waren; Hochedlinger, „Stiefkinder der Forschung“, S. 351. 44 F. an Böhmer, 19. 11. 1852, Jung, Julius Ficker, S. 162. 45 Rudolf Kink (1822–1864); supplierte Tiroler Geschichte an der Universität Innsbruck 1848– 1851; Verfasser der Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien, 2 Bde., 1854; hierzu Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 14–16. 46 7 Bde., Münster 1827–1829; Alfons Huber las sie als Schüler im Pfarrwidum von Schlitters im Zillertal; hierzu: Helmut Zangerl, „Lokale Spuren von Alfons Huber“, in: Barth-Scalmani/ Kuprian (Hg.), Alfons Huber, S. 37. 47 Heinrich Leo, Die Geschichte der italienischen Staaten, 5 Bde., Hamburg 1829–1834; er war mit Johann Friedrich Böhmer bekannt und galt als Hoffnungsträger der Ultramontanen und Kritiker der Geschichtsauffassung und Methode Rankes; [Artikel] Leo, Heinrich, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), S. 243–245. 48 Dies geschah in seiner Zeit als Professor für Allgenmeine Weltgeschichte, Österreichische Staatengeschichte und Historische Hilfswissenschaften in Innsbruck 1845/48–1851; Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 13–18.
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Ganz im Sinne Fickers und seiner Schüler konnte von der nun angestoßenen und vorangetriebenen systematischen Sammlung und Bearbeitung von historischen Quellen auch und gerade das eigene Kronland profitieren. II. Die Unternehmungen der landeskundlich orientierten Quellenforschung Bereits seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts existierten in Tirol einzelne Vorarbeiten zu größeren Quelleneditionen. Sie waren durchwegs in engem Zusammenhang mit den für das Land bedeutenden Stiften, wie Marienberg und Fiecht bei Schwaz (Benediktiner), Stams (Zisterzienser), Neustift (Augustiner Chorherren), Wilten (Prämonstratenser), Hall und Bozen (Franziskaner) entstanden. 49 Das Desiderat einer Tiroler Urkundensammlung lässt sich bereits im Entwurf eines Vereines des vaterländischen Musäums in Tirol von 1823 erkennen, worin zu „jene(n) Gegenstände(n), auf welche der Verein seine vorzügliche Aufmerksamkeit richten, und deren Aufsuchung, Aufstellung und Aufbewahrung er sich angelegen seyn lassen wird (…) eine tirolische Urkunden=Sammlung in Originalien oder treuen Kopien“
gezählt wurde. 50 Leo Graf Thun billigte die Sorge Fickers um die Landesgeschichte mit Vorbehalten, da ihm eine solche nur als Zusatz zu einer zentralperspektivischen Gesamtdarstellung der Historie des Kaiserstaates wünschenswert und keineswegs vorrangig erschien: „Großes Gewicht lege ich freilich darauf, dass junge Leute sich auf die Landesgeschichte nicht werfen, ohne vorher tiefere Studien über österreichische Geschichte im Allgemeinen gemacht zu haben“. 51
49 Genannt sei hier stellvertretend P. Justinian Ladurner (1808–1874), OFM, der in den vierziger Jahren eine große Regestensammlung vornehmlich aus Tiroler Privatarchiven angelegt hatte und an Böhmers Regesta Imperii Beiträge lieferte, was dieser im Additamentum Primum (1849) dankend erwähnte; Eva Maria Höck, Tiroler Kleriker als Geschichtsforscher über die Geschichte Tirols (1870–1914), Inauguraldissertation Innsbruck 1972, S. 259–284; dazu auch: Flavian Orgler, „P. Justinian Ladurner, Ord. S. Franc., Biographie nebst Verzeichnis seiner Werke“, in: Veröffentlichungen des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum 3/25 (1881), S. 55–82. 50 Den ersten Entwurf der Vereinsstatuten findet sich auf einem Doppelfolioblatt gedruckt bei: Joseph von Hormayr, Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst, 14. Jg. Nr. 62 (1823), S. 317f.; weiter heißt es hier: „(…) eine vaterländische Sammlung von Antiken, römischen Milliarien, Sarkophagen, Denksteinen etc. Eine möglichst vollständige Wappen-, Siegel- und Münzsammlung des Vaterlandes oder doch von deren Abdrücken. Eine Sammlung von Abschriften oder Zeichnungen der im Lande befindlichen Denkmähler, Grabsteine, Inschriften, Statuen, Basreliefs etc. Eine Bibliotheca tirolensis, bestehend aus Werken und Handschriften über Tirol oder von Tirolern.“ 51 Thun an Ficker, 20. 11. 1857; Jung, Julius Ficker, S. 214.
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Welchen Stellenwert allerdings die Landesgeschichte innerhalb des Projekts einer Österreichischen Geschichte, wie sie dann Alfons Huber vorlegen sollte, 52 einnehmen hätte können, lässt sich schon aus Fickers Überlegungen zum Stellenwert der Lokalgeschichte ablesen, die er bereits unmittelbar nach seiner Berufung auf den Innsbrucker Lehrstuhl angestellt hatte: „Aber wahres Leben wird die Provinzialgeschichte immer nur durch die Verbindung mit der Reichsgeschichte erhalten können. So naheliegend und anerkennenswert das Streben ist, die Vorzeit des engeren Kreises der Heimat zu durchforschen, so gern ich eingestehe, dass das sie mir selbst erst Vorliebe für Geschichte überhaupt erweckte und mich endlich zur ausschließlichen Beschäftigung mit derselben bestimmte, so mag ich doch nicht die Ansicht teilen, dass die Provinzialgeschichte Wert und Vollendung in sich selbst finden könne. Wie sich die Lücken in ihr nur dann füllen lassen, wenn wir in der Reichsgeschichte die verbindende Grundlage suchen, so besteht auch andererseits ihr Wert doch vorzugsweise darin, dass das Ganze nur nach Durcharbeitung der einzelnen Teile so deutlich, wie das jetzt überhaupt noch möglich ist, wird erkannt werden können. (...) Das ungedruckte Material habe ich benutzt, soweit es mir irgend bekannt wurde und erreichbar war. Vorzugsweise besteht es aus Urkunden, die wichtigern (!) sind unter den Beilagen abgedruckt, die übrigen in den Regesten und Anmerkungen angeführt“. 53
Nach Rücksprache mit Böhmer ließ Ficker seine Studierenden in der Folge Urkunden für die Tiroler Landesgeschichte bis zum Aussterben der Görzer Grafen (1500) sammeln und regestieren, um so nicht nur der Ausbildung der Studierenden nachzukommen, sondern zugleich allmählich eine urkundliche Grundlage für die ältere Landesgeschichte zu erstellen, „deren Vollendung dann der Berufene übernehmen mag (…) (und) es liegen bereits einige Hundert Auszüge vor, die zum größten Teil von Durig gefertigt sind“. 54 Die Sammlung von Regesten zur Geschichte Tirols für die ältere Zeit bis 1253 (1857) markierte den Anfang solcher Quelleneditionen, die durch einzelne Schüler Fickers, wie Josef Durig (1833–1901) und Paul Wallnöfer (1835–1884), besorgt wurden. 55 Obschon das geplante umfassende Regestenwerk nie umgesetzt wurde, legten die Emendationen doch den Grundstein für die spätere systematische Erforschung der älteren Landesgeschichte Tirols. Auf besonderen Wunsch des Abtes von Marienberg 56 wurden von P. Basilius Schwitzer, der zugleich das Stiftsarchiv ordne52 Alfons Huber, Geschichte Österreichs, 5 Bde. (= Geschichte der europäischen Staaten), Gotha 1885/1896, bis 1648, fortgesetzt in 2 Bden. bis 1740 von: Oswald Redlich, Österreichs Großmachtbildung in der Zeit Leopolds I. (= Allgemeine Staatengeschichte, Österreich (VI)), Gotha 1921, und Oswald Redlich, Das Werden einer Großmacht. Österreich von 1700 bis 1740, Brünn u. a. 1938; (II/I), neu bearb. von Alphons Lhotsky, Graz/Wien/Köln 1967. 53 Julius Ficker, Engelbert der Heilige, Erzbischof von Köln und Reichsverweser, Köln 1853, Vorwort V–VI. 54 Jung, Julius Ficker, S. 212. 55 Jung, Julius Ficker, S. 208; auch Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 26 Anm. 90. Hans von Voltelini, „Josef Durig und Josef Egger, zwei Tiroler Geschichtsforscher“, in: Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, 3. Folge 49 (1905), S. 405–430. 56 Ficker an Böhmer, 4. 7. 1857: „Unter meinen Schülern ist jetzt ein ganz befähigter junger Mann aus dem Stift Marienberg, der auf besonderen Wunsch des sehr rührigen Abtes (Augustin Moriggl) sich insbesondere auch mit Urkundenwesen bekannt machen soll; ich suche nun
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te, die Vorarbeiten zur Herausgabe der Chronik des Goswin von Marienberg unter der Leitung Fickers in Angriff genommen. 57 Die wichtigen weiteren Vorarbeiten zu einer partikularen Landesgeschichte ließ Ficker durch seine Schüler Wallnöfer, 58 Huber und Clara 59 erstellen, indem sie unter Anleitung den Codex Wangianus, die Werke von Sinnacher 60 und Hormayr, 61 sowie die reiche Sammlung des P. Justinian Ladurner bearbeiteten. 62 Rasch kam auch die von Josef Durig in Angriff genommene Anlage eines systematisch geordneten Repertoriums der Geschichte Tirols voran. Die Grundlagen dafür bildeten die Handschriften und Druckwerke der Bibliothek Ferdinandeum, deren Kernbestand – die Bibliotheca Dipauliana – auf die Sammlungen des im Jahre 1839 als Appellationsgerichtspräsident verstorbenen Freiherrn Alois Andreas von Dipauli zurückgeht. 63
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gleich einen praktischen Zweck damit zu verbinden, so dass wir sogleich die Herausgabe des Goswin von Marienberg und der Marienberger Urkunden ins Auge gefasst haben; der Abt ist ganz einverstanden, dass eine würdige Ausgabe des Goswin durchs Stift selbst eine Ehrensache für dasselbe sei (…) Die Originalhandschrift haben wir jetzt hier (…)“; Jung, Julius Ficker, S. 221. „Das bei den bisherigen Arbeiten gezeigte Geschick lässt hoffen, dass seiner Zeit die Veröffentlichung jener wichtigen Quelle in Verbindung mit den übrigen urkundlichen Denkmalen des Stiftes in einer allen wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Weise werde erfolgen können“; Jung, Julius Ficker, S. 221. Paul Wallnöfer (1835–1884), der noch Albert Jäger als Gymnasiallehrer hatte, erstellte im Jahr 1861 eine Untersuchung über die Gründe der Gefangennehmung König Richards Löwenherz von England; siehe hierzu Jung, Julius Ficker, S. 221 mit Anm. 2 Johann Clara (†1870) war ein ladinischer Schüler Fickers. Franz Anton Sinnacher (1772–1836), Historiker der Diözese Brixen, Lehrer und Priester; seine Arbeit stand in der Nachfolge der Annales ecclesiae Sabionensis von Joseph Resch (1716–1782); nach Quellenstudien im Diözesanarchiv erfolgte die Herausgabe der Beyträge zur Geschichte der bischöflichen Kirche Säben und Brixen in Tyrol, 9 Bde., 1821–1835, Neuauflage 1992. Das quellenfokussierte Werk gilt als bedeutender Vorläufer der partikularen Tiroler Landesgeschichte; hierzu Josef Gelmi, Geschichte der Kirche in Tirol, Nord-, Ost- und Südtirol, Innsbruck/Wien 2001, S. 291. Joseph Freiherr von Hormayr (1782(?)–1848), 1816 Historiograph des kaiserlichen Hauses, wandte sich ab 1828 gegen Österreich unter Metternich und bereitete damit ein kleindeutsches Geschichtsbild vor; siehe hierzu: Walter Landi, „Joseph von Hormayr zu Hortenburg (1781–1848). Romantische Historiographie im Zeitalter der Restauration zwischen patriotischer Loyalität und liberalen Unruhen“, in: Marco Bellabarba/Ellinor Forster/Hans Heiss/ Andrea Leonardi/Brigitte Mazohl (Hg.), Eliten in Tirol zwischen Ancien Régime und Vormärz/Le élites in Tirolo tra Antico Regime e Vormärz, Innsbruck/Wien/Bozen 2010, S. 385– 407. Ficker an Böhmer, 4. 7. 1857: „Die Görzer Regesten habe ich jetzt ganz einem meiner absolvierten Schüler übergeben, der unermüdlich auf dem Museum und im Archiv mit der Vervollständigung beschäftigt ist (…). Er ist besonders, seitdem ich ihm Ihre Andeutung in der Vorrede zu den Regesten zeigte, ganz Feuer und Flamme, die schon so weit gediehene Sache zum Abschluss zu bringen.“ Nach Jung, Julius Ficker, S. 221; zu Ladurner vgl. Anm. 49. Zur Dipauliana siehe Ellen Hastaba, „Und wer sammelt die Perlen/Zum tirolischen Ehrenkranz? Die Bibliotheca Tirolensis – Dipauliana“, in: Heinz Hauffe/Eva Ramminger/Maria
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Nachdem Ficker, seit 1852 Fachdirektor für Numismatik und Heraldik, später Historischer Fachdirektor 64 und Bibliothekar 65 des Ferdinandeum vom Museumsausschuss den Auftrag zur Neuorganisation und Katalogisierung der historischen Sammlungen erhalten hatte, delegierte er diese Aufgabe an Josef Durig, der dann die Erstellung eines wegweisenden Realienkatalogs in drei Foliobänden erfolgreich zuwege bringen sollte. Unter dem Aspekt einer streng historisch ausgerichteten Themenwahl verzeichnete der Durig-(Ficker) Katalog, neben bibliographisch fassbaren Einheiten, Aufsätze in Zeitschriften und Tageszeitungen ebenso wie Hinweise auf die zu einem konkreten Thema vorhandene Literatur. Er ist als Vorstufe einer heute noch am Ferdinandeum praktizierten und verankerten umfassenden Tiroldokumentation zu sehen, da die von Paul Otlet 66 1905 formulierten maßgeblichen Dokumentationskriterien – „Sammeln, Ordnen und Verfügbarmachen von Dokumenten jeder Art auf allen Gebieten des menschlichen Handelns“67 – auf den Durig-Katalog bereits in hohem Maße zutreffen. Eine wesentliche Voraussetzung für diese Dokumentationsarbeit erscheint bereits im Gründungsstatut des Museums, denn im Ferdinandeum sollte alles auf Tirol Rekurrierende gesammelt werden und dort auch zugänglich sein. Ebenfalls im Landesmuseum Ferdinandeum hielt Ficker seine populären Abendvorlesungen, wobei er anfangs mit Themen aus der westfälischen Geschichte zu faszinieren wusste, so etwa über die Wiedertäufer in Münster, den
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Seißl/Sieglinde Sepp (Hg.), Kulturerbe und Bibliotheksmanagement. Festschrift Walter Neuhauser zum 65. Geburtstag (= Biblos-Schriften (CLXX)), Innsbruck 1998, S. 215–237. anstelle von Heinrich Glax: vgl. Zeitschrift des Ferdinandeums für Tirol und Vorarlberg, Jahresbericht 26 (1856), S. 56. Im Personalstandsverzeichnis des Ferdinandeums für 1855 und 1857 (ebda., Jahresbericht 27 (1857)), S. 84, erscheint die historische Fachdirektion noch unbesetzt. Ficker erscheint im Jahresbericht 28 (1860) als „Fachdirektor und Bibliothekar“; ebda., S. 130. Der Jahresbericht LXXX (1866/1868), nennt als Fachdirektoren der Historischen Sektion die Herren Durig, Alfons Huber, Justinian Ladurner und Christian Schneller. Alfons Huber war somit als Nachfolger Fickers einer der Fachdirektoren seit 1866. Ab 1860 Josef Durig; Ficker wurde nicht nur von Durig unterstützt, er trat zu dessen Gunsten auch 1860 als Bibliothekar zurück. 1866 folgte Durig Ficker auch in der Funktion des historischen Fachdirektors nach, wenngleich er sich aus beruflichen Gründen rasch wieder zurückziehen musste: „Die Uebernahme der Leitung der neuorganisierten k. k. Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalt in Innsbruck, welche seine ganze Arbeitskraft beanspruchte, nötigte ihn, aus dem Ausschusse des Museums auszuscheiden; doch wurde er sofort nach seiner 1892 erfolgten Pensionierung wieder in den Verwaltungs-Ausschuss berufen (…)“; Hastaba, „Das Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum“, S. 231, Anm. 402. Paul Otlet (1868–1944), einer der Mitbegründer der Dokumentations- und Bibliothekswissenschaft, nennt Fakten, Interpretationen von Fakten, Statistiken und Quellen als Grundbausteine einer Dokumentation; siehe http://wolfgang-ruge.name/wp-content /uploads/2010/05/ Otlet_ mundaneum.pdf, 6 (abgerufen am 01. 09. 2013). Zitiert nach Thomas Seeger, „Zur Entwicklung der Information und Dokumentation“, in: Marianne Buder/Werner Rehfeld/Thomas Seeger (Hg.), Grundlagen der praktischen Information und Dokumentation. Ein Handbuch zur Einführung in die fachliche Informationsarbeit 1 (= Deutsche Gesellschaft für Dokumentation [DGD]-Schriftenreihe (XI)), München/London/New York/Paris, 31990, S. 9–59, hier S. 34.
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Zuhörern aber auch bald die Person der Margaretha Maultasch nahebrachte oder über das Thema „Wie Tirol an Österreich gekommen“, referierte. 68 Sein 1860/61 gehaltener größerer Zyklus von Vorträgen über Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen, ein bedeutender Impuls für die großdeutsche Geschichtsidee insgesamt, nahm nach der Drucklegung (1861) seinen Weg in die Diskussion der deutschen Historikerzunft und führte zur bekannten Kontroverse mit Heinrich von Sybel. 69 Mit der Sichtung der Handschriften der Universitätsbibliothek, 70 der Ficker die Bibliothek Böhmers vermitteln konnte (1864), und der er dann selbst bedeutende Schenkungen machen sollte, wurde der dort tätige Skriptor Alois Hammerle, der seit zwei Jahren an den historischen Übungen teilgenommen hatte, beauftragt. Auf besonderen Wunsch Fickers hin sollte er insbesondere auch die Rechtsbücherhandschriften einer genauen Prüfung unterziehen. 71 Das Bemühen Fickers um eine Hebung, Bündelung oder Reorganisation bestehender Strukturen landes- und regionalgeschichtlicher Forschung lässt sich exemplarisch anhand der Neuordnung des Tiroler Statthalterei-Archivs zeigen. 72 Dieses Archiv nahm innerhalb der landesgeschichtlichen Forschungslandschaft neben dem Ferdinandeum naturgemäß eine zentrale Rolle ein. Hier hatte der Archivbeamte Anton Emmert 1837 mit der Publikation der Monumenta Tirolensia 73 68 Tiroler Schützenzeitung, 14. Januar 1856: „Professor Ficker hat sich trotz der kurzen Zeit seines Hierseins auf dem Boden tirolischer Vorzeit schon ganz zurecht gefunden, und unser Vaterland, dem dieser ausgezeichnete Geschichtsforscher noch lange erhalten bleiben möge, muss ihm schon jetzt großen Dank wissen, da er insbesondere auch mehrere tüchtige Kräfte ins Studium der tirolischen Geschichte mit dem besten Erfolge bereits eingeführt hat.“ 69 Thomas Brechenmacher, „Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862)“, in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 87–112, hier S. 95f. 70 Bestand von 1860: 57.802 Bde.; dazu kommen 1.018 Bde. an Handschriften; Frequenz 1858/ 59: 3.473 Leser; Dotation 1861: 1.000 fl.; Legat Böhmer: 2.232 Bde., 60 Hefte, 350 Broschüren. Ficker machte der Bibliothek ab 1894 bedeutende Schenkungen: 1.729 Bde.; „aus dem Legat (1902) wuchsen der Bibliothek 2.765 Bde., durchwegs kostbare Werke“; hierzu Anton Hittmair, „Geschichte der k. k. Universitätsbibliothek in Innsbruck“, in: Veröffentlichungen des Museums Ferdinandeum 3/54 (1910), S. 1–164, hier S. 121–125 und S. 140. 71 Ottenthal, Julius von Ficker, S. 7; auch: Tiroler Schützenzeitung, 1. Februar 1857: „Von anderem abgesehen war er dabei so glücklich, eine bisher ganz unbekannte und für die Rechtsgeschichte sehr wichtige Form der Rechtsbücher, einen Spiegel deutscher Leute, aufzufinden, welchen der Gefertigte einer näheren Prüfung unterzog“. Nach Jung, Julius Ficker, S. 222; Hittmair, „Geschichte der k. k. Universitätsbibliothek“, S. 121. 72 Gubernialarchiv (1763), seit 1850 Statthaltereiarchiv; erstes Staatsarchiv (1866) eines österreichischen Kronlandes, 1897 Zentralarchiv aller staatlichen Behörden im Kronland TirolVorarlberg. Das nachmalige (Landes-) Regierungsarchiv (1919) wurde 1925 (1939) mit dem Landschaftlichen Archiv administrativ vereinigt; seit 1972 Tiroler Landesarchiv; dazu: Otto Stolz, Geschichte und Bestände des Staatlichen Archives (jetzt Landesregierungs-Archives) zu Innsbruck, Wien 1938, S. 11–34. 73 Anton Emmert, “Monumenta Tirolensia”, in: Der österreichische Geschichtsforscher 1 (1838), S. 566–585.
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begonnen; dabei hatte er anfänglich ein großangelegtes Urkundenwerk ins Auge gefasst, das dann die Basis einer Landesgeschichte hätte bilden sollen. Einzelnes davon wurde in Josef Chmels Zeitschrift Der Österreichische Geschichtsforscher 74 abgedruckt, die in zwei Bänden zwischen 1838 und 1842 erschien, was prompt die wohlwollende Aufmerksamkeit Böhmers auf sich zog. Hier wollte Ficker zusammen mit Karl Friedrich Stumpf, P. Justinian Ladurner, Josef Durig und Alfons Huber anknüpfen und durch den Anstoß einer Neuordnung und Erschließung dieses nicht nur für die Landes- sondern auch für die Reichsgeschichte bedeutenden Archivs das Projekt eines großen Tiroler Urkundenwerks wieder auf Schiene bringen. 75 Folglich wurde sein Schüler und Freund David Schönherr76 mit der Aufgabe betraut, das bis dahin als Registratur behandelte Statthaltereiarchiv völlig neu zu organisieren. Das Unternehmen gelang glänzend, und als erstes Staatsarchiv eines österreichischen Kronlandes wurde die 1866 zu einer eigenständigen, der Forschung geöffneten, wissenschaftlich geleiteten Anstalt zum weithin ausstrahlenden Vorbild und um 1897 auch zum Zentralarchiv aller staatlichen Behörden im Kronland Tirol-Vorarlberg. 77 Der unermüdliche Einsatz Fickers für Richtung, Idee und Ziel landesgeschichtlicher Forschung wird auch aus seinen Themenstellungen 1858 zum erstmalig ausgeschriebenen Geschichtspreis des Erzherzogs Carl Ludwig, seinerseits Statthalter in Tirol von 1855–1861, für die beste Arbeit über ein Thema aus der tirolischen Geschichte ersichtlich. Auf seinen Vorschlag hin standen unter anderem eine Geschichte Tirols von der Erwerbung durch Herzog Rudolf IV. bis zum Regierungsantritt Herzog Friedrichs mit der leeren Tasche sowie die Geschichte des Egno von Eppan, Bischofs von Brixen, dann von Trient, zur Disposition. Albert Jäger, der seinerseits von Wien aus versuchte, als Impulsgeber der entstehenden regionalgeschichtlichen Forschungslandschaft seine Leute zu positionieren, ließ den Juristen Johannes Schuler, 78 mit dem Thema Die Geschichtliche Entwicklung der tirolischen Stände-Verfassung vom XIV. Jahrhundert bis zum offenen Landtag von 1790, antreten. Prompt entschied der Museums-Ausschuss als Preis-
74 Anton Emmert, „Burglehner und seine Zeit“, in: Der österreichische Geschichtsforscher 2 (1841/42), S. 312–350. 75 Zu Stumpf-Brentano siehe Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 40–42; zum Statthaltereiarchiv: Franz Wieser, „Drei Nekrologe“, S. 315–332, hier S. 327, Anm.1. 76 David Schönherr (1822–1897), Historiker, Archivdirektor und Publizist; einer der intimsten Freunde Fickers; siehe dazu: Eva Wallnöfer, David Schönherr, Historiker und Publizist (1822–1897), philosophische Dissertation Innsbruck 1990, S. 34; Jung, Julius Ficker, S. 155. 77 Stolz, Geschichte und Bestände, S. 14. 78 Johannes Schuler (1800–1859), Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung; 1850 Professor des Vernunft- und des Strafrechts, 1853/54 Rektor, 1855/56 Dekan der juridischen Fakultät der Universität Innsbruck, 1856–59 Präses der theoretischen Staatsprüfungskommission; Schwaighofer, Literarische Gruppen, S. 38–40, S. 468.
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richter zugunsten des letzteren, der dann jedoch das Thema nicht mehr ausführten konnte, weil er leider bereits im darauffolgenden Jahr verstarb. 79 Im tirolischen Umfeld wurden daher zunächst über die Innsbrucker Schule die Desiderate im Koordinatensystem einer vaterländischen Urkundensammlung verortet. Die Praxis der nun rasch einsetzenden Quellenaufbereitung verlangte freilich zwecks Bündelung der personellen Ressourcen eine Zusammenarbeit mit dem Wiener Institut für Österreichische Geschichtsforschung, die nicht immer konfliktfrei verlief. Heinrich Zeißberg, Engelbert Mühlbacher, Emil von Ottenthal und Oswald Redlich stehen hier stellvertretend für den wechselseitigen Personalund Ideenaustausch zwischen den beiden Schulen. 80 III. Anhang 1: Skizzierung der einzelnen Quelleneditionen ab 1864 81 Nach dem Aufruf der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften von 1864 zur Sammlung der österreichischen Weistümer 82 hatte der Innsbrucker Sprachgermanist Ignaz Vinzenz Zingerle (1825–1892), 83 der dann 1868 das Urbarbuch des 79 Franz Wieser, „Drei Nekrologe“, S. 315–332, hier S. 328f. 1860 wurde der Preis ein zweites Mal ausgeschrieben, wobei Ficker das Thema Darstellung des Anwachsens der gefürsteten Grafschaft Tirol bis zu ihrem gegenwärtigen Umfang stellte; ebd., S. 329. 80 Heinrich Zeißberg (1839–1899), richtete 1871 nach Wiener Vorbild das Innsbrucker Historische Seminar ein; dazu Lhotsky, Geschichte, S. 98; Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 47 und S. 59–62. Engelbert Mühlbacher (1843–1903), brachte als Ficker-Schüler seine rechtsgeschichtliche Sachkritik nach Wien und ergänzte dadurch die strenge, einseitige Tradition Theodor Sickels; ebda., S. 64–67. Emil von Ottenthal (1855–1931) und Oswald Redlich (1858–1944) sind hier wegen ihres zukunftsweisenden Regestenwerkes Archivberichte aus Tirol (1888–1912) relevant. Die Auseinandersetzungen der beiden Schulen traten anlässlich der Promotion Ottenthals in Innsbruck (1878) zutage, wo Ottenthal seine Wiener Institutsarbeit (regelwidrig) als Dissertation vorlegte; Stumpf-Brentano, im eifersüchtigen Dauerstreit mit Theodor Sickel und seiner Schule und Methodik, bereitete dem Kandidaten einige Schwierigkeiten; Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 71–78; Lhotsky, Geschichte, S. 170. 81 Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 78; siehe auch Oswald Redlich (Hg.), „Vorrede“, in: Die Traditionsbücher des Hochstifts Brixen. Vom Zehnten bis in das Vierzehnte Jahrhundert (= Acta Tirolensia. Urkundliche Quellen zur Geschichte Tirols (I)), Innsbruck 1886, V– IX. 82 Christine Ottner, „Zur Praxis der Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert. Am Beispiel der Sammlung und Herausgabe der österreichischen Weistümer“, in: Mensch – Wissenschaft – Magie. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 28 (2011), S. 127–142, hier S. 130–135. 83 Schon 1827 hatte Josef Rapp die Partikularstatuten als „das reichhaltigste Ergebnis der Volksgesetzgebung“ bezeichnet und darin einen Widerpart für die zügellose Willkür der Grundherrn gesehen; siehe auch: Franz Arens, Das Tiroler Volk in seinen Weistümern (= Geschichtliche Untersuchungen (III)), Gotha 1904, S. 1–21; es handelte sich dabei um eine kulturgeschichtlich orientierte, unmittelbar auf die Edition der tirolischen Weistümer sich beziehende Abhandlung der Lamprecht-Schule. Zu Zingerle siehe: Zangerle, Julia (Hrg.), 150 Jahre Germanistik in Innsbruck. Streiflichter zu Geschichte und Gegenwart des Instituts für
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Klosters zu Sonnenburg im Archiv für österreichische Geschichte (XL), herausgab, dem noch mit Jacob Grimm befreundeten und jetzt beauftragten Wiener Fachkollegen Franz Pfeiffer (1815–1868) den Kontakt mit Vertretern der Tiroler Geschichtsforschung vermittelt: „Prof. Dr. Pfeiffer, der für unser Land stets das wärmste Interesse zeigte, (…) begab sich nun selbst nach Tirol, um Weisthümerforschungen anzustellen. Zu Innsbruck und auf seinem Ausfluge nach Imst, Nassereit, Reutte fand er nicht nur erfreuliche Ausbeute, sondern bemerkte zu seiner Freude, dass man in unserm Vaterlande den Weisthümern liebevolle Aufmerksamkeit schon früher zugewandt habe. Denn er sah viele dertige (!) Urkunden im Ferdinandeum gesammelt“. 84
Bei seinem Besuch in Tirol konnte Pfeiffer „kein geringes (…) fast durchwegs neues, vordem unbekanntes Material“, 85 sichten. Dabei übergab ihm der verdiente, damals im Innsbrucker Franziskanerkloster lebende Geschichtsforscher P. Justinian Ladurner OFM (1808–1874), elf selbstangefertigte Weistümerabschriften, die Pfeiffer der an der Akademie eigens eingerichteten Weistümer-Kommission zur freien Verfügung stellen konnte. Die Sammlung tirolischer Weistümer gewann nun rasch an Fahrt; ihre Veröffentlichung erfolgte nach einem Rückschlag durch den frühen Tod Pfeiffers im Jahr 1868 schließlich ab 1875 in vier Bänden unter Theodor von Inama-Sternegg (1843–1908), Ignaz Zingerle und Josef Egger (1839–1903). 86 1864 eröffnete Alfons Huber mit Durig, Schönherr, Ladurner und Zingerle das Archiv für Geschichte und Alterthumskunde Tirols, um damit „dereinstigen Darstellern der Gesamtgeschichte unseres Vaterlandes vorzuarbeiten.“ 87 Der Tiro-
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Germanistik, Innsbruck 2009, S. 39–44; weiterführend: Michael Gebhardt, „Ignaz Vinzenz Zingerle, Adolf Pichler und der germanistische Lehrstuhl an der Universität Innsbruck“, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv 11 (1992), S. 28–38; siehe auch Erna Patzelt, Entstehung und Charakter der Weistümer in Österreich, Neudruck der Ausgabe Budapest 1924, Aalen 1979, S. 5f. Ignaz Vinzenz Zingerle, „Bericht über die Weisthümerforschung in Tirol“, in: Bote für Tirol und Vorarlberg, 54. Jg. (1868), S. 830. Franz Pfeiffer, „Reisebericht über die in Salzburg und Tirol angestellten WeisthümerForschungen“, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften., (LI/II), Wien 1865, S. 310–342, hier S. 325–336. Pfeiffer, ein gebürtiger Schweizer, hatte schon 1848 „Das alte Stadtrecht von Meran“ veröffentlicht, in: Zeitschrift für Deutsches Alterthum 6 (1848), S. 413–430. „Bisher ergaben die Forschungen in den begangenen Landestheilen: Ober-und Unterinnthal, Vintschgau, Etschland die erfreulichsten Resultate, und es sind bislang nicht weniger als 120 tirolische Weisthümer verzeichnet (…). Besonderer Dank gebührt den Herren, (…) P. Justinian Ladurner und Pfarrer Josef Thaler in Kuens, die ihre reichhaltigen Sammlungen dem Gefertigten zu Diensten gestellt haben, und den Herren Dr. David Schönherr, Prof. Josef Durig und P. Gerbert Mägerle, Conventualen des Stiftes Stams, welche viele Weisthümer auffanden und zur Abschrift mittheilten (…)“, Zingerle, „Bericht“, S. 833; dazu auch Nikolaus Grass, „Einleitung, zugleich ein Überblick über ein halbes Jahrtausend Weistümerforschung in Tirol“, in: ders./Finsterwalder Karl (Hg.), Tirolische Weistümer, (V), Ergänzungsband 1: Unterinntal (= Österreichische Weistümer (XVII)), Innsbruck 1966, XI–XXXIII. Oberkofler, Die geschichtlichen Fächer, S. 45, Anm. 172.
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ler Landtag stellte jedoch, nachdem Albert Jäger sich mit dem Argument, diese Einzelforschungen könnten in den Schriften der Wiener Akademie Platz finden, gegen das Projekt gewandt hatte, seine Subventionen ein. Damit war, nach einem verheißungsvollen Anfang, nach nur fünf Jahrgängen das rasche Ende des Archivs besiegelt. 88 David von Schönherr (1822–1897), der zahlreiche Beiträge im Archiv veröffentlicht hatte, eröffnete nun seinerseits 1867 die Reihe Tirolische Geschichtsquellen mit Franz Schweyger‘s Chronik der Stadt Hall, 1303–1572. Ihm folgte P. Basilius Schwitzer OSB (1832–1894) mit der Chronik des Stiftes Marienberg (1880), sodann mit den Urbare(n) der Stifte Marienberg und Münster, Peters von Liebenberg-Hohenwart und Hansens von Annenberg, der Pfarrkirchen von Meran und Sarnthein (1891). 89 Oswald Redlich (1858–1944) begründete 1886 ein Sammelwerk zur Veröffentlichung der Urkundenschätze Tirols, die Acta Tirolensia mit der Bearbeitung der Traditionsbücher des Hochstiftes Brixen. Hans von Voltelini (1862–1938) folgte mit dem ersten Teil der Trientner und Bozner Notariatsimbreviaturen von 1236/7 (1899) den Vorarbeiten von Josef Durig. 90 Hermann Wopfner (1876–1963) bearbeitete schließlich die Beschwerden der Tiroler Bauernschaft von 1519–1526 (1908). In den Archivberichten aus Tirol (1888–1912) gaben Oswald Redlich und Emil von Ottenthal (1855–1931), und nach ihnen Ferdinand Kogler (1872–1944) und Karl Klaar (1865–1952) kurze Urkundenregesten aus Gemeinde-, Kirchenund Privatarchiven heraus; seit 1909 besorgte diese Karl Böhm (1878–1962) in den Mitteilungen aus dem Tiroler Landesarchiv. 91
88 Im Archiv für Geschichte und Alterthumskunde Tirols erschienen ein Gutteil der Geschichtsforschungen P. Justinian Ladurners, etwa: „Regesten aus tirolischen Urkunden“, in: Archiv für Geschichte und Alterthumskunde Tirols 2 (1865), S. 379–416. Zu Ladurner vgl. auch Anm. 49; siehe dazu auch jeweils am Ende der Bde. 1 und 3 ein von Alfons Huber erstelltes Verzeichnis der Werke und Aufsätze, welche (insg.) in den Jahren 1858–1866 über Geschichte und Alterthumskunde Tirols erschienen sind. 89 Stolz, „Vorwort. Vorläufer und Entstehung des Tiroler Urkundenbuches“, in: Franz Huter (Hg.), Tiroler Urkundenbuch, 1. Abt.: Die Urkunden zur Geschichte des Deutschen Etschlandes und des Vintschgaus, (I), Innsbruck 1937, S. VII; siehe auch Eva Maria Höck, Tiroler Kleriker, S. 202–207. 90 Hans von Voltelini (Hg.), Die Südtiroler Notariats-Imbreviaturen des dreizehnten Jahrhunderts. Mit Benützung der Abschriften Josef Durig’s (= Acta Tirolensia (II)), Innsbruck 1899. 91 Stolz, „Vorwort“, VI.
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IV. Anhang 2: Überblick über die Lehrstuhlinhaber und die historischen Fächer an der Universität Innsbruck von der Universalgeschichte zu den epochen-, sach- und raumbezogenen Disziplinen 92 Albert Jäger (OSB) (1801–1891), Universal- und Österreichische Staatengeschichte (1845–48), Allg. Weltgeschichte, Österreichische Staatengeschichte und Hist. Hilfswissenschaften (1848–51) Rudolf Kink (1822–64), Tiroler Geschichte (1848–51) Julius v. Ficker (1826–1902), Allg. Geschichte (1852–63), Deutsche Reichsund Rechtsgeschichte (1863–77) Heinrich Glax (1808–79), Österreichische Geschichte (1852–70) Alfons Huber (1834–98), Allg. Geschichte (1859/63–70), Österreichische Geschichte (1870–87) Heinrich Zeißberg (1839–99), Allg. Geschichte (1871–72) Karl Friedrich Stumpf-Brentano (1829–82), Allg. Geschichte und Hist. Hilfswissenschaften (1861–82) Arnold Busson (1844–92), Allg. Geschichte (1871/72–91) Rudolf v. Scala (1860–1919), Alte Geschichte (1892/96–1917) Thomas Friedrich (1855–1927), Alte Geschichte d. Orients (1892), Altorientalische Altertumskunde und Geschichte d. Alten Orients (1907–26) Emil v. Ottenthal (1855–1931), Allg. Geschichte und Hist. Hilfswissenschaften (1889/92–1904) Ferdinand Kaltenbrunner (1851–1902), Hist. Hilfswissenschaften (1881/91– 1902) Ludwig v. Pastor (1854–1928), Allgemeine (Neuere) Geschichte (1883/87– 1901/24) Wilhelm Erben (1864–1933), Hist. Hilfswissenschaften und Wirtschaftsgeschichte (1903–14), Allg. Geschichte d. Mittelalters (1908–17) Josef Hirn (1848–1917), Tirolische Geschichte, a. O. (1886), (Oktroy), Österreichische Geschichte, a. O. (1887), O. (1890–97) Michael Mayr (1864–1922), Österreichische Geschichte, suppl. (1897/98– 1900) Hans v. Voltelini (1862–1938), Österreichische Geschichte (1900/02–08) Hermann Wopfner (1876–1963), Österreichische und Allg. Wirtschaftsgeschichte (1908/14–41)
92 Diese Zusammenstellung beruht auf: Oberkofler, Die Geschichtlichen Fächer, S. 9–107.
THEODOR MOMMSEN, INFORMELLE NETZWERKE UND DIE ENTSTEHUNG DES CORPUS INSCRIPTIONUM LATINARUM UM 1850 Torsten Kahlert Projektförmige Forschung gehört heutzutage zu den am weitesten verbreiteten wissenschaftsorganisatorischen Strukturen. Gerade die Alltäglichkeit mit der in der Wissenschaft, aber auch außerhalb von ihr, von Projekten gesprochen wird, in Projekten gedacht, geplant und gehandelt wird, scheint den Blick auf das Phänomen und seine Implikationen zu verstellen, was daran ersichtlich ist, dass es bisher nur selten Gegenstand von Reflektionen und Untersuchungen geworden ist. 1 Die Form des Projekts ist zudem so flexibel, dass offenbar alles Mögliche als Projekt bezeichnet werden kann, so dass fraglich wird, was denn projektförmige Forschung von andersgearteter Forschung unterscheiden könnte. Eine Möglichkeit projektförmig organisierte Forschung in den Blick zu bekommen, besteht in der Historisierung der Forschungsform des wissenschaftlichen Projekts. Selbst die Wissenschaftssoziologie, so Marc Torka in seiner Untersuchung zur Projektförmigkeit der Forschung, habe sich mit dem zentralen Strukturphänomen der Projektform bisher nur marginal befasst. 2 Es fehle sowohl eine begriffsgeschicht-
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Die Reflektion auf die Form des Projekts findet sich bei vielen Autoren oft in kritischer Distanz und mit Hinweisen auf die negativen Wirkungen einer Projektifizierung aller wissenschaftlicher Arbeit. Vgl. u. a. Harold W. Dodds, “Project Research”, in: American Scientist 42 (1954), S. 128–130; Joachim Matthes, „Projekte – nein, danke?“, in: Zeitschrift für Soziologie 17/6 (1988), S. 465–473; Stephan Wolff, „Was ist die Welt? Ein ewiges Projekt! Überlegungen zu den paradoxen Implikationen der organisationsförmigen Forschungsförderung“, in: Wirtschaft & Wissenschaft 4/4 (1996); oder stammen aus kulturwissenschaftlichen bzw. soziologischen Untersuchungen. Vgl. Markus Krajewski (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin 2004; und Ulrich Bröckling, „Projektwelten. Anatomie einer Vergesellschaftungsform“, in: Leviathan 33/3 (2005), S. 364–383. Zuletzt sind zwei wissenschaftssoziologisch angelegte Dissertationen erschienen, die jeweils auch einen kurzen historischen Abriss liefern, aber zugleich konstatieren, dass eine wissenschaftshistorische Untersuchung noch ausstehe. Neben Marc Torka, Die Projektförmigkeit der Forschung, Baden-Baden 2009; im selben Jahr: Cristina Besio, Forschungsprojekte. Zum Organisationswandel in der Wissenschaft, Bielefeld 2009; Nach Matthes, „Projekte – nein, danke?“ geht der Begriff Projektförmigkeit auf eine Studie von Friedhelm Neidhardt von 1983 zurück; Friedhelm Neidhardt, „Gruppierungsprobleme sozialwissenschaftlicher For-
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liche Aufarbeitung des „Projekts“ wie auch ein enger wissenschaftlicher Diskussionszusammenhang zur Projektform. 3 Mein Argument gliedert sich in zwei Teile: In einem ersten, etwas kürzeren Teil werde ich einige strukturelle Merkmale der Form „Projekt“ andeuten und ein bestehendes Narrativ über „Projektemacherei“ umreißen. In einem zweiten Teil werde ich den komplexen Entstehungskontext eines großangelegten Projekts um die Mitte des 19. Jahrhunderts entfalten, mit der Absicht einen Baustein zum angesprochenen Diskussionszusammenhang der Historisierung der Projektform zu leisten. Als Beispiel dient hierfür das Corpus Inscriptionum Latinarum (C. I. L.), ein altertumswissenschaftliches Sammlungs- und Publikationsunternehmen, dessen Ziel in der vollständigen und historisch-kritischen Zusammenstellung aller antiken lateinischen Inschriften bestand und besteht (da das Projekt bzw. die Unternehmung auch heute noch arbeitet). Zentrale wissenschaftsorganisatorische und wissenschaftspolitische Figur war, der in weiten Kreisen eher durch seine Römische Geschichte und den Nobelpreis für Literatur bekannte, Theodor Mommsen, der das Projekt über mehrere Jahrzehnte hindurch leitete. Dennoch verdankt das C. I. L. seine Entstehung, wie ich entgegen bisheriger Darstellungen zeigen möchte, weniger der Durchsetzungskraft eines „Großorganisators“, sondern einem Bündel an Faktoren und vor allem dem Zusammenspiel eines, wenn auch recht losen, informell agierenden Netzwerks aus Gelehrten auf der einen und einer sich schon projektförmig orientierenden Institution der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin auf der anderen Seite. I. Projekte und Projektemacherei? Zunächst erscheint es zweckmäßig, zu klären, was gemeint ist, wenn von „Projekt“ gesprochen wird? Die Projektform verfügt, nach Torka, nur über eine „ungepflegte Semantik“ im Sinne Niklas Luhmanns. 4 Das bedeutet, sie ist nur fragmentarisch vertextet und wird nicht explizit definiert. Es handele „sich vielmehr um eine implizite Gebrauchssemantik, die als handlungsorientierendes Deutungsmuster“ wirke. 5 Nach Luhmann sind Projekte „zeitlimitierte Ordnungen“ und dienen – im Falle der Wissenschaft – dazu, strukturiertes Forschungshandeln und „Episodenbildung“ zu ermöglichen. 6 Die „Form des Projekts“, so der Pro-
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schungsteams“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 25: Gruppensoziologie - Perspektiven und Materialien, 1983. Vgl. Torka, Die Projektförmigkeit der Forschung, S. 88; und Besio, Forschungsprojekte, S. 37ff. Torka, Die Projektförmigkeit der Forschung; sowie: Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, (I), Frankfurt a. M. 1980, S. 19f. Torka, Die Projektförmigkeit der Forschung, S. 88. Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 581f.: „Die Zielorientierung von Operationskomplexen hat hier wie auch in anderen Systemen eine wich-
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jektemacherforscher Georg Stanitzek, zwingt „zur Explikation von Limitationen“. 7 Projekte sind hier Absichtserklärungen, wecken Erwartungen und sind Vorhaben, die versuchen, ihre Umsetzbarkeit schon vorab mitzudenken und gerade dadurch die Wahrscheinlichkeit ihrer Akzeptanz zu erhöhen. Das bestehende Narrativ zur Entwicklung der Projektform sieht an dem einen Ende die Projektemacher des 17. und 18. Jahrhunderts, als windige, abenteuerliche und in der Regel negativ konnotierte Randgestalten und eine sich im Laufe des 20. Jahrhunderts ausentwickelnde, projektförmige Organisationsstruktur als Normalform heutigen Forschungshandelns am anderen Ende. Über die Figur des Projektemachers als Unternehmer lässt sich die Projektemacherei der Frühen Neuzeit mit den heutigen Projektwelten in Beziehung setzen. Während des 19. Jahrhunderts sei die Figur des Projektemachers jedoch zeitweise verschwunden bzw. von anderen Figuren wie dem Ingenieur und einer wachsenden Schar von Verwaltungsbeamten verdrängt worden, bevor er um 1900 in veränderter Form wiederkehrte. 8 Eine wichtige Rolle im Diskussionszusammenhang spielt die Debatte um Big Science bzw. Großforschung des 20. Jahrhunderts und die Fragen nach ihren Wurzeln im frühen 20. oder schon späten 19. Jahrhundert. 9 Das Verschwinden der Figur des Projektemachers im 19. Jahrhundert, so meine Beobachtung, gilt jedoch merkwürdigerweise nicht für Projekte, auch wenn diese nicht immer als Projekte, sondern – sehr wahrscheinlich aufgrund der negativen Konnotation der Projektemacherei – viel häufiger mit offenbar seriöseren Begriffen wie Vorhaben oder Unternehmung bezeichnet werden. Damit ließe sich das bestehende Narrativ ergänzen und an bestimmten Stellen modifizieren. Um dem Projektemachen im 19. Jahrhundert auf die Spur zu kommen, erscheint es zweckmäßig,
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tige Funktion: Sie ermöglicht Episodenbildung. Gewisse Suchvorgänge können mit einem Finden zum Abschluß gebracht, Arbeiten können mit der Fertigstellung des Werkes beendet werden. Auf diese Weise kann das System zeitliche Diskontinuitäten bilden und kann auch nebeneinander verschiedene Tätigkeitssequenzen ablaufen lassen, die zu verschiedenen Zeitpunkten enden. Dabei kann die Beendung im Erreichen des Zieles, aber auch in der Feststellung der Unerreichbarkeit des Zieles liegen. Beendbarkeit (Periodizität) ist also auf jeden Fall garantiert und nicht erfolgsabhängig. Entscheidend ist, daß das Ende der Episode nicht das Ende des Systems bedeutet. Die Autopoiesis geht weiter und springt nur auf eine neue Sequenz von Operationen über. Sobald Kriterien der Terminierung zur Verfügung stehen, kann man etwas anfangen, ohne damit Kräfte auf Dauer zu binden. Man kann viel mehr unternehmen, wenn man weiß, daß und wie man es beenden kann. Episodenbildungsfähigkeit ist mit alldem ein wichtiges Moment im Aufbau von Systemkomplexität.“ Georg Stanitzek, „Der Projektmacher. Projektionen auf eine „unmögliche“ moderne Kategorie“, in: Ästhetik und Kommunikation 17/65/66 (1987), S. 135–146, hier S. 137. Vgl. Krajewski (Hg.), Projektemacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns; und Jan Lazardzig, „Masque der Possibilität. Experiment und Spektakel barocker Projektemacherei“, in: Helmar Schramm/Ludger Schwarte/Jan Lazardzig (Hg.), Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert, Berlin u. a. 2006. Ausführlicher und mit weiteren Literaturhinweisen hierzu bereits: Torsten Kahlert, „‚Große Projekte’: Mommsens Traum und der Diskurs um Big Science und Großforschung“, in: Wissenskulturen. Bedingungen wissenschaftlicher Innovation, Kassel 2012 (=Studien des Aachener Kompetenzzentrums für Wissenschaftsgeschichte (XII)), S. 67–86.
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konkrete Beispiele auf ihren Entstehungskontext hin zu untersuchen und daran festzumachen, welche Entstehungsbedingungen diesen Unternehmungen zugrunde lagen. II. Das „Corpus Inscriptionum Latinarum“ Das C. I. L. erscheint in dieser Hinsicht besonders gut geeignet, weil es einerseits reichlich Quellenmaterial bietet und andererseits im Zusammenhang mit der Frage nach den Wurzeln der Großforschung bereits ins Blickfeld der Forschung geraten ist. Seit den frühesten Darstellungen der Entstehung des C. I. L. galt Mommsen als zentrale Figur der langjährigen Auseinandersetzungen um das Unternehmen. Prägend für dieses Narrativ waren die ersten Darstellungen in der Akademiegeschichte von Adolf Harnack von 1900 und im Nachruf auf Mommsen von Otto Hirschfeld. 10 Vor allem Harnack prägte das Argument, dass erst mit Mommsen an der Spitze des C. I. L. „die Akademie den Grossbetrieb der Wissenschaft wirklich gelernt und die technischen Mittel gefunden [hat], die er erfordert.“ 11 Aus dem Briefwechsel Harnacks mit Mommsen, den Stefan Rebenich ediert hat, geht wiederum hervor, dass Harnack sich bei Mommsen bezüglich der Darstellung der Entstehungsgeschichte des C. I. L. bei Mommsen rückversicherte. 12 Dennoch folgte Rebenich Harnack und damit in bestimmten Maße auch Mommsen, insofern er Mommsen zum Erfinder der Großforschung stilisiert, obwohl Rebenich wie auch andere vor ihm auf die vielen Unterstützer und Förderer und mithin das Netzwerk um Mommsen hingewiesen hat. 13 Rüdiger vom Bruch hat das Argument der Erfindung der Großforschung aufgenommen und die Frage aufgeworfen, ob nicht angesichts der von Mommsen und Harnack betriebenen „generalstabsmäßig organisierten Form des Forschungsbetriebs mit hoher Ressourcenbindung“ von einer Geburt der Big Science aus den Geisteswissenschaften gesprochen werden müsse und damit geschickt die Diskussion um die Ursprünge und Vorläufer der sonst eher mit den Naturwissenschaften verbundenen Großforschung ver-
10 Hirschfeld leitete das C. I. L. seit 1885 und war gebeten worden, einen Vortrag vor der Akademie zu halten, der dann als Nachruf in den Abhandlungen der Akademie gedruckt wurde: Otto Hirschfeld, „Gedächtnisrede auf Theodor Mommsen“, in: Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1904, S. 1025–1060. 11 Adolf Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, (I, II), Berlin 1900, S. 659. 12 Stefan Rebenich, Theodor Mommsen und Adolf Harnack. Wissenschaft und Politik im Berlin des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit einem Anhang und Kommentierung des Briefwechsels, Berlin/New York 1997. 13 Stefan Rebenich, „Die Erfindung der „Großforschung“. Theodor Mommsen als Wissenschaftsorganisator“, in: H. - M. von Kaenel u. a. (Hg.), Geldgeschichte versus Numismatik. Theodor Mommsen und die antike Münze, Berlin 2004, S. 5–20, http://archiv.ub.uniheidelberg.de/propylaeumdok/volltexte/2007/62/, [gesehen am 13. 04. 2012].
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knüpft und belebt. 14 Carlos Spoerhase verknüpfte diese Diskussion mit der aktuellen Debatte um die Wissenschaftspolitik der Geisteswissenschaften, die 2009 kurzzeitig unter dem Label Big Humanities zu laufen schien, sich jedoch angesichts eines anderen derzeit zugkräftigeren Begriffs, der Digital Humanities nicht etablieren konnte. 15 Dennoch und das zeigen auch diese Beiträge, greifen alle Darstellungen auf das ursprüngliche Narrativ mit Mommsen als der zentralen wissenschaftspolitischen Figur für die Entstehung des C. I. L. zurück. Die große Bedeutung Mommsens soll für die Zeit gegen Ende 19. Jahrhunderts auch im Zusammenspiel mit Harnack und dem heimlichen Wissenschaftsminister Friedrich Althoff gar nicht in Frage gestellt werden. 16 Sie wäre jedoch für die Zeit um 1850 zu überdenken, als Mommsen noch von einer großen Karriere träumte, vorerst aber ein Postdoc mit ungewissen Aussichten, dafür aber reichlich Talent, Selbstbewusstsein und Ehrgeiz war. Gegenüber bisherigen Darstellungen wird im Folgenden eine andere Stoßrichtung verfolgt. Nicht Mommsen, sondern das Projekt steht in dieser Perspektive im Mittelpunkt. Verhandlungen und Kommunikationen werden um das Projekt geführt. Zudem avanciert Mommsen zwar nach und nach zur zentralen Bezugsperson für die Leitung, aber dessen Verlauf wird weder von ihm gesteuert (noch kann er von ihm gesteuert werden) noch zwingt er, wie es auch beschrieben wurde, der Akademie sein Projekt auf. 17 Vielmehr ist es – und dies ist der zweite Teil der 14 Rüdiger vom Bruch, „Mommsen und Harnack: Die Geburt von Big Science aus den Geisteswissenschaften“, in: Alexander Demandt/Andreas Goltz/Heinrich Schlange-Schöningen (Hg.), Theodor Mommsen – Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert, Berlin/Boston 2005, S. 121–141; Ähnlich auch schon in: Rüdiger vom Bruch, „Wissenschaft im Gehäuse: Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37–49, hier S. 40: Neuere Studien relativieren Vermutungen zu Erstarrung und Bedeutungsverlust, betonen nachhaltige Reformimpulse im frühen 19. Jahrhundert zugunsten insbesondere geisteswissenschaftlicher Langzeitvorhaben; auch nahmen neue wissenschaftspolitische Konzeptionen für eine arbeitsteilig organisierte Großforschung ihren Ausgang von solchen Projekten, in Berlin etwa in der von Gustav Schmoller generalstabsmäßig geleiteten Edition der Acta Borussica oder programmatisch formuliert in der von Theodor Mommsen und Adolf Harnack verantworteten Kirchenväterkommission. Allerdings belegen eben diese Initiativen kaum zu überbrückende Spannungen zwischen einer in Prestigedenken und Traditionsverhaftung verankerten Gelehrtensozietät und strategisch gesteuerten Forschungsinstituten.“ 15 Carlos Spoerhase, „Big humanities: „Größe“ und „Großforschung“ als Kategorien geisteswissenschaftlicher Selbstbeobachtung“, in: Geschichte der Germanistik. Mitteilungen 37/38 (2010), S. 9–27; die Literatur zu “Digital Humanities” bzw. “Digital History“ oder digitale Geschichtswissenschaften ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Einführend: Roy Rosenzweig/Anthony Grafton, Clio Wired: The Future of the Past in the Digital Age, New York 2010; Peter Haber, Digital Past: Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter, München 2011; und Matthew K. Gold (Hg.), Debates in the Digital Humanities, Minneapolis 2012. 16 Vgl. hierzu den erst kürzlich erschienenen Briefwechsel: Stefan Rebenich (Hg.), Theodor Mommsen und Friedrich Althoff: Briefwechsel 1882–1903, München 2012. 17 Vgl. hierzu die ausführliche aber zuweilen einseitige Darstellung in Lothar Wickerts unvollendeter Biografie Mommsens, vor allem die Bände 2 und 3: Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, II: Wanderjahre. Frankreich und Italien, Frankfurt a. M. 1964;
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These – ein sich herausbildendes Netzwerk, das auf einer informellen Kommunikationsebene wesentlich dazu beiträgt, dass sich die von Mommsen mitprojektierte Konzeption mit ihm an der Spitze durchsetzt. Mommsen ist in dieser Perspektive ebenso Objekt der wissenschaftlichen und wissenschaftspolitischen Interessen anderer, wie seiner eigenen. Der auch im Titel des Beitrags verwendete Begriff der „Netzwerke“ soll hier nicht als streng analytischer Begriff verstanden werden, sondern dient in erster Linie als heuristische Stütze zur Beschreibung und Präzisierung von Fragestellungen. 18 Die Unterscheidung formell/informell bezieht sich auf zwei unterscheidbare Kommunikationsebenen. „Formell“ bezeichnet Kommunikationen und Verhandlungen, die innerhalb und zwischen Organisationen und Institutionen stattfinden, bezieht sich also beispielsweise auf Verhandlungen innerhalb der Akademie, aber auch auf Anträge an die Akademie oder Kommunikationen zwischen Akademie und Kultusministerium. Informell hingegen sind jene Kommunikationen, die zwischen Akteuren stattfinden, ohne dass diese als institutionelle Akteure auftreten. Die Unterscheidung ist damit nicht scharf bezüglich der Person, die kommuniziert, da ein und dieselbe Person sowohl informell als auch formell auftreten kann. Entscheidend für die Bezugsebene ist der Kontext der Kommunikation. Die Idee für ein C. I. L. war älter als Mommsen selbst. Schon 1815 war in August Böckhs 19 Vorhaben eines Thesaurus der Inschriften das C. I. L. gleichsam mitgedacht worden. Der Plan für ein Thesaurus Inscriptionum war zwar nicht allein von ihm verfasst worden, sondern hatte mehrere Überarbeitungen unter anderem durch Philipp Buttmann erfahren. 20 Böckh aber hatte ihn eingereicht und gilt Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, III: Wanderjahre. Leipzig, Zürich, Breslau, Berlin, Frankfurt a. M. 1969. 18 Aus der mittlerweile sehr umfangreichen Liste an Publikationen zum Thema Netzwerke sei hier nur herausgegriffen: Jürgen Böhme/Hartmut Barkhoff/Jeanne Riou, Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln u. a. 2004 sowie die Ausgabe 1/2012 der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften und hier einführend zum Stand der Diskussion das Editorial: http://www.univie.ac.at/oezg/OeZG121.html#Editorial; „Geschichtswissenschaft und Netzwerkanalyse: Potentiale und Beispiele“, in: Wolfgang Neurath/Lothar Krempel/ Berthold Unfried (Hg.), Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen, Leipzig 2008, S. 59–79; Regina Dauser, „‚Netze des Wissens‘ – Metapher oder Methode?“, in: H-Soz-u-Kult/Tagungsberichte, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=894, [gesehen am 28. 02. 2013]. 19 Auf Böckhs Wissenschaftskonzeption konzentriert ist: Axel Horstmann, Antike Theoria und moderne Wissenschaft. August Boeckhs Konzeption der Philologie, Frankfurt a. M. 1992; an Briefwechseln erschien zuletzt: Romy Werther (Hg.), Briefwechsel: Alexander von Humboldt – August Böckh, hg. von Romy Werther unter Mitarb. von Eberhard Knobloch, Berlin 2011; Biografie und Briefwechsel verbindet: Max Hoffmann, August Böckh. Lebensbeschreibungen und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel, Leipzig 1901. 20 Beide Versionen, die ursprüngliche von Böckh und die überarbeitete von Buttmann sind im Dokumentenband unter der Nr. 195 von Harnacks Akademiegeschichte abgedruckt. Vgl: Adolf Harnack, Urkunden und Actenstücke zur Geschichte der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, (II), Berlin 1900, S. 374ff.
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damit im heutigen Sinn als Sprecher der Gruppe. Die Aufteilung der Arbeit sollte unter den Akademiemitgliedern geschehen und für die Arbeit sollten entsprechende Honorare gezahlt werden. Obwohl das Werk im Plan von 1815 als umfassender Thesaurus gedacht wurde, folgte sogleich die Aufteilung in zwei große Arbeitspakete. Mit dem griechischen Teil der Inschriften sollte begonnen werden, da diese in noch schlechterem Zustand vorlägen, als die Lateinischen. Mit der Beantragung eines umfassenden Thesaurus sowohl der griechischen als auch der lateinischen Inschriften stand Böckh in einer jahrhundertealten Tradition. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war es unüblich in Sprachen zu trennen. Böckh hat mit seiner Präferierung für die griechischen Inschriften aber auch zur Ausdifferenzierung der Felder beigetragen. Die Differenzierung in griechische und eine lateinische Inschriften findet sich zwar auch schon in dem Plan Scipione Maffeis für ein Inschriftencorpus von 1732, der jedoch so nicht zur Ausführung kam. 21 Während die Idee der Differenzierung demnach älteren Ursprungs ist, ist der bis heute gültige Pfad der Trennung in eine griechische und lateinische Inschriftenkunde mit Böckh betreten worden. Sein vordergründiges Interesse an den griechischen Inschriften ging auf seine Arbeit am Staatshaushalt der Athener zurück. 22 Böckhs Vorstellungen über die Aufteilung der Arbeit, nahmen das auch später vielfach für den Wissenschaftsbetrieb verwendete Bild der Fabrik vorweg, jedoch in kritischer Absicht, denn seiner Ansicht nach sollten die Mitarbeiter auf keinen Fall zu bloßen Handlanger herunterkommen. 23 Die Teilung der Arbeit dürfe „nicht fabrikmäßig zu sehr ins Kleine gehen, wie etwa wo Nadeln gemacht werden, der eine Drähte schmiedet, der andere zuspitzt, der dritte Köpfe dreht, der vierte sie aufsatzt, sondern jeder tüchtige Gelehrte muß zugleich bestrebt seyn sich die Umsicht des Fabrikherrn zu erwerben und einen großen Ueberblick zu gewinnen, ohne welchen er ein bloßer Handwerker seyn wird“. 24
1836 beantragte der dänische Gelehrte Olaus Kellermann neben einer Förderung durch die Akademie von Kopenhagen auch eine kleinere Förderung seitens der 21 Vgl. Alfredo Buonopane, “Il Prospectus universalis collectionis di Scipione Maffei e la nascita della scienza epigrafica”, in: Gian Paolo Romagnani (Hg.), Scipione Maffei nell’Europa del Settecento. Atti del convegno, Verona, 23–25 settembre 1996, Verona 1998, S. 659–677. 22 Ausführlicher zum Zusammenhang von Böckhs Staatshaushalt der Athener und der Arbeit an den Inschriften in: Camilla Warnke, „Warum hat August Boeckh die ‚Staatshaushaltung der Athener‘ geschrieben? Wissenschaftshistorische Fakten und Überlegungen“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36/1 (1987), S. 34–40. 23 Das ist demnach nicht so neu, wie es manchmal erscheint. Für die neuere vor allem auf die Geschichte der Naturwissenschaften ausgerichtete Wissenschaftsforschung einflussreich war: Karin Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1984. 24 Gottfried Hermann, Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung der griechischen Inschriften, Leipzig 1826. Gottfried Hermann hatte nach Böckhs Veröffentlichung des ersten Bandes der griechischen Inschriften diesen kritisch rezensiert, woraufhin nach Böckhs Erwiderung ein heftiger Streit entbrannte. Die Auseinandersetzung ist von Hermann wiederum in einem kleinen Bändchen dokumentiert worden.
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Preußischen Akademie der Wissenschaften für die Sammlung lateinischer Inschriften in Italien. 25 Gemeinsam mit Emiliano Sarti, der als Mitarbeiter im Vatikan Zugang zu den umfangreichen Materialien der Vatikanischen Archive besagt hatte Kellermann eine Denkschrift verfasst, die er der Preußischen Akademie einreichte und die als erste konkrete Planungsschrift für das C. I. L. gelten kann. 26 In der sieben Buchseiten umfassenden und handschriftlich übermittelten Denkschrift legte Kellermann dar, warum es eines vollständigen lateinischen Inschriftencorpus' bedürfe und wie es zu machen sei. 27 Sarti seinerseits übernahm es, beim Vatikan mit der Bitte um Unterstützung einzureichen. Als Hauptgrund für die seit den Anfängen sich in einem „jämmerlichen Zustande“ befindende lateinische Epigraphik benannte Kellermann die Zerstreutheit der Inschriften. 28 Zusätzlich seien von den geschätzten 50.000 bis 60.000 Inschriften mehr als bisher angenommen gefälscht. Ein Großteil dieser Fälschungen gehe auf Pirro Ligorio zurück, von dem wiederum viele Nachfolger abgeschrieben hätten. 29 In den bisheri25 Zu Kellermann gibt es nur spärliche biografische Informationen. C. Jørgensen, Olaus Kellermann; Ein Teil seiner Briefe ist wiederabgedruckt in der Gesamtausgabe von Borghesis Werken: Bartolomeo Borghesi, Œuvres complètes de Bartolomeo Borghesi, Paris 1862; Kellermanns inschriftlicher Nachlass wurde von Otto Jahn, der die Materialien aufkaufte, mit einer in Latein geschriebenen biografischen Einleitung herausgegeben unter: Otto Jahn (Hg.), Specimen epigraphicum in memoriam Olai Kellermanni, Kiliae 1841. 26 Kellermanns Antragsschrift ist als Anhang publiziert in: Johannes Irmscher, „Die Idee des umfassenden Inschriftencorpus. Wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen“, in: Akten des IV. Internationalen Kongresses für griechische und lateinische Epigraphik. Wien, 17. bis 22. September 1962, Wien 1964, S. 157–173; In den 1830er und -40er Jahren hat es mehrere Versuche an der Pariser Akademie gegeben, ein lateinisches Inschriftenkorpus zu initiieren. Über Pläne und Vorarbeiten kamen die Initiativen jedoch zunächst nicht hinaus. Dennoch hatten die französischen Vorarbeiten Einfluss auf das C. I. L. der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Vgl. zu den Gründen des Scheiterns: Sylvie Sangarné, “Les tentatives françaises d’édition d’un recueil des inscriptions latines (C. I. L.). La guerre des comités (1835–1839)”, in: Cahiers d’histoire 44/1 (1999), S. 105–126; und Jean Pierre Waltzing, Le recueil général des inscriptions latines et l’épigraphie latine depuis 50 ans, Louvain 1892. 27 In Bl. 2 der Akte mit Kellermanns Plan befindet sich auch eine handschriftliche Kopie des Empfehlungsschreibens und Gutachtens von Bartolomeo Borghesi, das Kellermann mit seinem Antrag bei der Akademie einreichte. Vgl.: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand PAW, II–VIII, 96, Bl. 2. 28 Irmscher, „Die Idee des umfassenden Inschriftencorpus. Wissenschaftsgeschichtliche Betrachtungen“, S. 167. 29 Pirro Ligorio (1513–1583) war eine der schillernden Figuren des 16. Jahrhunderts. Neben Malerei, Architektur (Nachfolger Michelangelos beim Bau des Petersdoms) und Landschaftsarchitektur, gehörte auch das Studium antiker Inschriften und Münzen zu seinen Arbeitsgebieten. Ligorios antiquarische Arbeiten wurden im 19. Jahrhundert durch Mommsen und seine Kollegen und Schüler sehr kritisch bewertet. Er wurde zum größten Fälscher lateinischer Inschriften stilisiert. Vgl.: Hermann Dessau, „Römische Reliefs beschrieben von Pirro Ligorio“, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 40 (1883), S. 1077– 1105: „Die Zeichnungen von Votiv- und Grabreliefs, die sich in dem neapolitanischen Werke nicht selten finden, werden schon durch die falschen Inschriften, mit denen sie in der Regel ausgestattet sind, verdächtig; sie sind zum allergrößten Theil ganz geschmacklose Erfindungen.“ hier S. 1079; und Christian Hülsen, „Die Hermeninschriften berühmter Griechen und
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gen Werken fänden sich oft Doppelungen oder zusammengehörende Bruchstücke seien zerstreut veröffentlicht. Selten gäbe es Indices, so dass die Benutzung zeitraubend sei. Das Verhältnis zwischen Kellermann und Sarti entwickelte sich jedoch bald weniger gut. Kellermann erkrankte in Rom an der Cholera und verstarb schon 1838, so dass das Vorhaben seinen Bearbeiter verlor und letztlich über einen Anfang zunächst nicht hinauskam. Fast zwei Jahrzehnte nach Kellermanns erstem Plan wurde das C. I. L. beruhend auf einer Denkschrift von Theodor Mommsen für die inhaltliche und organisatorische Umsetzung, und auf Antrag von Richard Lepsius, dem Ägyptologen, zuerst von der philosophisch-historischen Klasse und dann auch von der Gesamtakademie mit einer nie zuvor dagewesenen Summe von 20.000 Talern für zunächst fünf Jahre genehmigt. Das Projekt beruhte auf einem ganz ähnlichen Zuschnitt wie das von Kellermann, was die Frage aufkommen lässt, warum die Akademie nun bereit war, das Projekt so großzügig zu finanzieren? Was hatte sich verändert? Und worin bestand der Erfolg Mommsens gegenüber seinen Vorgängern? Innerhalb der Akademie sah der Archäologe Eduard Gerhard in den nicht verbrauchten Unterstützungen die Gelegenheit das Vorhaben auch nach Kellermanns Tod weiterzuführen und erreichte, dass Otto Jahn, der sich in Italien aufhielt und den Nachlass Kellermanns erworben hatte, die bereits vergebenen Mittel übertragen bekam. 30 Dies war zunächst eine Übergangslösung und wurde explizit mit der Auflage versehen, dass es nur für das laufende Jahr 1839 gelte und danach neu beantragt werden müsse. Eine Evaluation der Fähigkeiten Jahns sollte nach einer Probearbeit aus dem Nachlass Kellermanns erfolgen. Innerhalb der Akademie war für die Begutachtung die Epigraphische Kommission zuständig, die erst aus drei und später aus fünf Mitgliedern der philologisch-historischen Klasse bestand. Die Gutachten zu der von Jahn 1841 vorgelegten Arbeit, verbunden mit der Bitte um Weiterförderung, spielten den Ball wieder mit dem Hinweis zurück zu Jahn, dass von ihm vor einer Förderung noch nähere schriftliche Ausführungen zur geplanten Umsetzung erwartet würden. Karl Gottlob Zumpt, der eines der zwei Gutachten verfasst hatte und ein paar Jahre später seinen Neffen August Wilhelm Zumpt als Bearbeiter für das Corpus ins Spiel bringen sollte, kritisierte unter anderem die Unüberschaubarkeit des Unternehmens. 31 Böckh trug die Ergebnisse der Gutach-
die ikonographischen Sammlungen des XVI. Jahrhunderts“, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 16 (1901), S. 123–154; später ist das harte Urteil relativiert worden. Vor allem aus der Kunstgeschichte mehren sich Stimmen, die eine Rehabilitierung Ligorios für sinnvoll erachten. Vgl. Anna Schreurs, Antikenbild und Kunstanschauungen des neapolitanischen Malers, Architekten und Antiquars Pirro Ligorio (1513 – 1583), Köln 2000. 30 Gerhards Antrag befindet sich in: Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand PAW, II–VIII, 96, Bl. 17. 31 Die Gutachten vom 10. Februar vom 22. März 1842 wurden nicht unabhängig geschrieben, sondern, wie aus den Akten ersichtlich ist, nacheinander fortgeschrieben. So beginnt Zumpts Gutachten noch auf demselben Blatt wie das erste Gutachten von Immanuel Bekker, Ebd., Bl. 26ff.
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ten, die in der Klassensitzung diskutiert worden waren, in der Gesamtsitzung der Akademie vor. Im Protokoll der Sitzung wurde daraufhin vermerkt, dass „die Ansicht der Klasse, dass Jahn, wenn er ein bedeutendes Werk über lateinische Inschriften angefangen habe, ihm zu noch bestimmende Beihilfe zu gewähren sei“. 32 Dies hielt die Möglichkeit der Förderung offen, jedoch sei auch hier noch „eine nähere Erklärung von ihm abzuwarten.“ 33 Die Akademie trat dem Gutachten bei, übergab den Vorgang jedoch wieder an die Klasse, woraufhin die Sache zunächst versandete, da Jahn die erwartete Rückmeldung schuldig blieb. Der Geldverwendungsausschuss der Akademie gab zudem zu bedenken, dass es den Grundsätzen und dem Selbstverständnis der Akademie widerspreche, Vorhaben zu fördern, deren Ende nicht absehbar seien und wiederholte damit die Skepsis der Gutachten in Bezug auf die Ausführbarkeit der Unternehmung. Mommsen, der während seines Studiums in Kiel unter anderem Schüler von Jahn gewesen war, trat nach Beendigung seines Studiums 1843 in die Fußstapfen von Kellermann und Jahn und begab sich mit Hilfe eines Reisestipendiums der Kopenhagener Akademie und einer zusätzlichen Unterstützung seitens der Berliner Akademie auf eine Sammlungsreise nach Frankreich und vor allem nach Italien, die von 1844–47 dauerte. 34 Zu dieser Zeit hatte er den Traum, die Akademie würde ein solches Unternehmen Jahn zur Leitung übergeben und er könne einst daran mitarbeiten. Seine Hoffnungen stützten sich auf seinen freundschaftlichen Kontakt zu Jahn und das ausdrücklich bekundete Interesse mehrerer Mitglieder der Akademie am Projekt. Zu diesen gehörte auch der Staatsminister Friedrich Carl von Savigny, der bei Jahn zu diesem Zweck eine Planungsschrift in Auftrag gegeben hatte, die er der Akademie im Januar 1846 vorlegte. In die Vorbereitung war Mommsen indirekt involviert, wie aus dem Briefwechsel zwischen Mommsen und Jahn hervorgeht. Jahn skizzierte Mommsen zunächst ausführlich, wie er sich das Unternehmen vorstelle und welchen Bedingungen das Projekt genügen müsse, woraufhin Mommsen in noch konkreteren Punkten antwortete, die Jahn teilweise in den Antrag übernahm. 35 Innerhalb der Akademie herrschte jedoch nach wie vor Uneinigkeit, ob ein solches Projekt überhaupt ausführbar sei. Die Debatte entzündete sich nicht zuletzt an der Frage, ob die Forderung Jahns wie auch Mommsens, entgegen bisheriger Praxis alle Inschriften im Original vor Ort zu sichten, zweckmäßig und möglich sei. Deshalb wurden zunächst Vorarbeiten anvisiert, die die Ausführbarkeit klären sollten. Jahn begrub relativ bald seine Hoffnungen auf die Leitung des Unternehmens und war darüber wohl auch nicht besonders traurig. An Mommsen schrieb er:
32 Auszug aus dem Protokoll der Gesamtsitzung vom 14. April 1842 in: Ebd., Bl. 29. 33 Ebd. 34 Vgl. Theodor Mommsen, Tagebuch der französisch-italienischen Reise 1844/45, Bern/Frankfurt a. M. 1976. 35 Vgl. Lothar Wickert (Hg.), Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel 1842–1868, Frankfurt a. M. (Vittorio Klostermann) 1962 hierbei insbesondere die Briefe 17–19.
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Torsten Kahlert „Ich lasse die Sache gehen, wie sie geht, vielleicht, daß die Wirklichkeit, wenn der Plan zur Ausführung kommt, mir einige Freudigkeit gibt, ich glaube es aber nicht. Es versteht sich, daß ich meine Pflicht tun werde und daß die Unternehmung nicht durch meine Schuld scheitern soll, aber ich denke, es wird ja auch ohne mich gehen“. 36
Mommsen hatte sich, wie sein Vorgänger Kellermann, während seiner Reise dem seinerzeit allgemein anerkannten Meister der italienischen Epigraphik, Bartolomeo Borghesi auf dessen Sitz in San Marino vorgestellt (Borghesi schrieb später wie für Kellermann auch für Mommsen ein Empfehlungsschreiben) und in Rom enge Kontakte zu den Mitarbeitern des 1829 gegründeten Instituts für archäologische Korrespondenz, dem heutigen Deutschen Archäologischen Institut, geknüpft. 37 Er lernte unter anderem Wilhelm Henzen, Emil Braun und Heinrich Brunn kennen, die alle ihren Anteil an der Entstehung des C. I. L. hatten. 38 So stand Emil Braun als der älteste von Ihnen und Sekretär des Instituts in intensivem Austausch mit Eduard Gerhard, der als Gründer des Instituts die Fäden in Berlin und vor allem in der Akademie spann. So war Gerhard auch ohne Mommsen über dessen Pläne informiert. Brunn hatte, wie unten noch ausgeführt werden wird, Mommsen mit Friedrich Ritschl zusammengeführt und Wilhelm Henzen, der wiederum von Emil Braun auf die Inschriften angesetzt worden war, wurde später einer der engsten Mitarbeiter Mommsens beim C. I. L. und Mitglied in der Leitung des C. I. L., Brunn wiederum war ein Schüler Ritschls. Die Verknüpfungen ließen sich fortführen. Beispielsweise knüpfte Mommsen während seiner Arbeit in den vatikanischen Archiven Kontakt zu dem italienischen Gelehrten Giovanni Battista de Rossi, der dort als Bibliothekar arbeitete und ihm nicht nur den Zugang zu schwer zu erhaltenden Materialien erleichterte, sondern später auch als Bearbeiter für den christlichen Teil in die Leitung des Inschriftenunternehmens eintrat. 39 1847 erhielt Mommsen von der Akademie den Auftrag, einen Plan für ein C. I. L. vorzulegen. Zur gleichen Zeit wurde der Neffe des Akademiemitglieds Zumpt, der Gymnasiallehrer August Wilhelm Zumpt mit erwähnten Vorarbeiten für das C. I. L. betraut. Savigny hatte beim König dafür eine Summe von 4.000 Reichstalern erwirken können. Aus diesen Mitteln sollte Zumpt (jun.) den bisherigen Bestand der gedruckten Inschriften sichten und vorordnen. Nach seiner Rückkehr aus Italien musste Mommsen feststellen, dass sich ein konkurrierendes
36 Jahn an Mommsen, 20. 1. 1846, in: Ebd., 48f. 37 Vgl. Hans-Georg Kolbe (Hg.), Wilhelm Henzen und das Institut auf dem Kapitol. Aus Henzens Briefen an Eduard Gerhard, Mainz 1984. 38 Zu Wilhelm Henzen vgl. die beiden mit Archivmaterialien angereicherten Publikationen: Hans-Georg Kolbe, „Emil Braun und die lateinische Epigraphik“, in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Römische Abteilung 86 (1979), S. 529–543; Kolbe (Hg.), Wilhelm Henzen und das Institut auf dem Kapitol. 39 De Rossis Verhältnis zu Mommsen ist untersucht in: Stefan Rebenich, „Giovanni Battista de Rossi und Theodor Mommsen“, in: Reinhard Stupperich (Hg.), Lebendige Antike. Rezeptionen der Antike in Politik, Kunst und Wissenschaft der Neuzeit, (VI), Mannheim 1995, S. 173– 186.
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Netzwerk gebildet hatte, dessen wichtigste Figur, der bedeutendste altertumswissenschaftliche Gelehrte seiner Zeit, August Böckh, war. Böckh, der zwar anfänglich Mommsen gegenüber freundlich auftrat, unterstützte nun die Arbeiten Zumpts (jun.). Die von Savigny erwirkten Mittel hätten für zwei Bearbeiter für fünf Jahre gereicht. Dabei hätte jeder über einen Zeitraum von fünf Jahren 400 Taler jährlich erhalten, eine Summe, die beispielsweise Zumpt (jun.) in seiner Antragsschrift gefordert hatte. 40 Das Geld, das aus dem Dispositionsfond des Königs stammte, also nicht aus dem jährlichen Haushalt der Akademie, wurde jedoch nicht komplett überwiesen, sondern musste jeweils in Teilen beantragt werden, wenn es benötigt wurde. Dadurch war eine dauernde Kontrolle über die Mittel gegeben und nicht benötigte Mittel konnten ggf. anderweitig vom König verwendet werden. In den Kommissions- und Klassensitzungen wurde auch lange Zeit so diskutiert, als könne die Akademie darüber entscheiden, wer welche Aufgabenbereiche übernehmen würde, während die Epigraphische Kommission die Leitung behielt. Doch dabei wurde übersehen, dass die Interessen der Protagonisten Zumpt (jun.) und Mommsen sich nicht in Übereinstimmung bringen ließen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen unter anderem in persönlichen Gesprächen zwischen Böckh, Zumpt (jun.) und Mommsen eine Einigung in der Frage der Aufteilung der Arbeit zu erlangen, erklärte Mommsen der Akademie schriftlich, er würde von dem Unternehmen zurücktreten, bedankte sich bei seinen Unterstützern für ihre Mühe und wandte sich wieder seiner Heimat zu. An Wilhelm Henzen schrieb er diesbezüglich: „Gegen Gerhard können Sie gern alles wiederholen, was ich Ihnen schreibe; er ist ein so feiner Politiker daß er nie glaubt was man ihm geradezu sagt oder schreibt, wenn er’s aber durch die dritte Hand erfährt, leuchtet es ihm vielleicht eher ein daß meine steigende Gleichgültigkeit gegen d i e s Projekt nicht affektiert ist, um meine Zwecke sichrer zu erreichen“. 41
Zwar erfolgte noch eine weitere Anfrage seitens der Akademie, ob Mommsen eine Teilung der Leitung mit Zumpt (jun.) annehmen würde, aber Mommsen lehnte entschieden ab. Er ging zurück nach Altona und wurde, wie vor seiner Reise, Lehrer im Mädchenpensionat, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. An Jahn schrieb er, dass er „erst jetzt fühle, wie tief [ihn] die Gleichgültigkeit der Berliner getroffen“ habe. Erst nach der 1848/49er Revolution kam Mommsen in den Verhandlungen um das C. I. L. wieder ins Spiel. Zwischenzeitlich hatte er durch Vermittlung von Otto Jahn seine erste Professur in Leipzig erlangt. Doch noch einmal zurück zu Mommsens Planungsschrift von 1847, der insofern eine besondere Bedeutung zukommt, da ihr keine weitere Planungsschrift folgte, obwohl die Verhandlungen noch Jahre dauerten und immer wieder unterbrochen waren. Die Planung eines C. I. L., so lässt sich der Umstand interpretieren, hatte mit Mommsens Entwurf offenbar eine Reife erreicht, die weitere Überlegungen und Überarbeitungen der Planungen überflüssig machten. Mommsen 40 Vgl. den Auszug des Protokolls der Klassensitzung vom 9.Nov. 1846 in: Archiv der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bestand PAW, II–VIII, 96, Bl. 109. 41 Mommsen an Henzen, 22. 6. 1847, vgl.: Wickert, Wanderjahre, S. 396.
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hatte klar darlegen können, auf welcher Grundlage und Forschungsstand gearbeitet werden könne, wie und mit welchen Mitteln ein solches Projekt anzugehen wäre, er hatte Aufbau und Anordnung des Werkes aufgezeigt und dabei insgesamt auch den selbstbewussten Ton eines Projektmanagers getroffen. Einzig Gerhard blieb, trotz der Zurückweisung Mommsens, unermüdlich in seinen Versuchen, das Projekt am Leben zu halten und Mommsen zur Rückkehr zu bewegen. Nochmals wurde über eine mögliche Teilung der Leitung korrespondiert. Mommsen machte ein Angebot, wie die Leitung zwischen Zumpt (jun.) und ihm aufgeteilt werden könnte. Dabei sollte Zumpt (jun.) die Provinzen erhalten, Rom von Wilhelm Henzen und de Rossi bearbeitet werden und Italien Mommsen zugewiesen werden. Aber Böckh ging nur teilweise darauf ein. Sein Gegenvorschlag wollte Zumpt (jun.) einen größeren Teil des C. I. L. überantwortet sehen. Böckh wollte sich von einem jungen Gelehrten, der in seinen Augen nicht mehr vorzuweisen hatte, als sein Talent, keine Vorschriften machen lassen. Mommsen aber beharrte auf seinem Standpunkt und gab zu verstehen, dass mit ihm ein C. I. L. nur zu machen wäre, „wenn die Resultate meiner Arbeit mir oder Henzen und Borghesi zu Gute kommen, sonst nicht.“ 42 Er hatte die Hoffnung auf eine Einigung verloren und wollte der quälenden Plage nur noch ein Ende bereiten. Die Aussicht auf ein C. I. L. unter seiner Leitung war mit seinem Brief vom 1. März 1848 vorerst begraben, auch wenn es keinen offiziellen Abbruch der Verhandlungen gegeben hatte. Im November 1848 schrieb er Henzen: „Die Berliner Verhandlungen habe ich nicht gerade abgebrochen, aber als es bei uns los ging, hörten sie von selber auf“. 43 Mommsen hat nach seinem Rückzug aus dem Akademieprojekt die Veröffentlichung seiner in Italien gesammelten Materialien betrieben. Verleger für die Inschriften des Königreichs Neapel wurde sein Freund aus Leipziger Zeiten, Georg Wigand. Die Publikation, die 1852 erschien, war zwar trotz einer umfangreichen Werbekampagne ein finanzieller Misserfolg, beeindruckte aber dennoch die Akademiemitglieder und stellte seine fachliche Kompetenz erneut unter Beweis. 44 Durch die Bearbeitung eines weiteren Teils von Inschriften waren Friedrich Ritschl und Mommsen zusammengekommen. Wie oben schon angedeutet, hatte Heinrich Brunn beide miteinander vermittelt. Brunn, ein Schüler Ritschls, den Mommsen am archäologischen Institut kennengelernt hatte, erhielt von beiden fast gleichzeitig die Bitte um Unterstützung für die Bearbeitung altlateinischer Inschriften. Es lag nicht fern, beiden eine gemeinschaftliche Arbeit anzuempfehlen. 45 Im Gegensatz zu Mommsen war Ritschl 46 durch sein Seminar an der Bon42 Zitiert nach: Hirschfeld, „Gedächtnisrede auf Theodor Mommsen“, S. 940. Der Brief war an Gerhard adressiert, der ihn der Akademie übermitteln sollte. 43 Zitiert nach: Wickert, Wanderjahre, S. 469. 44 Theodor Mommsen (Hg.), Inscriptiones regni Neapolitani Latinae, Lipsiae 1852. 45 Vgl. Kolbe, „Emil Braun und die lateinische Epigraphik“. 46 Zu Ritschl gibt es wenig neuere Arbeiten. Über 100 Jahre alt ist die Biografie einer seiner Schüler: Otto Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschl. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie, Leipzig 1879.
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ner Universität bereits als angesehener Gelehrter etabliert. Er hatte eine ganze Reihe von Philologen hervorgebracht, die im universitären System ihr Auskommen fanden. Zu seinen Schülern zählte später auch Friedrich Nietzsche. 47 Ritschl war korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie in Berlin, hatte zu dieser aber wenig Vertrauen. Dafür unterhielt er gute Beziehungen zu Johannes Schulze, der als Ministerialrat die Unterrichtsabteilung des Preußischen Kultusministeriums leitete und durch Ritschl für Mommsen erwärmt wurde. 48 Auch Schulze war Philologe und in seinem Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften und die Berufungspolitik an den Universitäten vergleichbar mit dem bekannteren Nachfolger Friedrich Althoff. Über Johannes Schulze konnte Ritschl für den gemeinsamen Band mit Mommsen eine finanzielle Unterstützung direkt über das Kultusministerium erlangen. 49 Währenddessen hatte die Akademie versucht Ritschl und Henzen zur Übernahme von Teilen des C. I. L. zu bewegen bzw. deren geplante Arbeiten in das Corpus einzubauen. Doch diese wehrten ab, mit dem Hinweis, dass das gesamte Projekt übernommen werden müsse und verwiesen dafür an Mommsen. Die Evaluation von Zumpts (jun.) Vorarbeiten brachte 1853 dessen Scheitern zu Tage. In seinem Bericht gab er zu verstehen:
47 Zum Begriff der Forschungsschule bzw. “research school” und seinem Bedeutungswandel siehe das Themenheft Nr. 8 (1993) der Zeitschrift Osiris und hierbei insbesondere die Einleitung von John W. Servos. Obwohl sich das Heft vornehmlich mit der Geschichte der Naturwissenschaften auseinandersetzt, ist es dennoch auch für geisteswissenschaftliche Forschung relevant: John W. Servos, “Research Schools and Their Histories“, in: Osiris 8 (1993), S. 3– 15. 48 Zu Johannes Schulze gibt es wenig neuere Arbeiten. Deshalb sei auf die nicht mehr ganz taufrische Biografie von Varrentrapp verwiesen: Conrad Varrentrapp, Johannes Schulze und das höhere preußische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889. Die Korrespondenz von Ritschl an Schulze findet sich in: GStA-PK, NL Johannes Schulze, Briefe von Friedrich Ritschl an Johannes Schulze 1831–1864. Ritschls Brief vom 16. 10. 1851 gibt einen Einblick in die informelle Kommunikationslogik und ist zugleich ein Stück Antragsprosa, nur dass Ritschl mangels einer Akademie vor Ort sich an das Kultusministerium wandte. In diesem Fall geht es um einen Band, der nur den Teil der ältesten lateinischen Inschriften umfassen sollte, ein Band, den er später mit Mommsen gemeinsam ausführen sollte: „Möge sich doch ein reicher Privatmann, der so viel Liebhaberei und Ehrgeiz, oder eine wissenschaftliche Körperschaft oder Behörde, die so viel großartige Liberalität hätte, finden, um in analoger Weise eine vollständige Sammlung und Bearbeitung derjenigen altlateinischen Monumente ausführen zu lassen, die von gleichem Werthe für Philologen und für Civilisten sind: für jene als unentbehrliche Grundlage zu Forschungen über lateinische Grammatik und Geschichte der lateinischen Sprache, wie wir beide noch nicht besitzen; für diese als Aktenstütze zur römischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, wie man sie bis jetzt nur in der unkritischen Sammlung Spangenbergs, die sich mit Haubolds Namen schmückt, zusammen hat. Mit Privatmitteln ist ein Unternehmen dieser Art nicht zu betreiben. Um so mehr dürfte ich mich berechtigt halten, eine Probe dessen, was ich in diesem Sinne seit Jahren vorbereitet habe, auf öffentliche Kosten zu Ehren einer königlichen Geburtstagsfeier erscheinen zu lassen, für die ja ein gewisser äußerer Glanz und selbst einiger Lupus wohl ganz an seinem Ort ist“. 49 Der Band erschien allerdings erst 1862: Friedrich Wilhelm Ritschl, Priscae Latinitatis monumenta epigraphica, Berolini 1862.
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Torsten Kahlert „Die Masse der Inschriften, über welche kein Index existiert, ist jetzt so groß, daß ich kaum weiter im Stande bin, mich zurechtzufinden: das Aufsuchen einer einzelnen Inschrift ist entweder geradezu unmöglich oder doch überaus zeitraubend“. 50
1850 war Richard Lepsius, der durch eine Ägyptenexpedition von 1842 bis 1845 auf sich aufmerksam gemacht hatte, als ordentliches Mitglied in die Akademie aufgenommen worden. 51 Lepsius war in die früheren Verhandlungen um das C. I. L. nicht involviert. Er konnte so eine weitgehend neutrale Position beanspruchen. Im Zusammenhang mit dem drohenden Scheitern des eingeschlagenen Weges der Akademie, gab er in den Verhandlungen der historisch-philologischen Klasse zu verstehen, dass es einer Auflösung des Unternehmens gleichkämen würde, sollte der von Ritschl und Mommsen bearbeitete Inschriftenband nicht Teil des Corpus werden. Ritschl hegte mit Hinweis auf sein Alter keine Ambitionen hinsichtlich einer Leitungsfunktion für das Gesamtprojekt. Kurze Zeit später wurde nach dem von Lepsius eingereichten Antrag in der Akademie die Leitung schließlich Mommsen, Henzen und de Rossi gemeinschaftlich übertragen und Zumpt (jun.) von der Bearbeitung ausgeschlossen. Dieser wollte sich jedoch nicht ohne Widerstand geschlagen geben und suchte beim Kultusminister zu erreichen, dass ihm ein Anteil am C. I. L. gesichert würde. Hierfür fehlte ihm jedoch der Rückhalt innerhalb des Ministeriums, insbesondere beim Ministerialrat Johannes Schulze. Letztlich wurde Zumpt (jun.) damit formell nicht aufgrund seines im Bericht eingestandenen Scheiterns, sondern aufgrund seines nun offensiven Vorgehens gegen Mommsen von der weiteren Arbeit ausgeschlossen. Obwohl Mommsen keineswegs weniger zimperlich in der Wahl seiner Mittel war, fehlte Zumpt (jun.) nun anders als Mommsen die ausreichende Rückendeckung in der Akademie und im Kultusministerium. Anhand der Kürze der hier gemachten Ausführungen lässt sich das Netzwerk und vor allem die zahlreichen Querverbindungen nur andeuten. Während innerhalb der Akademie das Projekt weiterbetrieben wurde, jedoch ohne Fortschritte, verfolgten Mommsen, Ritschl und andere die Publikation von Teilen, außerhalb akademischer Projektstrukturen. Das Netzwerk wurde informell ausgebaut, aber der unliebsame Zumpt (jun.) ließ sich informell nicht ausschließen. Erst bei Begutachtung seiner Arbeit und der wieder offenen Frage einer Weiterförderung konnten die Strukturen neu verlegt werden. Zugleich sah sich die Akademie durch die bereits genehmigte Förderung gegenüber dem König in der Verpflichtung auch eine Gegenleistung zu liefern. 50 Zitiert nach: Wickert, Wanderjahre, S. 264. 51 Agnete von Specht, „Die Erforschung des ‚Geschichtlichsten aller Länder‘. Richard Lepsius’ Expedition nach Ägypten, 1842–1845“, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 42 (2005/ 2006), S. 203–216; Im Zusammenhang mit der Wiedereröffnung des Neuen Museums in Berlin ist zuletzt die Biografie von Harthmut Mehlitz entstanden: Hartmut Mehlitz, Richard Lepsius. Ägypten oder die Ordnung der Wissenschaft, Berlin 2010; unter: http://aaew. bbaw.de/wbhome/LepsiusArchiv/index.html, [gesehen am 13. 2. 2013] finden sich einige Informationen über schriftliche Dokumentation, Zeichnungen, Tagebücher etc. der Lepsiusexpedition.
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III. Fazit Obwohl das C. I. L. mit seiner bereits mehr als 150-jährigen Geschichte in der heutigen projektförmigen Forschungsförderungswelt ein Urgestein ist, lassen sich anhand der oben skizzierten Planungen und Verhandlungen zahlreiche Problemstellungen wiedererkennen, die bis in die heutigen „Projektwelten“ hineinreichen bzw. sich in der einen oder anderen Gestalt wiederholen. 52 Dennoch bleibt die Frage, wie der Projektcharakter mit einer quasi dauerhaften Einrichtung eines bereits über 150-jährigen Unternehmens einhergeht. Mit dem Hauptmerkmal von Projekten als „zeitlimitierte Ordnungen“ geht das C. I. L. nur insofern einher, als dass es jeweils nur für bestimmte Zeiträume finanziert wird. Hier führt möglicherweise eine Unterscheidung weiter, die diesen Projekten als Merkmal angehangen wird, sie nämlich als „Großprojekte“ zu bezeichnen. Zum Großprojekt wird das C. I. L. nicht durch die Projektplanung, auch wenn vor allem gegenüber Geldgebern der Hinweis auf die Großartigkeit des Projekts als Rhetorik durchaus häufig zu finden ist. Während naturwissenschaftliche Großprojekte vor allem hinsichtlich der räumlichen Ausdehnung – sei es der Apparate oder gar der Areale ihrer Einrichtungen – groß waren und sind, sind es einige geisteswissenschaftliche zum Beispiel wie hier altertumswissenschaftliche Unternehmungen (unter anderem) hinsichtlich ihrer zeitlichen Ausdehnung. 53 Und wenn es stimmt, dass Zeit ebenso wie Raum auf Konstruktionsprinzipien beruht, die sich untersuchen lassen, und wir es nicht nur mit unterschiedlichen Raumkonzepten und Raumvorstellungen zu tun haben, dann könnten wir es auch mit unterschiedlichen Zeitkonzeptionen bzw. Konzepten von Zeitlichkeit zu tun haben. 54 Warum sollten beispielswei52 Vgl. Bröckling, „Projektwelten. Anatomie einer Vergesellschaftungsform“. 53 Zur Definition naturwissenschaftlicher Großforschung siehe: Helmuth Trischler, „Einleitung in Kap. II. Big Science – Big Machines: Großforschung als Projektwissenschaft“, in: Gerhard A. Ritter/Margit Szöllösi-Janze/Helmuth Trischler (Hg.), Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in den „langen“ siebziger Jahren, (XII), Frankfurt a. M./New York 1999, S. 157–162; Rüdiger vom Bruch, „Big Science – Small Questions? Zur Historiographie der Großforschung“, in: Gerhard A. Ritter/ Margit Szöllösi-Janze/Helmuth Trischler (Hg.), Antworten auf die amerikanische Herausforderung. Forschung in der Bundesrepublik und der DDR in den „langen“ siebziger Jahren, (XII), Frankfurt a. M./New York 1999 (=Studien zur Geschichte der deutschen Großforschungseinrichtungen); Peter Galison, “The Many Faces of Big Science”, in: Peter Galison/ Bruce Hevly (Hg.), Big science. The growth of large-scale research, Stanford 1992, S. 1–17. 54 Zeitlichkeit wird derzeit gleich an zwei größeren Forschungsprojekten untersucht, einmal in einer Forschergruppe in Erfurt und einmal im Rahmen eines Doktorandenkollegs des Konstanzer Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“: Erfurter RaumZeitForschung, http://www.uni-erfurt.de/geschichte/dfg-saopaulo/erfurter-raumzeit-forschung, [gesehen am 28. 2. 2013] und das Rahmenkonzept – Exzellenzcluster „Kulturelle Grundlagen von Integration“, http://www.exc16.de/cms/zeitkulturen-rahmenkonzept.html?&L=%20omcu lxatdxlnr, [gesehen am 28. 2. 2013]. Auf dem Historikertag 2012 in Mainz beschäftigte sich zudem ein Panel mit Zeitpolitik und Zeitforschung. Vgl.: Lisa Dittrich, HT 2012: Zeitpolitik und Zeitgeschichte – H-Soz-u-Kult/Tagungsberichte, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ tagungsberichte/id=4517, [gesehen am 28. 2. 2013].
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se verschiedene Disziplinen nicht nur unterschiedliche Methoden anwenden, sondern auch in unterschiedlichen Zeithorizonten und Zeitrhythmen agieren, weil ihr Gebiet es erfordert oder es eine entsprechende Tradition gibt, die auf einer Pfadabhängigkeit beruht? Diese Fragen können hier allerdings nicht weiter verfolgt werden. Es hieße dann aber für die altertumswissenschaftlichen Projekte, dass sie neben großen Datenmengen auch „lange Dauer“ und vergleichsweise große Zeitspannen integrierten, was sie gegenüber dem Mainstream abhebt und zuweilen weltfremd erscheinen lässt. Ansonsten bliebe nur das von Georg Stanitzek aufgestellte Verdikt, dass das Scheitern in Form eines immer wieder Verlängerns und eines unausgesprochenen Aufdauerstellens Projekte zu Großprojekten mache: „Dabei ist die Möglichkeit des Nichtzustandekommens, des Scheiterns, des Aufgebens immer mit im Visier; sonst handelte es sich nicht um Projekte, sondern, muß man wohl heute hinzufügen, um gerade aufgrund ihres Scheiterns zur Unsterblichkeit verurteilte ‚Großprojekte‘, die zu kritisieren dann heißt, den Projektcharakter einzuklagen, den sie abstreifen möchten“. 55
Netzwerke und Großprojekte passen hervorragend zusammen. Es scheint sogar so, dass gerade informelle Netzwerke als „Struktur der Gesellschaft (…) den Austausch zwischen größeren Formationen wie Organisationen oder Milieus unterstützen.“ 56 Ich habe an der Entstehungsgeschichte des Corpus Inscriptionum Latinarum ein Beispiel der Wissenschaftsorganisation um die Mitte des 19. Jahrhunderts betrachtet, eines zwar mit der Berliner Akademie und insbesondere der Person Theodor Mommsens verknüpften, aber bei konkreter Betrachtung eigentlich viel stärker kollaborativen und zudem transnationalen Projekts. Die Vorbereitung und die Diskussion um den Zuschnitt verlief in zwei Kommunikationsebenen, die ich mit informell und formell zu unterscheiden versucht habe. Beide Ebenen haben zahlreiche Überschneidungen und Berührungspunkte und gehören auch notwendig zusammen. Es ist auch gerade ein ausgewogenes Verhältnis beider Kommunikationsebenen, in der keine von beiden die andere gänzlich umgehen kann, die zum Erfolg von Projekten beträgt. Liefe alles nur formal ab, würden sich Verfahren unendlich hinziehen, da jeder Schritt und jede Entscheidung formalisiert werden müsste. Auch lassen sich auf einer informellen Ebene relativ schnell bestimmte Ideen und Pläne ventilieren und zirkulieren, ohne dass es einer Entscheidung bedarf, die verbindlich sein muss. Informelles Forschungshandeln, dem immer auch eine Informationskomponente beigemischt ist, scheint in solchen Fällen und im Kontext des besprochenen Zeitraums üblich gewesen zu sein. Dass wir es für diesen Zeitraum so detailliert nachvollziehen können, liegt womöglich auch an der medialen Situation, in der briefliche Kommunikation, die einzige Möglichkeit war, über große Entfernungen zu kommunizieren. Die Aufbewahrungstradition gelehrter Briefwechsel wie Verwaltungskorrespondenz der Ministerien hat uns die Kommunikationen überliefert. Im Zeitalter des Telefons wird diese Einsicht für
55 Stanitzek, „Der Projektmacher“, S. 138. 56 Albert Müller/Wolfgang Neurath, „Editorial. Themenheft: Historische Netzwerkanalysen“, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 (2012), S. 5–15.
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die historische Forschung zunehmend schwieriger, ganz zu schweigen von der Problematik im digitalen Zeitalter. 57 Die Ironie der oben beschriebenen Geschichte um die Entstehung des C. I. L. liegt letztlich darin begründet, dass im Zuge der Konzentrierung auf eine Auseinandersetzung auf zwei konkurrierende Konzeptionen, die sich auf die Bezugspunkte Mommsen und Zumpt (jun.) fokussierten, dazu geführt hat, dass zur Lösung des Projektproblems, der Grundsatz der Akademie, keine Unternehmungen zu fördern, deren Ende nicht abzusehen seien und die – mit anderen Worten – als Projekte nicht ausführbar seien, gegenüber der Lösung des Problems, wie das einmal begonnene Projekt zu irgendeinem Ergebnis geführt werden könne, in den Hintergrund trat und – wenn man so will – sich die Großprojekte scheinbar ohne Absicht oder durch die Hintertür eingeschlichen haben.
57 Vgl. Kiran Klaus Patel, „Zeitgeschichte im digitalen Zeitalter. Neue und alte Herausforderungen“, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59/3 (2011), S. 331–351.
OBJEKTIVITÄT, BESTANDSAUFNAHME, TERRITORIUM Galizische Quelleneditionen und ihre Verortung zwischen wissenschaftlichen und ideologischen Ansprüchen Jan Surman Die Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica zog in Zentraleuropa einen Prozess der Herausgabe von Quelleneditionen nach sich, der bisher in der Wissenschaftsgeschichte und in der Geschichte der Geschichtswissenschaften wenig beachtet worden ist. Die Arbeiten an diesen Editionen bewegten sich zwischen staatsnationaler und ethnischer Traditionsbildung 1 und waren in dieser Hinsicht nicht unbedingt von einer narrativen Geschichtsschreibung entfernt. Besonders wenig Berücksichtigung erfuhr die Genese solcher Unternehmungen auch im östlichen Teil der Habsburgermonarchie, in Galizien. Mit Ausnahme der Publikationen zu den Trägern der Quellenforschung wich die Untersuchung der Quelleneditionen selbst stets der Analyse der narrativen Geschichtsschreibung, die in den vergangenen Jahren vor allem die Frage der Nationalismen anvisierte. 2 Demgegenüber widmet sich dieser Beitrag den Quelleneditionen, die aus Galizien hervorgingen, einer Region, die für die Geschichte der Wissenschaften des 19. Jahrhunderts in vielfacher Hinsicht interessante Aspekte zu bieten hat. Erstens wurde Galizien – mit territorialen Veränderungen – erst vergleichsweise spät ein Teil des habsburgischen Reiches, und zwar mit den Teilungen Polen-Litauens zwischen 1772 und 1792; Krakau wurde überhaupt erst 1846 inkorporiert. Mit Lemberg (L’viv, Lwów) und Krakau (Kraków) befanden sich in diesem Gebiet zwei Universitätsstädte, die Mittelpunkte eines zunehmend dichten Netzwerks wissenschaftlicher Infrastruktur wurden und durchaus überregionale Wissenschaftszentren darstellten. Zweitens bildete Galizien aber auch einen plurikulturel1
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Siehe die zahlreichen Hinweise auf die politische Rolle der Quelleneditionen im Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde zur Beförderung einer Gesamtausgabe der Quellenschriften deutscher Geschichten des Mittelalters 1 (1820); siehe auch Horst Fuhrmann, „Sind eben alles Menschen gewesen“. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996, S. 15. Siehe bspw. Monika Baár, Historians and Nationalism. East-Central Europe in the Nineteenth Century, New York 2010; Stefan Berger/Chris Lorenz (Hg.), Nationalizing the Past. Historians as Nation Builders in Modern Europe, Basingstoke 2010.
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len und plurilinguellen Raum, 3 der zur Arena mehrerer Identitätsbildungsprozesse wurde – sowohl für die auf den Staat ausgerichteten „Altösterreicher“ 4 als auch für die auf die Nation fokussierenden Polen, Ruthenen/Ukrainer und Juden (Zionisten). In allen vier Fällen bildete die Geschichtsschreibung einen wesentlichen Teil des Prozesses, denn sie schuf einen konzeptionellen Rahmen, in dem sich die jeweiligen Individuen, Gruppen und Schichten verorteten; in dieser Hinsicht ist auch die besondere Bezugnahme auf die antike und frühneuzeitliche Geschichte relevant. 5 In diesem Beitrag stehen vor allem die galizisch-polnischen und galizisch-ruthenischen Quellensammlungsunternehmen im Vordergrund; gleichwohl bedürfen diese über die vorliegende Untersuchung hinaus noch einer wesentlichen Erweiterung, da alle Kommunikationsräume deutlich über die Grenzen der Provinz hinausreichten und sich an die in anderen Teilen Zentraleuropas herrschenden Diskurse anschlossen. Die folgenden Ausführungen verstehen sich jedoch nicht als parallele Nacherzählungen der Geschichte der polnischen, ruthenischen/ukrainischen und teils auch österreichischen Quelleneditionsprojekte. Vielmehr wird hier eine durchaus auf Galizien konzentrierte Untersuchung geboten, in der nach der Funktion gefragt wird, die den Quellensammlungen innerhalb der Geschichtsnarrative eingeräumt wurde. Die Quellenedition wird dabei als sehr differenzierte literarisch-wissenschaftliche Gattung auf drei Ebenen untersucht. Nach einem kurzen Blick auf das historische Gebiet der Habsburgermonarchie und Galiziens, wird zunächst die Frage behandelt, was als das Besondere an den Quelleneditionen gesehen wurde. Es geht hier nicht nur darum, welcher Stellenwert der Objektivität und Unparteilichkeit eingeräumt wurde, sondern vielmehr darum, mit welchen Strategien die Objektivität und Unparteilichkeit der Quellen argumentiert und hervorgehoben wurden; denn immerhin handelte es sich dabei um einen mit der Objektivierung in den Naturwissenschaften durchaus vergleichbaren Prozess. 6 In weiterer Folge wird die Frage nach dem territorialen Anspruch gestellt, und zwar sowohl im Hinblick auf die Herkunft der Quellen als auch auf die Idee des Raumes, der durch die Quellen vermittelt wurde. Die den habsburgischen Staat transzendierenden polnischen und ruthenischen/ukrainischen Unternehmen orientierten sich gleichwohl an keinen festen Grenzen, und sie definierten auch keine kollektiven Subjekte der Geschichte. Vielmehr spiegelt die Quellenforschung wider, wie diese Aspekte im Lauf des Jahrhunderts permanent neu ausverhandelt wurden. 3 4 5 6
Moritz Csáky, „Zentraleuropa – ein komplexer Kommunikationsraum. Festrede an der Ludwig-Maximilians-Universität München“, in: www.schroubek- fonds.volkskunde.uni-muenchen.de/foerderprogramme/preise/preis_2011/csaky/index.html, [abgerufen am 22. 10. 2012]. Hierzu Alois Kernbauer, „Konzeptionen der Österreich-Geschichtsschreibung 1848–1938“, in: Herwig Ebner/Paul W. Roth (Hg.), Forschungen zur Geschichte des Alpen-Adria-Raumes. Festgabe für em.o. Univ.-Prof. Dr. Othmar Pickl zum 70. Geburtstag, Graz 1997, S. 255–273. Baár, Historians and Nationalism, bes. S. 95f. und S. 167–196. Lorraine Daston/Peter Galison, Objektivität, Frankfurt a. M. 2007.
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I. Galizien als Schnittstelle geschichtswissenschaftlicher Projekte Die mit der Annexion Galiziens 1772 einhergehenden Rechtfertigungsstrategien enthielten die historische und narrative Verortung der Provinz im habsburgischen Staatsgebilde. 7 Von den grundsätzlichen Koordinaten der Habsburgidee war es vor allem die Konfession, die die römisch/griechisch-katholische Provinz mit dem Staat verband, obwohl die Frage, ob die Orthodoxie als Bedrohung für die Galizier gesehen wurde, oder ob das Zarenreich angesichts seiner liberalen Haltung nicht doch vielleicht eine attraktivere Option darstellte, schwer zu beantworten ist. 8 Als ebenso schwierig gestaltete sich die rechtliche Frage, da Galizien nicht durch Heiratspolitik an die Monarchie gelangt war; die staatsnahen Geschichtsforscher unterstrichen zwar die ungarischen Ansprüche, die auf das 13. Jahrhundert zurückgingen, doch wurden diese Argumente nicht zum fixen Bestandteil des habsburgischen Geschichtsnarratives. 9 Die historiographischen Versuche, Galizien in das historische Habsburger-Kontinuum einzuschreiben, fielen demnach differenziert aus: Die politisch-individualistischen historischen Darstellungen Galiziens etwa von Johann Christian Engel (1792/3) oder Ludwig Albrecht Gebhardi (1804), die Galiziens Zugehörigkeit zum habsburgischen „Kontinuum“ auf Quellenbasis zu rechtfertigen versuchten, übten kaum Einfluss auf die Wahrnehmung der Provinz innerhalb ihrer Grenzen aus und gerieten im Laufe des Jahrhunderts in Vergessenheit. 10 Die etatistisch ausgerichtete habsburgische Gesamtstaatshistoriographie, auf die später genauer einzugehen ist, befand sich in der gesamten Monarchie spätestens Mitte 19. Jahrhunderts im Rückzug. 11 Es ist sehr bezeichnend, dass etwa in der Reihe der Quelleneditionen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften keine auf Galizien bezüglichen Quellen berücksichtigt wurden, und nur vereinzelt sind Bände etwa zu Böhmen oder Venedig anzutreffen
Larry Wolff, The Idea of Galicia: History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford 2010. 8 Überlegungen hierzu bietet Maciej Janowski, Narodziny inteligencji (1750–1831) [Die Geburt der Intelligetsja (1750–1831)], Warszawa 2008. 9 Anna Veronika Wendland, „Galizien: Westen des Ostens, Osten des Westens“, in: Österreichische Osthefte 42 (2000), Heft 3 und 4, S. 389–421, hier S. 395. 10 Johann Christian Engel, Geschichte von Halitsch und Wladimir bis 1772, verbunden mit einer Auseinandersetzung der österreichisch-ungarischen Besitzrechte auf diese Königreiche. Nach russischen und polnischen Jahrbüchern bearbeitet, 2 Bde., Wien 1792/1793; Ludwig Albrecht Gebhardi, Geschichte der Königreiche Galizien, Lodomirien und Rothreussen, Pesth 1804. 11 Vgl. Франц Леандер Филлафер [Franz Leander Fillafer]/Ян Сурман [Jan Surman], “Габсбургский девятнадцатый век?” [Habsburgisches 19. Jahrhundert?], in: Е. А. Вишленкова [Elena Vyšlenkova]/Д. А. Сдвижков [Denys Sdvižkov] (Hg.), Изобретение века. Семантика времени XIX столетия в России и Европе [Die Erfindung des Jahrhunderts. Die Semantik zur Zeit des 19. Jahrhunderts in Russland und Europa], Moskau 2013, S. 209– 238. 7
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– und dies, obwohl noch 1848 gesonderte Reihen wie die Fontes Rerum Polonicarum oder Italicarum erwogen worden waren. 12 Das schwindende Interesse an einem tatsächlich gesamtstaatlichen Narrativ zugunsten der Gleichberechtigung differenter, sprachlich kodierter Vergangenheits- und Gegenwartsbilder 13 war vor allem für Galizien von Bedeutung: Die Provinz fand sich nämlich an der Schnittstelle mehrerer Geschichtsprojekte, namentlich polnisch-territorialer (orientiert an Polen-Litauen und der natio), polnisch-volksorientierter, ruthenischer, ukrainischer und russischer (russophiler) Herkunft. 14 Das Fehlen habsburgischer Bezüge innerhalb der galizischen Quellenforschung ist auch durch die Absenz der Zeitgeschichte zu erklären, die erst dann an Bedeutung gewann, wenn die nationalen Verquickungen das intellektuelle Leben in der Monarchie prägten. 15 Das polnische historische Narrativ schloss die Grenzen Polen-Litauens und damit auch Galizien als festen Bestandteil mit ein. Dies schlug sich auch in der Quellenforschung nieder, die überhaupt erst von galizisch-polnischen Historikern institutionalisiert wurde. Erste Editionen entstanden allerdings andernorts – etwa im damals preußischen Kórnik/Kurnik (Tytus Działyński) und in dem in das Russländische Imperium inkorporierten Warschau (Julian Ursyn Niemcewicz). Der erste Protagonist, ein Großadeliger und Gründer der bekannten Bibliothek in Kórnik (Biblioteka Kórnicka), führte ab 1822 Gespräche mit dem prominenten
12 Joseph Chmel, „Vorbericht“, in: ders. (Hg.), Urkunden zur Geschichte von Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Triest, Istrien, Tirol: aus den Jahren 1246–1300; aus den Originalen des Kais(erlich) Kön(inglichen) Haus- Hof- und Staats-Archives, Wien 1849, S. V– XXXI. 13 Siehe bspw. Peter Stachel, „Die Harmonisierung national-politischer Gegensätze und die Anfänge der Ethnographie in Österreich“, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, IV: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 323– 367; Regina Bendix, “Ethnology, Cultural Reification, and the Dynamics of Difference in the Kronprinzenwerk”, in: Nancy M. Wingfield (Hg.), Creating the Other. Ethnic Conflict and Nationalism in Habsburg Central Europe, New York/Oxford 2003, S. 149–166. 14 Die Unterschiede zwischen den Projekten thematisiert Magdalena Lindmajer, “Pojęcie ‘państwa’ i ‘narodu’ w polskiej myśli historycznej i społeczno-politycznej 1780–1890. Wprowadzenie do problematyki, Cz. 1” [Die Begriffe „Staat” und „Nation” in polnisch-historischer und sozial-historischer Hinsicht 1780–1890. Einführung in die Problematik, Teil 1], in: Słupskie Studia Historyczne 12 (2006), S. 75–86; Magdalena Lindmajer, “Rozumienie ‘państwa’ i ‘narodu’ w polskiej myśli historycznej i społeczno-politycznej w latach 1780– 1890. Wprowadzenie do problematyki. (Cz. 2)“ [Das Verständnis von „Staat” und „Nation” in polnisch-historischer und sozial-historischer Gedanke 1780–1890. Einführung in die Problematik (Teil 2.)], in: Słupskie Studia Historyczne 13 (2007), S. 247–255; Burkhard Wöller, Ruthenische Historiographie in Ostgalizien (1848–1918). Eine Diskursanalyse russophiler und ukrainophiler Geschichtsmythen, Saarbrücken 2009. 15 Bezeichnenderweise war kein Galizier in die 1896 gegründete Kommission für Neuere Geschichte Österreichs eingeladen, wohl aber die Tschechen Antonín Rezek und Jaroslav Goll; erst 1916 wurde ein Professor der Universität Lemberg, Bronisław Dembiński, nominiert. Fritz Fellner, „... ein wahrhaft patriotisches Werk“. Die Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 1897–2000, Wien/Köln/Weimar 2001, S. 45, 72, 84 und S. 252–254.
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Historiker Joachim Lelewel über die Herausgabe litauischer Statute. Bevor diese erschienen, wurden auch die Memoiren von Jan Kiliński, einem Kommandanten des Kościuszko-Aufstandes von 1794, der sich gegen die polnischen Teilungen richtete, publiziert. 16 Damit war die deutliche politische Absicht verbunden, „den innerhalb der Gesellschaft im Geheimen angesammelten Zündstoff zu vermehren.“ 17 Die Herausgabe der Statute und die späteren Editionen der königlichen Dokumente zeugen allerdings auch von der Konzentration auf Polen-Litauen als einen multikulturellen Staat: Die Statuty wurden in Transkription aus dem Ruthenischen 18 unter Beigabe einiger lateinischer Dokumente abgedruckt. Dem multikulturellen Vergangenheitsideal zeigte sich auch der Politiker und Historiker Julian Ursyn Niemcewicz verpflichtet, der ab 1822 eine Reihe an historischen Memoiren „früherer Polen“ – damit war Polen-Litauen gemeint – herausgab. Hierin waren allerdings sämtliche Dokumente in polnischer Übersetzung abgedruckt, was als Zeichen für deren politische Bedeutung, aber auch für den gelehrten Dilettantismus interpretiert werden kann; auch bei Działyński wurde ein gewisser „editorischer Aristokratismus“ 19 festgestellt. Niemcewicz organisierte allerdings umgehend die Verlegung der Herausgabe nach Galizien selbst, und der sechste Band seiner Serie wurde bereits am Lemberger Ossolineum bearbeitet. Das Ossolineum könnte man durchaus als erstes professionelles Geschichtsforschungsinstitut in Galizien bezeichnen. Es war als private Bibliothek von Graf Joseph Maximilian (Józef Maksymilian) Ossoliński im Jahr 1817 gegründet worden und entwickelte sich ab 1827 zu einer Forschungsinstitution ersten Ranges in Galizien, mit einem eigenen Verlagshaus und einer stattlichen Handschriftensammlung. 20 Ossolińskis Interesse an Quellenforschung war auch über die galizischen Grenzen hinaus bekannt: Er war einer der drei Akteure aus der Habsburgermonarchie, die zur Mitgliedschaft in der die Monumenta Germaniae organisierenden Gesellschaft für ältere deutsche Geschichts-
16 Edyta Bątkiewicz, Tytus Działyński (1796–1861): Polityk. Społecznik. Twórca kultury [Tytus Działyński (1796–1861): Politiker, ehrenamtlich Tätiger, Kulturgründer], unveröffentlichte Dissertation am Institut für Geschichte, Adam Mickiewicz Universität Posen, 2011, S. 198– 200. 17 Alodia Kawecka-Gryczowa, Pierwsze wydawnictwo Bibljoteki Kórnickiej: 1829–1929 [Die erste Publikation der Bibliothek in Kórnik: 1829–1929], Poznań 1929, S. 5. 18 Hier: Schriftsprache im Großfürstentum Litauen, nicht zu verwechseln mit den Galizischen Ruthenischen. 19 Helena Chłopocka, “Edytorstwo naukowe Tytusa Działyńskiego” [Wissenschaftliche Editionen von Tytus Działyński], in: Pamiętniki Biblioteki Kórnickiej 12 (1976), S. 65–91, hier S. 65 (Übersetzung JS). 20 Vgl. Lucjan Puchalski, „Vom Parnassus Ossolinius zur Nationalschatzkammer. Die Ossolińskische Bibliothek und ihr Gedächtniserbe,“ in: Moritz Csáky/Peter Stachel (Hg.), Speicher des Gedächtnisses. Bibliotheken, Museen, Archive, II: Die Erfindung des Ursprungs – Die Systematisierung der Zeit, Wien 2001, S. 57–80.
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kunde eingeladen wurden. 21 Die Herausgabe von Quellen sah er demnach auch als Hauptaufgabe seines Institutes an. Bei den dortigen Editionen wurden zwar vor allem polnische Schriftsteller berücksichtigt, aber die ersten Projekte waren der Quellenforschung gewidmet. Unter Direktor Konstanty Słotwiński (1831–1834) wurden sogar Quellen zur Geschichte des Novemberaufstandes von 1830/31 vorbereitet, sozusagen als „Memoiren der polnischen Nation“; der Abdruck erfolgte allerdings nur auszugsweise und war illegal. Diese Tatsache und der Druck ebenso illegaler weiterer polnisch-patriotischer Schriften führten 1834 schließlich zur Festnahme Słotwińskis. Das Ossolineum wurde unter polizeiliche Aufsicht gestellt und konnte seine volle Tätigkeit erst nach 1848 wieder aufnehmen. Nach 1848 wurde hier unter dem Direktor August Bielowski weiter Quellenforschung betrieben, obwohl der Kurator Maurycy Dzieduszycki eigentlich andere Schwerpunkte setzte. Dennoch erschien etwa Bielowskis großes Werk, die Monumenta Poloniæ Historica. 22 Schrittweise monopolisierte allerdings die Krakauer Akademie der Wissenschaften und Künste (Akademia Umiejętności) die Quellenforschung, wohingegen sich das Ossolineum auf die Editionen älterer Literatur und die Übersetzungen klassischer Schriftsteller konzentrierte. Die Akademie der Wissenschaften und Künste wurde auf Grundlage der Krakauer Wissenschaftlichen Gesellschaft (Krakowskie Towarzystwo Naukowe) gegründet und übernahm ab 1872 die federführende Rolle in der geschichtswissenschaftlichen Forschung; bereits nach 1848 wurden zudem auch Editionsprojekte im Umfeld der Jagiellonen-Universität vorbereitet. Zunächst handelte es sich dabei um die von Antoni Helcel herausgegebenen Monumente altpolnischen Rechts (Starodawne prawa polskiego pomniki) und die 1859 von der Krakauer Wissenschaftlichen Gesellschaft initiierte Herausgabe der Schriften von Ioannes Dlugossius (Jan Długosz). Der erste Fall geht auf eine Eigeninitiative zurück, die an den – ab 1847 in Warschau herausgegebenen – Codex Diplomaticus Poloniæ anschloss und dann auch innerhalb der Akademie fortgesetzt wurde. Die Długosz-Ausgabe war bereits als institutionelles Großprojekt konzipiert, an dem sich mehrere Gelehrte und Einrichtungen beteiligten. 23 Die Historische Kommission der Krakauer Akademie, die die Quellenforschung der
21 Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae Historica, Hannover 1921, S. 99f. Neben Ossoliński waren auch Jernej Kopitar und Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar von Metternich eingeladen; aber nur der letztere durfte beitreten, da es den Habsburgischen Untertanen verboten war, „privaten“ Institutionen im Ausland beizutreten. 22 Monumenta Poloniae Historica = Pomniki dziejowe Polski, 6 Bde., Lwów 1864–1893. Zu den Konflikten zwischen Bielowski und Dzieduszycki vgl. Mieczysław Gałyga, “Z działalności Augusta Bielowskiego w Ossolineum 1851–1864” [Zur Tätigkeit des August Bielowski am Ossolineum 1851–1864], in: Janusz Albin (Hg.), Z dziejów Zakładu Narodowego imienia Ossolińskich. Studia i materiały [Zur Geschichte der Wissenschaftlichen Einrichtung Ossolineum], Wrocław 1978, S. 63–121. 23 Józef Łepkowski, Sprawozdanie z czynności Wydawnictwa dzieł Długosza [Bericht über die Tätigkeit der Herausgabe von Długoszs Werken], Kraków 1859.
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Provinz schließlich beinahe monopolisierte, unterhielt im Rahmen der Autonomisierung Galiziens mehrere Quellenprojekte zur Erforschung der Vergangenheit. Die ruthenische Quellenforschung blieb ebenfalls sehr stark am Ausland orientiert, allerdings natürlich an den russländischen Unternehmungen. GalizischRuthenische Quellenarbeiten wurden nach 1848 vor allem durch ein klerikales, kulturelles Bildungszentrum, das Stauropigische Institut (Stavropihijs’kyj Instyut), organisiert, aber auch durch den wohl wichtigsten Quellenforscher Ostgaliziens, den griechisch-katholischen Priester Antonin Petruševyč, der mehrere Chroniken (Letopisy) edierte. Durch seinen Amateurstatus, aber auch durch seine prononciert moskaufreundliche Einstellung wurde er von der kulturell zunehmend dominierenden Narodovtsy ins Abseits gestellt. 24 Allerdings wurden auch einige ruthenische Quellen in die „polnischen“ Sammlungen inkludiert, worauf später noch zurückzukommen ist. Mit der Gründung der wissenschaftlichen Ševčenko-Gesellschaft im Jahr 1873 und vor allem mit der Leitungsübernahme durch den aus Kiew stammenden Historiker Mychailo Hruševs‘kyj im Jahr 1897, begann für die galizisch-ruthenische Quellenforschung eine neue Periode. Der Grund lag nicht in einem nun vorhandenen institutionellen Rahmen für die Großprojekte, sondern auch in einer Änderung der politischen Ausrichtung in Richtung Ukrainophilie. 25 Hruševs‘kyj war Schüler von Volodymyr Antonovyč, einem Professor für Geschichte an der Universität Kiew, der ab den späten 1850er Jahren zu einem der führenden Vertreter der ukrainophilen Richtung im Russländischen Imperium wurde. Antonovyč war auch als Mitarbeiter der Kiewer Archeographischen Kommission (Kiїvs’ka archeografična komisija, auch Tymčasova komisija dlja rozgljadu davnich aktiv), einer 1843 initiierten Einrichtung für die Herausgabe der Quellen zur Geschichte der Kiewer Region, Wolhyniens und Podoliens. 26 Dabei handelte es sich um ein 24 Андрій Королько [Andrij Korol’ko], “Громадсько-політична та наукова діяльність Антонія Петрушевича в історіографії другої половини ХІХ – початку ХХ ст.” [Die öffentliche, politische und wissenschaftliche Tätigkeit des Antonin Petruševyč in der Historiographie von der zweiten Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts], in: Галичина. Всеукраїнський науковий і культурно-просвітній краєзнавчий часопис 12-13 (2006–2007), Online: http://www.nbuv.gov.ua/portal/Soc_Gum/Nikp/2006_2007/Korolko. pdf, [abgerufen am 22. 10. 2012]. 25 Eine Zusammenstellung der Publikationen der Gesellschaft bietet Володимир Гнатюк [Volodymyr Hnatjuk], Наукове товариство імені Шевченка (з нагоди 50-ліття його заснування 1873–1923) [Die wissenschaftliche Ševčenko-Gesellschaft (zum 50-jährigen Jubiläum ihrer Gründung 1873–1923)], Львів 1923, S. 148–152; siehe auch Любомир Винар [Ljubomyr Vynar], Михайло Грушевський і Наукове товариство ім. Шевченка, 1892– 1934 [Mychailo Hruševs‘kyj und die wissenschaftliche Ševčenko-Gesellschaft 1892–1934], Нью-Йорк/Львів/Дрогобич 2006. 26 Олег Журба [Oleg Žurba], Київська археографічна комісія 1843–1921. Нарис історії і діяльності [Die Kiewer Archeographische Komission 1843–1921. Skizze ihrer Geschichte und Tätigkeit], Київ 1993; Нина Пономаренко [Nina Ponomarenko] (Hg.), 120 лет учреждения губернских ученых архивных комиссий в России: материалы научной конференции, Рязань, 22–23 сентября 2004 года [120 Jahre Gründungsgeschichte der behördlichen wissenschaftlichen Archiv-Kommissionen in Russland: Materialien der wissen-
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imperiales russländisches Projekt, das einer verflochtenen, pro-staatlichen Vision von Geschichte dienen sollte: 1836 wurde die erste Archeographische Kommission in St. Petersburg gegründet, es folgten weitere Kommissionen in Tiflis (Tbilissi), (1863) und Vilnius (1864). Durch die Herausgabe lokaler Quellen trug die Kommission allerdings sehr viel zur Entwicklung eines separaten kleinrussischen Bewusstseins bei, zumal ab 1876 (Ems Ukaz) historische Quellen die einzigen Textsorten waren, die in ukrainischer Sprache gedruckt werden durften. Antonovyč unterrichtete auch sogenannte „kleinrussische“ Quellenkunde, 27 die von Hruševs‘kyj wohl besucht wurde, denn seine Projekte sprechen für die Kontinuität zu der von Antonovyč skizzierten Auswahl der Quellenbestände. Die Übernahme der Leitung der Ševčenko-Gesellschaft durch Hruševs‘kyj und die Gründung der Archeographischen Kommission (1896),28 die erstmals die Herausgabe ruthenisch-ukrainischer Geschichtsquellen institutionalisierte, ist durchaus in einer Linie mit der „dokumentarischen“ 29 Kiewer Schule zu sehen. Die später noch zu erörternde Kooperation reichte von personellen Überschneidungen bis zu symbolischen Themenübernahmen. 30 Im Unterschied zur Kommission der Krakauer Akademie, die auf eine Reihe professioneller, ausgebildeter Forscher zählen konnte, stellten in der 1897 umgestalteten historischen Sektion der Ševčenko-Gesellschaft Juristen die Mehrheit; mit Hruševs‘kyj und Stepan Tomašivs‘kyj waren nur zwei der ordentlichen Mitglieder ausgebildete Historiker. 31 Die hier genannten Entwicklungslinien „nationaler“ Quellenforschung und ihre transimperialen Bezüge sollen allerdings nicht verdecken, dass die galizische Historiographie sehr wohl auch pro-habsburgische Züge aufwies. Es ließe sich durch-
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schaftlichen Konferenz in Rjazan‘, 22–23. September 2004], Рязань 2007: mit 69 Bänden, war das Archiv Jugo-Zapadnoj Rosii die wichtigste Sammlung der Kommission. Володимир Антонович [Volodymyr Antonovyč], Лекції з джерелознавства [Vorlesungen über Quellenkunde], Острог 2003. Зінаїда Зайцева [Zinaïda Zajceva], “Наукові комісії НТШ: статус та напрями діяльності до початку першої світової війни (1896–1914 рр)” [Die wissenschaftlichen Kommissionen der Ševčenko-Gesellschaft: Stellenwert und Ausrichtung ihrer Tätigkeit bis zum Anfang des Ersten Weltkriegs (1896–1914)], in: Проблеми історії України ХІХ – початку ХХ ст. 6 (2003), S. 270–279, hier S. 270. Andreas Kappeler, Russland und die Ukraine: verflochtene Biographien und Geschichten, Wien 2012, bes. S. 216–225. Мирон Капраль [Myron Kapral‘], “Археографічна діяльність Михайла Грушевського у львівський період життя (1894–1914)” [Die archeographische Tätigkeit des Mychajlo Hruševs’kyj während seiner der ersten Lebensphase (1894–1914)], in: Ярослав Грицак [Jaroslav Hrycak]/Ярослав Дашкевич [Jaroslav Daškevyč] (Hg.), Михайло Грушевський і Львівська історична школа [Mychajlo Hruševs’kyj und die Lemberger Historische Schule], Нью-Йорк/Львів 1995, S. 166–174, hier S. 173. Іван Крип'якевич [Ivan Kryp’jakevyč], “Історично-філософічна секція НТШ під керівництвом Михайла Грушевського у 1894–1913 роках” [Historisch-philologische Sektion der Ševčenko-Gesellschaft unter der Führung von Mychajlo Hruševs’kyj in den Jahren 1894–1913], in: Записки Наукового товариства імені Шевченка. Праці Історикофілософської секції 122/1990 [1938–1939], S. 392–411, hier S. 395.
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aus fragen, ob die Konzentration auf die jeweiligen Quellen überhaupt tatsächlich staatsdesintegrativ war. Schließlich handelte sich ja um Projekte, die kaum bis ins 18. Jahrhundert reichten, und die eigentliche Integration stützte sich auf ganz andere Eckpfeiler wie Mentalität, wirtschaftliche Verflechtung und das negative Bild Russlands. Es ist allerdings doch bemerkenswert, dass es keine Projekte gab, die eine historische Verflechtung Galiziens mit der Monarchie explizit unterstrichen hätten. Die unmittelbar nach 1848 erschienene Konzeptionen einer Gesamtstaatsgeschichte der Monarchie von Joseph Alexander Helfert 32 oder Václav Vladivoj Tomek 33 berücksichtigten zwar Böhmen und Mähren, hielten aber quasi „vor den Toren“ Galiziens. Der Einfluss Wiens darf aber nicht unterschätzt werden; die ersten Arbeiten zu „Polens“ Mittelalter stammten immerhin von dem bekannten Historiker Heinrich Zeißberg, der von 1861 bis 1871 als Professor in Lemberg gewirkt hatte, und dessen Schüler Anatol Lewicki und Aleksander Semkowicz Lehrstühle in Krakau und Lemberg erhielten. 34 Zudem gab es durchaus auch staatlich ausgerichtete Darstellungen, die aus Galizien selbst stammten: Ignacy Chodynicki stellte etwa in seiner vierbändigen Geschichte Europas (1817–1818) 35 ein Entwicklungsmodell dar, das im galizischen Diskurs der konservativen Historiker der Krakauer Schule noch häufig anzutreffen war: Dem politischen Chaos in Polen-Litauen, der Übermacht des Adels (Szlachta) und der außenpolitischen Schwäche des Landes wurde die zivilisatorische Entwicklung unter stabilen monarchischen Regierungsverhältnissen entgegengehalten. In ähnlicher Weise sprachen auch die Werke des ruthenischen Historikers Denys Zubryc‘kyjs aus den 1840er Jahren von der Befreiung Galiziens durch Maria Theresia, die nach vier Jahren der Anarchie in Polen-Litauen erfolgt sei. 36 Bezeichnenderweise stand der erste Historiker, der die Lehrkanzel für Geschichte Österreichs in Krakau nach 1848 innehatte, Antoni Walewski, auch auf der etatis-
32 Joseph Alexander von Helfert, Über Nationalgeschichte und den gegenwärtigen Stand ihrer Pflege in Oesterreich, Prag 1853. 33 Wenzel Wladiwoj Tomek, „Über die Behandlung der oesterreichischen Gesammtgeschichte“, in: Zeitschrift für Oesterreichische Gymnasien 4 (1853), S. 824–833; siehe auch den Beitrag von Miloš Řezník in diesem Band. 34 Adolf Pawiński, “Wstęp do przekładu” [Einleitung zur Übersetzung], in: Heinrich Zeissberg, Dziejopisarstwo polskie wieków średnich [Die polnische Geschichtsschreibung im Mittelalter], Warszawa 1877, S. IX–XIII, hier S. X; Ludwik Finkel/Stanisław Starzyński, Historya Uniwersytetu Lwowskiego [Geschichte der Universität Lemberg], Lwów 1894, (II), S. 331; Mirosław Franić, „Österreichisch-Polnische Historikerbegegnungen“, in: Józef Buszko/Walter Leitsch (Hg.) Österreich–Polen: 1000 Jahre Beziehungen, Kraków 1996, S. 509–525. 35 Ignacy Chodynicki, Dzieie historyczno-polityczne Europy i innych części świata na początku wieku XIXgo [Historisch-Politische Geschichte Europas und anderer Teile der Welt zu Beginn des 19. Jahrhunderts], 6 Bde., Lwów 1817–1820. 36 Vgl. seine Chronik Lembergs, Eintrag für 1771/1772: Dionizy Zubrzycki, Kronika Miasta Lwowa [Chronik der Stadt Lemberg], Lwów 1844, S. 488.
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tisch konservativ-katholischen Seite. 37 Seine Forschungen riefen sehr gegensätzliche Reaktionen hervor. Vor allem seine Loyalitätszusagen, zuerst gegenüber dem Haus Habsburg und Preußen, in der Folge auch gegenüber dem Russländischen Imperium, um die Zivilisation und Kultur vor der „Anarchie“ und „Revolution“ zu retten, wurden sehr konträr aufgenommen. Nach der Publikation seines Werkes Philosophie der polnischen Geschichte und die Methode ihrer Bearbeitung (Filozofija dziejów polskich i metoda ich badania) wurde er sogar tätlich angegriffen, sein Haus wurde angeblich beschossen und die Historikerzunft wandte sich von ihm ab. Seine Forschungen zu Johann II. Kasimir (1609–1672) und Johann III. Sobieski wurden aber dennoch hoch gelobt. 38 Bei der Wahl des Vorsitzenden der Historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften und Künste in Krakau 1874, in der Walewski gegen Szujski verlor, stellte der Neugewählte einen Vergleich an, der für die Entwicklung der Quellenforschung in Galizien bezeichnend ist: Walewski sei zwar ein politischer Schriftsteller und seine Ideen seien umstritten, aber als Historiker sei er bedeutend, vor allem dank seiner breit angelegten Quellenforschungen – auch wenn er aus den Quellen falsche Schlussfolgerungen ziehe. 39 II. Zum Stellenwert der Quellen in der galizischen Forschung Der vorangehende Hinweis, der den Dualismus von Narrativ und Quelle als Domäne des Schriftstellers bzw. des Historikers unterstreicht, führt zur Frage nach der Bedeutung, die der Quellenforschung in Galizien beigemessen wurde. In den rezenten Forschungen zur Historiographie wurden, wie eingangs erwähnt, Quelleneditionen selten beachtet. Wesentlich mehr Bedeutung wurde der historischen Darstellung beigemessen; die Quelleneditionen galten als handwerkliche Tätigkeit ohne populäre Wirkung auf die Entstehung kollektiver Identitäten. Ein kurzer Blick in die historischen Zeitschriften des ausgehenden 19. Jahrhunderts beweist jedoch das Gegenteil, denn Quelleneditionen oder Quellenbe37 Vgl. Krzysztof Baczkowski, “W służbie dworu Habsburskiego. Antoni Walewski (1805– 1876)” [Im Dienste des habsburgischen Hofes. Antoni Walewski (1805–1876)], in: Zeszyty Naukowe Uniwersytetu Jagiellońskiego. Prace Historyczne 132 (2005), S. 99–108. 38 Józef Szujski, “Mowa na pogrzebie Antoniego Walewskiego prof. Uniw. Jagiell., Członka Akademii” [Rede beim Begräbnis von Antoni Walewski, Professor der Jagiellonen Universität und Mitglied der Akademie], in: Rocznik Zarządu Akademii Umiejętności w Krakowie 1877, S. 137–142, v. a. S. 139. 39 “Sprawa zmian władz komisji w związku z wydaniem przez Akademie Umiejętności pracy Antoniego Walewskiego ‘Dzieje Bezkrólewia’, Kraków 6. XI 1875” [Zur Frage der Veränderung in der Leitung der Kommission zur Herausgabe der Arbeit von Antoni Walewski ‚Die Geschichte des Interregnums‘ durch die Akademie der Wissenschaften und Künste, Krakau, 6. November 1875], abgedruckt in: Danuta Rederowa (Hg.) Materiały do działalności komisji historycznej Akademii Umiejętności w Krakowie w latach 1873–1918: wybór źródeł [Materialien zur Tätigkeit der historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften und Künste 1873–1918: Quellen], Warszawa 1974, S. 28f.
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schreibungen sind dort häufiger anzutreffen als Darstellungen und bildeten den Schwerpunkt der Publikationen sämtlicher historischer Institutionen. Die Historische Kommission der Akademie der Wissenschaften und Künste hatte ja die Sammlung und Edition der Quellen als primäre Aufgabe in den Satzungen festgeschrieben. 40 Der für seine mehrbändige Geschichte der Ukraine-Rus’ bekannte Hruševs‘kyj betrieb in seinen ersten Jahren in Galizien und als Haupt der Ševčenko-Gesellschaft extensive Quellenstudien und unternahm einige Archivreisen; die Aufbereitung der Quellen nannte er als wichtigsten Aspekt für die Tätigkeit der Gesellschaft. 41 Auch bei den Versammlungen polnischer Historiker in Galizien stand Quellenarbeit als Hauptpunkt auf der Agenda – die erste im Jahr 1880 veranstaltete Versammlung zu Ehren des Chronisten Jan Długosz war sogar ausschließlich dem Thema Quellenforschung gewidmet. Die Bedeutung der Quelleneditionen in der akademisch-historischen Forschung Galiziens erklärt sich durchaus aus deren generellem Objektivitätsanspruch. Bereits die ersten Quelleneditionen nach 1848 postulierten Objektivität und Neutralität von Quellen. Die Vorstellung, dass Quellen zeigen konnten, „wie es gewesen“ sei, trat auf mehreren Ebenen zutage und wurde auch in politischem Sinn verwendet. So stellte zum Beispiel im Jahr 1880 Aleksander Semkowicz fest, dass durch die Herausgabe der Quellen zur Geschichte Lembergs das wahre Bild des polnischen Einflusses auf Rothruthenien ersichtlich werde, der in konventionellen Geschichtsdarstellungen leichter weggewischt werden könne. 42 Gerade bei der Frage nach dem kulturellen Einfluss findet sich dieses Argument mehrfach wieder, sowohl von polnischer als auch von ruthenischer Seite, wobei die publizierten Quellen die Beständigkeit und Bedeutung ruthenischer Kultur gegenüber den polnischen imperialen Ansprüchen seit der Annexion Rothreußens unterstreichen sollten. 43 Diese „Objektivierung der Vergangenheit“ wurde mit editorischen Grundsätzen untermauert. Im Jahr 1877 wurden solche Richtlinien für die Quelleneditionen der Akademie der Wissenschaften in Krakau festgelegt; für die Šev-
40 “Regulamin Komisyi Historycznej Akademii Umiejętności w Krakowie, Kraków, 13 VII 1888” [Geschäftsordnung der historischen Kommission der Akademie der Wissenschaften und Künste in Krakau, Krakau, 13. 7. 1888], abgedruckt in: Rederowa (Hg.), Materiały, S. 108–112. 41 Капраль, “Археографічна” (vgl. Anm. 30). 42 Aleksander Semkowicz, “O potrzebie i sposobie wydania ważniejszych źródeł znajdujących się w miejskiem Archiwum we Lwowie” [Über die Notwendigkeit der Herausgabe der wichtigsten Quellen im Stadtarchiv Lemberg], in: Pamiętnik Drugiego Zjazdu Historyków Polskich we Lwowie. T. 1, Referaty [Memorandum der zweiten Versammlung Polnischer Historiker in Lemberg, Teil 1, Vorträge], Lwów 1890, S. 1–12. 43 Vgl. Burkhard Wöller, „Zivilisierungsmission oder Fremdherrschaft? Die Annexion Rotreussens unter Kasimir III. im kolonialistischen Diskurs polnischer und ruthenischer Historiker im österreichischen Galizien“, in: Historyka. Studia metodologiczne 43 (2012), S. 157–175.
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čenko-Gesellschaft dürfte eine solche Festlegung gefehlt haben. 44 Die Quellen sollten jedenfalls ohne Veränderungen abgedruckt werden, die Kommentare – bzw. bei größeren Quellen die Einleitung – sollten in der Sprache der Quelle verfasst sein und nur eine kurze Einführung, nicht aber eine ausführliche Auslegung anbieten. Die Sprache sollte modernisiert werden, ohne allerdings die Eigentümlichkeiten der Originalsprache zu verdecken (z. B. sch = sz, alie = ale; ähnliches wurde für Modernisierung moderner Sprachen und Latein postuliert). Dies galt für die Editionen, die nicht aus den Originalen erstellt wurden, sondern auf kopialen Überlieferungen basierten, da diese häufig ohnedies bereits Interpretationen waren und daher der Ursprungstext nicht ersichtlich war. Originalquellen waren ohne derartige Veränderungen abzudrucken. 45 Übersetzungen mussten ebenso wie Transkriptionen aus dem kyrillischen Alphabet ausschließlich in Verbindung mit dem Originaltext gedruckt werden, niemals durften sie diesen ersetzen. Die Unterscheidung zwischen Original und Kopie oder Abschrift, die jeweils unterschiedlich zu behandeln waren, scheint hier ganz wesentlich, zeugt sie doch von einem sich professionalisierenden Zugang. So wurde in diesem Rahmen auch an älteren Editionen bemängelt, dass diese keine Angaben zu den Überlieferungsorten des gebotenen Quellenmaterials gemacht hatten, und dass keine Kollationierungen mit anderen überlieferten Varianten vorgenommen worden waren. 46 Die Analyse der Änderungen in der Abschrift war wichtig, um den Prozess der Objektivierung sichtbar zu machen, wie er auch in den Naturwissenschaften bedeutsam war. Der „echte“ Ursprung einer Quelle wurde deren (oft späterer) Vervielfältigung gegenüber gestellt, die automatisch als eine Entfernung von der ursprünglichen Echtheit und Wahrheit gesehen wurde; durch den Vergleich zwischen den unterschiedlichen Varianten einer Quelle trachtete man nach der Rekonstruktion des Herstellungsprozesses von Texten, um wieder zu deren Ursprung gelangen zu können, der stets untersetzbar blieb. Die „technische Reproduzierbarkeit“ der Quelle, um es in den Worten Walter Benjamins auszudrücken, 47 die etwa durch Faksimile-Ausgaben auch die Eigentümlichkeiten der Schrift wiedergeben konnte und damit durchaus im Sinne des hier skizzierten Objektivierungsprozesses denkbar gewesen wäre 48 stand dagegen in Galizien bis 44 Die von der Ševčenko-Gesellschaft herausgegebenen Quellen folgten mehrheitlich den hier beschriebenen Grundsätzen; der große Unterschied war, dass die Paratexte in Ukrainisch geschrieben wurden; die Sprache der Texte wurde allerdings nicht modernisiert. 45 Wincenty Zakrzewski, “Jak należałoby wydawać zbiory listów i aktów historycznych z w. XVI lub późniejszych” [Wie die Sammlungen der Briefe und historischen Akten des 16. Jahrhunderts oder ältere Akten herauszugeben sind], in: Rozprawy Wydziału HistorycznoFilozoficznego Akademii Umiejętności 7 (1877), S. I–XXX, v. a. S. XV–XVII; zur Diskussion vgl. Rederowa (Hg.), Materiały, S. 39–41. 46 Über die Kritik an Działyński berichtet: Chłopocka, “Edytorstwo naukowe Tytusa Działyńskiego”, S. 65–91. 47 Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Detlev Schöttker (Hg.), Medienästhetische Schriften, Frankfurt a. M. 2002, S. 351–383. 48 Siehe die Faksimile-Ausgaben in: Karl Adolf Constantin Ritter von Höfler/Pavel Jozef Šafařík (Hg.), Glagolitische Fragmente, Prag 1857.
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zum Ersten Weltkrieg nicht zur Debatte; damit musste der Übergang zur „mechanischen Objektivität“ 49 bis zur gegenwärtigen digitalen Wende warten. Somit wurde diese historische Objektivität durchaus innerhalb der Disziplin selbst verhandelt, denn deren Konventionen schlossen bspw. die Sprachwissenschaftler, für die die Form der Buchstaben durchaus von Bedeutung war, aus. Die Konzentration auf die handwerklich-sprachliche Seite der Quelleneditionen ist kein Zufall, denn die literarische Verfasstheit der Texte hing mit der Mannigfaltigkeit der Textgattungen zusammen, die in der Quellenforschung generell verwendet wurden. Auch die galizischen Institutionen inkorporierten eine breite Palette an Quellengattungen in ihre Projekte: Urkunden, Akten, Statuten, Codices, Chroniken wie auch belletristische und epistolarische Texte fanden sich allesamt stets unter Berücksichtigung jeweils derselben Editionsrichtlinien. Die Ševčenko-Gesellschaft gab zum Beispiel zwei Reihen heraus, die Fontes historiae Ukraino-Russicae (Žerela do istorії Ukraїny-Rusi; 11 Bde., 1895–1924) und die Monumenta linguae necnon litterarum ukraino-russicarum (ruthenicarum) (Pamjatky ukraїns’ko-rus’koї movy i literatury, 8. Bde., 1896–1912). Auch in den Mitteilungen der Gesellschaft (Zapysky Naukovogo Tovayrystva imeni Ševčenka) waren die Quellensorten durchwegs gemischt. Die Gesellschaft, so die Einleitung zum ersten Band der Fontes, gebe Quellen heraus, die dem „breiten Verständnis des Wortes ‚Geschichte‘“ 50 folgten, und somit enthielten die Editionen „chronikhafte, juridische, historisch-literarische, historisch-statistische und historisch-ethnographische Erinnerungen, zur Geschichte der Kirche, der Bildung, der materiellen Kultur etc., für das ganze Territorium und die gesamte Vergangenheit der ukrainisch-ruthenischen Nation [ukraïns‘ko-rus’kogo narodu]“. 51
Dieses „breite“ Verständnis – in ukrainischer und russischer Sprache als Archeografija (aus dem griechischen: archaios = altertümlich, grapho = schreiben) bezeichnet – ist auch heute noch üblich, und es berücksichtigt die Edition alter Quellen und Schriften, ungeachtet deren Gattung. Der Unterschied zur Quellenkunde bzw. Quellenforschung, die als Džerelozvavstvo (džerelo = Quelle, znavstvo = Kunde) eine eigene Bezeichnung führte, wird durch die Rolle der Memoiren deutlich, die in den ukrainischen Quellensammlungen punktuell kulturelle Akzente setzten und diese narrativ unterstützten.52 Auch die 1852 konzipierten und ab 1864 veröffentlichten Monumenta Poloniæ verwendeten bewusst gemischte Quel49 Daston/Galison, Objektivität. 50 Михайло Грушевський [Mychailo Hruševs‘kyj], [„Einleitung“], in: ders. (Hg.), Описи королівщин в землях руських XVI віку. Люстрації земель Галицької і Перемиської = Descriptiones bonorum regalium in terris ukraino-russis saeculo XVI confectae. Vol. I, lustrationes terra Haliciensis et Peremisliensis a 1565–6 continens, opera Michaelis Hruševśkyj editum, Львів 1895, S. I–VIII, hier S. I (Übersetzung JS). 51 Ebd. 52 Т. В. Поліщук [T. B. Poliščuk], “Публікація мемуарів на сторінках часопису ‘Киевская старина’: проблематика, систематизація, аналіз” [Veröffentlichungen von Memoiren in der Zeitschrift ‘Kyevskaja Staryna’: Problematik, Systematisierung, Analyse], in: Гілея: науковий вісник Збірник наукових праць 19 (2009), S. 72–80.
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len, um die Aspekte der Kontinuität herauszustreichen. 53 Erst ab den 1880er Jahren wurden im Rahmen der institutionellen und akademischen Differenzierung die historischen Quellen in eigenen Serien und durch andere Kommissionen herausgegeben als die literarischen Texte. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei die zunächst enge Affinität zwischen dem philologischen und historischen „Monument“, die gerade in den sich neudefinierenden Narrativen zum Vorschein kam und die im Zuge der Professionalisierung zunehmend lockerer wurde. Die in dem erwähnten Konzept anvisierte Vergegenständlichung der Erinnerung durch das „Monument“ (oder durch das in der historiographischen Benennung oft verwendete Äquivalent „Denkmal“ (Pomnik/ Pam‘jatnyk) ist wörtlich zu nehmen: Auf der Suche nach den Spuren vergangener Größe und verflossener Kultur, die erneuert werden sollten, bildeten die Quelleneditionen Wegweiser und Bezugspunkte der Erinnerung, die in Abgrenzung zur narrativen Geschichtsschreibung durch vermeintliche Objektivität und Neutralität im positivistischen Sinn „Wahrheitsproduzenten“ sein sollten. Dabei traten unterschiedliche Ebenen hervor: so etwa die staatliche Ebene, die Kulturorte wie Klöster oder Städte mit einbezog und somit eine Kulturdichte und die zivilisatorische Entwicklung verbildlichte; dies galt etwa für die deutsch- und polnischsprachigen Editionen, wobei letztere vor allem im Kontext des territorialen Nationalismus zu sehen sind. In der ruthenisch-ukrainischen Geschichtsforschung rekurrierten die Quellen auf die Kosaken oder den Chmelnyzkyj-Aufstand und auf sprachliche „Denkmäler“ und schufen auf diese Weise erwünschte Kontinuitäten. Auch die Interdependenz dieser Narrative wirkte sich durchaus intensiv auf die Inhalte aus: Die ruthenische Historiographie „füllte“ den vom polnischen Schriftsteller Henryk Sienkiewicz literarisch dargestellten „leeren Raum“ der Ukraine mit Quellen, die das Gegenteil zeigten, und wirkte somit gegen das unter polnisch-sprachigen Zentraleuropäern einflussreiche Bild, welches das Ende des von der Zivilisation berührten Raumes mit der Grenze Polens gleichsetzte. 54 Zugleich zeichneten sich die Quelleneditionen durch zeitliche Fragmentierung aus – so etwa die Grod 55 – und Landgerichtsakten (bis 1914, 22 Bde.) aus dem Lembergischen Landesarchiv, die durch das galizische Landesgubernium herausgegeben wurden, und in denen nur die Dokumente der „polnischen“ Periode berücksichtigt wurden, wie der Titel ausdrücklich formulierte. 56 Obschon damit auch eine Kom-
53 August Bielowski, “Przedmowa” [Vorwort], in: ders. (Hg.), Monumenta Poloniæ historica = Pomniki dziejowe Polski, Lwów 1864, S. XI–XXXII. 54 Vgl. Krzysztof Trybuś u. a. (Hg.), Kresy-Dekonstrukcja [Kresy-Dekonstruktion], Poznań 2007. 55 Mittelalterliche Stadt, hier Stadt im Allgemeinen. 56 Grod- und Landgerichtsakten aus der Zeit der Republik Polen; Akta grodzkie i ziemskie z czasów Rzeczypospolitej Polskiej z archiwum tak zwanego bernardyńskiego we Lwowie w skutek fundacyi śp. Alexandra hr. Stadnickiego. Wyd. staraniem Galicyjskiego Wydziału Krajowego [Grod- und Landgerichtsakten aus der Zeit der Republik Polen aus dem sogenann-
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petenzverteilung signalisiert hätte werden können, muss diese im Hinblick auf die Hegemonieverhältnisse sofort relativiert werden – denn schließlich ging es vornehmlich darum, kulturelle Kontinuitäten und den zivilisatorischen Einfluss in einem kulturell durchmischten Gebiet quellenmäßig zu festigen und zu unterstreichen. Der Anspruch auf Objektivierung durch Quelleneditionen bei gleichzeitig durchaus politisch motivierter Quellenselektion erzeugte ähnliche Spannungen wie bei den Geschichtsdarstellungen; zwar kann derzeit noch kein direktes Beispiel aus Galizien genannt werden, jedoch gab es einen vergleichbaren Konflikt, der den galizischen Geschichtsforschern bekannt gewesen sein dürfte, im Russländischen Imperium: Dabei handelte sich um den zweiten Band des Archivs des Süd-westlichen Russlands (Archiv Jugo-Zapadnoj Rossii), in dem gemäß polnischen Journalen und Zeitschriften ein negatives Bild Polens vor 1772 gezeichnet worden war. Ebenfalls kritisiert wurde Nikolaj Dmytryevyč Ivanyšev, Leiter der Kiewer Archeographischen Kommission, dessen Reise nach Warschau, so die polnischen Kritiker, dazu diente, eine geeignete Auswahl an Quellen zu finden, die das negative Bild Polens untermauerten. Diese Kritik war so vehement, dass die Kiewer Kommission in einem langen Schreiben darauf reagierte und Teile der Einführung und der Kommentare zu den Quellen in polnischer Sprache abdruckte. 57 Dass die russländischen, kaiserlichen archeographischen Kommissionen aber sehr wohl ein Instrument der Politik waren, zeigt die Sammlung Documents servant a éclaircir l’histoire des provinces occidentales de la Russie ainsi que leurs rapports avec la Russie et la Pologne. 58 Dieses 1865 veröffentlichte Werk war eine eindeutige politische Reaktion auf den polnischen Januaraufstand von 1863/64, da der russländische Zar selbst der Kommission befahl, ein „wahres“ Bild von den Verhältnissen zwischen Polen, Ukrainern, Weißrussen und Litauern im Verlauf der Geschichte nachzuzeichnen. Es ging darum, „das durch Polen verursachte Leiden der west-russischen Nation und seine Bemühungen zur Vereinigung mit Russland“ zu verdeutlichen 59 – und damit der polnischen Sichtweise des ten Bernardiner Archiv, dank der Stiftung im seligen Andenken an Alexander Graf Stadnicki, hg. dank des Galizischen Landesguberniums], 25 Bde., Lwów 1868–1935. 57 Odpowiedź Kijowskiej Archeograficznej Komissji na zarzuty niektórych gazet i dzienników z powodu wydania II-ej części Archiwum Południowo-Zachodniej Rossji z dołączeniem w polskim przekładzie wstępnych artykułów powyższego wydania oraz treści aktów do objaśnienia takowych służących [Die Antwort der Archeographischen Kommission in Kiew auf die Vorwürfe einiger Zeitungen und Zeitschriften wegen der Herausgabe des zweiten Teils des Archivs des Süd-Westlichen Russlands, samt einer Beilage aus einführenden Artikeln dieser Edition und den Kommentaren in polnischer Übersetzung], Kijów 1861. 58 Margarita Chartanowicz, “Z dziejów wydawnictwa Petersburskiej Komisji Archeograficznej, Dokumienty, objasniajučšie istoriju Zapadno-Russkogo Kraja i jego otnošenia k Rossii i k Pol’še” [Zur Geschichte der Editionen der Archeographischen Kommission in Petersburg, Dokumente zur Geschichte Westrusslands und seiner Beziehung zu Russland und Polen], übersetzt und bearbeitet von Leszek Zasztowt, in: Kwartalnik Historii Nauki i Techniki 37 (1992), Heft 3, S. 93–100. 59 Ebd., S. 95 (Übersetzung JS).
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Aufstandes eine eigene, quellengestützte Erzählung entgegen zu halten; demnach fanden sich mehrfach Begriffe wie „wahr“, „voll“ und „untendenziös“ etc. in der Korrespondenz zwischen den Auftraggebern und den Historikern der Kommission. Der Band umfasste schließlich 650 Seiten und erschien innerhalb von zwei Jahren nach der Initiierung mit hoher finanzieller Unterstützung durch das Ministerium. Er enthielt eine französische Übersetzung aller Dokumente, der Einleitung und der Kommentare, die in Kooperation mit dem Ministerium des Äußeren angefertigt wurde. 60 Nicht weniger umstritten waren die Quellen zur Zeitgeschichte; auf die Konsequenzen etwa der Herausgabe der Materialien zur Geschichte des Novemberaufstandes von 1830/31, die direkt nach dessen Zerschlagung im Ossolineum vorbereitet wurde, wurde bereits hingewiesen. Ebenso kontrovers verliefen die Auseinandersetzungen über die Auswahl der Materialien zur Geschichte des Januaraufstandes, auch die Abfassung der Kommentare wurde heftig diskutiert, obwohl man 20 Jahre verstreichen ließ, bevor die Arbeiten zur Sammlung begannen. 61 In diesem Fall handelte es sich bereits um eine Diskussion, die zwischen den polnisch-sprachigen Historikern und Veteranen geführt wurde. Wenngleich also die Auswahl der „unparteiischen“ Quellen sehr wohl politisch und durchaus parteiisch motiviert zu sehen ist, waren andere Argumentationen der jeweiligen Editoren und Herausgeber sehr ähnlich und den positivistischen Grundsätzen der Geschichtsschreibung entsprechend. Ganz bezeichnend ist hier die erwähnte Kiewer Sammlung aus dem Jahr 1865, die mehrheitlich polnisch-sprachige Dokumente enthielt; nur die Einleitung und die Kommentare waren in russischer Sprache verfasst. Dies machte die Quellensammlungen zu einem transkulturellen Medium, denn abgesehen vom editionstechnischen Apparat konnte manche Quelle sich in unterschiedliche kulturelle, politische und nationale Kontexte einordnen lassen. Freilich kam dabei in Zeiten der Konstruktion nationaler Narrative den „Paratexten“ entscheidende Bedeutung zu. III. Quellensammlung und Archiv Die Funktion der objektiven Rekonstruktion von Vergangenheit, die den Quelleneditionen beigemessen wurde, stellte eine wichtige, aber nicht deren einzige Funktion dar. Eine weitere Aufgabe, die mit dem epistemischen Ansatz durchaus verknüpft ist, bildete die Bereitstellung eines zugängliche(re)n Kernbestandes an jeweils relevanten Quellen, auf den sich Historiker und Amateure in ihren Forschungen beziehen sollten und mussten. In diesem Sinne erwähnte Michał
60 Ebd. 61 Lidia Michalska-Bracha, Między pamięcią a historiografią. Lwowskie debaty o powstaniu styczniowym 1864–1939 [Zwischen Erinnerung und Historiographie. Lemberger Debatten über den Januaraufstand 1864–1939], Kielce 2011.
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Bobrzyński in der zusammenfassenden Rede für den Długosz-Kongress, dass es die primäre Aufgabe der Historiker sei, die Archive durchzuforsten: „(…) auf Grundlage dieser Suche werden wir einen klaren und scharfen Blick auf das Quellenmaterial werfen können (…) und erst dann wird es möglich sein, zu beurteilen und zu gewichten, was am wichtigsten ist und zuerst eine kritische Bearbeitung verdient“. 62
Die zuvor erwähnte Quellensammlung aus dem Lemberger Landesarchiv für die Grod- und Landgerichstakten war eine der eher seltenen Editionen im 19. Jahrhundert, die keiner extensiven Archivrecherche bedurften, da sie auf einem lediglich an einem Ort vorhandenen Quellenkorpus beruhte. Häufiger mussten Quellen aus unterschiedlichen Archiven zusammengetragen werden, was im Hinblick auf die variable politische Aufteilung Zentraleuropas oft aufwändige Auslandsaufenthalte bedeutete. Bereits den ersten wissenschaftlichen Editionen des Kustos des Ossolineums, August Bielowski, gingen mehrmonatige Archivaufenthalte und Austausche von Manuskripten voraus. 63 Die 1859 begonnenen, erwähnten Długosz-Editionen stellten ein wirklich beeindruckendes Sammelprogramm vor, da es galt, alle verfügbaren Versionen seiner Schriften zu finden, um sie zu vergleichen und somit „dem“ Original näher zu kommen. 64 Dabei zeigten sich die Bibliotheken und Privatpersonen, die durch lateinisch verfasste Aufrufe zur Kooperation eingeladen wurden, durchaus hilfsbereit, worüber das Editionskomitee ausführlich berichtete: Abschriften, Bibliographien und Anmerkungen zu unterschiedlichen Varianten wurden eingesandt; die in Petersburg ansässige russländische Nationalbibliothek sammelte sogar selbst Informationen von anderen Einrichtungen in der Stadt. Die Krakauer Historische Kommission hatte von Beginn an in ihrem Programm den archivarischen Aspekt einkalkuliert und einen beachtlichen Teil der Finanzen für Archivreisen ausgegeben. 65 Im Jahr 1900 wurde ein weiteres großes Sammelprogramm besprochen, als die Versammlung polnischer Historiker beschloss, dass das (zu errichtende) Jüdische Museum Kasimirs des Grossen in Kra-
62 Michał Bobrzyński/Michał Sokołowski (Hg.), Pamiętnik pierwszego Zjazdu Historycznego Polskiego imienia Jana Długosza odbytego w Krakowie w czterechsetną rocznicę jego śmierci [Memorandum der ersten polnischen Historikerversammlung zu Ehren von Jan Długosz in Krakau zum 400. Jahrestag seines Todes], Kraków 1881, S. 144 (Übersetzung JS). 63 Helena Chłopocka, “Korespondencja Augusta Bielowskiego z Biblioteką Kórnicką w latach 1845 do 1876” [Die Korrespondenz des August Bielowski mit der Bibliothek in Kórnik 1845–1876], in: Pamiętniki biblioteki kórnickiej 16 (1980), S. 163–233. 64 Łepkowski, Sprawozdanie z czynności. 65 “Regulamin Komisyi Historycznej …”, v. a. §1, § 2a, b, c, gedruckt bei Rederowa (Hg.), Materiały. Die Komission hatte auch die Kontrolle über die galizischen Archive: Bogumila Schnaydrowa, “Opieka Akademii Umiejętności nad archiwami galicyjskimi” [Die Pflege galizischer Archive durch die Krakauer Akademie der Wissenschaften und Künste], in: Rocznik Biblioteki Polskiej Akademii Nauk w Krakowie 28 (1972), S. 21–36.
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kau (Żydowskie Muzeum im. Kazimierza Wielkiego w Krakowie) Quellen zur jüdischen Geschichte Polens sammeln und herausgeben sollte. 66 Durch die Konzentration auf Mittelalter und frühe Neuzeit bzw. auf PolenLitauen als Staatsgebilde wuchs die Anzahl an relevanten Archiven, aus denen Quellen bezogen und herausgegeben werden sollten. Neben der Durchsicht der Archive in Posen, Vilnius oder Warschau, wurden Reisen nach Wien, Ungarn, Schweden, Russland und Frankreich unternommen und auch eine ständige Mission im Vatikan 67 eingerichtet. Der Aktenpublikation gingen extensive Recherchen voraus, vor allem, wenn Akten zur Königswahl, zur Außenpolitik oder Korrespondenzen herausgegeben wurden. Im Archiv der Akademie in Krakau und teilweise auch im Ossolineum wurden Abschriften der als wichtig befundenen Quellen aufbewahrt, die künftigen Editionen als Vergleichs- oder Quellenmaterial zur Verfügung stehen sollten. Auch wurden eigene Aktenverzeichnisse zur Geschichte Polen-Litauens aus unterschiedlichen Archiven angefertigt. 68 Mychailo Hruševs‘kyj, der die Archeographische Kommission in Lemberg ins Leben rief, verfolgte mit der Geschichte Ukraine-Rus’ und der damit verbundenen ukrainischen Nationalgeschichte ein Projekt, das sich nicht innerhalb der Grenzen Galiziens bewegte, und in dem mit lokalen Quellen nicht gearbeitet werden konnte. Auch wurde der Quellensammlung von Beginn an eine ergänzende Rolle für das in Kiew herausgegebene Archiv Jugo-Zapadnoj Rossii zugeschrieben; da nämlich einige Akten wegen der Zensur im Russländischen Reich nicht herausgegeben werden durften, sollten diese in Lemberg erscheinen. Dabei wurden in Berücksichtigung der Geschichte Kiews oft außergalizische Schwerpunkte gesetzt (Galizien-Wolhynien, Chmelnitzki-Aufstand, Kosaken), die mit herrschaftlichen Güterverzeichnissen (Lustracje) des 16. Jahrhunderts den größten Bestand der Quellenserie bildeten. Es gab auch einige sichtbare Überschneidungen – in Band 12 der ersten Serie (1904) des Archivs wurden etwa auch Dokumente zum Lemberger Stauropigischen Institut veröffentlicht, die für die galizischen Moskauphilen gedacht waren, 69 abgesehen davon machte die bis 1907 geltende Zensur 66 Pamiętnik III Zjazdu Historyków Polskich w Krakowie urządzonego przez Towarzystwo Historyczne Lwowskie w dniach 4. 5 i 6 czerwca 1900. T. 2, Protokoły obrad [Memoranden der 3. Versammlung polnischer Historiker in Krakau, vorbereitet durch die Historische Gesellschaft in Lemberg vom 4..–6. Juni 1900, II: Sitzungsprotokolle], Kraków 1901, S. 47f. 67 Siehe die Berichte der Reisen bzw. Verhandlungen mit den jeweiligen Archiven und Institutionen in: Rederowa (Hg.), Materiały. 68 Siehe die Listen in: Archiwum Nauki PAN i PAU, Krakau, Sign. PAU W II 36. 69 Архив Юго-западной России, издаваемый временной комиссией для разбора древних актов Ч. 1. Т. 11. Акты, относящиеся к истории Львовского Ставропигиального братства. Протоколы и другие деловые бумаги Львовского Ставропигиального братства (1599–1702 гг.) [Archiv Jugo-Zapadnoj Rossii, hg. von der Gubernialskommission zur Herausgabe alter Akten, Teil 1, XI: Akten zur Geschichte der Lemberger Stavropigial’ne Bratsvo (1599–1702)], Киев 1904; Ч. 1. Т. 12. Акты, относящиеся к истории Львовского Ставропигиального братства (продолжение). Протоколы, деловые бумаги и переписка Львовского Ставропигиального братства, Protokolle und geschäftsdokumente von Lemberger Stravropigial´ne Bratsvo (1586–1881 гг.) [Teil 1, XII:
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des Ukrainischen im Zarenreich (durch den genannten Emser-Erlass) gegenseitige Bezüge schwieriger. Einige räumlich auf Galizien ausgreifende Beiträge erschienen auch in der Zeitschrift Die Kiewer alte Zeit (Kiewskaja Starina), einer historischen Zeitschrift, die von 1882 bis 1906 in Kiew herausgegeben wurde. (Hierin schrieben u. a. Hruševs‘kyj und Ivan Franko). 70 Ein Beispiel für eine direkte Bearbeitung galizischer Quellen durch galizisch-ukrainische Historiker bietet die Herausgabe der Memoiren von Iakob Markevyč, deren drei Bände in Kiew von der Kiewskaja Starina publiziert wurden; der vierte Band erschien in Lemberg in der Serie der Ševčenko-Gesellschaft. Umgekehrt wurden in Lemberg auch Quellen aus der Ungarischen Rus‘ (Uhors’ka Rus‘), der heute so genannten Karpatenukraine (damals Nordöstliches Oberungarn/Észak-Keleti Felvidék), vor allem von Stepan Tomašivskyj, bearbeitet. Am Beispiel der institutionalisierten Quelleneditionen wird vor allem auch das Fehlen von solchen Projekten sichtbar, die auf lokalen oder regionalen Quellen beruhten, um etwa die Geschichte eines Klosters zu zeigen. Derartige Vorhaben entstanden mehrheitlich durch Privatinitiativen oder entwickelten sich an den jeweiligen Institutionen, wie bspw. am zuvor erwähnten Lemberger Archiv, am Stauropigianum mit seinen Bänden 71 und an der Jagiellonen-Universität mit ihrem Album studiosorum Universitatis Cracoviensis (1887–1956), oder auch im privaten Archiv der Prinzen Lubartowicz-Sanguszko in Slawuta [Archiwum książąt Lubartowiczów Sanguszków w Sławucie], aus dem von 1887 bis 1910 sieben Bände erschienen. Die Mehrzahl der Projekte war aber sowohl großräumig als auch langfristig angelegt. Mit der Editionsarbeit wurden also einerseits die im 19. Jahrhundert aufkeimenden „nationalen Narrative“ archiviert; andererseits wurde damit auch quasi ein „mobiles Archiv“ geschaffen, das nicht nur den Forschern schwer zugängliche
Akten zur Geschichte der Lemberger Stavropigial’ne Bratsvo (Fortsetzung). Protokolle, Geschäftsdokumente und Korrespondenzen der Lemberger Stavropigial’ne Bratsvo (1586– 1881)], Киев 1904. Im gleichen Jahr erschien auch eine andere Quellensammlung zum Institut, ebenfalls in Kiew: Алексей Крыловский, Львовское Ставропигiальное Братство [Lemberger Stavropigial’ne Bratsvo], Киев 1904. 70 Марина Палієнко [Maryna Palijenko], “Киевская старина” у громадському та науковому житті України (кінець ХІХ – початок ХХ ст.) [‘Kiewskaja Staryna’ im sozialen und akademischen Leben der Ukraine (Ende des 19.–Anfang des 20. Jahrhunderts)], Київ 2005. Ab 1907, nach der Aufhebung des Emser-Erlasses hieß die Zeitschrift Ukraina, 1908 wurde sie zu den Mitteilungen der Ukrainischen Wissenschaftlichen Gesellschaft. 71 Володимир Милькович [Volodymyr Mil‘kovyč], Monumenta Confraternitatis Stauropigianae Leopoliensis, 2. Bde., Leopolis 1895/1898; Kristiniacki I. Leopoli, Иван Кристиняцкий [Ivan Krystynjackyj], Diplomata Statutaria a Patriarchis Orientalibus Confraternitati Stauropigianae Leopoliensia 1586–1592 data, cum aliis litteris coaevis et appendice, Leopolis 1895. Weiteres zu den Quellen und deren Herausgabe findet sich bei: Юлия Шустова [Julija Šustova], Документы Львовского Успенского Ставропигийского братства (1586—1788): источниковедческое исследование [Dokumente der Uspenske Stavropigial’ne Bratsvo (1586–1788): Eine Quellenstudie], Москва 2009, S. 11–24.
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Materialien zur Verfügung stellte, sondern auch solchen Personen, die als nichtprofessionelle Historiker die Archive nicht heranzogen. Diese Funktion wurde in mehreren Einleitungen explizit angesprochen. Im Gegensatz zum Archiv als Ort, dessen wissenschaftliche Funktion etwa zur selben Zeit ausverhandelt und institutionalisiert wurde 72 – konnten und können jedoch für die Edition die Bearbeitungsperiode und der geographische Rahmen eigens bestimmt werden. Eine Quellensammlung fungiert(e) gleichsam als flexibler Gedächtnisspeicher, auf den immer zurückgegriffen werden kann und der politische und räumliche Grenzen überschreitet – im Gegensatz zum ortsgebundenen Archiv oder auch zum zensurgesteuerten Narrativ. 73 Die Krakauer Kommission sandte ihre Quellensammlungen an zahlreiche polnisch-sprachige wissenschaftliche Vereine in drei Kaiserbzw. Königreichen und an ausländische Akademien. Der internationale Wert der Sammlungen wurde von Anfang an thematisiert, denn immerhin sollten sie auch den nicht-polnischsprachigen Historikern erlauben, sich selbst ein Bild von der Vergangenheit zu machen. Daher sollten die Kommentare zu den Quellen in deren Sprache und wenn möglich auch in Latein abgefasst sein, und falls nicht-polnischsprachige Quellen in der Überzahl waren, sollten auch die Einleitungen in einer anderen Sprache gehalten sein. In der Praxis erschien allerdings der weitaus größte Teil der Editionen mit Paratexten in polnischer Sprache, auch wenn die Sprache der Quelle anders war; in den Editionen der Ševčenko-Gesellschaft wurden die Paratexte in ruthenischer Sprache geschrieben, die Titel wurden immerhin auch in lateinischer Sprache geboten. Der zuvor erwähnte Emser-Erlass verbot die Publikation ukrainisch-sprachiger Texte. Ausgenommen waren aber solche historischen Editionen, deren Texte in der Sprache der Originale abgedruckt wurden; im Kiewer Editionsunternehmen wurde folglich auch ukrainisch publiziert, was wiederum eine wesentliche Basis für die Vergangenheitsnarrative bildete, die vor 1907 in Galizien entworfen wurden; denn durch die von Hruševs‘kyj betriebene Gedächtnispolitik boten die aus dem Russländischen Imperium stammenden Quellen auch den Rahmen für die galizische Geschichtsforschung. 72 Stefan Ciara, Archiwa a uniwersytety w Krakowie i Lwowie w latach 1877/78–1918 [Beziehungen zwischen den Archiven und Universitäten in Krakau und Lemberg in den Jahren 1877/78–1918], Warszawa 2002. 73 Die Quellensammlungen wurden zwar von der Zensur begutachtet, allerdings sind dem Verfasser derzeit – abgesehen von den deutlich das politische Zeitgeschehen anvisierenden Beispielen – keine Editionen bekannt, die tatsächlich verhindert wurden. Gleichwohl bestand die Befürchtung, dass es dazu kommen könnte, wie die Stiftung von Graf Aleksander Stadnicki für die Sammlung der Grod- und Landgerichtsakten aus der Zeit der Republik Polen beweist: Denn wenn von Seiten der Regierung „Schwierigkeiten“ herrühren sollten, so dass die Herausgabe der Quellen binnen vier Jahren ab seinem Tod nicht begonnen werden konnte, sollte eine Umwidmung erfolgen und stattdessen ein Turm für die römisch-katholische Kirche in Lemberg errichtet werden. Das Testament wurde allerdings zur Zeit des Neoabsolutismus im Jahr 1855 verfasst; Oktaw Pietruski/Lucyan Tatomir, “Przedmowa” [Vorwort], in: Akta grodzkie i ziemskie z czasów Rzeczypospolitej Polskiej (vgl. Anm. 56), hier (I), Lwów 1868, S. V–XXII, hier S. XV.
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IV. Die Suche nach dem Territorium Die Konzentration auf Halyč-Wolhynien und Polen-Litauen als territoriale Bezugspunkte und auf das Thema Kosaken und Szlachta als sozial-ethnische Inhalte zeigt, dass Galizien nicht der Hauptfokus für die Quelleneditionen war. Diese „Deterritorialisierung“ der Akten und die intensivierten ausländischen Kooperationen seitens der führenden galizischen Institutionen zogen es nach sich, dass das ohnehin peripher gelegene Galizien für die historische Forschung im Verhältnis zu anderen Regionen in den Hintergrund geriet. Mitverantwortlich war freilich auch die Zensur, denn die Akten für die Periode nach 1772 wurden erst schrittweise freigegeben, wodurch sich die quellenmäßige Bearbeitung der erst ab 1772 existierenden Provinz zusätzlich erschwerte. Erst 1905 wurden die habsburgisch-staatlichen Archive bis 1847 geöffnet, wobei die Galizien betreffenden Dokumente dennoch weiterhin schwer zugänglich blieben. 74 Nach der Jahrhundertwende begann die Ševčenko-Gesellschaft mit der Herausgabe der Quellen zur Bildungsgeschichte Galiziens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach den bisherigen Recherchen wurden die Quellen für die Zeit nach den Teilungen Polen-Litauens in Krakau nicht systematisch bearbeitet, obschon einzelne Editionen erschienen, die außerhalb der historischen-professionellen Zunft organisiert wurden. 75 Die Konzentration auf die jeweils „nationalen“ Quellen führt nun zur Frage nach den inter- und transnationalen Kooperationen innerhalb Galiziens wie auch der Monarchie. Denn ein Großteil des Quellenmaterials war gleichzeitig für mehrere ethnische Gruppen wichtig; hierzu zählen etwa die eingangs angesprochenen Litauischen Statute, die für Weißrussen, Ukrainer und Polen im 19. Jahrhundert und ebenso für das Russländische Reich von Bedeutung waren, wodurch diese „polnische“ Edition, die in mehreren Übersetzungen erschien, einen transkulturellen und interdiskursiven Wert hatte. 76 Die gegenseitige Wechselwirkung in der 74 Ludwig Bittner, „Einleitung. Die Geschichtliche Entwicklung des archivalischen Besitzstandes und der Einrichtungen des Haus- Hof- und Staatsarchivs“, in: ders. (Hg.) Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, aufgebaut auf der Geschichte des Archivs und seiner Bestände, Wien 1936, S. 173; Ciara, Archiwa a uniwersytety, S. 21. 75 Szymon Askenazy, “Przegląd Dziejów Polski. Epoka porozbiorowa 1795–1830” [Übersicht der polnischen Geschichte. Der Zeitraum nach den Teilungen 1795–1830], in: Pamiętnik III Zjazdu Historyków Polskich, (I), S. 1–11; (II), S. 21–23. 76 Zu den unterschiedlichen Kontextualisierungen vgl. С. Ківалов/П. Мусиченко/А. Панков [S. Kivalov/P. Mysičenko, A. Pankov] (Hg.), Статути Великого Князівства Литовского у 3-Томах [Statuten des Großfürstentums Litauens], (I), Одеса 2002; Irena Valikonytė/Stanislovas Lazutka/Edvardas Gudavičius, Pirmasis Lietuvos Statutas (1529m.) [Erste Litauische Statuten (1529)], Vilnius 2001; Tadeusz Czacki, O litewskich i polskich prawach, o ich duchu, źródłach, związku i o rzeczach zawartych w pierwszym Statucie dla Litwy 1529 roku wydanym [Über litauische und polnische Gesetze, über ihren Geist, die Quellen, ihren Zusammenhang und die Inhalte des ersten Statutes für Litauen von 1529], 2 Bde., Kraków 1861. Im Russländischen Imperium wurden die Statute erst 1840 außer Kraft gesetzt, die erste russische Übersetzung erschien 1811.
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Geschichtsforschung gestaltete sich als zunehmend schwierig, vor allem auch deshalb, weil eine gewisse sprachliche Verengung in Richtung Einsprachigkeit erfolgte, womit sich der multikulturelle Wert der Editionen sowohl für Historiker als auch nicht-professionelle Leser verringerte. Dies betraf auch das galizische Territorium, in dem eine asymmetrische Plurilingualität mit einem deutlichen Schwerpunkt auf der deutschen und der polnischen Sprache herrschte. Mit der Ausbildung ruthenisch-ukrainischer Netzwerke erfolgte auch eine Aufspaltung der zuvor durch die Vormachtstellung des Polnischen geschaffenen innerprovinziellen Kommunikationsplattformen, ohne dass diese völlig abgetrennt worden wären, denn die gegenseitige Wahrnehmung war durchwegs gegeben, wie auch aus den Rezensionen abzulesen ist. In den ersten Jahren nach dem Umbruch von 1848 lassen sich noch intensive Kooperationen ausmachen, so zum Beispiel am Ossolineum, dessen Leiter Bielowski mit Ivan Wahylevyč bei der Quellenrecherche eng zusammenarbeitete, konkret bei der Übersetzung und Edition der Nestorchronik, die (als zweisprachige Version) ein Drittel des ersten Bandes der Monumenta Poloniæ ausmachte. 77 In Summe wirkte sich die Nationalisierung aber doch deutlich auf die galizische historiographische Landschaft aus. So wurde mit anderen Institutionen in der Monarchie keine Zusammenarbeit angestrebt: Der in Lemberg lehrende Heinrich Zeissberg war etwa bei den ersten Quellensammlungen konsultiert worden, aber nach seiner Berufung nach Wien wurde die Kooperation nicht fortgesetzt; gleichwohl war er übrigens zum Długosz-Kongress im Jahr 1880 eingeladen und sein krankheitsbedingtes Fehlen wurde von Józef Szujski in der Eröffnungsrede sogar sehr bedauert. 78 Auf der Versammlung waren unter anderem Václav Vladivoj Tomek und Jaroslav Goll sowie andere eingeladene tschechische Historiker anwesend; doch wiewohl hier klarerweise intensivere persönliche Kontakte bestanden (etwa auch zu Jaroslav Bidlo), führten sie zu keinen gemeinsamen historiographischen Projekten. Im Sinne der galizisch-polnischen Geschichtsproblematik schlug Isydor Šaranevyč bei der Sitzung der Krakauer Gesellschaft die Herausgabe Rus’-Litauischer Chroniken des 16. Jahrhunderts vor, deren Abschriften in Lemberg erhalten waren. 79 Dieser Vorschlag wurde nach Lemberg weitergeleitet, jedoch von dort
77 Bielowski (Hg.), Monumenta Poloniæ historica, (I), S. 521–862 und S. 549. Zu seiner Person siehe Lucja Charewiczowa, Historiografia i miłośnictwo Lwowa [Historiographie und Liebe zu Lemberg], Lwów 1938, S. 80–83. 78 Bobrzyński/Sokołowski (Hg.), Pamiętnik pierwszego Zjazdu, S. 19. 79 Rozprawy i Sprawozdania z Posiedzeń Wydziału Historyczno-Filozoficznego Akademii Umiejętności 14 (1881), S. VI; siehe auch Віталій Тельвак [Vitalij Tel’vak], “Польськоукраїнська наукова співпраця в галузі історії в другій половині ХІХ – на початку ХХ століття” [Die Polnisch-Ukrainische wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Geschichte in der zweiten Hälfte des 19.–Anfang des 20. Jahrhunderts], in: Agnieszka Kawalec/Wacław Wierzbieniec/Leonid Zaszkilniak (Hg.), Galicja 1772–1918. Problemy me-
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aus nicht weiter verfolgt. Einige Teile der Chronik erschienen in St. Petersburg im Jahr 1907 als Teil 17 der Serie Komplette Sammlung Russischer Chroniken (Polnoe sobranie russkich letopisej), 80 wobei gerade diese Quelle oft verwendet und zitiert wurde. Bei einer früheren Diskussion über dasselbe Thema wurde die Einbeziehung von – grosso modo – nicht-ethnisch-polnischen Chroniken in die Monumenta Poloniæ zwar begrüßt, ohne dass dies jedoch zu einer tatsächlichen Erschließung der Quellen geführt hätte. 81 Eine eigene Serie der Akademie zu ruthenischen Quellen, die Šaranevyč im Jahr 1880 vorschlug, lehnten die Historiker allerdings entschieden ab, da sich solche Quellen, ebenso wie die Quellen etwa zu Schlesien ohnedies, in den künftigen Bänden der Monumenta Poloniæ fänden. 82 Im Schlusswort der Diskussion forderte Michał Bobrzyński, dass jedenfalls auch Quellen aus den Gebieten aufzuarbeiten waren, in denen zwar keine (ethnisch definierten) Polen mehr lebten, die aber unter Einwirkung der „polnischen Zivilisation“ gestanden hatten, die „nach schweren Kämpfen“ zurückgeschlagen worden waren. 83 Die Jagiellonische Konzeption einer Fortsetzung des föderativen Polen-Litauen und die Konstruktion des entsprechenden nicht-nationalistischen, staatsorientierten Vergangenheitsnarratives, die Bobrzyński hier indirekt ansprach und die in Krakauer Kreisen vertreten war, wurde auf Quellenbasis allerdings kaum ausgeführt. Dies könnte freilich auf die polnisch-ruthenische Konfliktsituation vor der Jahrhundertwende zurückzuführen sein. Die Konzeption schlug sich vor allem in der quellenmäßigen Erschließung des Großherzogtums Litauen oder des Herzogtums Preußens nieder: So wurde zum Beispiel im Jahr 1882 ein Codex epistolaris Vitoldi Magni ducis Lithuaniae 1376–1430 publiziert; gemäß einem Beschluss des Długosz-Kongresses (und vor allem auf Drängen des Lemberger Archivars Antoni Prochaska) sollten auch andere Letopisy in die Monumenta Poloniæ aufgenommen werden. 84 1895 gab es auch Gespräche zwischen der Krakauer Akademie und Hruševs‘kyj über die Bearbeitung und Publikation einiger ruthenisch-sprachiger Quellen, die mit lateinischer Übersetzung und ebenfalls lateinischem Kommentar veröffentlicht hätten werden sollen; doch auch dieses Projekt
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todologiczne, stan i potrzeby badań [Galizien 1772–1918: Methodologische Probleme, gegenwärtiger Zustand und Notwendigkeit der Forschung], (II), Rzeszów 2011, S. 390–402. Станислав Пташицки [Stanisław Ptaszycki]/Алексей Шахматов [Aleksej Šachmatov] (Hg.), Западнорусские летописи [Westrussische Letopisy], Санкт-Петербург 1907. Bobrzyński/Sokołowski (Hg.), Pamiętnik pierwszego Zjazdu, S. 28–42. Vgl. auch Rederowa (Hg.), Materiały, S. 77–85. Bobrzyński/Sokołowski (Hg.), Pamiętnik pierwszego Zjazdu, S. 41. Ebd., S. 144f. Pamiętnik Drugiego Zjazdu Historyków Polskich we Lwowie. T. 2, Obrady i uchwały [Memoranden der Zweiten Versammlung polnischer Historiker in Lemberg, II: Sitzungen und Beschlüsse], Lwów 1890, S. 111–113.
Objektivität, Bestandsaufnahme, Territorium
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wurde nicht realisiert, 85 wohl deshalb, weil Hruševs‘kyj sich der Publikationstätigkeit innerhalb der Ševčenko-Gesellschaft widmete. 86 Kooperationen wurden demgegenüber vor allem auf Basis von Einzelkontakten realisiert; Šaranevyč und Prohaska dürfen als die beiden einflussreichsten Ausnahmeerscheinungen des späten 19. Jahrhunderts angesehen werden, die als Historiker „zwischen den Kulturen“ vermittelten und auch die notwendigen Sprachkenntnisse aufwiesen, um in beiden Kulturen Akzente setzen zu können.87 Von institutioneller Seite wurden diese Versuche zwar nicht direkt unterstützt, wohl aber wurden die jeweiligen Publikationen gelesen, besprochen und gegebenenfalls auch ergänzt oder kritisiert. 88 An den drei genannten Versammlungen polnischer Historiker nahmen auch einige ruthenische Gelehrte teil, wenn auch nicht immer die prominentesten: So wurde etwa 1900 die Ševčenko-Gesellschaft nicht durch deren Leiter Hruševs‘kyj, sondern durch den Literaturhistoriker Oleksandr Kolessa repräsentiert. 89 Inhaltliche Unterschiede und der Bedeutungsverlust oder die Bedeutungsverschiebung von integrativen Institutionen, wie des Ossolineums, ließen die galizische Quellenforschung sowohl innerhalb des galizischen Territoriums selbst als auch in der Monarchie im doppelten Sinne zunehmend „desintegriert“ werden. 90
85 “Dyskusja nad przygotowaniem siódmego tomu ‘Monumentów’” [Zur Diskussion über die Vorbereitung des 7. Bandes der Monumenta], in: Rederowa (Hg.), Materiały, S. 145. 86 Vitalij Tel’vak nennt auch inhaltliche Divergenzen, allerdings ohne sie näher auszuführen. Тельвак, “Польсько-українська наукова співпраця в галузі історії в другій половині ХІХ – на початку ХХ століття”, (vgl. Anm. 79), S. 393–395. 87 Zu deren Biographien vgl. Karol Maleczyński/Stanisław Zajączkowski, “Działalność naukowa śp. Antoniego Prochaski” [Die wissenschaftliche Tätigkeit des Antoni Prochaska], in: Kwartalnik Historyczny 45 (1931), Heft 1, S. 53–74, und Stanisław Stępień, “Pierwszy (staro)Rusin profesorem historii Uniwersytetu Lwowskiego. Prof. Izydor Szaraniewicz (1829–1901) – sylwetka uczonego” [Der erste (Alt-) Ruthene als Professor der Universität Lemberg: Prof. Isydor Šaranevyč – eine Silhouette des Gelehrten ], in: Wacław Wierzbieniec (Hg.), Między Odrą a Uralem. Księga dedykowana Profesorowi Władysławowi Andrzejowi Serczykowi [Zwischen Odra und Ural. Band zu Ehren von Prof. Władysławow Andrzej Serczyk], Rzeszów 2010, S. 165–195. 88 Siehe bspw. die spannende Auseinandersetzung zwischen Hruševs’kyj und Prochaska: “До історії ‘руського обряду’ в давній Польщі” [Zur Geschichte des ‘Russischen Brauchs’ im alten Polen], in: Записки Наукового товариства імені Шевченка 1899, Jhg. 8, (XXX), Heft 4, S. 1–8. 89 Pamiętnik III Zjazdu Historyków Polskich, bes. S. 9. 90 Diese Bezeichnung wurde im Zusammenhang mit Böhmen verwendet: Ferdinand Seibt (Hg.), Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern, München 1984 (= Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum (XII), München 1984.
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V. Zusammenfassung Die Praxis der Edition war im Verlauf des 19. Jahrhunderts sowohl in technischer als auch institutioneller Hinsicht tiefgehenden Veränderungen unterworfen. Dabei orientierte sich die Suche nach dem „faktisch Gewesenen“ in den zunehmend professionellen Editionen dennoch an stabilen Grundsätzen zur Wiedergabe der „Originaldokumente“. Die Kritik an den Bearbeitern von Quellen bezog sich aber – und dies ist im speziellen Fall Galiziens bezeichnend – weniger auf den handwerklichen Aspekt der Wissensproduktion, als vielmehr auf die generelle Funktion von Quellen für die Geschichtsnarrative, nicht also auf die Arbeit im „Labor“ – um sich eines naturwissenschaftlichen Konzeptes zu bedienen – sondern auf den eigentlichen Zweck des „Labors“. Der ontologische Status, der „der Quelle“ im Historismus und Positivismus zugeschrieben wurde und der eine „objektive“ Dokumentation und Rekonstruktion der Vergangenheit in Quelleneditionen möglich machen sollte, entspricht den politisch-historischen und nationalen Trends der Zeit: Der Anspruch auf die Wiederbelebung des polnischen Staates und der Wunsch nach der Errichtung eines ukrainischen Staatsgebildes wurde zwar nicht direkt ausgesprochen, fand sich aber deutlich in sämtlichen Unternehmungen. Ähnlich wie bei den Monumenta Germanica Historica wurde auch hier auf Quellenbasis ein geschlossenes Territorium erschlossen, das zwar in dieser Form auf der damaligen politischen Karte nicht existierte, dass es aber zu verwirklichen galt. 91 Quellen boten hier sowohl die Grundlage, um erwünschte Narrative zu untermauern, als auch die Möglichkeit, sich von anderen Narrativen deutlich abzugrenzen – hier vor allem durch Konzeptionen, die nicht auf das Gebiet der Habsburgermonarchie bezogen waren und die vor allem im ukrainischen Fall zunehmend ethnisch geprägt waren. Das „Objektive“ der Quelle führte zur Abschließung, implizierte allerdings gleichzeitig auch Internationalität: Als transnationales Objekt war sie interdiskursiv verwendbar, was umfangreiche Kooperationen zwischen Institutionen und Historikern erlaubte und auch die gegenseitige Wahrnehmung notwendig machte. Die Suche nach den Originalen, ihren Abschriften und Kopialüberlieferungen machte zahlreiche Archivreisen notwendig und ließ großangelegte, internationale und transimperiale Big-Science-Projekte wie die Długosz-Edition, aber auch wietere Monumenta-Editionen entstehen.
91 Klaus Herbers, „Die ‚Monumenta Germaniae Historica‘ als ältestes deutsches Quelleneditionsunternehmen“, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Erlanger Editionen. Grundlagenforschung durch Quelleneditionen: Berichte und Studien, Erlangen 2009, S. 13–28.
ZUR INSTITUTIONALISIERUNG DER DEUTSCHEN GESCHICHTSWISSENSCHAFT: DER VERBAND DEUTSCHER HISTORIKER UM 1900 1 Matthias Berg „Wer von Forschung redet, kann von Chancen und Hemmnissen ihrer institutionellen Verfasstheit nicht schweigen.“ 2 Die Geschichte von Institutionalisierungen beziehungsweise Institutionen zählt seit langem zu den ebenso „klassischen“ wie unverzichtbaren Bestandteilen der wissenschafts- wie historiographiegeschichtlichen Forschung. Institutionsgeschichtliche Perspektiven auf die Entwicklung der Wissenschaft im Allgemeinen wie auch der Geschichtswissenschaft im Speziellen waren und sind, jenseits aller wechselnden Forschungskonjunkturen, grundlegender Bestandteil fachhistorischer Reflexion. 3 Allerdings ist die Untersuchung geschichts- wie allgemeinwissenschaftlicher Institutionen in den vergangenen Jahrzehnten der Fortentwicklung der Wissenschafts- und Historiographiegeschichte nicht immer hinreichend gefolgt, weiterhin wurde oftmals anlässlich von Gründungsjubiläen oder Gedenkkonjunkturen lediglich eine Geschichte von Orten „hervorragender Wissenschaft“ geschrieben. Nachdem jüngst mit der wissenschaftlichen Biographik eine mindestens ebenso unvergängliche wie methodisch für lange Zeit unreflektiert betriebene Form von Fachgeschichte ihre darstellerische, aber auch methodische Neuentdeckung
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Erste Überlegungen zu einem Forschungsprojekt, das unter dem Titel „Institutionalisierte Geschichte. Der Verband Deutscher Historiker und seine Historikertage 1890 bis 1950“ von der Fritz Thyssen Stiftung gefördert und vom Autor bearbeitet wird. Das Projekt ist Teil einer entstehenden Gesamtgeschichte der deutschen Historikerverbände seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Diese umfasst den Verband Deutscher Historiker (VDH, 1895– 1945), den Verband der Historiker (und Historikerinnen) Deutschlands (VHD, seit 1948), die Historikergesellschaft der DDR (1958–1990) sowie den 1990 gegründete Unabhängigen Historikerverband in der DDR. Rüdiger vom Bruch, „Wissenschaft im Gehäuse. Vom Nutzen und Nachteil institutionengeschichtlicher Perspektiven“, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 23 (2000), S. 37–49, hier S. 37. Hermann Heimpel, „Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland“, in: Historische Zeitschrift 189 (1959), S. 139–222; Theodor Schieder, „Organisation und Organisationen der Geschichtswissenschaft“, in: Historische Zeitschrift 237 (1983), S. 265–287.
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erleben durfte, 4 sollte nun eine entsprechende Fortentwicklung auch der Erforschung des Werdegangs geschichtswissenschaftlicher Institutionen folgen. 5 Die Ergiebigkeit wissenschaftshistorischer Institutionsforschung wurde in den vergangenen Jahren in einer Reihe von Publikationen untermauert. 6 Insbesondere eine dezidiert auf die handelnden Akteure ausgerichtete Untersuchungsperspektive erwies sich als überaus lohnend, 7 ebenso ertragreich wurde am Beispiel des „Kriegseinsatzes der deutschen Geisteswissenschaften“ die Möglichkeiten der Darstellung eines lose organisierten Forschungsverbundes ausgelotet. 8 Im Rahmen einer dementsprechend weniger nach Institutsgebäuden denn nach einer „Institutionalisierung als Kommunikationsprozess“ 9 fragenden Geschichte wissenschaftlicher Institutionen, einer vor allem von den handelnden Akteuren ausgehenden Untersuchung wenig verfestigter wissenschaftlicher Institutionen, verspricht nicht zuletzt der 1895 gegründete Verband Deutscher Historiker als Ort der „organisierten Disziplin“ 10 ein lohnender Gegenstand zu sein. Auch
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Aus der Fülle neuerer Beitrage vgl. zusammenfassend: Simone Lässig, „Die historische Biographie auf neuen Wegen?“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 60 (2009), S. 540–553; Christoph Gradmann, „Jenseits der biographischen Illusion? Neuere Biographik in Wissenschafts- und Medizingeschichte“, in: NTM. Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 17 (2009), S. 207–218. Die Vielzahl an biographisch orientierten Forschungsbeiträgen zur Historiographiegeschichte ist kaum mehr zu überblicken, verwiesen sei auf Christoph Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005; David Thimme, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes, Göttingen 2006. 5 Als frühen Problemaufriss vgl. Matthias Middell/Gabriele Lingelbach/Frank Hadler: „Institutionalisierung historischer Forschung und Lehre. Einführende Bemerkungen und Fragen“, in: dies. (Hg.), Historische Institute im internationalen Vergleich, Leipzig 2001, S. 9–37, sowie als Umsetzung: Matthias Middell, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890– 1990, Leipzig 2005. 6 Vgl. beispielhaft Ulrich Pfeil (Hg.), Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007; Karin Orth/Willi Oberkrome (Hg.), Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010; HeinzElmar Tenorth u.a. (Hg.), Geschichte der Universität Unter den Linden, I–III: Biographie einer Institution, IV–VI: Praxis ihrer Disziplinen, Berlin 2010. 7 Vor allem die Darstellung der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft verdeutlichte das institutionsgeschichtliche Potenzial dieser „Akteursperspektive“, vgl. Rüdiger Hachtmann, Wissenschaftsmanagement im „Dritten Reich“. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, Göttingen 2007. 8 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft“ im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch“ (1940–1945), 3. erw. Aufl., Heidelberg 2007. 9 Martin Gierl, Geschichte und Organisation. Institutionalisierung als Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900, Göttingen 2004. 10 Auf dem 49. Deutschen Historikertag in Mainz hat sich die Arbeitsgruppe zur Verbandsgeschichte in der Sektion „Die organisierte Disziplin als Forschungsproblem. Perspektiven auf eine Geschichte des Historikerverbandes“ vorgestellt. Die Vorträge der Sektion wurden in ei-
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lange nach seiner Gründung kaum über im engeren Sinne feste Strukturen verfügend, in den Zeiträumen zwischen den Historikertagen im Grunde als „ortlos“ zu bezeichnen, überdies den disziplinären Fortentwicklungen in seinem „Kerngeschäft“, den vom Verband ausgerichteten Historikertagen, beständig ausgesetzt und daher weniger wandlungsresistent als kontinuierlich wirkende Historische Seminare und Forschungskommissionen – als Institution war der Verband keineswegs eine sich ungehindert entwickelnde, stetig an Bedeutung gewinnende, wissenschaftliche Einrichtung. Seine Erforschung verspricht deshalb einen besonders erkenntnisfördernden Blick auf die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen wilhelminischem Kaiserreich und Nationalsozialismus, gleichsam im wörtlichen Sinne ein Blick „hinter die Kulissen“ ihrer institutionellen Verfasstheit. I. Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 Die Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft ist seit längerem Gegenstand einer anhaltenden Forschungskonjunktur, der deutsche Historikerverband als Institution hingegen verblieb seit seiner Gründung als Untersuchungsgegenstand von der Forschung weitgehend unberührt. Ein früher Aufsatz Gerhard Ritters, als Vorsitzender der 1948 als Verband der Historiker Deutschlands wiedergegründeten Vereinigung amtierend, diente in den 1950ern Jahren vor allem der Verteidigung einer in der Tendenz eher restaurativen Wiedergründung von Verband wie Geschichtswissenschaft. 11 Zwei Jahrzehnte nach Ritter wertete Peter Schumann die Presserezeption der Historikertage zwischen 1893 und 1937 eingehend aus. 12 Als eine der wenigen zum Verband vorliegenden Studien ist diese Nachzeichnung eines „Blickes von außen“ fraglos hilfreich, kann jedoch schon aufgrund der auf Zeitungs- und Zeitschriftenauswertung beschränkten Quellengrundlage, aber auch wegen der Fragestellung einer Geschichte der Historikertage „im Spiegel der Presse“ zu einer historiographiegeschichtlich orientierten Verbandsgeschichte nur in Teilen beitragen. Zur Erforschung der an dieser Stelle thematisierten Geschichte des Historikerverbandes um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert trug vor allem ein 1996 vorgelegter, wesentliche Aspekte bereits
nem entsprechenden Themenheft publiziert, vgl. Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 64 (2013), Heft 3/4. 11 Gerhard Ritter, „Die deutschen Historikertage. Zur 22. Versammlung deutscher Historiker in Bremen vom 17.–20. September 1953“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 4 (1953), S. 513–521. Zur Rolle Ritters und des Verbandes nach 1945 vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993, S. 159–182. 12 Peter Schumann, Die deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. Die Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse, Marburg 1974 (Diss. phil.).
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identifizierender Problemaufriss bei, dem jedoch bislang keine weitere, eingehende Untersuchung gefolgt ist. 13 Man kann demnach von zwei miteinander verknüpften Desiderata der deutschen Historiographiegeschichte sprechen – die Geschichte historischer Institutionen zwischen Kaiserreich und früher Bundesrepublik ist im Allgemeinen noch ebenso wenig untersucht worden wie im Speziellen die Geschichte des Verbandes Deutscher Historiker als eine der bedeutendsten dieser Institutionen. Im internationalen Vergleich hingegen sind Institutionalisierungen in den historischen Wissenschaften vor allem für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits eingehend erforscht worden. 14 Dies korrespondiert bezüglich der Entstehung von nationalen Historikerverbänden zumindest teils mit der entsprechenden historischen Entwicklung, so entstand die American Historical Association ein gutes Jahrzehnt vor dem deutschen Verband, während die schweizerische Historikervereinigung noch deutlich früher, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, begründet wurde. 15 Die disziplinäre Institutionalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft war zu diesem Zeitpunkt allerdings auch bereits weit fortgeschritten, das Fach war an den Universitäten etabliert und konnte eine Führungsrolle innerhalb der Geistes- und Kulturwissenschaften beanspruchen. Mit der Historischen Zeitschrift war zudem ein führendes fachliches Publikationsorgan etabliert. 16 Auch der Methoden- und Themenkanon schien in der Geschichte von Staat, Politik und großen Männern mit allergrößter Sicherheit festgemeißelt zu sein, gelegentliche Abweichler erfuhren die schneidende Schärfe „der Axt im Seminar“, Georg von Below: „Allein der Baum, selbst wenn er morsch ist, fällt gemeinhin nicht von selbst, nicht ganz von selbst. Man muß die Axt gebrauchen“. 17 Mit diesen Worten kanzelte Below den methodischen „Abweichler“ Karl Lamprecht ab, im Streit um dessen Versuch einer kulturgeschichtlichen Wende, die dem Historismus in den
13 Matthias Middell, „Die ersten Historikertage in Deutschland 1893–1913“, in: Gerald Diesener/Matthias Middell (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, S. 21–43. 14 Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003. 15 Zum amerikanischen Verband vgl. Arthur S. Link, “The American historical association 1884–1984. Retrospect and prospect”, in: American Historical Review 90 (1985), S. 1–17; David van Tassel, “From Learned Society to Professional Organization. The American Historical Association 1884–1900”, in: American Historical Review 89 (1984), S. 929–956. Zum schweizerische Verband vgl. Hundert Jahre Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz 1841–1941, Bern 1941. Ein französischer Gesamtverband hingegen existiert bis heute nicht. 16 Lothar Gall (Hg.), 150 Jahre Geschichtsforschung im Spiegel der Historischen Zeitschrift, München 2009 (zugleich: Historische Zeitschrift 289 (2009), Heft 1). 17 Vgl. Georg von Below, „Die neue historische Methode“, in: Historische Zeitschrift 81 (1898), S. 193–273, hier S. 195. Zur Biographie Belows vgl. Hans Cymorek, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1998.
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1890er Jahren seine „erste große Grundlagenkrise“ beschert hatte. 18 Die vorherrschende Dominanz politikgeschichtlicher Historiographie wurde von einer fast die gesamte Disziplin umfassenden Phalanx erbittet verteidigt. Die „fast geschlossene Ablehnung Lamprechts und der Kultur- und Sozialgeschichtsschreibung“, so verknüpfte Georg G. Iggers den Methodenstreit mit der institutionellen Verfasstheit der deutschen Geschichtswissenschaft, „hing u. a. mit der Konstituierung und Institutionalisierung des Faches Geschichte in Deutschland zusammen, dessen Repräsentanten bei der Rekrutierung des Nachwuchses von Gymnasiallehrern und Professoren weitgehend auf politischer und ideologischer Konformität bestanden. Dementsprechend kam es zu einem massiven Angriff der etablierten Historiker auf Lamprecht“. 19
Die Lamprecht-Gegner siegten – zumindest vorerst – auf der ganzen Linie. Man kann jedoch wohl bezweifeln, ob diese Notwendigkeit zum „Reihenschließen“ tatsächlich noch als Beleg für eine besondere innerdisziplinäre Gewissheit fungieren kann, ob die wie zitiert teils drastischen Reaktionen auf Lamprecht sich nicht vielmehr aus einer noch untergründigen, aber bereits vorhandenen und verdrängten Unsicherheit über den eingeschlagenen Weg speisten. Dass eine durchaus wahrgenommene, aber nicht offen eingestandene und deshalb umso strikter von sich zu weisende Krise der eigenen historiographischen Deutungsmacht, nicht zuletzt angesichts der stetig an Bedeutung gewinnenden Natur- und Technikwissenschaften, zur disziplinären Wagenburgmentalität der deutschen Geschichtswissenschaft um 1900 führte, erscheint jedoch als nicht allzu gewagte Annahme. II. Gründung und Etablierung des Verbandes „Auf Anregung einiger im Herbste 1891 in München zufällig zusammengetroffener Freunde vereinigten sich im Sommer 1892 vierzig deutsche Historiker aus dem deutschen Reiche, Oesterreich und der Schweiz zu einem Aufruf, welcher die Fachgenossen (...) zu einer allgemeinen Versammlung nach München einlud“.
Besonderer Anlass sei die „von anderer Seite in Angriff genommene Neugestaltung“ auch des Geschichtsunterrichts gewesen. 20 Die benannte „andere Seite“ war Preußen respektive Kaiser Wilhelm II., gegen dessen nationalpolitische Indienstnahme des Geschichtsunterrichts zumindest ein Teil der deutschen Historiker ihre fachliche Autonomie zu verteidigen gedachten. Es waren „nicht die Koryphäen der Wissenschaft, wohl aber Männer von Geist und ausgeprägter Individualität, die den deutschen Historikertag ins Leben rufen“, so beschrieb Peter Schumann
18 Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, hier S. 141–146, Zitat S. 141. 19 Vgl. Georg G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 2007, S. 34. 20 Bericht über die 1. Versammlung deutscher Historiker in München, 5.–7. April 1893, München 1893, S. 1.
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die Protagonisten, die die ersten Historikertage und auch die frühe Verbandsgeschichte prägten. 21 Für die Institutionalisierung, vor allem aber die institutionelle Entwicklung des Verbandes als möglicher zentraler Vereinigung der deutschen Geschichtswissenschaft sollte diese „Individualität“ seiner frühen Protagonisten wie Felix Stieve, Ludwig Quidde und Alfred Dove allerdings nicht folgenlos bleiben. Die Historikertage wurden als allgemein akzeptiertes und erstrangiges Forum der deutschen Geschichtswissenschaft rasch zu einem wichtigen Treffpunkt für die inner- wie außerfachliche Kommunikation. Auf den ersten Historikertag in München 1893 folgten mit Leipzig 1894 und Frankfurt 1895 umgehend zwei weitere Tagungen. Teilgenommen an der ersten Versammlung hatten 109 Historiker, Archivare und Geschichtslehrer, in Leipzig schnellte die Besucherzahl auf 340 (!) hoch, um in den folgenden Jahren mit 119 (Frankfurt 1895), 120 (Innsbruck 1896), 147 (Nürnberg 1898) und 192 (Halle 1900) in ein gelegentlich unterbrochenes, auf längere Sicht aber kontinuierliches Wachstum überzugehen. Der letzte Historikertag vor dem Ersten Weltkrieg, 1913 in Wien tagend, verzeichnete 285 Teilnehmer. 22 In dieser Hinsicht kann, angesichts der breiten Resonanz der Disziplin auf dieses Angebot, am Erfolg der Historikertage als Veranstaltung kein Zweifel bestehen, aus diesen war zudem bereits 1895 auch die Gründung des Verbandes Deutscher Historiker hervorgegangen, dessen vorerst einziger Zweck die Veranstaltung eben dieser Historikertage sein sollte. Allerdings, als im Vergleich mit älteren, etablierten Fachkongressen aus angrenzenden Disziplinen vergleichsweise junge Einrichtung hatten sich die Historikertage gelegentlich auch anzupassen. Der für den Herbst 1912 in Wien in Aussicht genommene, dreizehnte Historikertag drohte, so der amtierende Verbandsvorsitzende Emil von Ottenthal an Friedrich Meinecke, mit dem zeitgleich angesetzten „grossen Juristentag“ zu kollidieren. Deutsche Juristentage wurden bereits seit 1860 abgehalten, die anstehende Wiener Tagung war bereits die einunddreißigste – „Der Historikertag“, so Ottenthal, würde „sich da also nach der geistigen wie materiellen Seite, bezüglich des vorbereitenden Komités wie bezüglich der Teilnehmer, einer wahrhaft erdrückenden Konkurrenz aussetzen.“ 23 Man entschied sich, besser auszuweichen, der Wiener Historikertag fand im September 1913 statt.
21 Schumann, Historikertage, S. 14. 22 Vgl. die jeweiligen Teilnehmerlisten in den zu allen benannten Historikertagen vorliegenden Berichtsheften, jeweils Bericht über die (...) Versammlung deutscher Historiker, München 1893, S. 31–33; Leipzig 1894, S. 48–55; Frankfurt a. M. 1895, S. 42–44; Innsbruck 1896, S. 65–68; Nürnberg 1898, S. 61–64; Halle 1900, S. 45–50; Wien 1913, S. 41–49. 23 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (folgend GStA), VI. HA NL Friedrich Meinecke 49, Brief Nr. 68, Emil von Ottenthal (Verband Deutscher Historiker. Der Vorstand) an Friedrich Meinecke v. 24. 10. 1911. Zu Ottenthal vgl. Susanne Lichtmannegger, „Emil von Ottenthal (1855–1931). Diplomatiker in der Tradition Theodor von Sickels und Julius von Fickers“, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien u. a. 2008, S. 73–95.
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Als wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen fachlichen Institutionalisierung beschränkte sich die Entstehung von Fachvereinigungen und Fachtagungen nicht auf die Geschichtswissenschaft. Die in den Geistes- und Kulturwissenschaften in Deutschland voranschreitende disziplinäre Ausdifferenzierung resultierte in der Gründung einer Reihe weiterer Fachverbände. Auch die neuen „Konkurrenten in der Fakultät“ 24 gründeten Vereinigungen und versammelten sich auf Fachtagungen, durchaus orientiert am Beispiel der etablierten Geschichtswissenschaft und changierend zwischen „Kommunikation und institutionelle(r) Abgrenzung“. 25 Neben der 1909 gegründeten Deutsche Gesellschaft für Soziologie 26 ist vor allem der Hinweis auf den 1913 gegründeten Verband der Geschichtslehrer Deutschlands zwingend geboten. Dem Historikerverband in Problemstellungen wie Organisation eng verbunden, boten die immer wieder aktuellen Frage des Geschichtsunterrichts, seiner etwaigen Politisierung und wandelnden gesellschaftlichen Funktion, nicht nur den Anlass für die Gründung des Historikerverbandes, sondern begleitete seine Geschichte fortan bis in die jüngste Gegenwart. 27 Auch in Vergangenheit und Gegenwart, der 1911 begründeten „Zeitschrift für den Geschichtsunterricht und staatsbürgerliche Erziehung in allen Schulgattungen“ fand der Fachverband der Historiker wie auch seine Historikertage ein zusätzliches öffentlichkeitswirksames Forum. 28 Doch welches im engeren Sinne geschichtswissenschaftliche Bedürfnis, welche Nachfrage innerhalb der Disziplin führte zur erfolgreichen Etablierung der Historikertage sowie darauf folgend zur Gründung und Institutionalisierung des Verbandes? Einige erste Überlegungen und Fragen zur Verbandsgeschichte um 1900 sollen folgend skizziert werden. III. Öffentlichkeit Zuallererst galt das rege Interesse dem wissenschaftlichen Austausch, der Präsentation, Diskussion sowie nicht zuletzt Verbreitung von als relevant erachteten Forschungsfragen und Forschungsergebnissen an einem öffentlichen Ort. Doch richteten sich die Historikertage an durchaus verschieden konturierte Formen von
24 Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt a. M. 1999. 25 Gangolf Hübinger, „Historikertage und Soziologentage vor dem Ersten Weltkrieg. Kommunikation und institutionelle Abgrenzung“, in: Gerald Diesener/Matthias Middell (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, S. 44–57. 26 Dirk Kaesler, Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Wiesbaden 1984. 27 Paul Leidinger (Hg.), Geschichtsunterricht und Geschichtsdidaktik vom Kaiserreich bis zur Gegenwart. Festschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands zum 75jährigen Bestehen, Stuttgart 1988. 28 Zur Zeitschrift vgl. Michael Riekenberg, Die Zeitschrift „Vergangenheit und Gegenwart“ (1911–1944). Konservative Geschichtsdidaktik zwischen liberaler Reform und völkischem Aufbruch, Hannover 1986.
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Öffentlichkeit. 29 An die städtische beziehungsweise regionale des jeweiligen Tagungsortes, wie ein kurzer, beispielhafter Blick in das für die Tagungsteilnehmer des sechsten Historikertages in Halle im April 1900 gedruckte Programm offenbart. Die wissenschaftlichen Vorträge und Verbandsversammlungen wurden flankiert von einer „Führung durch die Stadt und ihre Sammlungen“, einer „Festvorstellung im Stadttheater“ sowie Ausflügen ins Saalethal und nach Merseburg.30 Der Historikertag war, und ist es oftmals bis heute, ein städtisches und regionales Ereignis, auch in Halle begrüßte eine Riege örtlicher Honoratioren, vom Regierungspräsidenten bis zum Oberbürgermeister, die versammelte historische Disziplin in der Stadt. 31 Zugleich richteten sich die Historikertage auch – durch die in der Studie Schumanns ihren breiten Niederschlag findende, umfangreiche Presseberichterstattung – an die nationale Öffentlichkeit des wilhelminischen Kaiserreichs wie auch an die deutschsprachige Geschichtswissenschaft in Österreich und der Schweiz. Zuvor in nicht öffentlich tagenden Kommissionen oder in im wortwörtlichen Sinne „privat“ abgehaltenen Seminaren beheimatet, 32 schuf sich die Geschichtswissenschaft in der sich medial öffnenden Gesellschaft des Kaiserreichs 33 mit den Historikertagen ein wahrnehmbares und auch wahrgenommenes Forum. Zudem aber war der erste Historikertag in München 1893 ohne ursprüngliche Absicht zur folgenden Institutionalisierung, sondern vor allem zur Abwehr staatlicher Eingriffe in den Geschichtsunterricht und damit auch zur Betonung fachlicher Eigenständigkeit einberufen worden. Der dargestellte, daran anschließende Erfolg der Historikertage verdeutlichte, dass auch jenseits des ursprünglichen Anlasses Bedarf für diese Art von Veranstaltung bestand. Neben der wachsenden Nachfrage nach einer Möglichkeit zum fachlichen Diskurs, neben der Repräsentation der Geschichtswissenschaft in nationaler und lokaler Öffentlichkeit soll deshalb als weiterer, dezidiert historiographiegeschichtlicher Grund für die erfolgreiche Institutionalisierung von Historikertagen wie folgend Historikerverband auch 29 Öffentlichkeit bzw. verschiedene Konzeptionen dieser hat als wissenschaftshistorisch zu analysierende Kategorie in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen, vgl. Sybilla Nikolow/Arne Schirrmacher, „Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit als Beziehungsgeschichte. Historiographische und systematische Perspektiven“, in: dies. (Hg.), Wissenschaft und Öffentlichkeit als Ressourcen füreinander. Studien zur Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M./ New York 2007, S. 11–36. 30 Vgl. „Programm der VI. Versammlung deutscher Historiker zu Halle a. S. vom 4. bis 7. April 1900“, in: GStA, I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VI Nr. 13, (I), Bl. 3f. 31 Vgl. vor allem den Bericht über die sechste Versammlung deutscher Historiker zu Halle a. S., 4. bis 7. April 1900, Leipzig 1900, S. 3f. 32 Hans-Jürgen Pandel, „Die Entwicklung der historischen Seminare in Deutschland“, in: Werner Freitag (Hg.), Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Beiträge des Kolloquiums „125 Jahre Historisches Seminar an der Universität Halle“ am 4./5. November 2000, Halle 2002, S. 25–36. 33 Werner Faulstich, Die Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2012, S. 15–54; zahlreiche Beiträge in: Ute Daniel/Axel Schildt (Hg.), Massenmedien im Europa des 20. Jahrhunderts, Köln u. a. 2010.
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eine neue und offenkundig stark nachgefragten Form von Öffentlichkeit innerhalb der Disziplin erwogen werden. Ein in seiner Tragweite bislang nicht hinreichend reflektierter Wandel in der Präsentation und Diskussion historischer Forschung, denn Foren fachlichen Austausches existierten in der deutschen Geschichtswissenschaft durchaus bereits zuvor. In einem im Vergleich zu heute deutlich kleineren Gesamtfeld, mit weitaus weniger Lehrstühlen und Ordinarien, fungierten vor allem die historischen Kommissionen als Versammlungs- und Integrationsorte der Disziplin. 34 Sie übernahmen mit ihren Publikations- und Quellenabteilungen nicht zuletzt eine Reihe der Funktionen, die in anderen Ländern durch die nationalen Historikerverbände übernommen wurden. 35 Zugang zu diesen geschichtswissenschaftlichen Diskussions- und Entscheidungsforen erlangte jedoch nur eine Minderheit der historisch Forschenden und Lehrenden, die zudem durch persönliche Zuwahl in den Kreis der Kommission kooptiert wurde. Im Unterschied dazu waren die Historikertage per se allen fachlich Interessierten zugänglich, wenn auch über die Vortragenden und die von ihnen vorgeschlagenen Themen mit dem Verbandsausschuss ein wiederum, wie noch darzustellen sein wird, bald durchaus exklusives Gremien befand. Der Wunsch der historiographischen Elite nach erweiterter fachlicher Öffentlichkeit darf wohl ohnehin nicht überschätzt werden, doch manifestierte sich im Erfolg der Historikertage eben gerade die Nachfrage einer entstehenden, breiteren innerfachlichen Öffentlichkeit nach Austausch, Diskussion und Repräsentation. IV. Heterogenität Eng verbunden mit einer erweiterten, infolgedessen auch heterogeneren innerfachlichen Öffentlichkeit ist die Frage nach der möglicherweise integrativen Rolle des Verbandes, einer etwaigen Pluralisierung der Disziplin durch die Historikertage als auch durch den Verband zu formulieren. Seit mit der Reichseinigung 1871 die „kleindeutsche“ Lösung den ersehnten deutschen Nationalstaat ermöglicht hatte, 34 Ein Blick in die Mitgliedschaft der „Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften“ zeigt, dass seit ihrer Gründung 1858 bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nahezu alle deutschen Historiker von Einfluss in ihr vertreten waren, vgl. Lothar Gall (Hg.): „...für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008; zu ihren Mitgliedern, Präsidenten und Sekretären vgl. S. 271–308. Vgl. zudem: Klaus Neitmann, „Geschichtsvereine und Historische Kommissionen als Organisationsformen der Landesgeschichtsforschung, dargestellt am Beispiel der preußischen Provinz Brandenburg“, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts, Berlin 2006, S. 115–182. 35 Vor allem der amerikanische Historikerverband trat (und tritt) mit einem deutlich breiteren Spektrum an Funktionen als der deutsche Verband auf, siehe hierzu Gabriele Lingelbach, „Funktion und Entwicklung von Historikerverbänden im internationalen Vergleich“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), Heft 3/4, S. 139–152.
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war die deutsche Geschichtswissenschaft in zunehmendem Maße auf die historiographische Legitimierung dieser politischen Entwicklung orientiert gewesen.36 Trotz der traditionell engen Verbindungen zu österreichischen sowie zu deutschsprachigen schweizerischen Historikern, die dominante Rolle Preußens prägte die Geschichtswissenschaft im wilhelminischen Kaiserreich. Ebenso wurde die Reichshauptstadt Berlin fraglos als ihr Zentrum angesehen. Jedoch, von dreizehn bis zum Ersten Weltkrieg veranstalteten Historikertagen fanden drei in Österreich, 37 weitere sieben nicht in Preußen statt. Der nicht metaphorische, sondern tatsächliche geographische „Ort“ der Verbandstätigkeit fand sich demnach eher in der Peripherie denn im Zentrum. Auch die Initiative für die ersten Historikertage wie auch für die Verbandsgründung selbst ging wie ausgeführt vor allem von süddeutschen und österreichischen Historikern aus. Der erste Historikertag in München war neben Anderen wesentlich von Ludwig Quidde initiiert worden. Nicht nur „Impulse für Innovationen in der Geschichtsforschung“ erwartete Quidde von den Tagungen, zugleich sah er „in ihnen ein wirksames berufspolitisches Instrument, (...) politischen Pressionen entgegenzutreten, die freie historische Forschung und Darstellung bedrohten“. 38 Ohnehin zu den „politisch am deutlichsten profilierten Gestalten der Gründergruppe“ zählend, 39 löste Quidde nur ein Jahr darauf mit seiner Schrift Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn einen der heftigsten öffentlichen Skandale der historischen Disziplin am Ende des 19. Jahrhunderts aus. 40 Wenn auch von Quidde mehrfach bestritten, gelesen wurde die kurze Studie als warnende Analogie, als beißende Satire auf Kaiser Wilhelm II. und dessen Regierungshandeln. 41 In der Tat fürchtete Quidde, in dieser Hinsicht bereits als Mitinitiator des ersten Historikertages in München in Erscheinung getreten, die Neigung des Monarchen zu autoritären Eingriffen, ebenso wie deren Entsprechung im servilen Untertanengeist. Sein ausgeprägtes, bald vor allem pazifistisch orientiertes, politisches Engagement allerdings stieß bei Quiddes Zunftkollegen auf wenig Gegenliebe. Erst in der Weimarer Republik wurden, unter fortgesetzter Heroisierung Bismarcks, angesichts der erklärungsbedürftigen Entwicklung im Ersten Weltkrieg auch die strukturellen Mängel des Kaiserreichs thematisiert. Ironischer Weise – angesichts des weitgehenden Ausschlusses Quiddes aus den Kreisen des Faches – wurde nun vor allem Wilhelm II. zum weitgehend konsensualen Sündenbock für
36 Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980. 37 Neben dem erwähnten vierten Historikertag 1896 in Innsbruck fand der achte in Salzburg 1904 sowie der dreizehnte und letzte vor dem Weltkrieg in Wien 1913 statt. 38 Karl Holl, Ludwig Quidde (1858–1941). Eine Biografie, Düsseldorf 2007, hier S. 88–99, Zitat S. 89. 39 Schumann, Historikertage, S. 14. 40 Ludwig Quidde, Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, Leipzig 1894. 41 Vgl. Holl, Ludwig Quidde, S. 93–99, sowie Karl Holl/Hans Kloft/Gerd Fesser, Caligula – Wilhelm II. und der Caesarenwahnsinn. Antikenrezeption und wilhelminische Politik am Beispiel des „Caligula“ von Ludwig Quidde, Bremen 2001.
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die allgemein attestierte krisenhafte Entwicklung der deutschen Geschichte seit dem ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Für Quidde jedoch würde aus diesem späten Nachzug der Disziplin zu von ihm bereits in den 1890er Jahren benannten Gefahren keine Rehabilitation folgen. Seit dem Leipziger Historikertag 1894, auf dem Höhepunkt des „Caligula“-Skandals, war er in der Historikerschaft ein allenfalls als Akteneditor der Historischen Kommission geduldeter Außenseiter, 42 die Heterogenität auch von Historikertagen und Historikerverband hatte in diesem Fall rasch durchaus enge Grenzen offenbart. Allerdings konnten einige Akteure, die auf anderen Aktionsfeldern der deutschen Geschichtswissenschaft zunehmend in randständige Positionen verwiesen worden waren, um die Jahrhundertwende 1900 vor allem im Verband reüssieren. So durfte Karl Lamprecht den Leipziger Historikertag 1894 nicht nur wesentlich prägen, mit der für die Vorbereitung erbetenen „Vollmacht, neben der engeren Fachkollegenschaft auch die Vertreter benachbarter Disziplinen ansprechen zu dürfen“ hatte er auch seine vom Fach so heftig zurückgewiesene „umfassende Konzeption historischer Wissenschaft“ zumindest diskursiv aufgegriffen und in der Tat für die Kongressplanung fruchtbar machen können. 43 Eine derart prominente Rolle wie auf dem Historikertag an seiner heimatlichen Wirkungsstätte würde Lamprecht in den folgenden Jahren nicht mehr spielen, jedoch konnte er, obwohl seit dem skizzierten „Methodenstreit“ innerhalb der Historikerschaft weitgehend marginalisiert, bis zu seinem Tod im Mai 1915 Mitglied des Verbandsausschusses bleiben. 44 Der innerverbandliche Homogenisierungsdruck blieb begrenzt, den sonst mit aller Schärfe ausgetragenen Methodenstreit auch im Verband zu exekutieren, hätte diese vergleichsweise junge Institution wohl scheitern lassen. Die „fragile Eintracht“ sollte durch den „Austrag des Methodenstreits“ nicht belastet werden, der Historikertag hat
42 Als Mitarbeiter und Abteilungsleiter der von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reichstagsakten sollte Quidde, der diese Tätigkeit bereits 1881 begonnen hatte, bis zur gegen seinen Willen erfolgenden Absetzung in der Emigration 1935 amtieren, vgl. Eike Wolgast, „Deutsche Reichstagsakten“, in: Lothar Gall (Hg.), „... für deutsche Geschichts- und Quellenforschung“. 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008, S. 79– 120, hier vor allem S. 97–105. 43 So interpretiert Schumann das Begehren Lamprechts, vgl. Historikertage, S. 36f. Die entsprechende Diskussion auf dem vorhergehenden Historikertag in München vgl. Bericht über die 1. Versammlung deutscher Historiker in München, 5.–7. April 1893, München 1893, S. 24. 44 “The banishment of Karl Lamprecht was as complete as could be imposed within a tradition of Lehrfreiheit upon a scholar with lifetime tenure at a German university. His colleagues shunned him.” Vgl. Roger Chickering, Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856– 1915), Atlantic Highlands 1993, S. 254. Zu den wiederholten Wahlen Lamprechts in den Ausschuss, zuletzt in Wien im September 1913, vgl. die Berichtshefte zu den Historikertagen.
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Matthias Berg „als Institution verhindert, daß der Methodenstreit in eine Spaltung der deutschen Historiographie mündete; die akademische Gemeinschaft gründete sich über alle grundsätzlichen Kontroversen hinweg“. 45
Verweist dies einerseits auf die besondere Bindungskraft der Historikertage wie des Verbandes für eine offenbar unverändert als gemeinsam wahrgenommene Geschichtswissenschaft, so kann man andererseits in der beschriebenen, in der deutschen Historiographie des späten Kaiserreichs durchaus ungewohnten Toleranz und Duldsamkeit natürlich ebenso gut auch einen Beleg für die mangelnde Relevanz des Verbandes identifizieren. Nach dieser Sichtweise boten die Historikertage die gern genutzte Chance zu einer vergleichsweise niedrigschwelligen und eben deshalb zu tolerierenden Integration breiterer Kreise des Faches. Der Vorteil des gewonnenen öffentlichkeitswirksamen und publikumsträchtigen Forums überwog für die Fachelite den Nachteil, methodische Abweichler und Außenseiter am gemeinsamen Tisch dulden zu müssen. Über die Hoheit in der Disziplin, ihre Ausrichtung und weitere Entwicklung wurde letztlich andernorts entschieden. Denn in der Tat war der Verband als Ausrichter der Historikertage, angesichts der wie skizziert um 1900 bereits weit fortgeschrittenen Institutionalisierung der deutschen Geschichtswissenschaft, spät begründet worden. Seine Beschränkung auf die, wenn auch bald mit hohem Ansehen verbundenen Historikertage, findet seine Erklärung in der bereits stark verfestigten Struktur des geschichtswissenschaftlichen Feldes. Für eine Übernahme weiterer Funktionen in der deutschen Geschichtswissenschaft, wie dies anderen, nationalen Historikerverbänden wie dargestellt durchaus gelang, erfolgte die Verbandsgründung in Deutschland schlichtweg zu spät. Für die Nachfrage breiterer Kreise der Disziplin nach einem, nach innen wie nach außen öffentlichen, zumindest für Teilnehmer freier zugänglichen Forum jedoch erwiesen sich die Historikertage als geeignete und deshalb auf diesem Feld auch erfolgreiche Institution. V. Disziplinierung Einziger Verbandzweck blieb in der Zeit des Kaiserreichs die Vorbereitung und Veranstaltung der Historikertage, entsprechend wurde der Verbandsvorsitz auch direkt mit dem nächsten Veranstaltungsort verknüpft. Verbandsvorsitzender wurde immer ein Historiker, der entweder am Ort oder zumindest nahegelegen des nächsten Historikertages tätig war. Dies führte von der Verbandsgründung bis zum Ersten Weltkrieg zu elf verschiedenen Vorsitzenden, für die Institutionalisierung des Verbandes innerhalb der Zunft war dies selbstredend nicht von Vorteil.46 45 Middell, Die ersten Historikertage, S. 29. 46 Die enorme Diskontinuität im Verbandsvorsitz setzte sich bis in die Weimarer Republik fort, erst nach 1945 wurde im neu begründeten Verband der Historiker Deutschlands die Verknüpfung von Vorsitz und Tagungsort nicht wieder aufgegriffen, und die Namen der dann folgenden Verbandsvorsitzenden – Gerhard Ritter, Hermann Aubin, Hans Rothfels, Karl-Dietrich Erdmann, Theodor Schieder, Werner Conze – belegen denn auch, wie erst jetzt der Ver-
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Nicht der Vorsitz, der Ausschuss war das eigentliche Führungsgremium des Verbandes. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert nahm dort allerdings die Neigung zur Integration des Faches in seiner gesamten Breite kontinuierlich ab. Es dominierte zunehmend die fachwissenschaftliche Elite, der Verband wurde nach den heterogenen Anfängen gleichsam im doppelten Sinne „diszipliniert“. Schließlich wurde im Verbandsausschuss wesentlich über den Ort und vor allem auch die Vorträge auf den Historikertagen befunden, die Entscheidung über die methodischen und thematischen Standards des Faches mittels Einladung beziehungsweise Abwehr von Vorträgen sollte dann doch nicht den Außenseitern überlassen bleiben. Noch vor der Jahrhundertwende hatte der ebenso einflussreiche wie zur Einflussnahme willige Georg von Below gegenüber Erich Marcks darauf hingewiesen, dass es bei den Vorträgen auf den Historikertagen darauf ankäme, dass „nicht alte Ladenhüter geboten werden – diesen Charakter haben ja die für Nürnberg angekündigten Vorträge“. 47 Offenkundig war, fraglos ein Ergebnis des unübersehbaren Erfolges der Historikertage, dessen fachliche Bestückung in das Blickfeld der führenden Historiker Deutschlands gerückt. In den hierfür ausschlaggebenden Verbandsausschuss ließ sich Below folgerichtig auf dem, zuvor von ihm für sein Programm kritisierten Historikertag in Nürnberg kooptieren. Zwei Jahre darauf in Halle wurde er in den Ausschuss gewählt – und gehörte ihm anschließend ununterbrochen bis zu seinem Tod im Jahr 1927 an. 48 Es war die Satzung des Verbandes, die Möglichkeiten für einen derart langandauernden personellen Einfluss im Ausschuss eröffnete. Zwar schieden die fünf ältesten gewählten Ausschussmitglieder bei jeder Wahl turnusgemäß aus, jedoch durften diese umgehend erneut für den Ausschuss kandidieren. 49 Die durch die Satzungsregelungen mit zweijährigen Wahlen zu den Historikertagen, periodischem Ausscheiden sowie für eine Amtsperiode gültiger Kooptation weiterer Ausschussmitglieder im Grunde elegante Verbindung der eigentlich divergierenbandsvorsitz den Rang einer führenden Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft gewann. 47 Generallandesarchiv Karlsruhe (folgend GLAK), Nachlass Erich Marcks 71, Georg von Below an Erich Marcks v. 10. 2. 1898. 48 Vgl. die jeweiligen Berichtshefte zu den Historikertagen, nach Halle 1900 wurde Below des Weiteren auf den Historikertagen in Stuttgart (1906), Braunschweig (1911) sowie zudem noch in Graz im September 1927 in den Ausschuss gewählt, er verstarb allerdings einen Monat darauf im Oktober. 49 „Von den 15 Mitgliedern des Ausschusses scheiden bei jeder Versammlung des Verbandes 5 aus, diese 5 werden bei der gegenwärtigen Versammlung und bei der nächsten durch das Los bestimmt (...). Vom 8. Historikertag an scheiden jedesmal die 5 ältesten Mitglieder aus. Die ausgetretenen Mitglieder können wieder gewählt werden.“ Vgl. Bericht über die fünfte Versammlung deutscher Historiker zu Nürnberg, 12. bis 15. April 1898, Leipzig 1898, S. 39. Eine Zusammenfassung der seit Verbandsgründung erarbeiteten „Geschäftsordnung für die Versammlungen deutscher Historiker und den Ausschuß des Verbandes deutscher Historiker“ ist abgedruckt in: Bericht über die siebente Versammlung deutscher Historiker zu Heidelberg, 14. bis 18. April 1903, Leipzig 1903, S. 46–48.
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den Ziele von Kontinuität und stetem Wechsel im Führungsgremium, ein für erfolgreiche Institutionalisierungen durchaus wichtiger Aspekt, diese Satzungsregelungen wurden durch die umgehende Wiederantrittsmöglichkeit weitgehend konterkariert. Eine „relativ kleine Gruppe von Historikern beherrschte den Ausschuß allein schon durch ihre stabile Position“, diese Gruppe habe sich der Historikertage und des Verbandes bedient, um „ihre Vorstellungen von Institutionalisierung umzusetzen.“ 50 Auch wenn der Verband Deutscher Historiker in seiner fachlichen Bedeutung für die Geschichtswissenschaft in Deutschland fraglos nicht überschätzt werden sollte, seinem Führungsgremium anzugehören erfreute sich offenkundig einiger Beliebtheit. Eher selten verzichteten Ausschussmitglieder auf ihre Zugehörigkeit. Er bitte, so wandte sich Karl Theodor von Heigel im September 1909 an seinen Ausschusskollegen Harry Bresslau, auf dem Straßburger Historikertag an seiner Stelle ein anderes Mitglied in den Ausschuss zu wählen. Er wolle, so Heigel, dass auch die jüngeren Kollegen „im Ausschuss Vertretung finden“, er sei „ja dessen Mitglied seit der Gründung der Historikerkongresse“ gewesen und glaube sich „dadurch einen Platz im ‚Austragsstüberl‘ verdient zu haben. 51 Ein, wie gesagt, eher seltenes Ansinnen, das zudem auch von Heigel selbst bald wieder revidiert wurde. In Braunschweig zwei Jahre darauf ließ er sich erneut in den Ausschuss wählen, um diesem bis zu seinem Tod im Jahr 1915 anzugehören. 52 Stetigkeit oder Stillstand – verlängert man diese Untersuchungsperspektive bis in die Weimarer Republik hinein, wird die langandauernde Mitgliedschaft einzelner, zudem auch in anderen Bereichen der deutschen Geschichtswissenschaft einflussreicher Akteure nochmals deutlicher. So beispielsweise Friedrich Meinecke, der erstmals in Nürnberg 1898 in den Ausschuss kooptiert wurde. Erneut geschah dies 1900 in Halle. In Heidelberg wurde Meinecke 1903 erstmals gewählt, nach seinem turnusgemäßen Ausscheiden in Dresden 1907 trat er umgehend wieder erfolgreich an, in Wien 1913 wiederholte sich dieser Vorgang von Ausscheiden und sofortiger Wiederwahl. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Unterbrechung der Verbandstätigkeit zählte Meinecke in Frankfurt 1924 somit zu den „von früher her“ 53 im Ausschuss Befindlichen und verblieb in diesem. Die in Graz 1927 schließlich nötige Wiederwahl gelang Meinecke selbstredend, sodass der Herausgeber der Historischen Zeitschrift 1933 seit fünfunddreißig Jahren unun-
50 Middell, Die ersten Historikertage, S. 34–36. 51 Staatsbibliothek Berlin, Nachlass Harry Bresslau 1, Karl Theodor von Heigel an Harry Bresslau v. 18. 9. 1909. Allerdings erreichte dieses Begehren Bresslau auf dem Historikertag in Straßburg offenkundig zu spät, der zuletzt 1906 gewählte Heigel verblieb im Verbandsausschuss, vgl. Bericht über die elfte Versammlung deutscher Historiker zu Straßburg i. E., 15. bis 19. September 1909, Leipzig 1910, S. 40. 52 Vgl. den Bericht über die zwölfte Versammlung deutscher Historiker zu Braunschweig, 17. bis 22. April 1911, Leipzig 1911, S. 29. 53 Vgl. die Berichtshefte zu den Historikertagen, das Zitat in: Bericht über die vierzehnte Versammlung deutscher Historiker zu Frankfurt a. M., 30. September bis 4. Oktober 1924. Frankfurt a. M. 1926, S. 42.
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terbrochen als Ausschussmitglied amtierte. Auch der Althistoriker Eduard Meyer gehörte dem Verbandsausschuss, gleich Meinecke und Georg von Below, für mehr als drei Jahrzehnte an. Beginnend vom ersten, auf dem Innsbrucker Historikertag 1896 gewählten Ausschuss, ausscheidend erst mit dem Tod 1930, selbstverständlich noch amtierend. Die persönlichen, paradigmatischen, aber auch institutionellen Beharrungskräfte der Geschichtswissenschaft des Kaiserreichs reichten weit über dessen politische Existenz hinaus. Jenseits der dargestellten personalen Anpassung des Verbandes an die in der Disziplin bestehenden Einfluss- und Machtstrukturen, der zunehmenden Dominanz der Fachelite im Führungsgremium des Verbandes, bedeutete „Disziplinierung“ jedoch vor allem die – wie an der Intervention Georg von Belows deutlich wurde – wachsende Rolle des Verbandes respektive des Verbandsausschusses als fachliches Kontrollorgan. Die Historikertage avancierten rasch zum herausragenden, wichtigsten Forum der deutschen Geschichtswissenschaft. Für eine Geschichte des Historikerverbandes, aber auch für die deutsche Historiographiegeschichte ganz allgemein, wird deshalb eine Nachzeichnung der Historikertage selbst, vor allem aber die diesen vorgelagerte Geschichte der „Einladungs- und Vortragspolitik“, die nachzuzeichnenden Strategien von Inklusion und Exklusion, von besonderer Bedeutung sein. Hierzu zählt auch die Darstellung der Folgen verbands- und fachinterner Durchsetzung von Themen, Fachrichtungen und Interpretationen für die „Produktion“ historischen Wissens, schließlich nicht zuletzt auch die verhinderten Themen, die nicht gehaltenen Referate. Durchaus nicht unberechtigt ist zudem angemerkt worden, dass die „Erfolgsgeschichte des deutschen Historikertags“ nicht „vorrangig auf der schnellen Herstellung eines innovativen Konsenses, sondern eher auf einem Schweigekompromiß über die grundsätzlichen Streitfragen im Fach“ beruhte. 54 Für alle drei Varianten – Durchsetzung von Themen, ihre Ablehnung beziehungsweise Unterlassung der Diskussion – allerdings sieht sich dieser wichtige Aspekt der Untersuchung mit einem durchaus folgenreichen Quellenproblem konfrontiert, denn ein Archiv des Verbandes Deutscher Historiker existiert nicht. Ein solches hat auch nie bestanden, vielmehr noch, es konnte nicht bestehen, da – wie ausgeführt – bis 1932 der Verbandsvorsitz im Turnus der Historikertage wechselte. Der Verband verfügte demnach schon aus in seiner Organisationsstruktur begründeten Ursachen über keinerlei Sammlungsort, der in eine Archivüberlieferung hätte münden können. Da allerdings auf den Historikertagen Vorträge vor allem auf persönliche Einladung gehalten wurden, sind Beförderungs- wie Verhinderungsversuche durch einflussreiche Fachvertreter beziehungsweise deren entsprechendes Wirken in den Gremien des Verbandes über die jeweilige, sofern vorliegende, persönliche Überlieferung in Nachlässen und Korrespondenzen zumindest in Teilen nachzuvollziehen. 54 Gerald Diesener/Matthias Middell, „Institutionalisierungsprozesse in den modernen historischen Wissenschaften", in: dies. (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, S. 7–20, hier S. 11.
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Neben den auf den Historikertagen durch entsprechende Vortragsauswahl beförderten methodologischen und thematischen Standardisierungen, die wissenschaftliche Institutionalisierungsprozesse in jeglichen Fachrichtungen und Entwicklungsstadien begleiten, waren Tagungen wie Verband auch an der Entstehung einer, sich in einem längeren Prozess seit Mitte des 19. Jahrhunderts herausbildenden, professionellen Berufshistorikerschaft in Deutschland wesentlich beteiligt. Vor allem, weil die Historikertage, im Gegensatz zu Seminaren und Akademien, für lange Zeit ein Forum mit andauernder Partizipation von Amateuren waren. Die Scheidung in professionelle und nichtprofessionelle Historiker als Bestandteil des fachlichen Institutionalisierungsprozesses, diese Schärfung des disziplinären Profils auch durch die Einladung bzw. Ablehnung von Vortragenden zu den Historikertagen, ist von der Institutionalisierung und Etablierung des Verbandes Deutscher Historiker selbstredend nicht zu trennen. Im Kontext einer Geschichte des wie betont vergleichsweise heterogen begründeten Verbandes Deutscher Historiker wird die Abgrenzung zwischen Amateuren und Berufshistorikern, mit der selbstredend auch Veränderungen und Revisionen des Berufsbildes „Historiker“ einhergingen, eingehend zu thematisieren sein. Der Historikerverband als zuallererst wesentliche Instanz für die äußerliche wie inhaltliche Gestaltung der Historikertage fungierte gleichsam als Grenzwächter, nach innen wie nach außen galt es, die Grenze zwischen den jeweiligen Sphären festzulegen, beizubehalten oder gegebenenfalls enger beziehungsweise weiter zu fassen. Die relative, dann abnehmende Heterogenität des Verbandes liegt demnach, dies wäre zu erwägen, nicht zuletzt in seiner wesentlichen Funktion begründet. Die Historikertage als wie ausgeführt in verschiedener Weise zu fassende, aber auf jeden Fall öffentliche Foren hätten als von Beginn an deutlich abgegrenzte, den jeweiligen Fachdiskus strikt homogenisierende Veranstaltungen wohl kaum eine derart vitale, und schließlich trotz aller folgenden Brüche doch langlebige Erscheinung werden können. Seine bereits in seiner Präsentationsform – der Fachtagung – begründete, gewisse Varianz und Flexibilität, die die Möglichkeiten seiner Institutionalisierung zweifelsohne auch verengte, ermöglichte dem Verband zugleich seine Etablierung. VI. Ausblick 55 Fast alle Reflexionen über die Geschichtswissenschaft wie ihr weiteres Umfeld in den Jahrzehnten nach der Wende zum 20. Jahrhundert vereinen sich in einem Wort: Krise. Eine Krise des Historismus, eine Krise des Geschichtsbewusstseins,
55 Die in diesem Beitrag vorgenommenen Überlegungen werden für die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus ausführlicher fortgeführt in: Matthias Berg, „‚Eine grosse Fachvereinigung‘? Überlegungen zu einer Geschichte des Verbandes Deutscher Historiker zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus“, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 64 (2013), Heft 3/4, S. 153–163.
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eine Krise der Wissenschaft, auch eine Krise des Bildungsbürgertums. 56 Die aus dieser umfassenden Krisenwahrnehmung folgende, seit der Jahrhundertwende zunehmende Verunsicherung auch innerhalb der Geschichtswissenschaft – eine Verunsicherung über ihre Themen und Methoden, angesichts der erhobenen Ansprüche der Naturwissenschaften auf Deutungshoheit für die Gesellschaft auch eine Verunsicherung über ihren disziplinären Rang 57 – ist in der zeitgenössischen historiographischen Praxis jedoch weitgehend folgenlos geblieben. Die von Max Weber oder Ernst Troeltsch entworfenen Auswege aus der methodischen Sackgasse des Historismus wurden kaum beschritten. 58 Bewusst geworden ist den deutschen Historikern die krisenhafte Entwicklung durchaus, jedoch „verweigerte sich die ‚Zunft‘ im Unterschied zu anderen Kulturwissenschaften weitgehend“ und riegelte sich schließlich „mit langfristigen Folgen von sozial- und kulturhistorischer Modernisierung ab“. 59 Für den Verband als, neben der Hauptfunktion als Veranstalter der Historikertage, zumindest potentielle Standesorganisation war diese umfassende Krisenwahrnehmung eine Hypothek. Denn der zumeist gewählte Ausweg in Beharrung auf dem Vertrautem und Abwehr des Neuen resultierte in einer bis zum Ersten Weltkrieg zunehmend erstarrenden Historiographie, einer vergleichsweise jungen, nur begrenzt etablierten Institution wie dem Historikerverband hätte eine dynamischere Gesamtsituation wohl zum Vorteil reichen können. „Bis tief in die Nacht saßen wir während des Historikertages manchmal mit deutschen und österreichischen Fachgenossen beisammen und die Reden flossen über von dem, was uns gemeinsam bewegte, von großdeutschen Gedanken, die eben unter den jüngeren Historikern wieder zum Leben erwachen wollten.“
Zehn Jahre nach dem letzten Vorkriegshistorikertag, im September 1913 in Wien abgehalten, erinnerte sich der Münchner Historiker Karl Alexander von Müller im Frühjahr 1923 an seine Teilnahme als junger Nachwuchshistoriker. 60 Ebenso sen56 Otto Gerhard Oexle (Hg.), Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007; Wolfgang Hardtwig, „Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus“, in: ders. (Hg.), Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 77– 102; Richard Pohle, Max Weber und die Krise der Wissenschaft. Eine Debatte in Weimar, Göttingen 2009; Konrad H. Jarausch, „Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil IV: Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 180–205. 57 Neben den Ansprüchen der Naturwissenschaften auf Vorrang ihrer Erkenntnisse irritierte v. a. ihre zunehmende öffentliche Resonanz, vgl. umfassend: Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit 1848–1914, 2. erg. Aufl., München 2002. 58 Vgl. Jan Eckel, Geist der Zeit. Deutsche Geisteswissenschaften seit 1870, Göttingen 2008, S. 28–33. 59 Rüdiger vom Bruch, „Geschichtswissenschaft“, in: Stefan Jordan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 124–130, Zitate S. 127f. 60 Müller tat dies im Kontext eines ausführlichen Nachrufes auf einen damaligen Begleiter und Kollegen, der im September 1914 auf dem Frankreichfeldzug zu Tode gekommen war. Vgl.
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timental wie weniger die Debatten des späten Kaiserreichs als die der frühen 1920er Jahren in die jüngere Fachgeschichte projizierend, erschien der Historikertag als Veranstaltung einer grauen Vorzeit anzugehören, keinesfalls ein stetiger Begleiter eines aktuellen geschichtswissenschaftlichen Berufslebens zu sein. Die nun auch institutionelle Krise der deutschen Geschichtswissenschaft hielt an, seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatten keine Historikertage mehr veranstaltet werden können. Die „Not deutscher Wissenschaft“ 61 nach der Kriegsniederlage des Kaiserreiches ließ auch die deutschen Historiker besorgt fragen, unter welchen institutionellen Bedingungen sie zukünftig wirken würden. Der erste Historikertag in der Weimarer Republik zumindest konnte, nach mehreren gescheiterten Anläufen, im Herbst 1924 in Frankfurt am Main veranstaltet werden. Anschließend gelang die erneute Verstetigung der Tagungen, bis 1933 fanden, allerdings unter erheblichen finanziellen und organisatorischen Mühen noch weitere vier Historikertage statt. (Breslau 1926, Graz 1927, Halle 1930, Göttingen 1932) Inmitten der elfjährigen Unterbrechung der Verbandstätigkeit zwischen 1913 und 1924 sondierte im August 1921 der Berliner Osteuropahistoriker Otto Hoetzsch die institutionelle Lage der deutschen Geschichtswissenschaft in einem Brief an seinen Kollegen Harry Bresslau. Die Bilanz von Hoetzsch fiel ernüchternd aus: „Eine grosse Fachvereinigung (...) fehlt doch wohl für uns. Der Verband Deutscher Historiker umfasste niemals alle Kreise, und ich glaube im Augenblick auch nicht, dass er wirklich noch funktioniert. Immerhin dürfte er die Organisation sein, die zusammen mit dem Gesamtverband der Deutschen Geschichts- und Altertumsvereine am ehesten als solche Vereinigung in Frage käme“. 62
Das hier aufscheinende Potenzial sollte der Verband allerdings erst einige Jahre nach der Feststellung von Hoetzsch zu nutzen wissen. Als Vertreter der deutschen Geschichtswissenschaft auf den Internationalen Historikertagen wie auch im 1926 begründeten Internationalen Historikerkomitee übernahm er eine für die Reintegration der deutschen Historiker in den internationalen Wissenschaftsbetrieb sowohl nach dem Ersten wie nach dem Zweiten Weltkrieg kaum zu überschätzende Rolle. 63 Karl Alexander von Müller, „Adalbert von Raumer“, in: Adalbert von Raumer, Der Ritter von Lang und seine Memoiren. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Karl Alexander von Müller und Kurt von Raumer, München/Berlin 1923, S. VIII–XXVI, hier S. IX. 61 Jürgen John, „‚Not deutscher Wissenschaft‘? Hochschulwandel, Universitätsidee und akademischer Krisendiskurs in der Weimarer Republik“, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Konrad H. Jarausch/Jürgen John/Matthias Middell (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 106–140. 62 SBBStaatsbibliothek zu Berlin, Nachlass Harry Bresslau 1, Otto Hoetzsch an Harry Bresslau v. 10. 8. 1921. 63 Vgl. umfassend: Karl Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, sowie zur Vorkriegsentwicklung: Eckhardt Fuchs, „Wissenschaft, Kongreßbewegung und Weltausstellungen. Zu den Anfängen der Wissenschaftsinternationale vor dem Ersten Weltkrieg“, in: Gerald Diesener/Matthias Middell (Hg.), Historikertage im Vergleich, Leipzig 1996, S. 156–177.
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Internationale Historikertage wurden allerdings bereits vor der Jahrhundertwende veranstaltet. In Vorbereitung des ersten, für den September 1898 in Den Haag geplanten Kongresses hatte Georg von Below eindrücklich auf die Bedeutung einer deutschen Beteiligung verwiesen. 64 Nach Stationen in Paris (1900) und Rom (1903) fand der Internationale Historikertag schließlich im Sommer 1908 in Berlin statt. Der in Rom unterbreitete Vorschlag für die Abhaltung des Kongresses in Berlin war von Mitgliedern der Berliner Universität wie auch der Preußischen Akademie der Wissenschaften aufgegriffen worden, dem gebildeten Vorbereitungskomitee gehörten unter anderem Otto von Gierke, Adolf (von) Harnack, Eduard Meyer sowie als Vorsitzender der Generaldirektor der Staatsarchive Reinhold Koser an. 65 Es war also eine dezidiert von den Berliner wissenschaftlichen Institutionen ausgerichtete Beteiligung, der Verband war in die Vorbereitung und Durchführung des Internationalen Historikertages noch nicht eingebunden. 66 Das Zögern der Berliner Kollegen, am Verband zu partizipieren, hatte bereits dessen Gründungs- und Frühgeschichte geprägt, auch knapp fünfzehn Jahre später betonte ein Tagungsbericht zum elften Historikertag in Straßburg 1909 dessen „ausgesprochen südwestdeutsche Note.“ 67 In der Reichshauptstadt würde kein Historikertag stattfinden, der erste Berliner Historikertag kam 1964 in der nun allerdings geteilten Stadt zu Stande. Seit seiner Gründung war der Verband Deutscher Historiker als Veranstalter der Historikertage eine der zentralen Institutionen deutscher Geschichtswissenschaft, unterstützt von wechselnden historischen Seminaren, die für die konkrete Organisation der zumeist alle zwei Jahre stattfindenden Veranstaltungen verantwortlich zeichneten. Zugleich blieb der Verband jedoch institutionell nur lose verankert, gleichsam in den Zeiträumen zwischen den Historikertagen „ortlos“ und als Institution in seinem Betätigungsfeld eingeschränkt. Es zählt fraglos zu den wesentlichen Herausforderungen einer Untersuchung auch der frühen Verbandsgeschichte, die Gründe für diesen Widerspruch zwischen innerfachlichem Einfluss und äußerlicher Organisationsschwäche zu thematisieren, nach seinen Gründen zu fragen wie auch etwaige „Chancen und Hemmnisse“ aus dieser besonderen Rolle zu erwägen. Wenn der Historikertag, so resümierte Peter Schumann, es auch nicht vermocht habe, die „ganze Spannweite der deutschen historischen For-
64 GLAK, Nachlass Erich Marcks 71, Georg von Below an Erich Marcks v. 10. 2. 1898. 65 Vgl. den von Koser an den „Herrn Minister der auswärtigen Angelegenheit“ im Februar 1905 gesandten Bericht, in: GStA I. HA Rep. 76 Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VI Nr. 13, (I), Bl. 160. 66 Vgl. zum Berliner Internationalen Historikertag auch: Rüdiger vom Bruch, „Die Stadt als Stätte der Begegnung. Gelehrte Geselligkeit im Berlin des 19. und 20. Jahrhunderts“, in: Rüdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Björn Hofmeister u. Hans-Christoph Liess, Stuttgart 2006, S. 169–185, hier S. 169f. 67 Zum Abschluss des Historikertages, so der Bericht, gab man der „Hoffnung Ausdruck, daß der Verband unter den norddeutschen Fachgenissen, die sich bisher etwas zurückgehalten haben, zahlreiche neue Mitglieder gewinnen werde.“ Vgl. Fritz Rörig, „Der 11. Deutsche Historikertag“, in: Historische Vierteljahrschrift 13 (1910), S. 118–122, Zitate S. 118 und 122.
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schung und Lehre, die Vielzahl ihrer Lehrmeinungen und Methoden angemessen und gerecht“ darzustellen, so könne er doch zugleich durchaus als „Repräsentation der deutschen Geschichtswissenschaft“ gelten, als das „getreue Spiegelbild einer Geschichtswissenschaft, die – mindestens in ihrer Hauptrichtung – von der Dominanz der politischen Geschichte geprägt war und an Theoriediskussionen eher Unlust bezeigte“. 68
Unzweifelhaft ist, dass die Historikertage als eine der bedeutendsten Institutionalisierungen der deutschen Geschichtswissenschaft anzusehen sind, dass die Entwicklung der geschichtswissenschaftlichen Forschung in Deutschland seit den 1890er Jahren ohne eine Darstellung der Historikertage und des diese ausrichtenden Verbandes Deutscher Historiker nicht hinreichend zu untersuchen wäre.
68 Schumann, Historikertage, S. 435.
„FÜR DEN MANN VOM FACHE“ Redaktion und Standardisierung historischer Publikationen der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien Christine Ottner Im Frühjahr 1852 genehmigte die Historische Kommission der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien auf Antrag ihres Redakteurs einen Beitrag zur Aufnahme in die von ihr herausgegebene und redigierte Zeitschrift, das Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen. 1 Verfasser des Beitrages war der Privatdozent Wilhelm Wattenbach, der sich kurz zuvor in Berlin habilitiert hatte. 2 In einer diplomatisch-kritischen Abhandlung hatte sich Wattenbach ausführlich mit dem schon länger umstrittenen, auch politisch bedeutsamen Thema der Entstehung und Echtheit der sogenannten Österreichischen Freiheitsbriefe, bekannt als das Privilegium Maius, auseinandergesetzt. 3 Der Redakteur des Archivs begut-
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Wilhelm Wattenbach, „Die österreichischen Freiheitsbriefe. Prüfung ihrer Echtheit und Forschungen über ihre Entstehung“, in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen (AÖG; ab 1865 unter dem Titel: Archiv für Österreichische Geschichte) 8 (1852), S. 77–119. Wattenbach arbeitete bereits seit den 1840er Jahren für die Monumenta Germaniae Historica unter der Leitung von Georg Heinrich Pertz. Seine ausgedehnten Archivreisen führten ihn noch vor Ausbruch der Revolution von 1848 in einige österreichische Stiftsarchive und ebenso nach Wien; siehe etwa Karl Zeumer, „Wilhelm Wattenbach“, in: Historische Zeitschrift 80 (1898), (= N.F. (XLIV)), S. 75–85, hier S. 78; siehe auch Harry Bresslau, Geschichte der Monumenta Germaniae Historica im Auftrage ihrer Zentraldirektion (= Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde (XLII)), Hannover 1921, bes. S. 263–265; zu Wattenbachs wissenschaftlichem Werdegang Carl Rodenberg, [Artikel] „Wattenbach, Ernst Christian Wilhelm“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898), S. 439–443. Zur Problematik des Privilegium Maius etwa Günther Hödl, „Die Bestätigung und Erweiterung der österreichischen Freiheitsbriefe durch Kaiser Friedrich III.“, in: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica, München, 16.–19. September 1986, Teil III: Diplomatische Fälschungen (I), (= Monumenta Germaniae Historica, Schriften (XXXIII/III)), Hannover 1988, S. 225–246; Alphons Lhotsky, „Das Nachleben Rudolfs IV. in Tradition und Historiographie“, in: Alphons Lhotsky. Aus dem Nachlaß (= Alphons Lhotsky. Aufsätze und Vorträge (V), hg. von Hans Wagner/Heinrich Koller), Wien 1976, S. 143–156, hier S. 148; Alphons Lhotsky, „Epilegomena zu den Freiheitsbriefen“, in: Alphons Lhotsky, Europäisches Mittelalter. Das Land Österreich (= Alphons Lhotsky. Aufsätze und Vorträge 1, hg. von Hans Wagner/Heinrich Koller), Wien 1970, S. 265–282, bes. S.
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achtete den Beitrag kommissionsintern und stellte dabei fest, dass Wattenbachs Ausführungen „so wissenschaftlich strenge und scharf“ seien wie ihr Verfasser selbst. Nur an einer Stelle habe sich Wattenbach wohl durch seine „Privatneigung für Preußen etwas zu sehr hinreißen lassen“. Der Redakteur beantragte den raschen Druck der Abhandlung, und „wäre es nur deshalb, um sie zur Widerlegung mancher Puncte bald vor die rechte Schmiede zu bringen“. Besonders den Archivaren des Geheimen Hausarchivs in Wien legte er die Abfassung einer Replik ans Herz. Sein Interesse daran sei aber, wie er bekannte, nicht mehr auf die ohnedies unhaltbare „Rettung“ des gefälschten Privilegiums gerichtet, sondern lediglich auf einzelne Punkte der Beweisführung. 4 In diesem Beispiel präsentiert sich das wenige Jahre zuvor gegründete Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen als Forum für gelehrte Fachkommunikation. Auch mögliche wissenschaftliche Kontroversen werden in Aussicht gestellt. Zudem signalisiert das Verfahren der akademieinternen Vorbegutachtung für die zu publizierenden Zeitschriftenbeiträge die Verpflichtung der Beiträger zur Einhaltung wissenschaftlicher Standards. Als historische Fachzeitschrift wurde ein Organ bezeichnet, das sich in den „unmittelbaren Dienst“ der Geschichte stellt. Es enthält generell Abhandlungen und Quellenpublikationen, die vorzugsweise Themen behandeln, die „kein ganzes Buch rechtfertigen“. Ebenso charakteristisch sind häufig eigene Rezensionsteile und die periodische Erscheinungsform. 5 Zeitschriften gehören zu den zentralen Elementen der wissenschaftlichen Institutionalisierung, die sich als „Verfestigung“ des stets flüssigen akademischen Diskurses und facettenreichen Forschungsprozesses skizzieren lässt. 6 In diesem Kontext spiegeln solche Periodika
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267f. Die Bedeutung der Echtheitsfrage im Hinblick auf die allgemeine deutsche Reichsgeschichte betonte auch Wattenbach in der in Anm. 1 zitierten Abhandlung, S. 79. Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (AÖAW), Historische Kommission (HK), Karton 1, Alte Akten (1851–1869), Nr. 31, Aktenzahl (künftig: AZ) 297 ex 1852, Theodor von Karajan, Gutachten, genehmigt 1852 April 19. In der Tat folgten der Publikation Wattenbachs, die Rudolf IV. klar als Fälscher entlarvte, noch einige Entlastungsversuche, allen voran durch den Zweiten Archivar des Geheimen Hausarchivs, Joseph Chmel, der dabei auch nicht mit Seitenhieben auf Wattenbach sparte. Siehe hierzu Christine Ottner, „Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer: Die Anfänge der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft“, in: Karel Hruza/Paul Herold (Hg.), Wege zur Urkunde – Wege der Urkunde – Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii (XXIV)), Wien/Köln 2005, S. 259–293, hier S. 276f. Nach den Überlegungen von Horst Walter Blanke, „Verwissenschaftlichung und Aufklärung. Historische Zeitschriften im 18. Jahrhundert“, in: Horst Walter Blanke (Hg.), Dimensionen der Historik: Geschichtstheorie, Wissenschaftsgeschichte und Geschichtskultur heute. Jörn Rüsen zum 60. Geburtstag, Köln/Wien 1998, S. 237–253, Zitate S. 237f. Matthias Middell, „Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste im H-Net. Gedanken zur Geschichte der Zeitschriften als Elementen der Institutionalisierung moderner Geschichtswissenschaft“, in: Matthias Middell (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert (II)), Leipzig 1999, S. 7–31, hier S. 22.
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nicht nur innerfachliche Entwicklungen und Beziehungen zu anderen Disziplinen wider, sondern bestimmen diese Dynamik durch aktive Redaktionspolitik entscheidend mit. Bereits das 18. Jahrhundert wies eine beträchtliche Anzahl an Zeitschriften mit unterschiedlichem fachlichen Zuschnitt auf; auch auf historischem Gebiet entfaltete sich ein reiches Spektrum von genealogischen, numismatischen und statistischen Periodika, Rezensionsorganen und landesgeschichtlichen Zeitschriften. 7 Dabei zeigte sich etwa in Deutschland bereits eine bezeichnende Symbiose zwischen dem Prozess zunehmender Verwissenschaftlichung und der Herstellung einer Öffentlichkeit. 8 Gleichwohl sind die gelehrten Journale des 18. Jahrhunderts in ihrer erstaunlichen Vielfalt doch überwiegend als Medien mit erzieherischem Anspruch oder zur Verbreitung und Diskussion bestimmter Ideen in einem gebildeten Kreis zu sehen. 9 Demgegenüber etablierten sich international seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Zeitschriften, die sich zunehmend an ein fachlich spezialisiertes Publikum wandten. 10 In der zweiten Jahrhunderthälfte veränderte sich die Dimension der Zeitschriftenpublikationen folglich grundlegend, da die Anzahl der Fachperiodika auf zahlreichen wissenschaftlichen Gebieten stark zunahm: Neue Forschungsansätze wurden verfolgt und neue Wissenschaftsfelder abgesteckt. Die entstandenen Fachorgane boten eine Möglichkeit für die Präsentation, Interpretation, Diskussion und Weiterentwicklung der entsprechenden Ergebnisse. Zeitschriften sind daher zugleich als Folge und als Voraussetzung der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung zu sehen. 11 Durch die Annahme oder Ablehnung von Manuskripten zeigt sich zudem ihre inkludierende und exkludierende Funktion, da hiermit wesentlich zur Durchsetzung bestimmter, in einer community geltender Standards beigetragen wurde. Der Prozess der Akademisierung und Spezialisierung verband sich dabei zunächst eng mit dem Aspekt der nationalen Repräsentanz. 12 Für die Geschichtswissenschaft in Deutschland markiert die seit 1859 erscheinende Historische Zeitschrift Heinrich Sybels den Wandel von einer Zeit7 8 9
Blanke, „Verwissenschaftlichung und Aufklärung“, S. 240–243. Ebd., S. 251. Ute Schneider, „Die Funktion wissenschaftlicher Rezensionszeitschriften im Kommunikationsprozeß der Gelehrten“, in: Ulrich Johannes Schneider (Hg.), Kultur der Kommunikation. Die europäische Gelehrtenrepublik im Zeitalter von Leibnitz und Lessing (= Wolfenbüttler Forschungen (CIX)), Wiesbaden 2005, S. 279–291; Thomas Habel, Gelehrte Journale und Zeitungen der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge (XVII)), Bremen 2007. 10 Charles B. Osborn, “The Place of the Journal in the Scholarly Communications System”, in: Library Resources and Technical Services 28, (4/1984), S. 315–324, hier bes. S. 316–319. 11 Sigrid Stöcke, „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung von Wissenschaft“, in: Sigrid Stöcke/Wiebke Linser/Gerlind Rüve (Hg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert: Verwissenschaftlichung der Gesellschaft – Vergesellschaftung von Wissenschaft (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft (V)), Stuttgart 2009, S. 9– 23, hier S. 13. 12 Middell, „Vom allgemeinhistorischen Journal zur spezialisierten Liste“, S. 8.
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schrift für eine gebildete Öffentlichkeit zu einem Publikationsorgan für ein akademisches Fachpublikum. Der Vereinbarkeit von Wissenschaftlichkeit und Allgemeinverständlichkeit kam vorerst zentrale, durchaus nationalerzieherische Bedeutung zu. 13 In weiterer Folge rückten die Tendenzen zur Verwissenschaftlichung deutlich in den Vordergrund, wie sich anhand der in der Historischen Zeitschrift enthaltenen historisch-kritischen Quellenstudien und der zunehmend ausgebauten Anmerkungsapparate zeigen ließ. 14 Im internationalen Vergleich erfolgte die Gründung der Historischen Zeitschrift zu einem frühen Zeitpunkt. Die entsprechenden Periodika etwa in England, Frankreich und Amerika wurden erst in den darauffolgenden Dezennien initiiert:15 Die English Historical Review erschien ab 1886, die französische Revue Historique ab 1876 und die American Historical Review ab 1895. 16 Trotz vieler struktureller Unterschiede und Probleme standen alle diese Zeitschriften in dem erwähnten nationalpolitischen Kontext und zeigten sich zunehmend professionellen Standards verpflichtet. Besonders deutlich wird dies etwa am italienischen Pendant, der 1884 gegründeten Rivista Storica Italiana.17 In Frankreich etwa verschob sich nach deutschem Vorbild die Methodendiskussion häufig von Fragen der Darstellung zu Fragen der Forschung. 18 Auch für die belgische Quellenforschung wurden wesentliche Tendenzen der Professionalisierung und deren „antiquarianistische“ Ausgangspunkte aufgezeigt. 19
13 Theodor Schieder, „Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift“, in: Historische Zeitschrift 189 (1959), [= zugleich: Theodor Schieder (Hg.), Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859-1959. Beiträge zur Geschichte der Historiographie in den deutschsprachigen Ländern, München 1959], S. 1–104, hier S. 54. 14 Martin Nissen, „Wissenschaft für gebildete Kreise. Zum Entstehungskontext der Historischen Zeitschrift“, in: Sigrid Stöcke/Wiebke Linser/Gerlind Rüve (Hg.), Das Medium Wissenschaftszeitschrift seit dem 19. Jahrhundert, (vgl. Anm. 11), S. 25–44, hier S. 38f. In der Historischen Zeitschrift wurde bis zur Mitte der 1860er Jahre in den Anmerkungen vorwiegend das herangezogene Quellenmaterial angegeben. Im Verlauf der 1860er Jahre häuften sich Verweise auf die verwendete Sekundärliteratur. Mit der Erweiterung des Zeitschriftenmarktes ab Mitte der 1870er Jahre nahmen die Bezüge auf Zeitschriftenartikel zu, wodurch auch die Anmerkungsapparate in den Beiträgen der Historischen Zeitschrift umfangreicher wurden. 15 Margaret F. Stieg, The Origin and Development of Scholarly Historical Periodicals, Alabama 1986, S. 39f. 16 Zur English Historical Review besonders Stieg, The Origin, S. 42–44; zur Revue Historique Inga Gerike, “‘Notre siècle est le siècle de l’histoire.’”. Die Revue historique im Spannungsfeld von historischer Forschung und politischem Engagement 1876–1900“, in: Matthias Middell (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, (vgl. Anm. 6), S. 63–81; zur American Historical Review Gabriele Lingelbach, „Die American Historical Review“, in: ebd., S. 33–62. 17 Edoardo Tortarolo, „Die Rivista Storica Italiana 1884–1929“, in: Matthias Middell (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, (vgl. Anm. 6), S. 83–91, hier bes. S. 86. 18 Gerike, „Die Revue historique“, S. 66f. 19 Jo Tollebeek, “Voorgeschiedenis en vormverandering. Historische Tijdschriften in België, 1870–1922”, in: Revue Belge de Philologie et d´Histoire 76, (1998), S. 847–870, bes. S. 853f.
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Der österreichischen Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts waren zwei wesentliche Aspekte zu eigen, die jedenfalls bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bestimmend blieben: Zum einen ist dies die Tradition zur Bearbeitung und Herausgabe historischer Quellen, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert zunächst vielfach in klösterlichen Archiven und Bibliotheken sowie in den kaiserlichen Sammlungen, 20 seit etwa 1850 zunehmend an den Universitäten etwa in Wien und Innsbruck gepflegt und weiterentwickelt wurde. 21 Insgesamt zeigt sich hier, wie in zahlreichen anderen Ländern auch, die konstitutive Bedeutung der Archive für die historische Forschungspraxis. 22 Zum anderen bestimmte die permanente Frage nach den Inhalten und der Bedeutung einer „österreichischen“ Geschichtsschreibung im habsburgischen Vielvölkerstaat die geschichtswissenschaftliche Produktion. 23 Hierbei erwies sich freilich auch die Frage nach der Orientierung an der vorbildhaft wirkenden deutschen Wissenschaft als relevant. Alle dahin gehenden gesamtstaatlichen Initiativen sahen sich zudem mit dem Aufschwung der nationalen (Geschichts-)Forschung in den Ländern der Monarchie konfrontiert. 24
20 Zum 18. Jh. allgemein Ludwig Hammermayer, „Die Forschungszentren der deutschen Benediktiner und ihre Vorhaben“, in: Karl Hammer/Jürgen Voss (Hg.), Historische Forschung im 18. Jahrhundert. Organisation, Zielsetzung, Ergebnisse. 12. Deutsch-Französisches Historikerkolloquium des Deutschen Historischen Instituts Paris (= Pariser Historische Studien (XIII)), Bonn 1976, S. 122–191; zur Situation in Österreich siehe Alphons Lhotsky, Österreichische Historiographie (=Schriftenreihe des Arbeitskreises für österreichische Geschichte), Wien 1962; speziell zu den österreichischen Benediktinern Thomas Wallnig, Gasthaus und Gelehrsamkeit. Studien zu Herkunft und Bildungsweg von Bernhard Pez OSB vor 1709 (= Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (XLVIII)) Wien/ München 2007; zur historischen Forschung der Augustiner-Chorherrn siehe Karl Rehberger, „Ein Beitrag zur Vorgeschichte der ‚Historikerschule‘ des Stiftes St. Florian im 19. Jahrhundert“, in: Sankt Florian. Erbe und Vermächtnis. Festschrift zur 900-Jahr-Feier, Wien/Köln/Graz 1971, S. 210–250. 21 Walter Höflechner, „Forschungsorganisation und Methoden der Geschichtswissenschaft“, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, (IV), Wien 2002, S. 217–238; zur Innsbrucker Schule: Reinhard Härtel, „Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften“, in: ebd., S. 127–159, hier bes. S. 135–139, und vor allem den Beitrag von Martin Ernst Urmann in diesem Band; zur Situation an der Wiener Universität und den hier entwickelten paläographischen und diplomatischen Methoden: Daniela Saxer, “Archival objects in motion: historians’ appropriation of sources in nineteenth-century Austria and Switzerland”, in: Archival Science 10 (2010), S. 315–331. 22 Pieter Huistra, “The Documents of Feith (!): The Centralization of the Archive in NineteenthCentury Historiography”, in: Rens Bod/Jaap Maat/Thijs Westensteijn (Ed.), The Making of the Humanities, II: From Early Modern to Modern Disciplines, Amsterdam 2012, S. 357– 375. 23 Karl Vocelka, „Die Habsburgermonarchie als Gegenstand und Aufgabe der österreichischen Geschichtsforschung“, in: Martin Scheutz/Arno Strohmeyer (Hg.), Was heißt „österreichische“ Geschichte (= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit (VI)), Innsbruck 2008, S. 37–50. 24 Für Böhmen etwa Ferdinand Seibt (Hg.), Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern. Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 25. bis 27. November 1983 und vom 23. bis 25. November 1984 (= Bad Wiesseer Tagungen des Col-
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In diesem Kontext steht auch die Gründung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften und ihrer Historischen Kommission im Jahr 1847: Hiermit wurde ein bedeutender Schritt gesetzt, um die Geschichtsforschung im Kaiserstaat fachlich autonom zu stellen und zugleich erstmals dauerhaft institutionell zu verankern. 25 Mit dem Archiv für Kunde österreichischer Geschichts-Quellen eröffnete die Kommission im Jahr darauf ein periodisch erscheinendes Organ: Hierin konnten „die vaterländischen Geschichtsforscher ihre Notizen und kritischen Erörterungen niederlegen“. Auch Quellentexte, deren Vollabdruck nicht nötig erschien, sollten hierin in Form von Regesten, Auszügen oder Übersichten geboten werden. Auf diese Weise, so lautete das offizielle Programm, würde der Geschichtsforschung in Österreich eine Basis zur Verfügung gestellt werden. 26 Das Archiv sollte vorbereitend und begleitend zu einer ebenfalls von der genannten Kommission organisierten großen Editionsreihe, den Fontes Rerum Austriacarum (FRA) erscheinen, die für Quelleneditionen größeren Umfangs gedacht waren. Editorische Vorbereitungsarbeiten hierfür sowie für weitere, eigens von der Kommission veranstaltete Editionsprojekte sollten ihrerseits in einem Notizenblatt kundgemacht werden. 27 Es bleibt unklar, ob dieses ursprünglich statt des Archivs als alleinige Zeitschrift oder als zusätzliches Publikationsforum gedacht war. 28 Das Notizenblatt erschien jedenfalls ab 1851 als Beilage zum Archiv. 29 Es enthielt zunächst bibliographische Angaben und kurze Anzeigen der geschichtswissenschaftlichen Produktion in den Ländern der Monarchie; häufig wurde hier der Bezug zu den historische Landesvereinen hergestellt, die seit der ersten Hälfte
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legium Carolinum (XIII)), München 1986; Anna M. Drabek, “František Palacký and the beginning of the Austrian Academy of Arts and Sciences (Österreichische Akademie der Wissenschaften)”, in: East European Quaterly 15 (1/1967), S. 103–116. Gudrun Pischinger, „Vom ‚Dilettanten’ zum Fachwissenschaftler. Die Historische Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1847 bis 1877 und die Professionalisierung der Geschichtswissenschaft“, in: Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 20 (2001), S. 221–242. AÖAW, Sitzungsprotokolle der historisch-philologischen (!) Klasse, 1847 XII 22, Programm der Commission zur Herausgabe der Fontes rerum austriacarum, genehmiget von der historisch-philologischen Classe (!) der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in ihrer Sitzung vom 22. December 1847; zitiert nach Gudrun Pischinger, Geschichtsministerium oder Verlagsanstalt? Eine Funktionsanalyse der Historischen Kommission der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien 1847 bis 1877, ungedr. phil. Diss., Graz 2001, S. 254–257, hier S. 256. AÖAW, Allgemeine Akten, AZ 1042 ex 1851, präs. November 25, Protokoll der Sitzungen der Historischen Commission im akademischen Jahre November 1851–November 1852. Im ersten Vortrag von der historisch-philologischen Klasse wurde nur das Notizenblatt erwähnt; siehe Joseph Chmel, „Vortrag 1847 November 24“, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse 1, (1848), S. 3–8, hier S. 5; ausführlicher hierzu Pischinger, Geschichtsministerium, S. 75 und S. 82–83. Joseph Chmel, „Vorwort“, in: Notizenblatt. Beilage zum Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 1. Jg. (1851), S. 1–2.
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des 19. Jahrhunderts verstärkt gegründet worden waren, 30 außerdem wurden kleinere Arbeiten und Besprechungen von Forschungsarbeiten außerhalb der Monarchie sowie Quellenverzeichnisse und gezielte Archivinformationen zu den erwähnten eigenständigen Editionsprojekten der Kommission geboten. 31 Obschon sich einige Geschichtsforscher etwa aus den südlichen Teilen der Monarchie daran beteiligten, blieb der Redakteur des Notizenblattes, Joseph Chmel, dessen eifrigster Beiträger. 32 Die Zeitschrift wurde nach seinem Ableben schließlich im Jahr 1859 wegen des Mangels an kleineren Beiträgen eingestellt. 33 Als grundsätzliches Leitbild für die Publikationen der Kommission diente die prominente Herausgabe der Monumenta Germaniae Historica. Ebenso wie die deutschen Monumenta sollten auch die österreichischen Fontes ihrerseits in zwei Unterreihen, den Diplomataria et Acta und den Scriptores, erscheinen. 34 Auffallend ist auch hier der gesamtstaatliche Anspruch der „österreichischen“ Fontes, denn es war geplant, dass diese nach fünf verschiedenen „Gruppen“ publiziert werden sollten: Parallel zu den FRA sollten auch Fontes Rerum Italicarum bzw. Bohemicarum, Hungaricarum und Polonicarum erscheinen. 35 Diese historischterritorial eingeteilten Fontes blieben als Untergruppen mit eigener Benennung unausgeführt. 36 Gleichwohl erschienen aber etwa – hier nur als ein Beispiel – Urkunden zur venezianischen Geschichte: Diese wurden zwar in den Kommissionsakten zunächst noch stets als Fontes Rerum Italicarum tituliert, 37 in der Folge 30 Zum Thema allgemein Heinz Dopsch, „Geschichtsvereine in Österreich. Anfänge und Entwicklung – Leistungen – Aufgaben“, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte. NF des Korrespondenzblattes 138 (2002), S. 67–94; Gabriele Clemens, „Historische Vereine in Italien – Geschichtsschreibung im Dienste des Vaterlandes“, in: ebd. S. 95–115; zur Bedeutung der Vereine auch Werner Maleczek, „Auf der Suche nach dem vorbildhaften Mittelalter in der Nationalgeschichte des 19. Jahrhunderts. Deutschland und Österreich im Vergleich“, in: Hans Peter Hye/Brigitte Mazohl/Jan Paul Niederkorn (Hg.), Nationalgeschichte als Artefakt. Zum Paradigma „Nationalstaat“ in den Historiographien Deutschlands, Italiens und Österreichs (= Zentraleuropa-Studien (XII)), Wien 2009, S. 97–131, hier S. 128f. 31 Siehe hierzu die Rubriken des 1. Jahrganges aus dem Jahr 1851: „Literatur des Inlandes“, „Literatur des Auslandes“, „Oesterreichische Geschichtsquellen“, “Monumenta Habsburgica”, “Acta Conciliorum Saeculi XV”, „Historischer Atlas für Alt-Oesterreich“, “Codex Diplomaticus Austriae Inferioris”. 32 Siehe etwa Notizenblatt, 5. Jg. (1855): Die Literaturanzeigen und Quelleninformationen stammten überwiegend von Redakteur Chmel selbst; zu ihm siehe auch unten S. 251. 33 Pischinger, Geschichtsministerium, S. 156. 34 AÖAW, Sitzungsprotokolle der historisch-philologischen (!) Klasse, 1847 XII 22, Programm der Commission zur Herausgabe der Fontes Rerum Austriacarum, (vgl. Anm. 26). 35 Joseph Chmel, „Vorbericht“, in: Joseph Chmel (Hg.), Fontes Rerum Austriacarum, 2. Abt., I: Urkunden zur Geschichte von Österreich, Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Triest, Istrien, Tirol. Aus den Jahren 1246–1300, Wien 1849, S. V–XXXI, hier S. V. 36 Gerald Stourzh, „Der Umfang der österreichischen Geschichte“, in: Herwig Wolfram/Walter Pohl, Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, (= Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs (XVIII)), Wien 1991, S. 3–27, hier S. 8, (vgl. Anm. 19). 37 AÖAW, HK, Karton 1, Alte Akten (1851–1869), Nr. 80, sine AZ, Theodor Karajan, Schreiben, 1854 Juli 12; ebda. Nr. 62, AZ 507 ex 1853, Theodor Karajan, Bericht (über die Arbei-
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allerdings in den FRA publiziert, ohne dass sich nähere Hinweise auf dahin gehende akademieinterne Diskussionen finden. 38 Auch die deutschen Monumenta wurden seit 1820 von einem Archiv begleitet, das als „Sprechsaal vieler würdigen (!) Gelehrten“ konzipiert war. 39 Ebenso wie das deutsche Modell weist auch das österreichische Archiv keinen Literaturbericht auf, der etwa Informationen über die laufende fachspezifische Produktion in Form von Rezensionen zur Verfügung gestellt hätte. Damit unterschied sich das Archiv strukturell noch deutlich von den zuvor genannten, in der zweiten Jahrhunderthälfte initiierten französischen, englischen und amerikanischen Zeitschriften, von der Historischen Zeitschrift und ebenso von den 1880 gegründeten Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung. Diese Periodika hatten allesamt bedeutende Rezensionsteile, die wesentlich zur fachlichen Standardisierung beitrugen. 40 Das Vorwort zum österreichischen Pendant erläuterte nun sowohl die Aufgaben der Historischen Kommission als auch die Gestaltungsdetails und die geplante Ausrichtung ihrer Publikationen: „Die historische Commission will (…) künftigen Geschichtsschreibern aller Art den Stoff liefern und die Zeugnisse sammeln – und prüfen“. In Verbindung mit den Fontes war das Archiv also zunächst im Wesentlichen als quellenorientierte Materialsammlung konzipiert. Hiermit sollten „Vorarbeiten zu einer künftigen Geschichte des österreichischen Kaiserstaates“ geliefert werden. 41 Dies war politisch umso bedeutsamer, als eben dieser Gesamtstaat nach den Ereignissen von 1848 „zu neuem Leben erwacht“ war. Ebenso wie bei der Editionsreihe der Fontes verdeutlicht sich auch hier der gesamtstaatliche Anspruch, indem sich alle Geschichtsforscher der Monarchie ausdrücklich zur Teilnahme und Mitarbeit an dieser Sammlung aufgefordert sahen. Inhaltlich präsentierte sich die Zeitschrift als offen auch für historisch-geographische und topogra-
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ten von Gottlieb Lukas Friedrich Tafel und Georg Martin Thomas und Gottlieb Lukas Friedrich Tafel in Sachen eines Venetianischen Urkundenbuches), präs. 1853 Juli 31. Auch in den Sitzungen der philosophisch-historischen Klasse wurde darauf nicht näher eingegangen; die Berichte erwähnen lediglich, dass die Dokumente in den Fontes Rerum Austriacarum (Italicarum) [sic] abgedruckt werden sollten; siehe Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse 5 (1850), S. 166; siehe auch AÖAW, Sitzungsprotokolle der phil.hist. Klasse, 1850 Oktober 2. Auch das Vorwort des entsprechenden Bandes nimmt darauf keinen Bezug mehr: Georg Tafel/Georg Thomas (Hg.), Urkunden zur älteren Handels- und Staatsgeschichte der Republik Venedig mit besonderer Beziehung auf Byzanz und die Levante (= FRA, Abt. 2 (XII)), Wien 1856, S. V–XII. Lambert Büchler/Georg Dümge (Hg.), Archiv der Gesellschaft für ältere Deutsche Geschichtskunde 1 (1820), S. VIII. Stieg, Origin, S. 58f.; Lingelbach, „Die American Historical Review“, in: Matthias Middell (Hg.), Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, (vgl. Anm. 6), S. 53–61; Christine Ottner, „Zwischen Referat und Recension. Strukturelle, fachliche und politische Aspekte in den Literaturberichten der MIÖG (1880–1900)“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 121, (2013), S. 54–76. Zu den vormärzlichen Ambitionen einer „Gesamtstaatshistoriographie“ siehe Maleczek, „Auf der Suche“, S. 118–121.
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phische, archäologische und linguistische Forschungen. 42 Bezeichnend ist, dass die Zeitschrift einerseits dezidiert als „wissenschaftliches Organ“ deklariert wurde, dass man aber andererseits zunächst ohne einen fachlichen Abgrenzungsversuch die „Theilnahme aller Freunde der vaterländischen Geschichte“ und aller dazu „Berufenen“ erwartete. 43 Die in Österreich vorerst noch fehlende Möglichkeit einer universitär verankerten historischen Fachausbildung lässt dies verständlich erscheinen. 44 Für die österreichische Geschichtswissenschaft repräsentiert das Archiv als Zeitschrift somit eine interessante Schnittstelle zwischen dilettantischen und zunehmend professionellen Ansprüchen. Diese Einleitung zum ersten Heft des Archivs trägt unverkennbar die Handschrift ihres Initiators, eines Augustiner Chorherrn, der in den 1830er Jahren zum zweiten Archivar des Geheimen Hausarchivs in Wien avanciert war: Bereits im Vormärz hatte der ambitionierte „Historikerarchivar“ Joseph Chmel versucht, ein ganz ähnliches Zeitschriftenkonzept im Alleingang umzusetzen: 45 In den Jahren 1838 und 1841 war in nur zwei Bänden Der Österreichische Geschichtsforscher erschienen, der sich als „Repertorium“ für die „zerstreut lebenden“ Geschichtsforscher der Monarchie verstand. Ihnen sollten in Form von „Mitteilungen aus Handschriften, Urkunden und Büchern“ aus dem Gebiet der vaterländischen Geschichte Hinweise auf die ebenso „zerstreuten“ Materialien geboten werden. Die in Wien und in den anderen Teilen der Monarchie vorhandenen Quellen konnten nach den Vorstellungen des Herausgebers „gemeinschaftlich (…) das erwünschte Resultat einer vollständigen und wahrhaften Geschichte möglich machen“. Dieser Zweck war nicht nur der Zeitschrift selbst zugedacht, Chmel hatte damit wohl auch (s)einen Auftrag an den Forscher als Person gerichtet: Dieser sollte „soliden Baustoff liefern“ und dabei „von unten zu bauen anfangen“. 46 Es dürfte allerdings für die zeitgenössischen Benutzer nicht einfach gewesen sein, sich in dieser letztendlich inhaltlich und strukturell sehr heterogenen Sammlung zurechtzufinden. Schon in der Planungsphase des ersten Bandes hatte sich der betriebsame Editor weitgehend ratlos gezeigt, nach welchen Prinzipien er die ihm täglich zugehenden Materialien zusammenstellen sollte. 47 Die Anlage der kurzlebigen Zeitschrift spiegelt demnach den „verwirrten Zustande der Documen-
Joseph Chmel, „Vorwort“, in: AÖG 1 (1848), S. III–XI, Zitate S. V und III. Ebd., S. IV. Hierzu ausführlich Pischinger, Geschichtsministerium, S. 162–165. Der Ausdruck „Historikerarchivar“ wurde übernommen von Leopold Auer, „Das Haus-, Hofund Staatsarchiv und die Geschichtswissenschaft. Zum 250-jährigen Jubiläum seiner Gründung“, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 48 (2000), S. 53–71, hier S. 56; zu Chmels Versuchen auch Wolfgang Häusler, „‚Geschichtsforschung‘, ‚Humanität‘ und ‚Nationalität‘. Franz Grillparzer und der Historiker Joseph Chmel“, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 100 (1992), S. 376–409, hier S. 394. 46 Joseph Chmel, „Vorwort“, in: Joseph Chmel (Hg.), Der Österreichische Geschichtsforscher, (I), Wien 1838, S. III–VIII, hier S. IV–V. 47 Engelbert Mühlbacher, Die literarischen Leistungen des Stiftes St. Florian bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, Innsbruck 1905, S. 255–365, hier S. 263. 42 43 44 45
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te“, der in zahlreichen Archiven noch vorherrschte, deutlich wieder. 48 Als Herausgeber hatte es sich der Archivar Chmel ferner zur Aufgabe gemacht, sämtliche Arbeiten der Mitarbeiter ohne weitere redaktionelle Betreuung „unverändert [wieder] zu geben“, 49 sodass aus manchen Beiträgen keinerlei Hinweise auf den Fundort oder den archivalischen Überlieferungszusammenhang der gebotenen Texte hervorgehen. 50 Demgegenüber eröffnete man auf seinen Vorschlag hin im Rahmen der neuen Akademie, zu deren ersten Mitgliedern er zählte, nun mit dem Archiv ein periodisches Organ, dessen Beiträge vor dem Abdruck auf ihre Qualität überprüft und einer redaktionellen Bearbeitung unterzogen wurden. Das heute noch vorhandene Aktenmaterial aus dem Zeitraum zwischen 1848 und 1900 enthält demnach zahlreiche Briefe von potentiellen Autoren, Stellungnahmen der Kommissionsreferenten zu den einlangenden Manuskripten, zudem Konzepte der Antwortschreiben an die Autoren und Editoren, Hinweise auf die Aufgabenverteilung und den Redaktionsablauf innerhalb der Kommission sowie Protokolle der Kommissionssitzungen. Dadurch ergeben sich Einblicke in die Entscheidungsfindungen, die zur Annahme oder Ablehnung der Manuskripte führten. Das von der Historischen Kommission eigens organisierte Begutachtungsverfahren stand deutlich im Vordergrund: Gemäß Geschäftsordnung der Akademie durften keinesfalls im Vorhinein Zusagen für die Publikation erteilt, sondern nur druckfertige Manuskripte zur Begutachtung angenommen werden. 51 Das Honorar, das für gedruckte Beiträge ausbezahlt wurde, war sicher einer der Gründe für die zahlreichen Einsendungen. 52 Als Absender und Mitarbeiter finden sich zunächst vor allem Archivare und Bibliothekare in Klöstern und Stiften, Verwaltungsbeamte in Magistraten und Registraturen sowie Gymnasiallehrer. 53 Bereits wenige Jahre nach Gründung des Archivs hatten sich solche Massen an Einsendungen angehäuft, dass manche Beiträge zurückgestellt werden mussten, sogar wenn sie prinzipiell „willkommen“ waren. 54 Gänzlich unerwünscht waren Beiträge, in denen der Absender „keine kritische Durchprüfung“ seiner Quellen vorgenommen oder gar „modernisierte“ 48 So Chmel über das ungeordnete Archiv einer niederösterreichischen Stadt; siehe Joseph Chmel, „Zum österreichischen Codex Diplomaticus“, in: Joseph Chmel (Hg.), Der Österreichische Geschichtsforscher, (I), Wien 1838, S. 2. 49 Joseph Chmel (Hg.), Der Österreichische Geschichtsforscher, (I), Wien 1838, S. 566. 50 Siehe etwa: Anton Emmert, “Monumenta Tirolensia”, in: Joseph Chmel (Hg.), Der Österreichische Geschichtsforscher, (I), Wien 1838, S. 566–585. 51 Siehe bspw. AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1875 Nr. 17, AZ 100 ex 1875, Joseph Bergmann, Schreiben (Konzept), 1869 (!) Juni 17; siehe auch ein beiliegendes Konzeptschreiben Joseph Fiedlers, sine dato. 52 So argumentierte etwa Albert Jäger mit seiner „pecuniären Verlegenheit“; AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 5, AZ 578 ex 1851, Theodor von Karajan, Gutachten, 1851 November 6, beiliegend das Schreiben des Albert Jäger, 1850 November 23. 53 Siehe hierzu die zahlreichen Beispiele in: AÖAW, KH, K 1, Alte Akten 1851–1869 und 1870–1884. 54 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 33, sine AZ, Theodor von Karajan, Schreiben (Konzept), 1852 Juni 21.
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Auszüge aus Handschriften geboten hatte. 55 Bei den Abhandlungen wurde darauf geachtet, dass diese auf bisher unbekanntem Quellenmaterial basierten und nicht nur aus gedruckten älteren Forschungen oder Editionen kompiliert waren. 56 Wenn der Autor aber doch gedruckte Vorlagen benutzt hatte, so durften diese keinesfalls „zweifelhafter Natur“ sein, denn nur „Fleiß und guter Wille“ alleine reichten für eine Aufnahme in die Akademieschriften nicht aus. 57 In der Frühzeit des Archivs und der Fontes manifestierte sich gleichwohl auch ein deutlicher pädagogisch-didaktischer Anspruch. Das Redaktionsteam hielt mitunter sogar trotz eines vernichtenden internen Gutachtens den Kontakt zum Absender: Diesem erteilte man konkrete Hinweise zur Quellenbearbeitung und motivierte ihn, fehlende Druckangaben oder Datierungen zu ergänzen, um den Beitrag tatsächlich noch „unter die Presse“ bringen zu können. 58 Auch das „freundliche Angebot“ eines potentiellen Mitarbeiters versuchte die Redaktion in den 1850er Jahren in ihre erwünschte Richtung zu kanalisieren: So hatte der Sekretär des Historischen Vereines für Steiermark 500 Urkundenausauszüge aus einem Kopialbuch angefertigt und der Kommission zum Druck angeboten. Diese Regesten „aus zweiter Hand“ entsprachen freilich, wie intern einstimmig konstatiert wurde, nicht den erwarteten Standards, zumal die Originale derselben Urkunden bereits im Geheimen Hausarchiv in Wien lagerten. Stattdessen schlug man dem Petenten vor, seine Aufmerksamkeit auf die Originale im Landesmuseum (Joanneum) zu richten: Hiervon sollte er Regesten anfertigen. Als unbedingtes Vorbild empfahl man die Regesten zur Geschichte der Markgrafen und Herzoge Oesterreichs aus dem Hause Babenberg, die ein Archivar des Geheimen Hausarchivs in Wien einige Jahre zuvor auf Kosten der Akademie veröffentlicht hatte. 59 Der Übersichtlichkeit halber solle der Petent, so lautete die detaillierte Anweisung, die Texte nach Sachbetreffen ordnen, sodass bei „geschickter Abfassung“ auf engem Raum eine beträchtliche Menge an „neuem Stoff“ geboten werden könne. 60 Bei einigen aufwändigeren Editionen für die Reihe der Fontes ergab sich im Zuge der Kommunikation eine richtiggehende Belehrung der Editoren, deren Textlieferungen kommissionsintern einer sorgfältigen Revision unterzogen wurden. Ein Beispiel bietet die um 1870 veranstaltete Herausgabe des Urkundenbu55 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 51, AZ 634 ex 1852, Theodor von Karajan, Gutachten, sine dato; beiliegend auch das Gutachten Joseph Chmels, 1852 Dezember 31. 56 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1871 Nr. 48, Ernst von Birk, Gutachten, 1871 Juli 15. 57 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1871 Nr. 33 (!), Joseph Fiedler, Gutachten, 1871 Januar 17. 58 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 7, AZ 1038 ex 1850, Theodor von Karajan, Gutachten, 1851 November 9; beiliegendes Konzeptschreiben an den Absender, sine dato. 59 Andreas von Meiller (Bearb.), Regesten zur Geschichte der Markgrafen und Herzoge Oesterreichs aus dem Hause Babenberg. Aus Urkunden und Saalbüchern, Wien 1850. 60 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 75, sine AZ, Theodor von Karajan, Gutachten, genehmigt 1854 Juni 14; beiliegend ein Gutachten Joseph Chmels, sine dato, und ein Schreiben des Georg Göth, Sekretär des Historischen Vereins für Steiermark, 1854 April 2, ebd. AZ 339 ex 1854.
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ches eines Tiroler Klosters, über dessen Druck der Editor, ein Geistlicher des Klosters, und die Kommission über einen Zeitraum von etwa zwei Jahren verhandelten. Auch diesem Editor wurde das bereits in den Fontes publizierte Saalbuch von Göttweig als Muster empfohlen. 61 Der Editor kündigte allerdings weitere sieben Bände für die Reihe an und der Gutachter bemängelte auch beim zweiten vorgelegten Band, dass die Zusammenstellung nicht von wissenschaftlichen Gesichtspuncten geleitet sei. Daher wurde die Publikation schließlich eingestellt, obschon der Gutachter eigentlich vorgeschlagen hatte, das Manuskript erneut durch den Editor bearbeiten zu lassen. 62 Besonders seit den 1870er Jahren wurde zunehmend der „Mangel an historischer Kritik“ in Verbindung mit den „Anforderungen der modernen Wissenschaft“ moniert. 63 Auch die für die Fontes bearbeiteten Urkundenbücher wurden in ihrer Methodik vermehrt einer Prüfung unterzogen. Dabei setzten die Gutachter die Kenntnis aktueller Standards etwa im Hinblick auf die in den Editionen vorzunehmende Interpunktion voraus; ebenso wurde bemängelt, wenn ein Bearbeiter seine Urkundenvorlagen teilweise doppelt in die Edition aufgenommen hatte und mitunter gar das vorhandene Original nicht benützt, sondern dem Haupttext nur eine kopiale Überlieferung zugrunde gelegt hatte. 64 In dem eingangs zitierten Beispiel wurde auch die mögliche Austragung fachlicher Kontroversen angedeutet, für die das Archiv ein Forum bieten sollte. Im Allgemeinen legte die Kommission darauf Wert, dem „Getriebe“ einander gegenüber stehender Parteien fernzubleiben. 65 Kritische Bemerkungen, die sich auf die Arbeiten anderer Kollegen oder Kommissionsmitarbeiter bezogen, wurden toleriert, wenn sie nach Ansicht des Redakteurs „nicht persönlich, sondern wissenschaftlich“ gehalten waren. 66 Dennoch wurden mitunter vernichtende Urteile über Manuskripte abgegeben, in denen Personen, die bereits regelmäßig in den Akademieschriften publiziert hatten, allzu „schulmeisterlich“ kritisiert wurden: Dergleichen Zurechtweisungen eigneten sich nach Ansicht der Redaktion nicht für eine „akademische Publication“. 67 61 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 226, AZ 1085 ex 1868 u. AZ 50 ex 1869; ebd. Alte Akten 1870–1884, 1870 Nr. 23, Theodor Mairhofer, Schreiben, 1869 November 9, AZ 979 ex 1869; ebd. Nr. 28, AZ 576 ex 1870, Theodor Mairhofer, Schreiben, 1870 Juni 28, beiliegend Albert Jäger, Gutachten, 1870 Juli 10. 62 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1871 Nr. 47, sine AZ, Albert Jäger, Gutachten, 1871 Juli 4. 63 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1871 Nr. 33 (!), sine AZ, Joseph Fiedler, Gutachten, 1871 Januar 17. 64 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1873 Nr. 17, sine AZ, Ernst von Birk, Gutachten, sine dato. 65 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 89, AZ 817 ex 1854, Theodor von Karajan, Schreiben (Konzept), sine dato, genehmigt 1855 Januar 3. 66 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 41 und Nr. 42, AZ 437 ex 1852, Theodor von Karajan, Gutachten, sine dato. 67 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 155, Joseph Bergmann, Schreiben an die phil.hist. Klasse, 1862 Juni 18.
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In einigen Fällen lassen sich sogar auch direkte Eingriffe der Redaktion in fachliche Konflikte feststellen. Ein Beispiel liefert die Auseinandersetzung zwischen zwei Gelehrten in den 1850er Jahren. Der eine, Gottlieb Freiherr von Ankershofen, Direktor des Geschichtsvereines für Kärnten, hatte seinen Widerpart Karlmann Tangl, der seit 1851 an der Universität Graz als Ordinarius für Ästhetik und Klassische Philologie wirkte, 68 in einem Beitrag getadelt: Tangl habe über einige hochmittelalterliche Salzburger Erzbischöfe aufgrund ihrer Besitzvergabepolitik in Kärnten „ungerechte und voreilige Urtheile in die Welt hinaus“ geschrieben. 69 Daher dürfe Tangl, so der Vorwurf Ankershofens, sich nicht darüber wundern, wenn man ihn „kirchenfeindlicher Gesinnungen verdächtig“ halte. 70 Entrüstet wandte sich Tangl an die Kommission und sendete eine Entgegnung mit der Forderung, diese prompt im Archiv abzudrucken. 71 Die Redaktion warf ihm in der Folge vor, diese Entgegnung in übertrieben „kränklich gereitzter Stimmung“ geschrieben zu haben. Sie wies ihn an, in welcher Form er sich zu verteidigen habe und markierte sogar eigens die Stellen, die in seinem Text zu streichen wären: Denn schließlich solle die „gute Sache“ gefördert werden und nicht eine Auseinandersetzung, die wohl nur einige wenige Personen in Kärnten oder der Steiermark interessieren werde, für die alleine das Archiv keineswegs bestimmt sei.72 Die von der Kommission eingeforderten Korrekturen finden sich im Wortlaut tatsächlich in der schließlich abgedruckten Entgegnung. 73 Das deklarierte, nach außen hin vermittelte Hauptinteresse richtete sich also auch beim Archiv weniger auf die „Verbreitung“, sondern auf die „Erweiterung der Wissenschaft“ durch die Publikation oder Verarbeitung neuer, bisher ungedruckter Quellen. 74 Dieses Argument entsprach gänzlich der im Jahr 1859 revidierten Geschäftsordnung der Akademie. Diese schloss nicht nur Rezensionen, 75 sondern auch Auszüge bereits gedruckter und „allgemein zugänglicher Werke“ 68 Alois Kernbauer (unter Mitarbeit von Peter Feldhofer), „Karlmann Tangl (1850/51–1863)“, in: Walter Höflechner (Hg.), Beiträge und Materialien zur Geschichte der Wissenschaften in Österreich (= Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz (XI)), Graz 1981, S. 3–52, hier S. 39. 69 Gottlieb Freiherr von Ankershofen, „Ob der Salzburger Erzbischof Gebehard der Gurker Kirche Friesach entzogen und Erzbischof Thiemo ihr selbes vorenthalten habe?“, in: AÖG 13 (1854), S. 367–393, hier S. 378; Ankershofen bezog sich dabei auf: Karlmann Tangl, „Die Grafen, Markgrafen und Herzoge aus dem Hause Eppenstein“, in: AÖG 11 (1853), S. 225– 297. 70 Ankershofen, „Salzburger Erzbischof Gebehard“, S. 378. 71 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 90, sine AZ, Karlmann Tangl, Schreiben, 1855 Januar 31. 72 Ebd., Theodor von Karajan, Schreiben (an Karlmann Tangl; Konzept), 1855 Februar (sine die); siehe dazu auch AÖAW, HK, K 2, Protokolle von 1851 bis 1870, fol. 21r, Sitzungen von 1855 Februar 7 und Februar 14. 73 Karlmann Tangl, „Entgegnung auf den Aufsatz des Freiherrn Gottlieb von Ankershofen“, in: AÖG 14 (1855), S. 389–399, hier bes. S. 398. 74 Ganz deutlich wird dies in folgenden Gutachten: AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 204, AZ 1079 ex 1866, Ernst von Birk, Gutachten, 1867 Januar 26. 75 Hierzu siehe oben S. 250.
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oder Übersetzungen aus „gangbaren Sprachen“ von ihren Veröffentlichungen aus. 76 Das Fehlen von Rezensionen wurde in der Frühzeit der Historischen Kommission einmal thematisiert, als sich einer ihrer Referenten durch den Generalsekretär der Akademie dazu aufgefordert sah, das Werk eines anderen Akademiemitgliedes zu rezensieren. Der Referent weigerte sich mit dem Argument, das Rezensieren falle keineswegs in den Aufgabenbereich der Historischen Kommission; zudem habe er selbst alle Hände voll zu tun mit dem Lesen, Prüfen und Beurteilen von Einsendungen, also mit der Redaktion der Publikationen; außerdem gerate eine gelehrte Körperschaft wie die Akademie durch eine solche öffentliche Besprechung in „ein gefährliches Dilemma“, das Werk eines ihrer Mitglieder entweder „loben“ oder „tadeln“ zu müssen. Da die Kaiserliche Akademie aber nicht wie die Akademie in Göttingen eine „gelehrte recensierende Zeitung“ herausgebe, bestünde hier auch keine Möglichkeit zur Selbstanzeige des Werkes durch den Verfasser. 77 Offenkundig versuchte der Referent auch das Problem zu umgehen, Arbeiten, die von Akademiemitgliedern verfasst worden waren, innerhalb der engeren akademischen Kollegenschaft besprechen lassen zu müssen. Demgegenüber waren aber bei den anderen Publikationen der Akademie in Wien, namentlich den Sitzungsberichten, Besprechungen zumindest vorgesehen – allerdings nur von solchen Druckwerken, die der Akademie eigens übermittelt worden waren und nur auf ausdrücklichen Wunsch des Verfassers, wie schon die erste Geschäftsordnung aus dem Jahr 1847 festhielt. 78 In der Praxis wurden allerdings kaum Rezensionen aufgenommen. 79 Auch die im Jahr 1859 revidierte Geschäftsordnung betonte, dass Besprechungen bereits gedruckter fremder (d.h. außerhalb der Akademie verfasster) Werke nicht zur Aufnahme in die akademischen Druckschriften bestimmt seien. 80 Ein späterer entsprechender Reformantrag aus dem Jahr 1868 trat nachdrücklich dafür ein, auch Besprechungen „bedeutender fremder Publicationen“ in den Anzeiger der Akademie aufzunehmen, 81 der seit 1864 erschien und regelmäßig kurz über die Zuschriften und Abhandlungen informierte, die der Akademie in 76 Geschäftsordnung der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, genehmigt 1859 August 2, in: Almanach 10 (1860), S. 25–53, hier S. 39 (§43). 77 AÖAW, HK, Karton 1, Alte Akten (1851–1869), Nr. 37, sine AZ, Theodor Karajan, Stellungnahme, sine dato (Juni 1852). 78 Geschäftsordnung der Akademie von 1847 November 12, (§34), gedruckt bei: Richard Meister, Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847–1947, Wien 1947, S. 223– 227, hier S. 225. 79 Pischinger, Geschichtsministerium, S. 59f. 80 Geschäftsordnung der Akademie von 1859 August 2, gedruckt in: Almanach der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 10 (1860), S. 25–53, hier S. 39 (§43). 81 AÖAW, Allgemeine Akten, AZ 546 ex 1869, Antrag, gestellt in der Gesamtsitzung 1868 Januar 30, in: Bericht der Commission zur Begutachtung des in der Gesammtsitzung am 30. Jänner 1868 gestellten Antrages auf Herbeiführung von Veränderungen in der Organisation der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, S. 3–8, hier S. 5; siehe auch Almanach 19 (1869), S. 41–48.
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ihren Klassensitzungen vorgelegt wurden. 82 Die Mehrheit der internen Akademiekommission, die den Antrag begutachtete, stimmte allerdings gegen eine solche Änderung. Dabei gab man sich sprachlich international: Das Ziel sei “advancement of science” und nicht “diffusion of knowledge”. 83 Zudem tritt der gesamtstaatliche Anspruch mehrfach deutlich hervor: Die Historische Kommission zeigte sich bestrebt, das „Allgemeine und Ganze“ im Auge zu behalten, 84 um nicht Gefahr zu laufen, ihre Publikationen allzu lokalhistorisch werden zu lassen. Den in der Monarchie verstreuten Geschichtsforschern sollte etwas geboten werden, 85 weshalb das Quellenmaterial natürlich auch von entsprechender, vor allem politischer Bedeutung sein musste. Der materiale Zugang verbindet sich dabei eng mit dem Anspruch, professionelle Redaktionsarbeit zu bieten: Vielfach führten die Redakteure und Gutachter Vergleiche von eingesandten Handschrifteneditionen mit den in Wiener Archiven und Bibliotheken vorhandenen Originalen durch. 86 Auch galt es häufig, komplizierte Überlieferungskontexte der eingesandten Quellentexte zu durchdringen und unterschiedlich tradierte Handschriften mit dem Wiener Material zu kollationieren. 87 Dies wirft auch die Frage nach dem eigentlichen Redaktionsverlauf, nach der Qualifikation, Kompetenz und den Ansprüchen der Personen auf, die eben diese Begutachtungs- und Redaktionsarbeit leisteten. In den Sitzungen der Historischen Kommission wurden die einlangenden Manuskripte jeweils einem bestimmten Gutachter zugewiesen. Anfangs betreute die Einsendungen vor allem der Berichterstatter der Kommission, namentlich Theodor von Karajan, 88 damals auch Präfekt der Hofbibliothek. In den Aufgabenbereich der Redaktion fiel auch die letztendliche Zuteilung der Editionen, Regesten und Abhandlungen zu den einzelnen historischen Publikationsforen Notizenblatt, Archiv und Fontes. 89 Zunehmend fungierten auch andere Kommissionsmitglieder oder auch solche Personen als 82 Anzeiger der phil.-hist. Klasse 1 (1864), Vorwort (sine pagina). 83 AÖAW, Allgemeine Akten, AZ 546 ex 1869, Majoritäts-Votum, in: Bericht der Commission, (vgl. Anm. 81), S. 11–36, hier S. 22; siehe auch das Minoritäts-Votum, ebd. S. 55–66, hier S. 57; zum Ergebnis der Abstimmung in der Gesamtsitzung ebd. S. 67; siehe auch Almanach 19 (1869), S. 49–114. 84 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 16, sine AZ, Joseph Chmel, Schreiben, 1852 Januar 4; siehe auch ebd., Nr. 226, AZ 50 ex 1869, Theodor Mairhofer an die Historische Kommission, 1869 Februar 16. 85 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 92, sine AZ, Ernst von Birk, Gutachten, 1855 Oktober 6; ebd. Alte Akten 1870-1884, 1872 Nr. 3, AZ 37 ex 1872, Ernst von Birk, Gutachten, 1872 Januar 30. 86 Hier nur als ein Beispiel: AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr 30, sine AZ, Theodor von Karajan, Gutachten, 1852 April 13. 87 AÖAW, HK K 1, Alte Akten 1870–1884, sine numero, Ernst von Birk, Gutachten, 1871 Januar 30. 88 Sämtliche Mitglieder und Berichterstatter der Historischen Kommission bis 1878 finden sich übersichtlich dargestellt bei Pischinger, Geschichtsministerium, S. 261f. 89 Siehe bspw. AÖAW, HK, K 1, Nr. 16, sine AZ, 1852 Januar 4, (vermutl.) Joseph Chmel, Schreiben (Konzept); ebd., Nr. 24, AZ 119 ex 1852, Theodor von Karajan, Gutachten, genehmigt 1852 März 1.
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Gutachter, die der Kommission zwar (noch) nicht nominell angehörten, mit dieser aber kollegial verflochten waren und aufgrund ihrer beruflichen Stellung als Archivare 90 oder bestimmter fachlicher Interessen 91 kompetent erschienen. Hier zeigte sich zunächst eine enge personelle Verflechtung zwischen der Kaiserlichen Akademie und den Wiener Archiven und Bibliotheken, obschon die Gutachter zunächst nicht unbedingt auch Akademiemitglieder waren. 92 Fragt man nun nach den strukturellen und inhaltlichen Gestaltungsdetails der Zeitschrift, so sind freilich auch die Präferenzen und Kompetenzen der herangezogenen Gutachter und Redakteure zu berücksichtigen. Als germanistisch geschulter Gelehrter monierte etwa Karajan häufig „stilistische Mängel“ bei historischen Darstellungen, oder dass diese nur wenig „geschmackvoll und anziehend“ verfasst waren. 93 Auch ging er von Anfang an davon aus, dass das Archiv Material und Forschung vereinigen, also seiner Meinung nach nicht nur bloße Primärquellen, sondern auch damit verbundene Untersuchungen bieten sollte. 94 Hingegen entwickelte Karajans Kommissionskollege, der bereits erwähnte Archivar Joseph Chmel, seinen antiquarischen Neigungen entsprechend, eine wahre Quellenobsession. Selbst kein großer Könner auf dem Gebiet der historischen Darstellung,95 legte Chmel sein Augenmerk vor allem darauf, dass das eingesandte Material tatsächlich neu und bisher nicht gedruckt war. Ferner darf man ihn durchaus als Förderer lokalhistorischer Vereinsinteressen sehen. 96 Ebenso waren ihm ohne fachlichen Abgrenzungsversuch alle „Geschichtsforscher und Geschichtsfreunde“ willkommen. 97 Demgegenüber hatte Karajan bereits von Anfang an hervorgehoben,
90 In der Sitzung von 1852 Januar 26 wurde bspw. der spätere Direktor des Geheimen Hausarchivs in Wien, Alfred von Arneth, mit einem Gutachten beauftragt; siehe AÖAW, HK, K 2, Protokolle der Sitzungen 1851–1870, Sitzung 1852 Januar 26, fol. 11v. Arneth wurde 1853 Mitglied der Kommission; siehe Meister, Geschichte, S. 311. 91 Als Beispiel sei Heinrich Siegel erwähnt, der über ein Manuskript einer „Sammlung deutscher Schöffensprüche“ eine Stellungnahme abgab; AÖAW, HK, K 2, Protokolle der Sitzungen 1851–1870, Sitzung 1866 April 18, fol. 45r. 92 Alfred Arneth etwa, der schon in den frühen 1850er Jahren für die Kommission arbeitete, (vgl. oben Anm. 90), wurde erst 1862 zum wirklichen Akademiemitglied gewählt; siehe hierzu: Dokumentation zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1847–1972, III: Die Mitglieder und Institutionen der Akademie, bearb. von Ludmilla Krestan, Wien 1972, S. 57. 93 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 93, AZ 352 ex 1855, Theodor von Karajan, Gutachten, 1855 Oktober 31; ebd., Nr. 3, Theodor von Karajan, Gutachten, 1851 November (sine die). 94 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 1, AZ 748 ex 1849, Theodor von Karajan, Schreiben, expediert 1851 November 17. 95 Über seine mangelnden Schreibqualitäten klagte er auch gegenüber seinem Freund und Kollegen Johann Friedrich Böhmer, als er dessen aufrichtiges Urteil über den ersten Band seiner Geschichte Kaiser Friedrichs IV. einholte. Archiv des Stiftes St. Florian, Nachlass Joseph Chmel, Chmel an Böhmer, 1839 November 13. 96 Hierzu auch Pischinger, Geschichtsministerium, S. 26. 97 AÖAW, Allgemeine Akten, AZ ad 1042 ex 1851, Joseph Chmel, Nachricht, 1851 Oktober 1; [Joseph Chmel], „Vorwort“, in: AÖG 1 (1848), hier S. IV.
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dass die Publikationen der Akademie keineswegs für „Laien“, sondern für den „Mann vom Fache“ zu drucken seien. 98 Für die Zeit um 1870 ist zudem der damalige Direktor des Geheimen Hausarchivs in Wien, Alfred von Arneth zu nennen, der bekanntermaßen der Kaiserin Maria Theresia eine vielbändige historische Darstellung widmete: 99 Er teilte zwar die Ansicht über die Wichtigkeit der Erschließung neuen Materials; dennoch erhoben seiner Meinung nach auch solche Arbeiten Anspruch auf Veröffentlichung, die „das schon bekannte in neuer stylgerechter Form wiedererzählen“ oder neues Material nach den „strengsten Anforderungen der Geschichtsschreibung (…) zur Darstellung bringen“. 100 Die propagierten methodischen Anforderungen blieben mitunter durchaus hinter individuellen Ansprüchen der Gutachter zurück. Dies zeigt Arneths Argument für eine Edition mit einigen wenigen Depeschen aus dem 18. Jahrhundert: Er kritisierte den Umstand der fehlenden Einleitung ebenso wie die Tatsache, dass das vorgelegte Material wohl nur einen winzigen Ausschnitt aus der Fülle vorhandener Gesandtschaftsberichte bildete. Dennoch trat er für die Aufnahme der Edition ins Archiv ein, da Mitteilungen zur neueren Geschichte Österreichs in den Akademieschriften allgemein viel zu selten seien. 101 Fallweise standen einander auch methodisch-inhaltliche und gesamtstaatlichpolitische Ansprüche gegenüber. So durften auch solche Quellen, die für die politische Geschichte weitgehend „unfruchtbar“ waren, „auf einige Nachsicht zählen“, wenn sie aus entlegenen Teilen der Monarchie kamen. 102 Insgesamt gelang es aber trotz einiger Versuche nicht, den gesamtstaatlichen Anspruch zu verwirklichen. Selbst intern wurde schon in den 1850er Jahren von einer „deutschen Zeitschrift“ gesprochen, was sich auch an einigen Diskussionen über die Sprache der zu veröffentlichenden Beiträge zeigt, für die auch das Lateinische zur Diskussion stand. 103 Abgesehen davon stammte die Mehrzahl der Mitarbeiter an den Publikationen der Historischen Kommission von Anfang an aus den deutschsprachigen Teilen der Monarchie. 104 Außerdem sind durchaus auch lokalhistorische Schwerpunkte feststellbar, insbesondere bei der Editionsreihe der Fontes, die vor allem in
98 AÖAW, HK, K 1, Nr. 7, AZ 1038 ex 1850, Theodor von Karajan, Gutachten, 1851 November 9. 99 Zu Alfred von Arneth und seiner Tätigkeit an der Akademie siehe Richard Meister, „Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv und die Akademie der Wissenschaften“, in: SB phil.hist. Kl. 226/3 (= Festgabe an das Österreichische Staatsarchiv zur Feier des 200-jährigen Bestandes des Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Wien 1949) S. 3–82, hier bes. S. 65–69. 100 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1870–1884, 1870 Nr. 24, sine AZ, Alfred von Arneth, Gutachten, 1870 Juli 11. 101 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 194, sine AZ, Alfred von Arneth, Gutachten, 1866 April 23. 102 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 218, Joseph Fiedler, Gutachten, 1868 November 2. 103 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 79, sine AZ, exped. Juli 24 1854, Theodor von Karajan, Schreiben (Konzept), expediert 1854 Juli 24. 104 Hierzu Pischinger, Geschichtsministerium, S. 167–169.
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den ersten zwanzig Jahren ihres Bestehens deutlich auf Niederösterreich konzentriert war. 105 Seit den 1860er Jahren wurden zunehmend, wie Theodor von Karajan schon von Beginn an gefordert hatte, Arbeiten „wegen ihrer Natur als reines Aktenmaterial“ nicht mehr ins Archiv aufgenommen. 106 Das zunehmende Interesse an quellenverarbeitenden Geschichtsdarstellungen gegenüber reinen Quelleneditionen tritt hier deutlich hervor. Das Archiv spiegelt dabei durchaus einen zeitgenössischen Trend wider, der auch in anderen Zeitschriften zu finden ist. Zum Vergleich seien hier etwa die Forschungen zur Deutschen Geschichte erwähnt, die von der Historischen Kommission bei der Königlichen Bayerischen Akademie der Wissenschaften von 1862 bis 1886 herausgegeben wurden: Sie waren ebenfalls der wissenschaftlichen Erforschung der vaterländischen Geschichte gewidmet und sollten quellenorientierte Untersuchungen bieten, schlossen jedoch von vornherein die Aufnahme von bloßem Quellenmaterial aus. 107 In diesem Zusammenhang steht auch die Umbenennung des Archivs für Kunde österreichischer GeschichtsQuellen, worüber in den Jahren 1864/1865 innerhalb der Historischen Kommission in Wien ausführlich verhandelt wurde: Das Archiv, so das Protokoll, sei seit längerem kein „Archiv zur Kenntnis österreichischer Geschichtsquellen“ mehr, sondern ein „Magazin für Abhandlungen über österreichische Geschichte im Allgemeinen“. 108 Die Tendenz, nur Quellenmaterial zu bieten, dürfte doch lediglich von dem erwähnten Kommissionsmitglied Joseph Chmel ausgegangen sein. Tatsächlich hatten aber schon in den ersten 15 Jahren quellenbasierte historische Darstellungsversuche im Archiv etwa 46% der insgesamt aufgenommenen Beiträge ausgemacht. 109 Außerdem war es mittlerweile zu einer verwirrenden sachinhaltlichen Vermischung des Archivs mit den ebenso regelmäßig erscheinenden Sitzungsberichten der Akademie gekommen, in denen fallweise gleichermaßen Abhandlungen zur österreichischen Geschichte erschienen waren. In der Folge nahmen die Akademie und ihre Historische Kommission eine energische Umstrukturierung vor: Zunächst benannte man die Zeitschrift ab 1865 in Archiv für Österreichische Geschichte (AÖG) um – denn das Auffinden wirklich neuer Quellen sei ohnedies „selten“, wie der Kommissionsbericht ausdrück105 AÖAW, HK, K 1, Nr. 226, AZ 1085 ex 1868 und AZ 50 ex 1869, Theodor Mairhofer an die Historische Kommission, 1869 Februar 16 (liegt unter ad 50 ex 1869). 106 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, Nr. 231, Joseph Fiedler, Gutachten, 1869 November 9. 107 Forschungen zur Deutschen Geschichte 1 (1862), (III); zu dieser Zeitschrift auch Cathrin Friedrich, „…dass die gegenwärtige Lage der historischen Wissenschaften den Fortbestand zweier allgemeiner historischer Zeitschriften als dringend wünschenswert erscheinen läßt.“ Die Rolle der Deutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften/Historischen Vierteljahrschrift in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschriften im internationalen Vergleich, S. 93–132, hier bes. S. 96. 108 AÖAW, HK, Karton 2, Protokolle der Sitzungen 1851–1870, 1864 Dezember 14, fol. 41r; AÖAW, Allgemeine Akten, AZ 74 ex 1865, Theodor von Karajan, Bericht und Antrag, präs. 1865 Januar 18. 109 Ermittelt auf Basis der Tabellen bei Pischinger, Geschichtsministerium, S. 268.
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lich festhielt. 110 Zur Abgrenzung des Archivs von den Sitzungsberichten wurde außerdem eine Erweiterung des Beitragsspektrums beschlossen: Künftig sollten im Archiv nämlich auch die in den akademischen Klassensitzungen verlesenen Abhandlungen zur österreichischen Geschichte aufgenommen werden. 111 Die Benutzung erleichterte schließlich ein eigenes Register, das für die ersten 50 Bände erstellt wurde, und in dem neben den Autorennamen auch die Schlagworte aus den Überschriften der Beiträge verzeichnet wurden. 112 Zwischen 1870 und 1880 stieg der Anteil historischer Abhandlungen auf etwa 53%, 113 in den Jahren von 1895 bis 1900 sogar auf 67%. 114 Im Hinblick auf die Standardisierungsfrage ist allerdings erwähnenswert, dass der materiale Zugang in den Beiträgen über den gesamten Betrachtungszeitraum erhalten blieb: Auch die Abhandlungen der 1870er Jahre basierten zunächst weniger auf Sekundärliteratur, sondern waren doch überwiegend Quellenstudien, die „nach den Acten“ 115 oder „archivalischen Quellen geschildert“ 116 waren und daher häufig auf „grössentheils ungedruckten Materialien“ 117 fußten. Ähnliche dezidierte Quellenstudien finden sich, allerdings seltener, ebenso in der Zeit um 1900. 118 Dennoch erhielt die Qualität der Abhandlungen durch die zunehmend 110 AÖAW, HK, K 1, Alte Akten 1851–1869, sine numero (nach Nr. 174), Bericht der HK in der Sitzung der phil.-hist. Klasse, 1865 Januar 18. 111 Ausgenommen waren nur die eigens für die Denkschriften der Akademie bestimmten Abhandlungen und archäologische, kunst- und literaturgeschichtliche Beiträge, auch wenn sie Österreich betrafen; siehe AÖAW, Allgemeine Akten, AZ 74 ex 1865, Theodor von Karajan, Bericht über die Frage einer neuen Honorarbemessung für das Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen, präsentiert 1865 Januar 18. 112 Franz Scharler, Register zu den Bänden I–L des Archivs für österreichische Geschichte, Wien 1874. 113 Zu beachten ist hier allerdings, sowie auch im früheren Zeitraum, die oftmals schwierige eindeutige Klassifikation als Abhandlung, Edition oder Regestenwerk; denn zahlreichen Abhandlungen wurden überaus umfangreiche editorische Anhänge beigegeben und umgekehrt wurden viele umfangreichere Editionen mit einer oft noch voluminöseren Einleitung versehen. Diese „Mischformen“ sind für den gesamten Untersuchungszeitraum charakteristisch. Von 1870 bis 1880 erschienen in Summe 20 Bände, mit insgesamt 113 Beiträgen; im Zuge der Ermittlung der oben angeführten prozentuellen Angabe wurden hiervon 47 als klare Abhandlungen klassifiziert, 29 als „Mischformen“ und 37 als reine Editionen und Regestenwerke. 114 Von den insgesamt 40 Beiträgen wurden 27 als Abhandlungen, 8 als Mischformen, (vgl. oben Anm. 113) und 5 als reine Editionen klassifiziert. 115 Siehe bspw. Theodor Wiedemann, „Die kirchliche Bücher-Censur in der Erzdiöcese Wien. Nach den Acten des fürsterzbischöflichen Consistorial-Archives in Wien“, in: AÖG 50 (1873), S. 213–520. 116 Siehe bspw. Julian von Pejacsevich, „Peter Freiherr von Parchevich, Erzbischof von Martianopel (1612–1674). Nach archivalischen Quellen geschildert“, in: AÖG 59 (1880), S. 337–638. 117 Siehe etwa Constantin Höfler, „Betrachtungen über das deutsche Städtewesen im XV. und XVI. Jahrhunderte“, in: AÖG 11 (1853), S. 177–224, 118 Siehe – hier nur als Beispiel – Raimund Friedrich Kaindl, „Studien zu den ungarischen Geschichtsquellen“, in: AÖG 85 (1898), S. 431–507, AÖG 88 (1900), S. 203–311 und ebd. S. 367–472.
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ausgebauten umfangreichen Anmerkungsapparate eine spezifische Note. 119 Hierin wurde nicht mehr nur auf die herangezogenen Archivalien und/oder Drucke hingewiesen, sondern die Quellentexte mitunter auszugsweise in die Anmerkungen integriert. Ebenso finden sich vermehrt Hinweise auf die rezipierte Sekundärliteratur. 120 In den Zeitraum um 1870 fällt außerdem die signifikant zunehmende personelle Verschränkung der Historischen Kommission mit der mittlerweile deutlich erstarkten Universität. Zuvorderst ist hier die enge Verbindung mit dem seit 1854 bestehenden Institut für österreichische Geschichtsforschung zu nennen, welches unter der Direktion des preußischen Historikers Theodor von Sickel seit den 1870er Jahren eine eminente Rolle für die methodologische Standardisierung der historischen Disziplin spielte. Besonders für Ausdifferenzierung der historischen Hilfswissenschaften, wie der Diplomatik und Paläographie, erwiesen sich die Techniken der Quellenbearbeitung am Institut als maßgeblich und zukunftsweisend. 121 Parallel dazu war nun auch in den Gutachten für die Akademiepublikationen von den „Anforderungen der modernen Wissenschaft“ die Rede, 122 die sich vor allem textkritischen Überlegungen verpflichtet sahen und den unbedingten Rückgriff auf „das Original“ in den Mittelpunkt rückten. 123 Im Jahr 1875 stellte Theodor Sickel als Mitglied der Historischen Kommission schließlich folgenden Antrag: Über Abhandlungen, die – ohne nähere Präzisierung – „gleich von vorneherein“ zur Aufnahme nicht geeignet erschienen, sollte nach vorheriger Übereinkunft aller Kommissionsmitglieder, also ohne weiteres schriftliches Gutachten, lediglich mündlich in den Klassensitzungen der Akademie referiert werden. 124 Damit änderte sich in der Folge auch die Qualität der Kommunikation, die den akademischen Publikationsprozess begleitete: Seit den frühen 1880er Jahren 119 Siehe auch oben Anm. 14. 120 Ein gutes Beispiel bietet die Abhandlung: Adolf Beer, „Die österreichische Handelspolitik unter Maria Theresia und Josef II.“, in: AÖG 86 (1899), S. 1–204. Der Umfang der im Anschluss an den Text ausgeführten Anmerkungen im Verhältnis zum Haupttext beträgt hier etwa 40 %. Einen ebenfalls sehr differenzierten Anmerkungsapparat bietet: Alfons Dopsch, „Die Kärnten-Krainer-Frage und die Territorialpolitik der ersten Habsburger in Oesterreich“, in: AÖG 87 (1899), S. 1–111. 121 Daniela Saxer, „Vermittlungsweisen des Quellenblicks im Geschichtsunterricht an den Universitäten Wien und Zürich (1833–1914)“, in: Gabriele Lingelbach (Hg.), Vorlesung, Seminar, Repetitorium, S. 21–57; siehe auch Daniela Saxer, “Archival objects in motion: historians’ appropriation of sources in nineteenth-century Austria and Switzerland ”, in: Archival Science 10 (2010), S. 315–331. 122 AÖAW, HK, K 1, Konvolut HK, Alte Akten 1870 bis 1884, 1871 Nr. 33, Joseph Fiedler, 1871 Januar 17. 123 AÖAW, HK K 1, Alte Akten 1870–1884, sine numero, Ernst von Birk, Gutachten, 1871 Januar 30. Zum essentiellen Arbeiten „am Original“, wie es vor allem in Wien unter Theodor Sickel propagiert wurde, siehe Härtel, Geschichte des Mittelalters, S. 135; siehe vor allem Saxer, „Vermittlungsweisen“. 124 HK, Karton 2, Sitzungsprotokolle der HK (April 1870–Dezember 1901), Sitzung von 1875 November 24.
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finden sich nur mehr sehr vereinzelt Gutachten zu den einlangenden Manuskripten. Die Anzahl der publizierten Bände des Archivs reduzierte sich überhaupt deutlich. Die ersten Jahrgänge waren fast ausnahmslos jeweils in vier bis fünf Heften erschienen, die ihrerseits je zwei bis fünf Beiträge enthielten. 125 Auch im Jahrzehnt von 1870 bis 1880 wurden insgesamt 20 Bände des AÖG publiziert. Demgegenüber erschienen zwischen 1890 und 1900 – bei etwa gleichbleibender Anzahl der Einzelbeiträge pro Band – nur mehr 13 Bände. Gleichzeitig mit dieser deutlichen Reduktion wich nun auch der vormals pädagogische Anspruch den zunehmend als selbstverständlich erwarteten methodischen Anforderungen. Daher dürfte auch die langwierige Begutachtungsprozedur 126 offensichtlich nicht mehr als notwendig erachtet worden sein. Die Entscheidungen wurden nun vermehrt auf mündlichen Bericht des einen oder anderen Kommissionsmitgliedes direkt in den Sitzungen der Kommission getroffen, die aber nach wie vor redaktionspolitisch wirkte, wenn es um die Gestaltung ihrer Publikationsforen ging. Ein Beispiel aus dem Jahr 1900 verdeutlicht diese Entwicklungen. Auf Wunsch der Kommission hatte der renommierte Grazer Universitätsprofessor Johann Loserth 127 eine zeithistorisch relevante Arbeit über den galizischen Aufstand von 1846 128 umgestaltet und statt einer bloßen Dokumentensammlung eine Darstellung vorgelegt. In der Kommissionssitzung, in der letztlich über die Aufnahme des Manuskriptes entschieden wurde, monierte man plötzlich, dass das herangezogene Quellenmaterial „nur“ auf den Ausführungen eines „Beobachters“ basiere: Als Bezirkshauptmann habe dieser angeführt, dass die Regierung den Bauern Prämien für die Tötung der (polnischen) Adeligen bezahlt habe. Das Sitzungsprotokoll resümierte, Loserth habe sein Manuskript nicht ausreichend „klar durchgearbeitet“. Zugleich wurde aber angemerkt, dass hierin einige Personen verunglimpft wurden, deren Angehörige „im Lande und im Reiche eine angesehene Stellung einnehmen“. 129 Interessanterweise wurden Loserth, dessen Werk insgesamt ein starker Zug zur Bearbeitung ungedruckter Materialien und zur Archiv125 Besonders ragen die Jahrgänge 1849 und 1850 hervor, die ihrerseits sogar in zwei Teilbänden herausgegeben worden waren, die jeweils zwischen 500 und 700 Seiten stark waren. 126 Für eine rasche Publikation waren die Akademieschriften jedenfalls nicht geeignet. Dies monierte auch der Redakteur der 1880 gegründeten Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (MIÖG), Engelbert Mühlbacher; Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Bestand MIÖG, Karton MIÖG-Akten, Mappe 1: Buchhandlungen etc., Fasz.1, Engelbert Mühlbacher, Promemoria, 1879 Oktober 22, 15 paginae (Abschrift; unpaginiertes Org. ebd., Mappe 2, Fasz. 2: Redaktionsakten, Konvolut: Berichte der Redaktion), hier pag. 2. 127 Pavel Soukup, „Johann Loserth (1846–1936). Ein ‚Gelehrter von Weltruf‘ in Czernowitz und Graz“ in: Karel Hruza (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 39–71; zur Berufung nach Graz besonders S. 58–60. 128 Arnon Gill, Die polnische Revolution 1846. Zwischen nationalem Befreiungskampf des Landadels und antifeudaler Bauernerhebung, München 1974. 129 AÖAW, HK, Karton 2, Sitzungsprotokolle der HK (April 1870–Dezember 1901), Sitzung von 1900 Juni 13.
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forschung eignet, 130 in diesem Fall keine konkreten methodischen Verfehlungen vorgeworfen. Zudem hatte er bis dato bereits 23 verschiedene Editionen und Abhandlungen in den Akademieschriften publiziert und setzte diese Tätigkeit auch nach 1900 fort. 131 So ist es doch evident, dass wissenschaftliche Gründe vorgeschoben wurden, um das Manuskript letztlich aus handfestem politischem Kalkül abzulehnen. Der aufwändige Redaktionsapparat, der über Jahrzehnte sorgfältig aufgebaut worden war, um unabhängige wissenschaftliche Arbeit und Publikation zu gewährleisten, diente mitunter durchaus auch dazu, politisch verfängliches Material zurückzuhalten – obschon die Kommission mehrfach deklariert hatte, im Interesse der wissenschaftliche „Sache“ zu handeln, wie etwa auch im Fall des eingangs zitierten Wattenbach-Beispiels, auf welches abschließend noch einmal zurückzukommen ist. Denn auch hier hatte man sich gleichsam aus den „Hinterzimmern“ der Redaktion heraus zu erkennen gegeben: In der Tat hatte Wattenbach in seinem Beitrag aus dem Jahr 1852 einleitend bemerkt, dass die Frage der Echtheit der Hausprivilegien endgültig „auf dem Gebiete der Wissenschaft“ entschieden werde, „ohne dass Oesterreich die Macht hätte, es zu verhindern“; und er setzte noch hinzu: „(…) das starre Festhalten eines Kleinods, welches die ganze deutsche Wissenschaft für unechtes Glas erklärte, könnte weder Ehre noch Vortheil bringen.“ 132 Diese Phrase wurde im gedruckten Text mit einer eigenen „Anmerkung der Redaction“ versehen: Wattenbach stelle seine „etwas überschwängliche Phrase (…) selbst in die Luft“, da er doch wenige Zeilen später anführe, dass das Privilegium Maius bereits zwei Jahre früher von österreichischer Seite als unecht erklärt worden war. Zudem sei es Wattenbach offenkundig entgangen, dass durch die habsburgische Geschichtsschreibung bereits um 1840 „ohne Scheu“ die Echtheit dieser Urkunde öffentlich angezweifelt worden sei. 133 Damit wird abschließend noch einmal die Bedeutung von Redaktionsarbeit als wesentlichem Bestandteil der wissenschaftlichen Institutionalisierung deutlich. Die vorangehenden Ausführungen sollten außerdem zeigen, dass den entsprechenden Publikationen der Historischen Kommission der Kaiserlichen Akademie zunehmend die Aufgabe zukam, die österreichische Geschichtsforschung nicht nur zu fördern, sondern auch zu standardisieren.
130 Soukup, „Loserth“, S. 63f. 131 Eine Übersicht über Loserths Akademiepublikationen findet sich in: Dokumentation zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1847–1972, I: Die Schriften der philosophischhistorischen Klasse 1847–1972, Teil 1: Autorenverzeichnis, bearb. von Ludmilla Krestan unter Mitwirkung von Klaus Wundsam, Wien 1972, S. 172–174. 132 Wattenbach, „Freiheitsbriefe“, S. 80. 133 Ebd., S. 80, (vgl. mit Anm. 2); Karajan nimmt dabei Bezug auf das mehrbändige Werk von Eduard von Lichnowsky, Geschichte des Hauses Habsburg, hier (IV), Wien 1839, S. 15 und 16.
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Dabei lohnte sowohl ein Blick vor als auch hinter die „Kulissen“ der Redaktion; denn hinter dem offiziell kolportierten Anspruch auf wissenschaftliche Standardisierung verbargen sich zahlreiche unterschiedliche individuelle, fachliche und politische Erwartungen und Präferenzen, die aufschlussreiche Einblicke in den vielgestaltigen akademischen Prozess bieten.
DIE HISTORISCHE KLASSE DER BAYERISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN IN DER 2. HÄLFTE DES 19. JAHRHUNDERTS Reinhard Heydenreuter I. Die Stellung der Historischen Klasse innerhalb der Bayerischen Akademie und ihre Mitglieder Die 1759 vom bayerischen Kurfürsten Max III. Joseph ins Leben gerufene Bayerische Akademie der Wissenschaften 1 widmete sich von Beginn ihrer Tätigkeit an der Edition von Geschichtsquellen und der historischen Forschung. Dies war vor allem Aufgabe der Historischen Klasse der Akademie, die – mit einer Unterbrechung zwischen 1823 und 1827 2 bis 1923 als selbständige Klasse bestand. Sie war im 18. Jahrhundert die wichtigste Klasse der Akademie. Zur zentralen, wissenschaftlich und finanziell aufwändigsten Tätigkeit dieser Klasse und der gesamten Akademie gehörte die Herausgabe der Monumenta Boica, deren erster Band bereits 1763 erschien. Im Jahre 1828 wurde eine eigene Kommission zur Herausgabe der Monumenta Boica gegründet, die erste handlungsfähige Kommission der Akademie, die bis zur Gründung der Kommission für bayerische Landesgeschich-
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Zur Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften im 19. Jahrhundert fehlen noch eingehende Untersuchungen; einen gewissen Ersatz bieten die folgenden Arbeiten: Reinhard Heydenreuter, Die Bayerische Akademie der Wissenschaften. Dokumente und Erläuterungen zur Verfassungsgeschichte, Regensburg 2011; Reinhard Heydenreuter/Sylvia Krauss, Helle Köpfe. Die Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1759– 2009 (= Ausstellungskatalog der Staatlichen Archive Bayerns (LI)), Regensburg 2009; Dietmar Willoweit (Hg.), Wissenswelten. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die wissenschaftlichen Sammlungen Bayerns. Ausstellungen zum 250-jährigen Jubiläum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2009; Wolf Bachmann, Die Attribute der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1807–1823 (= Münchner Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte (VIII)), Kallmünz 1966; Karl Theodor von Heigel, Die Münchener Akademie 1759–1909. Festrede zum 150. Stiftungstag, München 1909. Mit dem Statut vom 12. Oktober 1823 wurde die 1807 neu geschaffene philologisch-philosophische Klasse mit der historischen Klasse zusammengelegt. Bei der Akademiereform 1827 wurde diese Zusammenlegung wieder rückgängig gemacht und neben der mathematischphysikalischen Klasse eine historische und eine philosophisch-historische Klasse gebildet, vgl. dazu Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 269ff., 313ff. und S. 600.
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te im Jahre 1927 bestand. Gerade die Herausgabe der Monumenta Boica bot Anlass für eine in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts fast einmalige parlamentarische Diskussion über die Frage der Herausgabe von Geschichtsquellen, auf die im Folgenden einzugehen sein wird. Doch auch aus anderen Gründen ist die Geschichte der Historischen Klasse der Akademie von Bedeutung: Im Jahr 1858 rief König Max II. die Historische Kommission ins Leben und damit eine Einrichtung, die prinzipiell gleiche Ziele verfolgte wie die Historische Klasse, aber über erheblich mehr Mittel verfügte, die freilich direkt vom König kamen und damit der Kontrolle des Landtags entzogen waren. Es wäre also zu fragen, inwiefern die Gründung der Historischen Kommission eine Maßnahme war, die sich gegen die Akademie und deren Historische Kommission oder gegen den Landtag richtete. Zudem ist auch zu prüfen, ob es eine spezifisch bayerisch ausgerichtete Geschichtswissenschaft in München gab, die sich gegen die Berufungen der „Nordlichter“ durch Max II. zur Wehr setzte. Daher müssen vor allem auch die akademischen Archivare der bayerischen Archivverwaltung und die historisch tätigen Mitarbeiter der Hof- und Staatsbibliothek sowie die Geschichtsprofessoren der Universität und deren Stellung zur Historischen Klasse und zur Historischen Kommission ins Auge gefasst werden. Von großem Interesse ist folglich auch die Zusammensetzung dieser historischen Klasse der Akademie. Hier spielten besonders die Juristen (Rechtshistoriker), Theologen (Kirchenhistoriker) und Archivare eine große Rolle, die auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Universitätsprofessoren für Geschichte an der Universität München an Bedeutung weit übertrafen. In diesem Zusammenhang macht sich auch der Gegensatz zwischen den modernen „reinen“ Historikern aus dem Norden, die die Historische Kommission beherrschten, wie etwa Leopold von Ranke oder Heinrich von Sybel einerseits, und den Rechtshistorikern, Archivaren, Kirchenhistorikern und einheimischen Regionalforschern andererseits bemerkbar. II. München unter König Max II.: Ein Paradies der Geschichtswissenschaft? Die große Zeit der Geschichtsforschung in der Akademie begann mit der Regierungszeit des bayerischen Königs Max II. (1848–1864). Der König stand Zeit seines Lebens unter dem Einfluss seiner historischen Studien in Göttingen und Berlin, die er besonders bei Leopold von Ranke getätigt hatte. Rankes Schüler Wilhelm von Doenniges (1814–1872), 3 ein Studienkollege Max‘, wurde auf Empfehlung seines Lehrers der Mentor und Privatsekretär des späteren Königs. Doenniges hatte sich 1839 bei Leopold von Ranke mit einer urkundenwissenschaftlichen Studie über den Luxemburger Kaiser Heinrich VII. (1308–1313) ha3
Karl Otmar Freiherr von Aretin, „Dönniges, Franz Alexander Friedrich Wilhelm, von,“, in: Neue Deutsche Biographie 4 (1959), S. 28–30.
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bilitiert, wurde 1841 außerordentlicher Professor und ging 1842 nach München zu seinem Gönner, Kronprinz Max. Als dieser 1848 König von Bayern wurde, beeinflusste der allzu selbstbewusste Doenniges nicht nur die bayerische Außenpolitik (Triasgedanke), sondern vor allem die Kultur- und Wissenschaftspolitik des Königs. Auf seinen Vorschlag gehen jedenfalls die Berufungen der Historiker Sybel und Riehl zurück. 1860 erhielt Doenniges den erblichen bayerischen Adelstitel. Felix Dahn bezeichnete Doenniges als die treibende Kraft jener Partei die „mit einer Schärfe ätzender Lauge der Verachtung alles Baierischen überhaupt“ mit großer „Hybris“ auftrat. 4 Das beliebteste Argument Doenniges gegenüber seinen Gegnern bildete der Begriff „unwissenschaftlich“. Max II. versuchte seine großen wissenschaftlichen Pläne zunächst über die Akademie der Wissenschaften zu verwirklichen. Dazu stellte er 1849 die vollständige Wahlfreiheit der Akademie wieder her, 5 die sein Vater Ludwig I. 1841 eingeschränkt hatte. Dieser hatte sich vorbehalten, eine gewisse Zahl von Akademiemitgliedern selbst zu ernennen, da sich die Akademie seit 1837 geweigert hatte, Joseph Görres und katholische Historiker aus dessen Umfeld in die Akademie aufzunehmen. Für Max II. selbst war die Geschichtsforschung nicht nur mit wissenschaftlicher Leidenschaft verbunden, sondern sie stellte für ihn auch ein wichtiges Herrschaftsinstrument dar. Im Zuge der Revolution von 1848 stellte er sich die Frage, warum es auch in Bayern zu revolutionären Bestrebungen gekommen war und weshalb zahlreiche Untertanen sich gegen die Monarchie ausgesprochen hatten. Er gelangte dabei zu dem Ergebnis, dass die historischen Verdienste des Hauses Wittelsbach nicht genug gewürdigt und im Bewusstsein der Untertanen verankert worden waren. Durch die Gründung eines bayerischen Nationalmuseums sollte diese „Wissenslücke“ geschlossen werden. Dieses Projekt geht vor allem auf den Diplomaten und Archivar Karl Maria von Aretin (1796–1868) zurück, der seit 1855 ordentliches, vorher auswärtiges Mitglied der Historischen Klasse war. Ebenso wichtig wie die Sammlungen des Nationalmuseums war der ebendort initiierte Freskenzyklus zur bayerischen Geschichte. Von diesen Fresken wurden zahlreiche Abbildungen verbreitet, die auch zur Illustrierung fast aller populären Bücher zur bayerischen Geschichte dienten. Ein beliebtes Buch mit ausführlichen Beschreibungen der Fresken fertigte der Historiker und Generalstabsoffizier Karl Spruner von Mertz (1803–1892) an, der seit 1853 ordentliches Mitglied der Histo4 5
Felix Dahn, Erinnerungen, (III), Leipzig 1892, S. 275. Die Wiederherstellung der Wahlfreiheit der Akademie erfolgte durch Verordnung vom 25. März 1849 (= Regierungsblatt des Königreichs Bayern 1849, Sp. 281–283): „Wir finden Uns bewogen, unter Aufhebung der Ziffer II der Verordnung vom 22. November 1841 (= Regierungsblatt des Königreichs Bayern 1841, S. 1119), die Akademie der Wissenschaften betr., insolange wir nicht anders verfügen, zu bestimmen, dass der Eintritt in diesen gelehrten Verein als ordentliches Mitglied fortan nur auf dem Grunde einer freien Wahl der Akademie und erfolgter königlicher Bestätigung nach Maßgabe des Artikel VII der Verordnung vom 21. März 1827 (= Regierungsblatt des Königreichs Bayern 1827, S. 193) stattfinde ….“.
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rischen Klasse war und auch zum engen Umkreis des Königs gehörte. Volkspädagogische Auswirkungen erhoffte sich der König auch von einem letztlich gescheiterten Projekt der Historischen Klasse, nämlich der Herausgabe eines historischtopographischen Wörterbuchs. Einen Ersatz für dieses Projekt bot in der Folge die Herausgabe des bayerischen landeskundlichen Sammelwerkes Bavaria. Verantwortlich für dieses Projekt war der 1853 als Professor für Staatswissenschaft und Kulturgeschichte an die Universität München berufene Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897). 6 Der im Rheinland (Biebrich) geborene Riehl wurde 1861 Mitglied der Historischen Klasse. Max II. holte ihn vor allem wegen seiner sozialpolitischen Arbeiten Die bürgerliche Gesellschaft und Land und Leute nach Bayern. Riehl gilt als einer der Begründer der Volkskunde, aber auch der Soziologie. Ihm ging es vor allem um die Erhaltung der Stammesbesonderheiten als der Grundlage der Kultur gegenüber der jede Eigenart verwischenden allgemeinen Bildung. Seine Ideen gingen Hand in Hand mit den volkspädagogischen Intentionen des Königs und so begann Riehl auf Veranlassung des Königs mit der Herausgabe des fünfbändigen Werks Bavaria, einer Landes- und Volkskunde des Königreichs, dessen erster von Riehl selbst verfasster Band über Oberbayern im Jahr 1860 erschien. 1868 erschien der letzte Band. Da der König der Meinung war, dass die protestantische Geschichtswissenschaft der süddeutschen, katholischen weit überlegen sei, setzte er alles daran, um jene in seinen Augen moderne Wissenschaft in München entsprechend zu verankern. Dabei rechnete er auch mit der politischen Wirkung, die eine Beschäftigung mit der Geschichte der deutschen „Stämme“ hatte. Er war der festen Überzeugung, dass seine Förderung der Geschichtswissenschaft auch der Stellung Bayerns innerhalb von Deutschland zugutekommen würde. Die Geschichtswissenschaft schien ihm ein geeignetes Vehikel, um seine Vorstellungen von einer eigenständigen Stellung Bayerns zwischen Österreich und Preußen zu verwirklichen (Triasidee). 7 Auf der Suche nach entsprechenden Wissenschaftlern wurde dem König von Leopold von Ranke, der selbst trotz zahlreicher Anwerbungsversuche nicht zur Verfügung stand, der Marburger Professor Heinrich von Sybel (1817–1895) empfohlen. Sybel wurde 1856 nach München berufen, und bereits im Jahr darauf Mitglied der Historischen Klasse. 8 Für ihn wurde – ebenso wie für seinen zeitgleich
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Zu Riehl vgl. Jasper von Altenbockum, Wilhelm Heinrich Riehl 1823–1897. Sozialwissenschaft zwischen Kulturgeschichte und Ethnographie, Köln 1994. Auch bei der Ausformulierung der Triasidee spielte Doenniges eine bedeutende Rolle. Auf ihn geht auch die Berufung Riehls nach München zurück. Zur Triasidee vgl. Ina Ulrike Paul, „Die bayerische Triaspolitik König Maximilian II.“, in: Rainer A. Müller (Hg.), König Maximilian II. von Bayern 1848–1864, Rosenheim 1988, S. 115–129. Heinrich von Sybel (1817–1895), ein Schüler Rankes, war 1844 Professor für Geschichte in Bonn, 1845 in Marburg, 1856 in München und schließlich 1861 wieder in Bonn. Von 1858– 1862 war er Sekretär und nach dem Tode Rankes von 1886–1895 Präsident der Historischen Kommission; vgl. Volker Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politi-
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aus ganz anderen Gründen berufenen Kollegen Carl Adolph Cornelius – ein neuer Lehrstuhl für Geschichte geschaffen. Sybel sollte eine Geschichte Bayerns verfassen und vor allem die Forschungen koordinieren, die bisher abseits der Universität an der Akademie und in den Archiven betrieben wurde. Zudem wurde für ihn an der Universität ein eigenes Historisches Seminar zur Vertiefung und Ergänzung der Vorlesungen geschaffen. Dieses Seminar erhielt auch den Auftrag zur Lehrerausbildung und demgemäß eine pädagogische Abteilung. Da für die Lehramtskandidaten laut Prüfungsordnung eine mündliche Prüfung durch den Seminarvorstand vorgeschrieben war, wurde erstmals für das historische Fach ein fester Hörerkreis geschaffen. Über die Lehrerschaft sollte die Geschichte erzieherisch auf das Volk wirken, so die Idee des Königs und seines Beraters Doenniges, die Sybel umsetzte. Dieser wurde die zentrale „Anlaufstelle“ für den Historikernachwuchs in Bayern. Die Neugründung der Historischen Zeitschrift 1859 geht auf ihn zurück. Seine Tätigkeit in München dauerte nur bis 1861, in der Folge ging er nach Bonn und schließlich als Archivdirektor nach Berlin. In München wollte und konnte er nicht mehr bleiben, nachdem dort der Widerstand katholisch-konservativer Kreise gegen das „Nordlicht“ Sybel, der aus seiner preußisch-protestantischen Einstellung nie ein Hehl gemacht hatte, immer größer geworden war. 9 III. Die Zusammensetzung der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Seit der Neuorganisation der Akademie der Wissenschaften 1827 betrug die Anzahl der Mitglieder in den einzelnen Klassen jeweils 12. Diese Mitgliederzahl wurde bis 1923 beibehalten, doch galt seit 1856 die Beschränkung auf 12 Mitglieder nur für die Mitglieder unter 70 Jahren. Mitglieder, die älter als 70 Jahre waren, wurden von ihren Pflichten entbunden, konnten aber noch alle Rechte wahrnehmen. Zwischen den Jahren 1848 und 1900 gehörten in Summe 44 Mitglieder der Historischen Klasse an, die im Anhang zu diesem Beitrag aufgelistet sind. Diese Zusammenstellung, die nur die ordentlichen Mitglieder (also die in München wohnenden) auflistet, zeigt mehrere Besonderheiten: Zunächst überwiegen zahlenmäßig nicht, wie man annehmen möchte, die Münchner Universitätsprofessoren für Geschichte, sondern die Archivare und die Juraprofessoren, die jeweils 8 Mitglieder stellten. Auch die Kirchenhistoriker waren prominent vertreten. Angesichts des heutigen Professorenmonopols ist auch die vergleichsweise große Zahl der Publizisten, Privatgelehrten, Staatsbeamten oder Direktoren der staatlichen Sammlungen beachtlich, die sich auf historischen Gebiet betätigten.
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scher Absicht (1817–1861), (= Schriftenreihe der Historischen Kommission (XVI)), Göttingen 1978; NDB 25, S. 733735 (Volker Dotterweich). Hedwig Dickerhof-Fröhlich, „Das Fach Geschichte an der Universität München im 19. Jahrhundert“, in: Laetitia Böhm/Johannes Spörl (Hg.), Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten, (II), Berlin 1980, S. 273.
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Die bescheidene Zahl der Universitätsprofessoren der Geschichte unter den Mitgliedern der Historischen Klasse hängt freilich auch damit zusammen, dass noch in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit die Leiter der zentralen landesherrlichen Archive weit mehr Ansehen genossen und auch weit besser bezahlt wurden als Universitätsprofessoren. Diese an Institutionen gebundene Geschichtsforschung verlor freilich gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Vermehrung und Verselbständigung der Geschichtsprofessuren, die ja zunächst nur Anhängsel der juristischen Studien gewesen waren, erheblich an Bedeutung. Auftrieb erhielten die zweckfreien Geschichtsstudien vor allem auch durch die Gründung von Unternehmungen wie der Monumenta Germaniae Historica (1819) oder eben der Historischen Kommission (1858). Die Archive wandelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts von einem Herrschafts- und Legitimationsinstrument der Juristen zunehmend zum dienenden Objekt der Geschichtsforschung. Lediglich gewisse Archive mit außenpolitischer oder hausrechtlicher Relevanz, beschränkten als „geheime Staatsarchive“ bzw. als „geheime Hausarchive“ weiterhin die Benützung durch Historiker. 10 IV. Die Historische Kommission von 1858 Im Unterschied zur Historischen Klasse der Akademie war die Historische Kommission als zeitlich begrenztes Unternehmen gedacht, deren Editionsunternehmen – vor allem die Jahrbücher zur deutschen Geschichte und die deutschen Reichstagsakten – bis spätestens 1880 beendet sein sollten. Erst mit der von König Ludwig II. begründeten Wittelsbacher Stiftung von 1880 wurde die Historische Kommission als Dauereinrichtung begründet. Die Gründung, die vor allem von Leopold von Ranke initiiert wurde, 11 erfolgte 1858. Am 20. August dieses Jahres unterzeichnete König Maximilian II. in Berchtesgaden ein für das Staatsministerium des Inneren für Kirchen- und Schulangelegenheiten bestimmtes Signat samt „Statut“ über die Einrichtung einer Kommission für deutsche Geschichts- und Quellenforschung bei Meiner Akademie der Wissenschaften. Wer der Verfasser dieses „Statuts“ war, ist im Einzelnen noch nicht geklärt. Vorausgegangen waren jedenfalls die seit 1836 nachweisbaren Bemühungen Rankes zur Herausgabe der Reichstagsakten. Auf Vermittlung Heinrichs von Sybel, der wie erwähnt seit 1856 als Professor in München wirkte, reichte Ranke am 25. Oktober 1857 einen Arbeitsplan zur Herausgabe der Reichs10 Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 306; Heinz Lieberich, „Archive“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, (I), Berlin 1971, Sp. 211–217. 11 Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1958, Göttingen 1958; Lothar Gall (Hg.), „… für deutsche Geschichts- und Quellenforschung.“ 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München 2008; Helmut Neuhaus, Chronik der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–2007, München 2008.
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tagsakten ein. Bei einem Zusammentreffen zwischen Ranke und Maximilian II. in Berlin im Frühjahr 1858 sicherte der König zu, dass der von Ranke seit langem gewünschte Verein zur Herausgabe der deutschen Geschichtsquellen in München als „Akademie der deutschen Geschichtswissenschaft“ errichtet werden sollte. Der König beauftragte Sybel mit einem entsprechenden Gutachten. Sybel schlug vor, eine Stiftung zu errichten, die mit den Mitteln zu dotieren sei, die der König schon bisher aus der Kabinettskasse für historische Studien zahlte; gemeint waren vor allem die im August 1857 vom König für 12 Jahre genehmigten 3000 fl. für die Sammlung und Erforschung der deutschen Reichstagsakten. Des Weiteren wünschte Sybel eine klare organisatorische Struktur mit einem Vorstand, einem Sekretär, mit bayerischen und auswärtigen Mitgliedern und einer jährlichen Plenarversammlung. 12 Sybels Vorschlag wurde – wohl unter Mitarbeit des Kultusministers Theodor von Zwehl und des zuständigen Referenten im Ministerium Franz Ludwig Völk – vom König dahingehend abgeändert, dass es keine zusätzliche Akademie neben der Akademie der Wissenschaften geben, sondern das Projekt als Kommission der Akademie angegliedert werden sollte. 13 Die Kommission sollte befugt sein, die Handschriften und Bücher der bayerischen Staatsbibliothek sowie die Akten der Archive des Königreiches bis zum Jahre 1800 unter Beachtung der „reglementären Vorschriften“ zu benutzen. 14 Das dem Ministerium schließlich zugestellte Statut vom 20. August 1858 war im Wesentlichen ein Produkt der Zusammenarbeit zwischen Ranke, Sybel, König Maximilian II. und dem Ministerium selbst. In Artikel XI des Statuts schlug der König bereits drei Akademiemitglieder zu Mitgliedern der Kommission vor, nämlich Sybel, Georg Thomas von Rudhart und Karl Spruner von Merz, die Vorschläge zur Ernennung anderer Mitglieder einreichen sollten. Gerade bei diesen beiden letztgenannten vom König vorgeschlagenen Personen aus Bayern handelte es sich nicht um die typischen akademischen Geschichtsforscher, sondern eher um historisch arbeitende Staatsbeamte (Archivare) und Militärpersonen. Vermutlich versuchte Maximilian II. damit der Neugründung einen „etatistischen“ und volkspädagogischen Charakter zu verleihen. Bereits am 15. September 1858 erhielt das Reichsarchiv durch das Ministerium die Anweisung, die Archivkonservatorien, d. h. die Außenstellen, auf die bevorstehende Benützung durch die Kommission hinzuweisen. 15 Als wichtigen Punkt erachteten die Protagonisten aber vor allem die Abgrenzung von bestehenden Projekten. In Artikel III wurde daher bestimmt, dass die Herausgabe von Quellen nur insoweit zu den Aufgaben der Kommission gehören soll, soweit dies „nicht in den Bereich bereits bestehender Unternehmungen
12 Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 402. 13 Franz Schnabel, „Die Idee und die Erscheinung“, in: Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858–1958, Göttingen 1958, S. 25. 14 Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 402. 15 Ebd., S. 402–404.
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fällt“. 16 Auf Anregung Rankes wurde die Kommission auch ermächtigt, nicht nur Quelleneditionen zu betreiben, sondern auch historische Arbeiten anzuregen. Dotiert war die Kommission laut Satzung mit jährlich 15.000 Gulden aus der Kabinettskasse. Davon sollten 3.800 fl. für die Reichstagsakten bereitgestellt werden, die ja als Projekt übernommen worden waren. Zusätzlich stellte der König ab 1859 noch jährlich 10.000 fl. für die Geschichte der Wissenschaften in Deutschland zur Verfügung. Nach dem frühen Tod des Königs im März 1864 war die Zukunft des Unternehmens offen. Das Ministerium fragte nach, wann die von der Kommission begonnenen Projekte beendet werden würden. Der Ortsausschuss der Kommission nannte eine Spanne von 12 Jahren. König Ludwig II. gewährte daraufhin zunächst die Dotation für weitere 15 Jahre, 1877 sicherte er die Fortsetzung der Zahlung für weitere 10 Jahre zu. Im Wittelsbacher Jubiläumsjahr 1880 errichtete Ludwig schließlich die Wittelsbacher Stiftung für Wissenschaft und Kunst mit einem zu 4% verzinsten Kapital von 650.000 Mark, womit die Historische Kommission schließlich zur Dauereinrichtung wurde. Die Arbeit der Historischen Kommission wurde schon im 19. Jahrhundert nicht nur über die königliche Kabinettskasse bzw. über die Wittelsbacher Stiftung, sondern auch aus Mitteln des regulären Staatshaushalts, die im Budget ausgewiesen waren, finanziert, was eine Kontrolle durch den bayerische Landtag nach sich zog. Bei den Haushaltsberatungen 1898 hinterfragte der damalige Berichterstatter Dr. Balthasar Ritter von Daller auch die Arbeit der Historischen Kommission, die nach seiner Meinung nicht zuletzt zur Erforschung der bayerischen Geschichte ins Leben gerufen worden war. Von den vielen Projekten der Kommission seien jedoch nur die Wittelsbacher Korrespondenzen zur bayerischen Geschichte im eigentlichen Sinn zu rechnen. Der Pfälzer Abgeordnete Dr. Andreas Friedrich Deinhard hielt dem entgegen, dass im Statut der Historischen Kommission von deutscher, nicht aber von bayerischer Geschichte die Rede sei. Diese in der Folge noch vertiefte Diskussion gewährt interessante Einblicke in das Spannungsfeld aus Politik und Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 17 V. Konflikte: Der Widerstand in der Historischen Klasse der Akademie gegen die Neuberufungen Die „Nordlichter“ Ranke, Riehl, Sybel und später Giesebrecht, die im Rahmen der Gründung der Historischen Kommission und der geschichtswissenschaftlichen Reformbestrebungen des Königs in München agierten, wurden in der von Rechtshistorikern, Archivaren und Kirchenhistorikern beherrschten Historischen Klasse
16 Siehe hierzu auch das Statut von 1858 November 26, gedruckt bei Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 397–401, hier S. 398. 17 Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 405f.
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der Akademie der Wissenschaften, aber auch in der Öffentlichkeit als Fremdkörper empfunden. „Zur Beruhigung der öffentlichen Meinung“ wurde daher 1856, parallel mit Sybel, der aus Würzburg stammende katholische Carl Adolph Cornelius (1819– 1903) 18 von Bonn nach München berufen. 1860 wurde er Mitglied der Historischen Klasse der Akademie. Zwar sah er sich gegenüber den „Großordinarien“ Sybel und später Giesebrecht deutlich zurückgesetzt, vermochte sich aber geduldig durchaus zu behaupten. Vor allem im Bereich der neueren Geschichte in seinen Übungen rekrutierte er viele brauchbare Mitarbeiter der Historischen Kommission, sodass in München mit seiner Hilfe eine Pflanzschule und regelrechte „Historikerfabrik“ entstand. Auch korrigierte er innerhalb seiner Zuständigkeit die allzu großzügigen Maßstäbe Sybels bei Doktorarbeiten im Rahmen von dessen großen Seminaren. So hatte nämlich 1860 eine Reform der Promotionsordnung das Spezialistentum gefördert, indem man nur noch Philosophie und Philologie als Nebenfach nachweisen musste, wohingegen es zuvor fünf Nebenfächer gewesen waren. Zugunsten der Hilfswissenschaften konnte sogar eines dieser Nebenfächer ersetzt werden. Als Nachfolger Sybels kam 1862 Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889) 19 nach München. Er setzte die Tätigkeit Sybels als Wissenschaftsorganisator fort, ohne sich freilich so unbeliebt zu machen wie sein Vorgänger. 20 1861 wurde er ordentliches Mitglied der Historischen Klasse. Da er sah, wie schwach die geschichtlichen Leistungen der (seit 1857) geprüften Lehramtskandidaten waren, wollte er einen eigenen Fachlehrer für Geschichte einführen, womit er sich freilich gegen die Philologen stellte. Aber auch die katholische Kirche machte er sich zum Feind, da diese mehr und mehr ihren Einfluss auf die Lehrerbildung schwinden sah. Giesebrecht lehnte eine konfessionelle Trennung des Geschichtsunterrichts ab, da sie „dem Schüler den Glauben an die objektive Wahrheit der Geschichte“ nehme. 21 VI. Kulturkampf in der Historischen Klasse: Die Altkatholiken Doellinger, Friedrich und Cornelius In der Historischen Klasse hatten die mit dem Altkatholizismus sympathisierenden Historiker erstaunlicherweise bedeutenden Einfluss. Nach dem Ausscheiden des über 70-jährigen Giesebrechts aus Altersgründen (Rücktritt von der Seminarleitung 1885) forderte der Landtag eine Doppelbesetzung des Lehrstuhls. Einer der Lehrstuhlinhaber sollte dabei „im Sinne der Landtagsmehrheit katholisch 18 NDB 3, S. 363 (Walter Goetz). 19 NDB 6, S. 379–382 (Hermann Heimpel). 20 Hedwig Dickerhof-Fröhlich, „Das Fach Geschichte an der Universität München im 19. Jahrhundert“, in: Laetitia Böhm/Johannes Spörl (Hg.), Die Ludwig-Maximilians-Universität in ihren Fakultäten, (II), Berlin 1980, S. 257–280, hier S. 272. 21 Ebd., S. 273.
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sein“. Diese Forderung war vor allem gegen Cornelius gerichtet, der 1856 als Proporz-Katholik berufen worden war, sich dann aber der altkatholischen Kirche zugewandt hatte – übrigens ebenso wie seine Kollegen in der Historischen Klasse, Ignaz Döllinger (1799–1890, der seit 1843 ordentliches Mitglied der Historischen Klasse war, allerdings nie formell in die altkatholische Kirche eintrat) und Johann Friedrich (1836–1917, seit 1880 ordentliches Mitglied der Historischen Klasse und seit 1882 Professor der Geschichte, statt der Theologie). 22 Cornelius zog aus den Anfeindungen, vor allem von Seiten der patriotischen Partei im Landtag und des Klerus die Konsequenzen und gab zeitgleich mit Giesebrecht seine Professur auf, obwohl er fünf Jahre jünger als Giesebrecht war. Damit war der Weg frei für eine Neuordnung der Geschichtswissenschaft an der Universität. 1885 wurde dann als Nachfolger Giesebrechts und des altkatholischen Cornelius als katholischer Lehrstuhlinhaber im Sinne des Landtags Hermann Grauert berufen und parallel dazu Karl Theodor Heigel, der Minister Lutz (und König Ludwig II.) persönlich nahe stand; Heigel erhielt auch die Seminardirektion. Grauert durfte aber (anders als vorher Cornelius) das Historische Seminar ebenfalls benutzen. 23 Der Rückzug Giesebrechts, der 1889 starb, hatte auf dessen Mitgliedschaft bei der Historischen Klasse und bei der Historischen Kommission, wo er bis zu seinem Tode Sekretär war, keinen Einfluss. Auch der Altkatholik Cornelius blieb bis zu seinem Tode 1903 Mitglied der Historischen Klasse der Akademie. Die ausgesprochen altkatholische Ausrichtung der Historischen Klasse führte 1894 sogar zu Kollisionen mit der Staatsregierung, da Prinzregent Luitpold, der von 1886 bis 1912 regierte, im Unterschied zu König Ludwig II. stark auf Distanz zu den Altkatholiken ging. Als die Akademie 1894 den in Bonn lehrenden altkatholischen Kirchenhistoriker Joseph Langen (1837–1901) zum Mitglied der Historischen Klasse wählte, wurde von Seiten des Ministeriums unter Kultusminister Ludwig August Müller die Bestätigung der Wahl versagt, was seit Ludwig I. nie mehr geschehen war. Der Fall wurde im Landtag vom sozialdemokratischen Abgeordneten von Vollmar am 28. Februar 1894 aufgegriffen, 24 um auf eine Reihe von Eingriffen in die Autonomie von Wissenschaft und Kunst hinzuweisen. Vollmar fragte, warum sich die Akademie eine solche Behandlung durch das Ministerium gefallen ließ: „Denken sie einmal, was geschehen würde, wenn in Frankreich ein Minister dazu kommen sollte, den Vorschlag einer gelehrten Körperschaft nicht zu berücksichtigen, ja ihr überhaupt gar keine Antwort zu geben. Sämtliche Mitglieder würden einhellig ihre Stellung niederlegen 22 Zur altkatholischen Bewegung und zum so genannten „Kulturkampf“ in Bayern unter König Ludwig II., vgl. Dieter Albrecht, „Die politische Entwicklung 1871–1886“, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, begründet von Max Spindler, neu herausgegeben von Alois Schmid, (IV/I), München 2003, S. 372–375. 23 Dickerhof-Fröhlich, „Das Fach Geschichte“, S. 277. 24 (Gedruckte) Verhandlungen der (2.) Kammer der Abgeordneten des Landtags des Königreichs Bayern 1893/94, Stenographische Berichte, (III), S. 17, (28. Februar 1894).
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Reinhard Heydenreuter und den Minister bei der leeren Akademie stehen lassen. Die Männer der deutschen Wissenschaft aber sind bescheidene demütige Leute, die sich solche Dinge gefallen lassen – und volenti non fit injuria!“
Der Minister verwies darauf, dass es immer schon üblich gewesen sei, der Akademie nur die Bestätigungen mitzuteilen, er hätte in diesem Fall aber sogar der Akademie die Ablehnung mündlich mitgeteilt. VII. Politik und Geschichte: „Großdeutsche“ und „Kleindeutsche“ in München Die Arbeiten und Diskussionen an der Universität, in der Historischen Kommission und der Historischen Klasse spiegelten die politischen Kämpfe der Zeit deutlich wider. Zunächst ging es angesichts der vielen „Nordlichter“ in der bayerischen Öffentlichkeit um die Frage, inwieweit die Arbeit der Historiker in der Akademie für Bayern überhaupt von Relevanz war. Dabei zeichnete sich eine gewisse Spaltung der Historiker ab: Die meisten neu berufenen Historiker widmeten sich der Reichsgeschichte, einige beschäftigten sich jedoch auch mit den weniger angesehen Themen der bayerischen Geschichte, wie etwa der Volks- und Sozialkunde. Diese modernen Felder bearbeiteten etwa die Mitglieder HefnerAlteneck und Riehl. Letzterer gab im Auftrag des Königs das oben schon erwähnte großangelegte, topographisch-historische Sammelwerk Bavaria heraus und verfasste wichtige Beiträge zur sozialen Frage, die dem König persönlich am Herzen lag. 25 Unter den Erforschern der deutschen Reichsgeschichte, die in München in beträchtlicher Anzahl versammelt waren, entbrannte seit der Akademierede Sybels vom 28. November 1859 die Frage über Sinn oder Unsinn der kaiserlichen Italienpolitik im Mittelalter, die zu einer berühmten Kontroverse führte. Sybels Rede richtete sich gegen den 1855 erschienenen 1. Band von Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit und der Verherrlichung der deutschen Italienpolitik. Nach Sybels Meinung hätten sich die deutschen Kaiser um die slawischen Völker kümmern sollen. Den politischen Hintergrund dieser Attacke bildete die Niederlage Österreichs in Italien (Schlacht von Solferino 1859). Damit kam er in Gegensatz zu Julius Ficker (dem in Innsbruck zum begeisterten Österreicher gewandelten Norddeutschen), der von einem großdeutschen und katholisch-österreichischen Standpunkt aus die kaiserliche Italienpolitik verteidigte. Hier kündigten sich bereits auf historischem Feld die künftigen politischen Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Österreich (1866) an, bei denen auch und gerade Bayern seinen Platz finden musste. Die Bemühungen Maximilians II. um die bayerische und nationale Geschichte sind daher auch als der Versuch zu sehen, das „dritte Deutschland“ oder zumindest Bayern auf der Basis der Geschichtsforschung zu
25 G. Müller, „König Maximilian II. und die soziale Frage“, in: Rainer A. Müller (Hg.), König Maximilian II. von Bayern 1848–1864, Rosenheim 1988, S. 175–186.
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akzentuieren. Seine Bemühungen um die Geschichte sind daher nicht zuletzt auch Teil seiner (gescheiterten) Triaspolitik. 26 VIII. Archivare und die neue Geschichtswissenschaft: Die Archivalische Kommission Die bedeutende Rolle der Archivare innerhalb der bayerischen Geschichtswissenschaft, die bisher wenig Beachtung fand, zeigte sich nicht nur in der Besetzung der Historischen Klasse, die selbst noch in der 2. Hälfte weitgehend von den Archivaren dominiert war, sondern auch bei der Gründung der Archivalischen Kommission von 1855, die die Vorläuferinstitution zur Historischen Kommission von 1858 bildete. Die Archivalische Kommission war 1855 als Kommission zur Herausgabe bayerischer und deutscher Quellenschriften von König Maximilian II. ins Leben gerufen worden. Folgende Mitglieder der Akademie gehörten ihr an: der Vorstand des Reichsarchivs Georg Thomas von Rudhart (1792–1860) als Vorsitzender, der Bibliothekar Heinrich Föringer (1802–1880), der Archivsekretär Karl Muffat (1804–1878), der königliche Flügeladjutant und Kartograph Oberstleutnant Karl Spruner von Merz (1803–1892), der Germanist Konrad Hofmann (1819–1890), der Rechtshistoriker und Archivadjunkt Franz Michael Wittmann (1804–1857) und der Kulturhistoriker Franz Löher (1818–1892), der 1856 an Stelle von Wilhelm von Doenniges in die Kommission eintrat. Nach ihrer vorläufigen Eingliederung in die Historische Kommission von 1858 wurde sie kurz nach dem Tod Rudharts am 19. November 1860 aufgelöst. Alle Mitglieder der Archivalischen Kommission – mit Ausnahme von Hofmann und Wittmann – wurden 1858 bzw. 1863 (Muffat und Föringer) ordentliche Mitglieder der Historischen Kommission. Von 1856 bis 1860 gab die Archivalische Kommission 4 Bände der Quellen und Erörterungen zur bayerischen Geschichte heraus. Von 1860 bis 1864 erschienen weitere 5 Bände. Die Historische Kommission erklärte das Unternehmen damit für abgeschlossen. IX. Gescheiterte Projekte: Das Topographische Wörterbuch und die Monumenta Boica Trotz der stattlichen Zahl von Archivaren in der Historischen Klasse der Akademie scheiterte ein Projekt, das nach Ansicht der Monarchen und der Öffentlichkeit zu den vordringlichsten gehörte: das Historisch-Topographische Wörterbuch. Schon in Artikel 50 der Akademieverfassung von 1759 sollten sich die inländischen Mitglieder vor allem mit der „Geschichte des Vaterlands“ beschäftigen,
26 Vgl. oben Anm. 7.
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eine Landesbeschreibung mit Karten machen und „nach und nach ein topographisches Wörterbuch verfassen“. 27 Ab 1807 wurde dieses Projekt weiterverfolgt; so verlautbarte Artikel 5 der Konstitutionsurkunde vom 1. Mai 1807, dass die Akademie ein „vollständiges, geographisch-historisches Lexikon von Baiern“ erstellen solle. 28 Die Arbeiten an diesem Projekt erschöpften sich jedoch in Materialsammlungen. 1827 wurde den neu gegründeten historischen Vereinen die Mitarbeit an der Erstellung eines historisch-topographischen Lexikons aufgetragen. 1835 wurde die Historische Klasse der Akademie zwar als zentrale Stelle für die Sammlung der Beiträge benannt, sie stand jedoch einer Zusammenarbeit mit den historischen Vereinen sehr reserviert gegenüber. Die Frage, ob ein gemeinsames alphabetisches Lexikon oder für jeden Regierungsbezirk ein eigenes erscheinen solle, wie es die Vereine wünschten, wurde von König Ludwig I. in deren Sinn entschieden. Aufgrund der Zurückhaltung der Akademie scheiterte letztlich die Herausgabe eines solchen Lexikons. Bei den Etatsverhandlungen im Landtag 1850 und 1861 wurde daher das historisch-topographische Wörterbuch von Bayern angemahnt. Am 4. Oktober 1861 erkundigte sich der Bibliothekar und Abgeordnete Dr. Anton Ruland nach dem Fortschritt der Arbeiten am historisch-topographischen Wörterbuch: „Es ist an Se. Majestät die Bitte zu bringen: Allerhöchst Dieselben wollen geruhen, der Wirksamkeit der k. Akademie der Wissenschaften eine für den bayerischen Staat gemeinnützigere Richtung geben lassen zu wollen, jeden Falls solche aber schon jetzt anhalten zu lassen, ihrer Verpflichtung zur endlichen Vorlage ‚des historisch-topographischen Wörterbuches von Bayern‘ nachzukommen“. 29
Diesen Antrag begründete Ruland zunächst mit dem Hinweis, dass schon früher der praktische Nutzen der Akademie in Frage gestellt worden war, weil deren wissenschaftliche Ergebnisse durch das Volk kaum wahrgenommen wurden: „Würde nun die Akademie irgend ein Organ schaffen, wie sie es einst in ihren bayerischen Annalen besaß, welche dem Volke sehr nahe standen, so wäre hier schon ein großer Vorteil genommen (…) Ich habe nur einen Antrag gestellt, der sich auf eine bestimmte Arbeit, auf eine Verpflichtung, die die Akademie übernommen hat, erstreckt, und diese ist das bekannte Lexikon. Von diesem Unternehmen war bereits im Jahre 1850 in diesem Saale lebendig die Rede. Ich erinnere Sie an eine Äußerung des Herrn Abgeordneten Dr. Döllinger, der jetzt selbst der Sekretär der historischen Klasse ist. Damals hat man verschiedene Einwendungen gegen die Akademie gemacht und es wurde damals von Dr. Döllinger hervorgehoben – ich bitte Sie auf dieses Wort aufmerksam zu sein – ‚Ich mache Sie aufmerksam auf einen Umstand, der noch nicht erwähnt ist und der ins Gewicht fallen dürfte: es handelt sich bei der Aufgabe, welche die Akademie zu lösen hat, und welche sie allein und nur dann lösen kann, wenn ihr in dem von dem Ministerium vorgeschlagenen Umfange die Geldbewilligung erteilt wird, unter andern auch um die Unternehmung und Ausführung eines seit mehreren Jahren angebahnten Werkes, zu welchem bedeutende Vorarbeiten vorliegen, das aber ohne diese 27 Gedruckt bei Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 75–88, hier S. 83. 28 Ebd., S. 158–173, hier S. 160. 29 (Gedruckte) Verhandlungen der (2.) Kammer der Abgeordneten des Landtags des Königreichs Bayern 1859/61, Stenographische Protokolle, (III), S. 276.
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Bewilligung nicht zu Stande kommen könnte, es ist das die Vorlage eines umfassenden historisch-topographischen Wörterbuchs für Bayern. Sie werden leicht einsehen, dass ein Werk dieser Art in dem beabsichtigten Umfange schlechterdings nur von einer ganzen Gesellschaft zu Stande gebracht werden kann und dass diese Gesellschaft der notwendigen Mittel bedarf, da schon mit den Vorarbeiten bedeutende Auslagen verbunden sind; und wird kaum ein Mitglied dieses Hauses sein, welches die Ausführung eines solchen Werkes als überflüssig erachtet‘“. 30
Trotz angedrohter Kürzungen des Etats war die Historische Klasse nicht in der Lage, das seit 1759 zu den zentralen Aufgaben zählende topographisch-historische Wörterbuch herauszugeben. In diesem Punkt versagte sie, möglicherweise galt ihr ein solches Werk als zu unwissenschaftlich. Einen gewissen Ersatz bot dann das nach Regierungsbezirken gegliederte von König Maximlian II. initiierte Sammelwerk Bavaria, das Wilhelm Heinrich Riehl herausgab. 31 Die Hauptaufgabe der Historischen Klasse der Akademie nach der Gründung der Historischen Kommission 1858 wäre allerdings die Herausgabe der Monumenta Boica gewesen. Schon in Artikel 48 der Gründungsstatuten der Akademie von 1759 wird die historische Klasse beauftragt, „die alten Geschichtsschreiber, Urkunden, Briefe und Aufschriften etc. zu sammeln“. 32 1763 erschien der erste Band und bis zur Säkularisation (1803) waren 16 Bände mit Klosterurkunden erschienen. 1806 wurde ein 17. Band der Monumenta herausgegeben, der vom Archivar und Akademiemitglied Franz Joseph Samet betreut wurde und der sich nun im Unterschied zu seinen Vorgängern durch sorgfältige Prüfung der Originalurkunden auszeichnete. 1814 und 1815 erschienen erstmals mit den von Placidus Braun herausgegebenen Urkunden von St. Ulrich und Afra (Augsburg) Bände mit Quellen aus einem der „neubayerischen“ Territorien. In den Statuten von 1823 wurden die Monumenta zu den Hauptaufgaben der Akademie erklärt und in den Statuten von 1827 wurde gefordert, auch die Urkunden der Städte und die Urkunden aus den neu erworbenen Ländern herauszugeben. Doch das Unternehmen misslang in der Folgezeit und am Ende des Jahrhunderts zog der Landtag eine vernichtende Bilanz. 1898 konstatierte der Abgeordnete Dr. Balthasar Ritter von Daller lakonisch: „Es sind diese monumenta boica eine veraltete Edition und man muss sagen, dass auch für eine Dilettantenarbeit sie nicht gut genug qualifiziert werden könnten“. 33 Er betonte, dass seit 1883 überhaupt kein Band mehr erschienen sei, und dass außerdem die letzten Bände den wissenschaftlichen Anforderungen nicht entsprechen würden, da sie ohne Orts-, Personen- und Sachregister geblieben waren. Der zuständige Staatsminister Robert von Landmann berichtete daraufhin, dass der Vorsitzende der seit 1893 bestehenden Kommission für die Herausgabe der Monumenta Boica, der Altkatholik Prof. Johann Friedrich, einen Bericht an 30 31 32 33
Ebd. Vgl. auch oben Kapitel 2. Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 83. (Gedruckte) Verhandlungen der (2.) Kammer der Abgeordneten des Landtags des Königreichs Bayern 1897/98, Stenographische Berichte, (XII), S. 138ff.
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das Ministerium gesendet habe; danach sei die Kommission nicht untätig gewesen, „der neue Redakteur, Reichsarchivdirektor Edmund Freiherr von Oefele sei mit der Herausgabe der Eichstätter Urkunden betraut gewesen, habe die Urkunden gesammelt, sie für den Druck bereitgestellt, allein die älteren Urkunden seien nicht zu finden und deshalb habe die Herausgabe der Eichstätter Urkunden einstweilen sistiert werden müssen (…). Ferner wird bemerkt, dass die Langsamkeit der Herausgabe der monumenta boica auch noch von anderen Umständen herrühre. Die betreffenden Mitarbeiter seien Professoren und Beamte, die dieses Geschäft nur im Nebenamte besorgen, dafür ein sehr mäßiges Honorar bekämen, 20 Mark für den Druckbogen, was sehr wenig sei, zum Teil werde von ihnen die Arbeit unentgeltlich besorgt. Der Herausgeber der monumenta boica sei ein Archivbeamter, der von 9 bis 2 Uhr Dienst habe und dem daher wenig Zeit für die wissenschaftliche Tätigkeit erübrigt. Im Winter könne, weil die Archivräume nicht beleuchtet seien, überhaupt sehr wenig geleistet werden“. 34
Wolle man die Arbeiten beschleunigen, so Prof. Johann Friedrich, müsse man einen eigenen Beamten anstellen. 35 X. Zusammenfassung Während die Historische Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich unter dem strengen Auge des Landtags bewähren musste, eher durch gescheiterte Projekte auf sich aufmerksam machte, gelang es den von Norden gekommenen „Großordinarien“ der Universität München vor allem auch mit Hilfe der 1858 gegründeten Historischen Kommission erfolgreich, die Münchner Geschichtswissenschaft international zu positionieren. Es gelang nicht nur, die zunächst befristete Historische Kommission zu einer Dauereinrichtung zu machen, sondern auch, den Schwerpunkt der Forschung von Bayern weg auf Deutschland zu richten. Das lag sicher auch in der politischen Absicht der jeweiligen liberalen bayerischen Regierungen. Wie politisch Geschichtsforschung um diese Zeit sein konnte, zeigte sich innerhalb der Historischen Klasse in der starken Präsenz altkatholischer Kirchenhistoriker und von Historikern, die im Kulturkampf historisch gegen die Kirche und die Ultramontanen Partei ergriffen (Riezler). Da darüber hinaus viele der noch unter Maximilian II. nach Bayern berufenen Historiker „kleindeutsch“ dachten und handelten, ist es verständlich, wenn viele in Bayern diese privilegierten Professoren und Historiker aus dem Norden, wie etwa Sybel und Doenniges, als Spione Preußens verdächtigten. Festzuhalten ist auch eine andere Entwicklung, nämlich der schwindende Einfluss der Archivare, die sich traditionell eher mit lokalbezogenen Studien beschäftigten. Des Weiteren ist zu beobachten, dass die einstmals so einflussreichen Rechtshistoriker (Freyberg, Maurer) gegen Ende des Jahrhunderts an Bedeutung und Einfluss verloren. Das wissenschaftlich interessierte Bürgertum ließ sich im Übrigen nur noch be34 Heydenreuter, Bayerische Akademie, S. 443. 35 Zum weiteren Verlauf der Diskussion siehe ebd., S. 444f.
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schränkt für bayerische Dynastengeschichte begeistern; seine „Bibel“ war jetzt die gut geschriebene Deutsche Geschichte von Heinrich von Treitschke, der es sogar wagen konnte, die Gründung des Königreichs Bayern 1806 als Hoch- und Landesverrat zu bezeichnen. Selbst die 5-bändige Geschichte der Deutschen Kaiserzeit fand trotz aller wissenschaftlichen Details als eines der wenigen Werke der kritischen Geschichtsschreibung begeisterte Leser im bayerischen Bürgertum. Etwas salopp ausgedrückt ließe sich sagen, dass das Land die „Geister“, die König Max II. gerufen hatte, nicht mehr losgeworden ist. XI. Anhang: Liste der Mitglieder der Historischen Klasse der Königlich-Bayerischen Akademie der Wissenschaften zwischen 1848 und 1900 (ao = außerordentliches Mitglied, korr = korrespondierendes Mitglied, ausw = auswärtiges Mitglied)
Karl Maria Frh. von Aretin (1796–1868), Legationsrat, Vorstand des Geheimen Haus- und Staatsarchiv, Mitglied seit 1841 (ausw), bzw. 1843 (ao), bzw. 1844 (o), bzw. 1848 (ausw), bzw. 1855 (o) Hieronymus von Bayer (1792–1876), Universitätsprofessor (römisches Recht), Mitglied seit 1843 (o) Alois Ritter von Brinz (1820–1887), Universitätsprofessor (römisches Recht), Mitglied seit 1883 (o) Johann Nepomuk Buchinger (1781–1870), Geschichte, Reichsarchivrat, Mitglied seit 1839 (ao), bzw. 1847 (o) Joseph Andreas von Buchner (1776–1854), Universitätsprofessor München (bayerische Geschichte), Mitglied seit 1824 (korr), bzw. 1825 (ao), bzw. 1835 (o), Klassensekretär 1848–1851 Karl Adolph Cornelius (1819–1903), Universitätsprofessor München (neuere Geschichte), Mitglied seit 1860 (o), Klassensekretär 1890–1898 Martin von Deutinger (1789–1854), Theologe, Kirchengeschichte, Generalvikar München, Mitglied seit 1837 (o) Ignaz von Doellinger (1799–1890), Universitätsprofessor (Kirchengeschichte), Mitglied seit 1835 (ao), bzw. 1843 (o), Klassensekretär 1860–1873, Präsident der Akademie von 1873–1890 Alfred Dove (1844–1916), Geschichte, Redakteur der Allgemeinen Zeitung München, Mitglied seit 1892 (ao), bzw. 1892 (o), bzw. 1897 (ausw) August von Druffel (1841–1891), Honorarprofessor München (Geschichte), Mitarbeiter der HK, Mitglied seit 1875 (ao), bzw. 1884 (o) Heinrich Föringer (1802–1880) Oberbibliothekar bei der Hof- und Staatsbibliothek, Mitglied seit 1846 (ao), bzw. 1852 (o)
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Maximilian Frh. von Freyberg-Eisenberg (1789–1851), Rechtshistoriker, Vorstand des Reichsarchivs, Mitglied seit 1824 (ao), bzw. 1827 (o), Klassensekretär 1829–1842, 1848, Präsident der Akademie von 1842–1848 Johann Friedrich (1836–1917), Universitätsprofessor München (Theologie, ab 1882 Kirchengeschichte), Mitglied seit 1869 (ao), bzw. 1880 (o), Klassensekretär 1898–1907 Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889), Universitätsprofessor München (mittlere Geschichte), Mitglied seit 1858 (ausw), bzw. 1861 (o), Klassensekretär 1873–1889 Hermann Ritter von Grauert (1750–1924), Universitätsprofessor München (mittlere Geschichte), Mitglied seit 1898 (ao), bzw. 1899 (o) Ferdinand Gregorovius (1821–1891), Geschichte, Privatgelehrter, Mitglied seit 1865 (korr), bzw. 1871 (ausw), bzw. 1875 (o) Jakob von Hefner-Alteneck (1811–1903), Direktor des bayerischen Nationalmuseums, Mitglied seit 1853 (ao), bzw. 1868 (o) Karl Theodor Ritter von Heigel (1842–1915), Universitätsprofessor München (neuere Geschichte), Mitglied seit 1875 (ao), bzw. 1887 (o), Akademiepräsident 1904–1915 Friedrich Hektor Graf von Hundt (1809–1881), bayerische Geschichte, Kämmerer, Ministerialrat im Innenministerium, Mitglied seit 1858 (ao), bzw. 1864 (o) August Ritter von Kluckhohn (1832–1893), Professor am Polytechnikum München, Universitätsprofessor Göttingen (Geschichte, Kultur-und Handelsgeschichte), Mitglied seit 1865 (ao), bzw. 1869 (o), bzw. 1883 (ausw) Joseph Ernst von Koch-Sternfeld (1778–1866), Kulturgeschichte, Legationsrat, Honorarprofessor München, später in Tittmoning, Mitglied seit 1812 (korr), bzw. 1815 (o), ausgetreten 1853 Friedrich Kunstmann (1811–1867), Universitätsprofessor München (Rechtgeschichte, Kirchenrecht), Mitglied seit 1845 (korr), bzw. 1848 (ao), bzw. 1852 (o) Rochus Freiherr von Liliencron (1820–1912), Germanistik, Musikgeschichte, Mitglied seit 1869 (ausw), bzw. 1870 (o), bzw 1878 (ausw) Franz von Löher (1818–1892), Länder- und Völkerkunde. Professor an der Universität, dann Vorstand des Reichsarchivs, Mitglied seit 1856 (o) Max Lossen (1842–1898), Geschichte, Sekretär der Akademie der Wissenschaften, Mitglied seit 1885 (ao), bzw. 1889 (o) Georg Ludwig Ritter von Maurer (1790–1872), Universitätsprofessor München (römisches Recht, Rechtsgeschichte), Mitglied seit 1824 (korr), bzw. 1827 (ao) bzw. 1829 (o) Robert von Mohl (1799–1875), Universitätsprofessor Heidelberg (Staatsrecht), dann badischer Gesandter in München, Mitglied seit 1868 (ausw), bzw. 1868 (o), bzw. 1871 (ausw) Karl August von Muffat (1804–1874), Reichsarchivrat, Mitglied seit 1852 (ao), bzw. 1861 (o)
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Wilhelm Ritter von Planck (1817–1900), Universitätsprofessor München (Zivilund Strafprozeßrecht, Rechtsgeschichte), Mitglied seit 1881 (o) Wilhelm Preger (1827–1896), Theologie, Kirchengeschichte, Gymnasialprofessor München, Mitglied seit 1868 (ao), bzw. 1875 (o) Franz Ritter von Reber (1834–1919), Kunstgeschichte, Professor an der Technischen Hochschule München, Direktor der Zentralgemäldegalerie, Mitglied seit 1887 (ao), bzw. 1890 (o) Wilhelm Heinrich Ritter von Riehl (1823–1897), Universitätsprofessor München (Kulturgeschichte), Mitglied seit 1861 (o), Sigmund Ritter von Riezler (1843–1927), Universitätsprofessor München (bayerische Geschichte), Mitglied seit 1877 (korr), bzw. 1883 (ao), bzw. 1888 (o) Ludwig Ritter von Rockinger (1824–1914), Ehren-Professor für Paläographie und bayerische Geschichte, Direktor des Reichsarchivs, Mitglied seit 1856 (ao), bzw. 1868 (o) Friedrich von Roth (1780–1852), Philologie, Rechtsgeschichte, Oberfinanzrat, später Präsident des protestantischen Oberkonsistoriums, Mitglied seit 1811 (ao), bzw. 1813 (o), Klassensekretär 1845–1848 Paul Ritter von Roth (1820–1892), Universitätsprofessor München (deutsches Privatrecht), Mitglied seit 1852 (korr.), bzw. 1857 (ausw), bzw. 1863 (o) Georg Thomas von Rudhart (1792–1860), Universitätsprofessor München (Geschichte) und Vorstand des Reichsarchivs, Mitglied seit 1835 (korr.), bzw. 1848 (ao), bzw. 1849 (o), Klassensekretär 1851–1860 Hermann von Sicherer (1839–1901), Universitätsprofessor München (Rechtsgeschichte), Mitglied seit 1898 (o) Carl Spruner von Mertz (1803–1892), Generalleutnant und Generaladjutant, historische Geographie, Mitglied seit 1842 (korr.), bzw. 1851 (ao), bzw. 1853 (o) Joseph Edler von Stichaner (1769–1856), Geschichte, Frühgeschichte, Staatsrat im Ministerium des Inneren, Mitglied seit 1838 (o), Klassensekretär 1842–1845 Felix Stieve (1845–1898), Professor an der Technischen Hochschule München (Geschichte), Mitglied seit 1878 (ao), bzw. 1889 (o) Heinrich von Sybel (1817–1895), Universitätsprofessor München, dann Bonn (Geschichte), Mitglied seit 1857 (o), bzw. 1861 (ausw) Ludwig Traube (1861–1907), Universitätsprofessor München (lateinische Philologie des Mittelalters, Paläographie), Mitglied seit 1896 (ao), bzw. 1899 (o) Franz Michael Wittmann (1804–1857), Rechtsgeschichte, Reichsarchivrat, Mitglied seit 1841, bzw. 1850 (o)
PROFESSORENKOLLEGIUM ODER MINISTERIUM? Allianzen und Netzwerke im Kontext der Wiener Philosophischen Fakultät um 1900 Irene Ranzmaier An den Universitäten war die Geschichtswissenschaft in einem breiteren Kontext institutionalisiert, der im Rahmen der Fachgeschichtsschreibung meist vernachlässigt wird: die Philosophische Fakultät. 1 Anträge auf die Einrichtung neuer Lehrstühle, Vorschläge für die Berufung neuer Professoren und die Zulassung neuer Privatdozenten lagen nicht allein in den Händen von Fachordinarien, sondern mussten im Professorenkollegium eine Mehrheit finden. Innerdisziplinäre Entwicklungen wurden also von den Vertretern aller an der Fakultät angesiedelten Disziplinen mitbestimmt, sowohl der geistes- als auch der naturwissenschaftlichen Richtung. 2 Gegenüber dem Rektorat und den anderen Fakultäten blieb die Philosophische Fakultät bei den genannten Verhandlungen autonom, doch das letzte Wort bei der Verteilung von Ressourcen für Lehre und Forschung an die einzelnen Fachbereiche lag freilich beim Ministerium für Cultus und Unterricht. 3 Nimmt man die Verhandlungen der Professoren einerseits und die Entscheidungen im Ministerium andererseits vor dem Hintergrund der gesamten Fakultät in den Blick, so bietet sich eine breitere Perspektive auf die Geschichtswissenschaft. Der folgende Beitrag entwickelt eine solche breitere Perspektive am Beispiel der Geschichtswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien um
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Die Philosophische Fakultät wird generell kaum zum Forschungsgegenstand gemacht. Ausnahmen sind z. B. Rainer C. Schwinges (Hg.), Artisten und Philosophen. Wissenschafts- und Wirkungsgeschichte einer Fakultät vom 13. bis zum 19. Jahrhundert, Basel 1999 und Eckhardt Wirbelauer/Frank-Rutger Hausmann/Sylvia Paletschek (Hg.), Die Freiburger Philosophische Fakultät, 1920–1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen, Freiburg 2007. Wie stark diese Mitbestimmung sich auswirken konnte, zeigt sich in Wien etwa anhand der Anthropologie: Irene Ranzmaier, Die Anthropologische Gesellschaft in Wien und die akademische Etablierung anthropologischer Disziplinen an der Universität Wien, 1870–1930, Wien/Köln 2013 (= Wissenschaft, Macht und Kultur in der modernen Geschichte (II)). Zur Interaktion zwischen Staat und wissenschaftlichen Einrichtungen vgl. Mitchell G. Ash, „Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander“, in: Rüdiger vom Bruch/Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51.
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1900. Der Fokus liegt dabei auf den Spezialisierungen und Differenzierungen innerhalb der Geschichtswissenschaft. Sie werden sowohl in ihrer Relation zu den Entwicklungen in benachbarten Fächern betrachtet als auch in Hinblick auf den Einfluss, den die Historiker selbst, die gesamte Fakultät und das genannte Ministerium auf die Geschichtswissenschaft nahmen. 4 Als Basis der Analyse dienen die Karrieren der um 1900 an der Wiener Philosophischen Fakultät lehrenden Professoren. Doch bevor detailliert auf die Vertreter der Geschichtswissenschaft eingegangen wird, sei die Disziplin noch unter den anderen an der Fakultät beheimateten Fächern verortet. Die Geschichtswissenschaft nahm durchaus eine Sonderstellung ein, wie bereits die Zahl der Professoren zeigt: Kein anderes Fach verfügte über vier Ordinarien. Nur für zwei weitere Disziplinen der philologisch-historischen Fächergruppe waren drei ordentliche Lehrstühle vorgesehen, die jedoch ein wechselhaftes Schicksal durchliefen. Die klassische Philologie hatte kurz vor der Jahrhundertwende einen vierten Lehrstuhl eingebüßt und verlor unmittelbar um 1900 vorübergehend den Dritten an die Alte Geschichte. In der Philosophie wiederum waren bis zur Mitte der 1890er Jahre gleich zwei Lehrstühle für mehr als zwanzig bzw. mehr als zehn Jahre unbesetzt geblieben. Auch in den naturwissenschaftlichen Fächern waren um 1900 drei ordentliche Lehrstühle für eine Disziplin eine Ausnahme, die nur der Mathematik und der Physik zuteilwurde. 5 Die starke Stellung der Geschichtswissenschaft wird noch dadurch unterstrichen, dass die erwähnten vier Ordinarien sowie ein Extraordinarius nur die mittlere und neuere Geschichte vertraten, nämlich unter den Nominalfächern „für allgemeine Geschichte“, „für österreichische Geschichte“ oder „für Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften“. Das Nominalfach „für allgemeine Geschichte“ schloss in traditioneller Auffassung zwar die gesamte Geschichte vom Altertum bis zur Neuzeit ein, doch an der Wiener Philosophischen Fakultät herrschte in den historisch-philologischen Fächern ein starker Zug zu streng positivistischer Forschung, die zu scharfen Fächerabgrenzungen führte und universalgeschichtlichen Ansätzen kaum Raum gab. Weil der Fokus generell auf der Erschließung von Quellen lag, wurden die Grenzen zwischen den historisch-philologischen Disziplinen von ihrem jeweilig zentralen Quellenmaterial und den jeweils erforderlichen Forschungsmethoden geprägt. Am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (künftig IÖG), das 1854 als neue Heimstatt für eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung der Habsburger-Monarchie gegründet worden war, hatte sich unter der Ägide Theodor 4
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Dieser Text stützt sich auf die vorläufigen Ergebnisse des vom FWF finanzierten Projekts „Die Philosophische Fakultät der Universität Wien um 1900“ (Projektnummer: P21865; Leitung: Mitchell G. Ash, Institut für Geschichte, Universität Wien). Das Quellenmaterial für die Forschungen stammt aus dem Österreichischen Staatsarchiv, Archiv für allgemeine Verwaltung, Bestand Unterricht allgemein, Universität Wien, Philosophie (künftig nur abgekürzt als: ÖStA, AVA), sowie dem Archiv der Universität Wien, Bestand Philosophische Fakultät (künftig nur abgekürzt als: AUW). In der Mathematik blieb einer dieser drei Lehrstühle wiederum von 1877 bis 1894 unbesetzt.
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von Sickels ein Schwerpunkt auf die kritische Edition mittelalterlicher Urkunden herausgebildet. 6 Die meisterhafte Beherrschung der historischen Hilfswissenschaften wurde zum Standard für wissenschaftliche Geschichtsforschung. Doch die akribische Erschließung der Quellen tendierte mit der Zeit dazu, zum Selbstzweck zu werden. So stand nicht nur die politische Geschichte zum Nachteil kultur- und sozialgeschichtlicher Themen im Vordergrund, sondern die Historiker standen einer synthetischen Verwertung und Interpretation der von ihnen edierten Quellen generell skeptisch gegenüber. Neben wissenschaftlichen gab es dafür auch politische Gründe, auf die noch zurückzukommen sein wird. Historische Forschung auf anderen Gebieten als der mittelalterlichen Geschichte der österreichischen Erbländer oder des Heiligen Römischen Reichs fanden unter dieser engen Grenzziehung jedenfalls keinen Platz am IÖG. Folglich wurde die mittlere und neuere Geschichte, der dieser Beitrag hauptsächlich gewidmet ist, nur wenig von der Ausdifferenzierung von Realfächern aus den Philologien berührt. Andere philologisch-historische Fachbereiche waren hingegen stark von dieser Ausdifferenzierung der auf materieller Quellenbasis beruhenden historischen Disziplinen aus den mit schriftlichen Quellen arbeitenden Fächern betroffen. 7 Die Alte Geschichte beispielsweise differenzierte sich neben der klassischen Archäologie als ein solches eigenständiges Realfach aus der klassischen Altertumskunde heraus. Diese Entwicklung ließ die klassische Philologie mit geschmälertem Umfang und – in Hinblick auf die Zahl der Fachvertreter – mit geschmälerter Bedeutung zurück. 8 Mit dem epigraphischen Schwerpunkt der Althistoriker wird erneut deutlich, wie stark die Grenzziehungen zwischen den Disziplinen vom Quellenmaterial bestimmt wurden. In ähnlicher Weise wie in der klassischen Altertumskunde, aber mit anhaltend enger Bindung an die Sprach- und Literaturforschung, differenzierten sich andere historische Fächer aus ihren Mutterphilologien 6
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Das IÖG war und ist an der Universität Wien angesiedelt, seine ProfessorInnen gehör(t)en der Philosophischen Fakultät bzw. deren späteren Nachfolgefakultäten an. Dennoch ist das IÖG kein Universitätsinstitut, sondern eine eigenständige staatliche Forschungseinrichtung. Zu seiner Geschichte vgl. Reinhard Härtel, „Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften“, in: Karl Acham (Hg.) Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, IV: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 127–159, bes. S. 132, 135 und S. 139; sowie Fritz Fellner, „Geschichte als Wissenschaft. Der Beitrag Österreichs zu Theorie, Methodik und Themen der Geschichte der Neuzeit“, in: ebd., S. 161–213, bes. S. 171 und 190f. Die Abgrenzung nach Quellengattungen ist natürlich nicht ausschließlich zu fassen, sondern richtet sich nach dem Charakter des im jeweiligen Fach zentralen Quellenmaterials. Zu den Mechanismen der Bildung neuer Disziplinen vgl. Sylvia Paletschek, Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Stuttgart 2001, S. 348–351. Ein eigener ordentlicher Lehrstuhl für Alte Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik wurde an der Wiener Philosophischen Fakultät 1876 begründet. Vgl. Ingomar Weiler: „Alte Geschichte, Klassische Archäologie und Altertumskunde“, in: Karl Acham (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, IV: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 83–126, bes. S. 84f. und 94; Martina Pesditschek, „Zur Geschichte des Instituts für Alte Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik“, in: Die Sprache 39 (1997), S. 1–24, bes. S. 6.
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aus, etwa die Geschichte des Orients und die Altertumskunde der slawischen Völker. Angesichts dieser vom Quellenmaterial bestimmten Disziplinabgrenzungen verwundert es nicht, dass an der Wiener Philosophischen Fakultät die Ordinarien für allgemeine oder österreichische Geschichte knapp vor der Jahrhundertwende als Vertreter eines eigenen Fachbereichs bestimmt und eindeutig von den „(...) für einen bestimmt abgegrenzten Zeitraume oder eine bestimmte Völkergruppe bestellten Ordinarien (...)“ 9 abgesetzt wurden. Dennoch war die Geltung der am IÖG gepflegten methodischen Standards nicht auf die mittlere und neuere Geschichtswissenschaft beschränkt. So entfernten sich die Kunstgeschichte und die Musikwissenschaft von ihren Wurzeln in der Ästhetik, indem sie ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit durch die Übernahme der quellenkritischen Methoden der Geschichtswissenschaft untermauerten. Die hohe Zahl der Professoren der Geschichtswissenschaft führte dazu, dass die Historiker bei den Kommissionsverhandlungen über Personalangelegenheiten oft unter sich blieben, während Vertreter anderer Disziplinen sich nur selten an den Debatten beteiligten. Die aus den Kommissionen hervorgehenden Vorschläge fanden im Fakultätsplenum für gewöhnlich die erforderliche Mehrheit. Allerdings ließ sich das Professorenkollegium auch in Disziplinen mit schwächerer Besetzung stark von den jeweiligen Fachordinarien leiten und stellte sich selten gegen die oder den Vertreter der in Frage stehenden Disziplin. 10 Nur wenn ein solcher Vertreter in den Kommissionsverhandlungen fehlte, eröffnete sich größerer Einfluss fachfremder Ordinarien auf jene Disziplin, der die Verhandlungen galten. 11 Somit gewinnt die hohe Zahl der Ordinarien und Extraordinarien für mittlere und neuere Geschichte vor allem in Hinblick auf den Status Bedeutung, der dem Fach im Ministerium für Cultus und Unterricht beigemessen wurde. Während sich dieses allzu oft gegen Mehrausgaben sperrte – speziell, wenn es sich um Professuren in den Naturwissenschaften handelte 12 – zeigte es sich in Belangen der Geschichtswissenschaft finanziell großzügiger und zeigte sogar Eigeninitiativen für den weiteren Ausbau des Faches. Solche Initiativen wurden jedoch von der Fakultät als Eingriffe in die eigenen Rechte und Pflichten nicht gutgeheißen. Damit weisen sie auch schon auf die Schattenseite, die das große Interesse der Unter9
ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 13292/1893, Kommissionsbericht vom 6. Juni 1893. Gemeint waren die Ordinarien für Alte Geschichte, Geschichte des Orients und Altertumskunde der slawischen Völker. 10 So stimmte die Fakultät um 1890 wiederholt gegen die Pläne des Zoologen Carl Claus, der die Auflösung bestehender ordentlicher Lehrstühle anstrebte, um Dominanz über seine Disziplin zu gewinnen. 11 Etwa wenn der Inhaber des einzigen ordentlichen Lehrstuhls verstorben war oder sich aus anderen Gründen nicht an den Verhandlungen beteiligte. Beispiele für den sich dann eröffnenden Einfluss der Vertreter anderer Disziplinen wären die Nachfolge Friedrich Müllers in vergleichender Sprachwissenschaft oder die Nachfolge Edmund Weiss’ als Direktor der Universitätssternwarte. Einen Sonderfall stellte auch die Etablierung völlig neuer Disziplinen dar, (vgl. Anm. 2). 12 Dies hing vor allem mit den hohen Folgekosten zusammen, die naturwissenschaftliche Professuren mit sich brachten, etwa die Einrichtung von Laboratorien und Lehrsammlungen.
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richtsverwaltung an der Geschichtswissenschaft hatte: Die Regierung griff stark in einschlägige Besetzungsangelegenheiten ein – ein weiterer Sonderfall im Rahmen der Wiener Philosophischen Fakultät, der neben der Geschichtswissenschaft nur die Philosophie traf. Im Allgemeinen richtete das Ministerium sich bei der Berufung von Professoren nach den Personalvorschlägen der Fakultät. Nicht genehme Anträge wurden allenfalls verzögert, um später einen neuen Vorschlag einzufordern. Aber Entscheidungen über den Kopf des Professorenkollegiums hinweg fielen selten, obwohl das Kollegium viel öfter einzelne Kandidaten nominierte anstatt einen Ternavorschlag zu formulieren, der dem Ministerium gewisse Wahlmöglichkeit geboten hätte. Allein den Wunsch nach der Berufung ausländischer Professoren erfüllte das Unterrichtsressort nur in Ausnahmefällen. Neben politischen Überlegungen spielten finanzielle Gründe die Hauptrolle bei der bevorzugten Ernennung von Inländern. Zum einen sollte der im Inland mit eigenen Ressourcen ausgebildete Nachwuchs der Heimat erhalten bleiben und nicht wegen mangelnder Berufsaussichten abwandern. 13 Zum anderen verdienten die Professoren an den bestrenommierten Universitäten in Deutschland mindestens 30 % mehr als ihre Wiener Kollegen, und das Ministerium war nur selten dazu bereit, höhere Bezüge zu bieten als das österreichische Gehaltsschema vorsah. Man fürchtete, dass dann alle heimischen Professoren höhere Gehälter fordern würden. Die dennoch aufgenommenen Verhandlungen mit auswärtigen Professoren scheiterten fast immer an der mangelnden finanziellen Attraktivität der Universität Wien, sodass auch die Fakultät wiederholt vom Vorschlag ausländischer Professoren absah, um die jeweiligen Berufungsangelegenheiten nicht zu verzögern. Die prinzipielle Bereitschaft des Ministeriums, zumindest bei einem Mangel an hervorragenden österreichischen Gelehrten eine Auslandsberufung durchzuführen, galt jedoch nicht für die Geschichtswissenschaft. Hier wurde der Kreis der Kandidaten für Professuren strikt auf Inländer beschränkt, die zur Jahrhundertwende hin immer strengeren politischen und religiösen Maßstäben gerecht werden mussten. Während in anderen Fächern Fragen der christlichen Konfession keine Rolle spielten, gewann in der Geschichtswissenschaft das katholische Bekenntnis durchaus Bedeutung – wenn nicht durch das Ministerium, dann durch den Kaiser. Auch jüdischen Historikern wurde das Fortkommen erschwert, allerdings führte der wachsende Antisemitismus, der am Ministerium viel offener zutage trat als an der Philosophischen Fakultät, auch in anderen Disziplinen zu Diskriminierungen. In politischer Hinsicht forderte die Regierung von den Historikern Loyalität gegenüber der Dynastie und dem Staat Österreich-Ungarn. Folglich kam es in der Geschichtswissenschaft nicht allein zur Verschleppung oder Rückverweisung von Fakultätsvorschlägen. Das Ministerium überging außerdem zweimal Personalvor-
13 Viel deutlicher als in der Geschichtswissenschaft wird dies am Beispiel des Semitisten David Heinrich Müller. Seine akademische Laufbahn wurde wegen früher gewährter staatlicher Forschungsstipendien durch das Ministerium gefördert. ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Orientalische Sprachen Z. 11319/1879.
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schläge des Professorenkollegiums und oktroyierte der Fakultät eigene Wunschkandidaten. Ähnlich strikt ging das Unterrichtsressort nur in Personalangelegenheiten der Philosophie vor. Das Ministerium griff also von allen an der Philosophischen Fakultät vertretenen Disziplinen nur in die Vertretung jener Fächer tief ein, denen eine zentrale Rolle bei der Erziehung loyaler Staatsbürger zukam: Dies waren die Philosophie als allgemeine Weisheitslehre sowie als Pflichtfach aller Absolventen der Philosophischen Fakultät, und weiterhin die Geschichtswissenschaft, die ihre Legitimierungsfunktion für den Staat erfüllen und die angehenden Lehrer und Staatsbeamten dementsprechend anleiten sollte. 14 Unter diesen wissenschaftlichen und politischen Vorzeichen wurde die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an der Wiener Philosophischen Fakultät um 1900 vor allem durch zwei Aspekte geprägt: Erstens, durch das Beharren der Historiker auf die Dominanz der historischen Hilfswissenschaften als einzig einwandfrei wissenschaftliche Geschichtsforschung. Zweitens, durch den Wunsch des Unterrichtsressorts nach der Vertretung der neueren österreichischen Geschichte an der Universität Wien. Diesen Wunsch des Ministeriums teilten die Fachvertreter aus wissenschaftlichen und politischen Gründen nicht. 15 Zunächst waren die geltenden Standards wissenschaftlicher Geschichtsforschung an mittelalterlichen Quellen – vor allem an Urkunden – erarbeitet worden. Der größere Umfang und die höhere Vielfältigkeit des Quellenmaterials für die neuere Geschichte ließ eine vollständige Sammlung und akribische Edition kaum zu. Gleichzeitig waren die Quellen der neueren Geschichte auch für Gelehrte zugänglich, die keine strenge Schulung in den historischen Hilfswissenschaften genossen hatten. Werke zur neueren Geschichte konnten also kaum den strengen wissenschaftlichen Standards gerecht werden, denen die Gelehrten des IÖG sich verschrieben hatten. Die Konzentration auf die Hilfswissenschaften war in Wien jedoch auch deshalb so stark, weil sie den Historikern einen Weg bot, sich dem Zwiespalt zwischen österreichischer und deutscher Geschichtsschreibung zu entziehen. Die historischen und zeitgenössischen politischen Verknüpfungen zwischen Österreich-Ungarn und Deutschland sowie Kooperationen in der Geschichtsforschung machten die von der Wiener Regierung eingeforderte Legitimierungsfunktion einer auf das Habsburgerreich konzentrierten Geschichtsforschung für die Historiker prekär. Die Behandlung der neueren Epochen war in politischer Hinsicht noch heikler, nicht zuletzt aufgrund der Nationalitätenkonflikte im Vielvölkerstaat. Die Analyse der Karrieren jener sechs Historiker, die unmittelbar zur Jahrhundertwende an der Wiener Philosophischen Fakultät lehrten, dokumentiert die soeben als Skizze ausgeführten Entwicklungen im Detail. An den Laufbahnen von Engelbert Mühlbacher, Josef Hirn, August Fournier, Oswald Redlich, Alfred Francis Přibram und Alfons Dopsch wird deutlich, wie die Verhandlungen inner-
14 Fellner, Geschichte als Wissenschaft, bes. S. 197 und 206. 15 Vgl. dazu auch: Walter Höflechner, „Forschungsorganisation und Methoden der Geschichtswissenschaft“, in: Karl Acham (Hg.) Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften, IV: Geschichte und fremde Kulturen, Wien 2002, S. 217–238, bes. S. 227.
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halb der Fakultät sowie die Vorgänge im Ministerium akademische Karrieren bestimmten und die Umrisse der Disziplin formten. Von Seiten der Fakultät war die Absolvierung des Ausbildungskurses am IÖG unablässige Bedingung für den Aufstieg zum Professor der Geschichte. Bis auf Josef Hirn, dessen Berufung per Oktroy erfolgte, hatten alle Vertreter der Geschichtswissenschaft die strenge hilfswissenschaftliche Schule des IÖG durchlaufen. Die Erschließung und im besten Fall auch einwandfreie Edition neuen Quellenmaterials galt als wichtigste Leistung angehender Professoren. Allerdings war es ein Nachteil, wenn sich diese Forschungen auf einem zu eng eingegrenzten Gebiet bewegten. Die Konzentration auf einen kurzen Zeitraum oder auf eine einzige Region war der am häufigsten angebrachte Kritikpunkt bei der Beurteilung potentieller Kandidaten für einen vakanten Lehrstuhl. Ging es hingegen um die Beförderung eines bestimmten Gelehrten abseits bestehender Vakanzen, konnte eine enge Spezialisierung sogar zum Vorteil werden – freilich nur, solange die Forderung der Erschließung neuer Arbeitsgebiete durch neue Quellen erfüllt war. Das beste Beispiel bietet hier Přibram, der sich auf die Epoche Leopolds I. konzentrierte und die strengen wissenschaftlichen Standards auf die neueren Epochen übertrug. Alle um 1900 an der Wiener Philosophischen Fakultät lehrenden Historiker erreichten den Ordinariusrang und damit die höchste, einflussreichste Stellung unter den Universitätsdozenten. Die Ernennung Mühlbachers und Přibrams zu ordentlichen Professoren erfolgte zwar ad personam, aber die Professuren wurden nach dem jeweiligen Übertritt in den Ruhestand wiederbesetzt und somit systematisiert. Abgesehen von der ungewöhnlich hohen Anzahl an Fachvertretern im Professorenrang ordnet sich die Geschichtswissenschaft damit durchaus in den Rahmen der gesamten Fakultät ein. Der Verbleib im Status eines Extraordinarius blieb unter den um 1900 an der Wiener Philosophischen Fakultät lehrenden Professoren die Ausnahme. 16 Ein Differenzierungsinstrument in Hinblick auf den Status einzelner Professoren stellte das Institut des Extraordinariats somit kaum dar. Es ist nicht auszuschließen, dass die geringe Konkurrenzfähigkeit der Universität Wien gegenüber den deutschen Universitäten der Hauptgrund für diese Erscheinung war. Wenn das Ministerium einmal berufene Extraordinarien an ihren Posten halten wollte, musste es dementsprechende Anreize schaffen – etwa gute Aussichten auf eine Beförderung zum Ordinarius. Freilich waren die Zeitspannen, die von der Ernennung zum Extraordinarius bis zur Ernennung zum Ordinarius lagen, unterschiedlich und somit aussagekräftig in Hinblick auf die Einschätzung, die Professoren an der Fakultät, unter Fachgelehrten oder auch im Ministerium zuteilwurde. Přibrams Laufbahn etwa verlief nicht zuletzt wegen seines mosaischen Bekenntnisses vergleichsweise schleppend, während Dopsch wiederum von seinen Fach-
16 Von 28 im Projekt berücksichtigten Professoren der philologisch-historischen Fächergruppe etwa stiegen nur fünf nicht zu Ordinarien auf – bezeichnenderweise handelt es sich meist um Extraordinarien, die dezidiert zur Abdeckung des elementaren Unterrichts berufen worden waren, z. B. die klassischen Philologen Michael Gitlberger und August Engelbrecht sowie der Germanist Max Hermann Jellinek.
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kollegen als größte Nachwuchshoffnung besonders nachdrücklich gefördert wurde. 17 Vier der sechs Historiker legten ihre Professorenlaufbahn ausschließlich in Wien zurück, nämlich Mühlbacher, Redlich, Přibram und Dopsch. Auch in dieser Hinsicht fügt sich die Geschichtswissenschaft in den Gesamtcharakter der Philosophischen Fakultät ein, denn die Zahl von Hausberufungen lag generell sehr hoch. 18 Eine Karriere wie jene Fourniers, die von einem Wiener Extraordinariat zu Ordinariaten in Prag, an der Technischen Hochschule in Wien und an der Universität Wien führte, war eher ungewöhnlich. Weil allerdings Mühlbacher und Redlich in Innsbruck promoviert und habilitiert wurden und Hirn dort vor seiner Berufung nach Wien zum Ordinarius aufgestiegen war, ist die Schulenbildung in der Wiener Geschichtswissenschaft weniger stark als in anderen Disziplinen wie beispielsweise der Alten Geschichte, Slawistik und Romanistik. Die von Julius von Ficker in Innsbruck begründete historische Schule teilte zwar die wichtigsten Züge mit der am IÖG fortwirkenden Schule Theodor von Sickels, ging aber stärker über die grundlegenden Schritte der historischen Hilfswissenschaften hinaus und wandte sich auch der Rechtsgeschichte zu. 19 Diese Einflüsse machten sich an der Wiener Philosophischen Fakultät durchaus bemerkbar, obwohl Fournier, Dopsch und Přibram in Wien promoviert und habilitiert worden waren und somit der Wiener Schule zugehörten. Die Ausbildungsgänge aller sechs Historiker lassen vermuten, dass die Entscheidung für die Konzentration auf die Geschichtswissenschaft jeweils bereits vor der Immatrikulation an der Philosophischen Fakultät gefallen war. Ihre Studien, die an keinen Studienplan gebunden waren, konzentrierten sich mehrheitlich auf Geschichte nebst einem philologischen Fach. 20 Mühlbacher hatte als Augustiner-Chorherr im Stift St. Florian freilich auch eine theologische Ausbildung erhalten. Redlich kombinierte seine historischen Studien mit Geographie, die allerdings ihrerseits stark historisch orientiert war. 21 Diese frühe Fokussierung auf das Fach
17 Dopsch wurde 1893 Privatdozent, 1898 Extraordinarius und 1900 Ordinarius. Přibram habilitierte sich 1887; wurde 1894 zum unbesoldeten Extraordinarius befördert und 1898 besoldet; 1913 erhielt er ein persönliches Ordinariat. 18 60% der im Forschungsprojekt erfassten Berufungen von Extraordinarien und Ordinarien der philologisch-historischen Fächergruppe (ohne Philosophie) endeten mit Hausberufungen. 19 Härtel, „Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften“, S. 134–140. 20 Für den Erwerb des Doktorats an der Philosophischen Fakultät war seit 1849 nur die Dauer des Studiums (zuletzt drei Jahre) und die Ablegung der Rigorosen vorgeschrieben, ab 1872 unter Vorlage einer Dissertation. Sascha Ferz, Ewige Universitätsreform. Das Organisationsrecht der österreichischen Universitäten von den theresianischen Reformen bis zum UOG 1993, Frankfurt a. M. 2000, bes. S. 241 und 251. Den Kurs am IÖG absolvierten die Historiker entweder nach ihrer Promotion oder während der Endphase ihres Studiums. 21 Dies gilt besonders für Franz von Wieser in Innsbruck, wo Redlich studierte. Elisabeth Lichtenberger, „Die Entwicklung der Geographie als Wissenschaft im Spiegel der Institutionspolitik und Biographieforschung. Vom Großstaat der k. u. k. Monarchie zum Kleinstaat der Zweiten Republik,“ in: Robert Musil/Christian Staudacher (Hg.), Mensch, Raum, Umwelt. Ent-
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der späteren Laufbahn findet sich auch in den meisten Professorenlaufbahnen abseits der Geschichtswissenschaft, obwohl breiter gefächerte Studiengänge durchaus von Vorteil für die Karriere sein konnten. Dopsch beispielsweise profitierte stark von seinen rechtsgeschichtlichen Studien an der Juridischen Fakultät. Sie förderten nicht nur seine Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, die wesentlich zu seiner Hochschätzung durch die älteren Fachkollegen beitrugen, sondern sie ermöglichten ihm außerdem, die österreichische Reichsgeschichte zu lehren, die 1893 als obligater Prüfungsgegenstand für Juristen und Historiker eingeführt wurde und bei deren Vertretung Konkurrenz zwischen der Philosophischen und Juridischen Fakultät entstand. 22 Die Karrieren Mühlbachers und Redlichs wurden besonders durch das Bemühen der Historiker um die fortdauernde dominante Stellung der historischen Hilfswissenschaften geprägt. Die Fachordinarien arbeiteten mit weitgehender Unterstützung der gesamten Fakultät daran, die Vertretung der historischen Hilfswissenschaften dauerhaft in die Hände von zwei Ordinarien zu legen. So gab es bereits 1872 einen Anlauf zur Errichtung einer zweiten ordentlichen Lehrkanzel für diesen Fachbereich neben jener Sickels, der jedoch nicht von Erfolg gekrönt war. 1880 wurde schließlich Mühlbacher als neuer Vertreter der historischen Hilfswissenschaften vorgeschlagen – als Extraordinarius, weil die Fakultät allein diesen jüngeren, noch nicht für ein Ordinariat reifen Gelehrten geeignet fand. 23 Die Kommission argumentierte, dass Tiefe und Umfang der Paläographie und Diplomatik ständig zunähmen und an allen größeren Universitäten Deutschlands die historischen Hilfswissenschaften durch zwei Ordinarien vertreten seien. 24 Freilich war das Unterrichtsbedürfnis in diesem Fachbereich eng mit den Aufgaben des IÖG verknüpft, dem Zentrum der Quellenforschung und -edition in Österreich, das nicht zuletzt durch die Mitarbeit an den Monumenta Germaniae Historica hohen Status genoss. Im Ministerium herrschte zwar Bereitschaft dazu, den historischen Hilfswissenschaften ausreichende Vertretung zukommen zu lassen, doch dort hieß ausreichend nicht automatisch doppelt. So wurde Mühlbacher im April 1881 dezidiert zur Unterstützung des gesundheitlich angeschlagenen Sickel ad personam zum Extraordinarius der Geschichte des Mittelalters und der historischen Hilfswissenschaften ernannt, um den Erfolg des IÖG bei der Ausbildung tüchtiger Dozenten, Bibliothekare und Archivare nicht zu gefährden. 25
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wicklungen und Perspektiven der Geographie in Österreich, Wien 2009, S. 13–52, bes. S. 26f. Pavel Kolář, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa. Die Universitäten Prag, Wien und Berlin um 1900, (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert (IX)), Berlin 2008, 2. Halbband, S. 329 und 331; Fellner, „Geschichte als Wissenschaft“, S. 206. ÖStA, AVA, Personalakt Mühlbacher Z. 7684/1891, Kommissionsbericht vom 25. April 1888. ÖStA, AVA, Personalakt Mühlbacher Z. 5199/1881, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht Conrad von Eybesfeld vom 31. März 1881. ÖStA, AVA, Personalakt Mühlbacher Z. 5199/1881, Vortrag des Ministers vom 31. März 1881.
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In keiner ministeriellen Äußerung zur Vertretung der historischen Hilfswissenschaften an der Wiener Philosophischen Fakultät fehlt danach ein Bezug auf Sickel. In den Augen des Unterrichtsressorts ging es stets um den Ersatz von Sickels Lehrtätigkeit, nicht um eine verstärkte Vertretung der Hilfswissenschaften. Bereitwillig verschob das Unterrichtsressort gemäß einer Bitte des Finanzministeriums die Erfüllung des Fakultätsantrags auf Beförderung Mühlbachers zum Ordinarius vom Frühjahr 1888 auf 1890, reagierte aber rasch, als 1891 nach Sickels Ernennung zum Direktor des Istituto austriaco di studii storici in Rom dessen Lehrtätigkeit in Wien ersetzt werden musste. 26 Von der aufkommenden Polemik der katholischen Presse gegen Mühlbacher ließ das Unterrichtsministerium sich wiederum wenig beirren. Mühlbacher war nach seinem Schulabschluss in das Augustiner-Chorherrenstift St. Florian in Oberösterreich eingetreten, hatte sich aber während seiner Universitätsstudien und als Privatdozent in Innsbruck immer stärker seinem Orden und seinem Glauben entfremdet. Schon anlässlich Mühlbachers Vorschlag zum Extraordinarius im Jahr 1881 hatte Carl Werner, Professor für neutestamentarische Bibelexegese in Wien und Ministerialrat des Unterrichtsressorts, kritisch darauf hingewiesen. 27 Im ministeriellen Vortrag an den Kaiser zur Ernennung Mühlbachers zum Extraordinarius hatte das Verhältnis zu seinem Orden allerdings keine Erwähnung gefunden. 1891 gab Mühlbachers inzwischen offenkundiger Bruch mit seiner Ordenszugehörigkeit den Ausschlag dafür, dass der Unterrichtsminister beim Kaiser zwar die Bezüge eines Ordinarius für Mühlbacher beantragte (und erlangte), aber nicht die ursprünglich geplante Ernennung zum Ordinarius ad personam. 28 Dass dies mehr ein Zugeständnis an den Kaiser als an die polemisierende Presse war, wird am weiteren Weg Mühlbachers zum Ordinariat deutlich werden. Das Muster, dass die Fakultät eine personelle Verstärkung der historischen Hilfswissenschaften forderte und das Ministerium die entsprechenden Vorschläge erst nach dem Ausfall Sickels realisierte, setzte sich bei der Berufung Redlichs fort. Bereits im Juli 1890 hatte es den ersten Anlauf der Professoren der Geschichtswissenschaft zur Errichtung eines weiteren Extraordinariats für historische Hilfswissenschaften gegeben. 29 Der zugehörige Personalvorschlag verließ die Fakultät allerdings nicht, weil der Antrag auf die Ernennung Mühlbachers zum Ordinarius desselben Faches noch in Schwebe hing und nicht durch einen neuen Vorschlag durchkreuzt werden sollte. Im Frühjahr 1892 griffen die Historiker die Frage der Vertretung der historischen Hilfswissenschaften wieder auf, da Mühlba26 ÖStA, AVA, Personalakt Mühlbacher Z. 7684/1891, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht von Gautsch vom 31. März 1891. 27 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte des Mittelalters und der historischen Hilfswissenschaften Z. 4219/1881, Beilage zu dem Antrage auf Ernennung des Dr. Mühlbacher zum aoProfessor der Geschichte, o. D. 28 ÖStA, AVA, Personalakt Mühlbacher Z. 7684/1891, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht von Gautsch vom 31. März 1891. 29 ÖStA, AVA, Personalakt Redlich Z. 6218/1893, Kommissionsbericht Z. 834 vom 10. Juni 1892.
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cher erklärte, den von seiner Lehrverpflichtung befreiten Sickel nicht mehr vertreten zu können. Der Kommissionsbericht verdeutlicht das große Bedürfnis an Lehrkräften der historischen Hilfswissenschaften: Der Lehrplan des IÖG verlangte auf diesem Gebiet in zwei Jahren 36 Stunden, also durchschnittlich neun Stunden pro Semester. 30 Die gesetzliche Mindestlehrverpflichtung eines systematisierten Extraordinarius oder Ordinarius lag bei fünf Stunden. Der 1890 zurückgehaltene Personalvorschlag für einen Extraordinarius der historischen Hilfswissenschaften, der unico loco Emil von Ottenthal gelautet hatte, wurde nun durch Oswald Redlich auf dem zweiten Platz ergänzt. 31 Das Unterrichtsministerium betraute zwar Redlich mit der Supplierung von Sickels Vorlesungen, nahm die von der Fakultät gewünschte Ernennung eines Extraordinarius aber erst 1893, nach Sickels Versetzung in den Ruhestand in Angriff. 32 Entgegen den Wünschen des Finanzministeriums, Sickels ordentliche Lehrkanzel aufzulösen, wurde Redlich im März 1893 zum Extraordinarius der historischen Hilfswissenschaften an dieser Lehrkanzel ernannt. 33 Damit gab es zwar keinen Ordinarius dieses Fachbereichs mehr – Mühlbacher war zu diesem Zeitpunkt ein Extraordinarius ad personam mit den Bezügen eines Ordinarius – aber die Berufung einer jüngeren Kraft an die Seite Mühlbachers als Hauptvertreter der historischen Hilfswissenschaften war im Sinne der Historiker an der Fakultät. 34 Außerdem unternahm Unterrichtsminister Gautsch im Herbst 1893 ohne entsprechenden Fakultätsvorschlag einen Anlauf, die Ernennung Mühlbachers zum Ordinarius ad personam beim Kaiser durchzusetzen, doch dies gelang erst 1896. 35 Die Ernennung Redlichs zum Ordinarius der Geschichte und historischen Hilfswissenschaften im April 1897 per Oktober desselben Jahres gestaltete sich hingegen als reibungslose Beförderung eines Extraordinarius, der auf einen systemisierten ordentlichen Lehrstuhl berufen worden war und sich sowohl im Lehramt als auch in seiner wissenschaftlichen Arbeit erwartungsgemäß bestätigt hatte. Knapp vor der Jahrhundertwende waren die Bemühungen der Fakultät um zwei Ordinariate für die historischen Hilfswissenschaften also an ihr Ziel gelangt. Alfred Francis Přibrams Habilitationsverfahren gehört bereits zum Themenkomplex der Etablierung der neueren Geschichte als eigenständiges Fachgebiet. 36 Přibram hatte sich auf die Geschichte der Zeit Kaiser Leopolds I. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spezialisiert und suchte 1886 folgerichtig um die Ver-
30 ÖStA, AVA, Personalakt Redlich Z. 6218/1893, Kommissionsbericht Z. 834 vom 10. Juni 1892. 31 Ottenthal war zu diesem Zeitpunkt Extraordinarius in Innsbruck, Redlich Privatdozent ebendort sowie Offizial im Archiv der Statthalterei von Tirol. 32 ÖStA, AVA, Personalakt Redlich Z. 6218/1983, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht Gautsch vom 22. Februar 1893. 33 Ottenthal erhielt im selben Jahr ein Ordinariat in Innsbruck. 34 AUW, Dekanatsakten Z. 834/1891/92, Protokoll der Kommissionssitzung vom 20. Mai 1892. 35 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 4648 und AUW, Dekanatsakten Z. 61-1896/97. 36 Vgl. dazu in breiterer Perspektive Fellner, Geschichte als Wissenschaft und Kolář, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa, S. 315–325.
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leihung der venia legendi für neuere Geschichte an. Der rein aus Historikern zusammengesetzten Kommission erschien dieses Gebiet zu eng. Die eigentliche Rolle spielte jedoch die Sorge um die Einhaltung der wissenschaftlichen Standards in der neueren Geschichte. Heinrich von Zeißberg hielt im Kommissionsbericht fest, dass in der neueren Geschichte „... erwiesenermaßen auch Dilettanten achtenswerte litterarische Erfolge zu erzielen vermöchten u(nd) daher der Zulassung einer derartig bezeichneten Habilitierung leicht ein der Sache selbst nachteiliges Praejudiz erwachsen könne“. 37
Für Přibram persönlich erwuchs daraus deshalb kein Nachteil. Einerseits entsprachen seine Arbeiten zur neueren Geschichte den geforderten wissenschaftlichen Standards, andererseits hatte er seine Fähigkeiten auch anhand einiger Studien zur mittelalterlichen Geschichte erwiesen. Die Kommission beschloss, Přibram zu den weiteren Stadien der Habilitation zuzulassen, wenn er sein Habilitationsgesuch auf „mittlere und neuere Geschichte“ erweitere, was er auch tat. Das gesamte Professorenkollegium lehnte die Verleihung der venia legendi allein für neuere Geschichte keineswegs prinzipiell ab, die Vertreter anderer Disziplinen zeigten sich in Hinblick auf die methodischen Standards der Geschichtswissenschaft also großzügiger als die Fachordinarien. 38 Ein genauerer Blick auf die Verhandlungen der Historiker über Přibrams Habilitation zeigt, wie über die Zuweisung von Nominalfächern bereits Weichenstellungen für eine eventuelle akademische Laufbahn des neuen Privatdozenten vorgenommen wurden. Etwa trat Max Büdinger, Ordinarius für allgemeine Geschichte, dafür ein, Přibram die venia legendi für österreichische Geschichte zu verleihen. 39 Weil Büdinger sich noch sieben Jahre später gegen Přibrams Ernennung zum Extraordinarius aussprach, liegt der Verdacht nahe, dass der Ordinarius den Nachwuchswissenschaftler von seinem eigenen Fachbereich abzurücken versuchte. Für Sickel und Zeißberg wiederum bot sich die Zuordnung der neueren Geschichte zur allgemeinen Geschichte an, weil diese stärker auf den großen Überblick zielte und die methodischen Ansprüche etwas weniger strikt waren als in der mediävistisch orientierten österreichischen Geschichte. 40 Dass Sickel überdies daran zweifelte, ob angesichts eines vakanten Lehrstuhls für österreichische Geschichte überhaupt eine Habilitation vorzunehmen sei, illustriert, wie stark die
37 AUW, Personalakt Přibram Z. 146-1885/86, Kommissionsbericht vom 14. Jänner 1887. 38 Das Kollegium lehnte den Antrag der Kommission ab, dass eine Habilitation nur für neuere Geschichte nicht zulässig sei. AUW, Personalakt Přibram Z. 388-1886/87, Schreiben von Dekan Schrauf an das Ministerium für Cultus und Unterricht vom 10. März 1887. 39 AUW, Personalakt Přibram Z. 146-1885/86, Protokoll der Kommissionssitzung vom 3. Dezember 1886. 40 Fellner, „Geschichte als Wissenschaft“, S. 171; Höflechner, „Forschungsorganisation und Methoden der Geschichtswissenschaft“, S. 223.
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Habilitation als Kennzeichnung eines Gelehrten als professorabel verstanden wurde. 41 Die bei Přibrams Habilitation ausgedrückten Vorbehalte gegen die neuere Geschichte wirkten sich nicht negativ auf seine Laufbahn aus – im Gegenteil. Seine Spezialisierung auf ein bisher vernachlässigtes Gebiet der österreichischen Geschichte wurde zum maßgeblichen Argument für den Antrag, ihn der Wiener Philosophischen Fakultät zu erhalten und deshalb zum Extraordinarius zu befördern. 42 Nur Büdinger stimmte, wie bereits erwähnt, gegen den Beschluss der rein aus Historikern zusammengesetzten Kommission. Er hielt Přibram für einen Archivposten besser geeignet als für eine Professur, verfasste aber kein Separatvotum. Die Fakultät stimmte mit der Kommissionsmehrheit, wenn auch mit einem vergleichsweise schlechten Abstimmungsergebnis. 43 Neben Büdingers Zweifeln könnten auch antisemitische Motive hierzu beigetragen haben. Der Kommissionsbericht lobte Přibrams auf die Erschließung von Quellen konzentrierte Arbeit und Lehre auf dem Gebiet der neueren Geschichte, vermied es aber sorgfältig, eine Beförderung zum Extraordinarius speziell für neuere Geschichte zu beantragen. So wurde das Nominalfach erst mit dem ministeriellen Vortrag auf Ernennung Přibrams zum Extraordinarius der mittleren und neueren Geschichte festgelegt. 44 Diese Ernennung erfolgte im April 1894, allerdings ohne systemisierte Besoldung, sondern nur mit Honorar. Erst 1898 erhielt Přibram die systemisierten Bezüge eines Extraordinarius zuerkannt. Im selben Zeitraum verfolgte das Ministerium nämlich seine eigenen Pläne zur Vertretung der neueren Geschichte, die einen anderen Kandidaten vorsahen. Mit Přibram als Vertreter der neueren Geschichte hielten die Ordinarien der Geschichtswissenschaft daran fest, dass dieses Fachgebiet ausschließlich in den Händen von Historikern liegen sollte, die den methodischen Standards der Mediävistik folgten. Folgerichtig äußerten die Fachvertreter sich 1893 gegen das Vorhaben des Unterrichtsministeriums, zwei neue ordentliche Lehrkanzeln für Geschichte zu errichten, von denen eine der neueren und neuesten Geschichte gewidmet sein sollte. Die vorhandenen Ordinarien mit den Nominalfächern „allgemeine Geschichte“ und „Geschichte“ würden auch die neueren Abschnitte genügend abdecken, wie es im Kommissionsbericht heißt. 45 Allein der klassische 41 AUW, Personalakt Přibram Z. 146-1885/86, Protokoll der Kommissionssitzung vom 3. Dezember 1886. Auf den nach Ottokar Lorenz vakanten Lehrstuhl wurde 1887 Alfons Huber berufen. 42 AUW, Personalakt Přibram Z. 517-1892/93, Kommissionsbericht vom 9. März 1893. Přibram war zu diesem Zeitpunkt für ein Ordinariat in Czernowitz vorgeschlagen. AUW, Personalakt Přibram, Z. 803-1911/12, Kommissionsbericht vom 9. März 1912. 43 ÖStA, AVA, Personalakt Přibram Z. 7782/1894, Schreiben von Dekan Hann Z. 517 vom 21. März 1893. Im Professorenkollegium stimmten 19 für den Antrag auf die Ernennung Přibrams zum Extraordinarius und 10 dagegen. 44 ÖStA, AVA, Personalakt Přibram Z. 7782/1894, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht von Madeyski vom 23. März 1894. 45 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 13292/1893, Kommissionsbericht vom 6. Juni 1893 (Abschrift). Der Kaiser hatte schon im Frühjahr 1892 Minister Gautschs Vortrag auf die Sys-
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Philologe Wilhelm von Hartel wies in seinem Separatvotum darauf hin, dass die Fakultät sich in Hinblick auf ihre Argumentation zur neueren Geschichte in einen Widerspruch verwickle, wenn sie einerseits Přibram mit seinem Spezialgebiet in neuerer Geschichte zum Extraordinarius vorschlug und andererseits das Bedürfnis nach einer Lehrkanzel für neuere Geschichte abstritt. 46 Aus dem Blickwinkel der Historiker war ihre Vorgangsweise durchaus konsequent. Schließlich sollte Přibram nur ein Extraordinariat erhalten und wurde vor allem für die Bewahrung der wissenschaftlichen Standards der Mediävistik in der Erforschung der neueren Epochen geschätzt. Die Vertreter anderer Disziplinen äußerten sich ebenso vehement gegen neue Lehrstühle für Geschichte, wenn auch aus einem anderen Grund: Wegen der Benachteiligung der Naturwissenschaften. Die Geschichte war bereits die personell am stärksten vertretene Disziplin, und die Zahl der philologischhistorischen Lehrstühle überwog jene der mathematisch-naturwissenschaftlichen immer stärker. 47 Anstelle der Einrichtung weiterer historischer Lehrstühle setzte die Fakultät die Umsetzung anhängiger Anträge für die naturwissenschaftliche Fächergruppe durch, besonders in der Mathematik und Zoologie. 1897/98 wehrte die Fakultät erneut die Berufung eines Vertreters der neueren Geschichte ab. Anlässlich der Ernennung Zeißbergs zum Direktor der Hofbibliothek forderte das Ministerium die Fakultät auf, für die Nachfolge auf seinem Lehrstuhl Vertreter der neueren Geschichte vorzuschlagen. 48 Dem hielt das Professorenkollegium entgegen, dass die Unterrichtsbedürfnisse des IÖG – dessen Leiter Zeißberg gewesen war – dringender wären und außerdem die Nennung geeigneter Kandidaten für neuere Geschichte schwierig wäre. Die Fakultät vertagte deshalb die Verhandlungen zum Vorschlag eines Professors der neueren Geschichte und beantragte stattdessen die Ernennung Alfons Dopschs zum Extraordinarius der Geschichte, um durch ihn die Lehre und Forschung zu den österreichischen Geschichtsquellen am IÖG zu sichern. Dopsch hatte 1893 an der Wiener Fakultät die venia legendi für österreichische Geschichte erworben, und diese 1896 um historische Hilfswissenschaften und Geschichte des Mittelalters erweitert – zweifellos, um seine Aussichten auf eine Professur zu verbessern. Seine Arbeitsrichtung entsprach den Vorstellungen der Fachordinarien bestens, denn er näherte sich dem verhältnismäßig neuen Gebiet der Verwaltungs-, Verfassungsund Wirtschaftsgeschichte auf der Grundlage von Quellenkritik und -edition. Dieser auch mit „innere Geschichte“ bezeichnete Fachbereich war Teil der bereits erwähnten „österreichischen Reichsgeschichte“, die durch die Einführung des temisierung zweier Lehrkanzeln für Geschichte (für allgemeine Geschichte in konservativkatholischer Ausrichtung sowie für neuere und neueste Geschichte) genehmigt, deren Realisierung jedoch aus Budgetgründen und bis zur Äußerung der Fakultät verschoben wurde. 46 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 13292, Separatvotum von Hartel zum Protokoll der Sitzung vom 10. Juni 1893 (Abschrift). 47 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 13292/1893, Kommissionsbericht vom 6. Juni 1893 (Abschrift). 48 ÖStA, AVA, Personalakt Dopsch Z. 5019/1898, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht von Latour vom 18. Februar 1898.
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gleichnamigen, für Juristen und Historiker obligaten Prüfungsfaches stark an Bedeutung gewonnen hatte. 49 Überdies bot er Gelegenheit, die enge Beschränkung auf die Diplomatik aufzubrechen, ohne dabei die strengen Standards der Quellenarbeit aufgeben zu müssen. Dopschs vielseitige, dem Mittelalter und den neueren Epochen gewidmete Forschung, sowie die Unterrichtsbedürfnisse des IÖG bewogen zuletzt das Unterrichtsministerium, den Plan zur Berufung eines Ordinarius der neueren Geschichte bis zur bald anstehenden Pensionierung Büdingers zu verschieben. Dopsch wurde im Februar 1898 unter Heranziehung der für Zeißbergs Lehrstuhl veranschlagten finanziellen Mittel zum Extraordinarius der Geschichte ernannt. Dies war ganz im Sinne der Historiker, die mit Dopsch eindeutig einen zukünftigen Ordinarius in Stellung brachten, wie wenig später deutlich wurde. Noch vor der Versetzung Büdingers in den Ruhestand im September 1899 wurde nämlich durch Alfons Hubers Tod im November 1898 dessen Lehrkanzel für österreichische Geschichte vakant. Für Hubers Nachfolge verabschiedete die Fakultät zunächst einen unicoloco-Vorschlag für den Grazer Ordinarius Franz Krones. Die Fachvertreter legten das Hauptaugenmerk dabei auf die Abdeckung möglichst breiter Gebiete der österreichischen Geschichte. Krones hatte eine Gesamtdarstellung derselben vorgelegt, doch auch seine Beschäftigung mit Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte wurde besonders hervorgehoben. 50 Als Krones aus Altersgründen eine Berufung nach Wien ablehnte, lautete der zweite Personalvorschlag der Kommission primo loco Alfons Dopsch, secundo loco Johann Loserth (Graz), tertio et aequo loco Adolf Bachmann (Prag) und Josef Hirn (Innsbruck). Hier wurde ein erst vor einem Jahr zum Extraordinarius ernannter Historiker vor drei Ordinarien gereiht, wobei die letzten beiden explizit nur genannt wurden „... um den Terno aufzufüllen.“ 51 Ein solcher Vorschlag wollte gut argumentiert sein. Berichterstatter Mühlbacher hob drei Aspekte hervor: Erstens, die kürzlich erfolgte Berufung hervorragender Wiener Professoren ins Ausland und die daraufhin laut werdende Pressekritik am Niedergang der österreichischen Hochschulen, die selbst den besten Professoren immer schlechtere Aussichten böten; 52 zweitens, die geringe Qualifikation von Bachmann und Hirn, die ihre Arbeit zur österreichischen Geschichte auf eng begrenzten Zeiträumen im 15. bzw. 16. und 17. Jahrhundert, letzterer auch noch innerhalb der engen regionalen Grenzen von Tirol, geleistet hätten. Loserths 49 Kolář, Geschichtswissenschaft in Zentraleuropa, S. 329 und 331. 50 AUW Dekanatsakten Z. 1272-1898/99, Kommissionsbericht Z. 1091-1898/99 vom 4. März 1899. 51 ÖStA, AVA, Personalakt Hirn Z. 24136/1899, Kommissionsbericht vom 17. Juni 1899. 52 ÖStA, AVA, Personalakt Hirn Z. 24136/1899, Kommissionsbericht vom 17. Juni 1899. Mühlbacher führt etwa den Leitartikel in der Neuen Freien Presse vom 10. Mai 1899, Nr. 12468 an, der anlässlich der Berufung des Rechtshistorikers Ludwig Mitteis nach Leipzig einen scharfen Angriff auf die Unterrichtsverwaltung enthält: Diese respektiere die Selbstverwaltung der Universität nicht genügend und pflege die österreichischen wissenschaftlichen Einrichtungen nicht ausreichend.
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Leistungen wiederum lägen mehr auf dem Gebiet der allgemeinen als der österreichischen Geschichte, weshalb er mehr für die Nachfolge Büdingers ins Auge gefasst würde; drittens, neue Aufgaben für die österreichische Geschichtsforschung im Bereich der „inneren Geschichte“ (Verfassung, Verwaltung, Recht, Wirtschaft), welche die Juristen an sich zu reißen drohten. Dopsch wurde als meistversprechende jüngere Kraft gelobt, die sich mit der inneren Geschichte und ihren Quellen beschäftigt habe und ein vorzüglicher Lehrer sei, der auch Juristen anzuziehen wisse. Im Professorenkollegium gab es nur zwei bzw. drei Gegenstimmen gegen die Nennung Dopschs und Loserths, während Bachmann weniger Zuspruch fand und Hirn vollkommen aus dem Kommissionsvorschlag entfernt wurde. 53 Neben Aspekten der politischen Ausrichtung, die sogleich zur Sprache kommen werden, wurde Hirn zweifellos wegen seines Karriereverlaufs abgelehnt. Er war 1885 ohne entsprechenden Fakultätsvorschlag sowie ohne habilitiert zu sein Extraordinarius für tirolische Geschichte in Innsbruck geworden; 1887 war er dort zum Ordinarius für österreichische Geschichte aufgestiegen. 54 Das Unterrichtsministerium kontaktierte auf der Grundlage dieses Vorschlags zunächst Loserth. Gekränkt über seine zweimalige Nennung auf dem zweiten Platz – inzwischen hatte die Kommission auch einen Personalvorschlag für die Nachfolge Büdingers verabschiedet, s. u. – forderte Loserth eine Personalzulage von 1000 fl. für seine Berufung nach Wien. 55 Unterrichtsminister Graf BylandtRheidt leitete daraufhin die Ernennung Hirns ein – ein Oktroy, da Hirn vom Professorenkollegium aus dem Personalvorschlag entfernt worden war. Der ministerielle Vortrag führt diese Ablehnung darauf zurück, „... dass Hirn als Vertreter der conservativ-katholischen Richtung der Geschichtsschreibung gilt, wie ja auch die Commission nicht unterlassen hat, auf die Tüchtigkeit Hirns als Abgeordneter des Tiroler Landtages hinzuweisen und dass die akademische Stellung und Thätigkeit Hirns durch seinen Parteistandpunkt in ungünstiger Weise beeinflusst werden könnte“. 56
Was Hirn an der Fakultät abträglich war, war ihm im Unterrichtsressort ein Vorteil, denn schon 1893 hatte das Ministerium neben dem ordentlichen Lehrstuhl für neuere und neueste Geschichte einen weiteren für die konservativ-katholische Richtung angestrebt. Hirns politische Einstellung war durch seine Tätigkeit im Landtag bekannt, und als Referent für Lehrerbildungsanstalten am Unterrichtsministerium profitierte er seit 1897 von persönlichen Bekanntschaften im Ministerium. Eine Ernennung Dopschs wurde im ministeriellen Vortrag trotz voller Anerkennung seiner Qualifikation für ein Ordinariat wegen der unverdienten Zurück-
53 ÖStA, AVA, Personalakt Hirn Z. 24136/1899, Schreiben von Dekan Tomaschek Z. 1272 vom 19. Juni 1899. 54 ÖStA, AVA, Personalakt Hirn Z. 24136/1899, Kommissionsbericht vom 17. Juni 1899. 55 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 20935/1899, Schreiben von Loserth vom 20. Juli 1899. 56 ÖStA, AVA, Personalakt Hirn Z. 24136/1899, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht Graf Bylandt-Rheidt vom 5. August 1899.
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setzung Hirns und Bachmanns abgelehnt. 57 Hirn wurde im August per Oktober 1899 als Nachfolger Hubers zum Ordinarius für österreichische Geschichte ernannt. Die vom Minister erwartete Verstimmung der Fakultät führte prompt zu Taten: Ungeachtet der erfolgten Wiederbesetzung von Hubers Lehrstuhl urgierte das Professorenkollegium einstimmig – gemeinsam mit dem kürzlich ernannten Hirn – den Vorschlag auf die Ernennung Dopschs zum Ordinarius für österreichische Geschichte. 58 Das Lehrbedürfnis des IÖG in Quellenkunde und die Bedeutung der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte dienten erneut als Hauptargumente. Im Unterrichtsressort wog neben den Bedürfnissen des IÖG ein weiterer Faktor schwerer. Dopsch schien nämlich unter seinen Fachkollegen am besten zur Vertretung der neueren Geschichte geeignet zu sein. 59 In finanzieller Hinsicht stand der Beförderung Dopschs kein Hindernis entgegen, da er als Extraordinarius Zeißbergs Nachfolge übernommen hatte und dessen Lehrstuhl immer noch als ordentlicher im Budget veranschlagt stand. Im Januar 1900 wurde Dopsch zum Ordinarius der allgemeinen und österreichischen Geschichte ernannt. Dennoch blieb die Vertretung der neueren Geschichte an der Wiener Philosophischen Fakultät ein offener Wunsch des Unterrichtsministeriums. Wie im Fall Hirns griff das Ministerium zuletzt zum Oktroy. Der Ablauf der Verhandlungen zur Nachfolge Büdingers auf dem Lehrstuhl für allgemeine Geschichte legt nahe, dass im Ministerium von Anfang an die Ernennung August Fourniers gewünscht wurde und dass die Personalvorschläge des Professorenkollegiums vor allem dessen Abwehr dienten. So verabschiedete die Fakultät im Juli 1899 folgenden Vorschlag, den sie ein Jahr später urgierte: primo loco Paul Scheffer-Boichorst (Berlin), secundo et aequo loco Johann Loserth (Graz) und Hans von ZwiedineckSüdenhorst (Graz) sowie tertio loco Přibram. 60 Scheffer-Boichorst, ein fast ausschließlich mit der Edition und Verarbeitung mittelalterlicher Urkunden beschäftigter Gelehrter aus Fickers Schule, 61 wurde dabei als Kraft ersten Ranges eingeführt. Zweifellos sollte mit diesem Vorschlag ein Kandidat genannt werden, der Fournier an Renommee unbestreitbar überlegen war. Der Griff nach einer deutschen Fachkoryphäe erinnerte auch daran, dass in den Augen der Fakultät bei der Vertretung der allgemeinen Geschichte nicht notwendigerweise Österreicher den Vorzug verdienten.
57 Bachmann sollte wegen seiner vornehmlichen Beschäftigung mit der Geschichte Böhmens in Prag bleiben; ÖStA, AVA, Personalakt Hirn Z. 24136/1899, Vortrag des Ministers vom 5. August 1899. 58 AUW, Personalakt Dopsch Z. 550-1899/1900, Schreiben des Dekans vom 10. November 1899. 59 ÖStA, AVA, Personalakt Dopsch Z. 1035/1900, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht Alfred von Bernd vom 2. Jänner 1900. 60 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 28721/1903, Kommissionsbericht vom 7. März 1903. Der Kommissionsbericht zum Vorschlag vom Juli 1899 ist nicht erhalten. 61 Härtel, „Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften“, S. 137.
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Auch nach fast vierjährigem Stillstand lenkte die Fakultät kaum ein. Im März 1903 wurde der Königsberger Ordinarius Felix Rachfahl an die Stelle des verstorbenen Scheffer-Boichorst gereiht, während der übrige Vorschlag unverändert blieb. Rachfahl war zwar ein Vertreter der neueren Geschichte, aber das Hauptaugenmerk der Historiker lag weiterhin auf der inneren Geschichte. Im Kommissionsbericht heißt es, man bedürfe einer Kraft, „... welche von der Grundlage umfassender historischer Kenntnisse aus im Stande ist, nicht etwa bloss die äussere politische Geschichte der neueren Zeit zu betreiben, sondern ganz besonders auch die Entwickelung der inneren staatlichen, gesellschaftlichen und culturellen Zustände in weiterem Umkreis zu beherrschen, eine Kraft, welche sich mit der nötigen Hingebung der Aufgabe unterzieht, die Studierenden in das Verständnis, aber auch in die Erfor62 schung der neueren und neuesten Geschichte einzuführen“.
Während dementsprechend Rachfahls verfassungs-, verwaltungs- und sozialgeschichtliche Forschungen zu Schlesien im 16. und 17. Jahrhundert spezielles Lob erfuhren, bezeichnete Berichterstatter Redlich in Kontrast dazu Fourniers Arbeiten als vorwiegend der äußeren politischen Geschichte gewidmet. Den Professoren muss die Aussichtslosigkeit des Vorschlags von Rachfahls vor Loserth, Zwiedineck und Přibram bewusst gewesen sein. Die Berufung eines deutschen Professors, der ohnedies kaum zu gewinnen gewesen wäre, kam für die Geschichtswissenschaft erst recht nicht in Frage. Und die Nennung der drei inländischen Kandidaten war vom Ministerium bereits jahrelang ignoriert worden. Loserth hatte sich bereits früher durch seine Reaktion auf die ministerielle Anfrage hinsichtlich der Nachfolge Hubers auf den Lehrstuhl für österreichische Geschichte aus dem Spiel genommen. Überdies waren die Urteile über Loserths Arbeiten in den Kommissionsberichten nie euphorisch ausgefallen. Seine Forschungen über John Wyclif und Jan Hus erfuhren Lob, andere Arbeiten konzentrierten sich in den Augen der Wiener Historiker auf zu enge Zeiträume und widmeten sich jedenfalls nicht der inneren Geschichte. 63 Zwiedineck wiederum kam für das Ministerium wegen seiner „nicht allzeit ganz einwandfreien“ politischen Haltung nicht in Frage, womit wohl seine preußenfreundliche deutschnationale Ausrichtung gemeint war. 64 Obwohl er maßgeblich zur Gründung der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs beigetragen hatte, 65 dürfte er sich auch an der Wiener Fakultät keiner allzu großen Wertschätzung erfreut haben, da er kein Absolvent des IÖG war. Přibram wiederum wurde laut ministeriellem Vortrag „(...) mit Rücksicht auf seine [jüdische] Abstammung (...)“ nicht berücksich-
62 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 28721/1903, Kommissionsbericht vom 7. März 1903. 63 ÖStA, AVA, Personalakt Hirn, Z. 24136/1899, Kommissionsbericht vom 19. Juni 1899. 64 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 28721/1903, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht Wilhelm von Hartel vom 6. August 1903. Vgl. zu Zwiedineck-Südenhorst: Günther Cerwinka, „Johann Loserth, Hans von Zwiedineck-Südenhorst und die Herausgabe des ‚Huldigungsstreites‘“, in: Blätter für Heimatkunde 48 (1974), S. 123–131, bes. S. 123. 65 Fritz Fellner, „... ein wahrhaft patriotisches Werk.“ Die Kommission für neuere Geschichte Österreichs, 1897–2000, Wien/Köln/Weimar 2001, bes. S. 15–41.
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tigt. 66 Dass sein Vorschlag aussichtslos sein würde, musste der Fakultät angesichts der in der Zwischenzeit erledigten Nachfolge Fourniers in Prag 1900 bewusst gewesen sein. Hier hatte das Ministerium nämlich den im Vorschlag erstgenannten Přibram hinter den zweitgenannten Ottokar Weber zurückgesetzt und ihn mit dem Titel eines Ordinarius abgespeist, weil er auch den nach Büdinger vakanten Wiener Lehrstuhl nicht bekommen würde. 67 Dasselbe ministerielle Dokument hält fest, dass die Besetzung dieser vakanten Wiener Lehrkanzel für allgemeine Geschichte einem späteren Zeitpunkt vorbehalten sei. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass davor Verhandlungen mit SchefferBoichorst oder einem der anderen Kandidaten aufgenommen worden wären. Stattdessen setzte das Ministerium auf Abwarten und richtete sich damit auf seine eigene Weise nach dem Personalvorschlag der Fakultät von 1899. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Fakultät eine Nennung Fourniers nämlich mit der Begründung abgelehnt, dass dieser durch seine Mandate als Reichsrats- und Landtagsabgeordneter zeitlich zu stark in Anspruch genommen sei. 68 Doch auch 1903, nachdem Fournier keine Mandate mehr inne hatte, nahm die Fakultät den Favoriten des Unterrichtsministeriums nicht in den neuen Vorschlag auf, weil er sich (wie erwähnt) nur mit äußerer politischer Geschichte in engen zeitlichen Grenzen beschäftige. Die Geduld des Ministeriums war jedoch zu Ende. Im August 1903 wurde Fournier per Oktroy zum Ordinarius der allgemeinen Geschichte ernannt. Fournier hatte sich schon lange der besonderen Hochschätzung des Ministeriums erfreut. 1880 durfte er trotz seiner Ernennung zum Extraordinarius der österreichischen Geschichte an der Wiener Philosophischen Fakultät weiterhin als Leiter des Archivs des Innenministeriums fungieren. 69 1883 war er ohne entsprechenden Fakultätsvorschlag zum Ordinarius für allgemeine Geschichte in Prag ernannt worden. 70 Und schon 1893 war er für die vom Ministerium geplante und von der Wiener Fakultät abgeschmetterte Lehrkanzel für neuere und neueste Geschichte vorgesehen gewesen. 71 Aber auch an der Wiener Philosophischen Fakultät war Fournier früh gefördert worden und seiner Arbeit wurde auch später noch Achtung entgegen gebracht. Fournier hatte 1875 in Wien die venia legendi erworben und war 1880 auf Initiative seiner Kollegen zum Extraordinarius für österreichische Geschichte auf66 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 28721/1903, Vortrag des Ministers vom 6. August 1903. 67 ÖStA, AVA, Bestand Unterricht allgemein, Universität Prag, Philosophie: Personalakt Weber Z. 19826/1900, Vortrag des Ministers für Cultus und Unterricht von Hartel betreffend die Wiederbesetzung der ordentlichen Lehrkanzel für allgemeine Geschichte an der deutschen Universität Prag vom 26. Juni 1900. 68 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 28721/1903, Kommissionsbericht vom 7. März 1903. 69 Solche Ämterkumulierungen waren eigentlich unzulässig; Fournier erhielt deshalb für die Leitung des Archivs nur Honorar anstatt diese Amtsstelle offiziell innezuhaben. ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 1851/1880 und Z. 7084/1880. 70 Kolář, Gesichtswissenschaft in Zentraleuropa, S. 317. 71 ÖStA, AVA, Lehrkanzeln: Geschichte Z. 11680/1894, Referentenerinnerung am Aktenumschlag vom 22. Mai 1894.
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gestiegen – als persönliche Auszeichnung und ohne dringendes Lehrbedürfnis. 72 1902, drei Jahre nach seinem Wechsel von Prag an die Technische Hochschule in Wien als Ordinarius der allgemeinen und österreichischen Geschichte, erhielt Fournier erneut die venia legendi an der Universität Wien. 73 Doch wie Hirn verdankte eben auch Fournier wesentliche Karriereschritte nicht dem Professorenkollegium einer Philosophischen Fakultät, sondern dem Ministerium. Dem Professorenkollegium der Wiener Fakultät musste aber daran gelegen sein, auf das Vorschlagsrecht in Besetzungsangelegenheiten zu pochen. Und obwohl die Mehrheit der Professoren der Wiener Philosophischen Fakultät Fourniers politischer Haltung näher gestanden haben dürfte als jener Hirns – Fournier gehörte als Liberaler der „Vereinigten deutschen Linken“ an – sahen die Historiker, die sich möglichst unpolitisch gaben, starkes politisches Engagement eines Fachkollegen nicht gern. Im Ministerium wurde wiederum gerade dieses Engagement geschätzt, weil es die Hoffnung auf die Erfüllung der Legitimierungsfunktion der Geschichtswissenschaft für den Staat weckte. Der ministerielle Vortrag bezeichnete Fournier als den geeignetsten Vertreter speziell der neueren Geschichte, lobte seine im politischen Leben gewonnene Kenntnis des Verfassungslebens, seine gemäßigten politischen Ansichten, seine Rednergabe und seine „... echt patriotische, österreichische Gesinnung“. 74 Mit Fournier hatte das Ministerium nun einen Ordinarius installiert, der unter seinem Nominalfach „allgemeine Geschichte“ bevorzugt die neuere Geschichte vertreten würde. Der erste Wiener Ordinarius mit einem Nominalfach speziell für neuere Geschichte sollte allerdings 1913 ernannt werden und Přibram heißen. Dieser Fall zeigt, dass die antisemitische Diskriminierung überwunden werden konnte, wenn sich ein Fachkollege und mit ihm die gesamte Fakultät entschloss, einen bestimmten jüdischen Professor zu fördern. Přibram wurde an der Fakultät durchaus geschätzt, wenngleich er nie der Favorit für einen systematisierten ordentlichen Lehrstuhl gewesen war und auch diesmal keinen erhalten sollte. 1912 beantragten die Historiker auf Fourniers Initiative Přibrams Beförderung zum Ordinarius ad personam, und begründeten dies mit dem gesteigerten Lehrbedürfnis in neuerer Geschichte, speziell in Länder- und Kolonial- sowie in Wirtschaftsund Verfassungsgeschichte. 75 Für die genannten Spezialgebiete sollte der neue Ordinarius einen Lehrauftrag erhalten. Offenbar wünschte vor allem Fournier eine besser abgesicherte Unterstützung in der Lehre in der stetig an Umfang und Hörerzuspruch gewinnenden neueren Geschichte, wollte diese Unterstützung aber
72 AUW, Personalakt Fournier Z. 158-1879/80 und 239-1879/80. 73 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z: 38359/1901. Der Wechsel an die Technische Hochschule diente vor allem der Rückkehr nach Wien, nachdem die Wiener Philosophische Fakultät die Nennung Fourniers für die Nachfolge Büdingers mit dessen zeitlicher Inanspruchnahme durch seine politischen Mandate begründet hatte. 74 ÖStA, AVA, Personalakt Fournier Z. 28721/1903, Vortrag des Ministers vom 6. August 1903. 75 AUW, AVA, Personalakt Přibram Z. 803-1911/12, Kommissionsbericht vom 9. März 1912.
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gleichzeitig durch einen Lehrauftrag eingeschränkt sehen. 76 Im Ministerium wurden keine Einwände erhoben, da die Ernennung nur geringen finanziellen Mehraufwand bedeutete. Durch die Wiederbesetzung von Přibrams ad personam verliehenem Ordinariat im Jahr 1930 wurde die spezielle Vertretung der neueren Geschichte schließlich systematisiert. Als Fazit lässt sich Folgendes festhalten: Unter den Vorzeichen einer stark quellenorientierten Forschungsweise, die an der Wiener Philosophischen Fakultät alle Disziplinen der philologisch-historischen Fächergruppe umfasste, verfügte die Geschichtswissenschaft über einen klar abgegrenzten Gegenstandsbereich. Deshalb minderte die Etablierung weiterer eigenständiger historischer Disziplinen die starke Stellung des Faches nicht. Entweder besetzten die neuen Fächer durch ihre jeweils zentralen Quellen ihren eigenen Gegenstandsbereich oder sie stärkten ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit durch die Übernahme der methodischen Standards der Geschichtswissenschaft. Eine hohe Zahl von Fachvertretern sicherte den großen Einfluss der Disziplin an der Fakultät zusätzlich. Der hohe Status, der sich in dieser starken personellen Ausstattung ausdrückt, hatte jedoch seine Schattenseiten. Die Legitimierungsfunktion der Geschichtswissenschaft bewog das Unterrichtsministerium nicht nur dazu, ihr mehr Ressourcen zu widmen, sondern auch dazu, tief in die Personalstruktur einzugreifen. Dies alles erleichterte es den Historikern, die gesamte Fakultät in einer Allianz hinter den eigenen Wünschen zur Gestaltung des Faches zu sammeln. Wer die geforderten wissenschaftlichen Standards nicht erfüllte oder die nach außen hin unpolitische Haltung der Historiker nicht teilte, musste über Netzwerke ins Ministerium verfügen, um an der Wiener Philosophischen Fakultät eine Professur in Geschichtswissenschaft zu erlangen.
76 Die Einschränkung durch den Lehrauftrag wurde erst 1923 aufgehoben, nachdem Přibram zum Mitdirektor des historischen Seminars ernannt worden war. AUW, Personalakt Přibram Z. 1140-1922/23, Schreiben des Bundesministeriums für Unterricht Z. 12371/I-22 vom 18. Mai 1923.
Im Zeichen des Historismus avancierte die Geschichte zu einer Wissenschaft, der im 19. Jahrhundert eine übergeordnete intellektuelle Orientierungsfunktion zuerkannt wurde. Dies spiegelt sich zum einen in zeitgenössischen ideengeschichtlichen Ansätzen und Konzepten wider, zum anderen in der Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft als eines autonomen akademischen Faches. Der Band versammelt zwölf Beiträge, die diesen komplexen Prozess der Verwissenschaftlichung der Geschichtsforschung in Deutschland und in Österreich
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im 19. Jahrhundert in einigen wesentlichen Facetten begreiflich machen. Dabei werden auch infrastrukturelle Entwicklungen und Spezialisierungsprozesse in wissenschaftlichen Akademien und Gesellschaften erläutert. In diesem Sinn erproben die Beiträge teilweise neue Ansätze und erschließen zusätzliche Horizonte auch für die Weiterentwicklung traditioneller Fragestellungen nach der Organisation und dem Verständnis von Geschichtswissenschaft.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-10671-9