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German Pages 212 Year 1999
Nationale Minderheiten und staadiche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert
Veröffentlichung des Sorbischen Instituts/Serbski institut in Verbindung mit der Societas Jablonoviana
Nationale Alinderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert Herausgegeben von Hans Henning Hahn und Peter Kunze
Akademie Verlag
Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung für das sorbische Volk Redaktion des Bandes: Peter Kunze, Christian Pranitsch, Dietrich Scholze
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert / hrsg. von Hans Hennig Hahn und Peter Kunze. - Berlin : Akad. Verl., 1999 ISBN 3-05-003343-6 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1999 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der R. Oldenbourg-Gruppe. Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Konzepta, Prenzlau Druck und Bindung; Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza
Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Vorwort
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Miroslav Hroch Minderheiten als Problem der vergleichenden Nationalismusforschung
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Rudolf Jaworski Nationalstaat, Staatsnation und nationale Minderheiten. Zur Wechselwirkung dreier Konstrukte
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WitoldMolik Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Überlegungen zu Forschungsstand und -perspektiven
29
Magdalena Niedzielska Die Geschichtsschreibung der Provinz Preußen und die Frage der nationalen Minderheiten im 19. Jahrhundert
41
Krzysztof Makowski Polen, Deutsche und Juden und die preußische Politik im Großherzogtum Posen. Versuch einer neuen Sicht
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Peter Kunze Zur preußischen und sächsischen Sorbenpolitik im 19. Jahrhundert
61
Klaus Pabst Die preußischen Wallonen - eine staatstreue Minderheit im Westen
71
Marek CzapHñski Der Oberschlesier - Staatsbürger oder Untertan? Zur preußischen Politik der Jahre 1 8 0 7 - 1914
81
6
Inhalt
Józef Borzyszkowski Die Kaschuben im 19. und 20. Jahrhundert zwischen Polen und Deutschland
93
Grzegorz Jasinski Zur Problematik der Assimilation der masurischen Bevölkerung im preußischen Staat (1815-1914)
99
Robert Traba Zwischen katholischer Kirche und Staat? Die nationale und soziale Reaktion der Ermländer auf die gesellschaftliche Modernisierung im 19. Jahrhundert
109
J0rgen Kühl Die dänische Minderheit in Preußen und im Deutschen Reich 1864-1914
121
Wolfgang Wippennann Das „ius sanguinis" und die Minderheiten im Deutschen Kaiserreich
133
Siegmund Musiat Gab es im 19. Jahrhundert ein sorbisches Bürgertum?
145
Leszek
Beizyt
Die Zahl der Sorben in der amtlichen Sprachenstatistik vor dem Ersten Weltkrieg. . . .
157
Dietrich Scholze Literatur als Faktor der Identitätsbildung bei den Lausitzer Sorben
171
Helmut Jentsch Das Verhältnis der Minderheitssprache Sorbisch zur Mehrheitssprache Deutsch im 19. Jahrhundert
179
Irena Samowska-Giefìng Germanismen im Posener Polnisch des 19. Jahrhunderts
185
Manfred Klein „Laß uns mal deutsch kalbeken, Margellchen!" Wirkungen des Sprachkontaktes in Preußisch-Litauen
195
Hans Henning Hahn Nationale Minderheiten und Mehrheitsnationen im 19. Jahrhundert. Einige grundsätzliche Überlegungen zur kollektiven Identitätsbildung
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Autorenverzeichnis
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Vorwort
Vom 28. bis 30. September 1995 fand in Bautzen eine internationale Konferenz zum Thema „Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert" statt. Sie wurde veranstaltet vom Sorbischen Institut/Serbski institut Bautzen und der Societas Jablonoviana, einer Gesellschaft zur Pflege deutsch-polnischer Wissenschaftskontakte mit Sitz in Leipzig. Das Ziel der interdisziplinären Begegnung, an der Historiker, Sprach- und Kulturwissenschaftler aus Deutschland, Polen und Tschechien teilnahmen, bestand in der vergleichenden Erörterung von Konzepten und Methoden staaüicher deutscher Minderheitenpolitk im 19. Jahrhundert. Es sollte gezeigt werden, unter welchen Bedingungen sich insbesondere Sprache und Kultur bei den einzelnen Volksgruppen entwickelt haben. Im Mittelpunkt stand die Lage der Polen und der Lausitzer Sorben, aber auch Dänen, Friesen, Wallonen, Kaschuben, Masuren und Litauer wurden in einzelnen Beiträgen berücksichtigt. Insgesamt wurden auf der Tagung 19 Referate vorgetragen. Sie alle sind in diesem Band dokumentiert. Die thematischen Schwerpunkte, denen die Reihenfolge der Beiträge im großen und ganzen entspricht, lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. staatliche Minderheitenpolitik, 2. nationale und kulturelle Entfaltung der Minderheiten vor dem Hintergrund der politischen und sozialökonomischen Veränderungen in Deutschland, 3. Veränderungen der Minderheitensprachen im Prozeß der Modernisierung und 4. Situation der Minderheitenliteraturen. Nicht alle Fragenkomplexe konnten ausführlich behandelt werden. Doch auch die Beiträge zu ausgewählten Themen erhielten im Gesamtkontext der Bautzener Konferenz einen eigenen Stellenwert. Die vorgetragenen Forschungsergebnisse bieten deshalb Anregungen für weiterführende historische Untersuchungen und vergleichende Betrachtungen. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sowohl zum Gelingen der Konferenz als auch bei der Entstehung und Druckvorbereitung dieses Bandes ihren Beitrag geleistet. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt, vor allem aber Herrn Prof. Dr. Witold Molik (Poznan) für seine wertvollen inhaltlichen Ratschläge und seine engagierte organisatorische Hilfe bei der 1 Vgl. Peter Kunze, Internationale Konferenz zu Minderheitenfragen im 19. Jahrhundert in Bautzen, in: Lëtopis. Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur. Casopis za rèe, stawizny a kulturu Luziskich Serbow 43(1996)1, S. 136-138.
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Vorwort
Vorbereitung der Konferenz. Unser besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Dietrich Scholze, dem Direktor des Sorbischen Instituts, ohne dessen vielseitige Unterstützung und Engagement auf allen Ebenen weder die Konferenz hätte verwirklicht werden noch dieser Band hätte entstehen können. Oldenburg/Bautzen, im September 1998 Hans Henning Hahn / Peter Kunze
MIROSLAV HROCH
Minderheiten als Problem der vergleichenden Nationalismusforschung
Bei jeder komparativen Untersuchung stellen wir gleich am Anfang die Frage, welche Gemeinsamkeiten uns erlauben, das Phänomen „Minderheit" zu vergleichen. Sicherlich reicht hier das rein Numerische bei weitem nicht aus, insbesondere wenn wir wissen, daß es keine allgemein akzeptierte Definition der nationalen bzw. ethnischen Minderheit gibt. Diese Tatsache kann uns jedoch nicht zu einer totalen Skepsis berechtigen, sondern nur auf die schwierige Anwendbarkeit dieses Begriffs als eines der Instrumente der historischen Analyse hinweisen. Man ist daher gut beraten, eher typologisch vorzugehen. Sowohl die historische als auch die politische Analyse des Problems kommt mit der einfachen Begrifflichkeit (die Minderheit „als solche", „an sich") nicht aus. Es hilft uns - im Sinne der wissenschaftlichen Analyse - wenig, wenn wir die Minderheit nur im quantitativen Sinne als Gruppe verstehen, deren Mitglieder zahlenmäßig geringer sind. Die Minderheit war gegenüber der „Mehrheit" nicht nur numerisch unterlegen, sondern auch in mancher Hinsicht benachteiligt. Der Grad und die Form solcher Benachteiligung variierte allerdings von Fall zu Fall stark. Schon aus diesem Grunde sollte man vor allem die typologisch konkret definierbaren Situationen in Betracht ziehen, in denen sich Minderheiten geformt haben und in denen sie lebten bzw. leben. Jede Diskussion über den Minderheitenstatus bzw. die Minderheitenrechte, jede Analyse von Minderheitenbewegungen etc. muß sich im voraus Klarheit darüber verschaffen, um welche Situation es sich handelt, das heißt, wie die betreffende „Minderheit" typologisch eingeordnet werden kann. Die Kontexte, in denen man diesen Terminus anwendet, unterscheiden sich nämlich sehr voneinander. Man benutzt den Terminus in der Fachliteratur in vier grundlegenden Situationen, unter denen jede in weitere Subvarianten gegliedert werden kann: 1. Ethnische Immigranten, die aus dem näheren oder entfernten Ausland in einen ihnen ethnisch und kulturell fremden Staat kommen und dort als Arbeiter oder in intellektuellen Berufen tätig sind. Dieser Typus bleibt in unseren weiteren Überlegungen außerhalb der Aufmerksamkeit. 2. Ethnische Gruppen, deren Mitglieder seit Generationen verstreut auf einem Territorium leben, das mehrheitlich von einer andersartigen Bevölkerung bewohnt ist. Zu diesem Typus gehören zwei wesentlich verschiedene Varianten, die wohl als selbständige Typen zu betrachten sind: a) eine herrschende Elite, die unter einer Mehrzahl der ethnisch andersartigen Bevölkerung
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Miroslav Hroch
lebte und unter dieser eine politisch und wirtschaftlich privilegierte Stellung einnahm, wie die deutschen Barone im Ostbaltikum oder die Osmanen in Griechenland; b) eine durch die Gesellschaft ausgegrenzte ethnisch „fremde" Gruppe, z. B. die Juden oder Zigeuner. 3. Eine ethnische Gruppe, die ein kompaktes Territorium innerhalb eines mehrheitlich ethnisch andersartigen Staates bewohnt. Diese Gruppe gehört zu einer „Mutter-Nation", die eine Mehrheit in einem anderen Staat bildet. Auch hier unterscheiden wir zwei Subvarianten, die allerdings typologisch vereinbar sind: a) die an der politischen Grenze lebenden Minderheiten („border minorities"), wobei diese politische Grenze die Minderheit von ihrer „Mutter-Nation" trennt. Dies scheint der „klassische" Fall der Minderheiten in der modernen Geschichte zu sein (die Dänen in Schleswig, die Deutschen in Westpreußen, die Deutschen in Böhmen, die Magyaren in der Slowakei usw.); b) sprachliche Inseln - kompakte Bevölkerungsgruppen auf dem Lande (z. B. die Magyaren in Transsylvanien) oder in den Städten (z. B. die Deutschen in den Städten der Zips oder in Siebenbürgen). Neben dieser territorialen Unterscheidung sollte eine genetische getroffen werden: Viele zu diesem Typus gezählte Minderheiten haben sich vorerst mit ihrer „Mutter-Nation" nur schwach oder überhaupt nicht identifiziert, und die Initiative zu dieser Identifizierung ist von außen gekommen, von seiten der „MutterNation". 4. Ethnische Gruppen, die ein kompaktes Territorium innerhalb eines mehrheitlich ethnisch andersartigen Staates bewohnen, ohne jedoch eine eigene „Mutter-Nation" zu besitzen. Dabei kann es sich sowohl um eine vormodeme „non-dominant ethnic group" als auch um sich formierende bzw. schon voll formierte Nation handeln. Hier unterscheiden wir drei Subvari anten: a) ethnische Gruppen mit einer schwachen Identität, etwa im Sinne der „ethnic category", wie sie Anthony Smith definiert' (z. B. Friesen oder Bretonen im 19. Jahrhundert); b) ethnische Gruppen, die sich im Stadium der nationalen Formierung befanden, das heißt in unterschiedlichen Phasen der nationalen Bewegung, wobei wir noch weiter zwischen den erfolgreichen Nationalbewegungen (wie z. B. die slowenische, estnische, katalanische) und den weniger erfolgreichen (z. B. die walisische, sorbische, ladinische) unterscheiden; c) vollformierte Nationen, die sich unter der Herrschaft einer stärkeren, numerisch überlegenen Nation befanden. Diese Variante war am Anfang des 19. Jahrhunderts eigentlich nur durch die Polen repräsentiert, später auch durch die Tschechen, Iren und Norweger. Sie bekam im 20. Jahrhundert noch eine besondere Subgruppe durch die Okkupation einiger Nationalstaaten durch aggressive Großmächte wie Deutschland oder die Sowjetunion (Esten, Letten etc.). Hier handelt es sich allerdings um einen Typus, der nicht unter die „Minderheiten" gezählt werden kann. Natürlich ist auch diese Typologie nicht erschöpfend, und sie schließt Grenzfälle nicht aus. Wie schon erwähnt, sind Minderheiten ein Produkt der historischen Entwicklung, ihre typologische Zuordnung war nicht immer und restlos die gleiche. Man darf vor allem nicht vergessen, daß die nationale Minderheitenfrage im vollen Sinne des Wortes - als politisch explosi-
1 Anthony D. Smith, National Identity, London 1991, S. 20 f.
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ver Stoff - erst nach dem Ersten Weltkrieg auf der europäischen politischen Bühne zu dominieren begann. Minderheiten als kulturelles und politisches Phänomen gab es allerdings schon mindestens ein Jahrhundert früher. Worin besteht also die historische Genese des modernen Minderheitenproblems? Bei der Beantwortung dieser Frage soll zuerst in Betracht gezogen werden, daß die kulturelle, sprachliche und auch religiöse Besonderheit für das Minderheit-Werden von zentraler Bedeutung war. Für den mitteleuropäischen Raum war natürlich das sprachliche Kriterium entscheidend. Wie ist es dazu gekommen? Meine Antwort basiert auf einer Modifizierung des Modells, das der Soziolinguist Joshua Fishman entwickelt hat.^ Dieses Modell geht davon aus, daß bis zu einer gewissen Zeit, die in etwa mit dem Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft übereinstimmt, die sprachliche Situation in einem ethnisch gemischten Gebiet durch die politisch neutrale Diglossie bestimmt war. Darunter versteht Fishman eine Situation, wo die dort lebenden Einwohner zwei oder mehrere unterschiedliche Sprachen bzw. Dialekte - meistens in Einklang mit ihrer sozialen Situation - benutzten, ohne dies als störend oder disqualifizierend zu empfinden. Mit der fortschreitenden Modernisierung funktionierte die Diglossie nicht mehr, weil das Nebeneinander verschiedener ethnischer Gruppen infolge der intensiveren sozialen Kommunikation und Mobilität immer mehr zu einem gegenseitigen Durchdringen unter ungleichen Bedingungen wurde. Vor allem durch vertikale Interaktion wurde der Übergang von der Diglossie zum Bilinguismus gefördert. Die unteren sozialen Schichten mußten neben ihrer Muttersprache auch die Staatssprache beherrschen. Ohne Bilinguismus wurden sie nämlich immer evidenter benachteiligt. Sie waren in dem sich intensivierenden Kontakt mit den Behörden stets „sprachlos", sie konnten ohne Bilinguismus auch keinen sozialen Aufstieg erreichen. Natürlich beherrschte vorerst nur ein geringer Teil die staatliche Hochsprache, aber diese Lage konnte sich mit der Intensivierung des Schulbesuchs schnell ändern. Unser Ausgangspunkt ist eine Situation, wo neben der Hochsprache, die bei Fishman Hlanguage genannt wird, eine Volkssprache - L-language - benutzt wurde, das heißt einer oder mehrere Dialekte dieser Hochsprache. Die Lage komplizierte sich dadurch, daß auf dem staatlichen Gebiet auch noch Einwohner lebten, deren Dialekte nicht zu dieser Schriftsprache gehörten - sie sprachen also eine L*-language. Für das weitere Schicksal dieser Gruppe war es wichtig und mitunter entscheidend, ob ihre Dialekte zu einer H*-language gehörten, die innerhalb oder außerhalb des gegebenen staatlichen Territoriums benutzt wurde. Im ersten Fall - wenn die H*-language innerhalb des staatlichen Territoriums vorhanden war - entwickelte sich die Situation in Richtung einer Nationalbewegung, also etwa im oben genannten vierten Minderheitentypus, der eigentlich keine echte Minderheit darstellte. Im zweiten Fall, wo die H*-language auf dem Territorium eines anderen Staates entweder zur herrschenden Schriftsprache oder zur Sprache der Nationalbewegung wurde, entwickelte sich eine nationale Minderheit im vollen Sinne des Wortes (dritter der oben genannten Typen). Mit
2 Joshua Fishman, Bilingualism with and without diglossia, diglossia with and without bilingualism, in: The Journal of Social Issues 23(1967), S. 29 ff.; ders.. Language in Sociocuhural Change, Stanford UP 1972, S. 135 ff. und 148. Zur Kritik seines Modells vgl. M. Martin-Jones, Language, power and linguistic minorities: the need for an alternative approach to bilingualism, language maintenance and shift, in: R. Grillo (Hrsg.), Social Anthropology and Politics of Language, London, New York 1984, S. 109 ff.
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Miroslav Hroch
anderen Worten, die L-language-Sprecher gehörten zu einem anderen Typus von Minderheiten als die L*-language-Sprecher. Die Kritiker Fishmans haben darauf hingewiesen, daß seine H- und L-Sprachen nicht nur voneinander unterschiedlich, sondern auch ungleich waren. Die H-language-Sprecher hatten einen höheren sozialen Status, während diejenigen, die nur die L-language beherrschten, dadurch ihre Zugehörigkeit zu den unteren Schichten mit wenig Prestige verrieten. Um so geringer war natürlich das Prestige der L*-language-Sprecher, die sich nicht einmal auf die Verwandtschaft mit der Staatssprache berufen konnten. Solange die nationalen Formierungsprozesse des 19. Jahrhunderts nicht abgeschlossen waren, blieb auch die Frage offen, wer zur Minderheit gehörte. Erst nachdem die Grenzen der durch die Hochsprache definierten Nationen fixiert wurden, konnten die sprachlichen Minderheiten bestimmt werden. Natürlich war der Weg von der L- zur H-language viel einfacher und leichter als der von der L*-language. Dies war nicht nur eine Frage der rationalen Entscheidung, sondern der Bildungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten, der Übergang zum Bilinguismus war bei der Gruppe der L*-language erstens eine Angelegenheit der Bildung, zweitens eine Angelegenheit individueller sprachlicher Begabung. Vielleicht könnte man in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer terminologischen Unterscheidung zwischen nationaler und ethnischer Minderheit erwähnen. Unter ethnischer Minderheit sollten diejenigen L*-language-Sprecher verstanden werden, die der entsprechenden H*-language nicht mächtig waren - sei es, weil sie keinen Sprachunterricht bekommen konnten, sei es, weil eine solche H*-language nicht entwickelt wurde. Unter nationaler Minderheit sollte man dann diejenigen Gruppen verstehen, deren Mitglieder neben der L*language die H*-language als Hochsprache benutzt und als Bezugspunkt ihrer nationalen Identität betrachtet haben. Natürlich spielten in der Zwischenkriegszeit nur die zahlenmäßig zunehmenden nationalen Minderheiten eine politisch relevante Rolle, während die ethnischen marginalisiert wurden. Am Rande dieser Typologie soll nochmals erwähnt werden, daß in einigen Gebieten Europas die nationalen Minderheiten nicht so sehr durch die Sprache, sondern durch die Religion definiert wurden. Die Religion spielte in Mitteleuropa allerdings nur die Rolle eines ergänzenden Kriteriums, so z. B. bei den uniatischen Ukrainern (Ruthenen) in Galizien und später in Polen oder bei den Magyaren in Siebenbürgen und bei den Serben in Ungarn. Die religiöse Trennung innerhalb der ethnischen Gruppe konnte andererseits die nationalen Formierungsprozesse und die Suche nach der nationalen Identität erschweren, so beispielsweise bei den Slowaken und den Sorben. Eine nationale Minderheit ist jedoch nicht nur durch ihre objektiv feststellbaren sprachlichen, kulturellen, religiösen Unterschiede zur staatsnationalen Mehrheit charakterisiert. Das eigentliche Minderheitenproblem fängt erst dann an, wenn diese Unterschiede thematisiert, wenn sie zum Gegenstand und zum Argument der politischen Entscheidung bzw. des politischen Konflikts werden. Die Einstellung der handelnden Subjekte und die Einschätzung der eigenen Minderheitenlage kann auf drei miteinander verbundenen Ebenen untersucht werden: 1. die Sichtweise der herrschenden Staatseliten und in der späteren Zeit der zur herrschenden Mehrheitsnation gehörenden Politiker; 2. das Selbstbewußtsein der Mitglieder der nationalen Minderheit und ihre Einstellung zur herrschenden Nation; 3. die Einstellung der politischen Elite der „Mutter-Nation" zur Situation der außerhalb ihres Staates als Minderheit lebenden Mitglieder dieser Nation.
Minderheiten als Problem der vergleichenden Nationalismusforschung
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Zuerst soll das Selbstbewußtsein, die Selbstdarstellung der nationalen Minderheit analysiert werden. Es handelt sich also um ihre Identität. Dabei gehen wir davon aus, daß jeder Mensch nicht nur eine Identität besitzt, sondern immer eine Mehrzahl von Identitäten. Die Frage stellt sich also nicht als „entweder - oder", sondern als Hierarchie der Identitäten. Konkret gesehen konnten die Mitglieder einer als national bzw. ethnisch bezeichneten Minderheit eine breitere staatliche Identität entwickeln, die mit ihrer engeren nationalen Identität nicht übereinstimmte. Außerdem konnten sie eine noch engere regionale Identität entwickeln. Diese Identitäten waren manchmal koexistenzfähig, manchmal schlossen sie sich gegenseitig aus oder standen in Konkurrenz zueinander. Zur Illustration sollen zwei Beispiele angeführt werden. Ein tschechisch sprechender Einwohner Mährens konnte sich um 1900 als österreichischer Staatsbürger, als Mitglied der tschechischen Nation und als Mährer verstehen. Diese drei Identitäten schlossen einander nicht aus - sofern kein Druck von außen ausgeübt wurde, wie durch Germanisierung einerseits, durch den Prager Zentralismus andererseits. Die weitere Entwicklung nach 1918 zeigt, daß die nationale Identität die stabilste und dominierende gewesen ist. Die slowakisch sprechenden Bewohner Ungarns haben sich politisch als Ungarn, ethnisch als Slowaken bzw. einige als Tschechoslowaken verstanden. Seit der Magyarisierung nach 1870 wurde nicht nur die Hierarchie der Identitäten gesetzlich festgelegt, sondern auch der Weg zu ihrer Koexistenz versperrt. Nach der Entstehung der Tschechoslowakei stand mit der neuen staatlichen Identität der slowakischen Bevölkerung auch die tschechoslowakische nationale Identität zur Verfügung, wobei die untergeordnete slowakische Identität - als eine regionale - nicht ausgeschlossen wurde. Während der ganzen Zwischenkriegszeit konkurrierten in der Slowakei die beiden nationalen Identitäten - die tschechoslowakische und die slowakische - miteinander. Dort, wo die konkurrierenden Identitäten als national verstanden werden konnten, formierte sich in den Reihen der nationalen Minderheit eine Bewegung, die mit dem Phänomen der nationalen Bewegung vergleichbar, mit ihm aber nicht gleichbedeutend war. Wir können in dieser Bewegung die Agitationsphase (Phase B) von der Massenphase (Phase C) unterscheiden, wobei die gelehrte Phase meist durch die Resultate der gelehrten Tätigkeiten der „MutterNation" vertreten bzw. substituiert wurde. Diese Minderheitenbewegung formulierte sprachliche, kulturelle, soziale sowie politische Ziele, die sich von jenen der nationalen Bewegungen nur in einem, allerdings entscheidenden Aspekt unterschieden: Ziel war nicht die Behauptung einer sprachlichen Eigenart und die Formierung einer vollwertigen, eigenständigen Nation, sondern die Beibehaltung der Sprache einer schon bestehenden oder sich formierenden „Mutter-Nation", nicht eine politische Autonomie bzw. Unabhängigkeit, sondern Annäherung oder sogar Anschluß an den Staat der „Mutter-Nation". Bei der Gestaltung des Programms spielte das Geschichtsbild eine besonders wichtige Rolle. Wurde die Geschichte des Staates bzw. der Region oder vielmehr die Geschichte der „Mutter-Nation" als primär empfunden? Ein Slowake konnte am Ende des 19. Jahrhunderts die Geschichte des Staates Ungarn ebenso wie die tschechische Geschichte, inteφretiert entweder als Geschichte der Länder der Böhmischen Krone oder als Geschichte der tschechischen Nation, oder aber die Geschichte der slowakisch sprechenden ethnischen Gruppe, die er als Nation verstand, als „seine" betrachten. Natürlich gab es eine Conditio sine qua non jeder Minderheitenbewegung. Die Mitglieder der nationalen Minderheit - oder einige unter ihnen - waren unzufrieden und suchten die „echten" Ursachen ihrer Unzufriedenheit in der nationalen Sphäre: als nationale Benachteiligung, nationales Unrecht, verübt durch die herrschende Staatsnation bzw. durch
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Staatseliten etc. Auch hier gilt also der national relevante Interessengegensatz als ein wichtiger Faktor der politischen Mobilisierung. Dort, wo es eine solche national formulierbare Unzufriedenheit nicht gab bzw. wo sie nicht überzeugend konstruiert werden konnte, war auch die Minderheitenbewegung schwach. Die Mitglieder der Minderheit blieben national indifferent - also im Stadium einer ethnischen Minderheit - und daher leicht assimilierbar. Auch hier spielten natürlich die Intensität der sozialen Kommunikation und die Richtungen der sozialen Mobilität eine wichtige Rolle.' Als Beispiele sollen die Masuren, die Sorben in der Niederlausitz, die Waliser und die Friesen genannt werden. Die Minderheiten lebten natürlich nicht in einem luftleeren Raum. Ihre Aktivierung war sowohl durch die Haltung der herrschenden Staatsnation als auch der eventuellen „MutterNation" bedingt. Die Einstellung der Staatsnation zu den Minderheiten war nicht in allen Fällen und Zeiten die gleiche. Wenn die herrschenden Staatseliten im 19. Jahrhundert den liberal gefärbten politischen Nationsbegriff akzeptierten, sahen sie in der sprachlichen Assimilierung der Minderheiten den besten Weg zur bürgerlichen Emanzipation ihrer Mitglieder. Durch die Assimilierung sollte Chancen- und Aufstiegsgleichheit für alle erreicht werden. Manchmal war diese Assimilierungspolitik erfolgreich, manchmal provozierte sie im Gegenteil eine verstärkte Minderheitenbewegung. Die konservativen Eliten, die ihre Exklusivität auch durch eine Sprachbarriere bewahren wollten, vertraten in der Beziehung zu den ethnischen bzw. nationalen Minderheiten eine andere Politik als die Liberalen. Die ethnische Barriere sollte beibehalten werden, auch um den Preis eventueller Zugeständnisse in der Schul- und Kultuφolitik. Als Beispiel kann hier die Politik der altösterreichischen Eliten genannt werden. Anders gestaltete sich die Lage dort, wo die Eliten der Staatsnation nationalistischem Gedankengut huldigten - und dies geschah gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast überall. In dieser Situation wurde die Assimilierungspolitik als Staatspolitik betrieben, wobei die Motivation nicht liberal und bürgerlich, sondern nationalistisch formuliert wurde: In einem starken Nationalstaat sollte nur eine Nation leben. In diesem Fall war jedoch der Erfolg der Assimilierungspolitik nicht automatisch vorprogrammiert. Er war wenigstens von drei Faktoren abhängig: vom Grad der schon erreichten nationalen Mobilisierung innerhalb der Minderheit, von der Stufe bzw. Struktur ihrer sozialen Kommunikation und Mobilität und von der Einstellung der „Mutter-Nation". Es scheint also, daß die einzige reibungslose Variante zur Lösung des Problems der nationalen Minderheiten ein demokratisches System war (und ist). Dies gilt allerdings nicht vorbehaltlos. Das System der parlamentarischen Demokratie geht unter anderem von dem Prinzip aus, daß jede politische Minderheit durch den Willen des Wählers zur Mehrheit werden kann. Als eine Bedingung gilt dabei das Vertrauen, daß die herrschende Mehrheit ihr numerisches und politisches Übergewicht nicht zur dauerhaften Ausschaltung der Minderheit mißbrauchen wird.'' Die Mitglieder der nationalen Minderheit können jedoch den Eindruck gewinnen (oder zu dieser Ansicht manipuliert werden), daß sie keine Chance hätten, sich an der Staatsmacht zu beteiligen. Wo eine solche Unterwanderung des Vertrauens zum demokratischen System wenigstens teilweise gelingt, hat die parlamentarische Demokratie große Schwierigkeiten und 3 Karl W. Deutsch, Nationalism and Social Communication. An Enquiry into the Foundations of Nationality, Cambridge Mass. 1953. 4 Seymour Martin Lipset, Political Man. The Second Basis of Politics, New York 1963, insbes. Kap. 3.; vgl. auch R. Münch, Theorie des Handelns, Frankfurt (M.) 1982, S. 302 f.
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nur eine geringe Chance, das Problem der nationalen Minderheit durch demokratische Spielregeln zu „lösen". Auch hier kann der dritte der oben genannten Faktoren - die „Mutter-Nation" - eine außerordentlich wichtige Rolle spielen. Ihre Einstellung variierte in Raum und Zeit. Entscheidend war, in welchem Stadium des Formierungsprozesses sich diese Nation selbst befand. Entscheidender sozialpsychologischer Faktor scheint die erreichte Stufe der Personifizierung der Nation zu sein. Nur dort, wo sich die Nation als eine Persönlichkeit, als ein „К0фег" verstand, konnte die Lage der außerhalb des nationalen Territoriums befindlichen Mitglieder dieser Nation als ein Teil des eigenen Schicksals, als „nationales Interesse", begriffen werden. Die Forderungen dieser Minderheit wurden als eigene akzeptiert und massiv unterstützt. Eine solche Darstellung war nur in jenen Fällen möglich, wo die Nation schon voll formiert war und eventuell eine Eigenstaatlichkeit besaß (Deutsche, Rumänen, Magyaren etc.). Dort, wo sich die nationalen Formierungsprozesse erst im Stadium der nationalen Agitation befanden, war auch die Unterstützung der „eigenen" Minderheiten durch die „Mutter-Nation" weniger massiv. Die Intensität der Einstellung der „Mutter-Nation" wurde noch durch einen anderen Umstand bedingt. Wie hat sich diese Nation selbst definiert? War es durch gemeinsame Herkunft oder durch die staatliche Zugehörigkeit? Hier begegnen wir einem wesentlichen Unterschied zwischen der „östlichen" und der „westlichen" Auffassung der nationalen Zugehörigkeit. Während die Deutschen und die Magyaren durch ihre Herkunft ohne Rücksicht auf staatliche Zuordnung des Geburts- und Wohnortes definiert wurden, bestimmte die Staatsangehörigkeit im Falle der Franzosen und Briten darüber, wer zur Nation gezählt wurde. Dieser Unterschied hat ganz wesentlich die Beziehungen zu den nationalen Minderheiten bestimmt. In der „östlichen" Auffassung wurden die anderssprachigen Minderheiten auf eigenem Territorium als unbequeme, zur Assimilierung verurteilte Fremdkörper betrachtet, während die gleichsprachigen, im Ausland lebenden als Mitglieder des „eigenen" nationalen К0фег5 gefördert und in ihren Forderungen unterstützt werden mußten. Dies war eine der Besonderheiten, durch welche die Minderheitenfrage ausgerechnet im Herzen Europas verschärft wurde. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, daß die hier genannten drei Betrachtungsebenen zugleich als drei Machtfaktoren bezeichnet werden können. Von ihrem gegenseitigen Verhältnis war auch die „Lösung" der Minderheitenfrage wesentlich abhängig. Das gilt vor allem seit jener Zeit, da diese Frage zum Bestandteil der internationalen Beziehungen geworden ist. Dieses Verhältnis kann wieder unter zwei Gesichtspunkten untersucht werden: als Komponente der Machtpolitik und als Problem der Mentalitäten. Machtpolitisch gesehen war vor allem von Bedeutung, in welchem Kräfteverhältnis die herrschende Staatsnation und die „Mutter-Nation" standen. Unter diesem Gesichtspunkt können wir als Modell drei Situationen voraussetzen: 1. die „Mutter-Nation" war deutlich stärker als die Staatsnation, auf deren Gebiet die nationale Minderheit lebte; 2. die herrschende Staatsnation war deutlich stärker als die „Mutter-Nation"; 3. es gab keine wesentliche Übermacht der einen oder der anderen. Die erstgenannte Situation war für das Aufkommen der Minderheitenbewegung sehr günstig und ermöglichte es, als politisches Ziel dieser Bewegung eine volle Sezession, das heißt eine Grenzrevision zu formulieren - natürlich unter der Voraussetzung, daß die geopoliüschen Umstände günstig waren. Eine Sezession war im Falle der „border-minority" viel einfacher als im Falle der Sprachinsel und unmöglich im Falle einer verstreuten ethnischen Minderheit.
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Die Lösung der Minderheitenfrage der Deutschen in Böhmen und Mähren und der Magyaren in der Slowakei gehört zu den einfachsten und am besten bekannten Beispielen. In der zweiten der genannten Situationen galt alles umgekehrt. Die ethnische Minderheit konnte in ihrer Emanzipationsbewegung nur mit geringer Hilfe von selten ihrer „MutterNation" rechnen und hatte oft schon in der Agitationsphase Schwierigkeiten damit, die Identität der eigenen Minderheit mit Hilfe der „Mutter-Nation" zu verbreiten bzw. durchzusetzen. Der Trend ging in diesem Fall eher zur Assimilierung als zur politischen Emanzipation, insbesondere dann, wenn die Minderheit keine oder fast keine historischen Bindungen zur „Mutter-Nation" besaß. Die dritte der Situationen war wohl die komplizierteste. Die Minderheitenbewegung konnte den Widerstand der herrschenden Eliten nur überwinden, indem sie ihre Mitglieder mobilisierte. Ihr Erfolg war jedoch vom Konsens der beiden beteiligten Seiten abhängig. Einen dauerhaften und erfolgreichen Konsens kennen wir nur im schwedisch-finnischen Verhältnis und, nach einem langen Streit, auch im Falle von Südtirol. Sonst haben wir es meist mit einer gefährlichen Dauerkrise zu tun, die in offene Gewalt münden kann. Erinnern wir an die deutsche Minderheit in Polen, die magyarische in Rumänien oder an Jugoslawien. Wie schon in unserer Typologie erwähnt, finden wir in Mitteleuropa noch eine andere Minderheit, die in keine dieser drei Situationen paßt. Es ist jene nationale Minderheit, die sich auf keine „Mutter-Nation" stützen konnte und deren Minderheitenbewegung eigentlich mit einer nationalen Bewegung zusammenfiel. Das war bei den Sorben der Fall, wo es zwar eine Nation - die tschechische - gab, die als „Ersatz" einer „Mutter-Nation" wirkte, wo diese Wirkung jedoch angesichts der Kraft der herrschenden deutschen Staatsnation nur sehr begrenzte Resultate zeitigte. Die ethnische Insellage brachte in dieser Hinsicht noch einen weiteren Nachteil. Es gibt nur eine mitteleuropäische Parallele zum sorbischen Fall - die Slowenen. Sie lebten allerdings nicht in einer Insellage und konnten außerdem wenigstens teilweise die südslawische Solidarität nutzen. Die Minderheitenlage war nicht nur durch machtpolitische Beziehungen bestimmt, sondern auch durch Mentalitäten und Traditionen. In diesem Zusammenhang sei an die Rolle des Geschichtsbewußtseins und der historischen Mythen erinnert. Hier vor allem treten die Unterschiede zwischen den durch erfolgreiche Nationalbewegungen voll formierten Nationen und den auf dem Niveau der ethnischen Gruppe gebliebenen Bevölkerungsteilen deutlich hervor. Wo man sich mit einer Nation identifizierte, übernahm man auch ihre nationalen Stereotype und Vorurteile. Die Last der Geschichte wirkte insbesondere in einem spezifischen Fall besonders schwer: dort, wo die Mitglieder der ehemals herrschenden Staatsnation in die Lage einer Minderheit versetzt wurden, wie die Deutschen in Polen und in der Tschechoslowakei oder die Magyaren in Rumänien, in Jugoslawien und der Slowakei während der Zwischenkriegszeit. Die Analyse der Mentalitäten wie auch der Erfolge bei der nationalen Mobilisierung der Minderheiten sollte eine weitere wichtige Charakteristik nicht außer acht lassen: die soziale Struktur der nationalen bzw. ethnischen Minderheit. Die systematische komparative Untersuchung der Zusammenhänge zwischen der sozialen Struktur und dem politischen Programm zeigt uns recht überzeugend, daß hier eine Analogie zu den nationalen Bewegungen besteht. Diejenigen Minderheiten, welche auf die wenig kommunizierten und wenig mobilen Dorfgemeinden beschränkt waren, wurden - wenn überhaupt - später national aktiviert als diejenigen, zu denen eine städtische Mittelschicht oder sogar eine akademisch gebildete Intelligenz, Unternehmer und Großgrundbesitzer gehörten. Vor allem waren die politischen
Minderheiten als Problem der vergleichenden Nationalismusforschung
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Forderungen mit der Teilnahme der höheren Bevölkerungsschichten und der potentiellen Träger politischer Macht verbunden. Bei den vorwiegend aus der wenig gebildeten Dorfbevölkerung bestehenden Minderheiten konnte eigentlich nur der Einsatz der Agitatoren von außen, das heißt aus den Reihen der Eliten der „Mutter-Nation", eine Politisierung hervorrufen. In diesem Beitrag werden vor allem diejenigen nationalen Minderheiten berücksichtigt, deren Schicksal und Aktivitäten den Verlauf der mitteleuropäischen Geschichte wesentlich mitbestimmten. Es gab jedoch auch Minderheiten, die als zerstreute Bevölkerung meist ohne politische Relevanz geblieben sind. Wenn man auch ihre Einstellung in Betracht zieht, kann man eine von Anthony Smith ausgearbeitete Liste möglicher Strategien der ethnischen Minderheiten folgendermaßen modifizieren: 1. die Isolierung unter Beibehaltung der Eigenart (die armenische Diaspora in Galizien); 2. die Mitglieder der Minderheit leben in zwei Welten: sie akkomodieren sich im Milieu, in dem sie sich bewegen, behalten aber ihre kulturellen Besonderheiten bei (großer Teil der jüdischen Gemeinden); eine Modifizierung dieses Verhaltens war die volle Teilnahme am kulturellen und politischen Leben der Staatsnation unter Beibehaltung des Bewußtseins einer anderen Identität; 3. kultureller Autonomismus, das Verlangen nach sprachlicher und kultureller Autonomie im Rahmen der gegebenen Staatsnation; 4. das allgemein als „typisch" betrachtete Bemühen der Minderheiten um politische Trennung von der ihnen fremden Staatsnation und um Verbindung mit der „Mutter-Nation", also der sogenannte Separatismus und Irredentismus.^ Fassen wir zusammen: Zunächst soll betont werden, daß dieser Beitrag vor allem methodische Ziele verfolgte. Es sollte demonstriert werden, daß das Problem der Minderheiten keine Sache der moralisierenden narrativen Geschichtsforschung sein kann, sondern daß es sich um ein Problem handelt, das - ebenso wie die nationalen Formierungsprozesse - systematisch und strukturell zu fassen ist. Andererseits gibt es kein einfaches, allgemein anwendbares Modell und keine allgemein gültige Lösung des Minderheitenproblems. Im Prinzip ist es schon per defmitionem klar, daß es keine volle und endgültige „Lösung" des Minderheitenproblems geben kann, sondern nur partielle, mehr oder weniger zufriedenstellende Lösungen. Was machbar und notwendig ist, betrifft die Erforschung der ethnischen und nationalen Minderheiten. Diese komparative Forschung muß vor allem die Objekte ihrer Aufmerksamkeit typologisch unterscheiden und den Vergleich innerhalb einzelner Typen vornehmen. Dabei sollten auch die Ziele des Vergleichs dem gegebenen Typus der Minderheit angepaßt werden. Vor allem müssen die auf dem Weg zur Nation befindlichen non-dominant ethnie groups von den Minderheiten im eigentlichen Sinne des Wortes unterschieden werden. Die Analyse muß mit mehreren Variablen rechnen, die teilweise miteinander kombinierbar sind und in drei Reihen gegliedert werden können. Eine Reihe von Variablen bilden die Einstellungen und Reaktionen der Mitglieder der Minderheit, der Staatsnation und der „Mutter-Nation", zu denen noch die anderen äußeren Einflüsse hinzuzuzählen sind. Eine weitere Reihe bilden die sozialen Strukturen der Minderheiten, die von Fall zu Fall markante Unterschiede sowohl untereinander wie auch im Vergleich mit der herrschenden Staatsnation aufweisen. Weitere Variablen gehören in die Kategorie der Mentalitäten, wie das Konzept der 5 Anthony D. Smith, The Ethnic Revival in the Modem World, Cambridge UP 1981, S. 15 ff.
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Nation, die unterschiedlichen kulturellen Traditionen, Unterschiede im Bildungsniveau, die historische Erfahrung (kollektives „Gedächtnis"), die Stereotype über die anderen Nationen usw. Die Kombination unter diesen drei Reihen von Variablen sollte dann die eigentliche Spezifik der betreffenden Minderheit dadurch bestimmen, daß wir sie in ein aus dieser Kombination zusammengestelltes Raster einordnen. Dies bleibt jedoch eine Aufgabe der weiteren koordinierten Forschung. Abschließend sollte nochmals unterstrichen werden, daß die nationale Minderheit im Unterschied zur ethnischen Minderheit ein Resultat bzw. ein „Nebenprodukt" der erfolgreichen nationalen Formierungsprozesse unter den Bedingungen der entstehenden (oder bestehenden) bürgerlichen Gesellschaft war. Dadurch gestaltete sich schon im Kem ihrer Existenz der bis heute kaum lösbare Widerspruch zwischen dem Prinzip der bürgerlichen Gleichheit und dem Prinzip der Gleichheit der Nationen. Mit anderen Worten: zwischen dem Prinzip der individuellen Bürgerrechte und dem der kollektiven (nationalen) Gruppenrechte. Unter den Bedingungen des bürgerlichen Nationalstaates besteht für die nationale Minderheit - falls sie sich nicht völlig assimilieren will - keine Chance auf eine volle und restlose Gleichheit mit den Mitgliedern der dominierenden Staatsnation. Die nationale Minderheit muß sich mit dieser Tatsache abfinden und sollte keine absolute Gleichheit ohne Kompromisse fordern. Stets werden gewisse Defizite bleiben, und es ist eine Frage der politischen Kultur, ob diese Defizite so weit minimalisiert werden, daß sie sowohl für die Mitglieder der Minderheit wie auch für ihre „Mutter-Nation" erträglich sind. Allerdings gibt es weder für die Geschichte noch für die Gegenwart eine für alle nationalen Minderheiten und alle Nationalstaaten anwendbare und annehmbare Liste verbindlicher Minderheitenrechte. Jeder Versuch, eine solche Liste von außen aufzuzwingen, das heißt ohne einen vorherigen inneren Konsens aller drei beteiligten Faktoren, war bisher erfolglos und bewirkte eher eine Verschärfung des Konflikts als die erstrebte „Lösung".
RUDOLF JAWORSKI
Nationalstaat, Staatsnation und nationale Minderheiten. Zur Wechselwirkung dreier Konstrukte
Wenn im Folgenden einige grundsätzliche Überlegungen zu dem Beziehungsdreieck Nationalstaat - Staatsnation - nationale Minderheiten angestellt werden, so bleiben sie allesamt auf das 19. Jahrhundert und die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges konzentriert, auf die Epoche also, in welcher alle drei Gemeinschaftsbildungen in der europäischen, insbesondere auch in der deutschen Geschichte normativen Rang erlangt haben. Die hier präsentierte Problemskizze möchte dabei modellhaft auf die engen wechselseitigen Zusammenhänge zwischen diesen bis heute bedeutsamen Gestaltungsformen kollektiven Zusammenlebens aufmerksam machen. Historische Bezugspunkte werden in erster Linie Preußen, das Deutsche Kaiserreich und die polnischen Bevölkerungsteile in den preußischen Ostprovinzen sein. Die Beschränkung ist nicht als Verkennung oder Bagatellisierung der übrigen Minderheiten in den deutschen Territorien des 19. Jahrhundert zu verstehen, diese exemplarische Vorgehensweise empfiehlt sich vielmehr gerade bei der hier gewählten Themenstellung. Denn mit der Polenfrage ist zugleich die unbestritten brisanteste Minderheitenfrage Deutschlands angesprochen. Schließlich war jeder zehnte Einwohner Preußens polnischer Herkunft. Nicht nur numerisch stellten aber die Polen im Deutschen Kaiserreich vor den Sorben, Dänen, Friesen und Litauern die Minderheitenfrage per se dar, sondern darüber hinaus auch wegen ihres vergleichsweise hohen Organisierungs- und Politisierungsgrades. Im herkömmlichen Sprachgebrauch, dem sich auch dieser Beitrag nicht völlig entziehen kann, ist fast durchgängig von „Minderheitenfragen" oder „Minderheitenproblemen" die Rede, wenn es um die hier interessierenden Konstellationen geht. Daß entsprechende Konflikte aber auch Komponenten enthalten, die auf Probleme der jeweils vorgeordneten Majoritäten bzw. Staatsgefüge verweisen, geht bei dieser Wortwahl unter. Sie enthält schon in der Begrifflichkeit die Vorannahme, es seien in erster Linie die Minderheiten, die ein Problem darstellten oder Probleme machten, und die darum besondere Aufmerksamkeit verdienten. Diese Einschätzung wird durch die Beobachtung gestützt, daß es häufig tatsächlich Minderheiten bzw. deren autorisierte Sprecher sind, die mit Protesten und Eingaben zuerst auf bestehende Mißstände und Konflikte hinweisen, während die Majorität bzw. die staatlichen Organe gewöhnlich nur reaktiv in Erscheinung treten. Dem äußeren Erscheinungsbild nach wirkt das Auftreten unzufriedener Minderheiten außerdem emotionaler, wenn nicht sogar aggressiver gegenüber der oftmals nüchternen, beschwichtigenden Haltung der Staatsnation bzw. Staatsgewalt, die nicht selten aus einer ausgesprochenen Defensivposition gegenüber
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den aus ihrer Sicht anmaßenden Forderungen einer unzufriedenen Minderheit zu reagieren scheint. Daraus wird ersichtlich, daß allein schon die Perspektive einer ausschließlich auf die Minderheiten begrenzten Forschung Gefahr läuft, die historische bzw. realpolitische Ausgrenzung von Minderheiten wissenschaftlich zu reproduzieren. Man kann sich nämlich intensiv mit den Besonderheiten und Binnenstrukturen von Minderheiten beschäftigen, doch wenn der funktionale Zusammenhang mit der dazugehörigen Majorität, das Verhältnis zu den gesamtstaatlichen Rahmenbedingungen nicht ausreichend bzw. sogar vorrangig zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, dann bleiben wesentliche Bestimmungsfaktoren des Minderheitenstatus ausgeblendet. Nationale Minderheiten können gesamtgesellschaftlich und gesamtstaatlich betrachtet gar keine in sich abgeschlossenen Einheiten sein, auch wenn sie gelegentlich nach außen hin so erscheinen, weil sie von außen her ausgegrenzt worden sind oder sich selber so verstehen. Minderheiten mögen noch so unverwechselbare Eigenheiten aufweisen bzw. exzeptionell rechtlich und sozial separiert und diskriminiert werden, sie bleiben auch mit diesen Merkmalen konstitutive Bestandteile derjenigen Gesellschaften und Staatsverbände, die ihnen als Bezugsrahmen und Lebenswelt gesetzt sind. Diese komplizierten Zusammenhänge, deren Erforschung mitunter erhebliche Schwierigkeiten bereitet, sind den betroffenen Minderheiten in der konkreten historischen Situation vielfach bewußter als den dazugehörigen Majoritäten. Man kann nämlich ohne weiteres behaupten, daß es kaum eine Minderheit gibt, die imstande wäre, ihre Lage und ihr Selbstverständnis völlig abgelöst von ihrem Verhältnis zur entsprechenden Staatsmacht und Majorität zu entwickeln. Zu omnipräsent, zu engmaschig und spürbar sind die daraus abgeleiteten Formen der Abhängigkeit und Fremdbestimmung, als daß sie einfach ignoriert werden könnten, reichen sie doch von der kulturellen Sphäre bis hin zur materiellen Reproduktion im Alltag. Andererseits erkennen Majoritäten in „ihrem" Nationalstaat von sich aus meistens keinerlei Veranlassung, ihr kollektives Selbstverständnis durch die Existenz von andersnationalen Minderheiten in irgendeiner Weise bestimmen oder modifizieren zu lassen. Als Staatsnationen sehen sie sich berechtigt und auch imstande, die generell gültigen Standards in allen Lebensbereichen festzulegen - in der selbstverständlichen Annahme, daß diese eben auch von nationalen Minderheiten als verbindliche Richtlinien angesehen und entsprechend respektiert werden. Nur wenn von dieser Seite Verweigerungen, Regelverstöße oder gar alternative Konzepte dagegen gehalten werden, also in ausgesprochenen Konflikt- und Krisensituationen, taucht überhaupt die Frage auf, inwieweit die Belange der betreffenden Majorität durch Minderheiten beeinträchtigt sein könnten. Und da derlei Reflexionen in der Regel unter dem Gesichtspunkt der Abweichung angestellt werden, sind auch sie nur in begrenztem Maße geeignet, das beiderseitige Verhältnis auf einer wirklich konsensfähigen Basis zu überdenken. Läßt man sich aber in der historischen Forschung auf solche Fragestellungen ein, so wirft die Minderheitenproblematik zugleich auch ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der dominierenden Majorität. Stefi Jersch-Wenzel hat in einem bemerkenswerten Aufsatz die Frage gestellt, inwieweit die Lage und die Behandlung von Minderheiten als Indiz für den Stand der Emanzipation von Mehrheitsgesellschaften genommen werden kann. Mit Blick auf das deutsche Bürgertum im 19. Jahrhundert schreibt sie dazu: „Wenn man davon ausgeht, daß politische und soziale Emanzipation Befreiung aus einem beschränkten Zustande bedeutet und das aktive Eintreten größerer Bevölkerungsgruppen nicht nur für die Verbesserung der
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eigenen Lebensbedingungen, sondern auch für die der bisher besonders benachteiligten Gruppen in einer Gesellschaft mit einschließen sollte, dann ist die Lage dieser Gruppen mit minderem Status ein überzeugender Indikator für den allgemeinen Stand der Emanzipation." Die Grundlagen für diese und andere Beziehungsmuster zwischen Staatsvolk und Minderheiten sind allesamt nicht vor dem 19. Jahrhundert gelegt worden. Man muß sich nur einmal vergegenwärtigen, daß selbst der Minderheitenbegriff in seiner modernen Bedeutung sogar noch später, nämlich in der Zwischenkriegszeit, allgemein gebräuchlich und rechtlich fixiert worden ist. Wir haben es demnach mit vergleichsweise jungen Gemeinschaftsformen und -konstellationen zu tun, die auf ihre Genese hin befragt werden müssen, will man nicht den nationalistischen Deutungsschemata der beteiligten Konfliktpartner aufsitzen und sie als schon immer dagewesene Gegebenheiten hinnehmen. Wie sind also Nationalstaaten, wie Staatsvölker und wie nationale Minderheiten entstanden und wie hängen diese Entstehungsprozesse miteinander zusammen? Wir wissen mittlerweile, daß selbst so alte europäische Nationen wie die der Franzosen, Engländer oder Spanier unter ethnischen Gesichtspunkten ursprünglich durchaus heterogen zusammengesetzt gewesen sind und daß auch Staats- und Mehrheitsvölker nicht von vornherein als solche in die Geschichte eingetreten, sondern erst durch Eroberungen, Unterwerfung und mehr oder weniger erzwungene Assimilation fremder Ethnien und autochthoner Bevölkerungsgruppen zustande gekommen sind. Insofern sind die modernen Nationen allesamt als Artefakte anzusehen, die entgegen ihren historischen Selbstdeutungen in ihren Ursprüngen widersprüchlich und uneinheitlich, in ihrer Konstituierung keinesfalls so alt und in ihrer Entwicklung keineswegs so zielgerichtet gewesen sind, wie es ihre Propagandisten des 19. Jahrhunderts hinzustellen pflegten. Die Anerkennung dieses Umstandes darf freilich nicht zu dem trügerischen Schluß verleiten, Nationen seien bloß „eingebildete Gemeinschaften" (imagined communities), also pure Kopfgeburten nationalistisch gesinnter Propheten und Eliten, weil sonst wichtige Faktoren nationsbildender Prozesse wie z. B. der soziale Wandel außer acht bleiben. Auch der moderne Nationalstaat, so wie wir ihn heute noch erleben und wie er im 19. Jahrhundert europaweit zum allgemein erstrebenswerten Modell avancieren sollte, stellt ein Konstrukt dar, das nicht etwa organisch aus dem Mittelalter herausgewachsen ist, sondern als Ergebnis konkreter politischer Umbrüche und Willenssetzungen in der Neuzeit anzusehen ist. Ähnliches gilt für die Genese nationaler Minderheiten, nur mit dem entscheidenden Unterschied, daß sie aufgrund spezifischer Schicksale nicht mit Staatsbildungen verkoppelt gewesen sind. Durch Eroberung, Zuwanderung, Flucht, Gebietsabtretungen u. ä. marginalisiert und in einen anders geprägten Staatsverband geraten, konstituierten sich solche ethnischen Gemeinschaften und Subkulturen, wenn sie gewillt und imstande waren, ihre kulturelle und sprachliche Identität auch in dieser fremden Umwelt zu erhalten und weiterzuentwickeln. Derartige Gruppenbildungen hat es in der Geschichte immer wieder gegeben, ohne daß ihnen bis in die Neuzeit hinein besondere historisch-politische Relevanz zugekommen wäre. Nationale Minderheiten im heutigen Wortsinn konstituierten sich erst in Wechselwirkung mit der modernen Nationsbildung der jeweiligen Majoritäten und mit der Formierung von Nationalstaaten. Friedrich Heckmann hat diesen wechselseitigen Wirkungszusammenhang 1992 in seiner Soziologie interethnischer Beziehungen in prägnanter Weise zum Ausdruck gebracht: „Ethnische Gruppen sind nicht gewissermaßen 'an sich' gesellschaftlich relevant, sondern gewinnen mit der Entstehung moderner Nation ihre spezifische Bedeutung, zugespitzt formuliert: Nationenbildung als umfassender Vereinheitlichungsprozeß und Nationalstaat schaffen
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eigentlich erst ethnische Gruppen und Minderheiten in ihrer gegenwärtigen Bedeutung; ethnische Gruppen werden zu Minderheiten, als sich .Mehrheiten' in Form von Nationen bilden." In vormodemen Zeiten definierten andere Zugehörigkeitskriterien wie Konfession, Dynastie, Stand, Territorium u.ä. vorrangig die Selbst- und Fremdabgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile und eben nicht ethnische Merkmale. Die ethnisch gemischte Zusammensetzung der altpolnischen Adelsgesellschaft oder die politische Bedeutungslosigkeit von Sprachgrenzen in Ostmitteleuropa bis in die frühe Neuzeit hinein belegen u. a. die Richtigkeit dieser These. Wenn dem so ist, dann können wir ethnische Gemeinschaften auch nicht länger umstandslos als ältere Vorstufen modemer Nationen betrachten. Denn hinter dieser in der einschlägigen Literatur nicht selten vertretenen Auffassung steht die zweifelhafte Annahme, ein erkennbares ethnisches Substrat und Gemeinschaftsgefühl berge in sich schon die Anlagen für nationsbildende Prozesse. Das ist aber keineswegs erwiesen und auf jeden Fall nicht generalisierbar. Außerdem läuft eine solche Deutung des Ethnikums Gefahr, denselben Mechanismen der Enthistorisierung zu unterliegen, wie sie uns in bezug auf die Nation bereits zur Genüge bekannt sind. Halten wir also fest: Sowenig es in vormodernen Zeiten ethnisch definierte Nationen gegeben hat - gegenteilige Behauptungen gehören allesamt in das Reich nachträglicher nationaler Mythenbildung - , sowenig hat es damals auch schon ethnisch definierte Minderheiten gegeben, höchstens Bevöikerungsgruppen von „minderem Status", die aber - und darauf kommt es hier an - in der Regel selbst in ihrer Stigmatisierung „Teil eines in sich gesellschaftlichen Gefüges waren mit einer gleichartigen Erklärung von Natur und Gesellschaft." (Stefi Jersch-Wenzel) Juden, Böhmische Brüder und Hugenotten sind beispielsweise noch in erster Linie als Glaubensgemeinschaften und weniger als Fremdstämmige wahrgenommen worden. Erste Weichenstellungen für das Ineinandergreifen von Staats-, Nations- und Minderheitenbildung brachte die Herausbildung frühneuzeitlicher Territorialstaaten mit sich, als zur Installierung einer kontinuierlichen Machtausübung das Gewaltmonopol des Staates geschaffen wurde, gestützt auf ein stehendes Heer, ein einheitliches Rechts- und Verwaltungssystem und das Abstecken klarer Staatsgrenzen. Damit waren wichtige Grundlagen für umfassende Vereinheitlichungsprozesse geschaffen, die im Zeitalter des Absolutismus noch eine weitere Steigerung erfahren sollten. Das Dreiecksverhältnis: Staat - Mehrheit Minderheit wurde dabei schon berührt, aber noch nicht zum zentralen Angelpunkt der Politik gemacht. Denn die Populationen der Territorialstaaten blieben zunächst kulturell und sprachlich heterogen, „ihre Zugehörigkeiten und Zusammenfassungen folgten nicht kulturellen Mustern, sondern waren Resultat der Machtpolitik von Fürsten beim Kampf um die Begründung, Festigung und Ausweitung von Territorien". (Friedrich Heckmann) Es waren rein pragmatische Gründe, welche die Fürsten bewogen haben, auf eine konfessionelle Einheitlichkeit ihrer Herrschaftsgebiete (cuius regio, eius religio) hinzuwirken, eine einheitliche Verkehrssprache in Wirtschaft und Verwaltung zu bevorzugen, später auch ein einheitliches staaüich kontrolliertes Bildungssystem u.ä. Alle diese Maßnahmen hatten zunächst noch wenig mit ethnischen Bestimmungsfaktoren zu tun, sondern waren in erster Linie von herrschaftstechnischen und etatistischen Gesichtspunkten geleitet und noch nicht vom Prinzip „cuius regio, eius natio". Bevölkerungsgruppen, die sich ethnisch von der Mehrheit des Staatsvolkes unterschieden, waren von dieser Vereinheitlichung zwar potentiell oder auch schon faktisch betroffen, aber noch nicht unmittelbar Adressaten solcher Unifizierungskonzepte und somit auch noch nicht Gegenstand gezielter Diskriminierung und Repression. Diese vor- bzw. anationale Staatsräson sollte beispielsweise in Preußen bis ins 19. Jahr-
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hundert, also bis ins nationale Zeitalter hinein, die Maximen der Polenpolitik mitbestimmen, wenngleich mit abnehmender Tendenz und mit Resultaten, die, wenn schon nicht in der Intention, so doch im Effekt germanisierend gewirkt haben. Kein Geringerer als der Konstrukteur des Deutschen Kaiserreiches, Otto von Bismarck, ist über die Zeit der Reichsgründung hinaus ein konsequenter Verfechter eines ethnisch indifferenten Staatspatriotismus geblieben. In Elsaß-Lothringen wie in Posen und Westpreußen war es ihm stets um eine strategisch-militärische Sicherung des Gesamtstaates zu tun und nicht um ethnisch motivierte Germanisierungsbestrebungen. Das wurde u. a. daraus ersichtlich, daß er z. B. die Polen nicht insgesamt wegen ihrer Nationalität für gefährlich erachtete, sondern lediglich ihre Eliten, den Klerus und den Adel, ausschalten wollte. Sie galten ihm als die eigentlichen Widersacher und Verfechter polnischer Sezessionsbestrebungen, die er um der Wahrung der preußischen Machtstellung und der gesamtstaatlichen Grenzen willen mit allen Mitteln zu durchkreuzen suchte. Wenn darum die Alldeutschen am Ende des 19. Jahrhunderts ihre rabiaten Germanisierungsprogramme gegenüber den preußischen Polen unter die Losung „Zurück zu Bismarck" stellten, so täuschten sie sich selber und der Öffentlichkeit eine Kontinuität vor, die es so nicht gegeben hat. Richtig bleibt freilich, daß sich mit der Gründung des Deutschen Reiches die Situation der nationalen Minderheiten generell verschlechtert hatte, allein schon deswegen, weil ihr Bevölkerungsanteil auf Reichsebene zwangsläufig geringer ausfiel als auf Länderebene. So machten die Polen nach 1871 nunmehr ca. 6,2% der gesamten Reichsbevölkerung aus. Und wenn das zweite Deutsche Kaiserreich zunächst einmal nicht als nationaler Staat des deutschen Volkes, sondern als „ewiger Bund der deutschen Fürsten" gegründet worden war, so setzten sich mit der Zeit doch nationalliberale Tendenzen immer mehr durch, die einen nationalstaatlichen Anpassungsdruck auf die „Fremdstämmigen" oder „Fremdsprachigen" innerhalb der Reichsgrenzen begünstigten. Während sich der Territorialstaat seinen Konstruktionsprinzipien entsprechend noch ziemlich gleichgültig in bezug auf die ethnische Zusammensetzung seiner Bevölkerung gezeigt hatte, so drängte der Nationalstaatsgedanke des 19. Jahrhunderts, wie im Falle Deutschlands, in letzter Konsequenz doch auf eine möglichst restlose Deckungsgleichheit von ethnischer Zugehörigkeit und staatlicher Organisation, d. h. auf eine allgemeine kulturelle Homogenisierung der Gesamtbevölkerung. Die Ethnisierung des deutschen Nationalstaatsgedankens war ja schon vor der Reichsgründung geschichtlich insoweit vorgegeben, als sich der frühe deutsche Nationalismus nicht an einer schon vorhandenen staatlich-politischen Ordnung ausrichten konnte, wie dies etwa in Frankreich zur Zeit der Französischen Revolution der Fall gewesen ist, wo es darum gegangen war, innerhalb bestehender Staatsgrenzen und bei einem ethnisch weitgehend homogenen Staatsvolk die Macht- und Systemfrage grundsätzlich neu zu stellen und vom Prinzip „l'état, c'est moi" zum Prinzip „l'état, c'est nous" zu gelangen. Vergleichbare Voraussetzungen waren in den deutschen Territorien bekanntlich nicht gegeben, und darum mußte hier zur Erreichung nationalstaatlicher Ziele auf vorstaatliche ethnische Kriterien wie Volk, Sprache und Kultur rekurriert werden. Damit waren wichtige ideologische Weichen gestellt, die auch den Umgang mit fremdnationalen Minderheiten maßgeblich mitbestimmen sollten. Jetzt erst wurden aus ethnischen Gemeinschaften nationale Minderheiten, deren Nichtdazugehören zu dem betreffenden Nationalstaat und der andersnationalen Bevölkerungsmehrheit fortan grundsätzlichen Charakter annahm und auch das Selbstverständnis der betroffenen Minderheiten prägen sollte. Das ethnische Kriterium setzt nämlich per se rigorosere, exklusivere und vor allem auch komplexere Maßstäbe für kollektive Zugehörigkeiten und Abgrenzungen als die Grup-
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penbindung politischer, sozialer und religiöser Gemeinschaften. Denn diese können prinzipiell durch Kooption erweitert bzw. durch partielle Anpassungsakte wie politischen Gesinnungswandel, soziale Statusveränderung oder Konfessionswechsel bewußt gewählt und gewechselt werden. Demgegenüber hat die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft eher etwas Unwillkürliches an sich; in sie wird man in der Regel hineingeboren und von frühester Kindheit an sozialisiert, nicht zuletzt durch die sogenannte „Muttersprache". Eine solche Gruppenzugehörigkeit aufgeben bzw. wechseln zu wollen, stellte im Zeitalter des Nationalismus, d. h. seit dem 19. Jahrhundert, einen so gravierenden Schritt dar, daß er mit kollektiver Ächtung bzw. mit ernsthaften Identitätskonflikten der Betroffenen einhergehen konnte. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, daß diese ideologische Fixierung auf das ethnische Substrat von Bevölkerungsgruppen gewöhnlich dann einsetzte, als die Bindungsfähigkeit ethnischer Gemeinschaften infolge modemer gesellschaftlicher und staatlicher Integrationsschübe de facto nachließ, in ideologisierter Form aber als quasinatürlicher Schein tendenziell anonymer werdender Lebenswelten unentbehrlich geworden war. Es ist aber keineswegs so, daß der Zwang zur ethnischen Definition immer nur einseitig von Seiten des Staates und des betreffenden Staatsvolkes auf die Minderheiten auszugehen brauchte. Entsprechende Impulse konnten auch in umgekehrter Richtung wirken. So ist beispielsweise die türkische Mehrheitsbevölkerung des Osmanischen Reiches erst durch die Emanzipationsbestrebungen peripherer Fremdvölker gezwungen worden, sich ethnisch zu definieren. Ähnliches läßt sich auch für die österreichischen Deutschen im Habsburgerreich behaupten. Das war auch gar nicht verwunderlich, denn die komfortable Stellung als Reichs Volk gab in den multinationalen Staatsverbänden des 19. Jahrhunderts von sich aus keinen Anlaß, die herrschenden Nationen zu veranlassen, sich ethnisch zu verstehen, was letztendlich nur auf einen Dominanzverlust hinauslaufen mußte. Staats- und Nationsbildung haben in der europäischen Geschichte bekanntlich sehr unterschiedliche Wege genommen, die mitunter sogar gegeneinander gerichtet sein konnten. Sie sind nirgends zeitgleich abgelaufen, und auch in der Aufeinanderfolge beider Prozesse lassen sich keine Gesetzmäßigkeiten ausmachen: Mal ging die Staatsgründung der Nationsbildung voraus, wie in Westeuropa, oder aber die Nationsbildung setzte vor der Staatsgründung ein, wie in Zentral- und Osteuropa. Auf jeden Fall handelte es sich stets um zwei deutlich voneinander unterscheidbare Vorgänge, die sich in bestimmten historischen Situationen überschneiden konnten, es aber nicht zwangsläufig mußten. Dennoch bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Idee heraus, jeder Staat müsse gleichsam als höchste Stufe seiner Vollendung danach streben, ein Nationalstaat zu werden, d. h. eine Deckungsgleichheit von Staat und Nation herzustellen, wie umgekehrt die Krönung jeder Nationsbildung in der Durchsetzung der Eigenstaatlichkeit angesehen wurde. Damit war ein starres politisches Entwicklungsschema formuliert, das insbesondere in ethnischen Misch- und Überschneidungszonen zu erbitterten Auseinandersetzungen führen sollte und dann in letzter Konsequenz in unserem Jahrhundert für die unmenschlichen ethnischen „Säuberungsaktionen" mitverantwortlich zu machen ist. Diese Denkschemata setzten aber nicht nur für etablierte Staaten den normativen Rahmen, sondern genauso für staatenlose Nationalitäten - also auch für nationale Minderheiten, die sich ihrerseits nicht selten als verhinderte Staatsnationen verstanden. Wie ähnlich und damit zugleich auch diametral entgegengesetzt die Ambitionen von Nationalstaaten auf der einen und nationalen Minderheiten auf der anderen Seite sein konnten, läßt sich am Beispiel des polnischen Bevölkerungsanteils Preußens besonders plastisch veranschaulichen. Denn seit
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der Einverleibung westpolnischer Territorien in Preußen und später in das Deutsche Kaiserreich sind ja die Repräsentanten der Polen zu keiner Zeit als Minderheitensprecher im engeren Sinne aufgetreten, sonder als Advokaten einer zu Unrecht dreigeteilten Staatsnation mit einer im Vergleich zum damals noch traditionsarmen Preußen viel imponierenderen historischen Vergangenheit. Im preußischen Teilungsgebiet ging es deshalb weniger um die Sicherung begrenzter Minderheitenrechte, sondern um die Frage, wie lange und mit welchen Mitteln der Fremdherrschaft Widerstand entgegenzusetzen war. Die preußisch-deutsche Eingliederungspolitik hatte es also von Anfang an mit einer selbstbewußten polnischen Opposition zu tun, die im Laufe des 19. Jahrhunderts auf breitere Gesellschaftsgruppen übergegangen und damit zu einer modernen Nationalbewegung geworden war, die sich ihrerseits dem Ideal eines ethnisch einheitlichen Nationalstaates im Verbund mit den übrigen polnischen Territorien außerhalb der preußisch-deutschen Staatsgrenzen annäherte. Obwohl damit langfristig ein konfliktträchtiges Beziehungsmuster zwischen Staat und Minderheit angelegt war, reichte es für sich genommen noch nicht aus, eine eskalierende Dynamik zu entfesseln. Sicher ist das Verhältnis zwischen einer nationalen Minderheit und einem durchorganisierten Staat prinzipiell von Spannungen und einem drastischen Ungleichgewicht gekennzeichnet, wobei nahezu alle Förderungs-, Kontroll- oder Sanktionsmöglichkeiten auf staatlicher Seite konzentriert sind, während die nationale Minderheit mit ihrer in der Regel schwächer ausgebildeten Infrastruktur dem kaum etwas Ebenbürtiges entgegenzusetzen hat. Diese für sich genommen banale Feststellung ist deswegen so wichtig, weil sie uns auf ein Unverhältnis aufmerksam macht, das noch jenseits einer Ethnisierung des Nationalstaatsgedankens und einer nationalpolitischen Mobilisierung der Majoritäten vorhanden ist und auch ohne mutwillige staatliche Diskriminierungsakte gegenüber Minderheiten Wirkung zeigt. Dessenungeachtet kann das wechselseitige Verhältnis zwischen Staat und Minderheit für sich genommen sehr wohl auch positiv von Fürsorglichkeit auf der einen und Loyalität auf der anderen Seite gekennzeichnet sein. Das ändert sich meistens dann, und zwar eindeutig in negative Richtung, wenn sich die betreffende Minderheit bzw. deren Sprecher nicht mehr nur dem übergeordneten Staat und seinen Repräsentanten gegenübersieht, sondern zusätzlich noch der dazugehörenden Staatsnation. So hatte der deutsch-polnische Gegensatz in den preußischen Ostprovinzen auffällig an Schärfe zugenommen, als die polnische Minderheit fortan auf deutscher Seite nicht mehr bloß mit den preußischen Aufsichtsbehörden zu rechnen hatte, sondern darüber hinaus auch noch mit einer antipolnisch gesinnten Publizistik und mit antipolnischen Vereinigungen wie dem „Alldeutschen Verband" (gegründet 1895) und dem „Ostmarkenverein" (gegründet 1894). Die Beziehungen zwischen Staat und Minderheit sind in erster Linie durch Gesetze und Vorschriften geregelt, d. h. formalisierter Natur, es betrifft zwei zwar aufeinander bezogene, aber letztendlich doch unvergleichbare Gemeinschafts- und Organisationstypen, die niemals in ein rivalisierendes Gegeneinander geraten können. Eben dies ist aber im Verhältnis zwischen nationaler Minderheit und Staatsnation nicht mehr garantiert, sobald sich beide ethnisch definieren. Dann kommt es unweigerlich zu sich gegenseitig ausschließenden, weil gleichartigen Forderungen und damit zu notorischen Kollisionen, die nun viel heftiger sind, weil sie horizontal zwischen ganzen Bevölkerungsgruppen ausgetragen werden. Das heißt: Erst ab dem Moment, als Deutsche und Polen sich in den preußischen Ostprovinzen wechselseitig und pauschal als Rivalen in allen Lebensbereichen wahrnahmen und anfingen, ihre Geburtsraten, Schulabschlüsse und Handelsbilanzen gegeneinander aufzurechnen, erst von diesem Zeitpunkt an wurde das beiderseitige Verhältnis wirklich unerträglich.
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Greift dann noch der Staat wie in Preußen zugunsten der Majorität ein, so ist die totale Konfrontation vorprogrammiert, denn dann kommt es zu einer schwer korrigierbaren Ethnisierung allgemeiner Problemlagen bis in den Alltag hinein, dann scheint es für Minderheit und Mehrheit nur noch um Wahrung „nationaler Lebensinteressen" und „nationaler Selbsterhaltung" zu gehen. Sind erst einmal solche ideologischen Schützengräben bezogen, dann bleibt für Abstriche an eigenen Forderungen oder gar Zugeständnisse an den Konfliktpartner sowie für Kompromisse jeglicher Art nur noch wenig Raum, da solche Schritte allesamt als Verrat an der „nationalen Sache" gelten und somit in der Regel gar nicht versucht werden. Während bei den vertikal zwischen Staatsmacht und Minderheitenvertretern ausgetragenen Konflikten noch relativ einfach zu bestimmen war, welche der beiden Konfliktparteien sich im Angriffs- und welche im Verteidigungszustand befand, ist bei der zuletzt beschriebenen Konstellation viel schwieriger auszumachen, von welcher Seite die größten Aggressionen ausgehen, da sich Mehrheit wie Minderheit gleichermaßen wegen tatsächlicher wie vermeintlicher Bedrohungsgefahr zu höchster Kampfbereitschaft aufgerufen fühlen. Liest man beispielsweise die einschlägige deutsche Publizistik zur Polenfrage gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so könnte man fast den Eindruck gewinnen, nicht die Polen, sondern die Deutschen seien in ihrer Existenz gefährdet gewesen. Wenn alle diese Beobachtungen zutreffen, dann ist das entscheidende Konfliktpotential also weniger im Verhältnis zwischen dem modernen Staatsapparat und den nationalen Minderheiten angelegt, sondern vielmehr in der direkten Konfrontation zwischen Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft, wenn ihre Gruppenloyalitäten ethnisch definiert sind und ihre kollektiven Zielvorstellungen frontal und unversöhnlich aufeinander prallen. Maximalistisch vorgetragen können derartige Ansprüche zu letztendlich nicht mehr kompromißfähigen Positionen zwischen Majorität und Minorität im Rahmen ein- und desselben Staatsverbandes führen, da identische Ziele exklusiv und unter bewußter Nichtbeachtung bzw. Nichtanerkennung gemeinsamer Lebenszusammenhänge verfochten werden.
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WiTOLD MOLIK
Die preußische Polenpolitik im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Überlegungen zu Forschungsstand und -perspektiven
In der Forschung zur preußischen Politik in den polnischen Gebieten lassen sich einige Entwicklungsetappen unterscheiden. Die erste Etappe umfaßt die Teilungszeit. Die Abhandlungen aus dieser Zeit sind größtenteils ein Resultat der damaligen politischen Interessenlagen. Die deutschen Forscher konzentrierten sich vor allem auf die Darstellung der Ereignisse und Veränderungen, welche ihrer Meinung nach die preußische Herrschaft über die polnischen Gebiete nach 1772 legitimieren sollten.' Dagegen stand die sich bei der preußischen Regierung abzeichnende Tendenz zur Entnationalisierung der polnischen Bevölkerung und die Vermittlung wirksamer Abwehrmaßnahmen im Mittelpunkt der damaligen polnischen Forschung und Publizistik. Historiker beider Nationalitäten beschäftigten sich ferner mit den aktuellen Ereignissen, die sie nicht selten als Augenzeugen oder Teilnehmer erlebten. Da ihnen die nötige Distanz zu den Ereignissen fehlte, konnten sie sie weder richtig einschätzen noch hinreichend erklären. Mehr noch: Oft schrieben sie im Bewußtsein, daß ihre Schriften als Waffen im Nationalitätenkampf eingesetzt werden konnten. Ungeachtet dessen erschienen bereits zu dieser Zeit erste Gesamtdarstellungen, die die preußische Polenpolitik vom Wiener Kongreß bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts thematisierten. Bei den Detailuntersuchungen galt das Hauptinteresse der Forscher hauptsächlich der Wende zum 19. Jahrhundert und der Revolution von 1848. Viele der damals entstandenen Werke und Quelleneditionen zur Geschichte Südpreußens (1793-1806) und Westpreußens haben bis heute ihren wissenschaftlichen Wert nicht verloren.' Im Hinblick auf die Forschungsmöglichkeiten hatten die deutschen Historiker eine ungleich bessere Position: Sie konnten im Unterschied zu den polnischen Historikern zum einen Akten der preußischen 1 Siehe u. a. A. Boguslawski, Fünfundachtzig Jahre preußischer Regierungspolitik in Posen und Westpreußen von 1815 bis 1900. Geschichtliche Skizze, Berlin 1901 ; Max Bär, Westpreußen unter Friedrich dem Großen, 2 Bde, Leipzig 1909; Ch. Meyer, Geschichte des Landes Posen, Posen 1881. 2 K. Rakowski, Dzieje Wielkiego Ksiçstwa Poznanskiego w zarysie (1815-1900), Krakow 1904; Józef Buzek, Historya polityki narodowosciowej rz^du pruskiego wobec Polakow od traktatów wiedenskich do ustaw wyj^tkowych ζ roku 1908, Lwow 1909. 3 Rodgero Prümers, Das Jahr 1793. Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der Organisation Südpreußens, Posen 1895; ders.. Die Stadt Posen in südpreußischer Zeit, Posen 1912; Paul Schwarz, Die preußische Schulpolitik in den Provinzen Südpreußen und Neuostpreußen 1795-1806, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts, Berlin 1911.
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Behörden einsehen, zum anderen waren sie als Universitätsprofessoren, Gymnasiallehrer oder Archivare materiell abgesichert. Da es keine polnische Universität gab und der Zugang zu Stellen in Gymnasien für Polen stark reglementiert war, konnte auch kein ansehnlicher polnischer Historikerkreis im preußischen Teilungsgebiet entstehen." In der Zeit zwischen den Weltkriegen wurde die Erforschung der preußischen Polenpolitik ein gutes Stück vorangebracht. Das faktographische Wissen und - wenngleich in einem geringeren Maße - auch interpretatorische Ansätze wurden erweitert. Zu einer Annäherung der deutschen und polnischen Geschichtsschreibung kam es jedoch nicht. Kennzeichnend war immer noch die Dienstbeflissenheit gegenüber den aktuellen Bedürfnissen der Politik, die ein beträchtlicher Teil der damaligen Historiker an den Tag legte. Die deutschen Forscher - von wenigen Ausnahmen abgesehen - versuchten, die preußische Politik gegenüber der polnischen Bevölkerung in einem positiven Licht darzustellen. Bemängelt haben sie höchstens die Inkonsequenzen in ihrer Durchführung. Dagegen übten die polnischen Historiker scharfe Kritik an dieser Politik.'' Es gab auch Differenzen anderer Art. Während deutsche Historiker den Versuch einer komplexen Darstellung und Beurteilung der preußischen Polenpolitik in der Teilungszeit sowohl im Rahmen der deutschen Geschichte als auch als Gegenstand von Einzelstudien keineswegs scheuten', traute sich mit Ausnahme von Józef Feldman' noch keiner der polnischen Geschichtsschreiber diese Aufgabe zu. In den 1930er Jahren konnten aber polnische Historiker, die vor allem der jüngeren Generation angehörten, beachtliche Leistungen vollbringen, indem sie innovativ neue Forschungsansätze und -methoden erprobten.^ Dies zeigte sich in Untersuchungen zu Ursachen und sozialwirtschaftlichen Erscheinungsformen der Germanisierungspolitik. Alles in allem ist jedoch festzustellen, daß die Forschung zur preußischen Politik gegenüber der polnischen Bevölkerung in der Zeit zwischen den Weltkriegen noch an der traditionellen Geschichtsschreibung festhielt. Sie erreichte nicht den Entwicklungsstand, den sie durch neue methodische Erkennntnisse in der Geschichtswissenschaft und den Zugang zu neuen Archivbeständen hätte erreichen können. Insbesondere deutsche Forscher erhielten die
4 Witold Molik, Dzieje Wielkopolski pod panowaniem pruskim jako przedmiot hadan historycznych, in: О uprawianiu i znaczeniu historii regionalnej, Ciechanów-Toruñ 1991, S. 54 ff. 5 Lech Trzeciakowski, Polityka Prus na polskich ziemiach zachodnich w XIX w. w historiografii polskiej i niemieckiej, in: Stosunki polsko-niemieckie w historiografii, 2. Teil, pod red. J. Krasuskiego, G. Labudy i Α. Walczaka, Poznan 1984, S. 223-224. 6 Siehe u. a. Manfred Laubert, Die preußische Polenpolitik von 1772-1914, Berlin 1920; Friedrich Schinkel, Polen, Preußen und Deutschland, Breslau 1931; Hans Wendt, Bismarck und die polnische Frage, Halle (Saale) 1922; Hans Rothfels, Bismarck und der Osten, Leipzig 1934; Hermann Oncken, Preußen und Polen im 19. Jahrhundert, in: Deutschland und Polen. Beiträge zu ihren geschichtlichen Beziehungen. Hrsg. von Albert Brackmann, Berlin 1933; W. Münstermann, Die preußisch-deutsche Polenpolitik der Caprivizeit und die deutsche öffentliche Meinung, Münster 1936; Friedrich Lorenz, Die Parteien und die preußische Polenpolitik 1885-1886. Ein Beitrag zur Parteigeschichte des Bismarck-Reiches, Halle 1938; W. Kohte, Deutsche Bewegung und preußische Politik im Posener Lande 1848-49, Posen 1931. 7 Józef Feldman, Bismarck a Polska, Krakow 1938. 8 Siehe vor allem: Wiktor Sukiennicki, Pruska polityka kolonizacyjna na ziemiach polskich 1886-1919, Warszawa 1931; Stefan Kieniewicz, Spoleczenstwo polskie w powstaniu poznanskim 1848 roku, Warszawa 1935.
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Möglichkeit, die Akten der preußischen Amtsstellen zur Nationalitätenpolitik in den Ostprovinzen einzusehen, wovon sie aber nur in bescheidenem Maße Gebrauch machten.' Dies ist auch deswegen anzumerken, weil ein großer Teil dieser Akten im Zweiten Weltkrieg verlorenging. Die Periode des Zweiten Weltkriegs kann übergangen werden, da die damals veröffentlichten Arbeiten der deutschen Historiker weder faktographisch noch bezüglich der Interpretation und Deutung neue Erkenntnisse brachten, sieht man vom unrühmlichen Gebrauch der nationalsozialistischen Rhetorik in Publikationen von Manfred Laubert und anderen Forschern , 10 ab. Für die nächste über 40 Jahre währende Etappe (1945-1989) waren Schwankungen in der Intensität der Arbeit kennzeichnend. Die Unterschiede zwischen Polen und den beiden deutschen Staaten in bezug auf die institutionellen Organisationsformen dieser Forschungsrichtung wurden immer größer. Infolge der Verschiebung der polnischen Westgrenze entstanden neue Forschungszentren, die sich mit der Problematik der deutsch-polnischen Beziehungen, darunter der preußischen Polenpolitik in den Teilungsgebieten, befaßten. An die Seite der Universität Posen, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen in diesem Bereich führend war, traten die Universitäten in Breslau und Thorn, später auch in Danzig und Kattowitz, hinzu kamen neue Forschungsinstitute, u. a. das Westinstitut in Posen, das Schlesische Institut in Oppeln und das Wojciech-Kçtrzynski-Institut in Alienstein. Der Erweiterung der institutionellen Basis folgte der Ausbau des wissenschaftlichen Personalbestands. Von großer Bedeutung für die Forschung war die Öffnung der DDR-Archive für polnische Historiker, da sie dort Akten der preußischen Behörden einsehen konnten." Auch die Zahl der in den bundesrepublikanischen Archiven forschenden polnischen Wissenschaftler nahm seit den sechziger Jahren kontinuierlich zu. Die Mehrheit der polnischen Historiker war inzwischen auf die Theorie des historischen Materialismus eingeschworen worden, was eine Orientierung auf partei- und staatskonforme Themen zur Folge hatte. So wurden einige Probleme - etwa die Bedeutung der polnischen Arbeiterbewegung im preußischen Teilungsgebiet - aufgebauscht und die aufgezwungenen methodischen Schemata peinlichst befolgt. Die Neuorientierung hatte aber auch ihre positive Seite: Durch die Einbeziehung der früher nicht berücksichtigten sozialen und wirtschaftlichen Fragen wurde das Inteφretationsfeld der dargestellten Ereignisse und Prozesse wesentlich erweitert. In der Bundesrepublik wurde die Forschung zur preußischen Polenpolitik in den ersten Nachkriegsjahren hauptsächlich von Historikern der älteren Generation um den Göttinger Arbeitskreis betrieben, die eine „konservative bzw. rechtsliberale Orientierung" in der deutschen Historiographie vertraten. Ohne die These von der Kontinuität in der Geschichte Deutschlands expressis verbis abzulehnen, blieben sie ihren Interpretationsmustern aus der Vorkriegszeit treu und versuchten wie schon früher, die Beteiligung Preußens an den Teilungen Polens sowie den Germanisierungskurs zu rechtfertigen.'^ Sie behaupteten, daß die
9 Lech Trzeciakowski, Polityka P r u s . . S . 169-170. 10 Manfred Laubert, Die preußische Polenpolitik von 1772-1914, 2. Aufl., Krakau 1944. Siehe: Franciszek Paprocki, Polonica w archiwach Niemieckiej Republiki Demokratycznej (wyci^gi ζ inwentarzy archiwalnych), in: Studia i Materiaiy do Dziejów Wielkopolski i Pomorza, 5(1959) 1, S. 161-219. 12 Lech Trzeciakowski, Polityka Prus..., S. 226 ff.
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preußische Politik gegenüber den polnischen Untertanen einen defensiven Charakter hatte und dem Zweck der Verteidigung der bedrohten deutschen Bevölkerung diente.'^ Eine Wende trat erst Anfang der sechziger Jahre ein, als Historiker der jüngeren Generation in einer Reihe von V e r ö f f e n t l i c h u n g e n die bis dahin vorherrschenden M e i n u n g e n zur Germanisierungspolitik gegenüber der polnischen Bevölkerung einer kritischen Prüfung unterzogen und zu dem Ergebnis kamen, daß diese Politik den Erwartungen entgegengesetzte Folgen zeitigte."* Günstige Bedingungen für die Forschung zur preußischen Polenpolitik in der D D R gab es nur vom Ende der fünfziger bis zum Anfang der sechziger Jahre. Es erschienen einige quellenmäßig gut fundierte Monographien, in denen die Germanisierungspolitik ebenfalls einer scharfen Kritik unterzogen wurde; allerdings waren diese Publikationen stark von marxistischer Phraseologie durchsetzt.'^ Im ganzen gesehen gab es in den beiden deutschen Staaten - im Unterschied zu Polen - nur einen recht kleinen Historikerkreis, der sich hauptberuflich mit der Problematik der Germanisierungspolitik, den Formen der nationalen Abwehr der Polen und mit der deutschen Bevölkerung in den Ostprovinzen beschäftigte. Es waren nur wenige Lehrstuhlinhaber und wissenschaftliche Mitarbeiter, die an den Universitäten, Forschungsinstituten bzw. Seminaren für osteuropäische Geschichte angestellt waren. D i e s war für die Verschiebung des Schwerpunkts der Aktivitäten auf die polnische Geschichtsschreibung ausschlaggebend. D i e polnischen Forscher veröffentlichten quantitativ deutlich mehr Arbeiten zur Germanisierungspolitik und zur polnischen Nationalbewegung als ihre deutschen Kollegen." Freilich waren diese Publikationen von unterschiedlichem wissenschaftlichen Wert. 13 Siehe u. a. Werner Frauendienst, Preußisches Staatsbewußtsein und polnischer Nationalismus. Preußisch-deutsche Polenpolitik 1815 bis 1890, in: Das östliche Deutschland. Ein Handbuch. Hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis, Würzburg 1959, S. 305-362; Horst Jablonowski, Die Preußische Polenpolitik von 1815 bis 1914, Würzburg 1964. 14 Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, München 1963; Hans-Ulrich Wehler, Sozialdemokratie und Nationalstaat. Nationalitätenfragen in Deutschland 1840-1914, Göttingen 1962; ders., Von den „Reichsfeinden" zur „Reichkristallnacht". Die Polenpolitik im deutschen Kaiserreich 1871-1918, in: Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreichs 1871-1918, Göttingen 1970, S. 181-199; siehe auch: S. Baske, Praxis und Prinzipien der preußischen Polenpolitik vom Beginn der Reaktionszeit bis zur Gründung des Deutschen Reiches, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte, Bd. IX, Berlin - Wiesbaden 1963; Peter Böhning, Die nationalpolnische Bewegung in Westpreußen 1815-1871, Marburg/Lahn 1973. 15 Siehe vor allem: Felix-Heinrich Gentzen, Großpolen im Januaraufstand. Das Großherzogtum Posen 1858-1864, Berlin 1958; ders.. Der Januaraufstand 1863 und die beiden Konzeptionen der deutschen Polenpolitik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 9(1963)6; Leo Stern, Die zwei Traditionen der deutschen Polenpolitik und die Revolution von 1905-1907 im Königreich Polen, Berlin 1961; Joachim Mai, Die preußisch-deutsche Polenpolitik 1885/87, Berlin 1962. 16 Siehe u. a. Zygmunt Wojciechowski, Polska-Niemcy: dziesiçc wieków zmagania, Poznan 1945; Józef Feldman, Problem polsko-niemiecki w dziejach, Katowice 1946; J. Willaume, Stanowisko Prus wobec sprawy polskiej na Kongresie Wiedenskim, in: Przeglgd Zachodni 6(1950), 1/2; Adam Galos, Klasy posiadaj^ce w Niemczech wobec sprawy polskiej 1894—1914, in: Przegl^d Historyczny 55(1954), H. 4; Tadeusz Cieslak, Przeciw pruskiej przemocy. Walka о ziemiç na Pomorzu na przelomie XIX i XX w., Warszawa 1959; Lech Trzeciakowski, Polityka polskich klas posiadaj^cych w Wielkopolsce w erze Capriviego (1890-1894), Poznan 1960; M. Pirko, Bülow a sprawa polska, Warszawa 1963; Adam Galos, Felix-Heinrich Gentzen, Witold Jakóbczyk, Die Hakatisten. Der Deutsche Ostmarkenverein (1894-1919), Berlin 1966; Lech Trzeciakowski, Walka о polskosc
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Umfangreich war auch die Publikationstätigkeit der iandesgeschichtlichen Vereine, die wie etwa die Historische Gesellschaft für die Provinz Posen - in der Bundesrepublik ihre Tätigkeit wieder aufgenommen hatten. Allerdings überwogen in diesen Publikationen populärwissenschaftliche Arbeiten und Kurzbeiträge, die sich häufig lediglich auf deutsche Quellen und Literatur stützten und auch deswegen im Urteil etwas einseitig wirkten. Insofern bildeten sie im Hinblick auf den Forschungsfortschritt kein Gegengewicht zu den Leistungen der polnischen Wissenschaftler. Betrachtet man aber die gemeinsamen Ergebnisse der polnischen und der deutschen Historiographie, so ist festzustellen, daß die Periode vom Ende der fünfziger bis zum Anfang der siebziger Jahre die ertragreichste in der Erforschung der Germanisierungspolitik und der polnischen Nationalbewegung im preußischen Teilungsgebiet war. In diesem Zeitraum erschienen auch die meisten Publikationen in Form von Monographien, Aufsätzen und Beiträgen, die außer neuen faktographischen Erkenntnissen neue Interpretationen und Bewertungen dieser Politik erbrachten. Der Nationalitätenkonflikt und die Polenpolitik in den von Preußen beherrschten Gebieten, darunter insbesondere im Großherzogtum Posen, wurden in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre auch Gegenstand eines lebhaften Interesses angelsächsischer Geschichtsschreiber. Ausdruck dieses Interesses sind Monographien und Artikel von William W. Hagen, Richard Blanke, John J. Kulczycki und Geoff Eley.'* Den nationalen Beziehungen im Großherzogtum Posen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmete auch der Schweizer Historiker Karl Heink Streiter eine gesonderte Monographie." Die angeführten Arbeiten ermöglichten es den amerikanischen und westeuropäischen Lesern, die Germanisierungsmaßnahmen der preußischen Behörden und die Formen des Widerstands der polnischen Bevölkerung in den Ostprovinzen kennenzuleraen. Sie füllten gleichzeitig eine Lücke in der Geschichtsschreibung, die als Folge des Ende der sechziger und in den siebziger Jahren in beiden deutschen Staaten geschwundenen Interesses an Forschungen zur Geschichte der preußischen Polenpolitik entstanden war. Nach einem kurzzeitigen Entwicklungsschub in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre verlor die Forschung zur Germanisierungspolitik und zu den Abwehrformen der polnischen Bevölkerung im preußischen Teilungsgebiet deutlich an Kraft. Die Zahl der polnischen Historiker, die sich mit dieser Problematik beschäftigten, wurde immer kleiner. Dies lag zum miast Poznanskiego na przetomie XIX i XX wieku, Warszawa 1964; Franciszek Paprocki, Wielkie Ksiçstwo Poznanskie w okresie rz^dów Flotwella (1830-1841), Poznan 1970; Witold Jakóbczyk, Pruska Komisja Osadnicza 1886-1891, Poznan 1976; Szczepan Wierzchoslawski, Polski ruch narodowy w Prusach Zachodnich w latach 1860-1914, Wroclaw 1980. 17 J. Kolacki, Krzysztof Makowski, Obraz dziewiçtnastowiecznego Poznania na lamach „Jahrbuch Weichsel-Warthe", in: Ideologie, pogl^dy, mity w dziejach Polski i Europy XIX i XX wieku. Hrsg. von Jerzy Topolski, Witold Molik u. Krzysztof Makowski, Poznan 1991, S. 39 ff. 18 William W. Hagen, Germans, Poles and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East 1772-1914, London 1980; Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire 1871-1900, New York 1981; John J. Kulczycki, School Strikes in Prussian Poland 1901-1900. The Struggle over Bilingual Education, New York 1981 ; Geoff Eley, German Politics and Polish Nationality: The Dialectic of Nation-Forming in the East of Prussia, in: East European Quarterly 18(1984), S. 335-364. 19 Karl Heink Streiter, Die nationalen Beziehungen im Großherzogtum Posen (1815-1848), Bern 1986.
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einen daran, daß die Lücke, die durch die „biologische Wende" entstanden war, nur teilweise durch den wissenschaftlichen Nachwuchs geschlossen werden konnte. Zum anderen wandte sich ein Teil jener Forscher, deren Interesse früher der Teilungszeit galt, zeitgeschichtlichen Fragen - wie etwa dem Zweiten Weltkrieg Das Interesse der jüngeren Generation polnischer Historiker richtete sich in den siebziger und achtziger Jahren nicht so sehr auf die Traditionen und Entwicklungsetappen der deutschen Polenpolitik, sondern mehr auf Themen aus der Sozialgeschichte der preußischen Teilungsgebiete.^' Andererseits wurde der Nationalitätenkonflikt in den preußischen Ostprovinzen in den achtziger Jahren ein attraktives Forschungsthema für einige westdeutsche Historiker. Ein Zeichen dieser Veränderung ist vor allem die interessante Monographie von Rudolf Jaworski.^^ Etwas später erschienene Dissertationen von Historikern der jüngeren Generation über das Verhältnis der deutschen Parteien und der evangelischen Geistlichkeit zur preußischen Polenpolitik in der Provinz Posen erfuhren eine kritische Wertung." Die epochalen Ereignisse des Jahres 1989 - die Wiedervereinigung Deutschlands und die Erlangung der vollen Souveränität für Polen - eröffneten zugleich eine neue Epoche in der Forschung zu den deutsch-polnischen Beziehungen. Es entstanden günstige Bedingungen für die Durchführung neuer, gemeinsamer Projekte und für die Annäherung zwischen der polnischen und der deutschen Historiographie im Hinblick auf Inteφretation und Beurteilung der preußischen Polenpolitik. Diese Möglichkeiten wurden jedoch von den Forschern beider Nationalitäten bis jetzt nicht genutzt. In den letzten zehn Jahren ist noch keine Arbeit zur preußischen Polenpolitik und zur polnischen Nationalbewegung erschienen, die in der Geschichtswissenschaft als bahnbrechend bezeichnet werden könnte. Die Politik der preußischen Teilungsmacht gegenüber der polnischen Bevölkerung in den Ostprovinzen wurde von vielen Faktoren bestimmt. Sie mußte die schwankende Bedeutung der polnischen Frage im komplizierten internationalen Beziehungssystem Europas berücksichtigen. Einen nicht unbeträchtlichen Einfluß auf die politischen Entscheidungen bezüglich der polnischen Untertanen hatte auch die jeweilige innenpolitische Lage in Preußen. Mit der Zeit nahm die Bedeutung der in den preußischen Ostprovinzen lebenden deutschen Bevölkerung als politischer Faktor zu. Für ihre Germanisierungsziele nutzten die preußischen Behörden die Stimmung dieser Bevölkerungsgruppe, indem sie Aktionen gegen die Polen in Gang setzten; gleichwohl mußten sie zunehmend Rücksicht auf die Haltung der deutschen Organisationen mit dem Ostmarkenverein an der Spitze nehmen, welche der staatlichen
20 Witold Molik, Dzieje Wielkopolski..., S. 64. 21 Siehe u. a. Witold Molik, Ksztaftowanie siç inteligencji polskiej w Wielkim Ksiçstwie Poznanskim 1841-1870, Warszawa-Poznari 1979; Józef Borzyszkowski, Inteligencja polska w Prusach Zachodnich 1848-1920, Gdaiisk 1986; Stefan Kowal, Spoleczenstwo Wielkopolski i Pomorza Nadwislanskiego w latach 1871-1914, Poznan 1982; Krzysztof Makowski, Rodzina poznanska w I potowie XIX wieku, Poznan 1982; Szczepan Wierzchoslawski, Elity polskiego ruchu narodowego w Poznanskiem i w Prusach Zachodnich w latach 1850-1914, Torun 1992. 22 Rudolf Jaworski, Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (1871-1914), Göttingen 1986. 23 Brigitte Balzer, Die preußische Polenpolitik 1894-1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen, Frankfurt am Main 1990; Joachim Rogali, Die Geistlichkeit der Evangelisch-Unierten Kirche in der Provinz Posen 1871-1914 und ihr Verhältnis zur preußischen Polenpolitik, Marburg/Lahn 1990.
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Polenpolitik nicht immer bequem war. Auf die preußische Politik gegenüber der polnischen Bevölkerung wirkten sich nicht zuletzt die Ereignisse und die politischen Wandlungen im Königreich Polen und in Galizien aus. Die bisher veröffentlichten Gesamtdarstellungen und Monographien zeigen die preußische Polenpolitik nicht in der Gesamtheit ihrer innen- und außenpolitischen Konstellationen. Die Verfasser konzentrierten sich bisher hauptsächlich auf die Schilderung der preußischen Germanisierungsmaßnahmen und deren Bewertung, die allerdings meist nur eine Seite der Problematik berührte und daher keine umfassende Erklärung bot. Für die Literatur sind insgesamt zwei Tendenzen kennzeichnend: 1. die Tendenz zur Rechtfertigung bzw. Relativierung der preußischen Germanisierungspolitik in einem beträchtlichen Teil der deutschen Publikationen; 2. die Tendenz zur scharfen Kritik dieser Politik in den Werken polnischer Historiker. Einige polnische Forscher gehen in ihrer Interpretation so weit, in der Germanisierungspolitik die ausschließliche Ursache aller Mißerfolge und der schwierigen Lage der polnischen Bevölkerung zu sehen; die Fehler auf der polnischen Seite werden dabei schlichtweg übersehen oder in ihrer Bedeutung unterschätzt. Im ganzen fällt auf, daß nur wenige Gesamtdarstellungen die preußische Polenpolitik in der ganze Teilungszeit (vom Zerfall der Rzeczpospolita bzw. vom Wiener Kongreß bis zum Ende des Ersten Weltkriegs) zum Thema haben. Im polnischen historischen Schrifttum bietet das vor dem Ersten Weltkrieg erschienene - also schon etwas veraltete - Buch von Józef Buzek die bisher umfassendste Darstellung der preußischen Nationalitätenpolitik in den polnischen Gebieten.^" Keiner der nachfolgenden Kenner dieser Problematik hat bisher hinsichtlich der Fragestellung sowie des chronologischen Umfangs Vergleichbares geleistet. Die populärwissenschaftliche Monographie von Lech Trzeciakowski umfaßt eine kürzere Zeitspanne (von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs) und räumt dabei den polnischen Abwehrmaßnahmen mehr Raum ein als der preußischen Germanisierungspolitik.^' Die deutsche Historiographie kann mehr Syntheseansätze - von der Monographie Manfred Lauberts bis hin zu den Arbeiten Martin Broszats und Hans-Ulrich Wehlers - vorzeigen. Die letzterwähnten spiegeln allerdings den Forschungsstand der sechziger Jahre wider. Das Buch von Broszat, das auch von polnischen Historikern geschätzt wird, erlebte in der Bundesrepublik - vermutlich mangels neuer Publikationen zur preußischen Polenpolitik - bis heute drei Auflagen.^^ Für die Forschung zur preußischen Polenpolitik ist die Fortsetzung einiger Hauptthemen kennzeichnend. Das Interesse der Historiker galt vor allem der preußischen Sprachen- und Schulpolitik sowie deren Folgen, das heißt den Schulstreiks polnischer Kinder." Viele
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Józef Buzek, Historya polityki... Lech Trzeciakowski, Pod pruskim zaborem 1850-1918, Warszawa 1973. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1972, 3. Aufl. 1986. W. Bobkowska, Pruska polityka szkolna na ziemiach polskich w latach 1792-1806, Warszawa 1948; Tadeusz Klanowski, Germanizacja gimnazjów w Wielkim Ksiçstwie Poznanskim i opór mlodziezy polskiej w latach 1870-1914, Poznan 1962; Rudolf Korth, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks, Würzburg 1963; Stefan Truchim, Historia szkolnictwa i oswiaty polskiej w Wielkim Ksiçstwie Poznanskim 1815-1915, Bd. 1-2, Lodz 1967-1968; Teodor Musiot, Strajki szkolne na Gómym ál^sku w latach 1906-1920, Warszawa 1970; L. Borodziej, Pruska poli-
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Veröffentlichungen wurden der Kolonisationspolitik der preußischen Regierung in den polnischen Gebieten s o w i e der Tätigkeit der Ansiedlungskommission^^ den A u s w e i s u n g e n von Polen aus dem preußischen Teilungsgebiet^^ und der staatlichen Politik gegenüber dem polnischen Adel und der Intelligenz g e w i d m e t / " Ferner sind die nicht so zahlreich vertretenen Monographien und Aufsätze zur preußischen Politik gegenüber der katholischen Kirche sowie zum Verhältnis von Staat und Kirche im preußischen Teilungsgebiet, insbesondere in der Zeit des Kulturkampfes, zu erwähnen." Schließlich kommen hier die Arbeiten zur Industrie und Landwirtschaft in Betracht, in denen im engeren oder weiteren U m f a n g der Einfluß der Staatspolitik auf die wirtschaftliche Entwicklung der preußischen Ostprovinzen untersucht wurde.'^ Andere Aspekte der preußischen Polenpolitik wurden in der Forschung entweder partiell oder überhaupt nicht angesprochen. Es gibt nur w e n i g e A u f s ä t z e zu A u f g a b e n , Organisationsstruktur und Tätigkeit der Polizei im preußischen Teilungsgebiet. E b e n s o w e n i g ist über die Rolle des Militärs bei der Festigung der preußischen Herrschaft in den polnischen Gebieten und bei der Entnationalisierung der polnischen Wehrpflichtigen bekannt."
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tyka oswiatowa na ziemiach polskich w okresie Kulturkampfu, Warszawa 1972; L. Górecki, Walka о polskosc szkoty ludowej na Górnym ál^sku w latach 1801-1872, Katowice 1974; John J. Kulczycki, School Strikes...; Helmut Glück, Die preußisch-polnische Sprachenpolitik. Eine Studie zur Theorie und Methodologie der Forschung über Sprachenpolitik, Sprachenbewußtsein und Sozialgeschichte am Beispiel der preußisch-deutschen Politik gegenüber der polnischen Minderheit vor 1914, Hamburg 1979. Leo Wegener, Der wirtschaftliche Kampf der Deutschen mit den Polen um die Provinz Posen, Posen 1903; W. Sukiennicki, Pruska polityka...; W. Kohte, Die staatliche Ansiedlungspolitik im deutschen Nordosten 1886-1914. Voraussetzungen, Ziele und Folgen, in: Studien zum Deutschtum im Osten, H. 8, Köln-Wien 1971, S. 219-240; Witold Jakóbczyk, Pruska Komisja...; H. Bruchhold-Wahl, Die Krise des Großgrundbesitzes und die Güterankäufe der Ansiedlungskommission in der Provinz Posen in den Jahren 1886-1898, Münster 1980. Andrzej Brozek, Wysiedlenie Polaków ζ Gómego ЙЦзка przez Bismarcka (1885-1887), Katowice 1963; Joachim Mai, Die preußisch-deutsche Polenpolitik...; Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen, Wiesbaden 1967. Hans Pfeiffer, Der polnische Adel und die preußische Polenpolitik von 1863 bis 1894, Diss. Jena 1939; Witold Molik, Der Einfluß der preußischen Politik auf die Gesellschaftsstruktur des Großherzogtums Posen (1815-1914). Polnische Intelligenz als Vorbild, in: P. Nietsche (Hrsg.), Preußen in der Provinz. (= Kieler Werkstücke Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 1), Frankfurt am Main 1991, S. 63-79. H. Bork, Zur Geschichte des Nationalitätenproblems in Preußen. Die Kirchenpolitik Theodor von Schöns in Ost- und Westpreußen 1815-1843, Leipzig 1933; Lech Trzeciakowski, The Prussian State and the Catholic Church in Prussian Poland (1871-1914), in: Slavic Review 26(1967)4, S. 618-637; ders., Kulturkampf w zaborze pruskim, Poznan 1970, Ζ. Zielinski, Kosciól Katolicki w Wielkim Ksiçstwie Poznanskim w latach 1848-1865, LubUn 1973; ders., Kosciól i naród w niewoli, Lublin 1995; Erwin Gatz (Hrsg.), Akten zur preußischen Kirchenpolitik in den Bistümern GnesenPosen, Kulm und Ermland 1885-1914. Aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes, Mainz 1977. (= Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, Reihe A, Bd. 21). Czeslaw Luczak, Od Bismarcka do Hitlera. Polsko-niemieckie stosunki gospodarcze, Poznan 1988 (hier in Fußnoten und Bibliographie weitere Fachliteratur). An fragmentarischen Bearbeitungen können beispielsweise genannt werden: Hermann Sommer, Die Stadt Posen als preußischer Truppenstandort von 1815 bis 1918, in: Deutsche Wissenschaftliche
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Gegenstand der bisherigen Untersuchungen waren hauptsächlich die Rechtsgrundlagen der preußischen Polenpolitik. Betrachtet wurden also Gesetze und Anordnungen, welche die preußische Regierung bzw. der preußische Landtag beschlossen haben, um die Germanisierung der polnischen Bevölkerung und die Integration der besetzten polnischen Gebiete in die preußischen Kernländer zu beschleunigen. Die Nachfolger von Jozef Buzek folgten meist dessen Vorbild und beschränkten sich auf die inhaltliche Analyse dieser Rechtsnormen. Deshalb konnten sie häufig keine hinreichende Auskunft über die Verfahrensweisen der preußischen Behörden und deren Ergebnisse geben. Welche Stellung die prominenten preußischen Politiker der damaligen Zeit zur Polenpolitik bezogen haben, ist bekannt.'" Auch die Debatten über die Germanisierungsgesetze im preußischen Landtag und im Reichstag wurden mehr oder weniger eingehend untersucht.'^ Es fehlen aber immer noch Arbeiten, die sich umfassend mit der Durchführung der Germanisierungspolitik auf der Ebene der Regierungsbezirke - ganz zu schweigen von den Kreisen oder Gemeinden - beschäftigen. Gleiches läßt sich über die Haltung der deutschen Parteien zur staatlichen Polenpolitik sagen. Bei den Untersuchungen werden meist nur die im Landtag bzw. Reichstag von den Parteispitzen geäußerten Stellungnahmen herangezogen.'^ Ob die Parteibasis mit all ihren regionalen Ausprägungen ähnlich oder anders über diese Politik gedacht hat, wird leider nicht untersucht. Für die meisten Gesamtdarstellungen zur preußischen Poienpolitik ist eine starke Konzentration auf das Gebiet Posen charakteristisch. Dies zeigt sich darin, daß die Germanisierungspolitik der preußischen Behörden hauptsächlich am Großherzogtum Posen dargestellt wird. Dagegen findet der Leser nur wenige Informationen über die Polenpolitik in Oberschlesien, Westpreußen oder dem Ermland. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. In der Provinz Posen machten die Polen die Mehrheit der Gesamtbevölkerung aus, die polnische Nationalbewegung entwickelte sich intensiver, und die Nationalitätenkonflikte nahmen viel schärfere Formen an als in den anderen Teilungsgebieten. Damit fiel der preußischen Polenpolitik in der Provinz Posen eine Schlüsselposition zu. Die Disproportion in der Darstellung der Germanisierungspolitik im Großherzogtum Posen und in den anderen Zeitschrift für Polen 12(1928), S. 130-153; Manfred Laubert, Die Einführung und Entwicklung der Gendarmerie in der Provinz Posen, ebd., 21(1937), S. 1 ^ 4 . 34 Manfred Laubert, Der Posener Obeφräsident Graf Arnim in seinen gesellschaftlichen Beziehungen zum Polentum, in: Deutsche Blätter in Polen 6(1929), S. 297-309; Jozef Feldman, Polska i Polacy w s^dach polityków pruskich w epoce porozbiorowej, Katowice 1935; Bolestaw Grzes, Rola naczelnych prezesów Poznanskiego w ksztahowaniu i realizacji germanizacyjnej polityki rz^du pruskiego w II potowie XIX w.; in: Studia ζ dziejów Polski, Niemiec i NRD XVI-XX w., Poznan 1974, S. 181 ff. 35 R. Komierowski, Kola Polskie w Berlinie 1875-1900, Poznan 1905; ders., Kola Polskie w Berlinie 1847-1860, Poznan 1910; ders., Kola Polskie w Berlinie 1861-1866, Poznan 1913; Zdzislaw Grot, Dziaíalnosc postów polskich w sejmie pruskim w latach 1848-1850, Poznan 1961; Maria Banasiewicz, Problem oswiaty polskiej w obradach sejmu pruskiego w latach 1850-1862, Poznan 1968; Zygmunt Hemmerling, Poslowie polscy w parlamencie Rzeszy Niemieckiej i w Sejmie Pruskim 1907-1914, Warszawa 1968; Joachim Benyskiewicz, Poslowie polscy w Berlinie w latach 1866-1890, ZielonaGóra 1976. 36 Diese Bemerkung betrifft u. a. die Monographien von Friedrich Lorenz, Die Parteien..., Brigitte Balzer, Die preußische Polenpolitik...; H.-L. Land, Die Konservativen und die preußische Polenpolitik (1886-1912), Diss. Berlin 1963.
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Witold Molik
preußischen Provinzen mit polnischem Bevölkerungsanteil scheint jedoch allzu groß. Es ist auffallig, daß wichtige Unterschiede - insbesondere in bezug auf die Provinz Westpreußen nicht berücksichtigt werden. Dies resultiert aus der irrtümlichen Annahme vieler Forscher, daß die sozialen und politischen Veränderungen in Westpreußen einen ähnlichen oder sogar identischen Verlauf hatten wie im Großherzogtum Posen. Tatsächlich aber vollzog sich dieser Wandel - trotz einiger Ähnlichkeit - in anderer Weise. Angesichts dessen scheint die Forderung nach einer Dynamisierung und Modernisierung der Forschung zur preußischen Polenpolitik durchaus begründet. Es gilt auch, den Fragenkatalog wesentlich zu erweitem. Auch hinsichtlich der Projekte preußischer Beamter und Politiker zur Polenpolitik gibt es noch einiges zu tun, obwohl verschiedene Konzeptionen zu dieser Politik in der Fachliteratur bereits umfassend erörtert wurden. Nachforschungen in Archiven können gewiß weitere, bis heute unbekannte Projekte und Denkschriften an den Tag bringen. Dabei ist vor allem wichtig, den Anteil der verschiedenen Ebenen der preußischen Verwaltung bei der Entstehung und Durchführung der politischen Pläne gegenüber der polnischen Bevölkerung genau nachzuzeichnen. Viele damit zusammenhängende Fragen bleiben bis heute ohne Antwort. Das sind u. a. folgende: Hatten Politiker und hohe Staatsbeamte einen guten Einblick in die Verhältnisse in den Ostprovinzen? Nahmen sie den Wandel in Struktur, Nationalbewußtsein und politischer Orientierung der polnischen Bevölkerung wahr? Inwieweit konnten die Oberpräsidenten in den Ostprovinzen eine selbständige, weisungsunabhängige Politik betreiben und welchen Anteil hatten sie an den von der preußischen Regierung erarbeiteten Konzepten und Ausrichtungen in der Polenpolitik? Inwiefern gingen Ineffizienz bzw. der gegenüber den Erwartungen geringe Erfolg in der Durchführung der Germanisierungsmaßnahmen auf typische Charaktermerkmale der preußischen Beamten wie etwa schematisches Denken, Arroganz, Selbstüberschätzung, Fehleinschätzung und Realitätsfeme sowie auf den Glauben an die kulturelle Unterlegenheit der polnischen Bevölkerung zurück? Deshalb wäre es sehr erstrebenswert, in erster Linie eine modeme Monographie zur Bürokratie in den Ostprovinzen zu erarbeiten, in der auch die bis jetzt pauschalisierenden Vorurteile über die preußischen Beamten einer kritischen Prüfung unterzogen werden müßten. Größten Nutzen für die Forschung könnte eine Erweiterung der Quellenbasis bringen. Bisher hat man hauptsächlich die Akten des Königlichen Geheimen Zivilkabinetts, des Preußischen Ministeriums des Innem, des Preußischen Kultusministeriums, des Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe, des Preußischen Staatsministeriums sowie die Akten der Oberpräsidenten und der Polizeipräsidien in den preußischen Ostprovinzen benutzt. Selten griff man dagegen auf die Akten des Preußischen Finanzministeriums, des Preußischen Ministeriums für Landwirtschaft, Domänen und Forsten sowie der Landratsämter in den preußischen Ostprovinzen zurück. Fast unberücksichtigt blieben die Akten des preußischen Militärs. Tatsächlich läßt sich aber die Polenpolitik ohne Heranziehung der Generalstabspläne, die auch die Ostprovinzen erfaßten, nicht vollständig rekonstruieren. Wenngleich ein großer Teil der Militärakten während des letzten Krieges zerstört wurde, ließe sich doch aus den erhaltenen Dokumenten noch vieles herausholen. Lohnend wäre auch eine Untersuchung über die Finanzgrundlagen der preußischen Polenpolitik. Konnten die Mittel, die die Regiemng für die Durchführung ihrer Politik verwendete, durch die Steuereinnahmen aus den Ostprovinzen wieder ausgeglichen werden? Und in welchem Verhältnis stand der Nutzen zum Aufwand? Einer Erweiterung bedürfen auch die Untersuchungen zur Haltung und zum Einfluß der deutschen Öffentlichkeit in den Ostprovinzen. In dieser Hinsicht stellt die Arbeit von Bolesiaw
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Grzes, Jerzy Koztowski und Aleksander Kramski, der allerdings nicht vorbehaltlos zugestimmt werden kann, einen Schritt in die richtige Richtung dar." So gilt es, die Haltung der deutschen Bevölkerung zur preußischen Politik nicht nur in Schlesien, West- und Ostpreußen, sondern auch in den westlichen Teilen des Deutschen Reiches zu ergründen. Bisher lenkte die Forschung ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Haltung der polnischen Öffentlichkeit im russischen und österreichischen Teilungsgebiet zu den aufsehenerregenden Ereignissen in Preußen, etwa den Ausweisungen eingewanderter Polen, den Schulstreiks polnischer Kinder sowie dem Enteignungsgesetz von 1908.'* Abschließend möchte ich zu den unterschiedlichen Bewertungen der preußischen Polenpolitik in der Literatur Stellung nehmen. Diese Politik wird bisher unter verschiedenen Gesichtspunkten kritisch betrachtet. Nicht selten wird auf ihre geringe Wirksamkeit hingewiesen. In der polnischen Historiographie wird hervorgehoben, daß die Polen im preußischen Teilungsgebiet - trotz massiven Germanisierungsdrucks - den „längsten Krieg in der Geschichte des modernen Europa" gewonnen hatten, wie es auch in der gleichnamigen dokumentarischen Filmserie dargestellt wurde. Tatsächlich erreichten die preußischen Behörden mit ihren Germanisierungsmaßnahmen häufig das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatten. Dazu ist aber anzumerken, daß - abgesehen von Westpreußen und Schlesien - das Großherzogtum Posen in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht viel enger in den preußischen Staat integriert war als etwa das Königreich Polen in das russische Zarenreich oder Galizien in die Donaumonarchie. Die Germanisierung war eine ernste Bedrohung für die polnische Bevölkerung, sie bedeutete ihre Entnationalisierung, brachte aber auch eine Modernisierung in vielen Lebensbereichen. Die Polen im preußischen Teilungsgebiet unterlagen einerseits dem Akkulturationsprozeß in einem viel größeren Ausmaß als ihre Landsleute in den anderen Gebieten. Andererseits bildeten sie die größte nationale Massenbewegung im damaligen Europa. Zugleich aber verlor ein beträchtlicher Teil der polnischsprechenden Bevölkerung - insbesondere in Oberschlesien und Westpreußen - vollständig seine nationale Identität. 37 Bolestaw Grzes, Jerzy Koztowski, Aleksander Kramski, Niemcy w Poznanskiern wobec polityki germanizacyjnej 1815-1920, Poznan 1976. 38 Siehe u. a. Irena Homola, Komitet Opieki nad wydalonymi ζ Pros rodakami, in: Haiina Kozlowska-Sabatowska (Hrsg.), Struktury, ruchy, ideologie X V I I I - X X w., Krakow 1986, S. 137-152; L. Mikusinski, Gwalty pruskie przed trybunatem polskiej literatury, in: Zdzistaw Orot (Hrsg.), Wydarzenia wrzesinskie w roku 1901, Poznan 1964, S. 1 3 1 - 1 7 6 ; M. Pirko, Niemiecka polityka wywtaszczeniowa na ziemiach polskich w 1.1907-1908, Warszawa 1963, S. 2 0 0 - 2 0 7 ; Józef Buszko, The Austro-Hungarian Empire and the Expropriation of Poles under Prussian Domination (1908-1914), in: Polish Western Affairs 6(1965), S. 3 5 2 - 3 7 7 .
MAGDALENA NIEDZIELSKA
Die Geschichtsschreibung der Provinz Preußen und die Frage der nationalen Minderheiten im 19. Jahrhundert
Die Geschichtswissenschaft wurde im 19. Jahrhundert von den Regierenden in Deutschland als ein Mittel zur Gestaltung der öffentlichen Meinung bei der Begründung von Ansprüchen auf fremde Territorien und deren Bevölkerung benutzt. Sie manifestierte zunächst die historischen dynastischen Rechte auf den Besitz, in der Zeit des sich herausbildenden modernen Nationalbewußtseins übertrug sie diesen Grundsatz auf ganze Völker, indem sie deren Rechte auf „Volks- und Kulturboden" bestätigte. Eine wichtige Rolle bei diesen Prozessen spielte die Historiographie der Grenzgebiete, die einen Katalog von Mustersprüchen und historischer Argumentation lieferte. Diese Beispiele aus dem Lokalbereich wurden dann von manchem Autor zusammenfassender historischer Werke übernommen und zu einer Art Denkklischee über die Ostgebiete der preußischen Monarchie verfestigt. Die Provinz Preußen war ein besonderes Gebiet im Hohenzollernstaat, denn sie verband zwei Landesteile mit getrennter Geschichte. Das Herzogtum Preußen spielte auch eine besondere Rolle in der Geschichte von Brandenburg-Preußen. Das Gefühl seiner Eigenart, der Provinzialpartikularismus, eigene Tradition und politische Geltung waren wichtige Merkmale des lokalen preußischen Patriotismus. Er fand seinen Niederschlag nicht nur in gewissen Eigenheiten des politischen Lebens in der Provinz, die insbesondere im Vormärz sichtbar wurden, sondern war zugleich ein Bestandteil der historischen Tradition, mit deren Gestaltung sich auch die Lokalhistoriker im 19. Jahrhundert beschäftigten. Nur einige von ihnen, wie z.B. Johannes Voigt, lieferten einen dauerhaften Beitrag zur gesamtdeutschen Geschichtswissenschaft. Die im 19. Jahrhundert einzige Hochschule Preußens, die Königsberger Albertina, eine Universität am Rande des Staates, die nur eine kleine Studentenzahl ausbildete, war mit dem Rest der deutschen Gelehrtenwelt kaum verbunden. Historische Untersuchungen blieben in der Provinz Preußen, insbesondere in Westpreußen, wo sich keine Universität befand, Laienwissenschaftlem, hauptsächlich Lehrern und Pastoren vorbehalten, denen jegliche institutionelle Unterstützung fehlte. Kennzeichnend war die im Vergleich zu Pommern und Schlesien relativ spät einsetzende Entstehung des gesellschaftlichen Mäzenatentums in Form von wissenschaftlichen, darunter auch historischen, Vereinen.'
1 Vgl. K. Forstreuter, Die Entstehung von Geschichtsvereinen in Altpreußen, in: Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte 1(1979); H. Gollub, Unsere Geschichtsvereine, in: Altpreußische Forschungen 2(1924); W. Hardtwig, Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des Vereinswesens in Deutschland 1789-1848, in: O. Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Ge-
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Die Entwicklung der Geschichtsforschung in den beiden Teilen der Provinz setzte so erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein, als historische Vereine, die mit ihrem Wirken die gesamte Provinz umfaßten, entstanden waren: Der Verein für die Geschichte von Ost- und Westpreußen, der Westpreußische Geschichtsverein in Danzig sowie lokale Vereine in Thom, Elbing und Marienwerder. Die Vereine begannen eine breitangelegte Edition von historischen Quellen zur Geschichte der Provinz, was sich auf die Entwicklung von Begleituntersuchungen sowie Veröffentlichungen in eigenen Zeitschriften auswirkte. Allgemeine Bedingungen, unter denen die Forschungsarbeit betrieben wurde, bestimmten besonders in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Umfang, Themen und Qualität. Gleichzeitig begegneten Historiker der Provinz Preußen, die im allgemeinen nicht auf die Übernahme einer solch schweren Aufgabe vorbereitet waren, schon bei der Beschäftigung mit der Lokalgeschichte den Grundproblemen der Geschichte des preußischen Staates. Die Staatsräson, deren Grundbestandteil die Einverleibung der im Ergebnis der Teilungen Polens erworbenen Gebiete war, forderte bereits im Rahmen der Regionalproblematik eine konkrete politische Haltung der deutschen Forscher. Die Frage der Assimilation der nichtdeutschen Einwohner der Provinz Preußen war ein Grundproblem der preußischen Politik im 19. Jahrhundert, was auch in der Betrachtung der Nationalitätenproblematik in der provinziellen Geschichtsschreibung Niederschlag finden mußte. Dies bewirkte zugleich ein Suchen nach Bestätigung der politischen Rechte Preußens sowie der Oberhoheit über die ehemals polnischen Gebiete in der ethnischen Argumentation. Die romantische Vision der Geschichte des deutschen Volkes und das Interesse für das Mittelalter, in dieser Provinz wegen des Deutschen Ritterordens und der Symbolik von Marienburg besonders aktuell, verlagerten die Erörterungen über die nationale Zusammensetzung der Einwohner in eine entlegene historische Zeit bis hin zur Frage, wer eigentlich die ursprünglichen Bewohner dieses Landes waren. Das Interesse der damaligen Forscher war jedoch nicht nur politisch motiviert. Die ethnische Vielfalt der Provinz Preußen war ein besonderes Phänomen in der Monarchie. Die polnische Bevölkerung, Kaschuben, Masuren, Litauer, kleinere Gruppen wie Philipponen (Lippowaner), Zigeuner und sogar die differenzierte deutsche Bevölkerung selbst sowie schließlich die Juden lieferten reiches Beobachtungsmaterial. Einzelne Völker und ethnische Gruppen wurden im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand der Forschung. Das bildete den Ausgangspunkt für die Entstehung eines vollständigen Bildes der nationalen Minderheiten im deutschen historischen Schrifttum der Provinz Preußen. In diesem Bild, das Ideen, Urteile und Meinungen beinhaltete, traten - übrigens verschieden stark ausgeprägt - sowohl Elemente einer relativ objektiven Darstellung als auch überkommene negative und positive Stereotype sowie stark emotional gefärbte Vorurteile nebeneinander auf. Die historischen Arbeiten hatten bei der Gestaltung dieses ethnischen Bildes eine doppelte Funktion. Einerseits verbreiteten sie als eines der Elemente der sozialen Kommunikation die bereits vorhandenen ethnischen Stereotype, andererseits vermochten sie - nicht immer frei von subjektiven Äußerungen der Verfasser - eine aktive Rolle bei der Gestaltung der ethnischen Stereotype ihrer Leser, insbesondere in den Grenzgebieten, zu spielen.^ sellschaft in Deutschland, München-Oldenburg 1984; H. Heimpel, Geschichts vereine einst und jetzt, in: Geschichtswissenschaft und Vereinswesen im 19. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der historischen Forschung in Deutschland, Göttingen 1972; Magdalena Niedzielska, Niemieckie towarzystwa naukowe w Prusach Zachodnich w latach 1815-1920, Torun 1993. 2 Vgl. H. A. Jacobsen, Vom Wandel des Polenbildes in Deutschland (1772-1972), in: Aus Politik und
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Ein Teil der Verfasser der neueren Bearbeitungen dieses Themas unterstützte die These, daß das in der deutschen Belletristik und in der Geschichtsschreibung vorhandene positive Bild der Polen, das auf die Kosciuszko-Legende zurückging und von den deutschen Demokraten gepflegt wurde, erst nach 1848 negative Züge bekam.' Als Musterbeispiel, das einen Ausgangspunkt für viele spätere antipolnische Aussprüche bilden sollte, wird meist das Bild der Polen aus Gustav Freytags Roman „Soll und Haben" von 1855 angeführt. Man muß jedoch fragen, ob dieses negative Bild der Polen und anderer Minderheiten tatsächlich ausschließliches Ergebnis einer Korrelation der negativen Stereotypisierung mit dem sich verschärfenden Nationalitätenkonflikt im Preußen war. Es scheint nämlich, daß die grundlegenden Elemente dieses Bildes bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts vorhanden waren. Sein Ursprung geht auf das 18. Jahrhundert zurück, als durch die Aufklärung eine eigenartige zivilisatorische Geographie verbreitet wurde, die Territorien nach Lage, Klima und Umwelt bewertete. Viele Beispiele dazu liefern Reisebeschreibungen aus Preußen. In dem 1798 erschienen Bericht von der Reise Johann Friedrich Abeggs wurde ein Gespräch mit einem Staatsbeamten in Königsberg angeführt, in dem die Polen als „Halbmenschen" bezeichnet werden." Den meisten Berichten lag die kategorische Negation aller Werte wie Glauben, Sitten und Bräuche, Staatsinstitutionen, ja der gesamten Kultur zugrunde. Hauptattribut war dabei die zivilisatorische Barbarei, die als übergeordnete Kategorie die anderen Werte determinierte. Die deutschen ethnischen Vergleiche wurden fast immer in Opposition zum Autostereotyp formuliert und waren meist so konstruiert, daß sie nach dem Prinzip des Kontrastes das eigene Ethos mit Werten stärkten. Wenn nämlich in der polnischen Kultur ein beständiger Minderwertigkeitskomplex vorherrschte, der erst durch den polnischen Sarmatismus im 17./18. Jahrhundert abgeschwächt wurde, so war für die deutsche Kultur die kulturelle Dominanz mit einer stark empfundenen Uberzeugung von der eigenen Rassenüberlegenheit kennzeichnend. Die Evolution des Fremdenbildes, die sich schon seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts vollzog, zeigte eine Tendenz zur negativen Beurteilung und war ein Element der ethnischen Selbstbestimmung der Deutschen im Osten Preußens. In die Geschichtsliteratur drangen Elemente von Alltagsvorsteliungen, z.B. aus der Folklore, ein. Die Literatur stabilisierte durch ihren Wirkungsbereich in den meinungsbildenden Kreisen die Stereotype als Fakten der Kultur, die dann je nach dem sozialen Bedarf aktualisiert wurden. Die Ansprüche der jeweiligen Nationalgruppe auf Teilnahme am politischen Leben, aber mindestens auf Autonomie, war ein wichtiger Stimulus zur Differenzierung der Haltungen gegenüber den nichtdeutschen Bewohnern der Provinz. Die Gefahrdung, die von den Polen einer ehemaligen Staatsnation - ausging, machte die stets vom Standpunkt eines politischen Gegners geprägte Beziehung zu ihnen sehr eindeutig und war unabhängig von einzelnen und zeitweiligen Sympathien mancher Deutschen für die polnische Sache.
Zeitgeschichte 21(1973), E. Lemberg. Das Bild von den osteuropäischen Völkern in Deutschland, in: Politik des Westens und Osteuropa, Köln 1966; M. Lammich, Das deutsche Osteuropabild in der Zeit der Reichsgründung, Boppard/Rhein 1978; ders., Das Bild der Slaven in deutschen Zeitschriften der Jahre 1 8 6 0 - 1 8 8 0 . Ein Beitrag zur Erforschung nationaler Vorurteile, in: Beiträge zur Konfliktforschung 8(1976)4; E. Dittrich, F.-O. Radtke (Hrsg.), Ethnizität. Wissenschaft und Minderheiten, Opladen 1990; W. Wrzesinski, Polskie badania nad stereotypami Niemców i Polaków, in: Ζ badañ naddziejami stosunków polsko-niemieckich, Poznan I 9 9 L 3 Η. В. Whiton, Der Wandel des Polenbildes in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, BerlinFrankfurt/Main 1981, S. 181. 4 W. Abegg, J. Abegg (Hrsg.), J. F. Abegg, Reisetagebuch von 1798, Frankfurt am Main 1987, S. 142.
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Es scheint jedoch, daß die in den historiographischen Arbeiten ausgedrückte Haltung gegenüber den nationalen Minderheiten in Preußen nicht die Quelle, sondern nur eine Folge der Stellung der Staatsverwaltung war, wie sie schon um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert existierte. Denn dort sind die Ansätze der modernen Idee von der deutschen Nation zu suchen. Dieser Prozeß verlief u. a. bei gleichzeitigem Verzicht auf das Denken in den Kategorien der historischen Staatsstrukturen zugunsten der sich immer stärker durchsetzenden ethnischen Kriterien, und zwar hauptsächlich des Sprachnationalismus. In der Folge begann das deutsche Volk, seine Situation auch vom Standpunkt des Kräfteverhältnisses im Sprachenbereich einzuschätzen. In Preußen, wo historisch gesehen schon vor den Teilungen Polens anderssprachige Bevölkerungsgruppen lebten, war die gemeinsame Sprache eine Grundlage der Konzeption des Nationalstaats. Das Wesen der Bestrebungen bestand darin, das unsichere historische Dasein mit ethnischen Elementen zu stärken. Von diesem Standpunkt aus verschärften Ereignisse wie die Revolution von 1848 nur die vorhandenen Tendenzen, waren aber nicht ihre Quelle. Das größte Problem bestand nicht darin, daß die Sprachgrenzen unklar waren und sich nicht den historischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten anpaßten, sondern darin, daß die im Osten Preußens im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalgefühle Deutsche und Nichtdeutsche mit denselben Territorien, mit denselben historischen Denkmälern, Städten, lokalen Werten, Personen (vgl. den Streit um die nationale Zugehörigkeit von Kopernikus) verbanden. Ausschlaggebend für eine Gestaltung des deutschen Nationalbewußtseins in Opposition zu anderen Volksgemeinschaften war - noch vor den Befreiungskriegen - die fördernde Rolle der preußischen Verwaltung. Das Machtsystem und die Staatsräson wurden zur Quelle für die Umwandlungen des Koexistenzgefühls im Rahmen der gemeinsamen Nachbarschaft zu einem Gefühl der wachsenden Feindlichkeit und des gegenseitigen Antagonismus. Ein Beispiel dafür sind die Bemühungen des Ministers Friedrich Leopold von Schrötter zur Bestimmung der grundlegenden Konzeptionen der preußischen Politik gegenüber den nichtdeutschen Untertanen, die er 1802 in Rücksprache mit den Berliner Behörden vornahm. Sein an Minister Julius von Massow gerichtetes Schreiben trug die Überschrift „Wegen Ausrottung der litauischen Sprache". Die Annahme der deutschen Sprache wurde darin als Element eines Prozesses verstanden, der mit der kulturellen Entwicklung der Menschheit in Einklang stehe. Die Notwendigkeit der Ausrottung der litauischen Sprache liege in deren begrifflicher Armut, die korrektes Ausdrücken der abstrakten Begriffe erschwere. Sie sei kein Träger kultureller Werte, sondern nur eine Sprache des gemeinen Volkes, in der - nach Schrötter - bis auf die Grammatik keine literarischen Werke entstanden seien. Er irrte, denn gerade in PreußischLitauen entstand um 1770 das Epos „Metai" von Kristijonas Donelaitis. Schrötter, ein Befürworter der Abschaffung der Erbuntertänigkeit, erwartete auch natürliche Prozesse der Entnationalisierung der Litauer nach Maßgabe ihrer sozialen Emanzipation. Der Briefwechsel Schrötters mit den Berliner Behörden hatte eine Inspektionsreise des Rates im Oberschulkollegium J. F. Zöllner und des Ministers von Massow im Herbst 1802 durch das preußische Litauen zur Folge. Seine Konzeptionen legte Zöllner dann in der bekannten Schrift „Ideen über National-Erziehung" von 1804 vor. Sie wurde nicht nur zum Ausgangspunkt für die Formulierung der Grundlagen der preußischen Sprachenpolitik im ostpreußischen Schulwesen in den nächsten Jahrzehnten, sondern lieferte Argumente, die von der Historiographie aufgegriffen wurden. In vielen Aufsätzen über litauische Angelegenheiten, die z.B. in den „Preußischen Provinzial-Blättern" veröffentlicht wurden, vertraten die Verfasser die Meinung von der
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Notwendigkeit des Verschwindens der Litauer als einer gesonderten Gruppe in Preußen. Die Diskussion zur Frage der nationalen Minderheiten wurde übrigens in der Provinz Preußen schon gleich nach dem Erscheinen dieser Zeitschrift in Königsberg 1829 eröffnet. Das ungünstige Urteil über die Litauer als Menschen, die zu einem kulturellen Dasein unfähig seien, bestand in der Provinz schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und wurde sowohl von Liebhabern der Folklore als auch von Kennern der Geschichte des litauischen Gebiets vertreten. Nicht unerwähnt soll jedoch die große Toleranz der preußischen Behörden bei der Entstehung einer litauischen Nationalbewegung in den siebziger Jahren bleiben, während in derselben Zeit ähnliche Prozesse in Westpreußen bekämpft wurden. Das Interesse für die litauische Bevölkerung resultierte, insbesondere in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts, aus den Bestrebungen zur Ermittlung der Ureinwohner des Landes und der Geschichte der preußischen Stämme zu Beginn der Präsenz des Deutschen Ordens in diesen Gebieten. Ein Grund für die Diskussion über ethnische Fragen in den historischen Zeitschriften lag vor allem in den politischen Verhältnissen in der Provinz: im Aufleben der polnischen Nationalbewegung nach dem Novemberaufstand, in der sich gerade zu dieser Zeit herausbildenden Politik der Schulbehörden gegenüber den nationalen Minderheiten, in ersten Verordnungen der Verwaltung aus den dreißiger Jahren und in der Aufnahme der Sprachenfrage in die Tagesordnung der preußischen Provinzialstände. Alle diese Maßnahmen strebten eindeutig die Einführung der deutschen Sprache an allen Schulen mit nichtdeutschsprachigen Kindern an. Ein überaus aufschlußreiches Plädoyer für die Verwaltungstätigkeit war ein 1830 in den „Preußischen Provinzial-Blättern" veröffentlichter Aufsatz „Über die Einwirkung auf das Erlöschen der Nebensprachen in unserem Vaterlande". Beachtenswert ist der Begriffswandel; die Schröttersche „Ausrottung" wurde durch die von Massow geprägte Bezeichnung „Entbehrlichmachung" abgelöst, die dann nach 1830 in „Erlöschen der Nebensprachen" geändert wurde. Unter Berufung auf die Notwendigkeit der „Nationalisierung eines fremden Volkes für den Staat" führte der Autor aus, daß jeder, der die Litauisch und Polnisch sprechenden Leute in der Provinz kennt „und die Idee der allgemeinen Menschenbildung in einem Staate für alle Bewohner als wohltätig wirkend anerkennt,... zugeben [wird], daß das Einwirken auf das Erlöschen der Nebensprachen keineswegs etwas ganz und gar Despotisches sey".^ Es sollten verschiedene Mittel angewendet werden, vor allem „politische Einwirkung" und das Schulwesen. Gleichzeitig wurde die Rolle der Armee gewürdigt. Im Laufe der nächsten fünfzig Jahre sollten alle „nichtdeutschen Einwohner Preußens" verschwinden. Die Behörden sollten auf die Beschleunigung dieses Prozesses einwirken, obwohl nach Einschätzung des Verfassers die litauische Sprache auch ohne diese „Hilfe" aussterben würde. Bei dieser Gelegenheit wurde auch die deutsche Bevölkerung, die den niederdeutschen Dialekt sprach, diskreditiert, denn dieser „ist wohl immer ein großes Hindernis der Bildung des Volkes". Die Deutschen selbst müßten, um eine Nation zu werden, auch eine sprachliche Unifizierung vollziehen, deswegen „finden wir darin nichts Widernatürliches, wenn der preußische Staat auf das Erlöschen der Nebensprachen mit Erfolg einwirkt und deutsche Bildung und Sprache allgemein macht". Darum sei der Umstand, „daß das Polnische von einem ausgebreiteten Volke gesprochen werde, kein Grund zur Nichtgermanisierung der Bewohner unseres Vaterlandes, daß das Litauische eine so liebliche, gemütliche und sanfte Sprache sei, kann, da sie sich bis 5 Über die Einwirkung auf das Erlöschen der Nebensprachen in unserem Vaterlande, in: Preußische Provinzial-Blätter (1830), S. 343 f.
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jetzt nicht zur Schriftsprache ausgebildet hat, ihr Bestehen nicht begründen". Die litauische Sprache wurde auch in der Provinz Preußen als Sprache „eines ungebildeten Volkes und als eine beinahe untergegangene" angesehen.'' Auch in den Veröffentlichungen aus den fünfziger Jahren vertrat man weiterhin die Überzeugung vom Übertritt der litauischen Sprache in die Gruppe der toten Sprachen. Die Auswertung der Veröffentlichungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt, daß die Historiker praktisch unverändert dieselben, schon am Anfang des 19. Jahrhunderts durch die Vertreter der preußischen Verwaltung formulierten Ansichten vertraten. Ein kennzeichnendes Beispiel dafür liefern die Arbeiten Max Toeppens (1822-1893), eines der bedeutendsten Historiker der Provinz. Er befaßte sich mehrmals mit der Geschichte Masurens und mit den Bräuchen und der Folklore der Einwohner. Insbesondere die „Geschichte Masurens" (Danzig 1870) ist ein Beispiel für ein wissenschaftlich wertvolles Werk, in dem der Autor jedoch auch subjektive Werturteile nicht scheut und die überkommenen Vorurteile wiederholt. Toeppen, der in der deutschen Geschichtsschreibung die Ansicht über Masowien als Heimat der preußischen Masuren begründete, erkannte ihnen die Chance ab, sich von der „Unkultur" zu erheben, ohne vorher die deutsche Sprache gelernt zu haben. Er hielt das Aussterben des masurischen Dialekts für einen natürlichen Prozeß, der überall dort nützlich sei, wo „größeren Gruppen von Individuen, Kolonien, abgesplitterten Völkerschaften, welche den Zusammenhang mit den übrigen Angehörigen ihrer Nationalität unwiderruflich verloren und ohne die Fähigkeit einer selbständigen Kulturenwicklung in sich zu tragen, sich einem fremdartigen Staatsganzen angeschlossen haben. In dieser Lage sind im preußischen Staate, wie z. B. die Wenden und Litauer, auch die Masuren: Sie sind von der polnischen Nation staatlich, kirchlich, sozial, dialektisch und in anderen Rücksichten der Art getrennt, daß sie an dem Kulturgange desselben... unmöglich noch teilnehmen können." Weiter schrieb Toeppen: „Nicht frei vom Egoismus, aber auch geadelt durch Ideen des allgemeinen Fortschritts, mußte die deutsche Nation in ihrem neuen Aufschwünge die ihr einverleibten, in ihrer Isolierung verkommenden Volkssplitter fremder Nationalität mit sich fortreißen." Die Kluft zwischen Deutschen und Masuren habe die Sprache geschaffen: „Ihre Sprache ist in vieler Beziehung so arm, daß sie nicht einmal Worte darbietet zur Bezeichnung moderner Kulturbegriffe."' Innerhalb der symbolischen Ausdrucksformen besaß damals die Sprache neben der Religion die größte Gestaltungskraft für das Gefühl der kulturethnischen Eigenart und Weltansicht in Anlehnung an die elementare Opposition von Eigenem und Fremdem, zur Abgrenzung nach außen und zur Vergemeinschaftung nach innen. Im 19. Jahrhundert wuchs im Zusammenhang mit der romantischen Idee der Nationalität die Bedeutung der Sprachschranken, die man als Kulturschranken verstand. Die Sprache war das wichtigste und natürlichste Verbindungselement mit der geheiligten Vergangenheit. Man beobachtet ein eigenartiges Denken „über die Sprache", also die Gleichsetzung eines fremden Volkes mit der Sprache und die Projektion eines ihm eigenen Stereotyps. Die Sprache stand neben „Sitten, Gebräuchen, Religion" innerhalb der eine Gemeinschaft begründenden Faktoren an erster Stelle.^ In der Zeit, in der „ein Merkmal unserer Zeit die Richtung nach dem Gleichförmigen 6 K. A. Jordan, Einige Worte über die litauische Sprache und Professor Schleicher, in: Neue Preußische Provinzial-Blätter4(1853), S. 43. 7 Max Toeppen, Geschichte Masurens, Danzig 1870, S. 4 7 7 ^ 7 8 . 8 Schmid, Von welchem Stamme waren Preußens früheste Bewohner, in: Preußische Provinzial-Blätter 1(1829), S. 9.
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ist"', war der Gebrauch einer fremden Sprache im Urteil der Zeitgenossen eines der Haupthindemisse auf dem Wege zu einem gemeinsamen Nationalstaat. Noch schwieriger war dieses Problem im Falle der polnischsprechenden Einwohner, denn hier konnte der Vorwurf der Primitivität nicht geltend gemacht werden. Diese Erkenntnis lieferte Schrötter schon 1802, als er schrieb, daß Polnisch eine „Hochsprache" sei, gegen die der preußische Staat jetzt und in den nachfolgenden Jahrzehnten nur mit politischen Mitteln ankämpfen könne. Auch für die kaschubische Sprache, die von Historikern und Sprachwissenschaftlern schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erforscht wurde, galt der Vorwurf der Unterentwicklung nicht. Bei Polen und Kaschuben suchte man nach anderen Argumenten für ein negatives Urteil. Die historische Literatur aus der Provinz Preußen liefert ein überaus reiches Material für Historiker, Sprachwissenschaftler, Soziologen und Ethnologen - also für interdisziplinäre Untersuchungen. Besonders in den fünfziger Jahren erschienen einige Artikelfolgen zur kaschubischen Thematik. Den Ausgangspunkt bildeten dabei Behauptungen der Art: „Man sieht, daß hier die Kultur noch in ihren Anfängen ist. Ein kaschubisches Dorf unterscheidet sich von einem deutschen schon auf den ersten Blick. Die schlecht bebauten Felder, der Mangel an Bäumen, die schlechten Umzäunungen und die elenden Hütten bilden ein gehöriges Ensemble. Kommt man aber erst hinein, entdeckt man den Schmutz und die überall herrschende Unordnung."'" Diese allgemein negative Einschätzung der Kaschuben verband sich schon Anfang der fünfziger Jahre mit einem deutlichen Antislawismus. Er hatte hier schon eine undifferenzierte Gestalt, weil er alle slawischen Völker gleichsetzte, die angeblich weder zu selbständigem Schaffen noch zum Erwerb der zivilisatorischen Errungenschaften fähig waren." Es scheint daher, daß diese Vorurteile entgegen früherer Meinungen nicht erst in den sechziger Jahren aufkamen. Viel Material enthalten auch zahlreiche Monographien über einzelne Kreise, die mit Unterstützung der Behörden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Als Beispiel kann hier die Arbeit von F. W. Schmitt, einem Regionalforscher aus Westpreußen, d i e n e n . I n den fünfziger Jahren erfolgte eine Verlagerung der Schweφunkte von der Sprach- auf die Religionsproblematik. Dabei knüpfte man an frühere Meinungen an. So stellte z. B. Pastor Heinel 1832 in den „Preußischen Provinzial-Blättern" bei der Charakterisierung der katholischen und evangelischen Bevölkerung auf dem Marienburger Werder fest: „Man macht dort nämlich die Sprache zum Unterscheidungszeichen für die Religion, und statt sich katholisch oder evangelisch zu nennen, sagt man: ,Ich bin polnisch' oder ,ich bin deutsch'! Denn wenn ein preußischer Katholik, um den Namen seiner Religionspartei zu bezeichnen, sich polnisch nennt, so gibt er sich dadurch für einen Polen zu erkennen und beweist seine Anhänglichkeit an ein Land, mit welchem er in gar keiner Verbindung mehr steht, zeigt also an, daß er sich in Gemeinschaft mit Evangelischen, wie mit Deutschen, durchaus nicht heimisch finde. Die Religion wird Parteisache eines Volkes und
9 Ethnographische und Geschichtliche Notizen über die Zigeuner, ebd., N. F. 1(1842), S. 25. 10 Seidel, Das Land und Volk der Kaschuben, in: Neue Preußische Provinzial-Blätter 2(1852), S. 115; vgl. auch W. Hanow, Die Kassabiten, ebd., 8(1855), S. 116 f 11 „Der Charakter der Kassuben zeigt im Allgemeinen die Grundzüge des slavischen Volkscharakters, besonders in den Untugenden. Trägheit, Unordentlichkeit, Unreinlichkeit, Trunksucht sind allgemein verbreitet." Zit. nach Seidel, Das Land ..., S. 118. 12 F. W. Schmitt, Topographie der zum ehemaligen Netze-Distrikt gehörigen Kreise West-Preußen, in: Neue Provinzial-Blätter (1854).
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eben dadurch zum Fanatismus hinneigend." 1854 unterstrich auch der Historiker Schmitt die Identifizierung des Katholizismus mit dem Polentum: „Selbst im benachbarten Pommern auf dem Gebiete der ehemaligen Starostei Draheim konnten im Jahre 1848 gutgesinnte katholische Geistliche ihren stockdeutschen Pfarrkindem kaum begreiflich machen, daß sie keine Polen seien." ''' In einem soziologischen Aufriß bemerkte Schmitt, daß „der Adel in Polen die Nation macht". Vertreter des Bürgertums „schließen sich gewöhnlich an den Adel an, oder sie germanisieren sich". Der polnische Bauer verteidige nur die Religion, außerdem „hat [er] durchaus keine politische Gesinnung und es [ist] ihm lediglich gleich, ob er preußisch, polnisch oder russisch ist".'^ Nach Schmitt ist „die Veränderung der Religion bei ihnen [den Polen] das einzige Mittel der gründlichen Germanisierung".'' Weiter führte Schmitt aus: „Zeigt sich irgendwo Sympathie für die Polen, so ist dies nur bei gebildeten Klassen der Fall, welche durch ihren hochdeutschen Bücher-Dialekt, wie durch eine ungeheuere Kluft, von den Ackerbürgern und Bauern geschieden sind. Der gemeine Mann lernt das Hochdeutsche wohl in den Schulen, er versteht es auch, aber er spricht es nicht gerne. Übrigens wird das Hochdeutsche hier zu Lande, wie auch im Posenschen, äußerst rein und fast ohne irgend einen provinziellen Akzent gesprochen, welcher Umstand wahrscheinlich daraus entspringt, daß die gebildeten Klassen erst spät eingewandert sind und gleichsam noch keine Wurzel im Lande geschlagen haben." Auf die gleiche stereotype Art wie die Polen wurde auch die deutsche Bevölkerung beschrieben. So äußerte sich z. B. der Danziger Forscher J. N. Pawlowski im Jahre 1885 über die Deutschen vom Danziger Werder, daß sie „eine gewisse bedächtige, phlegmatische Langsamkeit im Denken, Reden und Handeln" a u f w e i s e n . I n einer anderen Arbeit bezeichnete Pawlowski einen Teil der Einwohner der Provinz als „polnisch sprechende Deutsche". " Charakteristisch war auch die Unsicherheit mancher Historiker bezüglich der tatsächlichen zahlenmäßigen Stärke des polnischen Elements. Der Danziger F. A. Brandstätter schrieb z.B.: „Die Zahlen sind aber unsicher, indem unter den nicht deutschsprechenden Bewohnern eine große Zahl von Simulanten angenommen werden muß, und weil Religion und Nationalität seit dem jesuitischen Einflüsse und der Reaktion des 16. Jahrhunderts nur zu oft bis heute vermengt worden ist, so daß polnisch und deutsch gleichbedeutend mit katholisch und evangelisch gelten sollten." Bemerkenswert war hier die Bemerkung über neue Formen polnischer Aktivität: „Auf polnischer Seite ist man bestrebt gewesen, durch landwirtschaftliche und andere Vereine, Banken ein festeres Zusammenschließen in nationalem Sinne zu erreichen."^" Polen, Masuren und Kaschuben, in geringerem Maße auch Litauer, bildeten wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke ein politisches Problem. Die vom Interesse des preußischen Staates 13 Heinel, Einige Nachrichten über das große Marienburger Werder, besonders in kirchlicher Hinsicht, in: Preußische Provinzial-Blätter 8(1832), S. 326. 14 F. W. Schmitt, Topographie des Faltower Kreises, ebd., 6(1854), S. 275. 15 Ebd., S. 443. 16 Ebd., S. 444. 17 Ebd., S. 449. 18 J. N. Pawlowski, Populäre Geschichte und Beschreibung des Danziger Landkreises, Danzig 1885, S. 24. 19 Ders., Populäre Landeskunde oder Handbuch der Geographie und Geschichte der Provinz Westpreußen, Berlin 1881, S. 31: „Polen und polnisch sprechende Deutsche bewohnen besonders die Gegend um Stuhm, Christburg, Marienwerder, Graudenz, Deutsch-Eylau." 20 F. A. Brandstätter, Land und Leute des Landkreises Danzig, Danzig 1879, S. 331.
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bestimmten Ziele fanden keine Anwendung in jenen Arbeiten, die die kleinsten ethnischen Gruppen der Zigeuner und Phiiipponen beschrieben. Eine der ersten den Zigeunern gewidmeten Arbeiten war ein Aufsatz des Pastors Biester im Regierungsbezirk Gumbinnen, der 1797 in der „Berliner Monatsschrift" veröffentlicht wurde. Ein anderer Forscher, auch aus dem 18. Jahrhundert, war Pastor Zippel aus Niebuden, der im Zusammenhang mit der Erforschung der Zigeuner, die in den litauischen Ämtern Badupoehnen und Darkehmen seßhaft geworden waren, eine relativ große ethnographische Sammlung angelegt hatte. 1832 erschien in den „Preußischen Provinzial-Blättem" erstmals eine Veröffentlichung, die eine Kritik der Haltung der preußischen Regierung und der deutschen Bevölkerung gegenüber den Zigeunern enthielt. ^^ In dieser Zeit wurde die Sammlung von Informationen über Wohnorte und Anzahl von Zigeunergruppen angeregt. Sporadisch wurde das Thema auch in den vierziger Jahren angesprochen. Das Bild der Zigeuner in der historischen Literatur war im Prinzip nicht schlechter als dasjenige anderer Gruppen, insbesondere der Polen und Kaschuben.^' Bei negativen Assoziationen, besonders der Neigung zur Dieberei, wurden die Nationen oft nebeneinandergestellt. In der Beschreibung der Ereignisse von 1807 auf den Gütern der Familie zu Dohna in Schlobitten lesen wir: „Ward einmal etwas wo entwendet, so mutmaßte man auf Bettler, Polacken, Zigeuner und in Johanniszeit auf Pilger nach der H. Linde (aus Westpreußen). Die in der ersten Hälfte des Jahrhunderts allgemein vorherrschende Meinung von der schrittweisen Assimilierung aller fremden Nationalgruppen wurde manchmal von einem wehmütigen Ton begleitet. In einem Artikel von 1842 zählte der Autor zu den Gruppen, die verschwinden würden, Juden und Zigeuner: „Bald werden wir auch keine Juden mehr haben, diese so hochinteressanten Orientalen; und wenn man nur von ganzem Herzen ihre volle Emanzipation wünschen kann - es bleibt dennoch Schade um die Juden! Wer muß nicht die Versuche billigen, die vagabondierenden Zigeuner zu nützlichen Untertanen zu machen - und dennoch Schade, Schade um die Z i g e u n e r . " " Am exotischsten erschienen in der Provinz Preußen die in den dreißiger Jahren eingewanderten Phiiipponen. Die Glaubensorthodoxen wurden neben einer aufmerksamen Beobachtung durch die lokalen Behörden, die u. a. ihre zahlenmäßige Stärke verfolgte (1834 zählten sie z. B. 472, 1841 ca. 1350 Personen), sehr genau in einem Artikel von Emil Titius beschrieben, der in den Jahren 1864/65 in den „Neuen Preußischen Provinzial-Blättem" erschien. Ihr Bild war äußerst negativ: Sie wurden als entlaufene Leibeigene, Deserteure, Landstreicher, Zuchthäusler und Mörder bezeichnet, obwohl ein beträchtlicher Teil der Phiiipponen, die ihr Vermögen durch Handwerk und Gartenbau erwirtschaftet hatten, im Laufe der Zeit in die Schicht der vermögenden Dorfbevölkerung aufgestiegen war. Mein Beitrag ließ Gruppen wie Schotten und Engländer, die im 17. Jahrhundert ins Herzogtum Preußen gekommen waren, unberücksichtigt. In den Hafenstädten spielten auch französische Gemeinden eine beträchtliche Rolle. Unbeachtet blieb auch die Haltung der preußischen Historiographie den Juden gegenüber. Doch das ist ein Thema, das einer eigenständigen Betrachung bedarf. Dieser Beitrag ist nicht als eine Zusammenfassung des histori-
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Über die Zigeuner im Königreich Preußen, in: Preußische Provinzial-Blätter 7(1832), S. 553 f. Ebd., S. 621 f. K. Hopf, Die Einwanderung der Zigeuner in Europa, Gotha 1870. Zimmermann, N o c h eine Erinnerung aus dem Jahre 1807, in: Preußische Provinzial-Blätter 10(1833), S. 455. 25 Ethnographische und geschichtliche Notizen über die Zigeuner.
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sehen Sehrifttums in der Provinz Preußen zu Fragen der nationalen Minderheiten zu verstehen. Er ist lediglich ein Versuch, die typischen Meinungen und Tendenzen darzustellen. Anstelle einer Zusammenfassung sei ein Fragment aus einem Werk des Nobelpreisträgers Czestaw Mitosz angeführt. Es behandelt zwar polnisch-russische Beziehungen, doch wenn wir anstelle des Wortes „Russen" die Bezeichnung „Deutsche" gebrauchten, würde es ebenfalls zutreffen: „Die Polen und Russen lieben einander nicht, genauer gesagt, sie hegen alle möglichen feindseligen Gefühle gegeneinander, von der Verachtung und dem Abscheu bis zum Haß, was eine unklare gegenseitige Anziehung, in der immer das Mißtrauen mitspricht, nicht ausschließt. Die Schranke zwischen ihnen ist die - um Joseph Conrads Worte zu gebrauchen - incompatibility of temper. Vielleicht wirken alle Nationen, als Ganzes, nicht als Gemeinschaft von einzelnen, abschreckend, und die Nachbarn entdecken am speziellen Falle nur die unangenehme Wahrheit über die Menschengesellschaft überhaupt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Polen über die Russen wissen, was die Russen von sich selbst wissen, ohne es zuzugeben, und umgekehrt."
26 Czestaw Mitosz, West und Östliches Gelände, Köln-Berlin 1961, S. 147.
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Polen, Deutsche und Juden und die preußische PoUtik im Großherzogtum Posen. Versuch einer neuen Sicht
Die komplizierte Problematiii der Beziehungen von Polen, Deutschen und Juden zur preußischen Politik im Großherzogtum Posen in ihrer Gesamtheit darzustellen, überschreitet den Rahmen der folgenden Skizze. Daher werde ich die Fakten vernachlässigen und mich auf wenige allgemeine Fragen konzentrieren, die die Spezifik des Posener Gebietes bestimmten. Einige Ansichten, die sich in der Historiographie seit Jahren festgesetzt haben, möchte ich einer kritischen Prüfung unterziehen. Im Lichte neuester Forschungsergebnisse bedarf ein Teil dieser Ansichten nämlich einer gründlichen Revision. Bestimmte Phänomene müssen heute aus einer anderen Perspektive betrachtet werden, oft erweist sich der Katalog der früher gestellten Fragen auch als nicht ausreichend. Zunächst sollen die Hauptmerkmale benannt werden, die im Vergleich zu den anderen Provinzen für das Großherzogtum spezifisch waren. Diese wurden von den Historikern nicht immer beachtet, doch hatten sie meiner Meinung nach einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die Politik der Regierung sowie auf die Haltung der Einwohner und ihre gegenseitigen Beziehungen. 1. Das Großherzogtum Posen war die einzige preußische Provinz, in der die Polen keine Minderheit bildeten, vielmehr stellten sie von 1815 bis 1918 die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Trotz lückenhafter Bevölkerungsstatistiken kann man davon ausgehen, daß ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung niemals unter 60 % fiel. 2. Abgesehen vom Netzedistrikt gehörte das Posener Land von allen Ostprovinzen am längsten zur Adelsrepublik, und dann erlebte es die Episode des Herzogtums Warschau. Viele der hier lebenden Polen erinnerten sich zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch an den unabhängigen Staat. 3. Die katholische Kirche, der die überwiegende Mehrheit der Polen angehörte - die polnischen Protestanten bildeten nur eine kleine Gruppe - , war in einer besonderen Situation. Mit Ausnahme von Julius Dinder standen zwischen 1815 und 1918 ausschließlich polnische Erzbischöfe an der Spitze der Erzdiözesen Gnesen und Posen. Innerhalb des Parochialklerus stellten die Polen ebenfalls die überwiegende Mehrheit. 4. Auch die Sozialstruktur der polnischen Gesellschaft im Großherzogtum wies Besonderheiten auf. Sie war vor allem durch einen verhältnismäßig hohen, wenn auch im Vergleich zu anderen Teilen der Adelsrepublik niedrigen Anteil des Adels (hauptsächlich mittlerer Adel) von 2-3 % gekennzeichnet. Der Adel, dem seit Jahrhunderten die alleinige Führung oblag, war nicht nur durch die Zeit der staatlichen Unabhängigkeit, sondern auch durch einen tradi-
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tionell breiten Anteil am politischen Leben geprägt. ' Eine bedeutend größere Gruppe als in den übrigen Ostprovinzen bildete hier auch die polnische Intelligenz. 1870 umfaßte sie etwa 2300,1914 rund 4000 Personen.^ Sie rekrutierte sich - was wichtig ist - nicht wie in den anderen Teilungsgebieten aus dem Adel, sondern vor allem aus dem Bürgertum. Darüber hinaus war hier trotz des agrarischen Charakters der Provinz die polnische Stadtbevölkerung hauptsächlich Kleinbürger - verhältnismäßig zahlreich. Abgesehen von wenigen Ausnahmen entstand kein polnisches Großbürgertum, und es gab auch nur eine kleine Gruppe von Industriearbeitern. Im Großherzogtum bildete die polnische Bevölkerung in gesellschaftlicher Hinsicht ein vollständiges, hierarchisiertes Ganzes mit einer deutlich ausgebildeten Elite - zunächst aus dem Adel und seit den 1840er Jahren auch aus der Intelligenz - , einem umfangreichen Kleinbürgertum, einer seit der Regulierung verhältnismäßig starken Bauernklasse und einer Institution mit zunehmend nationalen Zügen, der katholischen Kirche. 5. Die Deutschen stellten in der Provinz Posen eine Minderheit dar, was innerhalb des Deutschen Ostens einmalig war. Ihr Anteil überstieg niemals 40 Nur die westlichen Kreise und der Netzedistrikt waren mehrheitlich von Deutschen besiedelt. Die Deutschen dominierten deutlich innerhalb der Stadtbevölkerung, erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurde ihr Übergewicht geringer. Auf dem Lande blieben sie dagegen in der Minderheit. Als Immigranten wiesen sie eine unvollständige Sozialstruktur auf. Im Jahre 1815 rekrutierte sich die deutsche Bevölkerung nämlich nur aus einer schmalen Gruppe von Grundbesitzern, einem zahlenmäßig dominierenden Bürgertum, Bauern und einem Grüppchen von Beamten, die im Dienste des Herzogtums Warschau gestanden hatten. Erst mit der Zeit setzte ein zahlenmäßiger Anstieg der schon vorhandenen Schichten, vor allem der Grundbesitzer, und eine Bereicherung der sozialen Pyramide durch neue Segmente - Militär, Beamte - ein, wodurch eine „Normalisierung" erreicht wurde. Die Sozialstruktur unterschied sich aber immer noch von der vieler Provinzen, in denen die wohlhabenden und mittleren Bauern sowie das Kleinbürgertum dominierten, wohingegen sich kein Bürgertum im westeuropäischen Sinne gebildet hatte. Hinsichtlich ihrer Bindung an die Provinz kann man die Deutschen in drei Hauptgruppen unterteilen: 1) Familien, die hier - ähnlich wie die Polen - schon zur Zeit der Adelsrepublik und seit Generationen lebten, 2) Siedler, die sich seit den Teilungen in der Provinz niederließen und allmählich ein Regionalbewußtsein entwickelten, 3) diejenigen, die nur vorübergehend hier lebten wie die Beamten, Soldaten und ein Teil der Grundbesitzer, die sich im allgemeinen nicht mit der Region verbunden fühlten. Die deutsche Bevölkerung war auch konfessionell untergliedert. Die Mehrheit gehörte zur evangelischen Kirche, lediglich bis zu 10 % waren Katholiken.
Dies unterstreicht auch Witold Molik, The Poles in the Grand Duchy of Poznan, 1850—1914, in: Comparative Studies on Governments and Non-Dominant Ethnic Groups in Europe, 1850— 1940. The Formation of National Elites, ed. A. Kappeler, Dartmouth-New York 1992, S. 19. Witold Molik, Assimilation der polnischen Intelligenz im preußischen Teilungsgebiet durch Bildung 1871 - 1 9 1 4 , in: Archiv für Sozialgeschichte 32(1992), S. 81-93. Siehe meine Erwägungen zu diesem Thema: Deutsche in Posen 1815—1970, in: Deutsche Geschichte im Osten Europas - Welt zwischen Warthe und Weichsel, hrsg. von Joachim Rogali (im Druck). Siehe auch u. a. Jerzy Kozlowski, Niemcy w Poznanskiem do 1918 roku, in: Polska - Niemcy mniejszosc niemiecka w Wielkopolsce. Przesztosc i terazniejszosc, pod. red. Andrzeja Saksona, Poznan 1994, S. 18.
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6. In der Provinz Posen lebte vor allem zu Beginn des hier interessierenden Zeitraums eine sehr große Zahl von Juden, die fast ausschließlich in den Städten wohnte. Gleich nach der Gründung des Großherzogtums Posen umfaßte sie mehr als 40 % der Israeiiten der gesamten Hohenzollernmonarchie. Ihre Anzahl erreichte in den 1840er Jahren mit 81.000 (6 % der Gesamtbevölkerung) ihren Höhepunkt, danach sank sie kontinuierlich auf etwa 35.000 um die Jahrhundertwende und damit auf 2 % der Gesamtbevölkerung."* Die ökonomische Lage der Juden divergierte stark, aber eine relativ große Gruppe, vor allem Kaufleute und Vertreter der freien Berufe, gehörte den wohlhabenden Schichten an. In der Zeit der Adelsrepublik hatten sie vollkommen getrennt von der christlichen Gesellschaft gelebt. Die hier skizzierte Spezifik des Großherzogtums ergibt, daß die preußische Regierung gezwungen war, gegenüber der Provinz eine besondere Politik zu verfolgen, die vor allem die Existenz dreier großer, sehr unterschiedlicher nationaler Gruppen zu berücksichtigen hatte. Dagegen mußten die hier lebenden Polen, Deutschen und Juden nicht nur eine bestimmte Haltung gegenüber der Regierung und ihrem Vorgehen, sondern auch gegenüber den anderen Nationalitäten einnehmen. Die meisten Historiker, die sich mit der Politik der preußischen Regierung beschäftigt haben, nahmen diese Abhängigkeiten gar nicht wahr.' Meist behandelten sie diese Frage ausschließlich linear, das heißt nur durch das Prisma der Konfrontation zwischen der preußischen Regierung und der als Monolith betrachteten polnischen Gesellschaft. Deutsche und Juden dagegen stellten höchstens den Hintergrund der Betrachtung dar. Sie standen dann auf der Seite der Verwaltung, immer bereit, deren antipolnische Maßnahmen zu unterstützen. Diese methodologische Einengung rührte daher, daß die Thematik der preußischen Herrschaft über die Provinz Posen von Anfang an als Werkzeug im polnisch-deutschen Kampf genutzt wurde. Die Hauptaufgabe der Forscher bestand darin, Argumente für die aktuelle Politik zu liefern. In vielen Fällen wurden Publikationen also nicht mit dem Ziel verfaßt, Phänomene sachlich zu analysieren, sondern zu beweisen, welche Seite recht habe. Es ist daher nicht verwunderlich, daß das von den polnischen und deutschen Historikern kreierte Bild der Vergangenheit für lange Zeit nur in Schwarzweißmalerei bestand und die verwendete Sprache oft an Kriegsberichterstattung erinnerte (Vernichtung, Kampf a u f b e b e n und Tod usw.). Dies führte leider zur Bildung und Aufrechterhaltung negativer Stereotype in beiden Gesellschaften. Versuche, von diesem Schema auf breiter Ebene abzuweichen, wurden erst in letzter Zeit unternommen. Sie sind amerikanischen Historikern, die sich mit der Geschichte der Provinz Posen beschäftigten, am besten gelungen.^
Siehe u. a. Najnowsze dzieje Zydów w Polsce w zarysie (do 1950 roku), pod red. J. Tomaszewskiego, Warszawa 1 9 9 3 , 8 . 6 3 - 6 4 . Ausführlich behandelt die Problematik der Historiographie zur preußischen Politik im Großherzogtum Posen Lech Trzeciakowski, Polityka Prus na polskich ziemiach zachodnich w XIX w. w historiografii polskiej i niemieckiej, in: Stosunki polsko-niemieckie w historiografii, 2. Teil, pod. red. J. Krasuskiego, G. Labudy i Α. Walczaka, Poznan 1984, S. 134-324. Eine Besprechung der neueren Literatur bietet Witold Molik, Dzieje Wielkopolski pod panowaniem pruskim jako przedmiot badan historycznych, in: О uprawianiu i znaczeniu historii regionalnej, Ciechanów-Torun 1991, S. 5 4 - 6 9 . Siehe u. a. William W. Hagen, Germans, Poles and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East 1 7 7 2 - 1 9 1 4 , London 1980; John J. Kulczycki, Strajki szkolne w zaborze pruskim 1901 - 1 9 0 7 . Walka о dwujçzyczn^ oswiatç, Poznan 1993.
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Die polnische und die deutsche Historiographie stimmten nur in einer Frage iiberein: daß das strategische Ziel der preußischen Politik die Erhaltung der Provinz für Preußen sei. In allem übrigen unterschieden sie sich diametral. Hier ist ein Aspekt besonders hervorzuheben: Sosehr die deutschen Historiker alle antipolnischen Schritte der Regierung nur aus dem Willen der Erhaltung der Provinz für Preußen erklärten, sosehr exponierten die polnischen Historiker die nationalen Motive der Politik. Dieser Quelle entsprang die These - die sich übrigens über 100 Jahre hielt - , daß die Bekämpfung des Polentums in der preußischen (später deutschen) Tradition liege und die deutsch-polnische Vergangenheit eine ewige Kette von Kämpfen sei. Hinzuweisen ist auch auf das komplette Durcheinander und die Willkür bei der Verwendung von Begriffen. Im Grunde wird „Germanisierung" nicht definiert, und als Synonyme werden verschiedene Termini wie Entnationalisierung, Vernichtung, Integration und Assimilation verwendet. Die Definition und klare Abgrenzung der Begriffe, zu ergänzen wäre hier noch die Akkulturation, erscheint daher äußerst notwendig. Beschreiben wir zunächst die preußische Politik. Die Regierung war überzeugt, ihr strategisches Ziel, die Provinz zu erhalten, nur durch deren vollständige Integration in die preußische Monarchie realisieren zu können. Dem waren meiner Meinung nach während des ganzen 19. Jahrhunderts alle Aktivitäten untergeordnet, lediglich die Taktik und die Methoden wurden geändert. Nur in diesem Kontext ist die Vereinheitlichung der Gesetze, der Administration, des Gerichtswesens und auch des Schulwesens zu sehen. Die Frage der nationalen Eigenheit der Polen hatte zumindest am Anfang kein größeres Gewicht, soweit sie nicht dem Integrationsprozeß entgegenstand. Nach kurzer Zeit zeigte sich jedoch, daß die Regierung auf Grund der völligen Andersartigkeit der Provinz bei der Realisierung ihrer Politik auf ernsthafte Schwierigkeiten bei der polnischen Bevölkerung stieß; Schwierigkeiten, die für einen absolutistischen Staat neu und unverständlich waren. Für die Regierung war es ein Schock, daß verhältnismäßig viele Polen aus dem Großherzogtum am Novemberaufstand beteiligt waren. Sichtlich erschreckt von der Vision eines wiedererstandenen Polens, versuchte die Regierung, den Kampf gegen die polnische Irredenta aufzunehmen. Dieser Kampf beruhte vor allem darauf, die Dissonanz zwischen der Provinz Posen und den anderen Provinzen aufzulösen, d. h. die Polen durch die Ansiedlung von Deutschen in die Rolle der Minderheit zu drängen, die Bedeutung der polnischen Elite einzuschränken und sich die katholische Kirche unterzuordnen. Die Bemühungen der Regierung erbrachten aber nicht die erwarteten Resultate. Im Gegensatz zu den von Deutschen dominierten Provinzen, in denen die Minderheiten lediglich zu defensiven Maßnahmen imstande waren, bildeten die Polen in der Provinz Posen Schritt für Schritt eine parallele Gesellschaft mit eigenen Institutionen heraus, gewissermaßen einen Staat im Staate. Während der ganzen Teilungszeit fühlten sie sich als Hausherren in der Provinz, die Preußen behandelten sie als Eindringlinge. Es gelang der Regierung tatsächlich, die Provinz formal mit dem Rest der Monarchie zu vereinheitlichen, aber die irritierende Dissonanz wurde nicht aufgelöst. Die Polen stellten weiterhin die Mehrheit der Bevölkerung, die Elite wurde nicht geschwächt, sondern im Gegenteil immer stärker, ähnlich wie die katholische Kirche. Natürlich zeigte die preußische Politik gewisse Effekte, zum Beispiel die Reduzierung des polnischen Grundbesitzes, aber sie 7 Darüber schreibt auch Hans-Ulrich Wehler, Die Polenpolitik im deutschen Kaiserreich 1871 — 1918, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung. Studien zur Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Theodor Schieder, hrsg. von Kurt Kluxen und Wolfgang J. Mommsen, München-Wien 1968, S. 312.
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standen in keinem Verhältnis zu den Anstrengungen der Regierung. Die Ziele der Politik wurden also nur teilweise erreicht. Der Regierung fehlten Kenntnisse über die Modalitäten, etwa bei den Beamten in der Provinz. Dieser Mangel wurde durch gewisse psychologische Abhängigkeiten wie den beharrlichen Glauben an die eigene Größe und die Schwäche der Polen verstärkt. Dadurch war die Regierung nicht in der Lage, Schlüsse aus evidenten Fehlem zu ziehen. Es fehlte ihr jegliche Flexibilität. Die einzige Lösung sah sie in der völlig sinnlosen, offenbar einer Zwangsvorstellung entsprungenen Eskalierung antipolnischer Maßnahmen. Der polnischen Historiographie folgend kann die preußische Politik aber nicht ausschließlich als eine Kette germanisierender Maßnahmen betrachtet werden. Besonders die Erfolge im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich sind hier zu unterstreichen. Der Staat spielte die Schlüsselrolle bei der Auflösung der feudalen Strukturen nicht nur auf dem Land, sondern auch in den Städten. Große Bedeutung hatten auch der Aufbau einer modernen Infrastruktur, die Förderung neuer Methoden in der Landwirtschaft sowie die Entwicklung des Bildungswesens. All dies, entgegen der Intention der Regierung, erleichterte den Polen den Prozeß der Selbstmodernisierung erheblich. Die bis heute vertretene Ansicht, daß das Posener Land den Preußen nichts zu verdanken habe, hält der Kritik nicht stand. Bei der Beurteilung der preußischen Politik wird schließlich im allgemeinen vergessen, Vergleiche anzustellen." Dies betrifft auch die Beziehungen der Regierung zur katholischen Kirche, die man nicht nur unter partikularem Aspekt betrachten darf, sondern auch im Rahmen des Versuchs sehen muß, die geistliche der säkularen Macht unterzuordnen, was für einen protestantischen Staat ein ganz normaler Vorgang ist.' Um diese Problematik auf neuem Wege zu erforschen, halte ich folgende Frage für die aufschlußreichste: Inwieweit unterschied sich die preußische Politik gegenüber den Polen in der Provinz Posen von der Nationalitätenpolitik in den anderen Provinzen sowie in anderen Staaten? Bei der Analyse der bisher erschienenen Sekundärliteratur läßt sich nämlich der Eindruck gewinnen, als erwarteten die Autoren vom preußischen Staat des 19. Jahrhunderts eine Behandlung der Polen, die Minderheiten noch heute in vielen demokratischen Staaten - Polen eingeschlossen - nicht erfahren. Welche Haltung nahm die polnische Bevölkerung gegenüber der preußischen Politik ein? Bis zum Ende der 1820er Jahre bemühte sich der Adel, der sich immer noch bedeutender Privilegien erfreute, auf legalem Wege um eine möglichst umfassende Autonomie für die Provinz Posen, ähnlich der des Königreichs Polen, um so die durch die Teilungen verlorene Beteiligung an der Regierung zurückzuerlangen. Nur eine kleine Gruppe des Kleinadels rief zum nationalen Aufstand auf. Nach dem Scheitern des Novemberaufstands nahmen auch andere gesellschaftliche Gruppen am politischen Leben teil. Es entstanden zwei Strömungen: das von Grundbesitzern und der Intelligenz gebildete Lager der „organischen Arbeit", das den Wiederaufbau Polens in die Zukunft verlegte und eine Stärkung des ökonomischen und intellektuellen Potentials der Polen forderte, sowie das aus Grundbesitzern, Intelligenz und Kleinbürgertum zusammengesetzte Lager des bewaffneten Kampfes. Letzteres hatte zunächst
8 Einige Historiker verglichen mitunter (auch zu Instrumentalisierungszwecken) die Lage der Polen im russischen Teilungsgebiet und in der Provinz Posen. John J. Kulczycki, der über die Schulstreiks schrieb und feststellte, daß die Maßnahmen der Regierung nichts Besonderes darstellten und in hohem Grade dem Geist der Epoche entsprächen, gehört zu den seltenen Fällen (op. cit., S. 299). 9 Dies unterstreicht Z. Zielinski, Kosciól i naród w niewoli, Lublin 1995, S. 71ff.
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wahrscheinlich den größeren Einfluß. Die fehlgeschlagenen Aufstandsversuche in den Jahren 1845 und 1846 sowie die anschließenden Verhaftungen schmälerten jedoch seinen Einfluß. Anders als viele Historiker bin ich der Ansicht, daß die Mehrheit innerhalb der polnischen Eührungsschicht, besonders unter den Grundbesitzern, schon zu dieser Zeit aufhörte, an die Möglichkeit eines Aufstands in allen drei Teilungsgebieten und damit auch an den kurzfristigen Wiederaufbau Polens zu glauben. Einen Beleg dafür stellen meiner Meinung nach die Ereignisse des Jahres 1848 dar, als die Idee einer autonomen Provinz die weitaus meisten Anhänger fand.'" Nach 1848 gab es meines Erachtens keine emsthafte Alternative zur „organischen Arbeit". Ich bin daher nicht mit der These einverstanden, daß die polnische Elite aus Angst vor einer sozialen Revolution zu dieser Idee zurückgekehrt sei. Offen bleibt auch, welche Gruppe die Revolution hätte anführen sollen. Die Stärkung der eigenen Kräfte und die maximale Verteidigung der nationalen Rechte wurden nun zu Hauptzielen der Polen. Seit Ende der 1840er Jahre gelang es ihnen, schrittweise ein Organisationssystem zu bilden, das nicht nur fast alle Lebensbereiche erfaßte, sondern dank der guten Kommunikation zwischen Elite und Masse auch Vertreter aller gesellschaftlichen Schichten einbezog. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren das insgesamt etwa 40 % der polnischen Gesellschaft. Die Führungskreise wuchsen von etwa 50 Personen im Jahre 1828 auf etwa 2500 im Jahre 1914, und auch die gesellschaftliche Schichtung änderte sich. In den 1840er Jahren begannen die Grundbesitzer ihre dominierende Rolle im öffentlichen Leben an die Intelligenz zu verlieren. Endgültig erfolgte dies in der Caprivi-Ära. Erhöhte Aufmerksamkeit verlangt die innerhalb der polnischen Bewegung ständig wachsende Rolle des Kleinbürgertums, das nirgendwo solch eine wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Bedeutung erlangte wie hier. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte es 20 % der Führungskräfte." Die zweifellos vorhandenen Errungenschaften der Polen entziehen sich jedoch einer objektiven Beurteilung, wenn man, wie bisher in der polnischen Historiographie geschehen, nicht auch die Nachteile berücksichtigt. Nicht alle Funktionäre waren makellos.'^ Außerdem sollte man sich vor Augen halten, daß selbst auf dem Höhepunkt der Entwicklung 60 % der Gesellschaft außerhalb der Organisationen standen. In diesem Kontext muß die bisher kaum erforschte Frage nach der Loyalität der polnischen Bevölkerung zum Staat, vor allem während des Ersten Weltkrieges, gestellt werden. Die keineswegs niedrige Beteiligung der Polen an den Krieger- und Landwehrvereinen oder als Zuschauer an den Paraden der preußischen Truppen darf ebenfalls nicht verschwiegen werden. Ich würde sogar die These wagen, daß die Polen sich Preußen als dem Staat, in dem sie lebten, auf ihre Art zugehörig fühlten. Obwohl sich die Mehrheit der Polen nicht, wie man annehmen könnte, germanisierte, akkulturierten sie sich doch schrittweise durch Militärdienst (niedrigere Schichten) und Bildung (höhere Schichten) sowie durch die Rivalität und den täglichen Kontakt mit den Deutschen - sie wur-
10 Darüber schreibe ich ausführlicher in dem Aufsatz: Das Großherzogtum Posen im Revolutionsjahr 1848, in: Das Jahr 1848/49 und die Revolutionen in Ostmitteleuropa (im Druck). 11 Zum Thema der Entwicklung der polnischen Nationalbewegung im Posener Land siehe Witold Molik, The Poles ..., S. 19 ff. Über die besondere Rolle des Kleinbürgertums schreibt auch Rudolf Jaworski, Handel und Gewerbe im Nationalitätenkampf. Studien zur Wirtschaftsgesinnung der Polen in der Provinz Posen (1871 - 1 9 1 4 ) , Göttingen 1986, S. 164. 12 Witold Molik, The Elites of the Polish National Movement in Prussian Poland in the Late 19th and Early 20th Centuries, in: Polish Western Affairs 34 (1993) Nr. 2, S. 80.
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den mental und kulturell den Deutschen ähnlich. Dies wurde besonders nach der Wiederherstellung Polens im Vergleich zu den Polen aus den anderen Teilungsgebieten sichtbar. Unbeachtet ist auch die Assimilation bei den Polen geblieben, besonders jener, die in der Verwaltung oder beim Militär Karriere machen wollten. Gegenüber der deutschen Bevölkerung betrieb die preußische Regierung zunächst keine besondere Politik. Die Deutschen unternahmen - außer in den Selbstverwaltungsorganen vor allem wegen ihrer großen Zerstreuung und Heterogenität keinerlei Aktivitäten. Erst Eduard Flottwell begann mit der wirtschaftlichen Förderung der Deutschen und unternahm den Versuch, sie für seine Politik auszunutzen. Unterstützung erlangte er kaum, aber die von ihm in größerem Maße begonnene Ansiedlung, die das Deutschtum stärken sollte, hatte weitreichende Folgen. Sie machte meines Erachtens den Aufbau von Beziehungen zwischen beiden Bevölkerungsgruppen definitiv unmöglich. In ihrer Politik mußte die Regierung seitdem die Interessen der Deutschen in ihren Plänen berücksichtigen. Die Neusiedler kannten im Gegensatz zu den alteingesessenen Deutschen nicht mehr die Tradition der Adelsrepublik, für sie war das Land urdeutsch. Die Forderungen der Polen sahen sie daher als völlig unbegründet an. Darüber hinaus wollten die konservativ-monarchistisch gesinnten Grundbesitzer und Beamten, die später von einem Teil der Bauern unterstützt wurden, entgegen der Intention der Regierung nicht nur deren Werkzeug sein, sondern auch aktiv Einfluß auf die Politik nehmen. Dies machten sie besonders 1848 deutlich. Ihre Initiativen, in denen sie seit den 1840er Jahren entschiedene Schritte gegen die Polen verlangten, stimmten jedoch oft nicht mit den Plänen der Regierung überein, die zu dieser Zeit noch keine nationalen Spannungen hervorrufen wollte. Anders als in der polnischen Historiographie behauptet, bedeutete die zahlreiche deutsche Bevölkerung also nicht in jedem Falle eine Erleichterung für die Politik der Regierung. Letztere war vor 1871 sogar gezwungen, mehrmals Aktivitäten gewisser Gruppen zu bremsen. Die deutsche liberale Bewegung, die sich seit Mitte der 1830er Jahre in der Provinz herauszubilden begann und durch das wohlhabende Bürgertum sowie Vertreter der freien Berufe repräsentiert war, teilte zwar nicht die Ansichten der konservativen Kreise, wollte den Polen aber höchstens begrenzte Rechte zuerkennen. Man muß allerdings betonen, daß das politische Engagement der Deutschen nicht groß war, wenn wir von ihrer Teilnahme an Wahlen und ihren Vertretern in den Selbstverwaltungsorganen absehen. Eine Ausnahme stellte hier lediglich die Zeit des Völkerfrühlings dar.'" Nach 1871, vor allem seit dem Beginn der 1890er Jahre, zählte die Regierung auf Grund der von ihr geschaffenen ökonomischen Anreize auf eine breite Unterstützung ihrer gegen die Polen gerichteten Politik. Diese Rechnung ging nicht auf. Auch wenn die Aktivitäten der deutschen Bevölkerung bis 1914 deutlich zunahmen, gelang es der preußischen Regierung nicht, alle Deutschen für ihre Politik zu gewinnen. Breitere Unterstützung erlangte sie traditionell nur von Seiten der Grundbesitzer, Beamten (auch der Lehrer und der evangelischen Geistlichkeit) und eines Teils der Bauern. Es muß aber betont werden, daß die überwiegende Mehrheit der Deutschen, besonders innerhalb des liberal eingestellten, oft altansässigen Bürgertums, sich nicht für die antipolnische Politik engagierte. Vertraut mit den Verhältnissen in der Provinz, glaubten sie nicht an den Erfolg dieser Politik. Auch die nach 1886 ins Land gerufenen Kolonisten enttäuschten die Regierung, denn sie unterstützten bei den Wahlen 13 Darüber schreibt ausführlich Witold Molik, Assimilation .... Siehe auch Rudolf Jaworski, Handel und Gewerbe..., S. 74 ff. 14 KrzysztofMakowski, Deutsche...
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nicht immer deutsche Kandidaten und respektierten nicht den wirtschaftlichen Boykott. Letztlich endete die Politik der Regierung gegenüber den Deutschen in einem Fiasko. D i e anhaltende Ostflucht ist dafür ein deutlicher B e w e i s . D i e Unterstützung der antipolnischen Politik nahm erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu." D i e Politik der Regierung und der w a c h s e n d e Interessenkonflikt z w i s c h e n Polen und Deutschen blieben natürlich nicht ohne Einfluß auf die Beziehungen der Nationalitäten untereinander. Nach dem Ende der „Versöhnungsära" in den Jahren 1815 bis 1830 begannen sie sich schrittweise zu verschlechtem. Zunächst blieben die Konflikte jedoch nur auf die Eliten beider Seiten beschränkt, erst mit der Zeit erfaßten sie auch die unteren Schichten. Es muß jedoch nachdrücklich betont werden, daß Kontakte vor allem auf der formalen Ebene vermieden wurden. Auf vielen anderen Ebenen - in der Wirtschaft und im täglichen Leben im weitesten Sinne - wurden durchaus weiterhin Beziehungen unterhalten, vor allem in jenen Städten und Regionen, w o die Bevölkerung schon seit langer Zeit gemischt war. D i e häufigen Kontakte mit den Polen bewirkten manchmal auch eine Assimilierung der Deutschen, besonders bei den katholischen Deutschen, vor allem, seitdem der Katholizismus mit dem Polentum gleichgesetzt wurde. Ein wichtiges Problem stellten für die Regierung die Juden dar. Zunächst fehlte ein klares Konzept, wie die Juden zu behandeln seien. Das Ziel der Regierung bestand einzig darin, sie weiterhin von der christlichen Bevölkerung zu separieren. Deshalb entschied man sich nicht dafür, die preußische Judengesetzgebung auf das Großherzogtum zu übertragen. Die Regierung mischte sich nicht in die inneren Angelegenheiten der Gemeinden ein, begann aber mit der Reformierung des S c h u l w e s e n s , die zu weltlicher Bildung unter staatlicher Aufsicht führen sollte. Erst Flottwell setzte durch die Verordnung von 1833, die den wohlhabenden Juden die Naturalisierung ermöglichte, den schrittweisen Assimilationsprozeß in Gang. Der in der Historiographie verbreiteten Meinung, daß das Hauptmotiv seines Vorgehens in der Ausnutzung der Israeliten für die Germanisierungspolitik lag, ist nicht zuzustimmen. A u s neuesten Forschungen geht hervor, daß diese Frage in den Plänen der Regierung nur von marginaler Bedeutung war." D i e von der Regierung angebotene Möglichkeit zur Naturalisierung entsprach den Erwartungen vieler Juden. Innerhalb der höheren sozialen Schichten wurde eine größere Gruppe zu Anhängern der Haskala (der jüdischen Aufklärungsbewegung), also jener, die Kultur und Sprache des Staates, in dem sie lebten, übernahmen, ihren Glauben behielten, ihren Kult aber reformierten. Einen zusätzlichen Anreiz bildete die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Im Falle der Posener Juden kann man also nicht von Germanisierung sprechen, sondern nur von freiwilliger Assimilation, höchstens davon, daß sie sich selbst germanisierten. Das Ziel der preußischen Regierung wurde also ohne großen Einsatz erreicht, und die Juden sahen die Regierung seither als ihre Wohltäterin an, besonders als die Verfassung die rechtli-
15 Ausführlicher zu den Deutschen im Posener Land in diesem Zeitraum schreiben Bolestaw Grzes, Jerzy Koziowski, Aleksander Kramski, Niemcy w Poznanskiem wobec polityki germanizacyjnej 1 8 1 5 - 1 9 2 0 , pod red. Lecha Trzeciakowskiego, Poznañ 1976, S. 198 ff. Siehe auch Lech Trzeciakowski, Walka о polskosc miast Poznanskiego na przetomie XIX i XX wieku, Poznan 1964, S. 76 ff. 16 Krzy sztof Makowski, Deutsche... ; Jerzy Koztowski, Niemcy ..., S. 16 ff. 17 Sophia Kemlein, Die Posener Juden 1815-1848. Zur Genese einer preußischen Judenheit, Soltau 1995, Phil. Diss., S. 9 3 - 9 5 .
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che Gleichstellung aller Juden einführte. Konsequenterweise wurden sie zu den loyalsten Untertanen in der Prozinz, und bei jeder Gelegenheit bemühten sie sich, die Anhänglichkeit an ihr deutsches Vaterland zu beweisen. Mit der Zeit wuchs bei den Juden jedoch die Erbitterung. Statt Dankbarkeit ernteten sie Abneigung von seiten der Deutschen, besonders der Konservativen. Dies traf auch auf die Bürokratie zu. In den Organisationen, die sich aktiv in der antipolnischen Politik engagierten (z. B. bei den Hakatisten), war die jüdische Beteiligung also gering, und dies um so mehr, als dort oft antisemitische Parolen offen geäußert wurden. Die Mehrheit der Juden verband sich nach 1848 mit der deutschen liberalen Bewegung und danach mit den Freisinnigen. Die Beziehungen zur polnischen Bevölkerung entwickelten sich ebenfalls schlecht. Die Polen konnten den Juden nämlich nicht verzeihen, daß sie die Deutschen unterstützten. Vor allem warfen sie ihnen den angeblichen Verrat von 1848 vor. Auch die polnische Bewegung äußerte im Laufe der Entwicklung immer häufiger antisemitische Losungen. Diese waren aber vor allem ökonomisch motiviert." Fassen wir zusammen: Wir sollten die preußische Politik in der Provinz Posen nicht mehr linear betrachten. Ich habe mich bemüht, die Komplexität des Problems aufzuzeigen. Als Schema der bestehenden Beziehungen kann man sich ein Dreieck vorstellen, an dessen Scheitelpunkten sich drei aufeinander wirkende Kräfte befanden: die preußische Regierung, die Polen und die Deutschen. Die Juden befanden sich dagegen im Innern des Dreiecks. Die preußische Regierung spielte ungewollt eine nicht geringe Rolle bei der kraftvollen Entwicklung der polnischen Bewegung. Auf der einen Seite bewahrte sie die Polen vor größeren inneren Spannungen, indem sie von oben sozioökonomische Reformen einführte. Auf der anderen Seite führte die Regierung die Polen durch fortlaufend gegen sie gerichtete Maßnahmen zu einer immer größeren Konsolidierung und zum Sieg der Solidaritätsidee." Man könnte sagen, daß die Regierung günstige Bedingungen für die Polen in der Provinz Posen schuf und sie zusammen mit den Deutschen zur Rivalität auf sozioökonomischer Ebene herausforderte. Die Leistung der Polen bestand dagegen darin, daß sie zum ersten Mal in der Geschichte solch eine Herausforderung annahmen und als Sieger daraus hervorgingen. Dies rief bei der Regierung tiefe Frustration hervor und führte zu immer nervöseren Reaktionen. Die Deutschen, wirtschaftlich von der Regierung unterstützt und zunächst durch die Forderung der Polen nach Unabhängigkeit, danach durch deren Erfolge auf sozioökonomischer Ebene beunruhigt, begannen aktiv zu werden und Druck auf die Regierung auszuüben, von der sie die effektive Verteidigung ihrer Interessen erwarteten. Aber abgesehen von der Gruppe der Aktivisten engagierten sie sich ungern bei antipolnischen Handlungen und überließen diese der Verwaltung. Die zu groß gewordenen Fittiche der Regierung führten zu einer eigentümlichen Demoralisierung der Deutschen. Allmählich erstarb in ihnen der Rivalitätsgeist, und in der Konsequenz waren sie in der Auseinandersetzung mit der polnischen Bewegung ohne die Hilfe des Staates oft ratlos. Im Gegensatz zu den Polen hatten die Deutschen stets die Alternative, in andere Provinzen umzuziehen, wo sie bessere Lebensbedingungen vorfinden konnten. Viele machten von dieser Möglichkeit Gebrauch und setzten damit ihre wirtschaftlichen Interessen über die heroische Verteidigung des Deutschtums im Osten. Die Juden hatten der Politik der preußischen Regierung am meisten zu verdanken. In Einklang mit ihren eigenen Forderungen wurden sie verbürgerlicht. Im Endergebnis entspra18 Dies unterstreicht Rudolf Jaworski, Handel und Gewerbe ..., S. 133—134. 19 Ebd., S. 155 ff.
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chen sie mit ihrer Akkulturation und dann der Assimilation den Erwartungen der Regierung, indem sie loyale Untertanen wurden. Aber auf gesellschaftlicher Ebene und im öffentlichen Leben von den Polen wie von den Deutschen bedrängt, bewegten sie sich im Innern des Dreiecks wie eine Kugel auf dem Billardtisch. Da sie für sich keinen Platz in dem Dreiparteien-Spiel der Provinz Posen sahen, verließen sie die Provinz massenweise, ein Teil wandte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts dem Zionismus zu.^° Übersetzung: Sophia Kemlein
20 William W. Hagen, Germans ..., S. 3 1 3 - 3 1 6 .
PETER KUNZE
Zur preußischen und sächsischen Sorbenpolitik im 19. Jahrhundert
Eine Gesamtdarstellung zur Sorbenpolitik der Hohenzollem und der Wettiner steht noch aus. Sie stellt jedoch eine wichtige Voraussetzung dar, um die nationale und kulturelle Entwicklung der Sorben von den vergangenen Jahrhunderten bis in die Gegenwart in ihrer ganzen Breite fassen, Unterschiede zwischen einzelnen Regionen erklären und das Phänomen der nationalen Wiedergeburt richtig verstehen zu können. Zahlreiche Detailstudien erlauben aber erste Verallgemeinerungen. Dabei zeichnen sich deutlich zwei unterschiedliche Standpunkte der Autoren ab. Die einen leugnen jegliche nationale Unterdrückung und stellen eine Germanisierungspolitik generell in Abrede, ja für sie gab es überhaupt keine Sorbenpolitik. Der markanteste Vertreter dieser Richtung war der Landeshistoriker Rudolf Lehmann.' Ihm gegenüber steht die Mehrzahl der sorbischen Historiker, die die Meinung vertritt, daß die sorbische Bevölkerung im Laufe der Jahrhunderte einer steten nationalen Unterdrückung ausgesetzt war, die sich in einzelnen Territorien zu einzelnen Zeiten unterschiedlich äußerte und von den jeweiligen konkreten außenpolitischen, militärischen, wirtschaftlichen, kultur- und kirchenpolitischen Zielsetzungen der beiden Herrscherhäuser Wettin und Hohenzollem abhängig war.^ Diese vielschichtige Sorbenpolitik schwankte zwischen Unterdrückung, Duldung und Förderung und war z. T. raschen Veränderungen unterworfen. Eine dritte Richtung räumt zwar eine sorbenfeindliche Staatspolitik der Hohenzollem ein, ignoriert diese aber für die Wettiner.^ Schon allein diese unterschiedlichen Standpunkte machen die Kompliziertheit der Problematik deutlich, denn alle drei Richtungen versuchen natürlich, ihre Thesen mit historischen Fakten zu untermauem. Im folgenden sollen einige Grundzüge im Verhalten der beiden Herrscherhäuser gegenüber den Sorben in der Ober- und Niederlausitz im 19. Jahrhundert aufgezeigt werden. Ohne einen Rückblick auf das 17. und 18. Jahrhundert, als mit der Herausbildung des Absolutismus, der sich in Brandenburg mehr, in Sachsen weniger entfal-
1 Rudolf Lehmann, Geschichte der Niederlausitz, Berlin 1963; ders., Geschichte des Wendentums in der Niederlausitz bis 1815 im Rahmen der Landesgeschichte, Langensalza 1930. 2 Jan Brankack, Frido Mètsk, Geschichte der Sorben, Bd. 1: Von den Anfängen bis 1789, Bautzen 1977; Jan Soha, Hartmut Zwahr, Geschichte der Sorben, Bd. 2: Von 1789 bis 1917, Bautzen 1974. 3 900-Jahr-Feier des Hauses Wettin 1089-1989. Festschrift. Hrsg. Hans Assa von Polenz und Gabriele von Seydewitz, Bamberg 1989; Sigmund Musiat, Wettinojo a Serbja, in: Katolski Posot, Nr. 11, 4.7.1989,5.86-87.
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ten konnte, Schritte zur kleinstaatlichen Zentralisierung und somit zur stärkeren Eingliederung der sorbischen Bevölkerung mit ersten Sprachverboten und Zwangsmaßnahmen gegen das Sorbische einhergingen, bleibt dabei die Sorbenpolitik des 19. Jahrhunderts unverständlich.
Zur Niederlausitz mit dem Kreis Cottbus Die Niederlausitz wird oftmals als Paradebeispiel für das antisorbische Verhalten der Hohenzollern dargestellt. Doch dem war nicht so. Im Jahre 1635 gingen die beiden Markgraftümer Ober- und Niederlausitz von Böhmen an Sachsen über. Der Besitzwechsel änderte aber de facto nichts an der Sonderstellung beider Lausitzen. Er führte nicht zur Einverleibung in den sächsischen Staat. Im Gegenteil, die Autonomie dieser Landstriche wurde weiter gefestigt, da der neue Landesherr ausdrücklich die Beibehaltung der ständischen Privilegien zusichern, die Lehnshoheit der böhmischen Krone anerkennen und die kirchlichkonfessionellen Einrichtungen in ihrem Bestand garantieren mußte. Auch die in den kursächsischen Erblanden erlassenen Gesetze galten nicht automatisch in der Lausitz, sondern erst nach Zustimmung durch die Landstände. Diese Sonderstellung wirkte sich zunächst günstig auf die Erhaltung des sorbischen Ethnikums aus, weil die sorbische Sprache nicht im Zuge staatlicher Maßnahmen zur Zentralisierung der öffentlichen Gewalt zurückgedrängt wurde. Das änderte sich in der Niederlausitz aber bereits seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts, nachdem die Herzöge von Sachsen-Merseburg, einer Nebenlinie der Wettiner, im Jahre 1657 die Herrschaft über diesen Landesteil übernahmen. Während der acht Jahrzehnte ihrer Regierungszeit setzten sie, ganz im Sinne eines landesherrlichen Absolutismus, zahlreiche Reformen durch, die die Macht und den Einfluß der Landstände deutlich einschränkten. Mit dem 1667 gegründeten Lübbener Oberkonsistorium entstand eine eigene fürstliche Landeskirche, die sich in der Folgezeit als mächtiger Faktor einer staatlicherseits geförderten Germanisierungspolitik erweisen sollte. Bereits 1668 arbeitete das Lübbener Konsistorium auf Anordnung des Herzogs Christian I. von Sachsen-Merseburg einen Stufenplan zur gänzlichen Abschaffung der sorbischen Sprache aus, der mit Intensität und Beharrlichkeit das gesamte 18. Jahrhundert hindurch verfolgt wurde. Zunächst zog man sämtliche sorbischen Bücher und Manuskripte ein; weiterhin sah der Plan die schrittweise Ausbreitung der deutschen Sprache unter der sorbischen Jugend, vor allem durch deutschen Schulunterricht und Gottesdienst, vor. Begründet wurde dieser Germanisierungsfeldzug mit einem den Sorben zugeschriebenen „eingewurzelten Haß gegen ihre christliche Obrigkeit", der zu „boshafter VerStockung und Ungehorsam" fUbre."* Das rigorose Vorgehen des Lübbener Konsistoriums fand die Billigung und Unterstützung der sächsischen Kurfürsten. Davon zeugt nicht nur eine Anweisung Augusts des Starken aus dem Jahre 1704 an die Stände des Gubenschen Kreises, in der er forderte, „die deutsche Sprache unter der wendischen Jugend nach Kräften zu befördem"^ sondern auch die Tatsache, daß die Wettiner nach dem Aussterben der merseburgisch-sächsischen Nebenlinie 1738, als die Niederlausitz wieder in ihre unmittelbare Zuständigkeit fiel, konsequent die antisorbische Sprachenpolitik fortsetzten. 4 Frido Metsk, Verordnungen und Denkschriften gegen die sorbische Sprache und Kultur während der Zeit des Spätfeudalismus. Eine Quellensammlung, Bautzen 1969, S. 15. 5 Ebd., S. 19.
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1794 konnte dann das Lübbener Konsistorium erfreut feststellen, daß die wiederholt befohlene „gänzliche Ausrottung der wendischen Sprache ... an großen Teils Orten dieser Provinz durchaus erreicht worden ist" und daß es nun weiterhin darauf ankomme, diese Sprache, „wie es in den größeren Städten dieses Markgraftums und den umliegenden Dorfschaften bereits geschehen ist, mit den alten Personen und Familien gänzlich absterben" zu lassen.*" 1801 erfolgte ein weiterer Schritt zur Zurückdrängung des Sorbischen, indem die Anfertigung der bis dahin üblichen sorbischen Protokolle vor Gericht stark eingeschränkt wurde. Diesen scharfen Germanisierungskurs, den die Wettiner in der Niederlausitz verfolgten, dehnten sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch auf den Kreis Cottbus aus, der 1806 im Ergebnis des Posener Friedens von Preußen an Sachsen überging. Hier hatten die Hohenzoliem bisher eine sehr differenzierte, von Herrscher zu Herrscher unterschiedliche Sorbenpolitik betrieben. Unter Friedrich I. wurde das ländliche Schulwesen auf der Grundlage der sorbischen Muttersprache begründet. Religiöses Schrifttum wurde gefördert. Den ersten Preußenkönig bewogen außenpolitische Aspekte zu diesem Schritt. Er sah in der Herrschaft Cottbus einen Brückenpfeiler zur weiteren Ausdehnung des Reiches nach Osten. Die Bevölkerung sollte durch die Zusicherung von Zugeständnissen neutralisiert, innere Konflikte sollten unter allen Umständen vermieden werden. Gänzlich anders stand der „Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. zur sorbischen Problematik. Er erließ zwischen 1717 und 1735 mehrere Verordnungen gegen das Sorbische. Da diese aber nicht die Unterstützung der geistlichen Behörden fanden, erwiesen sie sich als wenig wirksam. Friedrich II. kehrte denn auch wieder zur toleranten Politik seines Großvaters zurück. In dieser Phase erfolgte der Übergang des Kreises Cottbus von Preußen an Sachsen. Verwaltungsmäßig wurde er der Niederlausitz zugeordnet, das Kirchen- und Schulwesen dem immer noch eine eifrige Germanisierungspolitik verfolgenden Lübbener Konsistorium unterstellt. Und dieses Konsistorium hatte nichts Eiligeres zu tun, als seine Sprachenpolitik auch auf den neuen Kreis auszudehnen. Nach eingehenden Recherchen erließ es dann 1812 im Namen des sächsischen Königs jene richtungsweisende Verordnung, in der bestimmt wurde, den Gebrauch der sorbischen Sprache „nach und nach und vor der Hand wenigstens in Ansehung des Volksunterrichts und der gottesdienstlichen Amtshandlungen einzuschränken", um „die von unsern ... Vorfahren vorlängst gehegte und bezeigte Absicht, die wendische Sprache gänzlich abzutun, baldmöglichst ins Werk" zu setzen.' Ein von dieser Verordnung unmittelbar Betroffener, der Peitzer Obeφfarrer Syndlar, formulierte noch schärfer. Er vermutete richtig, daß von nun an „alles sorbische Predigen und der sorbische Schulunterricht aufhören" mußten.® Nach dem Wiener Kongreß wurden unter anderem große Teile der Oberlausitz, die Niederlausitz und der Kreis Cottbus dem preußischen Staat einverleibt. 80 % der insgesamt rund 250.000 Sorben wurden nun preußische Staatsbürger. Da auch weitere Nichtdeutsche zur preußischen Monarchie gehörten, mußten sich die dortigen Behörden in ihrer Nationalitätenpolitik und somit auch in der Sorbenpolitik neu orientieren. Das fiel ihnen insofern leicht, als viele der ehemals sächsischen und niederlausitzischen Beamten mit ihren reichen Erfahrungen in den preußischen Staatsdienst übernommen wurden. Nach anfänglichem Schwanken entschloß man sich in Berlin, an den durch die sächsischen Behörden vorgezeig6 Ebd., S. 29. 7 Zit. nach Peter Kunze, Die soziale und nationale Lage der sorbischen Bevölkerung in der späteren preußischen Ober- und Niederlausitz in den Jahren 1789 bis 1815, in: Lëtopis В 20 (1973)2, S. 207. 8 Ebd., S. 201.
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ten Weg der nationalen Unterdrückung anzuknüpfen. Daran änderten auch kritische Stimmen einzelner Beamter nichts, die - wie Kultusminister von Altenstein - Zwangsmaßnahmen gegen das Sorbische ablehnten und die Anwendung beider Sprachen im Schulunterricht und in anderen Bereichen forderten. Diese liberale Richtung konnte sich nicht durchsetzen. Bereits 1818 erließ die Regierung in Frankfurt/Oder eine Verordnung zur Einschränkung der sorbischen Sprache, die für die nächsten Jahrzehnte Richtschnur des Handelns bleiben sollte. Verstärkt ging man dazu über, deutsche Pfarrer und Lehrer in sorbische Parochien zu berufen, die sorbische Sprache im kirchlichen Leben und im Schulunterricht zurückzudrängen, sorbischen Druckerzeugnissen finanzielle Beihilfen zu verwehren, ihre Herausgabe zu erschweren oder gar zu verbieten. 1821/22 scheiterte beispielsweise ein von Pfarrer Syndlar aus Peitz und anderen Persönlichkeiten befürwortetes Projekt zur Herausgabe eines sorbischen Schulbuches.' Diese rigorose Linie in der Sprachenpolitik wurde in den nächsten fünf Jahrzehnten nur zweimal kurz unterbrochen. Das erste Mal zu Beginn der vierziger Jahre, später dann Ende der fünfziger Jahre - allerdings jeweils nur für ein knappes Jahrzehnt. Die Kursänderung stand beide Male in engem Zusammenhang mit der politischen Krise des Staates und betraf nicht nur die Sorben-, sondern auch die P o l e n p o l i t i k . Z u g l e i c h war sie eine Reaktion auf die erwachenden slawischen nationalen Bewegungen mit ihren Forderungen nach nationaler Gleichberechtigung. Das Endziel - die Germanisierung der slawischen Bevölkerung - sollte nun auf gemäßigte Art erreicht werden. Justizminister von Mühler umriß die neue Linie wie folgt: „Der angemessenste Weg zur allmählichen gänzlichen Beseitigung der wendischen Sprache ist unbedenklich der: auf die Einführung der deutschen Sprache unter den Wenden nicht durch direkte Zwangsmaßregeln, sondern mittelbar dadurch hinzuwirken, daß man in der Gesetzgebung und Verwaltung jede Begünstigung und Pflege des Wendischen vermeidet. Dies Mittel wird hinreichen, der deutschen Sprache den Sieg über die für das Bedürfnis der heutigen Zeit nicht mehr genügende und wenig bildungsfähige wendische Sprache zu verschaffen; zugleich aber wird dadurch das schmerzliche Gefühl, welches die Ausrottung der Sprache eines Volkes für dasselbe mit sich zu führen pflegt, den Wenden erspart und so einem sonst zu befürchtenden Mißtrauen und Widerstreben derselben vorgebeugt."" Das Ziel bestand darin, die Sorben als potentielle Bundesgenossen zu gewinnen und sie dem Einfluß der bürgerlichen Opposition zu entziehen, sie noch stärker als bisher an den preußischen Staat zu binden und bei ihnen die Illusion zu wecken, daß nun eine Periode der nationalen Gleichberechtigung angebrochen sei. Die veränderte Taktik äußerte sich in einer breiteren Anwendung der sorbischen Sprache im Schulunterricht, in einem Nachlassen der kirchlichen Germanisierung und in einer stärkeren Beachtung sorbischsprachiger Kandidaten bei der Besetzung vakanter Predigerstellen. Gleichzeitig führte sie - von den Behörden keinesfalls beabsichtigt - zu einer unerwünschten „Nebenerscheinung", nämlich zu einem Aufschwung der national- kulturellen Bestrebungen der Sorben. Das veranlaßte 1846 den brandenburgischen Vize-Generalsuperintendenten Hupe zu der besorgten Äußerung: „Eine
9 Peter Kunze, Die preußische Sorbenpolitik 1815-1847, Bautzen 1978. 10 Ders., D i e preußische Nationalitätenpolitik in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Lëtopis В 34 (1987), S. 3 7 - 7 6 . 11 Zit. nach Willi Boelcke, Aus der Vorgeschichte des preußischen Gesetzes „Über die bei gerichtlichen Verhandlungen mit Wenden zu beobachtenden Formen", in: Lètopis В 4 (1957), S. 427.
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dunkle Sage ist unter die Wenden gekommen, als werde das Wendentum von der höchsten Stelle her besonders begünstigt." Dadurch fühlten sie sich zu Ansprüchen berechtigt, die „weit über das Maß des billigen Zugeständnisses hinausgehen". Und der Cottbusser Superintendent Ebeling hielt die Art und Weise, „wie das Wendentum sich neuerdings bei Predigerwahlen geltend macht, für unberechtigt und desorganisierend". Er wünschte, daß „emstlich dagegen eingeschritten werde".'^ Diese Nachrichten veranlaßten den preußischen Staat, zur altbewährten rigorosen Germanisierungspraxis zurückzukehren. Ende der fünfziger Jahre wiederholte sich die Situation der vierziger Jahre. Erneut befand sich der preußische Staat in einer politischen Krise, und erneut änderte er seine Nationalitätenpolitik. „Aus Gründen sowohl der höheren Politik als der Humanität" sprachen sich 1857 höchste preußische Regierungsbeamte dafür aus, die dringendsten kirchlichen und schulischen MißStände im sorbischen Sprachgebiet zu beseitigen und die Unzufriedenheit der sorbischen Bevölkerung einzudämmen. Zu den Zugeständnissen gehörten die Einführung des fakultativen sorbischen Sprachunterrichts am Cottbuser Gymnasium 1856, die Herausgabe von mehreren sorbischen Schulbüchern zwischen 1862 und 1866 sowie die Festlegung von verbindlichen Grundsätzen zur Anwendung der sorbischen Sprache im Religions- und Leseunterricht. Diese Maßnahmen, von sorbischen Patrioten als „humane Praxis" charakterisiert, ließen eine spürbare Verbesserung erwarten und gaben zu der Hoffnung Anlaß, daß der weitverbreitete Analphabetismus der Sorben in ihrer Muttersprache nun beseitigt werden könnte. Doch nicht lange konnten sich die Sorben ihrer Errungenschaften erfreuen. Nach der Reichsgründung von 1871 setzte erneut ein verschärfter antisorbischer Kurs ein, da der Staat nun auf einen raschen Abschluß der Germanisierung drängte.
Zur Oberlausitz Wesentlich anders verlief die Entwicklung im Markgraftum Oberlausitz. Hier gelang es den Ständen bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts hinein, ihre Sonderstellung zu bewahren und sich den Zentralisierungsbestrebungen erfolgreich zu widersetzen. Neben vielen anderen Rechten behielten sie als eine Art kollektive Regierung die oberste Verwaltung des protestantischen Kirchenwesens und somit die Befugnis, in diesen Angelegenheiten unabhängig vom Oberkonsistorium in Dresden zu entscheiden. Ein großer Teil der Verwaltungsbefugnisse wurde auch der patrimonialen Gewalt überlassen. Somit kamen hier die mit dem Absolutismus einhergehenden Tendenzen zur „Vereinheitlichung und Einebnung" - wie es Karlheinz Blaschke treffend ausgedrückt hat'" - mit Ausnahme der großen Standesherrschaften Königsbrück und Muskau, wo die Besitzer durch eine Zurückdrängung der sorbischen Sprache einheitliche Verhältnisse innerhalb ihres Herrschaftsbereichs anstrebten, nicht zum Tragen. Im Gegenteil, die dezentralisierte Regierungsweise der Stände bewirkte, daß die sorbische Sprache nicht nur nicht angegriffen, sondern durch ständische Verfügungen und Maßnahmen sogar gefördert wurde. So konnten allein in den Jahren zwischen 1668 und 1728
12 Zit. nach Peter Kunze, Die preußische Sorbenpolitik ..., S. 142. 13 Ders., Die preußische Nationalitätenpolitik ..., S. 45. 14 Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution, Weimar 1967, S. 214.
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insgesamt 31 Buchtitel in sorbischer Sprache erscheinen, viele davon ediert durch eine 1690 mit Unterstützung der Stände gegründete Kommission. Auch die drohende Gefahr einer Rekatholisierung der sorbischen Bevölkerung bewog die protestantischen Stände zur toleranten Haltung gegenüber dem Sorbischen und zur Förderung sorbischer Druckerzeugnisse." Grundsätzlich änderte sich an dieser Situation bis zur vollen Eingliederung der Oberlausitz in den sächsischen Staat im Zuge der Staatsreform von 1831 nichts, obwohl es immer wieder Versuche gab, das Sorbische aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. So enthielt schon die Schulordnung von 1770 keinen Hinweis auf möglichen Unterricht in sorbischer Sprache, „um die fernere Verbreitung dieser ohnehin viele Schwierigkeiten verursachenden Sprache mehr und mehr einzuschränken". Doch da „das Unterrichten in wendischer Sprache in den Schulen dieser Nation größtenteils fortgedauert" habe, sei der erhoffte Erfolg ausgeblieben, konstatierte 1807 bedauernd Oberamtskanzler Herrmann in einem Vortrag an die Stände." Nach 1815 verfügte der sächsische Staat zunächst über keine fest umrissene Konzeption in seiner Sorbenpolitik. Infolge der losen Zugehörigkeit der Oberlausitz zu Sachsen hatten die Dresdener Behörden auch keine Veranlassung, ein eigenes Konzept zu entwickeln. Vieles war dem Selbstlauf überlassen und oblag den lokalen Kollatoren, denen die Schulen und Kirchen ihres Gerichtsbezirkes unterstanden. Es fiel jedoch auf, daß sich nun Nachrichten über Bemühungen zur Zurückdrängung des Sorbischen durch einzelne Gutsbesitzer häuften. Diese fanden dabei die Unterstützung der Bautzener Oberamtsregierung, namentlich des Kirchen- und Schulrates Gottlob Leberecht Schulze, der die antisorbischen Aktivitäten seiner Behörde mit der ähnliche Ziele verfolgenden Schulpolitik der preußischen Regierung gegenüber der sorbischen und polnischen Bevölkerung begründete. Während seiner Tätigkeit in Bautzen (1824-1831) forderte er immer wieder, daß der gesamte Schulunterricht in deutscher Sprache zu erteilen sei, „weil bei der wendischen Nation der Grund zur Erlernung der deutschen Sprache in der Jugend zu legen ist"." Lediglich massiven Protesten seitens einzelner Ortspfarrer und vieler Eltern war es zu verdanken, daß die Forderungen nach ausschließlichem Gebrauch der deutschen Sprache im Schulunterricht wenigstens teilweise wieder zurückgenommen werden mußten.'^ 15 Frido Metsk, Der Anteil der Stände des Markgraftums Oberlausitz an der Entstehung der obersorbischen Schriftsprache (1668-1728), in: Zeitschrift für Slavische Philologie 28 (1959) 1, S. 143 ff. 16 Zit. nach Erhard Hartstock/Peter Kunze, Die Lausitz zwischen Französischer Revolution und Befreiungskriegen 1789-1815. Eine Quellensammlung, Bautzen 1979, S. 241. 17 Gottlob Leberecht Schulze, Die vorzüglichsten Gegenstände des Landschulwesens und die Verbesserung desselben mit besonderer Rücksicht auf die Königlich-Sächsische Oberlausitz, Budissin 1826,8.39. 18 Im Ergebnis einer 1825 durchgeführten Schulrevision Schutzes in Kittlitz ordnete die Bautzener Oberamtsregierung am 20.5.1825 an, daß „der Unterricht um so mehr bloß in deutscher Sprache geschehen (muß), da die zur Schule gehörenden Kinder von wendischer Abkunft sind, für die wendische Nation aber der Grund zur Erlernung dieser Sprache bei der aufwachsenden Jugend zu legen ist". Nach einem energischen Protest von Pfarrer Pannach im Namen der sorbischen Einwohner von Kittlitz und benachbarter Ortschaften sah sich die Oberamtsregierung genötigt zu erklären, daß es nicht in ihrer Absicht gelegen habe, „die wendische Sprache aus dem Gebrauche zu verdrängen, sondern nur die Unterrichtserteilung für die gesamte aus deutscher und wendischer Nation bestehende Schuljugend besser zu befördern". Schließlich wurde dem Lehrer erlaubt, denjenigen Kindern, „welche der deutschen Sprache vor jetzt noch nicht hinreichend kundig sind, den vorzüglich notwendigen Unterricht in der Religion annoch in wendischer Mundart zu geben". Vgl. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Außenstelle Bautzen, Oberamt, Nr. 4321.
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Durch den Staatsvertrag von 1835 wurde der bei Sachsen verbliebene Teil der Oberlausitz fest in den sächsischen Staat eingegliedert. Damit verlor das Markgraftum seine bisherige Sonderstellung, und für die Nationalitätenpolitik war nun die Regierung in Dresden zuständig. Wie würde sie sich entscheiden? Zunächst deutete alles darauf hin, daß sie ein rigoroses Vorgehen gegen das Sorbische favorisierte. Im Entwurf zum sächsischen Volksschulgesetz mit ausgearbeitet vom erwähnten Schulze, der seit 1831 Ministerialrat im sächsischen Kultusministerium war - wurde absichtlich mit keinem Wort des Sorbischen gedacht, damit „nicht über die Notwendigkeit des hauptsächlich in deutscher Sprache zu erteilenden Unterrichts bei den betreffenden Gemeinden Zweifel erregt werden". Den Verfassern des Entwurfs ging es um die rasche Germanisierung der Sorben mittels der modernen Schule; ihrer Meinung nach mußte alles getan werden, um der sorbischen Sprache ein möglichst baldiges Ende zu bereiten. Nun geschah für die sächsische Administration etwas völlig Unerwartetes und noch nie Dagewesenes: Im August 1834 protestierten 18 sorbische evangelische Geistliche in einer Eingabe an die sächsische Regierung im Namen von 50.000 Sorben gegen die rechtliche Benachteiligung ihrer Muttersprache im gesellschaftlichen Leben. Das taten sie unter dem Eindruck der revolutionären Bewegung von 1830/31, des Aufschwungs der nationalen Befreiungsbewegungen bei einer Reihe slawischer Völker und nicht zuletzt unter Berufung auf die in der Verfassung allen Bürgern gewährten gleichen Rechte. Unter diesen Umständen sah sich die Regierung in Dresden gezwungen, ihre Stellung zu den Sorben zu überprüfen und sich der neuen Situation anzupassen. Im Spannungsfeld der Konflikte kam ihr eine neue politische Bewegung, wie sie sich abzuzeichnen begann, völlig ungelegen. Deshalb entschloß sie sich zu einer gemäßigteren Sprachenpolitik, um dadurch ein Übergehen der Sorben ins Lager der Opposition zu verhindern. So wurde ohne größere Diskussion in den beiden Kammern jener Paragraph 28 ins Volksschulgesetz aufgenommen, der das sorbische Lesen ebenso gestattete wie die Anwendung der sorbischen Sprache im Religionsunterricht. Wenngleich die Forderungen der sorbischen Petenten nach einer gleichberechtigten Anwendung der sorbischen Sprache in der Schule nicht erfüllt wurden, so stellten die Zugeständnisse doch einen Erfolg dar, der ohne das energische Eintreten nationalbewußter Sorben niemals erreicht worden wäre. Mit dem Schulgesetz von 1835 zeichnete sich eine Wende in der sächsischen Sorbenpolitik ab. Das Endziel, die Germanisierung der Sorben, sollte nun in Anbetracht der zugespitzten politischen Verhältnisse auf gemäßigte Art, weniger straff, erreicht werden. Im November 1834 umriß die Oberamtsregierung in Bautzen ihr zukünftiges Verhalten gegenüber den Sorben wie folgt: „Ist es auch in vieler Hinsicht zu wünschen, dereinst dahin zu gelangen, daß alle Staatsangehörigen der deutschen Sprache vollkommen mächtig sind, so kann es doch keineswegs in der Absicht der Staatsbehörden liegen, die Wenden durch direkte oder indirekte Zwangsmittel zur Aufgabe ihrer Nationalsprache zu nötigen."^" Diese vom progressiven bürgerlichen Standpunkt aus konzipierte Nationalitätenpolitik fand die völlige Zustimmung der sächsischen Behörden und war die nächsten Jahrzehnte Richtschnur ihres Handelns. Doch zu keiner Zeit fehlte es an Versuchen, das Sorbische einzuschränken und aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Dafür einige Beispiele:
19 Zit. nach Erhard Hartstock, D i e sorbische nationale B e w e g u n g in der sächsischen Oberlausitz 1830-1848/49, Bautzen 1977, S. 22. 20 Ebd., S. 42.
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Als der Buchhändler Gustav Adolf Schlüssel im Herbst 1841 die Bautzener Kreisdirektion um die Genehmigung zur Herausgabe einer sorbischen Zeitung bat, äußerte diese grundsätzliche Bedenken: „Das Bedürfnis einer wendischen Zeitschrift, da die dermaligen Wenden wenigstens zum größten Teil deutsch verstehen und die Jugend in den Schulen das Deutsche noch vollständiger erlernt als ihre Voreltern, dürfte wohl nicht gerade ein dringendes zu nennen sein."^' Das sächsische Innenministerium ignorierte jedoch die Einwände und erteilte die Konzession. Im Ergebnis der Revolution von 1848/49 wurde u. a. die Einführung des sorbischen Sprachunterrichts am Bautzener Gymnasium genehmigt, obwohl sich der Stadtrat nachdrücklich gegen diese Maßnahme aussprach, da sie seiner Meinung nach zu einer „völligen Slawisierung" der Sorben führen könne und „die sorbische Sprache, die weder im öffentlichen Verkehr noch je Schriftsprache gewesen sei" (was allerdings völlig den Tatsachen widersprach), „keinerlei Förderung verdiene".^^ Ab Ostern 1850 erteilte Jan Arnost Smoler den Gymnasiasten wöchentlich vier Stunden Sorbischunterricht. Bereits nach wenigen Jahren wurde Smoler unter der fadenscheinigen Begründung, daß er infolge einer mehrmonatigen Rußlandreise den Unterricht nicht regelmäßig durchgeführt und ohne Urlaub sein Amt verlassen habe, von seinen Aufgaben entbunden. Der personelle Wechsel war mit einer Reduzierung des Unterrichts auf eine Wochenstunde verbunden. Deutsche Gymnasiasten durften sich nicht mehr daran beteiligen. Das erregte den berechtigten Unwillen zahlreicher Sorben, die sich mit einer solchen Einschränkung nicht abfinden wollten. Doch ihr Protest blieb erfolglos. 1852 zog das Kultusministerium in Erwägung, bei der Bautzener Kreisdirektion einen zweiten, der sorbischen Sprache kundigen Schulrevisor anzustellen, da der gegenwärtige Revisor, „selbst ein Deutscher, der seine Revisionen hauptsächlich nur auf den deutschen Unterricht in den wendischen Schulen zu erstrecken vermag, der Natur der Sache nach auch bei dem besten Willen nicht genügen" konnte.^' Die Kreisdirektion lehnte diesen Vorschlag kategorisch ab. Zwar hatte sich das Kollegium bereits 1849 für eine solche Einrichtung ausgesprochen, doch das geschah unter dem Eindruck der Zeitereignisse. Man ließ sich damals, so der Kirchen- und Schulrat Gilbert, bei diesem Vorschlag „weit weniger von der Überzeugung einer Notwendigkeit als ihrer Dienlichkeit zur Beruhigung der ebenso künstlich erzeugten als unterhaltenen damaligen Aufregung" leiten.^" Unter den gegenwärtigen Umständen - d. h. nach Festigung der politischen Macht - sei ein sorbischer Revisor überflüssig und entbehrlich. Das Kultusministerium folgte dieser Argumentation. Auch 1858, als eine diesbezügliche Bitte von Schulrat Wildenhahn wiederholt wurde, lehnte das Kultusministerium ab, obwohl die eindeutige Erfahrung gemacht wurde, daß „eine in wendischer Sprache geführte Revision selbst von den wendischen Gemeinden als eine von ihnen mit dankbarem Vertrauen aufgenommene ehrende Berücksichtigung ihrer Nationalität betrachtet wird".^' Trotz der gesetzlichen Zusicherungen zur Mitanwendung der sorbischen Sprache im Schulunterricht gab es immer wieder Anlaß zu Klagen und Beschwerden, da sich viele Lehrer 21 Zit. nach Peter Kunze, Jan Amost Smoler. Ein Leben für sein Volk, Bautzen 1995, S. 85. 22 Serbska wucba na Budyskim gymnaziju, in: Serbske Nowiny, Nr. 8, 25.7.1860, S. 61. 23 Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Außenstelle Bautzen, Kreishauptmannschaft Bautzen, Nr. 2094, Bl. 4. 24 Ebd., Nr. 2096, Bl. 62. 25 Ebd.,B1.94.
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nicht an die Vorschriften hielten. Da zudem bei Schulrevisionen die Leistung des Lehrers danach beurteilt wurde, welche Fortschritte die Schulkinder in der Beherrschung der deutschen Sprache erzielt hatten, sahen sich viele Erzieher veranlaßt, noch intensiver den deutschen Schulunterricht voranzutreiben und das Sorbische zu vernachlässigen. In der sorbischen Presse wurde wiederholt auf solche Fälle aufmerksam gemacht. Die bestehenden Zustände veranlaßten Smoler 1869 zu einer scharfen Kritik an der sächsischen Schulpolitik. „Die wendischen Schulen der Gegenwart sind tatsächlich deutsche Schulen zu nennen", „alle Unterrichtsgegenstände werden deutsch gelehrt", „höchstens der Religionsunterricht wird in zweiter Linie den wendischen Kindern in wendischer Sprache erteilt" („aber leider nicht überall") - das waren die wichtigsten Thesen der Anklageschrift. Zu guter Letzt verglich der Verfasser die Situation in Sachsen mit dem preußischen Schulwesen, wo man zwar ebenfalls bestrebt sei, „die wendische Nationalität im Deutschtum aufgehen zu lassen", doch verfahre man dabei „möglichst human".^'' Ähnliche Klagen häuften sich in den Folgejahren. Wie schon angedeutet, setzte nach 1871 sowohl in Preußen als auch in Sachsen ein schärferer antisorbischer Kurs ein. Die sorbische Sprache sollte endgültig „zu Grabe getragen" werden. Eine nationalistische Welle durchdrang das öffentliche Leben, antisorbische Stimmungen breiteten sich aus. Einzelne deutsche Presseorgane suggerierten ihren Lesern, daß die Sorben im Herzen Deutschlands den Nährboden für eine russische Expansion liefern konnten, weshalb sofortige Gegenmaßnahmen des Staates wünschens- und erstrebenswert wären. Selbst Bismarck griff in die Auseinandersetzungen ein. Er ließ sich über die bisherige preußische Sorbenpolitik informieren und ersuchte die sächsische Regierung, ihm ihre Ansicht zur Sorbenfrage mitzuteilen. Mit seiner ausdrücklichen Billigung wurden nun verschärfte Maßnahmen gegen das Sorbische durchgesetzt. Dazu gehörten das Verbot des sorbischen Konfirmandenunterrichts 1885 in Schlesien, die Einstellung des sorbischen Sprachunterrichts am Cottbusser Gymnasium 1888 und die beginnende Versetzung sorbischer Pfarrer und Lehrer in deutsche Gegenden sowie die Einsetzung des Sorbischen unkundiger Personen. Allein 1885/86 wirkten 87 sorbische Lehrer und 17 sorbische Pfarrer in deutschen Schulen resp. Kirchspielen, und das in den seltensten Fällen aus freiem Willen. Bereits Jahre zuvor, 1875, war für die Schulen der preußischen Oberlausitz ein generelles Verbot der sorbischen Sprache und die Abschaffung aller zweisprachigen Schulbücher angeordnet worden. Auch das neue sächsische Schulgesetz von 1873 schränkte den Gebrauch des Sorbischen ein. Anstelle einer Mitanwendung der Muttersprache im Unterricht durften von nun an die Lehrinhalte nur noch in deutscher Sprache vermittelt werden. Im Fach Religion - bislang sorbisch erteilt - sollte zukünftig diese Sprache nur dann gestattet werden, wenn in der betreffenden Gemeinde auch sorbisch gepredigt wurde. Noch stärkere Einschränkungen sah der Entwurf des neuen Schulgesetzes von 1911 vor, durch den die sorbische Sprache faktisch aus dem Schulunterricht verbannt werden sollte. Lediglich massive Proteste sorbischer Eltern ließen den Gesetzentwurf in letzter Minute scheitern. Zusammenfassend ist festzustellen: Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts kann man von einer Sorbenpolitik in den Markgraftümem Ober- und Niederlausitz einschließlich des Kreises Cottbus sprechen. Sowohl die Wettiner als auch die Hohenzollem waren dabei bestrebt, das Sorbische mehr und mehr zu verdrängen, um es schließlich gänzlich aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Doch oft erwies sich die Realität stärker als dieser Wunsch. So war das 26 Die reine Wahrheit über den Unterricht in den wendischen Schulen, in: Serbske Nowiny, Nr. 53, 31.12.1869, S. 438-442.
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konkrete Vorgehen zu keiner Zeit einheitlich, es schwankte von Territorium zu Territorium und wurde durch die unterschiedlichsten Einflüsse bestimmt. In der Niederlausitz verfolgten zunächst die Wettiner und nach 1815 die Hohenzollem eine rigorose Sprachenpolitik, die von den preußischen Behörden nach dem Wiener Kongreß auf die neuerworbenen oberlausitzischen Gebiete ausgedehnt wurde. An dieser Einschätzung änderten auch kurze Toleranzperioden nichts. Im Gegensatz dazu bevorzugten die Oberlausitzer Stände bis ins erste Drittel des 19. Jahrhunderts eine gemäßigte Linie, die die Wettiner nach der administrativen Eingliederung der Oberlausitz in den sächsischen Staat fortzusetzen gezwungen waren. Auch hier gab es Ausnahmen, die aber nicht ins Gewicht fielen. Die liberale Sprachenpolitik in der sächsischen Oberlausitz bewirkte, daß sich das sorbische Ethnikum hier weiter festigen und national-kulturelle Aktivitäten in bis dahin nie gekanntem Ausmaß entfalten konnte. Seit den dreißiger Jahren bildete sich eine sorbische nationale Bewegung heraus, die 1847 mit der Gründung der wissenschaftlichen Gesellschaft Macica Serbska ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte.
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Die preußischen Wallonen - eine staatstreue Minderheit im Westen
Als der Wiener Kongreß Preußen 1815 neben anderen rheinischen Territorien auch die Osthälfte der ehemaligen Reichsabtei Stablo-Malmedy zusprach, erhielt die preußische Monarchie, in der zu dieser Zeit bereits fast zwei Millionen Polen und andere nichtdeutsche Sprachgruppen lebten,' an ihrer Westgrenze noch eine kleine, bodenständige französische Sprachminderheit. Die Abtei Malmedy war um das Jahr 670 - das genaue Datum ist nicht bekannt - auf Befehl des westfränkischen Königs in den bis dahin menschenleeren Wäldern der Ardennen, etwa auf halbem Wege zwischen Aachen und Trier, von dem Benediktinermönch Remaklus gegründet und mit umfangreichem Landbesitz ausgestattet worden.^ Erst einige Jahre später stellte man fest, daß die Gründung irrtümlich etwas zu weit nach Osten geraten war und die Abtei somit bereits auf ostfränkischem Territorium und in der Kölner Diözese stand. Auch der prompt erfolgte Bau eines zweiten Klosters Stablo ein wenig weiter westlich und damit auf eindeutig westfränkischem Gebiet konnte daran nichts mehr ändern. Beide Klöster wurden zu einer Doppelabtei unter einem gemeinsamen Abt zusammengefaßt, der in Stablo residierte. Unter diesen Äbten spielten einige, wie Wibald von Stablo und Corvey, eine wichtige Rolle in der staufischen Reichspolitik.' Am Vorabend der Französischen Revolution war die seit dem 12. Jahrhundert reichsunmittelbare Fürstabtei StabloMalmedy aber nur noch eines jener kleinen geistlichen Reichsterritorien, die politisch keine Rolle mehr spielten und sich im Grunde bereits selbst überlebt hatten.
Die ausführlichsten Angaben zur preußischen Sprachenstatistik nach der Jahrhundertmitte in: Zeitschrift des Preußischen Statistischen Bureaus, insbes. Jge. 1(1860) und 43(1904). Sie müssen freilich mit der gegenüber jeder Sprachenstatistik erforderlichen Vorsicht gelesen werden (Fragestellungen, Erhebungsmethoden). Zum Schlußstand 1918: Statististisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 46(1927), S. 10 ff. A. Kellen, Malmedy und die preußische Wallonie, Essen 1892; Heinrich Neu in: H. Reiners und H. Neu, Die Kunstdenkmäler von Eupen-Malmedy, Düsseldorf 1935 (ND 1982), S. 275 ff.; Elisée Legros, La Wallonie malmédienne sous le régime prussien (Le Pays de St. Remade, 13), Malmedy 1978. Gerhard Kallen, Die Reichsabtei Malmedy und das Alte Reich, in: Rheinische Heimatpflege 12(1940), S. 237-248; H. Bannasch in: Lexikon der deutschen Geschichte, hrsg. von Gerhard Taddey, Stuttgart 1977, S. 1292: F. Hansmann, Wibald von Corvey, in: Westfälische Lebensbilder 7, Münster 1959.
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Französisch war die Sprache der westfränkischen Gründermönche und ihrer Nachfolger; Französisch bzw. Wallonisch sprachen aber auch die Bauern, die ins Land gerufen wurden, um das Abteigebiet - sechs Meilen im Umkreis - zu bevölkern. Bis heute entspricht die Sprachgrenze zwischen deutschen und wallonischen Dörfern, die im Bereich von Malmedy einen weiten Bogen nach Osten schlägt, fast genau der Ostgrenze des ehemaligen Abteiterritoriums; die deutschsprachigen Nachbarorte gehörten zu den Herzogtümern Jülich, Limburg oder Luxemburg. In der alten Reichsabtei war Wallonisch die Umgangssprache, Französisch Schrift- und auch offizielle Amtssprache gewesen. Noch 1778 wurden die Pfarrer angewiesen, ihre Kirchenbücher in Zukunft nicht mehr lateinisch, sondern nur noch französisch zu führen. Die französische Verwaltung, die die Abtei 1795 aufhob und deren Gebiet dem OurtheDépartement mit der Hauptstadt Lüttich eingliederte, änderte also weder an der Sprache noch an der kulturellen Westbindung Stablo-Malmedys etwas. Erst der Wiener Kongreß teilte die alte Doppelabtei endgültig auf, indem er Malmedy Preußen, Stablo jedoch den Vereinigten Niederlanden zusprach, an deren Stelle 1830 das Königreich Belgien trat. Im preußischen Anteil lebten damals gut 12.000 Wallonen, etwa zwei Drittel der Bevölkerung des 1816 neugeschaffenen Landkreises Malmedy. Sie verteilten sich etwa zur Hälfte auf die Stadtgemeinde Malmedy (5281) und die ebenfalls rein wallonischen Bürgermeistereien Bellevaux und Waimes (3668); hinzu kamen die sprachlich gemischte Bürgermeisterei Bütgenbach (2910 Wallonen, 1344 Deutsche) und die ebenfalls wallonischen Ortschaften Ligneuville/Engelsdorf und Pont mit zusammen 304 Wallonen im benachbarten Landkreis St. Vith.·* Bis heute haben sich diese Zahlen kaum verändert. Sozial waren die Dörfer agrarisch-kleinbäuerlich strukturiert, seitdem der Großgrundbesitz der Abtei in französischer Zeit säkularisiert und aufgeteilt worden war. Anders in der schon früher zu Wohlstand gekommenen Stadt Malmedy. Hier hatten sich bereits unter dem Krummstab der Äbte größere Manufakturen entwickelt: neben einigen Tuchwebereien, die im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder eingingen, vor allem Gerbereien und Papierfabrikation, die von den ausgedehnten Wäldern der Umgebung profitierten und bis 1816 mit gleichartigen Betrieben im benachbarten Stablo zusammenarbeiteten. Dadurch hatten sich schon im Ancien Régime einerseits eine wohlhabende bürgerliche Oberschicht aus Gerbereibesitzem und Fabrikanten, andererseits eine Arbeiterklasse gebildet, die beide auch in preußischer Zeit im wesentlichen wallonisch blieben. Die Zuwanderung von preußischen Beamten, Handwerkern und kleineren Geschäftsleuten im 19. Jahrhundert kam vor allem der Mittelklasse zugute. Konfessionell war Malmedy, wie in einem ehemals geistlichen Territorium kaum anders zu erwarten, rein katholisch; die wenigen wallonischen Protestanten, zumeist Tuchmacher, waren schon im 17. Jahrhundert emigriert. Immerhin respektierten auch die Preußen, die 1815 den Franzosen folgten, die wallonische Mutter- und französische Schriftsprache der ehemaligen Abteiuntertanen. Anders als im übrigen Rheinland, wo Französisch, „diese Vipemzunge, die schon anderthalb Jahrhunderte lang das deutsche Blut mit ihrem schleichenden Gifte durchdrungen und veφestet h a t " \ im Zuge 4 Die Zahlen bei Karl Leopold Kaufmann, Der Grenzkreis Malmedy in den ersten fünf Jahrzehnten preußischer Verwaltung. Neu hrsg. von Heinrich Neu, Bonn 1963 (künftig Kaufmann I). Dies ist die bisher materialreichste Darstellung in deutscher Sprache, fußend auf Akten und persönlicher Kenntnis des Verf., der 1900-1907 selbst Landrat in Malmedy war. 5 So der erste preußische Direktor des öffentlichen Unterrichtswesens im Rheinland, Karl August Fried-
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der damaligen „Entnapoleonisierung"^ aus der Verwaltung, der Schule und dem öffentlichen Leben entfernt wurde, sollten ihr jedoch nach einer Verfügung des preußischen Generalgouverneurs Sack vorn 18. September 1814 „in jenen Gebieten, in denen sie wirklich Muttersprache ist, die Rechte derselben vorbehalten" bleiben. Das war zwar eigentlich auf die Stadt Lüttich gemünzt, die Preußen auch noch zu erwerben hoffte, galt aber auch für Malmedy und die umliegenden Dörfer und blieb für mehr als ein halbes Jahrhundert, bis zum Erlaß des preußischen Geschäftssprachengesetzes von 1876, die wesentliche Rechtsgrundlage des Sprachengebrauchs in Malmedy. Bis nach der Reichsgründung blieben kommunale Verwaltungsakte, Protokolle der Gemeinderatssitzungen, ja sogar alle Berichte an den Landrat oder übergeordnete Behörden in Aachen oder Berlin französisch, ebenso die Unterrichtssprache an den Schulen der Stadt.^ 1816 ordnete der preußische Innenminister an, von allen „die der deutschen Sprache noch ganz unkundigen Gemeinden" betreffenden Verordnungen sowie Verfügungen im Amtsblatt „richtige Übersetzungen ins Französische" zu fertigen und diese zugleich mit dem deutschen Original den Betroffenen zuzusenden. Mit diesen Übersetzungen wurde stets ein geeigneter Beamter des Landratsamtes in Malmedy beauftragt.^
Im Justizwesen dagegen hatte Staatskanzler Hardenberg gleich nach der preußischen Besitzergreifung Deutsch als ausschließliche Amtssprache des Kreis- und späteren Friedensgerichts Malmedy verfügt. In der Praxis wurden allerdings viele Verfahren auf wallonisch bzw. französisch geführt, sofern der Amtsrichter dieser Sprachen mächtig war, und lediglich deutsch protokolliert.'" Eine Ausnahme bildeten die Notare. Für sie hatte der preußische Justizminister aufgrund einer Sonderbestimmung der Notariatsordnung von 1822 und mit Rücksicht darauf, „daß der Friedensgerichtsbezirk Malmedy der einzige der Kgl. Preußischen Rheinprovinzen ist, in welchem die deutsche Sprache nicht als Landessprache betrachtet werden kann", 1823 bestimmt, „daß die Notare ... befugt sein sollen, sich der deutschen oder der französischen Sprache zu bedienen". Dazu mußten alle in Malmedy tätigen Notare „beider Idiome in Wort und Schrift vollkommen mächtig" sein und hatten dies im zweiten
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rieh Grashof, in seiner Festrede bei Eröffnung des ersten preußischen Gymnasiums in Köln am 24. April 1815, bei Karl Joseph von Bianco, Versuch einer Geschichte der ehemaligen Universität und der Gymnasien der Stadt Köln, Köln 1833, S. 147. Der unwillkürlich an die politischen Säuberungen unseres Jahrhunderts erinnernde Ausdruck ist bereits zeitgenössisch und stammt von dem rheinpfälzischen Juristen Andreas Georg Friedrich Rebmann (Bescheidene doch freimütige Andeutung über Übertreibungen und Rückwirkungen mit besonderer Hinsicht auf Deutschland, Germanien [d.i. Mainz] 1814); vgl. Karl Georg Faber, Die Rheinlande zwischen Restauration und Revolution, Wiesbaden 1966, S. 50. Beschluß der vorläufigen Instruktion für die Direktoren und Prinzipale der Gymnasien im Generalgouvernement für den Nieder- und Mittelrhein vom 18.9.1814; zit. bei Kaufmann I, S. 45. Karl Leopold Kaufmann, Der Kreis Malmedy. Geschichte eines Eifelkreises von 1865 bis 1920, hrsg. von Heinrich Neu, Bonn 1961 (künftig Kaufmann II), S. 49 ff. Beide Bücher Kaufmanns, geschrieben nach der Abtretung Malmedy s 1920, sind allerdings stark um Rechtfertigung der preußischen Verwaltung bemüht; vgl. deshalb stets die dreiteilige, vielfach auch ergänzende oder richtigstellende Besprechung von Elisée Legros, La Wallonie malmédienne sous le régime prussien. Sur deux livres d'un ancien Landrat, in: La Vie Wallonne 37(1963), S. 273-301 sowie 38(1964) S.7-46 und 254-282. Erlaß des preußischen Ministers des Inneren und der Finanzen vom 9.7.1816; Kaufmann II, S. 45. Kaufmann I, S. 50 f
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Staatsexamen durch Anfertigung ihrer Probearbeiten in beiden Sprachen auch nachzuweisen." Damit verhielt sich der Justizminister übrigens liberaler als der örtlich zuständige Landgerichtspräsident in Aachen, der in seinem Vorbericht schon damals empfohlen hatte, lediglich mündliche Verhandlungen in Französisch zuzulassen, die Beurkundungen selbst aber auf deutsch zu verlangen. Zu dieser relativ entgegenkommenden Behandlung des Französischen durch die Berliner Zentralbehörden hatte sicher auch beigetragen, daß die Wallonen dort von Anfang an im Ruf standen, preußische Patrioten zu sein, nachdem sie sich schon 1814 bei einer Rebellion der sächsischen Truppen gegen den Feldmarschall Blücher auf die Seite der Preußen gestellt hatten. Auch später gaben die Malmedyer Wallonen bis zur Jahrhundertwende keinen Anlaß, an ihrer Zuneigung zur preußischen Monarchie zu zweifeln. Auf einer Inspektionsreise zeigte sich Prinz Wilhelm von Preußen im Juni 1838 höchst befriedigt über das „so echt französische Völkchen, daß man sich inmitten von Frankreich versetzt glaubt", und auch der Aachener Regierungspräsident Cuny lobte in einem Bericht von 1840 „den guten patriotischen Sinn der Kjeisbevölkerung, der sich beim Besuche Sr. Kgl. Hoheit des Kronprinzen [Friedrich, K.P.] in Malmedy ... gezeigt hat. Wenngleich die Wallonen französisch sprechen, so sind dort die Massen weder französisch noch belgisch gesinnt." 1848, als in den meisten rheinischen Städten schwarz-rot-goldene Fahnen wehten, blieb man in Malmedy beim schwarz-weißen Preußenadler, und zum Geburtstag des Königs oder später zum Sedantag pflegten sich die wallonischen Gesangvereine vor dem Hause des Landrats zu versammeln und neben ihren Volksliedern vor allem „Heil Dir im Siegerkranz" zu intonieren.'^ Die im gleichen Revolutionsjahr gegründete „La Semaine" und andere wallonische Zeitungen gaben sich in beiden Sprachen patriotisch, und selbst der borussische Historiker Heinrich von Treitschke kam vor der Reichsgründung nicht umhin, in seinen „Preußischen Jahrbüchern" den Anteil der „tapferen Wallonen aus Malmedy und Montjoie" am Sieg über Frankreich zu rühmen.'" Es darf aber nicht übersehen werden, daß es, abgesehen von den zitierten Erlassen Sacks und der beiden Minister, niemals eine gesetzliche Grundlage gab, die die preußischen Behörden zur Duldung der französischen Amtssprache in Malmedy verpflichtet hätte. Neben der Abgelegenheit und dem geringen Umfang des wallonischen Sprachgebiets haben wohl auch die romantischen Neigungen des Königs Friedrich Wilhelm IV. diese „latitude" begünstigt, der, was allerdings nicht ganz sicher zu belegen ist, bei seinem zweiten Besuch in Malmedy 1856 in französischer Sprache erklärt haben soll, daß er stolz darauf sei, in seiner Monarchie auch ein kleines Land zu besitzen, wo man französisch spreche." Trotzdem läßt sich nicht verkennen, daß etwa um die Jahrhundertmitte ein allmählich zunehmender Germanisierungsdruck einsetzte, dessen politische Urheber aber nicht die 11 12 13 14
K a u f m a n n e s . 51. Kaufmann I, S. 66. Kaufmann I. S. 71 und II, S. 54. Heinrich v. Treitschke, Was fordern wir von Frankreich?, in: Preußische Jahrbücher 2 6 ( 1 8 7 0 ) , S. 380. Der propagandistische Charakter dieser Behauptung ergibt sich allerdings schon daraus, daß in der Eifelstadt Montjoie (erst 1918 in Monschau umbenannt), die Treitschke offenbar wegen ihres Namens für wallonisch hielt, im 19. Jahrhundert überhaupt keine bodenständigen Wallonen lebten. 15 Nicolas Pietkin, La Germanisation de la Wallonie Prussienne, Bruxelles 1904, S. 9. Pietkins Buch gilt als klassische Formulierung einer preußisch-patriotischen, dennoch kompromißlos auf die Erhaltung wallonischer Spache und Kultur ausgerichteten Haltung, die bis 1918 viele seiner Landsleute teilten.
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preußische Regierung, sondern die lokalen Unter- und Mittelinstanzen und deren Beamte waren. Er betraf vor allem Verwaltung und Schule, weniger die Alltagssprache, denn da blieben die Wallonen weitgehend unter sich. Der bis 1865 noch relativ enge gesellschaftliche Verkehr der Bevölkerung mit den überwiegend evangelischen und der Landessprache unkundigen preußischen Beamten, der sich nicht zuletzt in vielen Vereinen oder der gutbürgerlichen „Casino"-Gesellschaft abspielte, wurde im Vorfeld der Reichsgründung und vor allem seit dem Beginn des „Kulturkampfes" seltener, zumal diese Beamten auch häufiger versetzt wurden. Zeitgenössische Beobachter haben dies bereits als Konsequenz eines zunehmenden preußischen Nationalismus und als Spiegelbild einer verschärften „Polenpolitik" am anderen geographischen Ende der Monarchie gedeutet. Eine Ausnahme bildeten lediglich die gerade auch zum Zweck der Integration in den 1860er Jahren gegründeten Krieger- und Schützenvereine. Gesellschaftlich-häuslichen Anschluß an die maßgebenden wallonischen Familien scheint nach der Reichsgründung und dem Kulturkampf kaum noch einer der höheren preußischen Beamten gefunden zu haben; Landrat, Gymnasialdirektor, Kreisarzt, Notar und Oberförster mit ihren Familien verkehrten seitdem im wesentlichen unter sich. " Bestimmte Gruppen wie die Zollbeamten hielten sich ohnehin demonstrativ von den Wallonen fem; ebenso verhinderte die Konfessionsschranke sprachliche Mischehen in größerer Zahl. Bei den viel häufigeren Heiraten mit katholischen Rheinländerinnen oder Rheinländern, etwa aus den deutschsprachigen Nachbardörfem oder - in der Oberschicht - mit Töchtern des wohlhabenden Bürgertums rheinischer Industriestädte, paßte sich der nichtwallonische Partner zumeist seiner neuen Umgebung an. Migrationen der Arbeiterschaft fanden abgesehen von der Auswanderung nach Amerika hauptsächlich von und zum benachbarten Belgien hin statt, seltener ins deutsche Sprachgebiet." Trotzdem setzte sich natürlich die Kenntnis des Deutschen als Zweitsprache besonders in der städtischen Ober- und Mittelschicht allmählich durch, die ihre Kinder vielfach in deutsche Internate zur Schule schickte. Schon um 1850 war sie dort allgemein verbreitet, wenn auch Wallonisch oder - in der Oberschicht - Französisch die allgemeine Umgangssprache blieb. Der Aachener Regierungspräsident v. Kühlwetter glaubte deshalb 1863, daß nach fünfzig Jahren preußischer Herrschaft der Augenblick gekommen sei, die deutsche Sprache „energischer und eindringlicher" in die wallonischen Teile des Kreises einzuführen: „Patriotismus und deutscher Sinn sowie Anhänglichkeit an unser erhabenes Königshaus sind den wallonischen Distrikten nach meinen Beobachtungen durchaus nicht fremd geblieben; aber ich halte die Aufgabe, diese Landesteile zu einem wahrhaft und innig mit unserem Vaterlande verbundenen Bestandteil zu machen, nicht für vollendet, solange nicht die deutsche Sprache die Muttersprache des Volkes und die Konversationssprache der gebildeten Klasse geworden ist."'^ Er hielt „die Verbannung der französischen Sprache aus allem amtlichen Schriftverkehr" deshalb jetzt „für angezeigt". Der zur Stellungnahme aufgeforderte Landrat empfahl
16 Kaufmann II, S. 54 f.; der Verfasser war von 1899-1907 selbst Landrat in Malmedy. Eine kritischere Darstellung des Verhältnisses der Beamten, vor allem der Landräte, zur wallonischen Bevölkerung bei Laurent Lombard, La vitalité romane de Malmedy, Verviers 1932, einer Schrift, die zur Rechtfertigung der Annexion von 1920 freilich der umgekehrten Tendenz wie Kaufmann folgt. 17 Kaufmann L S . 113 ff. 18 Kaufmann I, S. 46 f f ; dort auch die folgenden Zitate.
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zwar, den Gemeinderäten weiterhin Verhandlungen in französischer Sprache zu gestatten, wenn auch in Zukunft nur noch mit obligatorischer deutscher Übersetzung; „aller anderer Schriftverkehr kann dagegen mit Fug und Recht und zwar ohne Ausnahme in deutscher Sprache energisch gefordert werden. Ich sehe einer solchen Verfügung mit Ungeduld entgegen und werde nichts unterlassen, ihr pünktlich nachzukommen." Der zu erwartende Protest der Stadt Malmedy auf die am 20. August 1863 definitiv ergangene entsprechende Verfügung des Regierungspräsidenten hob vor allem darauf ab, daß die Wallonen darin „bei ihrer patriotischen Gesinnung eine Art von Bestrafung erblicken müßten", und wies darauf hin, daß die Mehrheit der Stadtverordneten um ihre Entlassung bitten würde, falls die Gemeinderatsprotokolle fortan wirklich in deutscher Sprache verlangt würden. Auch aus den Landgemeinden bekam der Landrat zu hören, daß dort „kein Mitglied des Gemeinderates ein deutsch abgefaßtes Protokoll unterschreiben" würde, und die Bezirksregierung sah sich in die peinliche Lage versetzt, ihre Anordnung schon zwei Monate später größtenteils wieder zurücknehmen zu müssen. Als der Landrat von seinen Bürgermeistern trotzdem widerrechtlich ins Deutsche übersetzte Berichte verlangte, beschwerte sich die Stadt direkt beim Innenminister, der offenbar überhaupt nicht informiert worden war und die Aachener Regierung deshalb dienstlich rügte, es wäre „besser gewesen, in der Angelegenheit nicht ohne höhere Ermächtigung mit so tief eingreifenden Maßnahmen vorzugehen". Auch wenn der Wunsch nach einer „vollständigen Germanisierang" der wallonischen Distrikte „an sich nicht unberechtigt" erscheine, seien die Anordnungen der Regierang und des Landrates doch selbst in ihrer gemilderten Form „weder durch ein anzuerkennendes sofortiges Bedürfnis bedingt, noch nach Lage der Verhältnisse zweckmäßig". Der gerüffelte Regierangspräsident, der nun seinerseits dem Landrat sein Mißfallen aussprach, erreichte nur noch, daß ihm die förmliche Zurücknahme seiner jetzt gegenstandslos gewordenen Verfügung erlassen wurde. Zwei Jahre später, als die Aachener Regierung in einer Steuersache trotzdem wieder einen deutschen Bericht aus Malmedy anforderte, entschied das Innenministerium auf erneuten Protest noch einmal, daß „im ferneren Gebrauche der französischen Sprache der Gemeindebehörde in Malmedy kein Hindernis weiter entgegenzustellen" sei, was die Stadtverordneten „mit wärmstem Dank" zur Kenntnis nahmen." Grundlegend änderte sich diese Lage aber mit dem preußischen Geschäftssprachengesetz (GSG) vom 28. August 1876, das Deutsch als ausschließliche Amtssprache aller preußischen Gerichte und Verwaltungsbehörden verbindlich vorschrieb.^" Es war freilich nicht wegen der 12.000 Wallonen erlassen worden, sondern zur Eindeutschung der sehr viel größeren und politisch mißliebigen polnischen und dänischen Minderheiten. Aber es galt auch in Malmedy, und das Wohlwollen der Berliner Regierang für ihre Wallonen zeigte sich noch einmal darin, daß die gesetzlichen Übergangsfristen von zweimal fünf Jahren wenigstens für die Landgemeinden voll ausgeschöpft wurden. Noch Jahre später wurden zwar die Verhand-
19 Bürgermeister Gustave Piette (1863-1868), der diese Proteste maßgeblich formuliert hatte, sollte allerdings der letzte Wallone in seinem Amt sein; seine Nachfolger zwischen 1868 und 1918 waren sprachlich ausschließlich Deutsche. 20 Gesetzessammlung für die Kgl. Preußischen Staaten 1876, Nr. 28; Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Opladen 1961 (mit zahlreichen Quellen zur Entstehung des Gesetzes); Klaus Pabst, Das preußische Geschäftssprachengesetz von 1876, in: Peter Hans Neide (Hrsg.), Sprachkontakt und Sprachkonflikt, Wiesbaden 1980, S. 191-200 (= Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik, Beiheft 32).
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lungen wallonischer Gemeinderäte offiziell auf deutsch geführt, die nötigen Erklärungen aber auf französisch gegeben. Aber nicht nur dieses ungewohnt rigorose Sprachenregime, auch der bald darauf einsetzende Kulturkampf, der sich gegen wallonische Geistliche richtete und die katholische Kirche auch als Bewahrerin der französischen Sprache traf, ließen in der zuvor unzweifelhaften Loyalität der Wallonen zu Preußen erste Risse entstehen. Dazu trug auch die neue Schulpolitik bei. Seit den Zeiten der Abtei war Französisch Unterrichtssprache, Deutsch daneben nur Unterrichtsgegenstand in den wallonischen Volksschulen gewesen. Mehrere Gründungen privater deutscher Schulen gingen in preußischer Zeit wieder ein, weil „die untere Klasse kein Interesse an einer deutschen Schule hat, die obere ihre Kinder aber zum Erlernen der Sprache nach Deutschland schickt".^' Nach 1876 wurde Deutsch jedoch Unterrichtssprache in allen Fächern mit Ausnahme des Religionsunterrichts, das Französische dagegen zum Unterrichtsgegenstand herabgestuft und vom Sommer 1889 ab völlig gestrichen. Die freiwerdenden Stunden sollten zusätzlich „dem Unterrichte und der Übung in der deutschen Sprache zugewiesen werden"." Dagegen half auch die Intervention des Malmedyer Abgeordneten Prinz von Arenberg im preußischen Landtag wenig, der dort am 7. März 1889 erklärte, die Regierung habe „keinen wirklichen Grund und nicht einmal einen Vorwand, zwangsweise in der Sprachenfrage, deren Ursprung im Kulturkampf liege, einzugreifen und germanisieren zu wollen, auf die Gefahr hin, eine gute treue Bevölkerung zu verstimmen"." Im Gegenteil trugen aber weitere „vexatorische Maßnahmen" der Schulbehörde wie die Anordnung, wallonische Familien- und Ortsnamen in deutscher Schreibweise wiederzugeben," zur Vertiefung der Entfremdung bei. Wallonische Lehrer wurden „im Interesse des Dienstes" in deutschsprachige Orte versetzt und die häufigen Bitten der wallonischen Gemeinden um Wiedereinführung des Französischunterrichts dann mit dem Argument abgelehnt, daß es an geeigneten Lehrern fehle oder daß Französisch ja auch für die Wallonen eine Fremdsprache sei.^' Germanisierende und kirchenfeindliche Tendenzen, wie sie etwa in der Person des langjährigen, auch als Geschichtsschreiber tätigen Kreisschulinspektors Esser zusammenfielen, trafen sich hier zu einer für das wallonisch-preußische Verhältnis unheilvollen Allianz. Schließlich ließ sich selbst die Erzdiözese Köln zur Unterstützung dieses Germanisierungskurses herbei, indem sie in der Wallonie zunehmend deutsche Priester einsetzte und die einheimischen dafür in anderen Teilen des weiträumigen Bistums beschäftigte. Kein Wunder, wenn die Malmedyer dies als „Germanisation à outrance" (Eindeutschung um jeden Preis) empfanden und sich um die Jahrhundertwende erstmals Vereinigungen wie der „Club Wallon" von 1898 bildeten, deren erklärtes Ziel die Verteidigung der wallonischen Kultur und Sprache war und deren Angehörige von den Behörden mit Mißtrauen beobachtet
21 Bericht des Bürgermeisters von Malmedy an den Landrat vom 22.4.1823; nach Kaufmann I, S. 82. 22 Erlaß des preußischen Ministers der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten vom 24.1.1889; zit. nach Kaufmann II, S. 50 ff. 23 Kaufmann II, S. 51. 24 Landrädicher Bericht vom 3.1.1900, a.a.O. S. 52. 25 Der letzte Antrag des Stadtrats von Malmedy, wenigstens zwei französische Unterrichtsstunden wöchentlich wieder einzuführen, wurde 1905 nach „eingehender Prüfung an Ort und Stelle" durch zwei Berliner Ministerialräte abgelehnt, da der allgemeine Gebrauch des Deutschen offenbar noch nicht so gefestigt schien, die Wiederzulassung des Französischen zu gestatten.
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wurden/*^ Zu ihnen gehörten vor allem Geistliche w i e der durchaus nicht antipreußische Pfarrer Nicholas Pietkin," dessen Wunschbild von der „petite patrie wallonne dans la grande patrie prussienne", dem kleinen wallonischen im großen preußischen Vaterland, jedoch eher den früheren Verhältnissen als der sprachenpolitischen Wirklichkeit nach 1876 entsprach,^' oder der sehr viel radikalere Abbé Joseph Bastin,^' der schon vor 1914 für eine Trennung seiner Heimat von Preußen und den Anschluß an Belgien eintrat. Dazu gehörten aber auch Laien w i e der Stadtrat, Journalist und Heimatschriftsteller Henri Bragard, der „Mazzini seines Landes"^", der seine Arbeit für den Erhalt der wallonischen Sprache in der NS-Zeit mit dem Tod im Konzentrationslager bezahlen mußte.^' Als Malmedy dann am Ende des Krieges tatsächlich belgisch wurde, war es anfangs trotzdem nur eine Minderheit, die das aus sprachlichen, häufiger aber noch aus kommerziellen Gründen begrüßte. Mehrere Eingaben an K ö n i g Albert I. und an die Pariser Friedenskonferenz, die um den Anschluß an das belgische Königreich baten, wurden von etwa 2 0 0 M a l m e d y e r Wallonen unterzeichnet, unter ihnen 10 von 16 Stadtverordneten s o w i e die führenden K ö p f e des „Club Wallon" und der Unternehmerschicht." D i e Mehrheit der
26 Zur Geschichte des „Club Walion", einer Art literarisch-kulturellen Zirkels, und anderer wallonischer Vereinigungen vgl. Elisée Legres, La Wallonie ..., S. 66 ff. 27 Nicolas-Mathieu Pietkin ( 1849-1921 ), vom Kölner Erzbischof Melchers aus der Emigration heraus 1875 zum Hilfspriester in der kleinen Eifelgemeinde Sourbrodt ernannt, amtierte dort anfangs illegal, von 1884 bis zu seinem Tode als Pfarrer. Vor allem machte er sich einen Namen als sprachbewußter wallonischer Dialektologe, Heimatdichter und Geschichtsschreiber, der sich z.B. erfolgreich weigerte, den Religionsunterricht in der Schule auf deutsch zu erteilen und ihn deshalb privat in sein Pfarrhaus verlegte. Jacques Janssens in: Biographie nationale (beige) 37 (Supplement Bd. 9), Bruxelles 1972, Sp. 650-654. 28 Nicolas Pietkin, La Germanisation de la Wallonie prussienne, Bruxelles 1904 wurde im letzten Jahrzehnt vor dem Weltkrieg zur „Bibel" der wallonischen Sprach- und Kulturbewegung, soweit sie unpolitisch blieb und nicht, wie eine kleine Minderheit um Bastin, schon vor 1918 das politische Ziel des Anschlusses an Belgien verfolgte. 29 Joseph Bastin (1870-1939), ein weitaus politischerer und radikalerer Kopf als der eine Generation ältere Pietkin, wuchs unter dem Eindruck des Kulturkampfes auf und studierte deshalb Theologie nicht in der Heimatdiözese Köln, sondern im belgischen Lüttich. Neben seiner Arbeit als Gymnasialprofessor im Malmedy benachbarten belgischen Stavelot und, seit 1920, im wieder belgischen Malmedy hinterließ er ein umfangreiches dialektologisches, archäologisches und heimatgeschichtliches Schrifttum. Während des Weltkriegs verhaftet und von den preußischen Behörden zwangsweise nach Düsseldorf verbannt, förderte er nach Kriegsende nach Kräften die politische und kulturelle Integration seiner Heimat in das belgische Königreich; W. Legrand in: Biographie nationale [beige] 32 (1964), Sp. 3 8 ^ 5 . 30 So der belgische Abgeordnete Louis Piérard in der belgischen Abgeordnetenkammer am 4. Mai 1920; Annales Parlementaires Belges, Chambre Session 1919/20, S. 959. 31 Über Henri Bragard (1877-1944 im KZ Oranienburg) vgl. Antoine Freyens in: Biographie nationale (beige) 40 (Supplement Bd. 12), Bruxelles 1977/78, Sp. 87-90. 32 Heinz Doepgen, Die Abtretung des Gebietes von Eupen-Malmedy an Belgien im Jahre 1920, Bonn 1966, S. 85ff. (= Rheinisches Archiv, 60); Roger Collinet, L'annexion d'Eupen et Malmedy щ la Belgique en 1920, Verviers 1986, S. 53 f. erwähnt auch Eingaben bereits in Belgien lebender Malmedyer Wallonen (Mémoires d'une région, II); Klaus Pabst, Eupen-Malmedy in der belgischen Regierungs- und Parteienpolitik 1914-1940, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 76, Aachen 1964, S. 274.
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„preußischen Wallonen" fühlte sich trotz ihrer Sprache, zu deren Beseitigung einige Jahrzehnte Germanisierung keineswegs ausgereicht hatten, weiterhin als Deutsche und zeigte dies, indem sie „heimattreue", das heißt revisionistische Parteien bei sämtlichen Wahlen der Zwischenkriegszeit unterstützte." Erst der Zweite Weltkrieg, die erneute Annexion durch Deutschland und die im Vergleich zum Kaiserreich noch weit rigorosere Eindeutschungspolitik des „Dritten Reiches" haben dieses preußisch-deutsche Kapitel Malmedyer Geschichte endgültig geschlossen. Zum Schluß möchte ich im Rahmen dieses Bandes, dessen Zielsetzung nicht zuletzt eine komparatistische ist, einige Thesen zur Debatte stellen, die sich aus dem Malmedyer Beispiel ergeben und zum Vergleich mit der Situation anderer preußischer Sprachminderheiten im 19. Jahrhundert bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges einladen: 1. Die Behandlung der preußischen Sprachminderheiten durch den Staat war nicht einheitlich, sondern richtete sich nach deren politischem Gewicht (zahlenmäßiger Größe und politischer Aktivität) und vor allem nach der Beurteilung ihrer politischen Loyalität. 2. Nach mehreren toleranten Jahrzehnten setzte erst in der 1860er Jahren und vor allem nach der Reichsgründung ein verstärkter Germanisierungsdruck ein, der umgekehrt Abwehrstrategien hervorrief und teilweise überhaupt erst zur Entstehung eines politischen Minderheitsbewußtseins führte. 3. Bis zur Reichsgründung finden sich nationale „Scharfmacher" eher in den lokalen Unterund Mittelbehörden als in den Berliner Ministerien, in denen sich die sprachliche Toleranz und preußische Staatsklugheit der vornationalen Epoche anscheinend länger erhielten. 4. In katholischen Gebieten waren es vor allem die Kirche und die ihr angeschlossenen Vereine, die - oft in konfessioneller Opposition zum evangelisch regierten Preußen Sprache und Kultur der Minderheit pflegten und wesentlich zu ihrer Erhaltung beitrugen. In solchen Gebieten bedeuteten Kirchenkämpfe wie 1837 oder 1871-1884 fast automatisch auch Sprachenkämpfe, da der preußische Staat mit dem Zurückdrängen der Minderheitssprache zugleich die Kirche zu treffen suchte, die Minderheit sich damit aber in zwei Lebensbereichen zugleich angegriffen fühlte. Auch die indirekten Auswirkungen der Konfessionsverschiedenheit, z. B. beim Hei rats verhalten, bewirkten oft einen zusätzlichen Schutz. 5. In einem agrarisch oder von traditioneller Kleinindustrie geprägten Gebiet hat der wirtschaftliche Wandel als Träger der Germanisierung eine geringere Bedeutung als direkte oder indirekte Verwaltungsmaßnahmen des Staates. So gesehen dürfte auch die kleine Minderheit der preußischen Wallonen als Gradmesser und Vergleichsmaßstab für die Ziele und die Intensität der preußischen Minderheitenpolitik im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert noch heute ihre Bedeutung haben, auch wenn sie sich an Zahl und politischem Gewicht nicht mit den preußischen Polen oder Dänen gleichsetzen läßt.
33 Die letzten, schon als offene Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus geführten Vorkriegswahlen im April 1939 brachten der inzwischen „gleichgeschalteten" Volksgruppenpartei „Heimattreue Front" im zu zwei Dritteln wallonischen Arrondissement Malmedy immer noch ein Ergebnis von 43 % gegenüber 36 % der zweitstärksten (Katholischen) Partei. Pierre Maxence, Les atouts gaspillés ou le drame des Cantons de l'Est, Verviers o.J., Tabelle nach S. 28.
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Der Oberschlesier - Staatsbürger oder Untertan? Zur preußischen Politik der Jahre 1807-1914
Bis auf den heutigen Tag streiten Polen, Deutsclie und Schlesier darüber, wer der Oberschlesier ist - ein Schlesier, ein Deutscher oder ein Pole. Ich verstehe im folgenden unter dem Terminus „Oberschlesier" die seit Jahrhunderten in Oberschlesien lebende Bevölkerung, die im 19. Jahrhundert meist aus Bauern und Arbeitern bestand und sich im Alltag des regionalen schlesischen Dialekts der polnischen Sprache bediente. Die Mehrheit dieser Oberschlesier fühlte sich Anfang des 19. Jahrhunderts als „Schlesier", aber schon vor dem Ersten Weltkrieg entweder als Deutsche oder als Polen, obwohl nicht weniger als einige Hunderttausende weder ein polnisches noch ein deutsches Nationalitätsbewußtsein besaßen und sich lieber als „Schlesier" bezeichneten. Für die preußische Politik in dieser Ostprovinz stellte jedoch nur die polnisch sprechende Bevölkerung ein Problem dar, nicht die eingemeindeten Deutschen oder die eingedeutschten Schlesier. Im weiteren werde ich mich jedoch nicht mit Problemen der natürlichen, deutschen Akkulturation befassen, obwohl ein solcher Prozeß unleugbar vorhanden war und auf das prozentuale Verhältnis der polnisch- und deutschsprechenden Oberschlesier einen nicht unwichtigen Einfluß hatte. Wie betrachteten die preußischen Beamten die oberschlesische, polnischsprechende Bevölkerung und welche Politik wollten sie gegenüber diesen Menschen führen? Wurden diese Oberschlesier als vollberechtigte Bürger Preußens und später des Deutschen Reiches angesehen oder nur als „Untertanen", deren Pflicht es war zu arbeiten, denen jedoch nicht die Rechte zustanden, die den anderen deutschsprachigen Einwohnern Schlesiens gewährt wurden? Viel Material darüber erbrachten besonders die neueren Forschungen von Mieczyslaw Pater.' Weitere Beweise sind sowohl in Zeitschriften wie in Archiven zu finden. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die preußische Politik in Oberschlesien von verschiedenen Faktoren beeinflußt: einerseits vom Geist der Aufklärung und des während der Befreiungskriege gegen Frankreich immer stärker werdenden nationalen Bewußtseins der Deutschen, andererseits durch das Bestreben zur Stärkung des preußischen Staates. Aber schon am Anfang dieser Periode können wir bei den preußischen Beamten eine Haltung feststellen, die über das ganze 19. Jahrhundert bestimmend ist und aus der Art der Beamtenausbildung resultiert. In der Mentalität der Beamten war das Wichtigste das Wohl des Staates, das unbedingten Gehorsam des Volkes gegenüber seinem Monarchen verlangte. Dieser absolute Gehorsam, so nahm man an, konnte am besten durch die Germanisierung der 1 Mieczyslaw Pater, Polskie postawy narodowe na ЗЦвки w XIX w., Bd. 1, Wroclaw 1983, S. 81.
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nichtdeutschen Bevölkerung gesichert werden. Es bestand nämlich die Ansicht, daß mangelnde Verständigung zwischen Regierenden und Regierten zu fatalen Konsequenzen führen könnte. Unter den preußischen Beamten war die Überzeugung verbreitet, daß eine andere als die deutsche Sprache „zum Bollwerk des Ungehorsams und Widerstandes gegenüber der Obrigkeit" würde, wie der spätere Oberpräsident der Provinz Schlesien, Friedrich Theodor Merkel, 1827 feststellte. Für ein solches Vorgehen sprachen die kurz zuvor gewonnenen Erfahrungen aus dem Jahr 1807, die Gehorsamsverweigerung der Einwohner Neu-Preußens und die Sympathiebeweise der polnischen Oberschlesier dem polnischen und französischen Militär gegenüber, die sich nicht verbergen ließen. Doch nicht nur deswegen wollte man die natürlichen, aber langsamen Akkulturationsprozesse nicht abwarten. Die Germanisierung Oberschlesiens schien verhältnismäßig leicht durchführbar, da dort die deutschsprachige Bevölkerung auf ökonomischem wie auf sozialem Gebiet dominierte. Die Germanisierung konnte zusätzlich dadurch begründet werden, daß während der voranschreitenden Modernisierung des Landes und dem schnellen Aufschwung der Industrie besser gebildete Arbeitskräfte benötigt wurden. Schlesiem, die sich fließend der deutschen Sprache bedienten, räumte man größere Chancen für einen wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg ein. Für die Mehrheit der preußischen Bürokraten dieser Zeit bedeutete der Begriff „Polentum" insbesondere in Oberschlesien zivilisatorische Rückständigkeit, konservative Denkweise, mangelhafte wirtschaftliche Initiative, Faulheit und Müßiggang. Aus den vielen Beispielen dafür sei eines aus der Stein-Hardenbergschen Zeit angeführt. Ein Landwirt polemisiert wie folgt gegen Behauptungen des Kriegs-Raths v. Cölln: „Sie sagen, der Bauer in Oberschlesien sey noch ein Kind. Das ist wahr, aber gerade weil er noch ein Kind ist, muß man ihm die Möglichkeit lassen, ein Mann zu werden. So lange man ihn als Kind behandelt, bleibt er ein Kind."' Die schnelle Germanisierung schien auch deshalb wichtig, weil nach Ansicht der Regierungsbeamten von Oppeln die in Oberschlesien gesprochene Sprache ein Gemisch aus Polnisch, Mährisch und Deutsch war, ein künstlicher Dialekt also, der in keiner Grammatik zu finden war und in dem weder Bücher geschrieben wurden noch eine Kultur existierte. Oft wurde dieser Dialekt als „Wasserpolnisch" bezeichnet.' Lediglich aus rein praktischen Gründen, um die Anordnungen und Informationen der polnischsprechenden Bevölkerung zu vermitteln, wurden wie früher zweisprachige Texte in den Kreisblättem gedruckt. Nur selten konnte man in dieser Zeit andere Meinungen beobachten, am ehesten bei Geistlichen, für die ein ganz anderes Wertesystem als für Beamte galt. Aber bemerkenswert war, daß die Alumni im Priesterseminar in Breslau das ganze Jahrhundert hindurch Unterricht in der polnischen Sprache erhielten. So vertrat z. B. der Konsistorialrat der Regierung zu Oppeln, Johann Samuel Richter, in einem Memorandum an den Kultusminister 1821 die Meinung, daß, sofern den Kindern in Schlesien die ihnen unbekannte deutsche Sprache aufge-
2 SchlesischeProvinzialblätter 1808,Nr. 3, S. 237. 3 Mieczystaw Pater, Polskie postawy ..., S. 26-27. Das war nicht neu. Schon im Jahr 1789 schrieb man in den Schlesischen Provinzialblättern, daß die oberschlesische Sprache weder polnisch noch böhmisch war, „sondern ein Bastard von beiden, nebst Zusätzen aus der deutschen und mährischen Sprache". Zit. nach: „Das preussische England ..." Berichte über die industriellen und sozialen Zustände in Oberschlesien zwischen 1780 und 1876. Hrsg. von Hanswalter Dobbelmann, V. Husberg, W. Weber, Wiesbaden 1993, S. 70.
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drängt werde, dies nur ihre Unlust zum Schulbesucii verstärke. Richter unterstützte voll und ganz den von Minister von Altenstein in bezug auf das Großherzogtum Posen angewandten Grundsatz: „Die Ausbildung des Einzelnen und der ganzen Nation darf sich nur auf die Muttersprache stützen." Auch der katholische Schulrat der Regierung Oppeln, Sedlag, vertrat die Meinung, daß eine wirkliche Erziehung des Menschen nur durch Anwendung seiner Muttersprache erfolgen könne." In einer solchen Situation, auf der einen Seite die Staatsbeamten, unterstützt durch einflußreiche Personen aus Berlin, auf der anderen nur vereinzelte Geistliche und Lehrer, setzte sich in der praktischen Politik selbstverständlich die Meinung der Mehrheit durch. Bei der Auswahl zwischen Hochdeutsch und Hochpolnisch wurde natürlich die zuerst genannte Sprache in der Schule gewählt. Aus diesen Gründen wurde auch in den Lehrerseminaren seit Beginn des Jahrhunderts ausschließlich die deutsche Sprache benutzt.^ Inwieweit für Preußen die Überzeugung galt, daß Kraft und Gewalt wirksamer sind als geduldiges und langsames Vorgehen, ist schwer zu sagen. Sicher glaubte man, daß die Zeit drängte, denn die sich über die Grenze ausdehnende Novemberrevolution von 1830 in Polen verstärkte die Ängste der preußischen Beamten. Das Problem der Verständigung zwischen der deutschen Oberschicht, insbesondere den Beamten, und ihren schlesischen Untertanen war für die preußische Politik in Schlesien entscheidend. Darüber waren sich die intelligenteren Vertreter der Behörden im klaren. Ein höherer Beamter der Regierung zu Oppeln beobachtete, daß der Gehorsam der Bevölkerung gegenüber den Behörden vorwiegend auf Angst basierte. Später bemerkte der Regierungspräsident Hippel, daß man auf diesen Gehorsam zählen könne, solange sich keine „Winkeladvokaten" fänden, die die Sprache des einfachen Volkes beherrschten und nach seinen Bräuchen lebten. Das Volk werde ihnen schneller hörig als den „fremden Herren".^ Bemerkenswert ist jedoch, daß sich die Berliner Behörden bereits seit den dreißiger Jahren bewußt waren, daß die Kenntnis der polnischen Sprache, derer sich die einfachen Menschen bedienten, für die Beamten in Oberschlesien nützlich sei. Die Beherrschung des Polnischen wurde besonders bei der Ernennung von Landräten viele Jahre hindurch gefordert.' Es wird auch bezeugt, daß oberschlesische Rittergutsbesitzer in Gegenden, in denen die Bevölkerung polnisch sprach, diese Sprache selbst erlernten, und zwar durch den alltäglichen Kontakt mit den polnischen Landarbeitern. Davon zeugen nicht nur die Berichte polnischer Reisender aus den vierziger Jahren. Noch im Jahre 1860 schrieb man über die Verhältnisse im Kreis Lublinitz: „Gutsbesitzer und Ökonomen verkehren so viel mit den Einsassen, daß sie sich auch bei anderen Gelegenheiten als bei Schimpfen der polnischen Sprache bedienen müssen, wenn sie sich verständlich machen wollen." Es sind auch andere deutsche Zeugnisse bekannt, aus denen hervorgeht, daß sich Angestellte, die sich eine Zeitlang in Oberschlesien aufhielten, die polnische Sprache aneigneten. Dadurch war es ihnen möglich, Land und Leute wesentlich besser kennenzulemen.'
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Mieczystaw Pater, Polskie postawy ..., S. 23-24. Ebd., S. 27-29. Ebd., S. 80. Ebd., S. 19-20; Marek Czapliriski, Die preußischen Landräte in Oberschlesien, in: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelm-Universität zu Breslau 32(1981), S. 231-232. 8 Mieczystaw Pater, Polskie postawy ..., S. 133; E. Himmel, Lebensbeschreibung vom 15.10.1847, in: Archiwum Panstwowe Wroclaw, Bestand Regierung Oppeln, Präsidialbüro, Bd. 824, S. 1-6; Re-
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Gewisse Veränderungen konnte man in Oberschlesien in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts wahrnehmen, als sich in Preußen die liberalen Tendenzen verstärkten. Das hing mit der Übernahme des Kultusministeriums durch Johann Albrecht Eichhorn zusammen, der 1842 eine Instruktion über den Unterricht der Kinder in ihrer Muttersprache herausgab. Er ordnete an, daß in den Schulen des Regierungsbezirks Oppeln, die von Kindern besucht wurden, die des Deutschen nicht mächtig waren, nur solche Lehrer anzustellen seien, die beide Sprachen beherrschten. Dank dieser neuen Linie wurde zu dieser Zeit die polnische Sprache auch in den Gymnasien eingeführt. Eine bedeutende Rolle für die spätere Entwicklung der nationalen Probleme in Oberschlesien spielte der Geistliche Bernhard Bogedain, der von 1848 bis 1858 den Posten eines Schulrats des Oppelner Regierungsbezirks bekleidete und später Weihbischof von Breslau war. Dieser Schlesier (aber nicht Oberschlesier!) war überzeugt, daß man nur in der Muttersprache Herz und Geist anzusprechen sowie einen jungen Menschen zu erziehen vermag. Deswegen begann er, vermutlich mit Genehmigung des Kultusministers Ladenberg, die polnische Sprache in den oberschlesischen Volksschulen einzuführen. Bogedain war kein Gegner der deutschen Sprache. Wie viele andere Geistliche glaubte er, daß sich der Oberschlesier allmählich selbst germanisieren würde. Wichtiger als die schnelle Germanisierung war für ihn jedoch die katholische Erziehung der jungen Generation. Nicht selten wurden die Anweisungen durch untere Beamte sabotiert.' Erst im Jahre 1848 hatten die Oberschlesier den Mut, offen ihre Gefühle in der polnischen Presse auszudrücken. Ein Artikel in der Zeitung „Dziennik Gómosl^ski" kritisiert diejenigen, die direkt aus Deutschland kommen, weil sie das Volk Oberschlesiens nicht verstehen und es aus diesem Grunde verachten: „Man betrachtet uns bis heute wie ein uneheliches Kind, wie einen Sklaven, dem keinerlei Rechte zustehen, der Gott dafür danken müßte, daß der Herr ihn aus seinem Hause nicht vertreibt."'" Nach 1848 änderte sich die Stellung Preußens zu den Polen grundlegend. Die Polen wurden zunehmend als Staatsfeinde betrachtet. Die Erfahrungen aus dem Großherzogtum Posen waren hierbei entscheidend. In Preußen begannen sich immer stärker neue Tendenzen durchzusetzen. Das Ideal war nun ein zentralisierter, ethnisch einheitlicher Staat. Mit dem immer schnelleren Ausbau der Industrie verstärkte sich bei den Liberalen die Überzeugung, daß die polnische Sprache besonders in Oberschlesien ein Hemmnis des Fortschritts darstellte. Schon im Jahre 1852 formulierte Heinrich, der Vorsitzende des Land- und Forstwirtschaftlichen Vereins zu Oppeln: Der Verein „glaubt eines der wesentlichen Hindemisse seiner Bestrebung in dem polnischen Sprachidiom des oberschlesischen Landmannes zu finden ..., welcher ... auch die beiden wichtigsten Gruppen in der landwirtschaftlichen Industrie, nämlich Arbeitgeber und Arbeitnehmer, voneinander isoliert ..." Die Schlußfolgerungen, die die deut-
gierungspräsident Graf von Pückler-Limpurg an den Innenminister vom 16.10.1841, in: Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 77, Tit. CCCXXIIIb, Nr. 18.4., Vol. l . ; A . O. Klaussmann, Oberschlesien vor 55 Jahren und wie ich es wiederfand, Kattowitz 1911. 9 Mieczyslaw Pater, Polskie postawy ..., S. 122, 2 9 - 3 1 . Es ist interessant festzustellen, daß diese Konzeption der Idee ähnlich war, die der bekannte deutsche Arzt Rudolf Virchow entwickelt hatte, der, obwohl er für die Trennung von Schule und Kirche war, im Jahre 1848 glaubte: „... so kann es zunächst nur den Versuch wagen, deutschen Geist und deutsche Gesittung durch eine in polnischer Sprache geleitete Erziehung in Oberschlesien heimisch zu machen." Zit. nach: „Das preußische England ...",S. 279. 10 Franciszek Antoni Marek, Najdawniejsze czasopisma polskie na sl^sku, Wroclaw 1 9 7 2 , 8 . 92.
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sehe Intelligenz aus dieser Tatsache zog, waren einfach: „Darum weg mit dem wasserpolnischen Rotwelsch, welches eine Scheidewand ist zwischen der Bildung und dem bildungsfähigen und bildungsbedürftigen Volke ..." ' ' Später drückte Graf Renard diese für viele Protestanten typische Meinung aus, als er in einem Memorandum schrieb: „Mit der fortschreitenden Polonisierung schwindet die Bildung und damit die Selbständigkeit, denn polnisch und ungebildet, katholisch und unselbständig ist in Oberschlesien gleichbedeutend." Schon dieses Zitat zeigt, welch grundlegende Veränderung der Kulturkampf mit sich brachte. Man begann, sich von der durch Bogedain in Angriff genommenen Schulpolitik zurückzuziehen. Schon im Februar 1872, gleich nach dem Gesetz, das der katholischen Kirche die Aufsicht über die Schulen nahm, führte der Regierungspräsident zu Oppeln die deutsche Sprache als Unterrichtssprache in allen Volksschulen seines Regierungsbezirks ein. Nachher wurden die Gesetze des Jahres 1875, die für den Klerus die Gehorsamspflicht gegenüber den staatlichen Gesetzen einführten, als Vorwand benutzt, um immer mehr Pfarrer aus ihren Pfarreien zu entfernen. Jetzt mußten die Katholiken, die bisher den Staat als unentbehrliche Struktur der sozialen Ordnung ansahen, gegen den Staat auftreten. Insbesondere das polnischsprechende Volk in Oberschlesien, das sah, daß man nicht nur seinen Glauben, sondern auch seine Sprache bekämpfte, mußte nun eine staatsfeindliche Haltung einnehmen.'^ Der Klerus und sein politischer Arm, die mit dem Staat ringende Zentrumspartei, mußten in der sich entwickelnden politischen Auseinandersetzung Unterstützung bei der Bevölkerung suchen, und zwar durch sprachliche Postulate der polnischsprechenden Oberschlesier. Nur beim Klerus konnten die polnischen Oberschlesier damals Verständnis und Unterstützung finden. Viele Geistliche gründeten katholische Vereinigungen, Kasinos usw., einige gaben sogar polnische Bücher heraus. Für die preußischen Beamten war dies ein Beweis, daß eine schnelle und völlige Germanisierung Oberschlesiens notwendig sei. Graf Renard drückte den Standpunkt vieler Vertreter der höheren protestantischen Schichten aus, als er schrieb: „Solange polnisch gepredigt, gelehrt und gelernt, polnisch gedolmetscht wird, bleibt Oberschlesien der ultramontanen Agitation offen, dem klerikalen Einfluß unterworfen und dadurch der deutschen Sprache, der damit verbundenen Aufklärung und Gesittung verschlossen ... Mit dem Untergang der polnischen Sprache schwindet aber ... der unberechtigte Einfluß der katholischen Kirche, an Stelle der Pfaffenwirtschaft und Pfaffenherrschaft tritt die Herrschaft der Staatsgesetze, der berechtigten Organe der Staatsgewalt und die Wirtschaft, der durch Stellung, Besitz, Vermögen und Intelligenz zur Ausübung eines gewissen politischen und sittlichen Einflusses Berechtigten, mit einem Worte, es konstituiert sich wieder ein gesunder, normaler Zustand ...""*
11 Zit. nach Mieczysiaw Pater, Polskie postawy ..., S. 184. Auch diese Idee war nicht neu. Schon im Jahre 1789 konnte man in den Schlesischen Provinzialblättern über friderizianische Versuche zur „Verbreitung der deutschen Kultur" lesen: „Allein sie konnten niemals ihren Zweck ganz erreichen, und werden auch künftig hin nach wie vor denselben verfehlen, so lange die Sprache, dieses Bollwerk der alten Sitten, Gebräuche und Vorurteile allen Heilmitteln entgegen steht." Zit. nach: „Das preußische England S. 74. 12 Text vom Jahre 1872, zit. nach Mieczysiaw Pater, Polskie postawy ..., S. 150. 13 Otto Ulitz, Das Deutschtum in Polnisch-Schlesien, Plauen 1932, S. 265. 14 Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 90a, Abt.. D, Tit. 1.2, Nr. 1, Bd. I, S. 233-235, zit. nach Mieczysiaw Pater, Polskie postawy ..., Bd. 2, S. 58.
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Bei den Oberschlesiern verbreitete sich ein Gefühl der Benachteiligung. Adolf Hytrek bemerkte dazu: „Auf dem Gericht, in der ganzen Verwaltung ... steht der polnische Landsmann vor vollkommen fremden und feindlichen Menschen. Ohne die amtliche Sprache zu beherrschen, war er einer Menge von Verlusten und Unannehmlichkeiten ausgesetzt." " Zur gleichen Zeit, als im Rahmen der Einführung der Autonomie Galiziens in der Habsburger Monarchie dort die Polonisierung des Schulwesens stattfand, beschrieb Karol Miarka das Empfinden der Oberschlesier wie folgt: „Unsere polnischen Kinder werden nicht in Gymnasien und andere höhere Schulen aufgenommen, da sie nicht deutsch können, und es scheint so, als ob höhere Bildung nur für Deutsche bestimmt und für uns nicht zugänglich ist. Auf diese Weise verdienen sich nur deutsche Kinder bei uns helles Brot, Beamtenstellen und Reichtum, während sich unsere Kinder mit Schwarzbrot und Armut begnügen müssen." "Ίη den folgenden Jahren änderte sich dieses Empfinden nicht. Als die Behörden 1891 die Aufführung polnischer Theaterstücke durch den Gesellschaftlichen Zirkel in Königshütte untersagten, schrieb der Vorsitzende dem Kultusminister: „Exzellenz! Erlauben Sie uns gnädigst die Ausstellung der polnischen Theaterstücke in unserem Zirkel, im anderen Falle werden wir Leute der zweiten Kategorie und nicht vollberechtigte Bürger des preußischen Staates sem. Das Ende des Kulturkampfes brachte einen Wechsel in der Einstellung des Klerus dem Staat gegenüber mit sich. Die Katholiken wollten ihren deutschen Patriotismus beweisen. Das Argument, daß ein materielles und soziales Vorankommen mit der Kenntnis der deutschen Sprache eng verbunden war, gewann bei ihnen immer mehr Anhänger, und das um so mehr, als in der Praxis das Fehlen einer gemeinsamen Sprache mit den polnisch sprechenden Oberschlesiern auch für viele katholische Deutsche beschwerlich war. Dies führte oft sogar zu Konflikten. Auf gemeinsamen Versammlungen kam es vor, daß die deutschen Katholiken mit den Füßen trampelten, wenn sie polnische Ansprachen hörten. Auch auf polnischer Seite reagierte man schärfer, indem man Reden in polnischer Sprache verlangte." Das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts brachte eine wichtige Veränderung für Oberschlesien. Immer mehr arbeitsuchende Polen aus den Provinzen Posen und Westpreußen, wo sie keine Aussicht auf gute Beschäftigung hatten, siedelten nach Oberschlesien über. Das waren Hunderte von Rechtsanwälten, Ärzten, Kaufleuten und Handwerkern. Bei der Suche nach neuen Kontakten und Kunden schlossen sie sich den katholischen Vereinigungen an. Auch polnische Journalisten zog es nach Oberschlesien. Bereits bestehende, aber auch neue polnische Zeitungen verteidigten jetzt mit Elan die Sprache des oberschlesischen Volkes, und das um so mehr, als unter der Leitung des neuen Breslauer Fürstbischofs Georg Kopp in den Kirchen die lateinischen und deutschen Lieder und im Beicht- und Kommunionsunterricht immer häufiger die deutsche Sprache eingeführt wurde." Jetzt kam es zu ersten schärferen Zusammenstößen zwischen den polnischen Oberschlesiern und der schlesischen Zentrumspartei wegen der Frage, wer im Parlament das Land repräsentieren sollte. Die Niederlage einiger offizieller Kandidaten des Zentrums und der Sieg der von der polnischen Presse unter-
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Mieczyslaw Pater, Polskie postawy ..., S. 64-67. Zit. nach ebd., S. 74. Zit. nach Chorzów. Zarys rozwoju miasta. Red. Jan Kantyka, Katowice 1977, S. 61. Mieczystaw Pater, Polskie postawy ..., Bd. 2 , 8 . 1 3 6 - 1 5 2 . Oers., Centrum a ruch polski na Gómym Sl^sku (1879-1893), Katowice 1971, S. 279-281.
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Stützten Gegenkandidaten beunmhigten nicht nur die staatlichen Behörden, sondern auch die kirchhche Hierarchie und weite Kreise des Klerus, der befürchtete, daß ihm „die Beherrschung der Seelen aus den Händen entweicht".^" Sowohl auf der polnischen als auch auf der deutschen Seite waren erste Anzeichen von Nationalismus und Chauvinismus zu spüren, was später das Zusammenleben der polnischsprechenden und der deutschsprechenden Oberschlesier erschweren sollte. Es wurde immer komplizierter, nur „Schlesier" zu bleiben. Unter den preußischen Beamten der Regierung Oppeln verbreitete sich die Überzeugung, daß es sich hierbei um eine geplante, konsequent realisierte und durch das Ausland finanzierte polnische Aktion handle, die um so gefahrlicher erschien, als nach Oberschlesien Tausende von Saisonarbeitern aus Russisch-Polen und Galizien kamen.^' Die Persönlichkeit, die sich bemühte, die von den niederen Behörden und von deutschen Chauvinisten geplante scharfe Gegenaktion zu verhindern, war der Oberpräsident der Provinz Schlesien, Fürst Hermann von Hatzfeld-Trachenberg. Noch um die Jahrhundertwende war er der Ansicht, daß ein derartiges Vorgehen der polnischen Propaganda sehr dienlich sein könnte und den Prozeß des Übergangs von Klerus und Zentrumspartei auf die Seite der Regierung erschweren sowie die ohnehin schon durch die polnische Presse angegriffene Person des Fürstbischofs Kopp in eine schwierige Situation bringen würde. Die Weiterführung des Religionsunterrichts in polnischer Sprache erachtete Hatzfeld als eine Art Sicherheitsventil. Die von unten geforderten Ausnahmegesetze, die theoretisch gegen die polnische Propaganda gerichtet waren, bedeuteten seiner Meinung nach einen Schlag gegen die polnischsprechenden Oberschlesier und konnten erneut, wie zur Zeit des Kulturkampfes, die polnische Bewegung der Zentrumspartei annähern. Als einer von wenigen Provinzialbeamten war der Oberpräsident davon überzeugt, daß zu scharfe Repressalien verstärkten Widerstand hervorrufen und damit den Prozeß der Germanisierung Oberschlesiens erschweren würden. Interessant ist auch, daß der Nachfolger Hatzfelds, der in östlichen Provinzen erfahrene Graf Robert von Zedlitz und Trützschler, seine Vorgesetzten davor warnte, den Versicherungen der Chauvinisten zu glauben. Er bemerkte als erster, daß die Erfolge der polnischen Bewegung mit der den Oberschlesiem gegebenen Hoffnung verbunden waren, durch Entwicklung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Organisationen wirtschaftlich und sozial voranzukommen. Er befand, daß die bisherige Politik der Deutschen in Oberschlesien zu patriarchalisch gewesen war und sich zu wenig um das Wohl der unteren Schichten gesorgt hatte.^' Daher waren anfangs unterschiedliche Methoden der Kleinarbeit zur Förderung der deutschen Kultur gewählt worden. Für die Finanzierung wurde mit Hilfe der oberschlesischen Großindustrie ein spezieller Fonds geschaffen, der seine Tätigkeit im Jahre 1898 mit einem Kapital von 55.000 Mark begann und am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereits über
20 Ilse Schwidetzky, Die polnische Wahlbewegung in Oberschlesien, Breslau 1934; Marek Czaplinski, Adam Napieralski. Biografia polityczna, Wroclaw 1974, S. 4 1 - 7 7 ; Józef Gruszka, Polski osrodek narodowy w Raciborzu, Wroclaw 1970, S. 5 9 - 8 7 . 21 Archiwum Pañstwowe Wroclaw, Bestand Regierung Oppeln, Präsidialbüro, Bd. 24, S. 5 8 7 - 6 1 6 , Regierungspräsident Oppeln Joseph v. Bitter an den Obeφräsidenten der Provinz Schlesien vom 27.12.1897. 22 Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 90a, D. 1.2,1, Bd. 6, K. 517, Hatzfeld an den Kultusmister vom 18.12.1902. 23 Bundesarchiv Potsdam, Reichskanzlei, Bd. 1396, K. 7 ^ 1 , Zedlitz an Bülow vom 2.1.1904.
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390.000 Mark verfügte. Mit dieser Hilfe wurden Kindergärten, Volksbibliotiieken, Fortbildungsschulen und Theater gegründet bzw. unterstützt. Die Erfolge dieser Bemühungen waren bereits nach zwei Jahren beachtlich, und man bedauerte nur, nicht schon früher damit begonnen zu haben. Es wurde nämlich bemerkt, daß - obwohl die Schule schon vorher recht erfolgreich im deutschen Geiste auf die Kinder und Jugendlichen eingewirkt hatte - die Resultate in polnischer Umgebung später wieder verlorengingen und „die Rückbildung nach polnischer Seite erfolgte".'" Das Auftreten junger polnischer Nationalisten im oberschlesischen Industriegebiet, die das Blatt „Gornosl^zak" redigierten und den Wahlspruch „Nieder mit der Zentrumspartei" verkündeten, weckte bei den Beamten des Regierungsbezirks Oppeln die Überzeugung von der Erfolglosigkeit der bisher angewandten Mittel. Bereits im Dezember 1902 begannen die Mitglieder der Kattowitzer Abteilung des Ostmarkenvereins einen Boykott der deutschen Kaufleute, die in dieser Zeitung Inserate aufgaben. Anfang März 1903 fand in Kattowitz eine Konferenz des schlesischen Ostmarkenvereins statt. Diese bereitete ein Memorandum an den Reichskanzler vor, in dem die Tätigkeit der polnischen Bewegung in Oberschlesien zusammengefaßt war. Darin wurde festgestellt, daß die polnische Presse eine Verstärkung des polnischen Nationalbewußtseins anstrebe, Haß gegen das Deutschtum schüre, Unzufriedenheit gegenüber den Behörden säe, einen wirtschaftlichen Boykott der deutschen Firmen anzettle, gegen die staatlichen Schulen und ihre Lehrkräfte agitiere und im Grunde genommen den Wiederaufbau des polnischen Staates wolle. In dieser Situation hielt man es für notwendig, in mehrere Richtungen zu wirken: das Deutschtum sowohl kulturell als auch wirtschaftlich zu heben, die Überwachung polnischer Organisationen einzuführen, den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Boykott deutscher Unternehmer, die in polnischen Zeitungen Inserate aufgaben, zu proklamieren und verstärkte Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber der polnischen Bewegung einzuführen.^'Auf Anfrage der Regierung bestätigte der Grenzkommissar Mädler aus Beuthen, der die polnische Bewegung in Oberschlesien beaufsichtigte, die Mehrzahl der im Memorandum enthaltenen Beobachtungen. Er gab auch zu, daß die letzten Wahlen „überraschend das Wachstum polnischer Gesinnung" gezeigt hatten. Eine Bestätigung dieser Tatsache war seiner Meinung nach das Anwachsen von Abonnenten polnischer Zeitungen um 22.000. Er stellte auch fest, daß unter dem Einfluß der Agitation in der Presse und in den Vereinigungen jetzt eine größere Anzahl von Eltern ihre Kinder polnisch lesen und schreiben lebrre.^*· Nebenbei muß daran erinnert werden, daß nach der Volkszählung von 1890 die Einwohnerzahl des Regierungsbezirks Oppeln ca. 1,5 Millionen betrug, wobei auf Polen und Mährer 974.000 entñelen. Daraus geht hervor, daß von einer wirklichen Bedrohung der deutschen Nationalinteressen keine Rede sein konnte. Regierungspräsident Ernst Holtz, von dem man unter dem Einfluß der polnischen Wahlkampagne ebenfalls eine Äußerung über die Ansichten des Ostmarkenvereins verlangte, wiederholte in seinem Rapport vom April 1903 die frühere Theorie, daß die Schuld für das Übel beim Klerus liege, der im Kulturkampf die Grundlagen für die Tätigkeit der „großpolnischen Agitatoren" geschaffen hatte. Trotzdem bemerkte er zu Recht, daß die „polnischen 24 Marian Orzechowski, Narodowa Demokracja na Gómym ^Цзки, Wroclaw 1965, S. 35-37. 25 Schlesische Zeitung Nr. 165-166 vom 6./7.3.1903. 26 Archiwum Panstwowe Wroclaw, Bestand Regierung Oppeln, Präsidialbüro, Bd. 73, S. 23-30, Mädler an den Regierungspräsidenten vorn 16.3.1903.
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Umtriebe" den Zweck hatten, „einen besonderen polnischen УоНсзкофег zu organisieren mit selbständigem politischem und gesellschaftlichem Empfinden und mit selbständigem wirtschaftlichem Leben". Er sah auch, daß die polnischen Anführer wie Korfanty aus dem Volke stammten und es ihnen deshalb leichter fiel, sich an das Volk zu wenden, dies um so mehr, als die für das Volk bestimmte Presse ihre Lebensaufgabe darstelle und nicht eine Nebenbeschäftigung, wie es bei den Deutschen der Fall war. In seiner Zusammenfassung sprach sich Holtz für ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Polen aus, vor allem für Gesetze, die die Freiheit der polnischen Agitation einschränkten." Der Oberpräsident Zedlitz mußte sich jetzt auch für verstärkte Repressalien aussprechen. Er wußte aber, worin der eigentliche Grund für die Erfolge der „polnischen Agitation" lag. So suggerierte er, daß an „ganz kleinen Stellen" in der Verwaltung die Vertreter der polnisch sprechenden Oberschlesier zugelassen werden könnten, weiter befürwortete er eine Erleichterung bei der Aufnahme von Krediten durch oberschlesische kleinbürgerliche Unternehmer oder Bauern in deutschen Kreditanstalten, was den unteren Schichten die Möglichkeit eines sozialen Vorankommens gab.^® Der Wahlsieg Korfantys im Juni 1903 löste in den nationalistischen Kreisen in Oberschlesien eine wahre Panik aus. Daß die bisher geführte Politik als unwirksam angesehen wurde, bezeugt die Tatsache, daß Hatzfeld seine Stellung verlor. Am 1. September 1903 nahm Robert von Zedlitz-Trützschler seinen Platz ein, der früher Präsident der Regierung Oppeln, später Obeφräsident der Provinz Posen sowie Kultusminister war.^' Im Dezember 1904 fand in der Regierung Oppeln eine Beratung im Beisein sowohl von Regierungsbeamten und Landräten des Industriebezirks als auch von Vertretern der Großindustrie statt. Es wurde die Gründung eines Fonds in Höhe von 100.000 Mark beschlossen, der für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Deutschtums bestimmt war. Außer der Unterstützung der deutschen Presse und der deutschen Vereine sollte er den Sparkassen und Kreditanstalten sowie der Gründung von Arbeitsvermittlungsstellen dienen.^" Man beschränkte sich jedoch nicht auf Beratungen. Der 1904 ernannte Regierungsrat Dr. Rudolf Küster, Chef der Kirchenabteilung der Regierung Oppeln, unternahm sehr konkrete Schritte, um den katholischen Klerus für die Regierungspolitik zu gewinnen. Er war es, der Pfarrer für 80 oberschlesische Pfarreien vorschlug, die dem königlichen Patronat unterstellt waren. Geistliche, die sich um die Germanisierung verdient gemacht hatten, konnten mit guten Pfarreien rechnen. Küster begann auch mit der Gründung eines weiten Netzes deutscher Volksbibliotheken und deutscher Vereine, propagierte gesellige Zusammenkünfte der Eltern von Schulkindern mit deutschem Kulturprogramm und bemühte sich um die Herausgabe von deutschen Kinderzeitschriften, so „Der junge Oberschlesier".^'
27 Ebd., S. 105-118, Konzept des Rapports vom 21.4.1903. 28 Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 77, Tit. 870, Nr. 47i, Bd. 2, S. 1 4 5 - 1 4 8 , Memorandum von Zedlitz vom 9.3.1903. 29 Mehr über Zedlitz siehe Schlesische Lebensbilder.Hrsg. von der Historischen Kommision für Schlesien, Breslau 1922, Bd. 1, S. 188-196. 30 Archiwum Panstwowe Wroclaw, Bestand Regierung Oppeln, Präsidialbüro, Bd. 22, S. 3 8 7 - 3 9 1 , Protokoll der Beratungen vom 5.9.1904. 31 Rudolf Küster, D i e polnische Irredenta in West-Oberschlesien, Berlin 1931, S. 2 0 - 2 5 ; Marek Czaplinski, Adam Napieralski ...,S. 154-155.
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Einen noch größeren Eindruck auf die deutsciien Beamten hinterließen die Reichstagswahlen von 1907. Sie brachten eine Verdoppelung der Polenstimmen (118.733 ; 50.210) im Vergleich zur vorigen Wahl und die Kandidatur von fünf Geistlichen aus der polnischen Partei.'^ Nach Meinung des Regierungspräsidenten zu Oppeln war es jetzt notwendig, mit der Theorie Schluß zu machen, daß die Verhältnisse in Oberschlesien anders seien als in der Provinz Posen, da trotz gewisser Besonderheiten das polnische Problem hier wie dort gleich war. Deswegen sollte man auch in Oberschlesien über Ausnahmegesetze für die Polen nachdenken. Dies war eine sehr wichtige Feststellung, zieht man die gesamte frühere preußische Politik in Schlesien in Betracht. Auch in Berlin war man nun der Ansicht, daß die neue Lage neuer Personen bedürfe. Ab Januar 1908 wurde Friedrich Ernst von Schwerin Regierungspräsident zu Oppeln. Überraschend ist, daß dieser aus Oberschlesien stammende Beamte, der schon als Landrat von Tamowitz Erfahrungen gesammelt hatte, nicht besser über die polnischen Oberschlesier dachte als seine aus Brandenburg, Pommern oder Ostpreußen stammenden Vorgänger. In einem Bericht an das Innenministerium schrieb er unter dem Eindruck der Landtagswahlen, in welchen ein Wahlkompromiß zwischen Zentrum und polnischer Partei letzterer die ersten Landtagsmandate einbrachte: „Bei der religiösen Stimmung der oberschlesischen Polen, die zwischen kindlicher Frömmigkeit und krassestem Aberglauben schwankt und eine meist auch in weltlichen Dingen willenlose Unterordnung unter die kirchlichen Organe erklärlich macht, wird die Haltung des Klerus in den politischen Kämpfen immer, wenn nicht bestimmend, so doch wesentlich maßgebend sein ..." Seiner Meinung nach war das Ziel der Polen in Oberschlesien ein polnischer Staat.^" Die Ergebnisse in Oberschlesien beunruhigten selbst Wilhelm IL, der aus der Kreisstadt Pless an den Reichskanzler alarmierend telegraphierte: „Rapide Zunahme der polnischen Sprache auf Kosten der deutschen, stark fortschreitende Entwicklung und Machtentfaltung des Polentums, unaufhörliches Anwachsen der polnischen Stimmen, schwere Gefahr für die Zukunft, in der eventuell der geistige Kampf in einen physischen ausarten könnte. Grund: Mangel an Stetigkeit und Zielbewußtheit in der Behandlung der Polen seitens der Regierung und Beamten. Mangel an scharfem Auftreten, welches von Polen als Schwäche, von Deutschen als Konvenienz ausgelegt wird."^' Zusammenfassend können wir in der preußischen Politik in Oberschlesien einige Konstanten formulieren, etwa Verachtung der ungebildeten slawischen Bauern, Betrachtung der polnischen Oberschlesier als Kinder, die erst durch deutsche Kultur zu vollwertigen Bürgern gemacht werden könnten. Bestimmende Faktoren der praktischen Politik waren zunächst die Wahl der Unterrichtssprache, später der Kampf mit der katholischen Kirche, schließlich die Furcht vor der polnischen Irredenta. Die preußische Politik in Oberschlesien orientierte sich, wie man sehen kann, immer mehr an militärischen Gesichtspunkten. Sie mußte durch ihren Angriff auf die katholische Kirche
32 Zahlen nach: Wyniki wyborow parlamentarnych na ál^sku. Bearb. von Marian Orzechowski, J. Pabicz, Z. Surman, in: Studia i Materialy ζ Dziejów ál^ska, 7(1966), S. 299, 301. 33 Archiwum Pañstwowe Wroclaw, Bestand Regierung Oppeln, Präsidialbüro, Bd. 73, S. 151-180, Memorandum von Holtz vom 24.4.1907. 34 Bundesarchiv Potsdam, Reichskanzlei 1396/1, K. 253-279, Schwerin an den Innenminister vom 20.12.1909. 35 Ebd., K. 201, Telegramm vom 25.11.1909.
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und auf die polnische Sprache zur Gegenwehr der Polen und zur Verschärfung der nationalen Gegensätze führen. Es gelang den Preußen nicht, die Oberschlesier in solchem Maße für sich zu gewinnen wie die Österreicher die Bewohner Galiziens. Neben der für Preußen spezifischen Überzeugung, daß alle Nationalitätenprobleme am leichtesten durch Gewalt zu lösen seien, war für die Entwicklung der Lage in Oberschlesien die Tatsache von Bedeutung, daß die Oberschlesier niemals als vollwertige Partner behandelt wurden. Es wäre auch sonderbar, wenn sie anders behandelt worden wären, da die deutschen Bauern und bis zum Ersten Weltkrieg die deutschen Arbeiter keine Partner der regierenden Junker waren. So ist es nicht verwunderlich, daß es die Preußen in der Praxis niemals für möglich hielten, die als minderwertig betrachtete Sprache und Kultur der polnischen Oberschlesier anzuerkennen. Sie verachteten diese Menschen als eine rückständige, konservative, vom Klerikalismus durchsetzte Volksgruppe. Aus der Lektüre der Beamtenrapporte kann man ersehen, daß für eine andere Behandlung der Oberschlesier Bedingungen wie Übernahme der Sprache, der Sitten und vor allem des Bewertungssystems der Deutschen, am besten der protestantischen Deutschen, hätten erfüllt werden müssen.'*· Da in der Provinz Posen keinerlei Schritte zur Nachahmung der österreichischen Politik in Galizien unternommen worden waren, konnte man auch nicht die Ergebnisse erwarten. Obgleich die Bezeichnung „Der Untertan" durch Heinrich Mann auf den durchschnittlichen Preußen angewendet wurde, scheint es, als passe dieser ganz besonders für den polnischen Oberschlesier. Das war nicht nur ein polnisches Gefühl. Man sollte die von der Gräfin Valeska Bethusy-Huc ausgedrückte Überzeugung nicht vergessen, daß die in Preußen lebenden Schlesier sich immer als „Stiefkinder Deutschlands" fühlten." War dies nur Schuld der Deutschen? Sicherlich nicht. Man darf den Zeitgeist nicht außer acht lassen. Denselben Mißerfolg der nationalen Politik konnte man auch in der polnischen Politik gegenüber den Ukrainern in Ostgalizien, in der ungarischen Politik in Siebenbürgen oder der Slowakei, in der englischen Politik in Irland feststellen, und das aus ganz ähnlichen Gründen. Der Terminus „internal colonialism" wurde durch einen britischen Soziologen geprägt.'^ Ebenso können wir von einem „internen Kolonialismus" im preußischen Oberschlesien und von oberschlesischen Untertanen sprechen. 36 Ganz ähnlich denken die Herausgeber von „Das preußische England S. XVI: „Hier zeigt sich für die Berichte über Oberschlesien w i e für die Reiseberichte der Zeit ganz allgemein die Unfähigkeit, mit kultureller Andersartigkeit umzugehen, sie als solche zu erkennen und nicht den eigenen Wertemaßstab als alleingültige Orientierung anzulegen." 37 Oberschlesien XII, S. 558. 38 Michael Hechter, Internal Colonialism: The Celtic Fringe in British Nationalism Development 1536-1966, London 1975, S. 3 0 - 3 4 .
JÓZEF BORZYSZKOWSKI
Die Kaschuben im 19. und 20. Jahrhundert zwischen Polen und Deutschland
Die Frage der weitreichenden Beziehungen zwischen Kaschuben, Polen und Deutschen wurde bis heute nicht zum Gegenstand eigenständiger und vertiefter Untersuchungen. Diese Beziehungen umfassen gesellschaftliche, konfessionelle, ethnische und soziale Verhältnisse. Jeder Historiker, der sich mit der sogenannten „kaschubischen Frage" beschäftigt, wird auf diesen Zusammenhang stoßen. Am stärksten kommt dies in Veröffentlichungen von Gerard Labuda' zum Ausdruck, der eine umfassende Geschichte der Kaschuben vorbereitet.^ Die Schriften von Zygmunt Szultka^ betreffen dagegen frühere Perioden, die auf die Ereignisse im 19. Jahrhundert Einfluß ausübten. Die Arbeiten von Danziger Sozialwissenschaftlern schließlich, die Forschungsergebnisse aus den Jahren 1987/88 und 1992/93 zusammenfassen, stellen den heutigen Zustand der wechselseitigen Beziehungen und der gegenseitigen Wahrnehmung dar. Schon eine flüchtige Analyse der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre zeigt, daß es zwar zahlreiche Arbeiten gibt, die den Ausgangspunkt für eine vertiefte Gesamtdarstellung bilden können, daß aber keine von ihnen die komplizierten kaschubisch-deutsch-polnischen Beziehungen behandelt.' Dabei verfügen wir sowohl über ausführliches Dokumentationsmaterial in der pommerschen Publizistik als auch über reichliches Illustrationsmaterial, z. B. in der kaschubischen Literatur und in den Werken von Günter Grass.'' Der nachstehende Abriß soll veranschaulichen, wie umfangreich dieses Forschungsfeld noch immer ist und wie viele Möglichkeiten für weitere Untersuchungen bestehen. Er will aber keinesfalls Anspruch auf eine hinreichende Ausschöpfung des Themas erheben. Dem Bewußtsein der zeitgenössischen Deutschen haben sich die Kaschuben zumeist durch ein Lied von Werner Bergengruen mit dem Titel „Das kaschubische Weihnachtslied" einge1 Gerard Labuda, „Sprawa kaszubska" w perspektywie historii, in: Kaszuby, seria „Pomorze Gdanskie", Nr. 18, Ossolineum 1988, S. 225 ff. 2 Ders., W ç z t o w e zagadnienia historii Kaszubów na tie historii Pomorza, in: Antropologia Kaszub i Pomorza, Bd. 1. Red. Józef Borzyszkowski, Gdansk 1990. 3 Zygmunt Szultka, Jçzyk polski w Kosciele ewangelicko-augsburskim na Pomorzu Zachodnim od XVI do XIX wieku, Wroclaw 1991. 4 M. Latoszek,Kaszubi. Monografia socjologiczna,Rzeszów 1990. 5 Vgl. M. Latoszek, Kaszubi w kontekscie stosunków polsko-niemieckich, in: Przegl^d Zachodni 1991, Nr. 2. 6 Vgl. J. Mizinski, Gra w historiç. О prozie Güntera Grassa, Lublin 1994.
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prägt. Der 1892 in Riga geborene Autor hat es in der Kindheit von seiner Kinderpflegerin gehört. Der orginale kaschubische Text ist in verschiedenen Versionen bekannt, am meisten unter den Volkskundlern. Eine ähnliche Popularität hat in Polen das laizistische Lied „Ach du Segler segle doch..." („Hej zeglorzu zegluj ze") erlangt. Eine gemeinsame Frage bleibt aber sowohl bei den Polen als auch bei den Deutschen offen: Wer sind eigentlich die Kaschuben? Sie sind Reste der baltischen Slawen, die autochthone Bevölkerung des slawisch-germanischen Grenzlandes von Pommern, das an der Ostsee am Zufluß der Oder und der Weichsel liegt. Das Kaschubische bildet eine Art Brücke zwischen der Sprache der Elbslawen und dem Polnischen.' Im Mittelalter lebten die Kaschuben bzw. Pommern in der Regel in zwei miteinander rivalisierenden Staatsorganisationen. Ganz Pommern wurde zum Austragungsort polnisch-deutscher Konflikte. Der westliche Teil wurde schließlich Deutschland angeschlossen und fast vollständig germanisiert. Der östliche Teil blieb bei Polen. Eine der Tragödien der kaschubisch-pommerschen Gemeinschaft bestand darin, daß die Stettiner Fürsten - der letzte ist 1637 gestorben - die heimische Tradition und Sprache, vorsichtig ausgedrückt, stiefmütterlich behandelten; die führende Schicht, der Adel, aber auch das Bürgertum unterlagen, sofern sie nicht direkt aus Deutschland gekommen waren, einer weitgehenden Germanisierung. In Ostpommern dagegen fand eine allgemeine Polonisierung des heimischen Adels statt. Das Bürgertum stammte größtenteils aus Deutschland. Diese Unterschiede wurden noch zusätzlich durch die Reformation vertieft. Der westliche Teil wurde vollständig von der protestantischen Kirche beherrscht.' Infolge der Teilung Polens wurden Ende des 18. Jahrhunderts alle Kaschuben und Pommern dem preußischen Staat einverleibt. Preußen und Deutschland wollten über ihre Staatspolitik den Germanisierungsprozeß in Pommern und somit auch bei den Kaschuben beschleunigen. Gefördert wurde dieser Prozeß durch die wirtschaftliche Entwicklung, als Werkzeuge dienten dabei die Verwaltung, das Militär und die Schule. Daher stammen viele der hervorragenden Militärexperten Deutschlands aus Pommern und aus der Kaschubei (York-Gostkowski, Bach-Zelewski). Der Widerstand gegen die Germanisierung in Weichselpommern betraf die Verteidigung der Staatstradition und der polnischen Sprache.^ Das ethnische Erwachen der Kaschuben nahm seinen Anfang zur Zeit des Völkerfrühlings durch das Wirken eines bedeutenden polnischen Revolutionärs von 1846, des Arztes Florian Ceynowa, der als Vater des kaschubischen Regionalismus bezeichnet wird. Ceynowa, der einen schnellen Germanisierungsprozeß und eine wenig erfolgreiche polnische nationale Bewegung in der Kaschubei feststellte, die durch den Klerus und die wenigen Gutsherren animiert wurde, appellierte an die kaschubische Identität seiner Landsleute, vor allem der Bauern und Fischer. Sein Wirken und seine Publikationen riefen eine rege Polemik unter den Polen sowie großes Interesse in wissenschaftlichen Kreisen, darunter deutschen und russischen, hervor. Seit dieser Zeit traten die Kaschuben selbst mit eigenem Namen und eigener Sprache auf und verteidigten immer öfter ihre Identität, indem sie unter anderem ihre Literatur entwickelten. In den Kreisen der Politiker und Sprachwissenschaftler tauchte damals die sogenannte
7 Jerzy Treder, Kaszubszczyzna - problemy jçzykoznawcôw dawniej a dzis, in: Antropologia Kaszub i Pomorza, Bd. 1. Red. Józef Borzyszkowski, Gdansk 1990. 8 Vgl. Zygmunt Szultka, Jçzyk polski ... 9 Jan Kamowski, Ludnosc kaszubska w ubieglym stuleciu, Koscierzyna 1991.
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„kaschubische Frage" auf.'" Erstere ordneten die Kaschuben unmittelbar den Deutschen zu, letztere den Polen. Redliche Gelehrte haben die sprachliche Differenz des Kaschubischen im Rahmen der westslawischen Sprachfamilie bei größter Verwandtschaft zum Polnischen unterstrichen. Die Kaschuben selbst wurden sich ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrer gemeinsamen Traditionen immer bewußter. Vor allem dank der katholischen Kirche bekannten sie sich zum Polentum, insbesondere nach den Jahren des Kulturkampfes. Das war ein großes Verdienst von Otto von Bismarck. Er wohnte auf den Gütern seiner Frau, einer geborenen Puttkamer, und klagte, daß „in diesen Landen nur Wölfe und Kaschuben heulen". Obwohl den Kaschuben ein baldiges Ende prophezeit wurde (1856: „Reste der Slawen an der südlichen Ostseeküste"" und 1907: „Die Kaschuben gehen zugrunde"'^), dauerte die kaschubische Gemeinschaft mit ihrer Sprache, Kultur und Identität fort. Als die Kaschuben im 19. Jahrhundert nach Westdeutschland emigrierten, insbesondere als Saisonarbeiter, wurde ihnen auch dort ihr Polentum bewußt." Mit der Zeit integrierten sie sich in die deutsche Gesellschaft und Kultur. Etwas langsamer verlief dieser Prozeß in Amerika, besonders in Kanada, wo es bis heute eine recht große kaschubische Kolonie gibt. Dort wurde noch in der dritten Generation der Nachkommen der ehemaligen Emigranten das polnisch-kaschubische Bewußtsein gewahrt und die Sprache der Ahnen in der Gestalt gepflegt, wie sie bei uns vor 100 Jahren existierte.'" Bei der Erforschung der Geschichte der Kaschuben und des Kaschubischen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat sich der Mecklenburger Friedrich Lorentz große Verdienste erworben. Der in Zoppot begrabene Lorentz verfaßte unter anderem das „Pommeranische Wörterbuch", die „Kaschubischen Texte" und die „Pommersche Grammatik". Auch der aus Kleinpolen stammende und in Krakau verstorbene Pole Stefan Ramult hat ein „Wörterbuch der pommerschen, das heißt der kaschubischen Sprache" verfaßt und eine „Statistik der kaschubischen Bevölkerung" erstellt.'^ Diese Autoren haben mittelbar zum Entstehen der Jungkaschubischen Bewegung, der Zeitschrift „Gryf" (1908) und der Jungkaschubischen Gesellschaft in Danzig (1912) beigetragen, deren drei bekannteste Mitglieder - der Arzt Alexander Majkowski, der Jurist Jan Kamowski und der Priester Leon Heyke - Absolventen deutscher Universitäten waren. Unter anderem hatten sie in Greifswald, Berlin und München studiert. Die Jungkaschuben, die auch aus dem deutschen Kulturgut schöpften, vertraten den Standpunkt: „Alles, was kaschubisch ist, ist polnisch" und unterstützten die Entwicklung von Literatur und Kunst, auch der politischen Kultur der eigenen Gemeinschaft."^ In ihrem Wirken 10 Vgl. Gerard Labuda, О historii Kazubów, Gdarîsk 1992, S. 27 ff. 11 Aleksander Hilferding, Resztki Stowian na pohidniowym wybrzezu Morza Battyckiego, wyd. II polskie, opr. J. Treder, Gdansk 1989. 12 Konstanty Koscinski, Kaszubi gin^, Poznan 1907. 13 Vgl. Józef Borzyszkowski, C. Obracht-Prondzynski, Emigracje Kaszubów w XIX i XX wieku, in: Migracje polityczne i ekonomiczne w krajach nadbahyckich w XIX i XX w. Red. Józef Borzyszkowski, M. Wojciechowski, Toruñ 1995, S. 13 ff. 14 J. Jost, Osadnictwo kaszubskie w Ontario, Lublin 1983; W. Szulist, Kaszubi kanadyjscy, Gdansk 1992. 15 Józef Borzyszkowski, Istota ruchu kaszubskiego i jego przemiany od pol. XIX w. po wspótczesnosc, Gdansk 1982, S. 8 f ; vgl. auch die Sammlung von Aufsätzen in dem Buch Cale zycie pod urokiem mowy kaszubskiej. Red. Haiina Horodyska, Warszawa 1995. 16 Über die Jungkaschuben schrieb ausführlich Andrzej Bukowski, Regionalizm kaszubski, Poznan 1950, S . 9 0 f f
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wurden sie durch verschiedene Politiker und polnische Aktivisten unterstützt. Hierbei zeichnete sich besonders der Posener Bernard Chrzanowski aus, der in Polen die kaschubische Küste aus der Zeit der Teilung und der Zwischenkriegsjahre bekannt machen wollte." In den Jahren 1918-1920 bekannten sich die Kaschuben samt der gesamten polnischen Gemeinschaft von Westpreußen zu Polen, und der größte Teil von Weichselpommern wurde der Republik Polen angeschlossen. Ein besonderes Merkmal des Alltags der Kaschuben im 19. Jahrhundert war die friedliche Nachbarschaft zu den deutschen Landsleuten, die diese Region seit Jahrhunderten bewohnten und sich in der Regel nicht mit politischen Händeln befaßten. Dies wird auch heute noch von der ältesten der kaschubischen Schriftsteller, Anna Lajming, dokumentiert. Eine andere Haltung nahmen die preußischen Beamten ein, manchmal auch Siedler und Junker, die Polen und Kaschuben für eine minderwertige Kategorie von Menschen und Bürgern hielten. Diese Geringschätzung sowie die Feindschaft des preußischen Staates und seiner Beamten blieben lange Zeit im Gedächtnis der Kaschuben haften. Im 19. und 20. Jahrhundert gab es unter den Einwohnern Pommerns Vertreter verschiedener Kulturen und Sprachen. Die Kaschuben kannten oder verstanden neben der einheimischen kaschubischen Sprache gut die Amtssprache, das Hochdeutsche, und die polnische Kirchensprache, aber auch die Alltagssprache ihrer deutschen Nachbarn, das Niederdeutsche. Manchmal beherrschten auch die Deutschen, wenn sie in einer gemischten Gemeinschaft lebten, das Kaschubische. Das kaschubische Problem existierte in den zwanzig Zwischenkriegsjahren fort und hatte seinen Ursprung im politischen Bereich und in den Spannungen zwischen Deutschen und Polen. Auf der polnischen Seite war es die Angst vor starken kaschubischen Sympathien den Deutschen gegenüber, hervorgerufen durch das Streben nach einem höheren materiellen Lebensstandard.'^ Allerdings haben die Vertreter des Staates bei besonderen Anlässen unterstrichen, daß Polen dank der Kaschuben an die Ostsee zurückgekehrt sei. Manche Schriftsteller, z. B. Stefan Zeromski, haben versucht, das Interesse der polnischen Gesellschaft auf die kaschubischen Grenzgebiete zu lenken, indem sie den Mythos schufen, daß Polen dank der Kaschuben ein Seeland geworden sei. Auf deutscher Seite wurde, ähnlich wie zu Zeiten der Teilung Polens, versucht, die Unterschiede der Kaschuben zu den Polen hervorzuheben, um sie von diesen zu trennen. Man verzichtete auch nicht auf Revanchismus.'' Ein Teil der Kaschuben lebte weiter im Rahmen des deutschen Staates in den Kreisen Bütow und Lauenburg. Da viele von ihnen Sehnsucht nach Polen hatten, wurden sie von den Nazis besonders hart verfolgt. Das betraf auch die Kaschuben bzw. Polen, die in der Freien Stadt Danzig lebten. Ein dramatisches Ende nahm das friedliche Zusammenleben mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Für die Kaschuben waren es die tragischsten Jahre in diesem Jahrhundert. In den Wäldern von Szpçgawsk und Piasnitz, zwischen Neustadt und Krockow sowie im Konzentrationslager Stutthof ist die Elite der Kaschuben und ganz Pommerns ums Leben gekommen. Die Kaschuben nahmen am organisierten Widerstand gegen die Besatzer teil. Im Lande entstand zunächst die geheime Militärorganisation Gryf Kaszubski, später dann Gryf 17 Vgl. Bernard Chrzanowski, Na kaszubskim brzegu, Poznan 1911. 18 Gerard Labuda, „Sprawa kaszubska"..., S. 259 ff. 19 B. Bojarska, Pias'nica, Gdaiisk 1989.
Die Kaschuben
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Pomorski, und in Großbritannien der Zwi^zek Pomorski.^" Bis heute sind die tragischen Folgen der nationalsozialistischen Politik, u. a. Zwangseinträge in die Volksliste und Einverleibung in die Wehrmacht, zu s p ü r e n / ' So kamen nach 1939 Kaschuben an allen Fronten West- und Osteuropas in polnischen, deutschen, aber auch polnisch-sowjetischen Uniformen ums Leben. Nach der Befreiung durch die Rote Armee wurde die zivile Bevölkerung oft genauso wie die Deutschen behandelt. Viele wurden zusammen mit den Deutschen nach Sibirien verschleppt. Nur wenige haben ihre Heimat freiwillig oder im Rahmen einer durch Deutsche oder durch Polen organisierten Zwangsevakuierung verlassen. Diesen Teil der tragischen Geschichte der Kaschuben hat Günter Grass in seinem Roman „Die Blechtrommel" festgehalten. Besonders bemerkenswert ist das Fragment, in dem Oskars Familie Danzig verläßt und am Bahnhof von der kaschubischen Großmutter Anna Koljaczkowa verabschiedet wird. Sie erklärt, daß die Kaschuben zwischen den Polen und Deutschen immer wie zwischen Hammer und Amboß gelebt hätten. Für die einen seien sie zu wenig deutsch, für die anderen zu wenig polnisch gewesen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hofften die Kaschuben auf ein Leben in einem freien Staat. 1946 fand der L Kaschubische Kongreß statt. Doch ebenso wie alle Polen waren sie einem kommunistischen System ausgesetzt, das sie in Richtung einer totalen Gleichmacherei trieb. Die jungen Kaschuben - als unsicheres Element unter den Bürgern der Volksrepublik Polen - durften ihren Militärdienst nicht in der nahen Kriegsmarine ableisten, sondern wurden zur Zwangsarbeit in die schlesischen Bergwerke geschickt. Auf diese Weise wuchs auch das Bewußtsein des gemeinsamen Schicksals von Schlesien! und Kaschuben. Der Widerstand der kaschubischen Bauern gegen die Kollektivierung brachte für die jungen Kaschuben zahlreiche Schwierigkeiten bei der weiteren Ausbildung mit sich. Weiter wurde versucht, die gesamte kaschubische Kultur nur als Folklore oder Volkskunst darzustellen. Diese Politik hat allerdings nicht zu den gewünschten Zielen geführt. Ganz im Gegenteil - der innere Widerstand wuchs an. Schon 1956 wurde die Kaschubische Gesellschaft gegründet, die 1964 zur Kaschubisch-Pommerschen Gesellschaft umgebildet wurde. Sie stützte sich vorrangig auf die Intelligenz und realisierte - nicht ganz problemlos - ihre Aufgaben im Bereich der kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung der Kaschubei und Pommerns. Verbündete fanden die Kaschuben in kirchlichen Institutionen, in Künstlerkreisen und unter Vertretern der Wissenschaft, von denen manche aus den ehemaligen östlichen Grenzregionen Polens stammten, insbesondere aus der Gegend von Wilna. Eine besondere Rolle als Aktivist der kaschubisch-pommerschen Bewegung spielte in dieser Zeit der Danziger Schriftsteller Lech B^dkowski. Er nahm aktiv an der oppositionellen Bewegung teil und repräsentierte im März 1968, im Dezember 1970 und im August 1980 die Kaschubisch-Pommersche Gesellschaft. Er wurde zum ersten Pressesprecher der Gewerkschaft „Solidamosc" und bewahrte die Kaschuben zur Zeit des Kriegsrechts vor manchen Schicksalsschlägen." Während der Jahre der kommunistischen Herrschaft waren die Kaschuben nach ihren tragischen Erfahrungen aus der Zeit der Okkupation und den Versuchen, sie ihrer kulturellen Eigenheit zu berauben, verhältnismäßig frei von den dominanten Stereotypen: der böse 20 K. Ciechanowski, Ruch oporu na Pomorzu Gdanskim 1939-1945, Warszawa 1972; Lech B^dkowski, Pomorska mysl polityczna, 2. Aufl., Gdynia 1990. 21 D. Steyer, Eksterminacja ludnosci polskiej na Pomorzu Gdanskim w 1. 1939-1945, Gdynia 1967. 22 Informator Kaszuby-Pomorze, bearb. von С. Obracht-Prondzynski, Gdansk 1994.
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Deutsche, der gute Pole. Die Lehren der Jahrhunderte hatten bewirkt, daß man in schwierigen Gesprächen die Frage stellte, um was für einen Deutschen es sich handele, denn man hatte sowohl den bösen als auch den guten in Erinnerung. Noch bevor Polen in den Kreis der demokratischen Länder zurückkehrte, hatte die Kaschubisch-Pommersche Gesellschaft Kontakte zu wissenschaftlichen Kreisen, zu Deutsch-Polnischen Gesellschaften in Hamburg und Nordfriesland, zur Evangelischen Akademie Nordelbiens und anderen geknüpft. In dieser Zeit erschienen in Deutschland Ferdinand Neureiters „Kaschubische Anthologie" und die „Geschichte der kaschubischen Literatur", die auch ins Polnische übersetzt wurde.^' Neureiter wurde, ähnlich wie der sorbische Historiker und Schriftsteller Frido Metsk und der OstBerliner Sprachwissenschaftler Friedhelm Hinze, mit der Stolem-Medaille ausgezeichnet, einem Preis des Studentenklubs „Pomorania" für Leistungen auf dem Gebiet der kaschubischen Kultur. Publikationsorgan der Kaschuben, aber auch von Polen und Deutschen, ist die Monatsschrift „Pomerania". An der deutsch-polnischen Zusammenarbeit beteiligt sich die Kaschubische Volksuniversität in Wiezyca. In Danzig und in Pommern wirkt eine Gruppe von Wissenschaftlern, die sich mit der kaschubischen Problematik und den polnisch-deutschen Beziehungen befaßt. Die letzten Jahre brachten unter anderem einen Aufschwung des Tourismus in der Kaschubei. Neben den sogenannten Heimwehtouristen besuchen diese Region auch Leute, die sich von den Eigenheiten einer ihnen unbekannten Welt faszinieren lassen. Manche, die bis 1945 hier gelebt haben, lernen erst jetzt die wahre Kaschubei, die Kaschuben und ihre Kultur kennen. Vorher zählte nur die deutsche Landschaft und die deutsche Kultur. Als ein markantes Beispiel kann das vor einigen Jahren verstorbene Geschwisterpaar Eva und Wilhelm Brauer aus Karthaus dienen. Wilhelm war nach dem Krieg Pastor in Lübeck und schrieb viel über seine Heimat, die Kaschubische Schweiz, wobei er die Kaschuben fast überhaupt nicht beachtete. Eva - auch eine Pastorin - verheiratete Brenner, hat das bekannteste Werk der kaschubischen Prosa „Leben und Abenteuer des Remus" von Aleksander Majkowski ins Deutsche übersetzt. Auf diese Weise wollte sie ihren Landsleuten das näherbringen, was das wichtigste für die Kaschuben und die Kaschubei ist - die geistige Kultur und die Sprache.^" Wie schon am Anfang dieses Abrisses über die deutsch-polnisch-kaschubischen Beziehungen betont, erfordert dieses Thema weitere vertiefende Forschungen, besonders wegen der sich heute so schnell verändernden Realität sowie der neuen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen. Gefordert sind nicht nur die Historiker, sondern auch die Sozialund Politikwissenschaftler. Die Kaschubei ist heute kein Grenzgebiet mehr, aber weiterhin eine Region verschiedener kultureller Einflüsse, eine Region, die schwer zu verstehen ist, wenn man sie einseitig betrachtet, die jedoch gerade auf Grund ihrer Vielfalt nicht nur Wissenschaftler, sondern immer öfter auch Schriftsteller und Künstler fasziniert.
23 Ferdinand Neureiter, Historia literatury kaszubskiej, Gdansk 1982; deutscher Originaltitel: Geschichte der kaschubischen Literatur, München 1978. 24 Józef Borzyszkowski, Eva ζ Brauerów Brenner jako ttumaczka „Remusa" i jej brat Wilhelm, in: Gazeta Kartuska, 4.7.1995.
GRZEGORZ JASIÑSKI
Zur Problematik der Assimilation der masurischen Bevölkerung im preußischen Staat (1815-1914)
Die Bezeichnung „Masuren" wird zumindest in zweierlei Hinsicht verwendet. In der Regel versteht man darunter, entsprechend den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, die polnischsprechende Bevölkerung evangelischer Konfession, die den südlichen Teil Ostpreußens bewohnte. Im Laufe der Zeit, insbesondere nach 1914 und im Zuge der fortschreitenden sprachlichen Vereinheitlichung, wurden jedoch auch die deutschsprechenden Bewohner dieses Gebiets als masurische Bevölkerung angesehen. Nach dem Grundsatz der Selbstbestimmung und des subjektiven Selbstverständnisses kann auch diesen Bevölkerungsteilen nicht das Recht abgesprochen werden, sich als Masuren zu betrachten. Da sich der folgende Beitrag mit dem 19. Jahrhundert beschäftigt, als es „deutsche Masuren" noch nicht oder nur als große Ausnahme gab, wird die auf Friedrich Kosta zurückgehende „klassische" Definition mit ihrer Verbindung von polnischer Sprache und Protestantismus verwendet. Wollte ich mich streng an diese Maßstäbe halten, so wäre es folgerichtig, wenn ich die Bezeichnung „Masuren" nur für die von polnischsprechenden Protestanten bewohnten Gebiete benutzen würde. Die Ausdehnung des polnischen Sprachgebiets im Herzoglichen Preußen, dem späteren Ostpreußen, unterlag jedoch ständiger Veränderung. Daraus resultieren die Schwierigkeiten, ein solches nicht eindeutig abgegrenztes Gebiet zu untersuchen, zumal die Verbreitung der polnischen Sprache in den Übergangsgebieten nicht genau bestimmt werden kann. Ich plädiere deshalb dafür, unter Masuren diejenigen Gebiete zusammenzufassen, die Mitte des 19. Jahrhunderts, zum Zeitpunkt der endgültigen Einbürgerung dieser Bezeichnung, von Masuren bewohnt waren. Dazu gehören die damaligen Kreise Johannisburg, Lotzen, Lyck, Neidenburg, Oletzko, Orteisburg, Osterode, Sensburg sowie die südlichen Teile der Kreise Angerburg, Goldap und Rastenburg. Diese Einteilung hat sich bis zum heutigen Tage erhalten. Literatur über das nationale Bewußtsein der masurischen Bevölkerung am Ausgang des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gibt es bislang nicht. Deshalb mußte ich die Masuren jener Zeit als eine in ländliche Lokalgemeinschaften aufgeteilte sprachlich-ethnische Gemeinschaft behandeln, wobei diese lokalen Gemeinschaften durch eine beträchtliche Autarkie in wirtschaftlichen und kulturellen Fragen charakterisiert waren. Es gab einen traditionellen Typ gesellschaftlicher Bindungen, täglich stattfindender menschlicher Kontakte. Vorherrschend war dabei ein Verhärtungsprozeß, welcher auf Neuerungstendenzen paralysierend wirkte. Das in diesen Gemeinschaften bestehende sprachlich-kulturelle Bewußtsein besaß keine Eigendefinition. Eine weit größere Rolle spielte zu jener Zeit das konfessionelle
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Bewußtsein. Dennoch darf man sich die masurische Gesellschaft, auch in ihrer einfachsten Form, nicht als völlig abgeschlossen und ganz isoliert von äußeren Einflüssen vorstellen. Es bestand ein starkes dynastisches Gefühl und eine darauf beruhende Bindung an den Staat. Diese wurde schon vor 1800 durch Schule und evangelische Kirche verstärkt. Die Napoleonischen Kriege hatten eine Verstärkung der dynastischen, ja sogar die Entwicklung patriotischer Gefühle zur Folge. Nach 1815 erweiterte die Schule ihre Einflußmöglichkeiten auf die Kinder, bei denen allmählich eine gewisse Kenntnis der vaterländischen Geschichte festzustellen war. All dies bewirkte eine Hinwendung der Masuren zum preußischen Staat. Dem stand auch die gute Nachbarschaft mit der polnischen Bevölkerung nicht entgegen. Konfessionelle Unterschiede spielten damals keine größere Rolle. Dieses Verhältnis kann vielleicht am besten als „neutrales Wohlwollen" bezeichnet werden. Wesentlich komplizierter war das Verhältnis der Masuren zur deutschsprachigen Bevölkerung. Deren kleinerer Teil - insbesondere derjenige mit polnischen Sprachkenntnissen - wurde als äußere Autorität akzeptiert. Bezüglich der übrigen, von welchen die Masuren durch die Schranken der gesellschaftlichen Stellung und der Sprache getrennt waren, herrschten jedoch Mißtrauen und Fremdheit vor. Da sich die Masuren bewußt waren, Teil eines größeren Ganzen, des preußischen Staates, zu sein, nannten sie sich aufgrund ihrer auch von den Deutschen als Polnisch bezeichneten Umgangssprache „Polen". Man muß betonen, daß diese Bezeichnung nur auf der Ebene des sprachlichen, nicht des nationalen Bewußtseins verwendet wurde. Dagegen war ihnen zu jener Zeit die Bezeichnung „Masuren", die sich seit den zwanziger Jahren bei der deutschsprachigen Bevölkerung eingebürgert hatte, im allgemeinen fremd. Das Bewußtsein der sprachlichen Besonderheit wurde bei den Masuren durch die Ereignisse der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts geweckt. Die Mehrheit drückte ihren Unwillen gegenüber dem intensiven und aufgezwungenen Unterricht in der deutschen Sprache aus. Dies rührte nicht von der Entwicklung eines polnischen Nationalbewußtseins oder gar einer Feindschaft gegenüber dem preußischen Staat her, sondern entsprang der Überzeugung vom mangelnden Nutzen dieser Kenntnisse unter den damaligen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bedingungen. Man lehnte die Methoden zur Einführung der deutschen Sprache als ungeeignet ab und bezweifelte angesichts der Reaktion der Kinder die Möglichkeit ihrer Aneigung. Der Widerstand der Masuren war eine Reaktion auf die Verletzung des damaligen Status quo im Schulwesen und die Gefährdung der bestehenden moralischen Normen, welche auf dem Religionsunterricht in polnischer Sprache beruhten. Der vielleicht wichtigste Effekt des „Sprachenkrieges" (so werden diese Ereignisse in der polnischen historischen Literatur bezeichnet) für die masurische Bevölkerung war die bewußte Wertschätzung der Muttersprache, allerdings nur als Sprache der kirchlichen Liturgie und als Mittel der häuslichen Erziehung. Im Umgang mit der Muttersprache spiegelte sich nämlich der Traditionalismus der masurischen Bevölkerung voll und ganz wider. Die polnische Sprache eignete sich jedes Kind im Elternhaus an; es lernte durch sie die Welt kennen. Vor allem aber war dies die Sprache der gesamten kirchlichen Liturgie, in ihr lernte man beten, die Kirchenlieder singen, die Bibel lesen. Deshalb wurde gerade dieser liturgischen Funktion die größte Bedeutung beigemessen. Die polnische Sprache erfüllte nicht nur eine kommunikative Funktion, sondern besaß vor allem sakrale Bedeutung, denn sie spielte die Rolle des Verbindungsgliedes zu Gott. Man kann annehmen, daß sich die Masuren leichter mit der Germanisierung ihrer Alltagssprache auf der kommunikativen Ebene abfanden als mit der Beseitigung der Besonderheiten der Gemeinde und des religiösen Lebens. Im konservati-
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ven, ländlichen Milieu umfaßte der sakrale Bereich nicht nur die Religion, die kirchlichen Riten, sondern auch Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Auch die Erziehung der Kinder bestand nach damaliger Ansicht hauptsächlich in der Verpflichtung, ihnen eine religiöse Bildung zu sichern, ihnen mit Hilfe der Kirche die Grundsätze des Glaubens zu vermitteln und sie in die Gemeinschaft der Gläubigen einzuführen. Die Erfüllung dieser Aufgabe durch Unterricht im Lesen, Vermittlung der Grundsätze des Glaubens und der Moral und schließlich die Vorbereitung auf die Konfirmation verlangte man zugleich von der Schule. Im Zusammenhang damit spiegelt sich die Bedeutung der Sprache auch in ihrer Bezeichnung wider. Im allgemeinen nannte man sie die „Kirchensprache" oder gar die „heilige Muttersprache". Unter diesen Umständen wurden Veränderungen im sprachlichen Bereich, insbesondere wenn sie von oben, ohne Wissen der Betroffenen, eingeführt wurden, als Anschlag auf die traditionellen Rechte und Sitten betrachtet. Sie drohten nämlich die althergebrachten Strukturen zu zerstören, welche auf festen Normen und moralischen Vorbildern beruhten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß sich nahezu alle Proteste bezüglich der polnischen Sprache darauf beschränkten, ihre Erhaltung als Sprache des Religionsunterrichts zu fordern. Diese Vorstellungen fanden Verständnis und Unterstützung bei der Geistlichkeit, ja sie wurden sogar in einzelnen Fällen von den politischen Behörden akzeptiert. Die Abschaffung der polnischen Sprache brachte in den Augen der Masaren eine Reihe negativer Folgen mit sich. Eine ungewöhnlich weitgehende, im Lichte der beschriebenen Einstellungen jedoch logische Folgerung aus den Versuchen zur Beseitigung des Polnischen war die Überzeugung, daß damit Veränderungen in der Liturgie verbunden sein müßten. Es kam sogar zur Gleichsetzung der deutschen Sprache mit einer anderen Konfession. Eine weitere Konsequenz der Beseitigung der polnischen Sprache, die mit ihrer religiösen Bedeutung zusammenhing, war für die Masuren, daß damit ein sinnvoller Religionsunterricht für die nur des Polnischen mächtigen Kinder unmöglich wurde. Insbesondere dieser Umstand rief scharfe Reaktionen der Eltern hervor. Sie drohten, ihre Kinder zum Konfirmandenunterricht in evangelische Gemeinden im benachbarten Polen zu schicken, in einzelnen Fällen taten sie dies sogar. Das Fehlen der Religion war für sie gleichbedeutend mit dem Zerfall von Sitte und Moral. Sie sahen auch die Schwierigkeiten, welche sich für den Umgang der Generationen ergeben mußten, wenn die Kinder weder das Deutsche noch das Polnische gut beherrschten. Das erwachende Sprachbewußtsein gewann eine andere Qualität durch die Erkenntnis des Bedürfnisses nach eigener Literatur, nach Entwicklung der Schriftstellerei und der Schaffung eines lokalen Pressemarktes. Allerdings war dies zunächst nur eine Randerscheinung. In den lokalen Auseinandersetzungen um die Sprache drückte sich der Unwillen hauptsächlich gegenüber denjenigen, aus, die man für die Veränderungen verantwortlich machte - Lehrer und Lokalbehörden. Der Kampf um die Sprache führte zu einer Stärkung der Bindung an den König, der - nach allgemeiner Überzeugung - schließlich 1842 die polnische Sprache im Religionsunterricht wieder einführte. Es ist schwierig, die Folgen der Sprachenpolitik des preußischen Staates gegenüber den Masuren korrekt einzuschätzen, da die Zahl der Personen, welche das Deutsche beherrschten, nicht bekannt ist. Vermutlich war diese Politik jedoch zu jener Zeit noch wenig erfolgreich. Die in Masuren tätigen Lehrer und Pastoren fühlten sich als Preußen. Mit der übrigen Gesellschaft Ostpreußens waren sie durch kulturelle und historische Bande verknüpft. Ähnlich wie die Bauern betrachteten sie die königliche Herrschaft als von Gott gegeben. Sie hatten eine klare Vorstellung von der vaterländischen Geschichte, die sie an die Kinder weitergaben und die auf dem Gegensatz von „Wir" und „die Anderen" beruhte. Unter ihnen gab es durch-
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aus unterschiedliche Einstellungen gegenüber der masurischen Bevölkerung und der Sprachenpolitik der Behörden. Im Gegensatz zu den Lehrern, welche mit wenigen Ausnahmen folgsam die Anweisungen der Behörden ausführten, zeigten die Geistlichen mehr Unabhängigkeit und Überlegung. Sie akzeptierten zwar das grundsätzliche Ziel, distanzierten sich aber von den Methoden seiner Realisierung. Im Laufe dieser Entwicklung gerieten die masurischen Geistlichen in die Rolle von Verteidigern der Interessen der masurischen Bevölkerung. Die Zeit des Völkerfrühlings verstärkte die loyalistischen Gefühle der Masuren und weckte bei ihnen das Interesse an weltlicher Literatur. Der Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sah die Masuren im Schatten sich abzeichnender wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen. Deutlich bahnte sich die Auflösung der bisherigen ländlichen Strukturen an. Es gab Gruppen, die stark unter den Auswirkungen der Reformen zu leiden hatten und keinen geeigneten Platz in der sich verändernden masurischen Gesellschaft finden konnten. Daneben begann sich eine neue Schicht reicher, gebildeter Bauern herauszubilden, die künftig im gesellschaftlichen und kulturellen Leben des Dorfes den Ton angeben sollte. Allmählich fühlten sich die masurischen Bauern, oder zumindest ein Teil von ihnen, durch die freilich noch rudimentären kommunalen Organe mitverantwortlich für das Schicksal ihrer Heimat. Das bedeutete noch nicht, daß die traditionellen gesellschaftlichen Bindungen auf dem masurischen Dorf zerschlagen wurden. Sie waren noch sehr stark und wirkten hemmend auf die Mehrzahl der in der Gemeinschaft ablaufenden Neuerungstendenzen. Analog zum vorhergehenden Zeitraum der Jahre 1800 bis 1850 stand die Gesellschaft unter dem Einfluß unterschiedlichster Faktoren, welche die Assimilation im Rahmen der größeren Gemeinschaft - der Provinz und des preußischen Staates - teils beschleunigten, teils verzögerten. Welche neuen Entwicklungen wirkten in den Jahren 1851 bis 1870 auf das Leben und die Psyche der Masuren ein? Zum einen sicherlich das wachsende Interesse an Literatur in polnischer Sprache, zunächst in der Gruppe der wohlhabenderen, interessierten Bauern, allmählich aber auch bei weiteren Kreisen der ländlichen Bevölkerung. Ferner war eine zunehmende Wertschätzung der eigenen Sprache feststellbar, nicht nur auf der bekannten und allgemein akzeptierten religiösen Ebene, sondern auch als Sprache der Bildung und des täglichen Lebens. Die Abneigung gegenüber den deutschen Mitbewohnern äußerte sich deutlicher als zuvor. Sie zeigte sich vorwiegend auf gesellschaftlich-wirtschaftlicher Ebene. Klagen über Unfähigkeit bzw. Nachlässigkeit gingen bei der staatlichen Verwaltung ein. In der Sprachenfrage gab es keine größeren Konflikte, da die Masuren die Situation, wie sie sich als Folge der Anordnungen bezüglich des Schulwesens entwickelt hatte, akzeptierten. Die Aufrechterhaltung von Kontakten mit den polnischen Grenznachbarn hatte vorwiegend ökonomische Gründe und wurde durch Elemente der Kultur- und Sprachgemeinschaft erleichtert. Der polnische Januaraufstand von 1863/64 im angrenzenden russischen Kongreßpolen traf in Masuren auf Sympathien. Diese betrafen aber die allgemein menschliche Ebene, seine politischen Umstände wurden entweder nicht verstanden oder waren nicht bekannt. Veränderungen bahnten sich in den Ansichten von Lehrern und Pfarrern an. Heftiger als bisher wurde die Auffassung von der theologischen Rolle der polnischen Sprache diskutiert, wenngleich sie noch sehr stark im Bewußtsein der Pastoren verankert war. Die aus der direkten Abhängigkeit von der Geistlichkeit befreiten Schullehrer sprachen sich für eine schnelle sprachliche Assimilierung der Masuren aus. Andererseits gab es Kritik an den Lehrern seitens der staatlichen Behörden wegen zu geringer Anstrengungen in diesem Bereich.
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Bei Geistlichen und Lehrern (andere Vertreter der in Masuren tätigen Eliten werden hier nicht berücksichtigt) begann sich in den Jahren 1851 bis 1870 ein Regionalbewußtsein zu entwickeln, und dies sowohl auf der Ebene der Gesamtprovinz, seinerzeit Altpreußen genannt, als auch auf lokaler, masurischer Ebene. Letzteres wurde als Bindung an die engere Heimat verstanden. Die Intellektuellen begannen sich für die Landschaft, die Vergangenheit, die ethnischen Unterschiede und die besondere Kultur Masurens zu interessieren, noch aus einer Position des Forschers und Beobachters heraus. Dagegen identifizierten sie sich nicht mit der in Masuren lebenden ländlichen Bevölkerung. Dieser gegenüber nahmen sie die Rolle des Beschützers ein und zeigten ihr einen Weg der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung auf, welchen die Masuren widerspruchslos und in ihrem eigenen Interesse einschlagen sollten. Die Geistlichen wurden als Folge des Interesses der Masuren an Literatur selbst verlegerisch aktiv und betätigten sich als Autoren, Übersetzer und Herausgeber polnischsprachiger religiöser Schriften. Es bildete sich auch eine Gruppe von Herausgebem"(Anton Goniorowski, Martin Gerss), die für die Masuren weltliche Bücher und Periodika schrieben und herausgaben. Für sie waren die Masuren polnischsprechende Preußen, welche sich der religiösen Rolle ihrer Sprache bewußt waren und sich durch Loyalismus und Regalismus auszeichneten. Diese Gefühle versuchten sie zu stärken. Nach 1871 richtete sich die polnische Aufmerksamkeit auf Masuren. Das Auftreten Wojciech Kçtrzynskis (1838-1918) war insofern von Bedeutung, als es für Jahrzehnte der polnischen Bewegung den Rahmen und die Richtung ihrer Tätigkeit absteckte. Die polnische Betätigung beschränkte sich im Grunde auf die unglücklich verlaufende Unterstützungsaktion für Jan Karol Sembrzycki (Sembritzki, 1856-1919). Später, nach der Einstellung der in Osterode verlegten polnischen Zeitung „Mazur" (1883-1884), kann schwerlich noch von einer organisierten polnischen Bewegung in Masuren gesprochen werden. Es handelte sich lediglich um Bemühungen Einzelner, die bei den Masuren keinen Widerhall fanden. Sembrzycki selbst stellt das typische Beispiel eines Grenzlandbewohners dar, aufgewachsen am Schnittpunkt deutscher und polnischer Kultur, schwankend in seiner Betätigung und seinen Ansichten. Sein Einfluß auf die Masuren war gering. Er hatte jedoch Bedeutung für die polnische Seite, insbesondere in den späteren Jahren, nämlich als Beweis des Fortbestehens polnischer Tätigkeit und der Tradition des polnischen politischen Denkens sowohl in Masuren als auch gegenüber den Masuren. Der Beginn der polnischen Aktion warf die Frage des Verhältnisses der Masuren zum Katholizismus auf. Es gab polnische Stimmen, die eine Gewinnung der Masuren für die polnische Sache durch Katholisierung für möglich hielten. Dies wurde vor allem in der Zeit des Kulturkampfes laut geäußert. Als Folge einer Gegenaktion der evangelischen Kirche und von Artikeln in der Presse sowie polnischsprachigen Kalendern verschlechterte sich das Verhältnis der Masuren zu den Katholiken, die zumindest mit den Polen gleichgesetzt wurden. Im Grunde ist es nicht möglich, eine eindeutige Bewertung des Verhältnisses der Masuren zu den Polen vorzunehmen. In den bilateralen, grenznachbarschaftlichen Beziehungen veränderte sich zunächst nicht viel. Sie waren, wie früher, intensiv und basierten auf der wirtschaftlichen Zusammenarbeit im kleinsten Bereich. Beide Seiten betrachteten dies als normal, da es jahrhundertelanger Tradition entsprach. Das bedeutet aber nicht, daß es keine Konflikte gegeben hätte. Das Bild des Nachbarn war auf beiden Seiten nicht immer positiv. Darauf hatten wirtschaftliche, kulturelle und insbesondere religiöse Unterschiede Einfluß. Letztere begannen nun zu einem ernsten Problem zu werden.
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Die früher relativ guten nachbarschaftlichen Beziehungen begannen sich aufzulösen, die Unterschiede erhielten ideologische Grundlagen. Staat und evangelische Kirche ergänzten sich gegenseitig bei der Bekämpfung der polnischen Bewegung und der katholischen Kirche. Die staatlichen Behörden kämpften angeblich gegen die drohende Katholisierung, tatsächlich ging es ihnen vor allem um die polnischen Anstrengungen zur nationalen Erweckung der Masuren. Bei ihren Versuchen, die polnische Aktion im Keim zu ersticken, maßen sie ihr zweifellos wesentlich größere Bedeutung bei, als es den tatsächlichen Größenordnungen und polnischen Erfolgen entsprach. Die evangelische Geistlichkeit ihrerseits warnte vor der Gefahr einer Polonisierung der Masuren, nutzte dies aber hauptsächlich als Vorwand für einen Kampf gegen die katholische Kirche. Durch polnischsprachige Zeitungen, die Schule und mündliche Überlieferung wurde den Masuren ein Geschichtsbild vermittelt, welches sie klar in die preußische Tradition einband. Auch die Lokalgeschichte wurde als Teil der preußischen Geschichte dargestellt. Die Masuren erhielten ein klares, wenn auch chaotisch vermitteltes Geschichtsbild, das sich vor allem auf die Geschichte des preußischen Staates und der engeren Heimat beschränkte. In diesem Sinne wirkte vor allem Martin Gerss, während Anton Gonsiorowski und Jan Karol Sembrzycki der preußischen Tradition keine solch große Bedeutung beimaßen. Die Geschichte ihres Landes wurde als Heldenepos geschildert, in erster Linie als Werk der mit göttlicher Gnade gesegneten Monarchen, welche allen geschichtlichen Unbilden getrotzt hatten. Es war dies ein schlichtes Bild, das wie seit alters her die geschichtlichen Ereignisse für die Schüler in „eigene" und „fremde" einteilte. Für die Entwicklung eines Lokalbewußtseins brachte dies einen großen Fortschritt, um so mehr, als Kalender und Presse die Ereignisse in geschickter Weise mit volkstümlichen Überlieferungen verbanden. Die jüngste Geschichte (Preußens siegreiche Kriege 1864, 1866, 1870/71) hatte ein Anwachsen der patriotischen Gefühle zur Folge, auch wenn oder gerade weil sie nicht unreflektiert erlebt wurde. Dies enthielt auch einen psychologischen Aspekt. Zumindest bei einem Teil der Soldaten aus Masuren wurde das Mißtrauen gegenüber allem Deutschen gebrochen. Das Kennenlernen der westlichen Provinzen des Landes und die Militärkameradschaft hatten den Wunsch nach Assimilierung mit der deutschen Gesellschaft zur Folge. Daß sie von der deutschsprachigen Bevölkerung als Vaterlandsverteidiger gefeiert wurden, ließ sie in diesem Augenblick die kulturellen Unterschiede vergessen, welche beide Bevölkerungsteile trennten. Die Aufhebung der Grenzen zwischen den deutschen Staaten und die Anbindung Ostpreußens an das Eisenbahnnetz brachte den Masuren die große Welt näher. Der Begriff des Patriotismus nahm in Masuren konkrete Formen an. Die Erfolge ihrer kriegerischen Opferfreudigkeit hatten alle Erwartungen überstiegen: Der Feind war zerschmettert worden, Preußen wurde zum Ausgangspunkt einer neuen staatlichen Organisation, und vor allem der preußische König wurde in den Augen der Masuren zum höchsten Herrscher nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt. Es muß auch auf die materiellen Verbesserungen hingewiesen werden, die die Kriegsentschädigungen mit sich brachten. Dies führte zu einer einfachen Schlußfolgerung: Patriotismus und Liebe zu Land und König lohnen sich. All das blieb für die künftige Haltung der Masuren nicht ohne Folgen. Eine enorme Rolle bei der Entwicklung der Einstellung der Masuren spielte dank seinen Veröffentlichungen Martin Gerss (1808-1895). Er war selbst Preuße, hatte aber einen breiteren deutschen Horizont. Gleichzeitig fühlte er sich als Masure. Dies war für ihn ein objektiver Wert, verbunden mit der Herkunft, seinem Heimatort und dem evangelischen Glauben. Seine Bedeutung lag in dem Einfluß, den er auf die Landbevölkerung hatte, und in der Art, wie er
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seine Vorstellungen vermitteln konnte. Diese war nicht eben typisch für die preußische Intelligenz jener Zeit, auch nicht diejenige masurischer Herkunft. Gerss' Vorstellungen stimmten in manchen Punkten mit den bereits genannten allgemeinen Ansichten überein. Dies betrifft vor allem die Bindung an Staat und Monarchie. Seine Leser erzog er konsequent in staatlichem Sinne und stärkte ihren dynastischen Patriotismus. Er unterschied sich jedoch darin, daß er als erster in größerem Stil versuchte, seine Leser für Masuren zu interessieren und bei ihnen ein Regionalgefühl zu wecken und zu stärken, das auf historischem Wissen beruhte und ihnen Verständnis für die Gründe ihrer Unterschiede zu anderen preußischen Gebieten vermittelte. Dies war mit der Sprachenfrage verknüpft. Gerss präsentierte hier keine neuen Lösungen, die kulturelle Rolle der deutschen Sprache erkannte er vorbehaltlos an. Gleichzeitig schätzte er aber auch das Polnische, betrachtete es jedoch als wesentlich unbedeutender als das Deutsche. Wenngleich er das Schwergewicht auf die religiöse Funktion des Polnischen legte, sah er in ihm doch ein Mittel zur Verbreitung von Bildung unter dem des Deutschen nicht mächtigen Teil der masurischen Gesellschaft. Aus dieser Position heraus forderte er nicht die Gleichberechtigung beider Sprachen, sondern lediglich das Ende weiterer Einschränkungen des Polnischen. Seine Verbindungen mit Polen machten ihn der polnischen Kultur geneigt, deren Elemente er seinen Lesern nahezubringen suchte. Die Haltung der evangelischen Kirche gegenüber den Masuren war unterschiedlich. Einige Geistliche versuchten gemeinsam mit den Schulbehörden, die Reste der polnischen Sprache aus dem Unterricht zu eliminieren. Andererseits waren die Pastoren gegen die Abschaffung des Polnischen in der Kirche. Ein Teil von ihnen bemühte sich, gegenüber aggressiveren Kollegen zu vermitteln. Als Folge der Tätigkeit im schulischen Bereich und anderer Germanisierungsbestrebungen, aber auch der natürlichen Assimilierung, ging die Reichweite der polnischen Sprache allmählich zurück. Die masurische Bevölkerung zeichnete sich jedoch weiterhin durch ihre Bindung an die polnische Sprache aus, was ganz offensichtlich mit ihrer polnischsprachigen Lektüre zusammenhing. Die polnische Sprache war für einen Teil der Masuren eine Quelle von Information und Wissen. Vor allem aber betrachteten sie sie wie früher als Kirchensprache und als Garant für Frömmigkeit, gottgefällige Kindererziehung und christliche Sitten. Aus diesem Grunde traten sie auch zu ihrer Verteidigung auf. Dagegen lehnten sie weder die Zweisprachigkeit ab noch protestierten sie gegen das Deutsche, wenn es nicht zu brutal in die Sphäre ihres Privatlebens eindrang. Die Position der polnischen Sprache in Masuren war nicht sehr stark. Für sie sprach nur die Tradition, wobei diese auch in religiösen Werten begründet war. Gegen sie sprachen Vernunftgründe und der staatliche Apparat, der eine Germanisierungspolitik betrieb. Auch hatten die mit dem Vorgehen der Behörden nicht einverstandenen Masuren nicht die Kraft, ihren Protest auszudrücken. Denn sie hatten bereits ihren freilich unfreiwilligen Bundesgenossen, den früher ein Teil der Geistlichkeit dargestellt hatte, verloren. Die Masuren akzeptierten die deutsche Sprache und fanden sich auch in der Schule mit ihr ab, wenngleich es zu völliger sprachlicher Assimilation noch ein weiter Weg war. Diejenigen Masuren, welche in den achtziger und neunziger Jahren die Schule verließen, beherrschten das Deutsche mehr oder weniger gut. Es war und blieb für sie aber eine fremde, erlernte Sprache. Es hing vom weiteren Lebensweg, dem Milieu, in welchem sie später lebten, den täglichen Bedürfnissen und ihrem Beruf ab, ob dieses Wissen verlorenging oder bewahrt wurde. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Masuren sich nach 1871 als Preußen fühlten. Dieses Gefühl beruhte in erster Linie auf einer konservativen, patriarchalisch-personell
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gefärbten Anhänglichkeit an das Herrscherhaus. Man kann also schwerlich von einer nicht vollständig entwickelten oder rein intuitiven Bindung an das preußische Vaterland sprechen. Es war bereits ein bewußt empfundenes und definiertes Nationalbewußtsein, das in hohem Maße unserer modernen Form entsprach. Anders verhält es sich dagegen, wenn wir die Situation mit der Denkweise der anderen, deutschsprachigen Bewohner Ostpreußens vergleichen, welche ein deutsches Nationalbewußtsein besaßen. Mit diesen konnten die Masuren nicht mithalten; sie blieben gewissermaßen auf einer niedrigeren Ebene des Nationalbewußtseins stehen, da sie noch nicht in gesamtdeutschen Kategorien dachten. W o es zu Bezeugungen solcher Gefühle kam, hingen sie ebenfalls mit der Dynastie zusammen. Unter der polnischsprachigen Bevölkerung gab es durchaus ein Gefühl des „Masurentums". Masuren galt als Heimat, das heißt als Land, das einen Teil des größeren preußischen Vaterlandes darstellte. Weniger dagegen betrachtete man es als Wert an sich, der ausschließlich durch die Landschaft, die Sprache und die Gebräuche existierte, unabhängig vom preußischen Staat. Theoretisch kann man den zweiten Fall nicht völlig ausschließen. Unter den Masuren muß es eine bestimmte Anzahl von Personen gegeben haben, die völlig ohne Kenntnis der übrigen Welt lebten oder auf Grund ihrer Unwissenheit völlig irreale Vorstellungen von ihr besaßen. Zumeist waren dies ältere oder aus den unterschiedlichsten Gründen am Rande der Gesellschaft lebende Menschen. Diese Gruppe läßt sich quellenmäßig aber nicht erfassen. Deshalb lassen sich die polnischsprachigen Protestanten, die den südlichen Teil Ostpreußens bewohnten, am treffendsten als „preußische Masuren" bezeichnen. Diese besaßen ein Regionalgefühl vor dem Hintergrund eines gesamtstaatlichen Bewußtseins, wobei hierunter Preußen und nicht Deutschland verstanden wurde. Nach 1895 setzte in Masuren eine polnische Aktion ein. Die Zeitung „Gazeta L u d o w a " (1896-1902) und die „Mazurska Partia L u d o w a " erlangten rasch einen bestimmten Leserund Anhängerkreis. Sie füllten nämlich eine Lücke aus: Sie traten zur Verteidigung der polnischen Sprache auf und präsentierten ein Wirtschaftsprogramm, das von der Mehrzahl der Masuren akzeptiert werden konnte. Dagegen fanden die Argumente einer Verbindung Masurens mit Polen und den Polen keine Gegenliebe. Die Verbindung des Kampfes für das Polentum mit dem von Großpolen geführten politischen Kampf akzeptierten diese Aktivisten aus Angst vor dem Katholizismus nicht. Die Sprachenfrage betrachteten sie entsprechend den bereits genannten Vorbildern vor allem als religiöses Problem. Nur langsam bildete sich eine kleine Gruppe heraus, die diese Vorstellungen aufgab und sich immer enger mit dem Polentum verband. Der Ton der Aussagen, zumindest einiger Leserbriefschreiber, in der Sprachenfrage verschärfte sich. Ohne die eigene religiöse Identität zu verlieren, begannen diese auch mehr Verständnis für den Katholizismus zu zeigen. Das entwickelte sich allerdings sehr langsam. Der „Mazur" (1906-1914) verstärkte im Grunde das Gefühl des „polnischen Masurentums" so kann das bei einer kleinen, von der „Gazeta L u d o w a " übernommenen Lesergruppe vorherrschende Gefühl bezeichnet werden, das vor allem die lokale Identität betonte. Viele der Aktivisten und Leser beider polnischen Zeitungen waren bei der Volksabstimmung und später in der polnischen Bewegung der Zwischenkriegszeit aktiv. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges gab es drei Gruppen, die sich zum „Masurentum" bekannten: 1. Die deutschen Bewohner Masurens - eine Bevölkerung deutscher Herkunft, zugewandert aus dem Inneren Deutschlands oder bereits assimilierten Teilen der einheimischen Bevölkerung entstammend, für die dieser Begriff vor allem die Bindung an die Landschaft, in der sie lebten, bezeichnete. Dagegen identifizierten sie sich nicht weiter mit den übrigen
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ländlichen und polnischsprachigen Bewohnern. Dieses Gefühl war bei der genannten Gruppe zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts feststellbar. 2. Die deutschsprachige Landbevölkerung, die erst relativ spät vollständig zu dieser Sprache übergegangen war. 3. Die Masuren im „eigentlichen" Sinne, also polnischsprachige oder bereits zweisprachige Menschen, die das Deutsche jedoch vorwiegend als Verkehrs- oder Gebrauchssprache betrachteten, nicht dagegen als „Denk"- und Kirchensprache. Die erste Kategorie mit ihrem preußisch-deutschen Bewußtsein unterschied sich sicherlich nicht von den übrigen Bewohnern Preußens und des Deutschen Reiches. Die beiden anderen waren einander sehr ähnlich. Sie entstammten demselben Milieu, hatten ähnliche Traditionen, Sitten und Werte. Sie waren durch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse eng verbunden. Die sprachlichen Unterschiede waren nicht stark genug, um das Verbindende zu zerstören. Beide Gruppen besaßen ähnliche nationale Vorstellungen, nämlich ein masurisches Preußentum. Dabei war die Liebe zur Heimat untrennbar mit preußischem Staatsbewußtsein verbunden. Letzteres war dabei auf das Herrscherhaus bezogen. Das Masurentum und in hohem Maße auch das Preußentum waren mit der evangelischen Konfession verknüpft. Sicherlich begann sich die Distanz, die diese beiden Gruppen von der ersten trennte, allmählich zu verringern. Dies ging einher mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der gesellschaftlichen Integration, wenn auch der Weg zur vollständigen Akzeptanz der Masuren in der deutschen Gesellschaft noch weit war. Unter den polnischsprachigen Masuren gab es eine kleine Gruppe, deren Vorstellungen sich in anderer Weise entwickelten. Wirtschaftliche Verhältnisse und staatliche (in geringerem Maße auch kirchliche) Sprachenpolitik führten sie der polnischen Bewegung zu. Von polnischem Nationalbewußtsein im vollen Sinne dieses Wortes kann aber auch bei ihnen nur hinsichtlich einer sehr kleinen Gruppe gesprochen werden. Die übrigen Sympathisanten der „Gazeta Ludowa" und des „Mazur" stellten weiterhin eine „königlich-preußische" Bevölkerung dar, für die das Masurentum stark in den alten Traditionen verankert war, weshalb sie seinem Verlust entgegenzuwirken trachteten.
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Übersetzung: Joachim Rogali
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Zwischen katholischer Kirche und Staat? Die nationale und soziale Reaktion der Ermländer auf die gesellschaftliche Modernisierung im 19. Jahrhundert
ü b e r die Situation der nationalen Minderheiten im 19. Jahrhundert kann nicht gesprochen werden, ohne die Behördenpraxis und die Beziehung von Staat und Kirche zu berücksichtigen. Dies gilt sowohl für die evangelische als auch für die katholische Kirche. Aufgrund der Quellenlage ist es leichter, die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Staat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Die katholische Kirche stand damals unter dem Druck des national-liberalen Staates, deshalb kann ihre Situation anhand des reichhaltig vorhandenen Archivmaterials der preußischen Behörden gut nachvollzogen werden. Ein zweites wichtige Postulat ist, die katholische Kirche nicht nur durch das Prisma der Theologie und der kirchlichen Hierarchie zu betrachten. Vielmehr müssen wir unser Augenmerk auf ihre Bedeutung für die Nationalisierungsprozesse und die sozialen Umwandlungen richten. Zum Objekt der Untersuchung wird daher die gesamte Bewegung der Katholiken, die allein durch ihre Masse praktisch alle Gesellschaftsschichten und -gruppen umfaßte. Damit aber ein möglichst breites Spektrum der verschiedenen Milieus wahrgenommen werden kann, müssen wir uns auf eine bestimmte Gegend beschränken. Auf diese Weise kann man auf einem verhältnismäßig kleinen Gebiet, in dem verschiedene Nationen und Kulturen nebeneinander existierten, die Konfrontation der universalen (katholischen) Glaubensgemeinschaft mit den modernen nationalen Entwicklungen verfolgen. Das Ermland ist ein interessantes Gebiet für die Untersuchung solcher Erscheinungen. Am Rande der Kulturzentren gelegen, hat es lange seinen ethnischen Charakter und seine Glaubensprägung bewahrt. Vier ermländische Kreise (Alienstein, Braunsberg, Heilsberg und Rößel) wurden zu über 90 % von katholischer Bevölkerung bewohnt, die dort seit Jahrhunderten siedelte. Im Jahre 1900 hatte das Ermland 238.393 Einwohner, was 12 % der gesamten Bevölkerung der ostpreußischen Provinz entsprach. In dieser überwiegend evangelischen Provinz war das Ermland die einzige geschlossen katholische Gegend, deren Charakter vor allem von den traditionell katholischen Dörfern geprägt war. Evangelische Enklaven fanden sich nur in den Städten; einzig in dem sich rasch entwickelnden Alienstein stieg der Anteil der Protestanten um die Jahrhundertwende auf bis zu 40 % der Bevölkerung. Auf diese Weise behielt das Ermland spezifische, in der Zeit der sozialökonomischen Umwälzungen anachronistische Eigenschaften eines geschlossenen Glaubensgebiets bei.' Ethnisch und kulturell war 1 Georg Matern, Die katholische Diaspora in Ostpreußen, Braunsberg 1909. Vgl. J. Hassenstein, Geschichte der evangelischen Kirchen im Ermlande seit 1772, Königsberg 1918, S. 89-110; August
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es deutlich in zwei Teile untergliedert: in den nördlichen deutschen und den südlichen polnischen bzw. ethnisch gemischten Teil. Die Anzahl der polnischen Bevölkerung schätzt man in der polnischen und deutschen Literatur übereinstimmend auf ca. 60.000. Nur die Hälfte davon hat sich mit der polnischen Nation identifiziert, 20 % unterlagen Germanisierungsprozessen, 30 % besaßen keine bestimmte nationale Identität.^ Diese Zahlen sind keine unveränderlichen, beständigen Größen. Im Grenzgebiet gab und gibt es - wovon noch die Rede sein wird gewisse Schwankungen im Nationalgefühl. Das betraf besonders die Minderheiten, deren Angehörige zwar einer Akkulturation unterworfen waren, sich aber oft nicht vollständig assimilierten. Leider hat bisher niemand die charakteristische Tendenz dieses Phänomens für das Ermland festgestellt. Die polnische Bevölkerung dominierte in den Dorfgemeinden des Aliensteiner Kreises. Im Gegensatz zum benachbarten evangelischen Masuren und zu Preußisch-Litauen waren die polnischen und deutschen Ermländer Katholiken. Einerseits trug diese Tatsache zur Entwicklung einer gewissen Verbundenheit zwischen Deutschen und Polen bei, die im Gefühl der gemeinsamen Glaubensgemeinschaft und der Bedrohung durch die staatliche Kirchenpolitik wurzelte. Andererseits näherten sich polnische Ermländer an die traditionellen katholischen Zentren der polnischen Nationalbewegung in Großpolen (Posen) und Westpreußen an. Trotz der neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Impulse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es im Ermland zu keinen wesentlichen Veränderungen der sozialen Struktur. Kennzeichnend für das ganze Ermland war die Dominanz des Großbauernbesitzes. Eine Aufsplitterung des Grundbesitzes war nur im Allensteiner Kreis zu beobachten.^ So betrafen die sozialen Probleme automatisch vor allem Bauern, Landarbeiter, Handwerker und im geringen Umfang Arbeiter aus den kleinen Industriebetrieben der Städte. Eine sozial beherrschende Funktion behielt die katholische Geistlichkeit. Keine andere Gesellschaftsgruppe war bis 1914 imstande, ein starkes katholisches Zentrum weltlichen Charakters zu bilden, welches die lokale Bevölkerung zu beeinflussen vermochte. Dafür gab es objektive Gründe: den Mangel an höheren weltlichen Schulen und an einer organisierten Intelligenz sowie das Fehlen einer bedeutenden Arbeiterschicht." Der allgemeine Verlauf der gesellschaftlichen und nationalen Entwicklung im Ermland weist drei charakteristische Perioden auf: 1. 1871-1890 - der Kulturkampf und seine unmittelbaren Folgen; 2. 1890/91-1908 - Entwicklung der sozialen und nationalen Bewegung; 3. 1908-1914 - Liberalisierung des Vereinslebens und Polarisierung der nationalen Gefühle. Ambrassat, Die Provinz Ostpreußen. Ein Handbuch der Heimatkunde, Königsberg 1912 (zweite verbesserte Auflage), S. 243. 2 Janusz Jasinski, Swiadomosc narodowa na Warmii w XIX wieku. Narodziny i rozwój, Oisztyn 1983, S. 400-401. 3 Bäuerlicher Grundbesitz von 20-100 ha in den einzelnen ermländischen Kreisen: Braunsberg - 7 1 % , Heilsberg - 64%, Rößel - 56 %, Alienstein - 47 %; Kazimierz Wajda, Migracje ludnosci wiejskiej Pomorza Wschodniego w latach 1850-1914, Warszawa 1969. Vgl. A. Neumann, Das Ermland und der ermländische Bauernverein, Sonderdruck aus der Zeitschrift „Arbeiterwohl und die Christlichsozialen Blätter" 27(1907), S. 4 3 ^ 9 . 4 Robert Traba, Niemcy - Warmiacy - Polacy 1871-1914. Ζ dziejów niemieckiego ruchu katolickiego i stosunków polsko-niemieckich w Prusach, Oisztyn 1994, S. 112-151.
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Diese Periodisierung berücksichtigt nicht die Veränderungen innerhalb der polnischen Nationalbewegung, deren Entwicklung nur in geringem Grade dem Einfluß der sozialen Bedingungen des Ermlands unterlag und sowohl von einer inneren Entwicklung als auch von den Tendenzen der polnischen nationalen Zentren in Posen und Westpreußen abhing. Diese wiederum waren für die allgemeine Entwicklung des Vereinslebens im Ermland nicht von Bedeutung. Trotzdem wurden sie gemeinhin von der polnischen Historiographie aufgegriffen, ohne daß deutlich gemacht wurde, daß sie sich nur auf die polnische nationale Minderheit bezogen, nicht auf das ganze Ermland oder die ganze Bevölkerung polnischer Abstammung. Gerade für ca. 50 % der letzteren Gruppe, die keine bestimmte nationale Identität besaßen, bedeutete das Jahr 1890 eine wichtige Zäsur. Erstmals nämlich versuchten diese Ermländer, sich ein eigenes Programm zu schaffen.^ Ähnlich wie in den anderen katholischen Teilen Deutschlands rief der Kulturkampf auch im Ermland eine heftige Reaktion unter der Bevölkerung hervor. Die Folgen waren jedoch erst Mitte der achtziger Jahre zu erkennen. Außer den Missions- und karitativen Vereinen existierte bis zu dieser Zeit in den Gemeinden keine Organisationsstruktur, um die sich das Vereinsleben der Ermländer hätte konzentrieren können. Der Kulturkampf war das erste Ereignis seit dem Völkerfrühling, das die ganze lokale Bevölkerung erfaßte und die Grundlage ihrer Identität in Frage stellte: die Omnipräsenz der Religion im Alltagsleben. Die natürliche Reaktion war eine spontane bzw. von Priestern geleitete Bewegung zur Verteidigung dieses für die lokale Identität so wichtigen Wertes. Der gemeinsame Glaube bildete eine Zeit lang in den national gemischten Gegenden einen integrierenden Faktor. In zahlreichen Petitionen traten deutsche und polnische Ermländer gemeinsam für die Wiederherstellung der Rechte der katholischen Kirche ein. Es wurden nicht nur Geistliche aktiv, sondern auch kleine Gruppen von Laien. Neben der Kirchenpolitik des preußischen Staates war die Einführung demokratischer Wahlen zum Reichstag ein zweiter Faktor, der zur gesellschaftlichen Belebung beitrug. Die Wahlbeteiligung nahm beständig zu, in den national gemischten Gegenden zunächst sogar schneller als in den rein deutschen, wo neben der Zentrumspartei die National-Liberalen oder Konservativen für kurze Zeit den einzigen Einfluß ausübten. Die Aktivität der Ermländer fand ihren Ausdruck ebenfalls schon zu Anfang des Kulturkampfes in noch verhaltenen Bürgerinitiativen, in der Petitionsbewegung und der Gründung verschiedener Volksvereine. Aus einer solchen Initiative entstand u. a. der Braunsberger Volksverein, der zur Gründung der ersten und über längere Zeit größten katholischen Zeitung in Ost- und Westpreußen, nämlich der „Ermländischen Zeitung" (1872), beitrug. Neben den gemeinsamen Initiativen nahmen die polnischen Ermländer immer häufiger Kontakte zu polnischen Kreisen in Posen und Thom auf. Diese Haltung spiegelte sich jedoch in den lokalen Verhältnissen nicht wider und wurde von der deutschen Mehrheit der Ermländer nicht bemerkt. Als 1873 der ostpreußische Oberpräsident einen Erlaß über die Begrenzung des Religionsunterrichts in polnischer
Das ist der erste Versuch, die Geschichte Ermlands im 19. Jahrhundert zu periodisieren. Es gibt bis heute keine Gesamtdarstellung der sozialen Entwicklung dieses Gebiets; vgl. W. Thimm, Die katholische Arbeiterbewegung in den Bistümern Ermland, Kulm und Danzig, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 41(1981), S. 3 1 - 6 8 . Zum Thema des Kulturkampfes im Ermland vgl. F. Dittrich, Kulturkampf im Ermlande, Berlin 1913; Günter Deitmer, D i e ost- und westpreußischen Verwaltungsbehörden im Kulturkampf, Heidelberg 1958. Die Zusammenfassung der älteren Literatur und die neuesten Quellenforschungen zu dieser Problematik bei Robert Traba, Niemcy - Warmiacy - Polacy ..., S. 1 9 , 4 2 - 7 0 .
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Sprache in Kraft setzte, reagierten darauf weder die katholische Kirche noch die polnischen Ermländer. In der Vorstellung der deutschen Ermländer von der Rolle der nationalen Minderheit dominierte eine Konzeption, die auf zwei Voraussetzungen beruhte: auf dem historischen Recht und auf dem Naturrecht. Gemäß der ersten Voraussetzung konnten die Polen im Ermland nicht als Gleichberechtigte betrachtet werden, denn sie waren hier erst Ende des 15. Jahrhunderts und im 16. Jahrhundert angekommen, als das Ermland schon von Preußen und Ansiedlem aus verschiedenen Teilen Deutschlands bewohnt war. Dieser historische Aspekt bei der Herleitung größerer und kleinerer Rechte ethnisch gemischter Gebiete war damals nichts Besonderes und wurde auch von der polnischen Propaganda verwendet. Das historische Deutschtum des Ermlands enthielt nach dieser Konzeption den polnischen Ermländern weder das Recht auf das Erlemen ihrer Muttersprache noch deren Gebrauch im Religionsunterricht vor. Diese Haltung bezüglich der nationalen Minderheiten, die auf die Lehre der katholischen Kirche und das von ihr verbreitete Naturrecht zurückzuführen ist, hob sich deutlich von der auf Germanisierung ausgerichteten national-liberalen Konzeption ab. Denn ihr Hauptziel war es nicht, die Tradition und die kulturelle Besonderheit der polnischen Bevölkerung zu bewahren, sondern die Moral aufrechtzuerhalten und den katholischen Glauben zu pflegen und zu verbreiten.' Wegen des Mangels an ergiebigem Quellenmaterial läßt sich in der Zeit des Kulturkampfes keine andere derart eindeutige Haltung zu den ethnisch und national polnischen Minderheiten finden. Charakteristisch ist, daß diese Sichtweise damals nicht im Widerspruch zu den allgemeinen Leitlinien der Minderheitenpolitik der ostpreußischen Provinzbehörden stand. Die Beziehung zwischen ihnen und den Vertretern der ermländischen Diözese war in der Zeit des Kulturkampfes - trotz der bestehenden Kontroversen und Auseinandersetzungen - einwandfrei. Ein für das ganze Reich wichtiges Ereignis war die Inthronisationsrede des neuen ermländischen Bischofs im Jahre 1886. Zum ersten Mal seit Beginn des Kulturkampfes hielt ein hoher katholischer Geistlicher eine Dankesrede, in der er dem deutschen Vaterland patriotisch huldigte.' In einer solchen Situation wurden die erste selbständige Initiative der Polen zur Verteidigung der Sprachenrechte (1885) und die Gründung eines eigenen Presseorgans, der „Gazeta Olsztynska" (1886), als Verstöße gegen den bisherigen Status quo gewertet. Seitens der Kreise, die am Anfang des Kulturkampfes mit der polnischen Nationalbewegung verbunden waren, war es eine Abwehrreaktion gegen die wachsende Gefahr, die dem preußischen Staat von der antipolnischen Gesetzgebung drohte. Die Dynamik dieser Gruppe, die von Posen aus unterstützt wurde, war im Vergleich zu der auf sozialer Ebene noch wenig aktiven Bevölkemng des südlichen Ermlands tatsächlich eine Erscheinung, die als gesellschaftliches und kulturelles Novum bezeichnet werden kann. Es war möglich dank der Verbindung der Idee der Nation mit der Idee der mystischen Mission der Polen. Beweise für diese Ideen fanden die polnischen Ermländer in den von der katholischen Kirche geduldeten Erscheinungen der Muttergottes (1877), die die Kinder auf polnisch ansprach. Die polnische National7 Robert Traba, Niemcy - Warmiacy - Polacy ...,S. 79-87. 8 Ebd., S. 99-107; vgl. auch Hans-Jürgen Karp, Bischof Andreas Thiel (1886-1908) und die Sprachenfrage im südlichen Ermland, in: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 37(1974), S. 57-106; M. Clauss, Bischof Andreas Thiel (1886-1908). Beiträge zu seiner Biographie, ebd., 41(1981), S. 8-29.
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Ideologie und der Katholizismus waren also f ü r diese Gruppe grundlegende Bewertungskategorien. Der Katholizismus wurde jedoch als ein unlösbarer Teil des Polentums verstanden, ohne daß dabei seine Bedeutung auch f ü r die ermländische Region betont wurde. Dementsprechend schreckte man nicht davor zurück, die Geistlichkeit und selbst den Bischof zu kritisieren, wenn sie das nationale Identitätsgefühl gefährdeten. Auf diese Weise verstieß man gegen das unlösbar mit dem ermländischen Wesen verbundene Prinzip der Gemeinschaft von Gläubigen und Seelsorgern. So geriet die polnische nationale Minderheit schnell in Konflikt mit den deutschen Katholiken und einem Teil der polnischen Bevölkerung. In vielen deutschen Kreisen verfestigte sich das Stereotyp der „Fremdheit" der Polen im Ermland. Für „Landsleute" (za „swoich") wurden nur diejenigen gehalten, die sich durch regionale Identifizierung der Verbundenheit mit dem deutschen bzw. preußischen Vaterland bewußt waren. Nach früheren Schätzungen kann man annehmen, daß zu dieser Gruppe ca. 8 0 - 9 0 % Ermländer gehörten. In dieser Gruppe - nach den allgemeinen Hinweisen der Einstellungstypologie von Daniel Katz"^ - kann man drei charakteristische Verhaltensweisen der Nation und dem Vaterland gegenüber feststellen: 1. „Traditionelles" Verhalten, das sich auf die historische Unabhängigkeit des Ermlands und seine über 100jährige Beziehung zur preußischen Monarchie und über sie hinaus zum Kaiserreich stützte (zu dieser Gruppe gehörten auch die assimilierten Polen); 2. „modernes" Verhalten, das sich auf Tendenzen in der deutschen katholischen Bewegung stützte, wo die Grundlage des Patriotismus christliche Ethik, Liebe zur Heimat - in diesem Falle zum Ermland - und föderative Bestrebungen waren; 3. „staatliches" Verhalten, für das die Grundpflicht der Bürger im Gehorsam gegenüber dem Staat bestand. Gemeinsame Nenner dieser drei Verhaltensweisen waren der Katholizismus und die Loyalität gegenüber dem Staat. Im ersten und dritten Punkt jedoch näherte sich der sozial-politische Katholizismus den späteren Integralismustendenzen an, im zweiten Punkt hatte er einen liberaleren Charakter. Der Kulturkampf wurde auf keinen Fall als gegen den Staat und seine Traditionen gerichtet angesehen, sondern als Kampf gegen die aktuelle Tendenz der nationalliberalen Regierung. Dieses Verhalten beschränkte sich nur auf die preußischen oder deutschen Traditionen. Großen Einfluß auf das Nationalbewußtsein hatten die kulturellen Faktoren. Hinzu kam das kollektive Gedächtnis, unterstützt von Schulprogrammen, außerdem das Verhalten der meisten Geistlichen sowie die jüngsten Erfahrungen aus dem preußischfranzösischen Krieg. U m die Jahrhundertwende erfolgten im Ermland dynamische Umwälzungen im gesellschaftlichen Leben. Bewirkt wurden sie sowohl von inneren Faktoren als auch von den Auswirkungen der allgemeinen Entwicklung im sozialen Katholizismus. Die neunziger Jahre ließen die schon in den siebziger Jahren auftretenden negativen sozialen und wirtschaftlichen Tendenzen überdeutlich hervortreten, die sich nicht nur im Ermland als Migrationswelle nach Westen oder in der älteren Literatur als „Ostflucht" bemerkbar machten. Ein niedriges ökonomisches Niveau und die daraus folgende Unzufriedenheit, schließlich die zunehmende Ausreise in die Industriebezirke Westdeutschlands ließen die Notwendigkeit der Selbstorganisation klar zutage treten. Als Muster dienten den Lokalinitiativen die Vereine der deutschen Katholiken im Rheinland und in Berlin. Innerhalb von knapp 20 Jahren wurde aus dem 9 Daniel Katz, Nationalismus als sozialpsychologisches Problem, in: Nationalismus, hrsg. von Heinrich August Winkler, Königstein^s. 1985 (2., erweiterte Auflage), S. 67-84.
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Netzwerk der katholischen Vereine eine Massenbewegung, die alle Pfarrgemeinden und alle Bereiche des Alltagslebens ergriff: von den traditionellen religiösen Organisationen über die schon eingesessenen Gesellenvereine und Vereine anderer Berufskorporationen bis hin zu den modernen bäuerlichen Genossenschaften und zur katholischen Arbeiterbewegung. Der Massencharakter des Vereinslebens im Ermland wäre unmöglich gewesen ohne das Engagement der Ortsgeistlichen und die Unterstützung der organisatorischen Strukturen durch das Netzwerk der Pfarrgemeinden der katholischen Kirche. Dies wird sichtbar, wenn wir den Aufschwung des ermländischen Vereinslebens mit der Stagnation im benachbarten evangelischen Masuren vergleichen. Zugleich wurde ein deutlich ideologischer Rahmen aufgezwungen: durch die führende Rolle der Priester im sozialen Katholizismus, durch die streng hierarchische Struktur der katholischen Kirche und nicht zuletzt durch die autoritären Ansprüche des Bischofs Thiel (1886-1908). Dieser Rahmen war gekennzeichnet durch Integralismus, Tendenzen zu einer sozialen Klerikalisierung und wachsenden nationalistischen Druck. Der soziale Katholizismus entwickelte sich straffer im nördlichen (deutschen) Ermland. Dies war nicht national begründet, sondern hatte seinen Grund in den Auswirkungen der modernen Industriezentren Elbing und Königsberg sowie im Einfluß der Braunsberger Intellektuellen. Polnische Ermländer trugen aktiv zur Gründung neuer Vereine im südlichen Ermland bei. Hier sind jedoch - bis auf wenige Ausnahmen - keine alternativen Formen des polnischen Vereinslebens entstanden. Hatten die sozialen Reaktionen der Ermländer auf die wirtschaftlichen Umwälzungen Entsprechungen in ihrer Haltung und in ihrem nationalen Bewußtsein? Im Westen Deutschlands gaben seit 1877/78, besonders aber nach dem Jahr 1890, immer mehr Katholiken das Leben in der inneren Emigration auf und strebten die völlige Nationalisierung im Kaiserreich an. Die beiden Prozesse sind nachzuweisen in der Entstehung bzw. stärkeren Betonung der vorhandenen Verhaltensweisen eines Teils des Episkopats und der Geistlichkeit, im verstärkten sozialen Ehrgeiz der Katholiken sowie in Programmen und Tätigkeiten der katholischen Vereine und in der Politik der Zentrumspartei.Die Beziehung Staat - Kirche Nation kann man im Ermland am Beispiel der örtlichen gesellschaftlichen Elite der Geistlichkeit am besten beobachten. Eine Conditio sine qua non der geistlichen Berufe war, neben den formalen Kriterien, das Einverständnis der staatlichen Behörden. Diese wiederum formulierten ihre Kriterien ohne Umschweife: Deutschtum und Loyalität gegenüber den staatlichen Behörden. Die Behörden richteten sich nach diesen Prioritäten, versuchten aber zugleich, alle Vorschläge des Bischofs zu berücksichtigen. Der Bischof wiederum sprach den staatlichen Kandidaten niemals sein Mißtrauen aus. Die Loyalität oder vielmehr der Übereifer in der Realisierung des Prinzips „Concordia sacerdotii et imperii" sowie die Bemühungen der Katholiken, das Brandmal der „Feinde des Reichs" auszulöschen, hatten wesentlichen Einfluß
10 Dazu allgemeine Literatur, u. a. Emil Ritter, Die katholisch-soziale Bewegung Deutschlands im 19. Jahrhundert und der Volksverein, Köln 1954; R. Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, in: Historisches Jahrbuch 90(1970), S. 31-61; Rudolf Brack, Deutsches Episkopat und Gewerkschaftsstreh 1900-1914, Köln - Wien 1976; H. Heitzer, Der Volksverein für das katholische Deutschland im Kaiserreich, Mainz 1979; K. E. Lönne, Politischer Katholizismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1986; Wilfried Loth, Katholiken im Kaiserreich. Der politische Katholizismus in der Krise des Wilhelminischen Deutschlands, Düsseldorf 1984 (hier auch eine ausführliche Besprechung der Literatur).
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auf die Einstellung der Geistlichkeit und der Mehrheit unter den an die deutsche (preußische) Tradition gebundenen Gläubigen. Im besprochenen Zeitraum wurde oft das von den Behörden als ultramontan bezeichnete Verhalten aufgegeben; eben jenes Verhalten, das gegen nationale Werte des neuen deutschen Reiches gerichtet war. In der Öffentlichkeit fand dies seinen Ausdruck in der wachsenden Bedeutung der nationalen Symbolik im Forum der katholischen Vereine, in der Stabilisierung und Marginalisierung im Vereinsleben der polnischen nationalen Minderheit sowie in Diskussionen vor allem unter den Anhängern der „traditionellen" Verhaltensweise gegenüber Staat und Nation." Seit den neunziger Jahren wurde es zum beständigen Ritual bei Versammlungen der katholischen Vereine, nicht nur den Papst, sondern auch Kaiser Wilhelm II. als „Hüter der Arbeiterschaft und Landesvater" zu verehren. Die Versammlungen endeten meist mit dem Singen des „Deutschlandliedes". Traditionell wurden der Jahrestag der Entstehung des Kaiserreiches und der Geburtstag des Kaisers gefeiert. Patriotische Stimmung herrschte besonders in den populärsten katholischen Arbeiter- und Volksvereinen. Obwohl im südlichen Ermland die meisten Mitglieder der Vereine polnische Ermländer waren, spielte die polnische Sprache dort eine untergeordnete Rolle. Aus dem von einem polnischen Priester gegründeten Aliensteiner Gesellenverein wurden die Führer der polnischen Minderheit aus nationalen Motiven ausgeschlossen. Die polnische Sprache besaß bei den Tagungen der Vereine nur eine Hilfsfunktion. Sie wurde während des Wahlkampfs gebraucht, wenn die Arbeitervereine zum Schauplatz der Propaganda der Zentrumspartei wurden. Abgesehen von vereinzelten Protesten und kritischen Artikeln des polnischen nationalen Organs traten polnische Ermländer im Forum der katholischen Vereine niemals gegen die Diskriminierung der polnischen Sprache auf. Die meisten von ihnen, auch diejenigen, die stark in der Nationalbewegung engagiert waren, gingen in den lebendigen Strömungen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen deutschen Vereine auf.'^ Hier ist folgendes kennzeichnend: Bevor im südlichen Ermland überhaupt irgendeine gesellschaftliche Initiative der deutschen Katholiken aufkam, vermochte eine kleine Gruppe polnischer Nationalaktivisten ein eigenes Presseorgan zu gründen. In den Jahren 1890-1893 wurden die Grundlagen der Nationalbewegung gelegt. So entstanden sechs Vereine, und ein Pole wurde zum Reichstagsabgeordneten gewählt. Bald kam es wegen innerer Streitigkeiten, wegen Mangels an Unterstützung seitens der Geistlichen und durch Entstehung der vielen katholischen Arbeitervereine zur Stagnation. Die polnische Nationalbewegung pflegte hauptsächlich nationale Kultur und Tradition. Außer den Theatervorstellungen bildete ihre Tätigkeit eher eine Randerscheinung im öffentlichen Leben, das durch den wirtschaftlichen Aufschwung der deutschen Vereine dominiert wurde. Diesen Strömungen schlossen sich passiv oder auch aktiv die meisten polnischen Ermländer an, unabhängig vom Grad ihrer Identifikation mit der eigenen Nation. Die erste Motivation zu einer solchen Verhaltensweise war materieller und ökonomischer Natur. Die aktive katholische Bewegung schuf eine in der
11 Über die politische Haltung der Geistlichkeit: Robert Traba, Ultramontanizm - pojçcie i jego znaczenie w propagandzie w Prusach Wschodnich na przelomie XIX i XX wieku, in: Komunikaty Mazursko-Warmiriskie, 1994, Nr. 2 - 3 , S. 239-246; ders., Niemcy - Warmiacy - Polacy ..., S. 152-162. 12 Zum Thema polnischer Nationalbewegung vgl. AndrzeJ Wakar, Przebudzenie narodowe na Warmii 1886-1893, Olsztyn 1965; Janusz Jasinski, Swiadomosc ...; Andrzej Wakar, Wojciech Wrzesinski, „Gazeta Olsztyriska" w latach 1886-1939, Olsztyn 1986 (hier auch die weiteren Literaturhinweise).
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Zeit wirtschaftlicher Umwälzungen sehr wichtige Bedingung: Sie bot den unentbehrlichen sozialen Schutz und stabilisierte das Alltagsleben. Auf diese Weise integrierten sich polnische Ermländer nicht nur durch die ökonomische Konjunktur in die modernen gesellschaftlichen Strukturen, sondern unterlagen - abhängig von den individuellen Veranlagungen und Bestrebungen - einer allmählichen Akkulturation bzw. praktizierten bewußt die verbindlichen kulturellen (deutschen) Verhaltensmuster, wobei sie sich zugleich von den heimischen (polnischen) Praktiken lösten. Dies war aus Sicht der Ermländer mit polnischer nationaler Identität um so gefährlicher, als ihnen - im Unterschied etwa zu den Juden, wie Zygmunt Bauman in seinem aufschlußreichen Buch unlängst festgestellt hat'^ - durch die kulturelle und konfessionelle Nähe das völlige Aufgehen im deutschen Volk drohte. Diese Tendenz wurde verstärkt durch den von den polnischen Nationalaktivisten oft betonten kulturellen Komplex gegenüber den Deutschen und durch das Vermeiden des öffentlichen Gebrauchs der Muttersprache. Das war die Folge der Assimilationsbestrebungen des modernen Staates und der katholischen Kirche. In der Praxis bestand der Unterschied zwischen beiden in der repressiven bzw. sanften Form der Assimilationspolitik. Deren Vision bestätigte mittelbar das Prinzip der gesellschaftlichen Hierarchie und die arbiträre Aufteilung in vollberechtigte und nichtvollberechtigte Bürger, in eine bessere (fortschrittliche) und schlechtere (rückständige) Bevölkerung. Zum Symbol der modernen Veränderungen im ermländischen Mikrokosmos wurden deutsche Priester, Beamte, Lehrer, auch der sich dynamisch entwickelnde Staat und seine Kultur. Die Modernisierung brachte als natürliche Folge Veränderungen im Nationalbewußtsein zugunsten der dominierenden Gruppe mit sich. Diese Erscheinungen bestätigen u. a. theoretische Feststellungen von Ernest Gellner"*, obwohl sie zugleich die These von den besonderen Phänomenen des Überlebens des polnischen Nationalbewußtseins bei den Ermländem unter solch ungünstigen Bedingungen verstärkten. Dem natürlichen und repressiven Druck des Staates und der Kirche ausgesetzt, ihrer eigenen Elite und nennenswerter Unterstützung von außen beraubt, waren die Ermländer gezwungen, ihre nationale Identität nicht in Konkurrenz zur deutschen Überlegenheit, sondern in einem besonderen „kulturellen Ghetto", am Rande der gesellschaftlichen Veränderungen, zu verteidigen. Allein auf diese Weise, unter realistischer Einschätzung ihrer Möglichkeiten, konnten sie in der eigenen, geschlossenen Gemeinschaft den Akkulturationstendenzen einzelner Angehöriger ihres Volkstums entgegenwirken und sich zugleich gegen den Assimilationsdruck seitens der katholischen Kirche und des Staates wehren. Dadurch verurteilten sie sich freilich wissentlich zu einer Marginalisierung im gesellschaftlichen Leben. Die Versuche, eine alternative Form der polnischen Bewegung in Anlehnung an regionale - ermländische - Werte und an den Katholizismus zu schaffen, führten zu einer bis dahin nicht gekannten Eskalation der nationalen Spannungen. Fürsprecher dieser Idee gruppierten sich um die polnischsprachigen Zeitungen bzw. Zeitschriften „Nowiny Warmiriskie" (1890-1891) und „Warmiak" (1893-1905). Im gesellschaftlichen Bereich reichte diese Gruppe von polnischen Ermländem mit nicht ausgebildetem Nationalbewußtsein bis hin zu Polen (z. B. Pfarrer Walenty Barczewski) und Deutschen (z. B. Eugen Buchholz), die bemüht waren, den deutsch-polnischen Konflikt im Ermland zu entschärfen.'^ In der Tat rief das 13 Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, London 1991; hier die polnische Ausgabe: Wieloznacznosc nowoczesna. Nowoczesnosc wieloznaczna, Warszawa 1995, S. 192-201 u. a. 14 Ernest Gellner, Nations and Nationalism, Oxford 1984. 15 Für die Entwicklung dieser Bewegung sind zwei Tendenzen charakteristisch: einerseits enger, orga-
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Erscheinen dieser neuen nationalen und politischen Richtung eine Verstärkung der deutschpolnischen Kontroversen hervor. Die damals geäußerten Polemiken lassen den Eindruck entstehen, daß sowohl Polen als auch Deutsche diese Richtung als Gefahr für ihren nationalen Besitzstand empfanden. Im Falle der Polen traf dieses Dilemma ins Innerste der polnischen Nationalbewegung. Der Zuwachs an Spannungen ist nur scheinbar paradox. Vielmehr war er in der Zeit der nationalisierenden Veränderungen eine für das Grenzgebiet typische Erscheinung. Zum Hauptobjekt der Konfrontation wurden diejenigen Einwohner, deren Nationalbewußtsein noch nicht voll ausgebildet war. Die in der maßgebenden Minderheit lebenden Polen traten nicht gegen die deutsche Bevölkerung auf, sondern gegen diejenigen Landsleute, die ihre Verbundenheit mit der einheimischen Tradition, der Muttersprache und den Bräuchen aufgaben. Sie traten gegen diejenigen Deutschen auf, die eine solche Verhaltensweise aus religiösen und historischen Gründen unterstützten. Sie vertraten meist „traditionelle" nationale Verhaltensweisen, die sowohl von breiten Kreisen der Gesellschaft als auch von der geistlichen Hierarchie akzeptiert wurden. Die Aggression der nationalistischen deutschen Katholiken im Ermland konzentrierte sich auf die polnische Nationalbewegung, die allein durch ihre Existenz und ihre Haltung die Assimilation vereitelte. Beide Prozesse begleiteten parallel die Entstehung und propagandistische Verbreitung eines irrationalen Feindbildes. Für die polnische Minderheit, deren Identität von Assimilationsprozessen gefährdet war, wurde die deutsche Mehrheit zum Feind. Alle von dieser Mehrheit unternommenen Versuche, die nationalen Konflikte zu mildern, auch die Betonung der gemeinsamen ermländischen Wurzeln und der Glaubenseinheit, mußten als Gefahr für die polnischen Existenzgrundlagen verstanden werden. Im Bewußtsein der deutschen Bevölkerung, die seit einigen Generationen im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben dominierte, wurde wiederum die nationale Gruppe der Polen zum Feind. Durch ihre innere Dynamik und ihren wachsenden gesellschaftlichen Ehrgeiz zerstörte sie die herrschende Stellung der Deutschen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, also die bisherige, in der Tradition verankerte Ordnung. Wesentlich dabei war, daß der Mythos vom Feind keine kritischen Ansätze zuließ, um Lüge und Wahrheit zu unterscheiden, daß die Wahrheit des Mythos für dessen Urheber nicht von Bedeutung war. Er wurde nämlich - wie es Józef Chalasinski formulierte als ewiger und absoluter Antagonismus begriffen, der von den sich verändernden Bedingungen und Umständen unabhängig war."^ Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, während der Stabilisierung und wachsenden Polarisierung der nationalen Verhaltensweisen, wurde es irreal, nach einem Konsens zu suchen, der sich an regionale - ermländische - Werte anlehnte. Als symbolische Kapitulation dieser Denkweise konnte man die Auflösung der Zeitung „Warmiak" im Jahre 1905 werten. Es hat aber nicht den Anschein, als ob diese Orientierung ganz verschwunden wäre, denn einer der Gründer des „Warmiak", Pfarrer Barczewski, erklärte unmißverständlich: „Bei uns gibt es nur zwei Nationalitäten, eine polnische und eine deutsche, eine preußische existiert nicht, die ist von
nisatorischer Zusammenhang mit der deutschen katholischen Bewegung, andererseits aber deutliche Betonung von polnischer Sprache und Kultur und gleichzeitig scharfe Abgrenzung gegenüber Strukturen der polnischen nationalen Bewegung. 16 Józef Chalasinski, Antagonizm polsko-niemiecki w osadzie fabrycznej „Kopalnia" na Gómym ál^sku, in: Przegl^d Socjologiczny 3(1935), H. 1-2, S. 146-278; vgl. auch Josef Chlebowczyk, Procesy narodowotwórcze we wschodniej Europie árodkowej w dobie kapitalizmu (od schylku XVIII do pocz^tków XX wieku), Warszawa-Kraków 1975, S. 198-200.
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der deutschen geschluckt worden." Hier haben wir es wohl nach wie vor mit einem Wandlungsprozeß zu tun, bei dem die individuelle Identität von den konkreten Bedingungen abhing (z. B. die Kandidatur des polnischen Geistlichen als Abgeordneter im Jahre 1911). Mit Antonina Kloskowska sei dafür plädiert, das Nationalbewußtsein zwar als wichtigstes, aber eben nur als ein Kriterium nationaler Zugehörigkeit zu betrachten." Im Ermland bewegte sich dieses Bewußtsein, ähnlich wie in anderen Teilen der polnisch-deutschen Grenzregion, auf einer Skala, bildete es eine Art Kontinuum zwischen den beiden Extremen des integralen Polentums und des integralen Deutschtums. Der Schwund mittlerer Positionen vor dem Ersten Weltkrieg war eher eine politische Folge der polnisch-deutschen Konkurrenz im südlichen Ermland als ein dauerhafter, unumkehrbarer Bewußtseinszustand. Nach der Krise und der anschließenden Stabilisierung der polnischen nationalen Bewegung wurde das polnischsprachige Presseorgan, das von deutschen Kirchenvertretem herausgegeben und von staatlicher Seite akzeptiert worden war, als Antidotum gegen polnische Bestrebungen überflüssig. Wegen seiner Sprache und durch den Bezug zur polnischen Kultur konnte es vielmehr den Eindruck erwecken oder verstärken, das Ermland hätte vielfältige kulturelle und ethnische Ursprünge, was wiederum die Akkulturation weniger attraktiv machte und die erwünschte Assimilation hemmte. Aus der Sicht der polnischen Nationalbewegung hingegen bedeutete die Einstellung des „Warmiak", daß ein Rivale im Kampf um die Sympathien der polnischsprachigen Ermländer ausgeschaltet war. Einige Jahre später, nach einem Wechsel auf dem Bischofsstuhl (1908), erfolgte eine Liberalisierung des Vereinslebens. Aufgehoben wurde die künstliche Einheit der Ermländer bezüglich des katholischen Charakters der gesellschaftlichen und politischen Bewegung. Der neue Bischof duldete nicht nur, sondern unterstützte offen die Versuche einer Modernisierung, die in Deutschland von den zwei Zentren in Köln und Mönchengladbach her vertreten wurden. In nationaler Beziehung kam es zu einer Veränderung in Richtung des „modernen" und „staatlichen" Bewußtseins und zu größerer Identifikation mit den Tendenzen der nationalen Katholiken im Westen Deutschlands. Einfluß auf solche Verhaltensweisen hatte die Atmosphäre eines allgemeinen Patriotismus und Nationalismus, besonders in den Jahren unmittelbar vor Ausbruch des „großen Krieges". Diese Bestrebungen gaben den Katholiken die Möglichkeit, ihre Hingabe an das Vaterland zu beweisen. Zu jener Zeit bestand, ähnlich wie in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts, kein großer ideologischer Unterschied zwischen der katholischen Kirche und dem Staat, was die Beziehung zu nationalen Problemen anbetraf. Es scheint auch, als wäre der Identifikationsprozeß der deutschen Ermländer mit dem neuen Reich beendet worden. Immer stärker tauchten sogar nationalistische Tendenzen auf. Der Konflikt mit der Staatsmacht hatte lediglich untergeordneten politischen Charakter. Die Angriffe der national-liberalen („Königsberger Allgemeine Zeitung") und der konservativen Kreise (Gustav-Adolf-Verein) dienten der Diskreditierung der Katholiken als politischer Gegner. Dazu wurden die natürlichen Beziehungen mancher Priester zu polnischen Gruppen ausgenutzt. Die Kuriosität der Situation zeigt der Fall eines Redakteurs der „Ermländischen Zeitung", des Pfarrers Georg Matern. Sein Auftritt auf der Tagung der ermländischen Katholiken wurde von nationalistischen Kreisen als propolnisch empfunden, während die „Gazeta Olsztynska" urteilte, daß der Autor sämtliche Interessen der polnischen Gläubigen mißachtete. Derselbe Pfarrer wurde nach dem 17 Antonina Kloskowska, Teoretyczne spory na temat narodu a ujçcia kulturologiczne i indywidualizuj^ce, in: Przegl^d Zachodni, 1994, Nr. 4, S. 7.
Die Ermländer: Zwischen katiiolischer Kirche und Staat?
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Ersten Weltkrieg zum Anhänger der Deutsch-Nationalen Volkspartei. Die zur Zeit des Kulturkampfes so populäre „traditionelle" Verhaltensweise war im damaligen öffentlichen Leben völlig verschwunden. Trotz des Anwachsens der patriotischen Gefühle waren im Ermland keine Anzeichen von nationaler Euphorie oder Chauvinismus zu finden, die mit dem Verhalten der liberalen oder katholischen Kreise in Westdeutschland („Kölnische Volkszeitung") zu vergleichen wären. In der Einstellung zur polnischen Minderheit herrschte die Akzeptanz der nationalen Assimilation vor. Gleichzeitig wurden die Germanisierungsmethoden der preußischen Regierung, die gegen das geltende Recht verstießen, abgelehnt.
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Die dänische Minderheit in Preußen und im Deutschen Reich 1864-1914
Im Ergebnis des deutsch-dänischen Krieges von 1864 wurden die bis dahin dänischen Herzogtümer Schleswig und Holstein von ihrem Mutterland abgetrennt.' Nach einer von Gegensätzen begleiteten Phase des preußisch-österreichischen Kondominiums und der daraufhin folgenden Übergangsphase mit Holstein unter österreichischer sowie Schleswig unter preußischer Verwaltung wurden beide Herzogtümer schließlich 1866 durch das sogenannte Besitzergreifungspatent von 12. Januar 1867 Preußen als Provinz Schleswig-Holstein einverleibt.^ Durch die militärische Lösung der mit den nationalen Bewegungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts definierten und akut gewordenen „Schleswigschen Frage" kam eine 200.000 Personen zählende dänische (dänischgesinnte und dänischsprachige) Bevölkerung unter preußische Herrschaft.' Mit der Gründung des deutschen Kaiserreiches nach dem deutschfranzösischen Krieg 1870/71 wurde die dänische Volksgruppe eine von mehreren nationalen Minderheiten im Deutschen Reich. Das Reich des dänischen Königs war bis zur Abtrennung der Herzogtümer ein in erster Linie als Territorialstaat zu definierender Gesamtstaat, der von einer multinationalen Bevölkerung und von multikulturellen Strömungen geprägt war. Dabei war das deutsche kulturelle Element stark vertreten. Bis zum Durchbruch des nationalen Gedankens im Zuge der Napoleonischen Kriege Ende des 18. Jahrhunderts war Dänemark, wie alle damaligen europä1 Zentrale Übersichtswerke aus dänischer Sicht zur hier behandelten Thematik sind Lorenz Rerup, Slesvig og Holsten efter 1830 (Danmarks historie, red. af S. Elleh0j og K. Glamann), K0benhavn 1982 und Troels Fink, Geschichte des schleswigschen Grenzlandes, K0benhavn 1958. Das Standardwerk zur Geschichte der dänischen Bewegung im südlichen Schleswig ist Hans SchultzHansen, Danskheden i Sydslesvig som folkelig og national bevœgelse, Studieafdelingen ved Dansk Centralbibliotek for Sydslesvig, Flensborg 1990. 2 A. Scharff, Schleswig-Holsteinische Geschichte - ein Überblick. Sonderdruck aus der Geschichte der deutschen Länder „Territorien-Ploetz", Würzburg 1960, S. 59. Im Artikel 5 des Prager Friedensvertrages vom 23.8.1866 überträgt der österreichische Kaiser seine Rechte auf Holstein und Schleswig dem preußischen König mit der „Maßgabe, daß die Bevölkerungen der nördlichen Distrikte, wenn sie durch freie Abstimmung den Wunsch zu erkennen geben, mit Dänemark vereinigt zu werden, an Dänemark abgetreten werden sollen". Dieser Zusatz wird allerdings durch einen am 13.4. 1878 von Preußen und Österreich-Ungarn abgeschlossenen Vertrag gelöscht; siehe ebd., S. 65. 3 Vgl. S. B. Frandsen, Dänemark - der kleine Nachbar im Norden. Aspekte der deutsch-dänischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt 1994, S. 86.
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ischen Territorialstaaten, multikulturell und multisprachlich. Bis 1815 bestanden die der dänischen Krone zugeordneten Territorien aus dem eigentlichen Dänemark, den Herzogtümern Schleswig und Holstein, den Färöer-Inseln sowie Norwegen und Island. Hinzu kamen Kolonien, unter anderem die dänisch-westindischen Inseln. In diesem Staat spielten die Deutschsprachigen eine exponierte Rolle. Sie bildeten große Teile der Bildungs-, Wirtschaftsund Machtelite. Die Herzogtümer wurden zudem von Kopenhagen aus durch eine eigenständige Kanzlei, die sogenannte Deutsche Kanzlei, regiert. Holstein war seit 1815 ein Teil des Deutschen Bundes, aber weiterhin unter dänischer Herrschaft. Im großen und ganzen funktionierte dieses multinationale System wie in allen anderen europäischen Territorialstaaten trotz unumgänglicher und inhärenter Konflikte. Durch das Aufkommen des nationalen Gedankens Ende des 18. Jahrhunderts und der daraus entstehenden Nationalbewegungen wurde das Gleichgewicht gestört. Im dänischen Gesamtstaat bildete sich zur gleichen Zeit und von derselben europäischen Strömung geprägt eine dänische und eine deutsche Nationalbewegung. Trotz grundlegender Einigkeit in ihren Forderungen nach einer demokratisch und konstitutionell verfaßten Gesellschaft standen beide Bewegungen sehr schnell in entschiedenem Gegensatz zueinander. Der Konflikt drehte sich um die Frage der staatlichen Zugehörigkeit des Herzogtums Schleswig, das seit 1460 gemeinsam mit Holstein regiert wurde. Die deutschschleswig-holsteinische Nationalbewegung strebte nach einem deutschen, konstitutionell verfaßten Staat, bestehend aus Schleswig und Holstein sowie unabhängig von Dänemark. Die dänische Nationalbewegung faßte hingegen Schleswig als integralen Bestandteil Dänemarks auf. Sie verzichtete gerne auf das deutsche Holstein, wollte jedoch ein geeintes konstitutionell-demokratisches Dänemark bis zur Eider. Der anfangs ideologische und politische Streit entwickelte sich parallel und zum Teil katalysiert durch die deutsche demokratische Revolution von 1848 zu einem militärischen Konflikt, der als Bürgerkrieg im dänischen Gesamtstaat (in den ersten Kriegsjahren mit einer militärischen Intervention des Deutschen Bundes) betrachtet werden kann. Die schleswig-holsteinische Bewegung forderte die Loslösung von Dänemark und die Bildung eines deutschen Schleswig-Holsteins. Das wurde von Dänemark kategorisch abgelehnt. Daraufhin bildete die schleswig-holsteinische Bewegung eine provisorische Regierung und besetzte die Festungsstadt Rendsburg. Das führte zum Krieg. Dieser Erste Schleswigsche Krieg dauerte von 1848 bis 1850.'' Am Ende stand Dänemark als militärischer Sieger ohne politischen Gewinn dar. Die Schleswig-Holsteiner hatten keines ihrer Ziele erreicht. Die Friedensregelung unterstrich nämlich, daß der Status quo ante wiederherzustellen sei: Die kriegsauslösende Frage der staatlichen und territorialen Zugehörigkeit Schleswigs blieb ungelöst. Sie prädestinierte einen weiteren Konflikt, als das dänische Parlament 1863 durch den Beschluß einer neuen Verfassung, die für ganz Dänemark und Schleswig gelten sollte, mit den Bedingungen des Friedensschlusses brach. Somit hatte Bismarck direkten Anlaß, eine Intervention des Deutschen Bundes unter preußischer Vorherrschaft in die Wege zu leiten. Anfang 1864 wurde zunächst Holstein von Bundestruppen - insbesondere Preußen und Österreicher - besetzt. Daraufhin kam es zu einem Einmarsch in Schleswig und zu einem blutigen Stellungskrieg in den Düppeler Schanzen, den die deutschen Truppen schließlich gewannen.^ 1864 wurden Schleswig und Holstein von Dänemark abgetrennt. Die deutsch-schleswig-holsteinische Nationalbewegung hatte somit einen wesentlichen Teil ihres Programms verwirklichen können. Der andere, für diese
4 Vgl. Johannes Nielsen, Die Schleswig-Holsteinische Erhebung 1848-1850, Kopenhagen 1993. 5 Vgl. ders., Der Deutsch-Dänische Krieg 1864, Kopenhagen 1991.
Die dänische Minderheit in Preußen und im Deutschen Reich
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Nationalbewegung ebenso wesentliche Programmteil, nämlich die Bildung eines eigenen konstitutionell verfaßten Staates Schleswig-Holstein als integrierter Teil eines geeinten deutschen Bundesstaates, wurde allerdings nicht erreicht. Schleswig-Holstein wurde einerseits zwar deutsch, andererseits jedoch lediglich eine preußische Provinz. Im dänischen Gesamtstaat hatten die Herzogtümer einen Sonderstatus, in Preußen war die neue Provinz eine von mehreren administrativen Gliederungen mit nationalen Minderheiten. Die dänische Minderheit in Preußen war anfänglich lediglich numerisch und sprachlich definiert. Eine bewußte und organisierte nationale Minderheit gab es noch nicht. Es gab jedoch eine dänische Bewegung, die sich seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Schleswig herausgebildet hatte.' In dieser dänischen Bevölkerung, die im nördlichen Teil Schleswigs die absolute Majorität bildete, formierte sich nach 1864 zunächst die dänische nationale Bewegung neu, die in den folgenden Jahrzehnten teils durch ein wachsendes Nationalbewußtsein mitsamt einer Mobilisierung und teils durch eine parallel dazu verlaufende umfassende Organisationsbildung auf politischer und kultureller Ebene allmählich im eigentlichen Sinne zu einer dänischen Minderheit in Schleswig wurde. In diesem identitätsstiftenden Prozeß spielte der Umstand eine wichtige Rolle, daß die nationalen Unterschiede in Schleswig zum Teil diffus waren. Die Unterschiede zwischen Deutsch- und Dänischgesinnten beruhten nicht in erster Linie auf objektiven Merkmalen, etwa der Sprache. So waren die deutschgesinnten Nordschleswiger überwiegend dänischsprachig bzw. sie sprachen den regionalen dänischen Dialekt s0nderjysk, während die dänischgesinnten Flensburger traditionell insbesondere deutsch sprachen. Die Landbevölkerung im mittleren Teil Schleswigs sprach noch dänisch, wurde allerdings im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allmählich deutschsprachig. Im südlichen Teil Schleswigs sprach die Bevölkerung in den Städten und auf dem Lande bereits deutsch. Es bestand kein direkter Zusammenhang von Sprache und nationaler Identität. Zwar identifizierten sich die weitaus meisten Dänischsprachigen als Dänen, während sich die überwiegende Zahl der Deutschsprachigen auch zum Deutschen bekannte. Trotzdem gab es eine bedeutende Anzahl von Menschen, die sich entweder dem Dänischen zugehörig fühlten, ohne dänisch zu sprechen, oder sich als Deutsche identifizierten, obgleich sie dänischsprachig waren. Schließlich gab es auch eine nicht genau feststellbare Gruppe von Menschen, die sich weder eindeutig als Dänen oder Deutsche fühlten, sondern ihre eigene Identität an dem Herrscher sowie der als Heimat zu bezeichnenden Region orientierten. So fand man Loyalität dem dänischen König und nach 1871 dem deutschen Kaiser gegenüber, während die nationale Identifikation weniger ausgeprägt war. Andere waren wiederum schlicht Schleswiger mit bivalenten nationalen Elementen und Sympathien, aber ohne eine ständig und fest definierte nationale Identität. Dieser Gruppe von national Unentschiedenen (oder auch Indifferenten) galt Ende des 19. Jahrhunderts ein Hauptinteresse der jeweiligen national ausgerichteten Bewegungen in Schleswig, die hier ein Potential für die Mobilisierung ihrer eigenen Nationalbewegung sahen. Außerdem ist noch hervorzuheben,
Hans Schultz-Hansen, Den danske bevaegelse i S0nderjylland ca. 1838-50, Historie, Jyske samlinger, Ny rœkke, 18, Jysk Selskab for Historie, Ârhus 1989-1991, S. 3 5 3 - 3 9 5 . Vgl. auch Gottlieb Japsen, Statspatriotisme og nationalf0lelse i S0nderjylland f0r 1848, S. 1 0 7 - 1 2 2 , in: Historie, Jyske Samlinger, Ny rskke, 13, Aarhus 1979-81. Vgl. zum Folgenden mit der konzisen und reflektierten Darstellung Hans Schultz-Hansen, Den danske bevasgelse i S0nderjylland ca. 1838-1920. Modemisering, sociale grupper og national mobiiisering, Arbejdspapir, december 1990, S. 2.
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daß die Scheidelinien zwischen Deutsch und Dänisch durch einzelne Dörfer und Familien verliefen, wo zwar alle die gleiche Sprache sprachen, wo aber die Identität und als wichtiger identitätsstiftender Faktor die Loyalität verschiedenen Kulturen zugeordnet wurden. Es gab auch keine Unterschiede in Bezug auf die Religion: Sowohl Dänen als auch Deutsche waren evangelische Lutheraner. Hier unterschieden sie sich im nördlichen Teil Schleswigs lediglich durch die dänische Gottesdienstsprache. Zudem lebten Deutsche und Dänen in Schleswig nicht in eindeutig definierten Gebieten. Die Übergänge waren fließend nicht nur in geographischer, sondern auch in familiärer Hinsicht. In vielen Familien gab es den übergeordneten nationalen Konflikt auch im kleinen. Das führte zunächst im nationalen Bürgerkrieg zwischen Dänen und Deutschen 1848-1850 (von dänischer Seite als Aufruhr der Schleswig-Holsteiner, von deutscher Seite als Erhebung verstanden) und im dänisch-deutschen Krieg von 1864 dazu, daß sich Brüder auch im Felde als Gegner gegenüberstanden. Insbesondere im mittleren und südlichen Schleswig waren somit auch die Familien national geteilt.^ Der alles entscheidende Faktor für die Nationalitäts- und Identitätsdefinition war das subjektive Bekenntnis zur einen oder anderen Kultur. Die individuelle Identifikation mit dem Dänischen oder dem Deutschen markierte die nationalen Unterschiede. Die subjektiven Merkmale waren vorrangig, während die faktisch existierenden objektiven Merkmale, insbesondere im mittleren Teil Schleswigs, kein eindeutiges Bild der Nationalitätsverteilung ergeben konnten. Allerdings sollte dazu bemerkt werden, daß jedwede nationale Bewegung nicht nur in Schleswig und Holstein - trotz der Erkenntnis, daß das subjektive Bekenntnis und die objektiven Merkmale nicht immer identisch sind, sich stets darum bemüht, eine Übereinstimmung des subjektiven Bekenntnisses bzw. der Gesinnung mit den objektiven Nationalitätskriterien und dabei insbesondere der Sprache zu erwirken. Deshalb versuchte die dänische Seite in Schleswig, die Bedeutung und Verbreitung insbesondere der dänischen Sprache zu stärken, während umgekehrt die deutsche Seite den Versuch unternahm, die Deutschgesinnten davon zu überzeugen, daß sie auch deutsch sprechen sollten. Als unmittelbares und direktes Ergebnis der Einverleibung Schleswigs nach Preußen entSchloß sich eine Vielzahl insbesondere junger und jüngerer Dänen dazu, Schleswig zu verlassen. Sie zogen nördlich der Königsaugrenze und wurden in Dänemark seßhaft. In vielen Fällen wanderten sie auch nach Übersee aus. Insgesamt verließen in den folgenden Jahrzehnten ca. 60.000 Menschen das nördliche Schleswig. Im Vergleich zur sonstigen Bevölkerungsentwicklung werden Umfang und Bedeutung der Auswanderungsbewegung deutlich: Während die Bevölkerung Preußens im Zeitraum von 1871 bis 1910 um 63 % und die Dänemarks um 51 % wuchs, verzeichnete die Bevölkerung in Nordschleswig lediglich einen Zuwachs von 8 Auf der anderen Seite nutzten viele Dänen die im Friedensschluß von 1864 gegebene Möglichkeit, innerhalb einer sechsjährigen Frist für die dänische Staatsangehörigkeit zu optieren. Dadurch konnten sie sich zwar dem preußischen Militärdienst entziehen, sie konnten jedoch auch aus Schleswig ausgewiesen werden. Große Teile der Optanten wurden allerdings Ende der 1880er Jahre naturalisiert. Danach konnten sie sich
8 Troels Fink, Geschichte ..., S. 8 - 9 stellt dazu fest: „Die Trennungslinie zwischen Dänisch und Deutsch geht durch Städte und Dörfer hindurch, einige Gehöfte können in dänischen, andere in deutschen Händen sein, und sie geht durch die Familien hindurch." 9 Lorenz Rerup, Nationale mindretal i S0nderjylland/Slesvig, S. 4 4 - 5 8 , in: Nationale og etniske minoriteter i Norden i 1 8 0 0 - og 1900-tallet. Rapporter til den XX. nordiske historikerkongres, Reykjavik 1987, Bind II, Reykjavik 1987, hier S. 52.
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aktiv der dänischen Bewegung anschließen. Schließlich verhielt sich ein großer Teil der dänischen Bevölkerung passiv.'" So verlor die dänische Nationalbewegung in Schleswig wenige Jahre nach der Eroberung wesentlich ihre Dynamik und ihre Bevölkerungsgrundlage. Das zeigte sich eindrucksvoll in den politischen Wahlergebnissen: Der dänische Wähleranteil im nördlichen Schleswig fiel von gut zwei Drittel der abgegebenen Stimmen im Jahr 1867 auf weniger als die Hälfte zwei Jahrzehnte später. Erst nach und nach konnte sich die dänische Bewegung neu formieren und schließlich auch als Minderheit in einer Vielzahl von Vereinen organisieren. Dabei spielten die dänisch gesinnten Bauern in Nordschleswig eine entscheidende Rolle. Sie bewahrten ihre dänische Gesinnung, hielten ständigen Kontakt zur politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in Dänemark, das sich eigentlich erst nach 1864 zu einem Nationalstaat modernen Typs formierte, und dienten auf dem Lande als Fixpunkte der nationalen Gesinnung auch, weil viele Kleinbauern von ihnen abhängig waren. Im Zeitraum von 1864 bis 1914 waren die Bauern die dominierende Sozialgruppe in Nordschleswig und mit einem Anteil von ca. 60 % des landwirtschaftlich genutzten Bodens von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft in dieser überwiegend agrar geprägten Region. Somit war die wirtschaftliche Macht bei Dänischgesinnten konzentriert. Dadurch wurde der Germanisierung entgegengewirkt. Allerdings war die dänische Bewegung bis 1890 bei den dänischen Bauern nur wenig ausgeprägt. Deren dänische Identität bestand zunächst überwiegend in der eindeutigen Distanzierung vom Deutschen. Erst um 1890 änderte sich ihr Identitätsbewußtsein, da sie sich bewußt wurden, daß das Eigentum an Grund und Boden von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der dänischen Bewegung war. Das zeigte sich in einem stärkeren Empfinden der Identität und in einer eindeutigeren Ausprägung des dänischen Bewußtseins. Diese neue nationale Sinnstiftung war Konsequenz und Begleiterscheinung der neuen Organisationsbildung in den dänisch bewohnten Gebieten Schleswigs. So entstanden Vereine, die sowohl politisch als auch kulturell sowie auf schulischem Gebiet für die Bewahrung des Dänischen aktiv wurden. Die wichtigsten waren die 1888 gegründete Wählervereinigung, die schnell ein organisatorisches Netzwerk etablierte, der bereits 1890 gegründete Sprachverein, dessen Mitgliederzahlen Anfang der 1890er Jahre stark anstiegen, sowie der 1892 gegründete Schulverein, der bereits im Laufe des ersten Jahres über 4.000 Mitglieder gewinnen konnte und sich zum Ziel gesetzt hatte, weniger wohlhabenden Angehörigen der dänischen Minderheit durch finanzielle Förderung eine schulische Ausbildung und Bildungsaufenthalte in Dänemark zu ermöglichen." Die dänische Minderheit in Schleswig als organisierte Gruppe entstand parallel zur Nationsbildung in Dänemark, die wiederum parallel zur Nationsbildung und zu nationalstaatlichen Integrationsbestrebungen im Wilhelminischen Deutschland verlief. Die Mehrheit in den mittleren und nördlichen Teilen Schleswigs fühlte sich trotz des Mangels an einem eigentlichen Nationalbewußtsein in den ersten Jahren nach der Annexion noch immer als Dänen und manifestierte ihre nationale Identifikation in den ersten politischen Wahlen unter preußischer Oberhoheit. Die dänischen Kandidaten konnten eindeutige Stimmergebnisse verbuchen. In Nordschleswig ergab sich eine dänischstimmende Bevölkerungsmehrheit, die durch eine Linie nördlich der Westküstenstadt Tondem und südlich der 10 Vgl. Hans Schultz-Hansen, Det nordslesvigske landbrug og den danske bevasgelse 1880-1914, Aabenraa 1985, S. 171. 11 Ebd., S. 173.
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Stadt Flensburg markiert wurde. Im ersten Jahrzehnt nach der Einverleibung Schleswigs unternahmen die preußischen Behörden nur wenig, um die dänische Bewegung zu schwächen. Die dänische Kirchen- und Schulsprache blieb auf dem Lande zunächst erhalten. Erst die Sprachverfügung vom März 1878 erweiterte den Deutschunterricht in den nordschleswigschen Schulen und führte Deutsch als Unterrichtsprache in mehreren Fächern der Mittel- und Oberstufe ein.'^ Diese Maßnahmen waren erste Schritte zu einer eigentlichen Germanisierungspolitik. Die dänische Bewegung reagierte darauf mit einer eigenen Organisation, dem „Verein zur Erhaltung der dänischen Sprache in Nordschleswig" sowie mit anderen Zusammenschlüssen, die der Assimilierungspolitik entgegenwirken sollten. Die Assimilierung wurde jedoch nicht abgeschwächt, sondern durch eine weitere Sprachverfügung im Dezember 1888 noch verstärkt, die Deutsch als Unterrichtssprache in allen Fächern außer im Religionsunterricht bestimmte. Dadurch kam es zu einem offenen Konflikt zwischen der dänischen Minderheit in Nordschleswig, die mehrheitlich dänisch gesinnt war, auf der einen und den preußischen Behörden auf der anderen Seite. Der äußere Assimilierungsdruck und die als bewußte Germanisierung gedeutete Schul- und Sprachenpolitik der deutschen Obrigkeit bewirkten bei den Dänen eine Trotzreaktion, was wiederum zu einer entscheidenden Stärkung der jetzt als dänische Minderheit zu charakterisierenden nationalen dänischen Bewegung in Nordschleswig führte. Auch die um die Jahrhundertwende" gegen die zu dieser Zeit sich neu formierende und von erheblicher Dynamik geprägte dänische Bewegung gerichtete diskriminierende Politik der nach dem preußischen Oberpräsidenten Köller benannten Köller-Zeit erbrachte preußischerseits nicht die erhofften Ergebnisse. In dieser Phase wurden dänische Aktivitäten auf allen Ebenen verfolgt und behindert. So wurde unter anderem der Versuch unternommen, dänischen Eltern das Sorgerecht für ihre minderjährigen Kinder abzuerkennen, wenn sie ältere Kinder in Dänemark weiterbilden ließen. Dänische Versammlungshäuser wurden geschlossen, und die dänischsprachige und -orientierte Presse wurde verfolgt.'" Der Versuch, durch Ausweisungen und polizeiliche Zwangsmittel die nationale Problematik in Nordschleswig zu deutschen Gunsten zu lösen, schlug fehl.'' Auch die nach 1891 einsetzenden Bestrebungen, dänische Höfe aufzukaufen und deutschen Zuwanderern zuzuteilen, um dadurch das Nationalitätsgefüge auf dem Lande zu deutschen Gunsten zu verändern, waren letztendlich erfolglos.'^ Als Ganzes und auf längerer Sicht gesehen wurde die dänische Bewegung sogar durch die Maßnahmen der Köller-Zeit gestärkt.'^ Gleichwohl führten diese vorübergehend dazu, daß die Aktivitäten der dänischen Vereine eingedämmt wurden und die großen dänischen Vereine stark an Mitgliedern verloren." Die dänische Bewegung ließ sich allerdings trotz der systematischen Übergriffe nicht unterdrücken, sondern erhielt sogar aufgrund der ausgesprochen negativen Reaktionen in Skandinavien, aber auch in anderen europäischen Ländern, einen positiven Zuspruch.
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A. Scharff, Schleswig-Holsteinische Geschichte ..., S.66. Siehe Troels Fink, Rids af S0nderjyllands Historie, K0benhavn 1943, S. 191-195. Ebd., S. 193. A. Scharff, Schleswig-Holsteinische Geschichte ..., S. 66. Lorenz Rerup, Nationale mindretal ..., S. 52. Troels Fink, Rids af ..., S. 192. Hans Schultz-Hansen, Det nordslesvigske landbrug ..., S. 175.
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Erst nach dem Ende des Köller-Regimes konnte die dänische Bewegung in Nordschleswig wieder Fuß fassen. Diesmal war der Zuspruch der Bevölkerung noch größer als vor der Diskriminierungsperiode. So wuchs die Mitgliederzahl des Schulvereins von 4.000 im Jahr 1906 auf über 10.000 bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Die neue Mobilisierung läßt sich u. a. auch dadurch erklären, daß es jetzt den Optanten (also dänischen Staatsangehörigen, die nach ihrer Option für Dänemark weiterhin in Schleswig lebten) gestattet wurde, ohne die Gefahr einer Ausweisung nach Dänemark Mitglied dänischer Vereine in Schleswig zu werden." Vermutlich ist der große Zuspruch zu den dänischen Vereinen auch als Reaktion auf die Übergriffe und die Diskriminierung zu verstehen. Dabei spielte sicher die bekannte Erkenntnis eine Rolle, daß Unterdrückungsmaßnahmen, die auf eine zügige Assimilierung abzielen, oftmals einen entgegengesetzten Effekt haben. Der dänische Historiker Uffe 0stergârd hat diese Erfahrung aus dem Gebiet von Schleswig für alle Minderheitengebiete im Deutschen Kaiserreich übergreifend interpretiert. Er stellte fest, daß die Bevölkerung in Schleswig vor den Kriegen Mitte des 19. Jahrhunderts im politischen Sinne weder dänisch noch deutsch war. Erst die nationale Bewegung und nach 1864 vor allem die offensiven Germanisierungsbestrebungen der preußischen Regierang bzw. des Deutschen Kaiserreiches führten dazu, daß die nicht-deutschsprechenden Bevölkerungsteile nicht nur in Schleswig, sondern auch in Elsaß-Lothringen und in den polnisch bewohnten Gebieten anfingen, sich als Dänen, Franzosen und Polen zu identifizieren.^" Mit anderen Worten: Es war insbesondere der Versuch, der anderssprachigen Bevölkerung im Wilhelminischen Deutschland im Rahmen der übergeordneten Integrations- und Homogenisierungsbestrebungen ihre jeweilige nationale Eigenart und ihre Sprache zu nehmen und sie zu germanisieren, der zur eigentlichen Herausbildung von Nationalbewegungen führte, die sich eindeutig als nichtdeutsch verstanden. Parallel zur nationalen Homogenisierung und Integration im Deutschen Reich wurden also die dänischen Schleswiger Gegenstand einer bewußten Assimilierungspolitik, die auf die Beseitigung der dänischen Kultur- und Sprachelemente abzielte. Es kam zur Durchsetzung einer Reihe diskriminierender Maßnahmen, die allerdings kontraproduktiv wirkten. Zwar ließen sich ein Teil der Dänen und viele der in nationaler Hinsicht Unentschlossenen assimilieren, aber die offensiven Germanisierungsversuche führten, als Ganzes betrachtet, nicht zum erstrebten und erwünschten Ergebnis: Die dänische Bewegung wurde nicht zerschlagen, sondern sie konnte aufgrund der Übergriffe auf längere Sicht sogar eine gewisse Dissimilationsbewegung verzeichnen, wobei sich Assimilationswillige bzw. bereits Assimilierte der dänischen Bewegung anschlossen. Die moralische Unterstützung in und aus Dänemark, wo indigniert von den Übergriffen auf die dänische Bevölkerung in Schleswig berichtet wurde und wo eben diese Maßnahmen der preußischen Behörden gegen das Dänische als wichtiger Faktor bei der Definition des Dänischen als vom Deutschen grandverschieden beitragen, führte zu einer weiteren Stärkung der dänischen Minderheit. In diesem Zusammenhang sei eine kontrafaktische Überlegung erlaubt: Hätten die preußischen Behörden davon abgesehen, die Eigenarten und die eigenständige Kultur der dänischen Bevölkerung in Nordschleswig zu unterdrücken, wäre eine allmählich und über einen längeren Zeitraum vollzogene Assimilation vermutlich geglückt, eben weil die dänische Bewegung zunächst nach der Eroberang und Einverleibung Schleswigs geschwächt war. Die 19 Ebd. 20 U. 0stergârd, Dansk raindretalspolitik i praksis, Arbejdspapier, 2 4 - 9 5 , Center for Kultuforskning, Aarhus Universitet, Aarhus 1995, S. 6.
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geschichtliche Wirklichkeit war anders. Die dänische Minderheit wurde gestärkt und konnte um die Jahrhundertwende einen regen Zuspruch registrieren. Die dänischen Aktivitäten wurden umfassender, stärker und erfaßten mehr Menschen, als es bisher der Fall gewesen war. Es kann von einer Mobilisierung für das Dänische gesprochen werden.^' Die Versuche, deutsche Gegenvereine in Nordschleswig zu gründen, brachten lediglich Teilerfolge. Man appellierte dabei an das Regionaibewußtsein der dort ansässigen deutschgesinnten Bevölkerung und unterstrich die Heimatverbundenheit der Deutschen. Dadurch entstand der Begriff der „Heimdeutschen" (dänisch: „hjemmetyskern"). A u f dem Lande hatten die deutschen Bestrebungen nur begrenzten Erfolg. Der größte Teil Nordschleswigs war Anfang des 20. Jahrhunderts eindeutig dänisch orientiert. Lediglich in den Städten war das deutsche Element stärker ausgeprägt, unter anderem aufgrund des deutschen Beamtentums und der deutschgesinnten Handwerker und Kaufleute. D i e Deutschen dominierten in Tondern, Apenrade und Sonderburg, Hadersleben h i n g e g e n hatte eine dänischgesinnte und dänischsprachige Mehrheit. Während die Assimilationspolitik in Nordschleswig ohne längerfristigen Erfolg blieb, war die Lage im mittleren und südlichen Teil S c h l e s w i g s völlig anders.^^ Bei den Wahlen 1867 gab es in Mittelschleswig um Flensburg zwar noch eine dänische Mehrheit, doch sie schrumpfte in den folgenden Jahrzehnten, so daß die dänischgesinnten Bevölkerungsteile zur absoluten Minderheit wurden. Obgleich auch in Mittelschleswig dänische Organisationen entstanden, konnte sich die dänische B e w e g u n g dort nicht konsolidieren und auf längere Sicht kaum behaupten. Lediglich in Flensburg kann von einer kompakten dänischen B e w e g u n g gesprochen werden, die allerdings im Vergleich zur Gesamtbevölkerung eine Minderheit darstellte und traditionell deutsch- bzw. plattdeutschsprachig war. Das kaum entwickelte dänische Sprachbewußtsein in Flensburg erleichterte die Durchsetzung des Deutschen als Schulsprache und auf längere Sicht auch die Assimilation in diesem Gebiet. In Südschleswig gab es nur vereinzelte und stark zerstreute dänische Schwerpunkte, die nirgends eine größere Basis in der h i e s i g e n Bevölkerung hatten. D a s dänische B e w u ß t s e i n konzentrierte sich auf e i n z e l n e Familien und kleinere Kreise. Die Assimilation zum Deutschen war bereits unter dänischer Herrschaft weit vorangeschritten und konnte auch durch die Redanisierungsmaßnahmen nach 1850 kaum zurückgedrängt werden. In der Preußen-Zeit wurde sie noch beschleunigt. D i e Germanisierungsmaßnahmen führten hier schnell zum Erfolg. Das dänische Schulwesen wurde zügig abgebaut, bereits 1878 endete j e d w e d e M ö g l i c h k e i t eines dänischsprachigen Unterrichts in Flensburg. Bis zum Jahr 1920 gab es in der Stadt keine dänische Schule mehr." D i e dänische G e m e i n d e in Flensburg wurde bereits Ende N o v e m b e r 1864 aufgelöst. 1869 folgte die A u f l ö s u n g des dänischen Pfarramtes. Danach wurden dänischsprachige Gottesdienste vom Hilfspastor der großen Flensburger Mariengemeinde in der Stadtmitte abgehalten. Zwar konnten die Dänen bei den Kirchenwahlen 1869 in der Mariengemeinde zwei Drittel der Stimmen und sämtliche Plätze des Gemeinderates gewinnen und ihre Vorherrschaft bis
21 Vgl. Hans Schultz-Hansen, Den danske beveegelse i S0nderjylland ca. 1838-1920. Modemisering, sociale grupper og national mobilisering, Arbejdspapir, december 1990. 22 Siehe Johann Runge, Die dänische Minderheit in Südschleswig, S. 73-158, in: Landeszentrale für politische Bildung Schleswig Holstein: Minderheiten im deutsch-dänischen Grenzgebiet, Gegenwartsfragen 69, Kiel 1993, mit Beiträgen von Reimer Hansen, P. I. Johannsen, Johann Runge und Thomas Steensen. 23 Ebd., S. 86.
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1889 behaupten, aber rechtlich gab es keine Entfaltungsmöglichkeit für eine eigentlich dänische Gemeinde.^"* Bei den ersten politischen Wahlen in Flensburg war die dänische Bewegung noch erfolgreich. Anläßlich der Wahlen im Februar 1867 zum Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes stimmten 52,7 % der Flensburger für den dänischen Kandidaten, im nördlichen Stadtteil lag der dänische Anteil sogar bei 79 %. Ebenso gab es in den Gemeinden um Flensburg bedeutende dänische Stimmergebnisse. Auch bei der Augustwahl 1867 zum Reichstag des Norddeutschen Bundes konnten die Dänen ihre kleine Mehrheit verteidigen, als 50,7 % der Stimmen in Flensburg auf den dänischen Kandidaten entfielen. Zudem wurden bei dieser Wahl auch Stimmen für dänische Kandidaten in anderen Teilen des südlichen Schleswig abgegeben. Trotzdem zeichnete sich bereits wenige Jahre nach der Annexion ab, daß eine dänische Bevölkerung in Südschleswig kaum noch vorhanden war. In Mittelschleswig konzentrierte sich die dänische Bewegung in und um Flensburg." In diesem Gebiet entstanden dänische Vereine, die sich allerdings nach sozialen Gesichtspunkten formierten, so daß keine geschlossene dänische Organisation entstehen konnte. Da die meisten Dänischgesinnten Flensburgs den unteren sozialen Schichten angehörten, war die politische Orientierung ein Problem für die dänische Bewegung. In den ländlichen Gebieten, wo die dänische Minderheit fest verankert war, wurden weiterhin dänische bürgerliche Kandidaten gewählt. In den Städten und vor allem in Flensburg orientierten sich die sozial schwachen Gruppen zunehmend nach sozialen, politischen und wirtschaftlichen Interessen. Die nationale Komponente verlor dabei an Bedeutung. Noch bis zur Wahl 1884 wurde in Flensburg ein dänischer Vertreter in den deutschen Reichstag gewählt. Danach fielen große Teile der bis dahin dänischen Stimmen an sozialdemokratische Kandidaten.^' Mit dem Durchbruch der Sozialdemokratie fingen also diese Dänen an, nach parteipolitischen (und sozialen) Interessen statt nach nationalen Gesichtspunkten zu wählen. Als die dänische Bewegung in Flensburg ihre politische Bedeutung verlor, verstärkte sich gleichzeitig die Assimilationstendenz. Die dänischen Vereine büßten Mitglieder ein, bei den politischen Wahlen wurden verschwindend geringe Ergebnisse in Südschleswig erzielt, während sich die dänischen Kandidaten in Nordschleswig klar behaupten konnten." Allerdings war festzustellen, daß die verbliebene dänische Minderheit vermutlich wegen ihrer geringeren Größe besser organisiert war als die dänische Bewegung unmittelbar nach 1864.'^ Sie vermochte jedoch nicht, die Arbeiter für sich zu mobilisieren. Generell kann deshalb für die Lage der dänischen Minderheit im südlichen Schleswig für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg festgestellt werden, daß „nur die Minderheit der Dänischgesinnten die preußische Herrschaft als Fremdherrschaft empfand, während die große Mehrheit der Südschleswiger sich als Preußen und Deutsche fühlten. Die Dänischgesinnten verhielten sich als preußische Bürger dem Staat gegenüber loyal: Sie zogen, wie die anderen Staatsbürger, 1914 in den Krieg - und hofften, daß er ihnen die Rückkehr nach Dänemark bringen werde."^'
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Ebd. Ebd., S. 87. Lorenz Rerup, Nationale mindretal ..., S. 53; Johann Runge, Die dänische Minderheit ..., S. 91. Vgl. auch Hans Schultz-Hansen, Den danske .... S. 376. Ebd., S. 377; vgl. ders.. Den danske . . . 1 8 3 0 - 1 9 2 0 , 8 . 1 5 . Johann Runge, Die dänische Minderheit ..., S. 97.
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Lediglich die publizistische und wegen der Aktivitäten der leitenden Redakteure auch politische Hochburg der gesamten dänischen Bewegung in Schleswig, die Zeitung „Flensborg Avis"'", konnte eine gewisse Integrationskraft auf die dänischgesinnte Bevölkerung im mittleren und südlichen Teil Schleswigs ausüben, die allerdings begrenzt war. „Flensborg Avis" war seit ihrer Gründung bewußt antipreußisch ausgerichtet und nutzte jede Gelegenheit, auf preußische Übergriffe gegenüber Dänen hinzuweisen. Die Zeitung wollte die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung Schleswigs mit Dänemark bewahren. Schließlich sah sie sich auch als Instrument zur Erhaltung der dänischen Sprache und somit als Identitätsbewahrer der dänischen Bevölkerung. Dabei spielte die harte und eindeutig dänische Linie des häufig und insgesamt beinahe vier Jahre von den preußischen Behörden inhaftierten Redakteurs, Jens Jessen, eine entscheidende Rolle. Seine Bedeutung läßt sich vielleicht am deutlichsten in der ungewöhnlich steilen Entwicklung der Auflagenhöhe der Zeitung unter seiner Ägide ablesen: Als er 1882 Redakteur der „Flensborg Avis" wurde, erschien die Zeitung in einer Auflage von ca. 1.000 Exemplaren. Bei seinem Tode 1906 hatte „Flensborg Avis" 9.350 Abonnenten, die meisten allerdings im nördlichen Teil Schleswigs. Die dänischgesinnten Schleswiger wurden nach der Einverleibung 1864 überwiegend preußische und deutsche Staatsangehörige. Dadurch wurden sie auch im preußischen Heer militärdienstpflichtig. Bereits 1870/71 kämpften so die ersten dänischen Schleswiger für eine Sache, die sie selbst nicht als die ihrige verstanden. So war es insbesondere auch im Ersten Weltkrieg, als 30.000 Männer aus Nordschleswig in den Krieg zogen, davon fielen über 5.300 Dänen.'' Eine Minderheit der Dänischgesinnten entzog sich dem Militärdienst und ging illegal über die Grenze nach Dänemark. Die Mehrheit erfüllte jedoch loyal ihre staatsbürgerliche Pflicht und kämpfte an allen Fronten, wo sie oftmals Diskriminierungen wie z. B. dem Verbot, in Dänisch nach Hause zu schreiben, ausgesetzt war. Angeleitet wurde diese Gruppe von den älteren, führenden Persönlichkeiten der dänischen Minderheit, die sich als Konsequenz der Pflichterfüllung das Recht der Dänen auf Selbstbestimmung erhofften. Die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg führte zu einer Reaktualisierung der Schleswigschen Frage. Die überwiegend dänische Bevölkerung in Nordschleswig sowie die dänische Minderheit in Mittel- und Südschleswig erhoffte sich die langersehnte Grenzrevision und die Wiedervereinigung des ehemaligen Herzogtums Schleswig mit Dänemark. Dies führte zu zwei Volksabstimmungen, die 1920 stattfanden. In diesem Zusammenhang wurde die nationale Mobilisierung in Schleswig auf beiden Seiten enorm verstärkt. Die Schleswiger wurden aufgefordert, sich eindeutig für Dänemark oder Deutschland zu entscheiden.'^
30 Siehe zur Bedeutung der „Flensborg Avis" R. Rasmussen, Flensborg Avis 1869-1906, Flensburg 1994. 31 Siehe J0rgen Kühl, J. 0degaard, Danske S0nderjyder i tysk krigstjeneste, Danevirkegârden, Arbejdspapirer, 5, maj 1991, Dannevirke 1991. 32 Siehe L. Adriansen, I. Doege, Deutsch oder Dänisch? Bilder zum nationalen Selbstverständnis aus dem Jahre 1920. Hrsg. von der Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte e. V. und dem Institut für Regionale Forschung und Information im Deutschen Grenzverein e. V. in Zusammenarbeit mit dem Institut for S0nderjysk Lokalhistorie und Historisk Samfund for S0nderjylland, Flensburg 1992; L. Adriansen, Broder Schwensen, Fra det tyske nederlag til Slesvigs deling 1918-1920, S0nderjyske billeder 5, udg. af Institut for S0nderjysk Lokalhistorie og Historisk Samfund for S0nderjylland i samarbejde med Gesellschaft für Flensburger Stadtgeschichte og Stadtarchiv Flensburg, Aabenraa og Flensborg 1995 (eine deutsche Ausgabe liegt ebenfalls vor); Henrik Becker-
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Die Plebiszite wurden als Konsequenz des Ersten Weltkriegs und aufgrund der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrags der alliierten Mächte mit Deutschland vom 28. Juni 1919 durchgeführt. Infolge der Friedensverhandlungen ergab sich, daß in den von Minderheiten bewohnten Grenzgebieten Deutschlands Volksabstimmungen durchgeführt wurden, die über die staatspolitische Zugehörigkeit dieser Regionen entscheiden sollten. Von nichtstaatlicher dänischer Seite war in Versailles vorgeschlagen worden, daß drei Volksabstimmungen über die staatspolitische Zugehörigkeit ganz Schleswigs entscheiden sollten. Somit wäre die Region in drei Abstimmungszonen aufgeteilt worden. Die offizielle dänische Regierungsvertretung in Versailles verwarf jedoch diesen Vorschlag. Sie setzte statt dessen durch, daß nur in zwei Zonen, und zwar in Nord- und Mittelschleswig, abgestimmt werden sollte. In Zone I sollte en bloc und in Zone II nach Gemeinden abgestimmt werden. Das bedeutete, daß eine Gemeinde in der zweiten Zone, die sich mehrheitlich für Dänemark entschieden hätte, auch wiedervereinigt worden wäre. Die nichterfolgte Abstimmung im südlichsten Schleswig führte zu großer Verbitterung bei denjenigen dänischen Kräften, die an den Ideen des Eiderdänentums festhielten. Sie fühlten, daß den Dänen südlich der Zone II das nationale Selbstbestimmungsrecht vorenthalten worden war. Nüchtern betrachtet kann allerdings festgestellt werden, daß für das Gesamtergebnis der Plebiszite eine etwaige Abstimmung in einer dritten Zone ohne Bedeutung gewesen wäre. Es ist unwahrscheinlich, daß in einer dritten Zone die Stimmung für eine Wiedervereinigung mit Dänemark größer gewesen wäre als in Zone II. Im südlichsten Teil Schleswigs war die dänische Bewegung damals noch schwächer als in Mittelschleswig. Am 10. Februar 1920 wurde in der Zone I, die Nordschleswig entsprach, en bloc abgestimmt. Hier stimmten 75.431 Personen für Dänemark, 25.329 für Deutschland. Auf örtlicher Ebene wie in den Städten T0nder/Tondern, АаЬепгааУApenrade und S0nderborg/Sonderborg gab es jeweils Mehrheiten für den Verbleib bei Deutschland. Da jedoch en bloc abgestimmt wurde, waren diese lokalen deutschen Majoritäten für das Gesamtergebnis unerheblich. Die erste Zone als Ganzes hatte mit einem eindeutigen Votum dafür gestimmt, mit Dänemark wiedervereinigt zu werden. Die Wiedervereinigung mit Dänemark fand am 15. Juni 1920 statt. An diesem Tag entstand die deutsche Minderheit in Dänemark. In der Zone II wurde am 14. März 1920 abgestimmt. Diese Zone entsprach dem mittleren Teil Schleswigs. Hier ergab die Stimmenauszählung ein eindeutiges Votum für den Verbleib bei Deutschland. Insgesamt 51.724 Personen stimmten für Deutschland, während 12.800 für Dänemark votierten. 80 % stimmten also für den Verbleib bei Deutschland. In keiner Gemeinde der zweiten Zone gab es eine annähernde Mehrheit für Dänemark. In Flensburg stimmten 25 % für Dänemark, in fünf Gemeinden westlich von Flensburg jeweils 2 0 - 2 9 %. Hier befanden sich die dänischen Hochburgen. Obgleich es darin eine beachtliche Anzahl Dänen gab, waren sie nicht zahlreich genug, um eine Wiedervereinigung mit Dänemark mehrheitlich zu erwirken. Die ganze Zone II verblieb demnach bei Deutschland. Somit gab es weiterhin eine dänische Minderheit in Deutschland. Ihre Größe konnte nicht eindeutig abgeschätzt werden, umfaßte jedoch ein Potential von bis zu 20.000 Menschen. Das Jahr 1920 bildet den Ausgangspunkt der modernen dänischen Minderheit in Deutschland. Nachdem der größte Teil der bisherigen dänischen Volksgruppe wieder nach
Christensen, Den nye graense, S. 2 4 ^ 3 , in: Graensen i 75 âr. Hrsg. von Institut for Grsnseregionsforskning & Told- og Skattehistorisk Selskab, Aabenraa 1995.
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Dänemark kam, mußte sich die übriggebliebene Minderiieit neu organisieren, ein eigenes Schulwesen, Büchereien, religiöse Gemeinden und natürlich auch ein eigenes dänisches Vereinswesen aufbauen. Dabei ließ sich eine zunehmende Assimilierung feststellen. In der Hitlerzeit war die dänische Volksgruppe Repressionen und Diskriminierungen von selten der Deutschen ausgesetzt, obgleich die dänischen Minderheitenorganisationen an sich mit dem totalitären Herrschaftsapparat nicht gleichgeschaltet wurden. Während des Zweiten Weltkriegs mußten nochmals viele dänische Südschleswiger in einen Krieg auf selten der Deutschen ziehen. Auch diesmal erfüllten junge Dänen ihre staatsbürgerliche Pflicht in der Hoffnung, damit ihr Recht zu erreichen. Die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands im Mai 1945 stellte für die dänische Minderheit eine eindeutige Befreiung dar. Man hoffte erneut stark auf eine Wiedervereinigung mit Dänemark, wurde jedoch bitter enttäuscht, als die dänische Regierung schließlich erklärte, daß die deutsch-dänische Grenze seit 1920 festgelegt sei.
WOLFGANG WIPPERMANN
Das „ius sanguinis" und die Minderheiten im Deutschen Kaiserreich
Der Forschungsstand über die Geschichte der ethnischen und nationalen Minderheiten im deutschen Kaiserreich weist nach wie vor große Lücken auf. Dies gilt selbst für die Geschichte der nationalen Minderheiten der Polen, Dänen und Elsaß-Lothringer, die einem fremdnationalen Staat angehört hatten und sich diesem wieder anschließen wollten.' Noch weniger wissen wir über die Lage der Sorben, Kaschuben, Masuren, Litauer, Wallonen und Friesen, die als ethnische Minderheiten zu bezeichnen sind, weil sie einem anderen Nationalstaat weder angehört hatten noch die Errichtung eines solchen anstrebten.^ Mit der Erforschung der Geschichte der Sinti und R o m a , die ebenfalls als ethnische Minderheit einzustufen sind, obwohl sie von vielen Zeitgenossen noch als „Zieh-Gauner", d. h. als eine soziale Randgruppe angesehen wurden, hat man gerade erst begonnen. D i e meisten Darstellungen konzentrieren sich zudem auf die Geschichte einer einzelnen Minderheit. V e r g l e i c h e n d e Untersuchungen zur Minderheitenpolitik der einzelnen Bun-
Rudolf Korth, Die preußische Schulpolitik und die polnischen Schulstreiks. Ein Beitrag zur Polenpolitik in der Ära Bülow, Würzburg 1963; Helmut Neubach, Die Ausweisungen von Polen und Juden aus Preußen 1885/86. Ein Beitrag zur Polenpolitik und zur Geschichte des deutsch-polnischen Verhältnisses, Wiesbaden 1967; Oswald Hauser, Polen und Dänen im Deutschen Reich, in: Theodor Schieder / Ernst Deuerlein (Hrsg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 291-318; Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1972; Richard Blanke, Prussian Poland in the German Empire (1871-1900), Boulder 1981; Brigitte Balzer, Die preußische Polenpolitik 1894-1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien, Frankfurt/M. 1990. Zur Lage der Polen und Dänen vgl. die Beiträge von Marek Czaplinski, Krzysztof Makowski, Robert Traba und J0rgen Kühl in diesem Band. Jan Solta, Hartmut Zwahr, Geschichte der Sorben, Bd. 2: Von 1789 bis 1917, Bautzen 1974. Zur Situation der Sorben, Masuren, Litauer und Wallonen siehe die Beiträge von Peter Kunze, Gregorz Jasinski, Manfred Klein und Klaus Pabst in diesem Band. Wolfgang Günther, Zur preußischen Zigeuneφolitik seit 1871. Eine Untersuchung am Beispiel der Landkreise Neustadt am Rübenberge und der Hauptstadt Hannover, Hannover 1985; Rainer Hehemann, Die „Bekämpfung des Zigeunerunwesens" im Wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik, 1871-1933, Frankfurt/M. 1987; Thomas Fricke, Zwischen Erziehung und Ausgrenzung. Zur württembergischen Geschichte der Sinti und Roma im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1991.
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desstaaten und zur Situation der Minderheiten insgesamt stellen ein ganz besonderes Desiderat der Forschung dar. Sieht man von den knappen Überblicksdarstellungen zur Geschichte der (ethnischen) Minderheiten von Stefi Jersch-Wenzel" und Christoph Kleßmann^ s o w i e dem instruktiven Aufsatz von Klaus Erich Pollmann über die parlamentarischen Vertreter der Minderheiten der Polen, Dänen und Elsaß-Lothringer ab,' so liegen nur zwei Arbeiten vor, in der die Lage der Minderheiten unter einer vergleichenden Perspektive analysiert wird.' D i e eine ist die schon „klassische" Studie v o n Theodor Schieder über das deutsche Kaiserreiches von 1871 als Nationalstaat.* In diesem Buch geht Schieder der Frage nach, welche Bedeutung die Minderheitenpolitik für den Charakter des Kaiserreiches als eines „unvollendeten Nationalstaates" gehabt habe. Das Kaiserreich habe nämlich gewisse vor- und übernationale Züge gehabt. Sein Schöpfer, Bismarck, habe sogar in einer „eigentümlichen Distanz ... zum Nationalstaat" gestanden und am „historischen Staatsgedanken" Preußens festgehalten. Gleichwohl habe das Kaiserreich bereits unter Bismarck gegenüber den Minderheiten eine „Sprachassimilationspolitik" betrieben, die auf eine weitgehende Germanisierung dieser fremdnationalen Staatsbürger abzielte, weil unter „Nation" keine staatsbürgerliche „Willensund Bekenntnisgemeinschaft", sondern eine völkische „Sprachgemeinschaft" verstanden wurde.' D i e Auswirkungen dieses, w i e ich ihn bezeichnen möchte, „völkischen" Nationsbegriffs auf die konkrete Innen- und vor allem Außenpolitik schätzt Schieder jedoch insgesamt als gering ein. D i e Minderheitenpolitik des Kaiserreiches habe eine eher d e f e n s i v e Tendenz gehabt und sich im wesentlichen auf den sprachlichen Bereich beschränkt. Von einer Kontinuität zwischen Kaiser- und Drittem Reich könne daher nicht die Rede sein. Eine v ö l l i g andere Meinung hat Hans-Ulrich Wehler in seinem knappen B u c h „Das Deutsche Kaiserreich" vertreten.'" Einmal, weil er eine Kontinuität von den „Reichsfeinden 4 Stefi Jersch-Wenzel, Die Lage von Minderheiten als Indiz für den Stand der Emanzipation einer Gesellschaft, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag, Göttingen 1974, S. 365-387. 5 Christoph Kleßmann, Nationalitäten im deutschen Kaiserreich, in: Dieter Langewiesche (Hrsg.), Ploetz. Das Deutsche Kaiserreich, Würzburg 1984. 6 Klaus Erich Pollmann, The Parliamentary Representation of the National Minorities in the German Kaiserreich, 1867-1918, in: Geoffrey Alderman (Hrsg.), Comparative Studies on Governments and non-dominant ethnic groups in Europe, 1850-1946: Governments, ethnical groups and political representation, Dartmouth 1993, S. 239-278. 7 Einen ganz anderen Ansatz hat Klaus J. Bade (Hrsg.), Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992. In diesem Sammelband gibt es zwar auch einige Artikel, die sich mit der Lage von ethnischen Minderheiten in Deutschland beschäftigen, grundsätzlich geht es jedoch um die Ursachen und Folgen von Migrationen in der deutschen und europäischen Geschichte. Daß man damit der Situation der meisten Minderheiten in Deutschland nicht gerecht wird, dürfte ohne weiteres klar sein. Die Unterschiede zwischen der Minderheiten- und Migrationsforschung werden auch in verschiedenen neueren soziologischen und politologischen Studien so verwischt, daß sie hier gänzlich unerwähnt gelassen werden können. 8 Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln 1961. 9 Eine knappe Zusammenfassung dieser Gedanken bietet der Aufsatz von Theodor Schieder, Das Deutsche Kaiserreich ..., abgedruckt in: Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Theodor Schieder, Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, Göttingen 1991, S. 197-217, bes. S. 201-207. 10 Hans-Ulrich Wehler, Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973, bes. S. 110 ff. über „Integrationsklammem und stukturelle Demokratiefeindschaft".
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zur Reichskristallnacht", d. h. von der Minderheitenpolitik des Kaiserreiches zur Rassenpolitik des Dritten Reiches, erkennen möchte." Zum anderen, weil er die Minderheitenpolitik des deutschen Kaiserreiches insgesamt als sehr negativ einschätzt. Allerdings sieht er sie ausschließlich im Zusammenhang der Auseinandersetzung der Reichsleitung mit den sog. „Reichsfeinden", die zu Sündenböcken gemacht worden seien und der „negativen Integration" der Mehrheit gedient hätten. Diese Deutung greift m. E. einerseits zu kurz, andererseits zu weit, weil nicht alle „Reichsfeinde" Minderheiten waren und nicht alle Minderheiten zu den „Reichsfeinden" gezählt wurden und werden konnten. Letzteres trifft mit Sicherheit nicht auf die ethnischen Minderheiten der Litauer, Masuren, Kaschuben und Wallonen zu, die sich wie der überwiegende Teil auch der Sorben völlig loyal und absolut staatstreu verhielten. Im folgenden möchte ich die Minderheitenpolitik des Kaiserreiches um ihrer selbst willen und nicht als bloßes Instrument zur „negativen Integration" der Bevölkerung analysieren. Anders als Schieder möchte ich mich dabei nicht auf die Sprachenpolitik'^ konzentrieren, sondern der Frage nachgehen, welche Auswirkungen die Veränderungen des Staatsbürgerrechts auf die Lage der Minderheiten hatte. Soweit ich sehe, hat man diese staatsrechtlichen Aspekte in der Minderheitenforschung kaum beachtet, während in den juristischen und politikwissenschaftlichen Arbeiten zur Wandlung des preußischen und deutschen Staatsbürgerrechts die Lage der Minderheiten nicht erwähnt wird. Einen prägenden Einfluß auf die Entwicklung des Staatsbürgerrechts im Kaiserreich hat das preußische „Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Eigenschaft als preußischer Untertan sowie über den Eintritt in fremde Dienste" gehabt, das am 31. Dezember 1842 in Kraft trat.'' Seine wichtigste Bestimmung lautete, daß „der Wohnsitz innerhalb unserer Staaten ... in Zukunft für sich allein die Eigenschaft als Preuße" nicht begründe. Damit war das bisherige „ius soli" (Bodenrecht), wonach alle Personen, die in Preußen über einen Wohnsitz verfügten, preußische Staatsbürger waren, abgeschafft. Das Prinzip des „Domicilium facit subditum" wurde durch das Blut- oder Abstammungsrecht, das „ius sanguinis", ersetzt."* Deutsche Rechtshistoriker haben darauf hingewiesen, daß dieses Gesetz im Zusammenhang mit zwei anderen zu sehen ist, die ebenfalls am 31. Dezember 1842 in Kraft traten.'^ 11 Ganz dezidiert hat Wehler diese These in seinem Aufsatz Von den „Reichsfeinden" zur „Reichskristallnacht" vertreten, in: ders., Krisenherde des Kaiserreiches, Göttingen 1970, S. 181-200. 12 Tatsächlich hat sich Schieder auf die Diskussion über das sog. Geschäftssprachengesetz beschränkt, das 1876 erlassen wurde. 13 Geheimes Staatsarchiv, Berlin, I. HA, Rep. 77, Tit. 227, Nr. 4. Abgedruckt bei Matthias Lichter, Die Staatsangehörigkeit nach deutschem und ausländischem Recht, 2. Aufl. Berlin 1955, S. 521-524, und bei Gerhard Anschütz, Die Verfassungsurkunde für den preußischen Staat vom 31. Januar 1850, Berlin 1912, Neudruck Aalen 1974, S. 104 ff 14 Zur weiteren Geschichte des heute immer noch gültigen ius sanguinis Fritz Franz, Das Prinzip der Abstammung im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht, in: Institut für Migrations- und Rassismusforschung Hamburg (Hrsg.), Rassismus und Migration in Europa, Berlin 1992, S. 237-246; Dieter Oberndörfer, Die offene Republik. Zur Zukunft Deutschlands und Europas, Freiburg 1991 ; Lutz Hoffmann, Die unvollendete Republik. Zwischen Einwanderungsland und deutschem Nationalstaat, 2. Aufl. Köln 1992. Diese Arbeiten beschäftigen sich jedoch vornehmlich mit den gegenwärtigen Auswirkungen des ius sanguinis und des ihm zugrundeliegenden völkischen Nationsbegriffs. 15 Hans-Heinrich Lippe, Die preußische Heimatgesetzgebung vom 31. Dezember 1842, Diss. Göttingen 1947; Hans Friedrichsen, Die Stellung des Fremden in deutschen Gesetzen und völkerrechtlichen
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Das eine regelte die Freizügigkeit in den, wie es immer nocii hieß, „preußischen Staaten". Von jetzt ab konnte sich jeder preußische Staatsbürger überall dort, wo er wollte, niederlassen. Eine spezielle Erlaubnis der Städte und Kommunen war nicht mehr erforderlich. Damit war das im Mittelalter so hart erstrittene und verteidigte kommunale Bürgerrecht „Stadtluft macht frei" obsolet geworden. Aufgrund des sog. Unterstützungswohnsitzgesetzes, das ebenfalls am 31. Dezember 1842 in Kraft trat, wurden die Kommunen gleichzeitig verpflichtet, die Versorgung ihrer armen Gemeindemitglieder zu übernehmen. Um sie nun vor der Zuwanderung weiterer armer preußischer Staatsbürger zu schützen, die sich dabei auf das Freizügigkeitsgesetz berufen konnten, habe die preußische Staatsführung ein Interesse daran gehabt, die Zahl der armen preußischen Staatsbürger zu beschränken. Deshalb sei durch das Indigenatsgesetz die preußische Staatsangehörigkeit „unabhängig vom Wohnsitz definiert worden". Es habe, wie der amerikanische Politikwissenschaftler Rogers Brubaker meint, vornehmlich als „Instrument gegen die Armutsmigration" gedient.'^ Diese rechts- bzw. sozialhistorische Interpretation reicht nicht aus. Die Einführung des ius sanguinis in Preußen, das sich damals anschickte, in „Deutschland aufzugehen", muß einmal im Zusammenhang des ideologiegeschichtlichen Diskurses über den Begriff der „deutschen Nation" gesehen werden. Bekanntlich hat sich in Deutschland nicht das in Frankreich geprägte Prinzip der „Staatsnation", sondern, um noch einmal Friedrich Meineckes Termini zu verwenden, das Konzept der „Kultumation" durchgesetzt." Die Nation gilt nicht als eine staatsbürgerliche Willensgemeinschaft, sondern als eine durch gemeinsame Abstammung und gemeinsames Blut geprägte Volksgemeinschaft.'^ Dieser völkische Nationsbegriff schließt sog. Fremdvölkische aus, und zwar auch dann, wenn sich diese „Fremdvölkischen" gar nicht als fremd, sondern als deutsch empfinden." Dafür einige Beispiele aus der deutschen Ideologie. Johann Gottlieb Fichte meinte in seinen „Reden an die deutsche Nation", daß das deutsche Volk „kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen" könne, „ohne wenigstens vors erste sich zu verwirren und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung zu stören."^" Schon Fichte dachte in diesem Zusammenhang auch an die deutschen Juden, deren Emanzipation er nur
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Verträgen seit dem Zeitalter der französischen Revolution, Diss. Göttingen 1967; Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit, Berlin 1973, S. 140 ff; Conrad Bornhak, Preußisches Staatsrecht, Bd. 1, Freiburg 1988. Zum folgenden vor allem Rogers Brubaker, Staats-Bürger. Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich, Hamburg 1994, S. 95 ff. Rogers Brubaker, Staats-Bürger ..., S. 103. Friedrich Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (1908), in: Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 5, München 1965. Es ist hier nicht der Ort, näher auf die allgemeine Nationalismus-Diskussion einzugehen. Vgl. dazu mit weiterführenden Literaturhinweisen Peter Alter, Nationalismus, Frankfurt/M. 1985; Heinrich August Winkler (Hrsg.), Nationalismus, 2. Aufl. Frankfurt/M. 1985; Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus: Mythos und Realität seit 1780, Fankfurt/M. 1991. Die folgende Darlegung ist zwangsläufig etwas bildlich. Weitere Hinweise zu den im folgenden besprochenen Ideologen des deutschen Nationalismus bei Otto W. Johnston, Der deutsche Nationalmythos. Ursprung eines Programms, Stuttgart 1990. Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: J. H. Fichte (Hrsg.), Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke, Bd. 7, Berlin 1846, S. 2 5 7 ^ 9 9 , S. 344.
Das „ius sanguinis" und die Minderheiten im Deutschen Kaiserreich
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dann für möglich hielt, wenn man „in einer Nacht ihnen allen die Köpfe" abschneide und andere aufsetze, „in denen auch nicht eine jüdische Idee sey".^' Ernst Moritz Arndt äußerte sich 1814 in seiner Schrift „Blick aus der Zeit auf die Zeit" noch deutlicher: „Die Juden als Juden passen nicht in diese Welt und in diese Staaten hinein, und darum will ich nicht, daß sie auf eine ungebührliche Weise in Deutschland vermehrt werden. Ich will es aber auch deswegen nicht, weil sie durchaus fremdes Volk sind und weil ich den germanischen Stamm so sehr als möglich von fremden Bestandteilen rein zu erhalten wünsche."^^ Mit ähnlichem Abscheu hat sich Arndt jedoch auch über die Polen und den „ganzen slawischen Stamm" geäußert. In seiner 1848 veröffentlichten Kampfschrift über „Polenlärm und Polenbegeisterung" erklärte er: „Ich behaupte eben mit der richtenden Weltgeschichte vorweg: Die Polen und überhaupt der ganze slawische Stamm sind geringhaltiger als die Deutschen, und die deutschen Polennarren haben weder einen politischen noch einen geistigen und sittlichen Grund, die Kinder ihres Blutes den Polacken zu Gefallen aufzuopfern und in den schlechten Stoff hineinstampfen zu lassen."^^ Der als „Turnvater" immer noch verharmloste Friedrich Ludwig Jahn schließlich rechnete neben den Juden - den „Schacherjuden", wie er sagte - auch die „Zigeuner" nicht zum „deutschen Volkstum"^", das sich von diesen „Blendlings-" oder „Mangvölkem" mit allen Mitteln schützen m ü s s e , w o b e i Jahn auch an „vernichten" dachte.^^ Ich kann hier nicht näher auf die weitere Verbreitung dieses völkischen Nationsbegriffs eingehen. Diese „Nationalisierung der Massen", die ihren ersten Höhepunkt in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts erreichte, ist in der Forschung vielfach analysiert worden." Statt dessen möchte ich, wie erwähnt, auf die Auswirkungen des völkischen Nationsbegriffs auf das Staatsbürgerrecht eingehen.^* Mir scheint, daß das ius sanguinis 1842 in Preußen aus zwei Gründen eingeführt wurde. Einmal, um den deutsch-nationalen Charakter Preußens zu betonen, das sich unter Friedrich Wilhelm IV. anschickte, die deutsche Führungsmacht zu werden, wobei es den deutschen Nationalismus, der in den vierziger Jahren zu einem „Massenphä-
21 Ders., Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution ( 1793), ebd., Bd. 6, S. 3 9 - 2 8 8 , 1 4 9 . 22 Emst Moritz Arndt, Blick aus der Zeit auf die Zeit, Frankfurt 1814, S. 188-197. 23 Oers., Polenlärm und Polenbegeisterung (1848), in: August Leffson / Wilhelm Steffens (Hrsg.), Arndts Werke. Kleine Schriften, Berlin 1912, S. 128. 24 Friedrich Ludwig Jahn, Deutsches Volkstum (1810), in: Carl Euler (Hrsg.), Friedrich Ludwig Jahns Werke, Bd. 1, Hof 1884, S. 143-380, 158. 25 Ebd., S. 41 ff. 26 Jahn, Briefe an Auswanderer, in: Werke, Bd. 2, S. 764: „Nur Urvölker können in heiliger Weltgenosssame nachbam: Mangvölker und Mangsprachen müssen vernichten oder vernichtet werden." 27 Vgl. etwa George L. M o s s e , D i e Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und M a s s e n b e w e g u n g in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. 1976. 28 Auch Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit ..., S. 191 erkennt die Bedeutung dieses völkischen Nationsbegriffs, wonach die „Nation ... eine Bluts-, Stammes- und Familiengemeinschaft" sein soll.
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nomen" w u r d e , f ü r seine Zwecke ausnützte. Der andere Grund liegt in dem Bestreben, fremdnationale Staatsbürger zu stigmatisieren und mit der Begründung auszubürgern, sie gehörten ja gar nicht zur deutschen Blutsgemeinschaft.'" Genau dies hat man dann auch im Kaiserreich getan. Das ius sanguinis, das am 1. Juni 1870 vom Norddeutschen Bund und ein Jahr später auch vom Kaiserreich übernommen wurde," richtete sich gegen solche Minderheiten, die nicht wie ein Teil der Polen sowie die Dänen, Elsässer, Wallonen, Litauer, Masuren, Kaschuben und Sorben eingedeutscht (germanisiert), sondern ganz im Gegenteil aus dem „deutschen Volkstum" ausgegrenzt, zu Ausländern gemacht und ausgewiesen werden sollten. Dieses Schicksal traf zunächst und vor allem die Sinti. Die Vorfahren der heutigen Sinti sind im Unterschied zu den Roma, die erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu uns kamen, schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts nach Deutschland eingewandert." Die Sinti (im 20. Jahrhundert auch die Roma) sind die ethnische Minderheit in Deutschland, die am intensivsten und längsten verfolgt wurde. Die grausamen Verfolgungen begannen am Ende des 15. Jahrhunderts, als die Sinti durch einen Reichstagsbeschluß von 1498 für vogelfrei erklärt wurden, und setzten sich, unterbrochen nur durch den Dreißigjährigen Krieg, als fast jeder jeden verfolgte, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fort. Erst dann hielt man es im Zeichen der Aufklärung für unmenschlich und unnützlich, die „Zigeuner" wie wilde Tiere zu jagen, alle Erwachsenen ohne Urteil hinzurichten und ihre Kinder als „Leibeigene" zu verkaufen. Jetzt wollte man sie zu „besseren Menschen" erziehen. Doch die sog. „Zivilisierung der Zigeuner" ging zumindest in Preußen (in Österreich-Ungarn war es etwas anders) nur schleppend voran. Sieht man von einem Zwangs-Erziehungsprojekt ab, das kurzfristig von 1830 bis 1837 von einem evangelischen Missionsverein in Friedrichslohra im Harz durchgeführt wurde," hat es in Preußen keine wirklich ernstzunehmenden Bestrebungen gegeben, Sinti anzusiedeln und zu assimilieren. (Die in der Literatur immer wieder kolportierte Behauptung, Friedrich der Große habe auch „Zigeuner" angesiedelt, gehört in den Bereich der Legende.) Eine Ansiedlung der Sinti wurde vielmehr durch Gesetze wie das oben erwähnte über den Unterstützungswohnsitz von 1842 erschwert, wodurch die Gemeinden berechtigt wurden, eine Niederlassung von Armen im allgemeinen, armen „Zigeunern" im besonderen zu verhindern.
29 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, München 1987, S. 399. 30 Daß das ius sanguinis vornehmlich aus diesen ideologischen, nämlich nationalistischen Motiven eingeführt wurde, wird interessanterweise auch von dem Verfechter der rein juristischen 1п1ефге1а110п des ius sanguinis, Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit..., S. 190 f., eingeräumt. 31 Gesetz über die Erwerbung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit vom 1.6.1870, in: Bundesgesetzblatt 1870, S. 355; abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, Stuttgart 1964, S. 249. Vgl. dazu Rolf Grawert, Staat und Staatsangehörigkeit ..., S. 201 f. 32 Zum folgenden als Überblick mit weiterführenden Literaturhinweisen Wolfgang Wippermann, Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland. Darstellung und Dokumente, Berlin 1994. 33 Dazu Barbara Danckwortt, Franz Mettbach - Die Konsequenzen der preußischen „Zigeunerpolitik" für die Sinti von Friedrichslohra, in: Barbara Danckwortt, Thorsten Querg, Claudia Schöningh (Hrsg.), Historische Rassismusforschung. Ideologen - Täter - Opfer. Mit einer Einleitung von Wolfgang Wippermann, Hamburg 1995, S. 273-295.
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Immerhin nahmen die Behörden in den Provinzen und selbst in Berlin von der Anwesenheit der Sinti Notiz. Erstaunt stellte man fest, daß einige von ihnen seßhaft geworden, ja in den Besitz der preußischen Staatsbürgerschaft gelangt waren. Beides - Seßhaftmachung und Einbürgerung - war vor allem in den Landesteilen passiert, die nach dem Zusammenbruch von 1806 an das Königreich Westphalen gefallen waren, wo die Sinti genau wie die Juden von dem französischen Prinzip der Staatsbürgerschaft via ius soli profitiert hatten. Doch auch nach dem französischen Zwischenspiel ist es verschiedenen Sinti immer wieder gelungen, preußische bzw. auch sächsische, bayerische etc. Staatsbürger zu werden, weil sie einen Wohnsitz nachweisen konnten oder weil sie zum Militär einberufen worden waren und so einen Militär-Paß erhalten hatten. Selbst einigen nicht-seßhaften Sinti ist die schriftlich beantragte (einige konnten ganz offensichtlich schreiben!) Einbürgerung gelungen. Andere scheinen sich derartige Papiere von Handwerksburschen etc. gekauft oder durch Fälschung erschlichen zu haben. All dies war gewissermaßen wild und ohne ein Gesetz über die „Emanzipation" oder die „bürgerliche Verbesserung der Zigeuner" erfolgt. Im notorisch ordnungsliebenden Preußen konnte man dies nicht dulden. Hinzu kamen die völlig ungebrochenen und wahrhaft mittelalterlich anmutenden Vorurteile der Bevölkerung gegenüber den Sinti,'" in denen viele immer noch Zieh-Gauner sehen wollten, obwohl die Forschung seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nachgewiesen hatte, daß es sich bei den „Zigeunern" nicht um Gauner oder, wie man heute zu sagen pflegt, um eine „soziale Randgruppe", sondern um Angehörige eines Volkes handelt, das über eine eigene Kultur und Sprache verfügt, die wie das Deutsche zur indogermanischen Sprachfamilie gehört. Genau hier, bei der „Fremdartigkeit" der Sinti, die man, wie es hieß, aufgrund ihrer „Nationalphysiognomie" zu erkennen glaubte, setzten die Behörden an.'^ Sinti bzw. Personen, die, wie es im Schriftwechsel der Behörden hieß, nach ihrem