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German Pages 298 Year 2018
Wolfgang Göderle, Manfred Pfaffenthaler (Hg.) Dynamiken der Wissensproduktion
Histoire | Band 122
Wolfgang Göderle, Manfred Pfaffenthaler (Hg.)
Dynamiken der Wissensproduktion Räume, Zeiten und Akteure im 19. und 20. Jahrhundert
Hergestellt mit Unterstützung des Graduiertenkollegs »Das Reale in der Kultur der Moderne« der Universität Konstanz Publiziert mit Unterstützung der Universität Graz
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4041-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4041-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Vorwort | 7 Dynamiken der Wissensproduktion Einleitung
Wolfgang Göderle, Manfred Pfaffenthaler | 9
RÄUMLICHE DYNAMIKEN: ZENTRUM UND P ERIPHERIE Quarantines and Geoepidemiology The Protracted Sanitary Relationship between the Habsburg and Ottoman Empires
Christian Promitzer | 23 Triangulation politischer Einflusssphären Die Vermessung Südosteuropas im Spiegel der österreichisch-ungarischen Balkanpolitik
Manfred Pfaffenthaler | 57 On the Implications of Creating Knowledge in Imperial Russia The Ethnographic Conceptualization of the Caucasus in the Mid-Nineteenth Century
Dominik Gutmeyr | 91
ZEITLICHE DYNAMIKEN: KONTINUITÄTEN UND BRÜCHE Heimat und Welt in konzentrischen Kreisen Wissenskanon und Vorstellungswelten in slowenischen Volksschullesebüchern um 1900
Karin Almasy | 123 Experten im Profil Museumsbedienstete als Wissensressource und Distinktionsmerkmal
Theresa Rosinger-Zifko | 149
Das Wissen des modernen Staates Standardisierung und Internationalisierung als externe Einflussfaktoren in der staatlichen Wissenserzeugung
Wolfgang Göderle | 175
DYNAMIKEN ZWISCHEN AKTEUREN: I NSTITUTIONEN UND EXPERTI NNEN Wege des Wissens Aspekte einer Wissensgeschichte der Sprachforschung am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert am Beispiel Hugo Schuchardts
Johannes Gregor Mücke | 207 The Expert as Messenger Media Philosophy and the Epistemology of the Inexact Sciences
Christian Dayé | 239 Zwischen Interpretation und Gestaltung Translation in den Sozial- und Geisteswissenschaften
Rafael Y. Schögler | 259 AutorInnen | 293
Vorwort
Der Konzeption des vorliegenden Sammelbandes liegt ein Workshop mit dem Titel Dimensionen des Wissens: normativ – kreativ – subversiv zu Grunde, der im Oktober 2015 an der Karl-Franzens-Universität Graz stattgefunden hat. Für die Keynote und Diskussion konnte Peter Burke gewonnen werden, der mit profunder Kenntnis der „Wissensgeschichte“ und mit wertvollen Kommentaren den Workshop ungemein bereicherte. Der Workshop lieferte spannende Impulse für die jeweiligen Arbeiten, doch zeigte er auch, dass eine transdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Thema „Wissen“ eine herausfordernde Aufgabe ist, zumal das Thema ein sehr breit gefasstes ist. Letztlich spitzte sich die Diskussion auf die Frage nach der Wissensproduktion zu, der nun auch der Fokus des vorliegenden Buches gilt. Einige der AutorInnen dieser Publikation waren bereits am Workshop beteiligt, andere konnten neu dafür gewonnen werden. Allen Personen, die an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben, gilt unser großer Dank, insbesondere natürlich den AutorInnen, die mit ihren spannenden Beiträgen diesen Band überhaupt erst ermöglichten. Besonders bedanken möchten wir uns auch bei Peter Burke und Michaela Wolf, die uns durch ihre inspirierenden Diskussionsbeiträge zu diesem Buch motiviert haben. Unser Dank gilt ebenfalls dem transcript Verlag, besonders Katharina Wierichs, die die Entstehung des Buches professionell und mit viel Geduld begleitet hat, sowie unseren Lektorinnen Ulrike Freitag und Evelyn Schalk. Nicht zuletzt möchten wir uns bei allen Fördergebern bedanken, namentlich bei der geisteswissenschaftlichen Fakultät und dem Vizerektorat für Forschung der Karl-Franzens-Universität Graz, beim Land Steiermark sowie beim Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ der Universität Konstanz. Die Herausgeber
Dynamiken der Wissensproduktion Einleitung W OLFGANG G ÖDERLE (G RAZ ), M ANFRED P FAFFENTHALER (K ONSTANZ )
Versteht man Wissen als das Ergebnis des Bedürfnisses Ordnung in die Welt zu bringen, so macht es Sinn, bei der Frage nach der Wissensproduktion, die grundlegenden Dimensionen menschlicher Aktivität als Analysekategorie zu wählen. Im vorliegende Sammelband geschieht dies, indem der räumlichen, zeitlichen und sozialen bzw. kulturellen Dimension der Wissensproduktion besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Damit orientiert sich der Band konzeptionell zunächst an Peter Burkes Social History of Knowledge, in der die drei Dimensionen geographies of knowledge, chronologies of knowledge und sociologies of knowledge den analytischen Rahmen bilden.1 Burke beschreibt darin die für ihn elementaren Wissenspraktiken Sammeln, Analysieren, Verbreiten und Anwenden, deren Zusammenwirken er als Kennzeichen einer sich etablierenden Wissensgesellschaft versteht. Die Geburt der Wissensgesellschaft verortet Burke in der Frühen Neuzeit und meint damit, den Beginn der allmählichen Durchdringung breiter Gesellschaftsbereiche mit systematischem Wissen, also dem, was gemeinhin als wissenschaftliches Wissen firmiert.2 Bevor genauer auf die Konzeption des Sammelbandes eingegangen wird und die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt werden, bedarf es einer begrifflichen Klärung, die dem Titel des vorliegenden Buches geschuldet ist.
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BURKE Peter, Social History of Knowledge II. From the Encyclopédie to Wikipedia,
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BURKE Peter, Social History of Knowledge. From Gutenberg to Diderot. Cam-
Cambridge/Malden 2012, 3 ff., 185. bridge/Malden 2000.
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Das Bewusstsein um die soziale Situiertheit von Wissen, das Burkes Arbeit auszeichnet, gründet in seiner langjährigen Beschäftigung mit Karl Mannheim, der in seinem 1929 erstmals erschienen Werk Ideologie und Utopie die Seinsverbundenheit allen Wissens betonte.3 Während Mannheims Interesse besonders auch der Funktion der Wissenschaft und ihrer Institutionen innerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen galt, wandte sich Ludwik Fleck nur wenige Jahre später bereits der Herstellung wissenschaftlicher Erkenntnisinhalte zu. In seiner 1935 erschienen Arbeit Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache beschreibt Fleck mit den Begriffen Denkstil und Denkkollektiv die jeweilig spezifisch gerichtete Wahrnehmung einer Erkenntnisgemeinschaft, die die empirische Arbeitsweise, wie auch die Verarbeitung des Wahrgenommenen selbst, wesentlich bestimmt.4 Die Bedeutung von Erkenntniskollektiven sollte aber erst wieder rund 30 Jahre später bei Thomas S. Kuhn, der sich besonders für Diskontinuitäten in der Geschichte der Wissenschaften interessierte, in den Fokus rücken. Kuhn bezeichnet solche Diskontinuitäten als Paradigmenwechsel, die dann auftreten, wenn das herrschende Paradigma den Herausforderungen durch die zunehmend auftretenden Anomalien nicht mehr standhalten kann und es in Folge des damit einhergehenden Geltungsverlusts zu einer kollektiven Neuausrichtung der Erkenntnisgemeinschaft kommt.5 Mit den Arbeiten von Fleck zum Denkstil und mit Kuhns Analyse der Strukturen wissenschaftlicher Revolutionen, geht eine Hinwendung zur Frage nach der Entstehung von Wissen innerhalb des jeweiligen wissenschaftlichen Kontextes einher. Dieses Interesse an science in the making wurde ab den späten 1970erJahren auch zum zentralen Drehpunkt der Laborstudien, wie sie von Bruno Latour, Steve Woolgar und Karin Knorr-Cetina betrieben wurden.6 Letztere beschreibt
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Burke, Social History 16 f.; Burke, Social History II, 1–4; MANNHEIM Karl, Ideologie
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FLECK Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Ba-
und Utopie, Bonn 1929. sel 1935; vgl. dazu auch RHEINBERGER Hans-Jörg, Historische Epistemologie, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhard (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, 32–45, 37. 5
KUHN Thomas, The Structure of Scientific Revolutions, Chicago 1962; vgl. dazu auch
6
LATOUR Bruno/WOOLGAR Steve, Laboratory Life. The Construction of Scientific
Rheinberger, Historische Epistemologie 38 f. Facts, Princeton NJ 1979; KONORR-CETINA Karin, The Manufacture of Knowledge. An Essay on the Constructivist and Contextual Nature of Science, Oxford 1981.
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den Erkenntnisprozess innerhalb bestimmter Wissenskulturen (epistemic cultures), der wesentlich von sozialen Praktiken, wie der Interaktion zwischen ExpertInnen, und den Zugriff auf Ressourcen abhängig ist.7 Mit dem Begriff der Wissenskultur findet bei Knorr-Cetina aber auch eine Sensibilisierung für die symbolische Dimension von Wissenspraktiken statt, die den praxeologischen Zugang um eine Bedeutungsebene erweitert.8 Science in the making zu untersuchen bedeutet für Latour und Woolgar dagegen vor allem die Aufzeichnungs- und Repräsentationstechniken des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in den Blick zu nehmen. Diese Inskriptionspraktiken, wie etwa das Einschreiben von Zahlen in Tabellen und deren weitere Transformation zu Diagrammen, bilden Referenzketten entlang derer die Zirkulation von Referenz und damit der Erkenntnisweg untersucht werden kann.9 Etwas früher – als die hier gerafft skizzierte Praxiswende – vollzog sich eine andere einflussreiche Wende, deren Aufmerksamkeit aber vielmehr der Enthüllung des engen Zusammenhangs von Macht und Wissen galt. Insbesondere die Arbeiten von Michel Foucault im Vorfeld des linguistic turn haben dazu beigetragen, das Interesse auf diskursive Aspekte der Herstellung und Zirkulierung von Wissen zu lenken. Mit der Beschreibung und Analyse der episteme – also der vorgängigen Bedingungen, die die Produktion von Wissen in räumlich und zeitlich abgegrenzten Kontexten ermöglichen und bestimmen – lud Foucault 1966 zur archéologie des sciences humaines ein.10 Mit der L’Archéologie du savoir, in der er nach den Voraussetzungen fragt, unter denen Aussagen zu Wissen werden, erreicht Foucaults diskursanalytische Methode auch bereits ihren Höhepunkt. In Abgrenzung zur klassischen Ideengeschichte, die vor allem nach dem Ursprung von „Ideen“ sucht, gilt seine Aufmerksamkeit darin vielmehr Diskontinuitäten und
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KNORR-CETINA Karin, Epistemic Cultures: How the Sciences Make Knowledge, Cambridge MA 1999; vgl. dazu auch BAUER Susanne, Science Studies, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhard (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, 55–67.
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KNORR-CETINA Karin, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher
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Latour/Woolgar, Laboratory Life; LATOUR Bruno, Zirkulierende Referenz. Boden-
Wissensformen, Frankfurt am Main 2002, 21 f. stichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002, 36–95; vgl. dazu auch Bauer, Science Studies 59. 10 FOUCAULT Michel, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966.
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Unterschieden.11 Foucaults analytisches Interesse konzentrierte sich auf Komplexe sprachlicher Äußerungen, sogenannte Diskurse, und seine Suche nach den Grenzen dessen, was gesagt werden kann, schloss auch eine Suche nach dem, was in einem bestimmten sozialen, räumlichen und zeitlichen Rahmen gewusst werden kann, mit ein.12 Sein konsequentes Verfolgen und Sichtbarmachen von Machtbeziehungen im Kontext der Wissensproduktion stieß auf großes Interesse und zudem auch die Historisierungsarbeit, die seine einschlägigen Studien durchzog. Die Relevanz von Foucaults Arbeiten, auch für zeitgenössische wissenschaftsgeschichtliche Studien, schien augenfällig.13 Spätestens mit der breiten Rezeption von Saids Orientalism nach 1978 wurde deutlich, dass sich darauf eine – von einem heterogenen Diskursbegriff ausgehende – Annäherung an eine weitestgehend auf der Analyse von Wissen, dessen Kontexten und Herstellungsbedingungen basierende Geschichte „westlicher“ Dominanz aufbauen ließ.14 Diese Entwicklung vollzog sich weitestgehend abgetrennt von den Science Studies, deren Forschungsprogramm implizit eine Sonderstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung gegenüber anderen Arten der Wissensproduktion evoziert.15 Wenngleich diese strenge Trennung der Forschungspraxis sukzessive unterlaufen wurde, wurden erst in jüngster Zeit und in Folge der Etablierung neuer Forschungsparadigmen – besonders der Globalgeschichte sowie der new imperial history – Deutungsrahmen angeboten, die den Anspruch verfolgen, die beiden dominanten methodischen Perspektiven auf einer gemeinsamen Ebene zu verhandeln.16
11 FOUCAULT Michel, L’archéologie du savoir, Paris 1969 ; vgl. dazu auch RUOFF Michael, Foucault-Lexikon, Paderborn 2007, 33 f. 12 LANDWEHR Achim, Historische Diskursanalyse, Frankfurt am Main/New York 2009, 15 ff. 13 WHITE Hayden, Foucault Decoded. Notes from Underground, in: History and Theory 17/1 (1973), 23–54, 26 ff. 14 SAID Edward W., Orientalism, New York 1978. 15 Zur Rolle von Diskursanalyse in der Wissenschaftsgeschichte SARASIN Philipp, Diskursanalyse, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/Carsten Reinhard (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, 45–54, 49; vgl. auch SPEICH CHASSÉ Daniel/GUGERLI David, Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, in: Traverse 1 (2012), 85–100, 93. 16 FISCHER-TINÉ Harald, Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus, Zürich/Berlin 2013, 7 f.; vgl. SCHAFFER Simon/ROBERTS Lissa/RAJ Kapil/DELBOURGO James
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Abseits des Zugangs einer Sozialgeschichte des Wissens, wie von Burke vertreten, wurden jüngere Forschungsprogramme artikuliert, die Wissen auch in einer historischen Perspektive als gesellschaftliche Ressource auffassen, die nicht ausschließlich in ihrer wissenschaftlichen Form auftritt, sondern vielfältigste Ausgestaltungen kennt.17 Ausgehend von der Beobachtung einer stetig expandierenden Wissensgesellschaft hat sich dabei ein Forschungskonsens etabliert, der die sukzessive Ausweitung der Erkenntnisinteressen und die Nutzbarmachung unterschiedlicher methodischer und theoretischer Zugänge für einen größeren kulturgeschichtlichen Kontext postuliert.18 Wissensgeschichte hieße damit, dass die „gesellschaftliche Produktion und Zirkulation von Wissen untersucht werden soll“.19 Diese Auffassung einer Wissensgeschichte ist bislang vornehmlich im deutschsprachigen Raum verankert, was primär darauf zurückzuführen ist, dass das Feld im französisch- und englischsprachigen Diskurs anderweitig besetzt und in beiden Fällen besser etabliert ist.20 Das oben angeführte Postulat hat, das lässt sich soweit festhalten, eine gewisse Wirkung entfaltet, ob das für den Bereich der Technikgeschichte stärker gilt als für den der Wissenschaftsgeschichte lässt sich dabei noch nicht festhalten.21
(Hg.), The Brokered World. Go-Betweens and Global Intelligence 1770–1820, Sagamore Beach 2009. 17 Vgl. FRIEDRICH Markus, Die Geburt des Archivs. Eine Wissensgeschichte, München 2013; MULSOW Martin, Prekäres Wissen – Eine andere Ideengeschichte der Frühen Neuzeit, Berlin 2012; SARASIN Philipp, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36/1 (2011), 159–172. 18 VOGEL Jakob, Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte. Für eine Historisierung der „Wissensgesellschaft“, in: Geschichte und Gesellschaft 30/4 (2004), 639–660, 644 ff.; Speich Chassé/Gugerli, Wissensgeschichte 93 ff. 19 Sarasin, Wissensgeschichte, 164 (Hervorhebung im Original). 20 Burke, Social History; Burke, Social History II. 21 Eine Schwierigkeit in der Identifikation genuin wissensgeschichtlicher Arbeiten besteht darin, dass diese die Wissensgeschichte nur in wenigen Fällen im Titel tragen. Als Beispiele, für die Technikgeschichte: POPPLOW Marcus, Geschichte der Technik im Mittelalter, München 2010. Zur Neueren und Neuesten Geschichte: SPEICH CHASSÉ Daniel, Die Erfindung des Bruttosozialprodukts. Globale Ungleichheit in der Wissensgeschichte der Ökonomie, Göttingen 2013; VOGEL Jakob, Ein schillerndes Kristall. Eine Wissensgeschichte des Salzes zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Köln/Wien/ Weimar 2007. Für die Frühneuzeit siehe die Einleitung bei BRENDECKE Arndt/
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Der Verwendung des Begriffs der Wissensproduktion im vorliegenden Band gingen zwei Überlegungen voran: Erstens soll mit dem Begriff darauf verwiesen werden, dass der Fokus zunächst dem erst im Entstehen begriffenen Wissen gilt. Wissen ist nicht bloß Information, sondern steht am vorläufigen Ende eines Erkenntnisprozesses, der die Generierung und Verarbeitung von Daten, Versuch und Irrtum sowie Kritik und deren Widerlegung miteinschließt.22 Nimmt man diesen Prozess ernst, muss er mit einem bestimmten Maß an Professionalisierung einhergehen, die sich etwa in konkreten Prüfungs- und Normierungsverfahren manifestiert. Somit geht es im vorliegenden Band zweitens nicht um Alltagswissen oder die Herstellung von Common Sense, sondern um systematisches Wissen, also um Wissensproduktion im Kontext der Wissenschaft und ihrer Institutionen.23 Dazu werden hier nicht nur Forschungseinrichtungen im engeren Sinne gezählt, sondern auch wissenschaftsnahe Institutionen wie Museen oder Verlage, die ebenfalls zur Wissensproduktion und zur Festigung eines bestimmten Wissenskanons beitragen. Diese Hinwendung zum systematischen Wissen dient der begrifflichen Schärfung; keinesfalls soll damit die Bedeutung anderer Erkenntniswege und Wissensformen geschmälert oder ihre Wirkung auf die Wissensproduktion ausklammern werden. In ihrer jüngst erschienenen Einführung zur Wissenschafts- und Wissensgeschichte nennen Staffan Müller-Wille, Carsten Reinhardt und Marianne Sommer eine Reihe idealtypischer Orte der Wissensproduktion, die vom Laboratorium über das Feld bis hin zur Bibliothek reicht. Obwohl der Erkenntnisprozess an solchen Orten oft der Logik der Entrücktheit folgt, müssen sie doch in ihren jeweiligen räumlichen, zeitlichen und institutionellen Kontexten untersucht werden. Entscheidend für ihre Bedeutung ist „die spezifische Weise, in der sich an diesen Or-
FRIEDRICH Markus/FRIEDRICH Susanne (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008. 22 OERTZEN Christine von, Die Historizität der Verdatung: Konzepte, Werkzeuge und Praktiken im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 25/4 (2017), 407–434. Zum für die Frühneuzeit etablierten Informationsbegriff vgl. Brendecke et al., Information. 23 Clifford Geertz beschreibt Common Sense als einen „relativ geordneten Gesamtkomplex bewussten Denkens“. Der „Common Sense stellt die Welt als vertraute Welt dar, die jedermann kennen kann und kennen sollte […].“ GEERTZ Clifford, Common sense als kulturelles System, in: Clifford Geertz, Dichte Beschreibungen. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt am Main 1983, 261–288.
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ten jeweils materiell Kulturen und Praktiken mit sozialen Hierarchien und politischen wie ökonomischen Kontexten verschränken“.24 Daran anknüpfend wird Wissensproduktion als ein Prozess verstanden, der ein hybrides Ensemble aus Praktiken, Techniken und Artefakten umfasst und der in der Intention geschieht, möglichst nachprüfbare und weiter verarbeitbare Ergebnisse zu liefern.25 Dass die sich daraus herleitende vermeintliche Objektivität letztlich weniger über die Ergebnisse als mehr über die epistemische Rahmung ihres Herstellungsprozesses aussagt, haben nicht zuletzt Lorraine Daston und Peter Galison eindrucksvoll gezeigt.26 Das macht aber auch deutlich, dass Wissensproduktion nicht in einem diskursunabhängigen Raum stattfindet, sondern dass dieser, im Gegenteil, wesentlich von Machtstrukturen und hierarchischen Verhältnissen bestimmt ist. Wissensproduktion, so wie hier verstanden, findet innerhalb eines Spannungsfelds statt, das von unterschiedlichen Dynamiken bestimmt wird, die die Herstellung von Wissen voranbringen oder mitunter auch behindern können. In Anlehnung an Peter Burke und die oben genannten Dimensionen des Wissens werden räumliche, zeitliche und – im weitesten Sinne – soziale Dynamiken unterschieden, die auch der Kapitelstruktur des vorliegenden Buches zugrunde liegen. Die genannten Dynamiken helfen den analytischen Blick zu schärfen, jedoch muss dies im Bewusstsein geschehen, dass sie zwar unterschiedlich stark wirken, aber letztlich immer copräsent sind und deshalb nicht ausschließlich gedacht werden können. Der hier vorgenommene Versuch Wissensproduktion konzeptionell zu fassen, soll eine Möglichkeit bieten, diesen grundsätzlich sehr breit und oft unspezifisch verwendeten Begriff handhabbarer zu machen. Gleichzeitig bietet eine solche Konzeption Anknüpfungspunkte für verschiedene Disziplinen und Methoden. So reflektiert das Beitragsspektrum auch einen breiten fachlichen Hintergrund, von Soziologie und Translationswissenschaft zu Linguistik und Geschichte sowie verschiedene methodische Schwerpunktsetzungen, die von praxeologischen über diskursanalytische bis hin zu institutionenzentrierten Ansätzen reichen. In Folge werden die einzelnen Beiträge kurz vorgestellt.
24 MÜLLER-WILLE Staffan/REINHARDT Carsten/SOMMER Marianne: Wissenschaftsgeschichte und Wissensgeschichte, in: Marianne Sommer/Staffan Müller-Wille/ Carsten Reinhard (Hg.), Handbuch Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 2017, 2–18, 11. 25 Demnach hat die Wissensproduktion epistemische Dinge im Blick, also Objekte im weitesten Sinne, aber auch Strukturen, Funktionen oder Relationen, „denen die Anstrengung des Wissens gilt“. RHEINBERGER Hans-Jörg, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt am Main 2006, 27; vgl. dazu auch Latour, Referenz. 26 DASTON Lorraine/GALISON Peter, Objectivity, New York 2007.
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R ÄUMLICHE D YNAMIKEN : Z ENTRUM
UND
P ERIPHERIE
Die ersten drei Beiträge verbindet die Frage nach den räumlichen Dynamiken, die zwischen imperialen Zentren – auch im Sinne von Latours centres of calculation – und vermeintlich peripheren Ränder auszumachen sind. Die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, denen dabei nachgegangen wird, sind nicht nur vielschichtig, sondern oft auch sehr fragil. Gerade in imperialen Kontexten bringt die räumliche Differenzierung meist auch eine hierarchische mit sich, was sich mitunter in der Produktion von administrativen Wissen spiegelt, das letztlich auch der Durchsetzung machtpolitscher Interessen diente. Christian Promitzers Aufsatz zur Genese von Seuchenschutzmaßnahmen entlang der habsburgischen Militärgrenze leistet einen wichtigen Beitrag zur Schließung einer enormen Forschungslücke. Promitzer zeigt auf, wie ein seuchenmedizinischer Paradigmenwechsel im langen 19. Jahrhundert den Umgang mit Raum – in diesem Fall: Grenzraum – in Südosteuropa über die Erzeugung und Zirkulation neuen Wissens entscheidend prägt und verändert, und wie hegemoniale orientalistische Überlegungen gezielte Diskriminierungen einzelner Gruppen auch über den Rückbau der klassischen Quarantäne hinaus erlauben. Die Aufrechterhaltung der Differenz zwischen einem sich als „modern“ verstehenden Habsburgerreich und einem „rückständig“ imaginierten Orient erweist sich dabei als unhinterfragbares Kernelement. Direkt mit der Herstellung räumlichen Wissens über Südosteuropa befasst sich der Beitrag von Manfred Pfaffenthaler, der anhand der kartographischen Vermessung von Bosnien-Herzegowina, Griechenland und der europäischen Teile des Osmanischen Reiches durch das militärgeographische Institut des Habsburgerreiches analysiert, inwieweit die Produktion vermeintlich objektiven Wissens mit der Balkanpolitik Österreich-Ungarns korreliert. Es werden dabei Anhaltspunkte freigelegt, die eine Ausdeutung im weiteren Kontext kolonialer Praktiken nahelegen. Auch im dritten und letzten Beitrag des ersten Abschnitts, Dominik Gutmeyrs Studie über die Erzeugung ethnographischen Wissens im imperialen Russland des langen 19. Jahrhunderts über den Kaukasus, begegnet man erneut den zentralen analytischen Strängen, die bereits in den Texten von Promitzer und Pfaffenthaler präsent sind. Während insbesondere Promitzer den Orientalismusbegriff Saids für Südosteuropa gewinnbringend anwendet, stellt Gutmeyr souverän die Analogie zur russischen „Frontier“ des 19. Jahrhunderts her, zum Kaukasus. In der Analyse der Erzeugung von Wissen über die Kaukasusvölker durch die imperiale russische Herrschaft wirft er zentrale weiterführende Fragen auf, insbesondere nach den
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Akteuren dieser Entwicklung, im Sinne von Burbank/Cooper also: nach den Mittelsleuten und Repräsentanten, die sich noch an mehreren Orten in diesem Band wiederfinden werden.
Z EITLICHE D YNAMIKEN : K ONTINUITÄTEN UND B RÜCHE Im zweiten Kapitel wird die zeitliche Dynamik in den Blick genommen. Dabei rückt die Frage nach der Überlieferung von Wissen und den damit in Verbindung stehenden Kontinuitäten und Zäsuren genauso in den Fokus, wie die Historizität von Erkenntnisprozessen. Wie im Beitrag von Karin Almasy gezeigt wird, sollte etwa die im Schulunterricht des 19. Jahrhunderts vermittelte Geschichte Kontinuität mit einer identitätsstiftenden Vergangenheit suggerieren, um so die Sympathie für die eigene „Heimat“ zu stärken. Dass die solchermaßen forcierte „Vaterlandsliebe“ das Risiko tendenziell gewaltbereiter nationaler Exklusion in sich birgt, führt die große Katastrophe des Ersten Weltkrieges deutlich vor Augen. Als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts stellt der Erste Weltkrieg eine tiefe Zäsur in der Geschichtsschreibung dar. Dabei wird aber oft wenig beachtet, dass dieser Bruch auf institutioneller Ebene ganz konkret erfahren wurde und zwar gerade von jenen Einrichtungen, die sich der Bewahrung der Vergangenheit verschrieben hatte, wie etwa öffentliche Museen. Im Untertitel des vorliegenden Buchs sind neben den Räumen und Akteuren des 19. und 20. Jahrhunderts auch die „Zeiten“ angeführt, womit auf die inhärente Historizität von Wissen- und Wissensproduktion verwiesen werden soll. So analysiert etwa Wolfgang Göderle Bedingungen und Möglichkeiten statischer Methoden im Kontext des habsburgischen Verwaltungsapparates. Spätestens mit diesem Beitrag wird auch der zentraleuropäische Schwerpunkt dieses Sammelbandes deutlich, wobei seine konzeptionelle Ausrichtung Richtung Ost und West offen bleibt, wie etwa die Beiträge von Dominik Gutmeyr, Christian Dayé und Rafael Schögler belegen. Karin Almasy geht dem Aufbau kanonisierten Wissens in slowenischsprachigen Schullesebüchern im Habsburgerreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach. Dabei legt sie behutsam die Grenzen zwischen dem frei, was junge StaatsbürgerInnen zu einer bestimmten Zeit wissen mussten bzw. konnten und jenen Formationen, die sich in diskursiver Ausverhandlung befanden und über die kein letztgültiges Wissen angeboten werden konnte, was vielfach zu einer umso intensiveren Betonung der umstrittenen Inhalte führte. Im Text von Theresa Rosinger-Zifko rückt das Museum an einer Epochenschwelle in den Mittelpunkt: Anhand des Naturhistorischen Museums in Wien
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und des Landesmuseums Joanneum in Graz zeigt sie auf, wie sich Bedingungen und Anforderungen an das leitende Museumspersonal als Wissensresource mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Ausrufung der Ersten Republik veränderte. Zur Illustration der umfassenden archivalischen Quellenlage wird dabei auf einen Korpus an facheinschlägigen zeitgenössischen Artikeln in Fachzeitschriften zurückgegriffen. Wolfgang Göderle unterwirft die Institutionalisierung der Administrativstatistik im Habsburgerreich zwischen ca. 1820 und 1870 einer umfassenden wissenshistorischen Kontextualisierung und setzt den Auf- und Ausbau der einschlägigen Einrichtungen in den Zusammenhang mit der breiteren Staats- und Verwaltungsentwicklung. Vor dem Hintergrund der etablierten Fragen der new imperial history zeigt er auf, wie sich nicht nur Anforderungen an das staatliche Personal verändern, sondern wie auch eine Ausdifferenzierung und Spezialisierung innerhalb der Institution stattfindet, die eine breitere Rückbindung an systemtheoretische Überlegungen erlaubt.
D YNAMIKEN ZWISCHEN AKTEUREN : I NSTITUTIONEN UND E XPERT I NNEN Der Fokus des letzten Kapitels gilt den Dynamiken zwischen Akteuren, wobei die Frage nach Institutionen und ExpertInnen von besonderem Interesse ist.27 So kann etwa die Betrachtung einer Forscherbiographie einen spannenden Einblick in die Verflechtungen eines weitausgreifenden Wissenschaftsnetzwerkes um 1900 gewähren, wie der Beitrag von Johannes Mücke vormacht. Darüber hinaus gilt die Aufmerksamkeit dieses Kapitels jenen Dynamiken, die sich zwischen institutionalisierten Handlungsfeldern und den in solchen Feldern eingebundenen AkteurInnen erkennen lassen, wie auch zwischen ExpertInnen und Politik und Gesellschaft, sei es als Förderung des Wissenschaftsbetriebs oder als breite gesellschaftliche Akzeptanz innerhalb eines Kanonisierungsprozesses. Johannes Mücke geht in seinem Aufsatz dem Wirken des Linguisten Hugo Schuchardt nach und analysiert dabei sowohl auf einer mikrohistorischen Ebene die Arbeits- und Lebenskontexte des Wissenschaftlers als auch auf der Netzwerkebene die Beziehungen, in die Schuchardt eingebettet war, und die Verbindungen, die er daraus zur Wissensproduktion nutzbar machen konnte. Der umfangreiche Nachlass, den Schuchardt hinterlassen hat, erlaubt exemplarische Rückschlüsse auf wissenschaftliche Netzwerke und deren Dynamiken im Europa der zweiten
27 Auf nicht-menschliche Akteure kann an dieser Stelle leider nicht eingegangen werden.
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Hälfte des 19. Jahrhunderts und eröffnet enorme analytische Potentiale, die Mücke an dieser Stelle skizziert. Christian Dayés Text widmet sich der epistemischen Rolle, die ExpertInnen in den „unexakten Wissenschaften“ zugeschrieben wurde, also jenen strategisch wichtigen Feldern der Wissensproduktion, die zur Gewinnung von Ergebnissen nicht auf streng formale Verfahren zurückgreifen konnten. Ausgehend von der RAND Corporation und der Delphi-Methode verbindet Dayé die Überlegungen von Sibylle Krämer zur Mediation durch Vertrauenswürdigkeit mit der Frage nach der Rolle von ExpertInnen zur Wissensgewinnung im Kontext des Kalten Krieges der 1960er-Jahre. Der Beitrag bietet einen Einblick in die Rolle von Wissensproduktion im breiten Kontext der geopolitischen Herausforderungen dieser Zeit. Rafael Schögler präsentiert in seinem Beitrag den gegenwärtigen Stand seiner Forschung zur Übersetzung soziologischer „Klassiker“. Ausgehend von der Beobachtung, dass Übersetzungen neues Wissen hervorbringen, wirft er die Frage auf, ob sich Aspekte der Produktion neuen Wissens und der Reproduktion bestehenden Wissens im Kontext von Translaten wissenschaftlicher Texte überhaupt trennen lassen. Auf der Grundlage der kanonisierten Texte von Max Weber und Georg Simmel entwickelt Schögler seine Analyse entlang von Linien, die bislang an der Schnittstelle von Soziologie und Translationswissenschaft wenig Berücksichtigung fanden, die darüber hinaus aber auch zu einer Wissensgeschichte der Verbreitung und Kanonisierung soziologischen Denkens im 20. Jahrhundert einen hochrelevanten Beitrag leisten.
L ITERATUR BRENDECKE Arndt/FRIEDRICH Markus/FRIEDRICH Susanne (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin 2008. BURKE Peter, Social History of Knowledge. From Gutenberg to Diderot. Cambridge/Malden 2000. BURKE Peter, Social History of Knowledge II. From the Encyclopédie to Wikipedia, Cambridge/Malden 2012. DASTON Lorraine/GALISON Peter, Objectivity, New York 2007. FISCHER-TINÉ Harald, Pidgin-Knowledge. Wissen und Kolonialismus, Zürich/Berlin 2013. FOUCAULT Michel, L’archéologie du savoir, Paris 1969. FOUCAULT Michel, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966.
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Quarantines and Geoepidemiology The Protracted Sanitary Relationship between the Habsburg and Ottoman Empires C HRISTIAN P ROMITZER (G RAZ )
I NTRODUCTION During the long 19th century Europe’s defense measures against epidemics, in particular with respect to maritime and terrestrial quarantines, changed drastically and more than once. Medical historians have demonstrated that these changes were propelled on every occasion by divergent lines of debate centering on the nature of epidemic diseases – namely plague, yellow fever and cholera –, by arguments weighted differently about the possible negative consequences of quarantines on international trade, as well as by reflections on the role of geoepidemiology for the spread of disease. Within this context it became apparent that epistemic shifts in the explanation of the epidemic diseases and the production of the respective medical knowledge, of how to repel them, appeared to be partly dependent on external developments rather than on scientific progress alone. This article seeks to tackle two issues: within a European context, the extant historical research on epidemic defense – developing around the famous Garrison Lecture of 1948 by Erwin Heinz Ackerknecht (“Anticontagionism between 1821 and 1867”) and Peter Baldwin’s more recent studies on “Contagion and the state” with respect to cholera – has mainly concentrated on Western Europe, Germany and Scandinavia, while it only superficially addressed the bulk of Central, Eastern
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and Southeastern Europe.1 Studies which focus on the relationship between the Habsburg and the Ottoman Empires in their fight against infectious diseases and their central role in the establishment of preventive measures against epidemics are still thin on the ground.2 Therefore we will try to shed some light on the developments in these parts of the European continent. Consequently, this paper will geographically focus on the respective developments of knowledge production in the Habsburg and Ottoman Empires. Among epidemic diseases only plague and, to a lesser extent, cholera will be addressed here, since the foci of yellow fever were to be found in Latin America and in Western Africa, so that this disease did not play an important role in the medical discussions within the given geographic framework. The second question refers to the developments in epidemic defense during the transition from classical quarantinism toward measures of precaution under the influence of bacteriology. Peter Baldwin has demonstrated that neoquarantinism – as he calls the predominant revisionist system of epidemic defense in the age of germ theory – by several features has to be distinguished from the old quarantine system of the pre-bacteriological period, from which it is chronologically (often. but not always) separated by a temporary dominance of localist theories of pathogenesis which come out against the use of quarantines. But our point is a different one: if we work on the premise that the medical authorities of the Habsburg Empire in the pre-bacteriological age suspected each person coming from the Ottoman Empire as a potential disease carrier, then a possible contribution of this paper would be, to pose and reflect the question, whether the transition towards the age of bacteriology implied that this general suspicion would be replaced by the imagination of concrete risk groups, among which Muslim Hajjis would be the most obvious group. Such an ideological complex would offer the possibility to
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ACKERKNECHT Erwin H., Anticontagionism between 1821 and 1867: The Fielding H. Garrison Lecture, in: International Journal of Epidemiology 38/1 (2009), 7–21; BALDWIN Peter, Contagion and the state, 1830–1930, Cambridge et al. 2005 (1999).
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Forerunners in this respect are: CHAHROUR Marcel, ‘A civilizing mission’? Austrian medicine and the reform of medical structures in the Ottoman Empire, 1838–1850, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences 38 (2007), 687–705, esp. 689–690; KERNBAUER Alois, Aspekte der türkisch-österreichischen Beziehungen auf dem Gebiete der Medizin zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Arslan Terzio lu/Erwin Lucius (eds.), Türk tıbbının batılıla ması. Verwestlichung der türkischen Medizin, Istanbul 1993, 134–145, esp. 135–137.
Q UARANTINES
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G EOEPIDEMIOLOGY
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examine the impact of Orientalist stereotypes in the medical discourse of the West.3
CENTRAL EUROPE: KEEPING THE GEOEPIDEMIOLOGICAL THREAT AT BAY “Oriental Plague” and “Asiatic Cholera”, as their then (then) common contemporary epithets do allude, were perceived as “coming from the East.” In the first half of the 19th century, the Ottoman Empire was thought to be one of the main seats of the plague and a central hub for the transmission of cholera. It was apparent that since the Serbian uprisings and the Greek Revolution, the Ottoman Empire was losing its grip among its Christian (primarily Balkan-based) populations. Lagging behind Western and Central Europe with respect to the requirements effective, modern statehood, and its rating as a Great Power its position became more and more untenable. Under these circumstances Ottoman reformers who wanted to meet the agenda of modernity had to care for the provision of superior technical knowledge from outside – from the “West.” This was also the case with the establishment of an Ottoman system of quarantines in the late 1830s. Such attempts at modernization, however, would only increase the Empire’s dependence on other European Great Powers. Among the predicaments of the late phase of the Ottoman Empire, the issue of how to organize epidemic defense in the context of demographic threats, was not the faintest. From their inception, Ottoman quarantines were run by Western – or at least Christian (Levantine) – physicians. Actually, the whole system was under the supervision of the Great Powers, a fact which has been addressed to in the hitherto authoritative work on the history of plague in the Middle East by Daniel Pansac (which unfortunately chronologically ends in the mid-19th century)4, but is totally neglected in a recent monograph on Ottoman preventive measures against
3
On the specific form of Orientalism which was hatched in Central Europe cf. most recently: GINGRICH Andre, Orientalismus, in: Johannes Feichtinger/Heidemarie Uhl (eds.), Habsburg neu denken. Vielfalt und Ambivalenz in Zentraleuropa, Vienna/Cologne/Weimar 2016, 156–162.
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PANZAC, Daniel, La peste dans l'Empire ottoman, 1700–1850, Leuven, 1985; cf. VARLIK Nükhet, Plague and empire in the early modern Mediterranean world. The Ottoman experience, 1347–1600, Cambridge et al. 2015.
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the plague.5 Recent studies of Panzac and Chiffoleau also deal with further developments in the 19th century; owing to the origin of their authors, they necessarily focus on French influence on public hygiene matters in the Middle East.6 Our interest, however, is on the contribution, engagement and application of specific medical knowledge, created out of and produced from the Central European context: In contrast to England, France and Germany, the Habsburg Empire had no overseas possessions; this has to do with the fact that after the War of the Holy League (1683–1699) it had won huge landmasses in Southeastern Europe, while it lost its claim on the Spanish throne in the War of the Spanish Succession (1701–1715). The territorial gains made on the Apennine Peninsula in this War were only temporary. Thus, in the 19th century and particularly in its second half, Habsburg ambitions increasingly concentrated on the Balkans and along the lower Danube which were treated as a “natural” area of dominance. The majority of the people living in this area were Christian, although this part of Europe since the late medieval period had been in the possession of the Ottoman Empire. Since that time Bubonic plague had often taken its way along the trade routes from there to Central Europe. Already in the 16th century the Habsburg emperors, in order to safeguard their heartlands, had set up a restricted military area alongside the border with the Ottoman Empire which was governed by the Hofkriegsrat (Imperial War Council). Up to the second half of the 19th century this so-called Military Border, which time and again was expanded, comprised a total length of 1150 miles and reached from the Adriatic Sea in the West to the Austrian border with Russia in the East.7 After the War of the Holy League, which was chronologically framed by the two devastating Viennese plague epidemics of 1679 and 1713, the military purpose of the
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BULMU Birsen, Plague, quarantines and geopolitics in the Ottoman Empire, Edin-
6
PANZAC Daniel, Le docteur Adrien Proust. Père méconnu, précurseur oublié, Paris
burgh 2012. et al. 2003; CHIFFOLEAU Sylvia, Genèse de la santé publique internationale: de la peste d'Orient à l'OMS, Rennes/Beirut 2012. 7
ROTHENBERG Gunther E., The military border in Croatia, 1740–1881. A study of an imperial institution, Chicago 1966; KASER Karl, Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535–1881), Vienna/Cologne/Weimar 1997; PESALJ Jovan, Some observations on the Habsburg-Ottoman border and mobility control policies, in: Marija Wakounig/ Markus Peter Beham (eds.), Transgressing boundaries. Humanities in flux, Vienna et al. 2013, 245–256.
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Military Border was augmented by a new function: it should also serve as a permanent sanitary cordon in order to combat the intrusion of the plague which regularly harassed the Ottoman lands on the Asiatic and European shores of the Bosporus. The cordon system could draw on the manpower of the military staff deployed in the area, so that illegal trespassing of the border was theoretically excluded. To get from Ottoman soil to Habsburg territory one had to use particular border crossings which turned out to be quarantine stations, where persons and commodities were detained for a certain period. Not until the early 1760s, however, would the entirety of the Military Border from the Adriatic Sea to the Austrian Border with Poland be practically subjected under this system.8 Recently, historians have argued that the establishment of this system of terrestrial quarantines at the Habsburg military border vis-à-vis the Ottoman Empire was a literal adoption of the system of maritime quarantines against plague and yellow fever, as they were in use in Spanish, French, Italian and Habsburg port cities of the Mediterranean.9 And indeed, the system of maritime quarantines distinguished between three different levels of epidemic threat emanating from a ship: a clean bill of health, a suspicious bill of health, and – in the worst case and with the longest period of quarantine – an unclean bill of health. Likewise, the length of the quarantine of persons or commodities in terrestrial quarantines depended upon the assessed epidemic situation in the Ottoman Empire which could be free from plague, suspicious or plague-stricken. In times of plague the length of quarantine was initially scheduled for 42 days. But in the early 1760s, when the plague raged in Muntenia (Greater Wallachia), Oltenia (Lesser Wallachia) and Eastern Serbia, this period was doubled: people had to stay 42 days in the outer
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LESKY Erna, Die österreichische Pestfront an der k. k. Militärgrenze, in: Saeculum 8 (1957), 82–106; ROTHENBERG Gunther E., The Austrian sanitary cordon and the control of Bubonic plague, 1710–1871, in: Journal of the history of medicine and allied sciences 28 (1973), 15–23; JESNER Sabine, Habsburgische Grenzraumpolitik in der Siebenbürgischen Militärgrenze (1760–1830). Verteidigungs- und Präventionsstrategien, PHD Diss., University of Graz 2013; ead., ‘Dem Pestübel Einhalt gewähren.’ Seuchenprävention an der Siebenbürgischen Militärgrenze, in: Verband Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine (ed.), Tagungsbericht des 26. Österreichischen Historikertages, St. Pölten 2015, 297–306.
9
BALÁZS Péter/FOLEY Kristie L., The Austrian success of controlling plague in the 18th century. Maritime quarantine methods applied to continental circumstances, in: Kaleidoscope: M vel dés-, Tudomány- és Orvostörténeti Folyóirat/Journal of History of Culture, Science and Medicine 1/1 (2010), 73–89.
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quarantine (“Vor-Kontumaz”) and 42 days in the main quarantine (“Haupt-Kontumaz”), altogether 84 days. This framework held only for some years, however: according to the Sanitary Regulation of 1770 a mandatory quarantine of 21 days – and in times of plague of 42 days, was required to be graded as plague-free.10
ANTICONTAGIONISM
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RECONSIDERED
The use of quarantines as means of precaution against epidemics was based on empirical knowledge. During the second half of the 18th century, when a medical discussion about the usefulness of quarantines would be raised, physicians in the Habsburg Empire also addressed theoretical concepts of causes of plague and their transmission. It is no spoiler, when we reveal that the predominant concept in favor of quarantines was contagionism. This concept can be traced back to Girolamo Fracastoro (1476/8–1553) who had introduced the theory of contagion as the main reason for the transmission of diseases. Fracastoro distinguishes direct contagion by human-to-human physical contact from the indirect contagion via clothing or other mediators, as well as from contagion over a certain distance through the air. He furthermore considers the germs or pathogens as being too small to be visible.11 This approach, which formed the theoretical backbone of the system of quarantines in the Habsburg Empire, at first sight appears to be rather modern, since it is an apparent forerunner of the germ theory of disease, although it lacked the findings of bacteriology which would make the arguments of the latter persuasive. But for the early 19th century we can observe an alternative school of thought within medical circles. This can be traced as a critique emanating from merchants who saw quarantines as obstacles to commerce. At that time global trade was increasing in quantity as a consequence of the takeoff, first, of British industry and, second, of that of continental Europe. The gradual introduction of steam power in navigation shortened transportation times and increased handling rates, so that the interim storage of commodities in quarantine facilities was deemed an annoying chicanery.12
10 Lesky, Pestfront 93–94, 96, 98–99. 11 Cf. STOLBERG Michael, Kontagionismus, in: Werner E. Gerabek et al. (eds.), Enzyklopädie Medizingeschichte, vol. 2, Berlin et al. 2004, 776–777. 12 CHASE-LEVENSON Alexander, Early nineteenth-century Mediterranean quarantine as a European System, in: Alison Bashford (ed.), Quarantine. Local & global histories, London et al. 2016, 35–53.
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In order to overcome quarantines, the advocates of free trade had to attack the underlying theory of contagionism. Several physicians were willing to consider economic interests and would ask for the abolition of quarantines or at least for the reduction of their duration. Here, one must refer to Ackerknecht’s afore-mentioned lecture on “Anticontagionism.” Ackerknecht expressed the opinion that those European governments which represented economic and political liberalism (the British and the French), were against contagionism and quarantines, while the conservative members of the Holy Alliance (Austria, Russia and Prussia) were in favor of their continuation.13 But what was the theoretical framework of “anticontagionism” in medicinal terms? Its staunch advocates were adherents of the miasma theory, a concept, which originates from the period of Galen of Pergamon. According to the miasma theory most diseases were caused by a noxious form of bad air, a “miasma” which had been produced by rotting organic matter in the local soil. Since diseases were not introduced from other countries, but were triggered by local miasmas, adherents of the miasma theory rejected quarantines because of their alleged uselessness. One of the first physicians who denied the contagious character of the plague and rejected quarantines was Maximilian Stoll (1742–1787), a professor at the Viennese medical faculty, although he had not observed cases of plague in reality.14 The British physician Charles Maclean (1788–1824), several decades thereafter, claimed to produce clinical expertise, however. He had worked in the Greek plague hospital near Istanbul’s Yedikule fortress. By refuting contagionism and quarantines Maclean welcomed the fact that the Ottoman authorities did not undertake any precautions against the plague. He claimed that without the danger of being locked up and harassed by quarantines “each individual is left to act, according to his discretion, with respect to the government of himself, and of his family, in times of pestilence.”15 This example shows how anticontagionism was able to combine individual Western liberty with the perception of a specific and truly much discussed religious pattern which required Muslims to show fatalism in view of the plague.
13 Ackerknecht, Anticontagionism. 14 LESKY Erna, Die josephinische Reform der Seuchengesetzgebung, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 40/1 (1956), 78–88, esp. 84. 15 MACLEAN Charles, Results of an investigation, respecting epidemic and pestilential diseases including researches in the Levant, concerning the plague, vol. 1, London 1817, 425–426.
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Twenty years prior, between 1792 and 1798, the French physician Guillaume Antoine Olivier (1756–1814) had visited the Ottoman Empire. Olivier was an adherent of contagionism and advised Europeans in Constantinople to sequester themselves in their homes and not to communicate with people in the event of a plague epidemic. But also he found positive words about the behavior of the Muslims: “With their ideas of fatalism, the Turks, persuaded that man cannot change the immutable decrees of the Eternal, consider not only as useless, but even as criminal the precautions which the Europeans take against that destructive scourge, and when death is striking them on all sides, they display a great tranquility and an entire resignation. Not one of them appears to have any repugnance to attend the sick who are dear to them; neither could he make up his mind to forsake them or give them up, as is done by Europeans in most of the sea-ports of the Levant, to hirelings who are accused of hastening too frequently the death of the patient, in order to enjoy sooner his spoils.”16 Maclean had been a pioneer of anticontagionism but by the 1830s his example became fashionable among physicians. This was undoubtedly a consequence of the dreadful events which took place between 1830–1832, when the second pandemic of cholera was raging in Europe and around the Mediterranean and claimed an enormous death toll. Quarantines proved ineffective, and this shocking experience led to widespread doubt in the usefulness of traditional preventative methods. It even raised the question, as to whether the plague itself was contagious. In the 1830s the French physician Antoine Barthelemy Clot (1793–1868) became responsible for the establishment a public health system in Egypt. Adopting the name Clot-Bey, he became engaged in combatting the plague epidemic of 1834– 1835 there. In that period he rose to notoriety as one of the most fervent advocates of the non-contagious character of the plague. His belief certainly had some influence on an inquiry of British diplomats in the Levant among Western physicians based there. In 1846 the same issue – was the plague contagious and were quarantines of use? – also became a topic of an investigation of the Académie de Medicine de France on the behest of the French Ministries of Agriculture and Com-
16 OLIVIER Guillaume Antoine, Travels in the Ottoman Empire, Egypt, and Persia undertaken by order of the government of France, during the first six years of the Republic, London 1801, 157–158; for a critical discussion of fatalism cf. Bulmu , Plague 10–11, 18, 35, 59, 64, 118.
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merce; the authors concluded that the plague was not contagious, but communicable.17 Consequently the French government reduced the duration of the quarantine periods according to the incubation period suggested in the Academy’s report, without abolishing them entirely. The French example shows that anticontagionism was the mantra of the day, but it was prayed with a mental reservation: for if your anticontagionism is sincere, you have to abolish quarantines completely, otherwise you still somehow support contagionism, however short the duration of the quarantine. Some years ago the historian Peter Baldwin, on the base of extensive archival research in several European archives, suggested another explanatory model for the different attitudes of the European powers vis-à-vis quarantines. Different than Ackerknecht had suggested, Baldwin claimed that the political character of a government was not that much decisive in determining its policy with respect to epidemic defense; it was rather a matter of geoepidemiology: The more distant a country was from the focus of disease, the less restrictively it could manage quarantines.18 Two issues emerge from these assessments: Was the climax of anticontagionism in the 1840s a luxury the European governments could afford due to the preceding adoption of contagionism and the introduction of quarantines in the Ottoman Empire and Egypt (despite Clot’s anticontagionism) in the 1830s? And how did these developments affect the situation in the Habsburg Empire and its relations with the Ottoman Empire? The French case allows us to draw a general conclusion: reformists who propagated the shortening of quarantines as a means of facilitating trade, without seeking to abolish them completely, remained adherents of contagionism in a way, at least of a revised contagionism without necessarily supporting the miasma theory. About a decade after Ackerknecht’s famous lecture of 1948, the Austrian medical historian Erna Lesky described an exact case of such a reformist minded physician, Adam Chenot (1721–1789), who was active in this direction long before the
17 Cf. Ackerknecht, Anticontagionism 9, 15–16; PANZAC Daniel, Quarantines et Lazarets. L’Europe et la peste d’Orient, Aix-en-Provence 1986, 103–107; HEAMAN E. A., The Rise and Fall of Anticontagionism in France, in: Canadian Bulletin of Medical History/Bulletin canadien d'histoire de la médecine 12 (1995), 3–25, esp. 16–17; LA RUE George Michael, Treating Black Deaths in Egypt: Clot-Bey, African Slaves, and the Plague Epidemic of 1834–1835, in: Anna Winterbottom/Facil Tesfaye (eds.), Histories of medicine and healing in the Indian Ocean world, vol. 2: The modern period, London 2016, 27–59. 18 Baldwin, Contagion 104–139, 211–243.
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French debates of the 1840s. Chenot was director of the sanitary service in Transylvania, a distant province of the Habsburg Empire, but he would greatly impact Austrian quarantine legislation for several decades. As an adherent of contact infection Chenot stood firmly on the side of contagionism. However, he backed up his conviction by clinical expertise, so that he could rightfully claim that plague was transmitted only by contact with diseased persons, their clothes and underwear, as well with their bed sheets. He doubted, however, that plague could be spread by the air and, in particular, that “the air of the Turkish territory would bring forth the plague.”19 Chenot consequently treated all manner of goods which had hitherto been considered susceptible to bad air (cotton, wool, hides, furs, flax, hemp, yarn) as negligible. For Bubonic plague he deduced an incubation period of four days, so that ten days of quarantine would be sufficient in suspicious times and twenty days in times of plague. Chenot’s approach, which was not accepted unanimously by other medical experts, attracted the interest of Emperor Joseph II. After the Emperor consulted State Chancellor Kaunitz, he introduced an essential reduction of the duration of terrestrial quarantines vis-à-vis the Ottoman Empire, so that in periods free from plague only medical examination of persons entering the Monarchy, but no quarantine was applied; in suspicious periods quarantine lasted ten days and in times of plague twenty days. This reform, in contrast to Chenot’s wish, kept cotton, wool, hides, furs, flax, hemp, and yarn under quarantine, and it had to be conducted in a discreet way, so as not to cause any difficulties with Habsburg trading partners.20 The maritime quarantines along the Adriatic, in turn, remained in their former constitution and this state of affairs did not change, even following the defeat of Napoleon, when permanent control of Dalmatia and Venice was transferred to Austria. Namely in Dalmatia the reduced periods of quarantines were only applied
19 Lesky, Seuchengesetzgebung 81; cf. SECHEL Teodora Daniela, Contagion Theories in the Habsburg Empire (1770-1830), in: ead. (ed.), Medicine within and between the Habsburg an Ottoman Empires, 18th–19th centuries, Bochum 2011, 55–78; JESNER Sabine, The physician Adam Chenot – reshaping plague control in the Austrian Cordon Sanitaire (approx. 1770–1780), in: Banatica 25 (2015), 283–300. 20 Lesky, Seuchengesetzgebung 82–83, 86–88.
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in 1819 to the sanitary cordon against Ottoman Bosnia which the Habsburg Empire had inherited from the Venetian Republic.21 The Austrian maritime quarantines meanwhile continued to function according to the Maritime Sanitary Code of 1755, which had been scarcely amended. These quarantines lasted at least 28 days for ships arriving from the Levant, because the whole region was considered constantly “plague-suspicious”, even if no case of the disease was reported.22
ESTABLISHING QUARANTINES IN THE DANUBIAN PRINCIPALITIES AND THE OTTOMAN EMPIRE … In order to understand the mutually entangled developments both in the Ottoman and Habsburg Empires with respect to quarantines further, we must sketch how they were applied in the Danubian Principalities Wallachia and Moldavia, because their example was of great influence for the further course of events. The developments, however, seem to be rather contradictory in more than one respect. We can observe a continual waxing and waning of opinions about quarantines, whereby their apparent need is either deferred because of other priorities or their establishment is enforced due to other purposes than sanitarian ones, which – as we will show – is nothing more than a blunt manifestation of the initial remarks of this paper, namely that production and, consequently, application of medical knowledge are often more dependent on external deliberations and developments than based on intrinsic scientific findings Conflicting views can be observed from the very beginning of this phase: During the Russo-Ottoman War of 1828–1829, amidst its advance across the Balkan Mountains, the Russian Army was heavily afflicted by an unknown epidemic which resembled the plague and spread across the Danubian Principalities as well as Ottoman Bulgaria. Although tens of thousands of soldiers perished, the medical chief of the army was not willing to impose quarantines and declared the disease which he called “Wallachian Fever” as non-contagious; consequently military activities could continue unhampered. Only after the ceasefire and the victory of the
21 Lesky, Seuchengesetzgebung 78 and 88; Bestimmung der Contumaz-Perioden an den Grenzen von Dalmatien, in: Medicinische Jahrbücher des kaiserlich-königlichen österreichischen Staates 6/1 (1820), 7–8. 22 Cf. EBNER VON EBENTHALL N., Maria Theresia und die Handelsmarine, Trieste 1888, 89–95; COONS Ronald E., Steamships and Quarantines at Trieste, 1837–1848, in: Journal of the history of medicine and allied sciences 44 (1989), 28–55, esp. 30.
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Russian Army, which ended its advance at the gates of Adrianople (today’s Edirne in the European part of Turkey), a new medical chief of the Russian Army declared the epidemic to be the plague and established quarantines for the soldiers returning home from the war.23 These events did not only entail long lasting polemics among Russian physicians who had participated in the campaign and disagreed about the appropriate moment for imposing quarantines. They also led the Wallachian Principalities to establish a permanent system of quarantines along the Danube in the early 1830s, allegedly to safeguard these two polities from the danger of plague from the Ottoman territories on the south bank of the Danube. The Prussian physician Carl Ignaz Lorinser (1796–1853), an adherent of contagionism, who in the winter of 1829/30 visited the Austrian quarantines in Transylvania, claimed that it would be highly beneficial and desirable for Europe, if the future quarantine system on the lower course of the Danube would be severe and well-ordered. Lorinser preferred the Russian quarantines system, which would be applied on the lower Danube, compared to the Austrian one, but he was afraid of administration by local people, because “in this way the welfare of the civilized part of Europe would be committed to servile-minded and to a high degree self-serving manpower.” (“und so das Wohl des civilisirten Europa sclavisch gesinnten in hohen Grade eigennützigen Kräften anvertraut würde”).24 The sanitary cordon at the lower Danube was meant to serve more profane purposes, however: it sought, firstly, to separate the two Danubian Principalities which were formally still tributary vassals of the Ottoman sultan who was their suzerain and, secondly, to impede free trade and dampen the economic interests both of Austria and Britain along the lower course of the Danube. The guiding hand was naturally the Russian Czar, who after the Peace Treaty of Adrianople was in actual control of Moldavia and Wallachia. When the Austrian Steamship Company introduced regular steam navigation on the lower section of the Danube after 1834, the ships had to decide whether to cling to the right bank which was
23 See in detail: PROMITZER Christian, Stimulating the Hidden Dispositions of SouthEastern Europe – the Plague in the Russo-Turkish War of 1828–29 and the Introduction of Quarantine on the Lower Danube, in: Teodora Daniela Sechel (ed.), Medicine within and between the Habsburg an Ottoman Empires, 18th–19th centuries, Bochum 2011, 79–110. 24 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA Rep. 76 Kultusministerium VIII A, Nr. 2903, Reisebericht des König. Regierungs-Medizinal-Raths Dr. Lorinser zu Oppeln durch die Kaiserlich Österreich. Staaten, Oppeln, 24 April 1830, 63b–64a.
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Ottoman und therefore to sail “under quarantine”, which excluded landing on the left bank which was Wallachian and Moldavian, or to the right bank, whereby Wallachian sanitary guards aboard the ship ensured that the ship would not call at Ottoman ports – Vidin, Rustchuck, or Silistria – on the right bank. Russia also established its own quarantine station at the Sulina arm of the Danube, in order to control its entrance.25 Thus, not sanitary, but political calculations had led to the establishment of a second cordon sanitaire from the Black Sea northwest of the town of DrobetaTurnu Severin, where the Austrian border stretched away from the northern bank of the Danube. It is fair to say, however, that despite having been founded for a different reason, the quarantine system of the Danubian Principalities served their purpose well: When the plague in the years of 1835-1841 for a last time well advanced into the European provinces of the Ottoman Empire and even reached the southern bank of the Danube, due to the efficacy of the Moldovan and Wallachian cordon sanitaire not a single case of the disease was observed on the northern bank of the river. Another consequence of the Russo-Ottoman War of 1828–1829 was the increasing willingness of the Ottoman Empire to consider the introduction of quarantines on its own territory. Thus the presence of diseased Russian troops at Adrianople had led to the first attempts in this direction, although they would ultimately fail.26 These were not the first efforts which went that way, however: Between 1802 and 1804 the Austrian court appeared to have appointed a committee, with the public health reformer Johann Peter Frank (1745–1821) among its members, which elaborated a set of quarantine regulations to be applied by the Ottoman Empire. Baron Ignaz Lorenz von Stürmer (1750/52–1829), the Austrian Internuncio at the Sublime Porte, presented this plan to Sultan Selim III, who was receptive to reformist ideas and supported the plan. But the regulations had to go through
25 Promitzer, Dispositions 101–106; BR TESCU Gheorge, Seuchenschutz und Staatsinteresse im Donauraum (1750-1850), in: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 63 (1979), 25–44; FOCAS Spiridon G., The Lower Danube River in the Southeastern European Political and Economic Complex from Antiquity to the Conference of Belgrade of 1948, Boulder/New York 1987, 136–61; ARDELEANU Constantin, International trade and diplomacy at the Lower Danube. The Sulina question and the economic premises of the Crimean war (1829–1853), Br ila 2014, 67–73, 141–148. 26 YILDIRIM Nuran, A history of healthcare in Istanbul, Istanbul 2010, 22.
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the Divan, where the Grand Mufti declared himself against the innovation, which was consequently abandoned.27 As already mentioned, the next attempt to introduce quarantines was made by Sultan Mahmut II in the wake of the Peace Treaty of Adrianople. This only gained traction as a result of the plague epidemic of 1835–1841, which in Ottoman Bulgaria reached its climax in 1837. According to contemporary estimates, until 1839 the plague would take the lives of 86,000 persons in Bulgaria, whereby it is possible that this figure relates only to the region north of the Balkan mountain range.28 Even if exaggerated, this figure was of demographic significance, and it certainly provoked protracted discussions in the Ottoman government on how to avoid further rigors. Thereby we have to keep in mind that the territory of modern Bulgaria was not the only area of the Empire which had suffered during the epidemic. In April 1838, as the anticontagionist movement grew in Western Europe and calls grew for quarantines to be abolished, Mahmut II announced the official abandonment of the present policy of indifference vis-a-vis preventive measures and the introduction of quarantines in the Ottoman Empire, since they were not in contradiction with the doctrines of Islam.29 The French physician Arsène-François Bulard (1805–1843) was entrusted with the implementation of the quarantine system, supported by the French government and the reformist Ottoman Foreign Minister Koca Mustafa Re it Pascha (1802–1858). During his preceding stay in Egypt, Bulard had advocated a revised
27 Cf. Maclean, Results 457–458, does not give a concrete date for this event. But since Stürmer became internuncio in 1802 and Frank left Vienna in 1804, we at least have two limits of dating. 28 BOUÉ Ami, La Turquie d’Europe, vol. 3, Paris 1840, 567; cf. Conférence sanitaire internationale. No 9. Seance du 18 Septembre 1851, in: Procès-verbaux de la Conférence sanitaire internationale ouverte à Paris le 27 juillet 1851, Paris 1852, 7; cf. MANLOILOVA-NIKOLOVA Nadya, Chumavite vremena (1700-1850), Sofia 2004, 77–78. 29 BULARD Arsène-François, Über die orientalische Pest nach in Alexandrien, Kairo, Smyrna, Konstantinopel in den Jahren 1833, 1834, 1835, 1836, 1837 und 1838 gesammelten Materialien, Leipzig 1840, xxvi–xxix; Correspondence relative to the contagion of plague and the quarantine regulations of foreign countries, 1836–1843. Presented to the House of Commons, by Command of Her Majesty, in pursuance of their Addresses of the 26th August, 1841, and 1st March, 1842, London 1843, 270–271; PANZAC Daniel, Population et santé dans l’Empire Ottoman (XVIIIe–XXe siècles), Istanbul 1996, 78–80; Yıldırım, History 23.
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concept of contagionism. For him the plague’s contagiousness was not absolute, but contingent on the circumstances as not each physical contact with a plaguestricken person caused infection. By propagating these views he had become the main adversary of Clot-Bey, so that he had to leave Egypt. Bulard had concrete plans to use the Balkans as a laboratory for the implementation of quarantines, but he soon disagreed with the views of the Ottoman government and in summer 1838 he left Constantinople. The Ottoman government nominated the Director of the Austrian quarantine station of Semlin (today’s Zemun in Serbia), the physician Franz Xaver Minas, to continue with the work. But Minas was confronted with the same bureaucratic difficulties as Bulard. A few months after the death of Sultan Mahmud II in July 1839, Minas returned to Austria. He was succeeded by Dr. M. Louis Robert who would finally rearrange the Ottoman quarantine system in a solid manner. Consequently, contemporaries thought that it was the impact of the quarantines which ended the plague in the Balkans in 1841.30 The steering body of the emerging Ottoman quarantine system was the newly established International Sanitary Council, which consisted of an Ottoman director, five physicians and several deputies of the European Embassies in Constantinople. This meant that the Ottoman government could not decide independently about the direction of its sanitary policy, but relied on the endorsement of the European Great Powers.31 Their power arose from the fact that quarantines were considered a serious nuisance to the traditional capitulations of the Ottoman Empire, legal grants made by successive Sultans to Christian nations mainly in affairs of trade. An additional claim, that the maritime and terrestrial quarantines were funded by taxes which had to be paid by (European) ships calling at Ottoman ports, was also not to be overlooked. Apart from that, the administrative body of the Ottoman quarantine system as well as the individual quarantine stations throughout the Empire would be run by European or Levantine physicians who
30 VETTER [Friedrich August], Nachrichten neuester Beobachter über die Pest auszugsweise nach dem von Hrn Dr Bulard herausgegebenen Journale la Peste bearbeitet, in: C. W. Hufeland's Journal der practischen Heilkunde 86/3 (1838), 91–108, esp. 96–97; B[run] d'AUBIGNOSC L[ouis] P[hilibert], La Turquie nouvelle jugée au point où l'ont amenée les réformes du sultan Mahmoud, Paris 1839, 232–234; Bulard, Pest xiii, xv, xx–xxi, xxvi, xxx, 1–9, 132–139, 262–270, 325–326; SIGMUND Karl Ludwig, Die Quarantäne-Reform und die Pestfrage, Vienna 1850, 31–32; RIGLER Lorenz, Die Türkei und deren Bewohner in ihren naturhistorischen, physiologischen und patho– logischen Verhältnissen vom Standpunkte Constantinopel’s geschildert, vol.1, Vienna 1852, 407–408; Yıldırım, History 23–24. 31 Yıldırım, History 23–30.
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had studied at European universities, since the Imperial Medical School envisioned to provide education of domestic medical staff was still in its beginnings. This system incorporated many possible points of controversy. Vis-à-vis their European counterparts the Ottoman delegates in the council were in the minority. The European Great Powers, in turn, remained in the comfortable geopolitical position of reducing their quarantines at home with respect to ship departures from the Ottoman Empire, since the latter had itself taken responsibility to manage possible threats emanating from or transmitted via its territory by itself. But even in this regard the European delegates had the last word. It was furthermore foreseeable that the Austrian Empire, in particular, would not only profit from the Ottoman maritime quarantines, but still the more from its terrestrial quarantines on the Balkan Peninsula as well as from the recently erected sanitary bulwarks of the Danubian Principalities and of Serbia; the latter also erected its own quarantines vis-à-vis the Ottoman Empire in the late 1830s.32 Figure 1: Sanitary Cordons on the Balkan Peninsula 1831–1853
Source: Christian Promitzer
32 DURAKOVI Indira, Serbien und das Modernisierungsproblem. Die Entwicklung der Gesundheitspolitik und sozialen Kontrolle bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt am Main et al. 2014, 57–58.
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… CAUSES QUARANTINE REFORM IN THE HABSBURG EMPIRE Now we are able to return to the situation at the Habsburg sanitary cordon in the 1820s. The first events which awoke public interest did not appear to direct the discussion towards anticontagionism or at least towards the easing of quarantines. During the Epidemic of 1828–1829 in the course of the Russo-Ottoman war, the efficacy of Austria’s Plague Front was put to task: A Transylvanian merchant who had completed the quarantine in Tömös (today’s Timi u in Romania), introduced the Wallachian epidemic to his hometown Brassó/Kronstadt (today’s Bra ov, likewise in Romania) with his crate of clothing. Fortunately, the disease did not spread further.33 Because of a similar incident which involved one of its own officers who had accompanied the Russian advance, the Prussian government became alarmed. It mandated one of its medical officers, the afore-mentioned Carl Ignaz Lorinser to examine the efficacy of the Austrian quarantine system and to tour the sanitary cordon from its Eastern end in the Duchy of Bukovina alongside the Carpathian mountains, including the central quarantine station in Tömös and the second largest in Rothenturm (today’s Turnu Ro u, Romania) and then alongside the Danube to the largest terrestrial quarantine station at the Austrian Plague Front in Semlin close to Belgrade. In his official report following his return, Lorinser registered that the quarantining of commodities which could absorb the plague poison was set for twenty days only; their purification by means of airing was rudimentary. Further, the Austrian quarantines did not include closed systems, and there was continuous traffic through them. He observed that some employees showed negligent conduct and even behaved contrary to duty. Commodities from the Ottoman Empire could be introduced via smuggling; therefore, he could not exclude that contaminated objects could reach Germany in a matter of weeks. That the plague during the previous one hundred years had not devastated Austria, was only partly due to the effectiveness of the Austrian quarantines, he concluded.34 Lorinser’s criticism was voiced in a moment, when influential medical circles in Vienna were working on a revision of the regulations of the quarantines. Already since 1826 a commission chaired by the forensic pathologist Johann Joseph Bernt (1770–1842) was drafting a new constitution for combatting the plague, the Pest-Polizeiordnung, which in 1831 was presented in excerpts to the public.35 A
33 STICKER Georg, Abhandlungen aus der Seuchengeschichte und Seuchenlehre, vol. 1: Die Pest, Gießen 1908, 305. 34 Reisebericht des Dr. Lorinser zu Oppeln, 61a–62b. 35 BERNT Joseph, Über die Pestansteckung und deren Verhütung, Vienna 1832, iii–iv.
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pilot run of the new regulations took place in 1831, when the second cholera pandemic entered the Austrian Empire via Galicia – several cordons, the last one established between the Hungarian Kingdom and the Austrian Hereditary Lands from the Adriatic to the Prussian border, could not prevent the epidemic from reaching Vienna in late summer, where it would kill about 4,000 of the city’s 323,000 inhabitants within a year.36 The apparent failure was in part responsible for further postponement of the Pest-Polizeiordnung which was finally enacted in 1837; it was a modernized form of Chenot’s regulations and did away with frustrating instructions which rested on unverified assumptions, while preferring stricter ones in cases of incertitude, without changing the periods of quarantine.37 The Pest-Polizeiordnung was officially meant as facilitation of the handling of people and commodities, thus is seems to be a strange coincidence that the implementation of the new regulation happened during the apex of the last plague epidemic in the Ottoman Balkans. And what is more: even after the enactment of the Pest-Polizeiordnung the military administration of the quarantines in plague-free periods would in practice apply a minimum of five days of quarantine, although in this case none was demanded.38 Nevertheless, the official enactment of Chenot’s regulations via the PestPolizeiordnung was an advantage. In 1838, which was considered a “suspicious” year, Austria imposed 10 days of quarantine on its terrestrial borders. At the same time the length of its maritime quarantines, as we have seen, was 28 days for persons arriving from the Ottoman Empire or Egypt, so that travelers from Constantinople would either take the overland route or resort to French ships. Thus, it is easy to understand the frustration of the Austrian shipping company Lloyd Austriaco which was active in the Eastern Mediterranean since its foundation in 1833. It addressed a complaint to the Austrian Chancellor Metternich, mentioning that even ships departing from Greece or the Ionian Islands which were considered
36 ZELLER Carl, Die epidemische Cholera beobachtet in Wien und Brünn in Herbste 1831, Tübingen 1832, 126–127; DRASCHE Anton, Statistisch-graphische Darstellung der Cholera-Epidemie in Wien während des Jahres 1873, Vienna 1874, unpaginated, chart „Vergleichende Darstellung sämmtlicher Cholera-Epidemien Wien’s.“ 37 Medicinische Jahrbücher des k. k. österreichischen Staates 24 (1938), 257–263, 398–469, 556–595; cf. Lesky, Pestfront 89; Rothenberg, Cordon 21. 38 Cf. Coons, Steamships and Quarantines 33, fn 16.
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“plague-free” had to undergo a quarantine of fourteen days.39 On the other hand, it was not so easy to reduce the Austrian maritime quarantines, since the ports on the Italian Peninsula followed much harsher quarantines and a reduction could involve sanctions from their side: “Out of a combination of loyalty to the ancient maritime sanitary code of Venice and extreme fear of the ravages of plague, the several governments of the peninsula independently and obstinately pursued highly conservative quarantine policies. By so doing they long exercised a de facto veto power over maritime quarantine reform in the Habsburg Monarchy.”40 Finally, the Austrian government took a different approach. This was due to two factors: first, severe economic difficulties afflicted the Austrian Lloyd, and second, the British desired for the Austrian Lloyd to transport their correspondence with India via Trieste and Alexandria, but only if the Austrian maritime quarantines (which also applied to mail of all kind) were to be reduced. Among the simplification measures, the government indeed granted in fall of 1838, was the embarkation of sanitary guards at Greek ports or under way to Trieste, so the days spent with the guard could be deducted from the whole period of quarantine. Practically the quarantine for passengers from the Levant after a stopover in Greece, where they had to pass the Greek quarantine, amounted to three days in Trieste; but since the Levant and the Ottoman Empire further-on were considered “suspicious”, direct arrivals would still be faced with 28 days of quarantine.41 Consequently, Franz Weber (1791–1844), since 1837 chief medical officer of the Austrian Littoral, started to advocate a consequent program of quarantine reform. He was certainly influenced by the “contingent” variant of contagionism, since he quoted Arsène-François Bulard. He referred to the increased commercial contacts, the introduction of steam navigation and the establishment of consular posts in the Levant which together increased knowledge about the epidemic situation and consequently allowed for the reduction of quarantines at home. He also mentioned the ameliorating role that the recently established quarantines in the Ottoman Empire and in Egypt played. Weber’s considerations were indeed accepted by the Central Maritime Sanitary Council for negotiations with the Hofkanzlei (the supreme administrative body of the Austrian and Bohemian Hereditary Lands) in Vienna and
39 COONS Ronald E., Steamships, statesmen, and bureaucrats. Austrian policy towards the Steam NavigationCompany of the Austrian Lloyd, 1836–1848, Wiesbaden 1975, 76; idem, Steamships and Quarantines 31. 40 COONS Ronald E., Austrian maritime quarantine reform during the Vormärz, Etudes Danubiennes 5/1 (1989), 23–38, esp. 26. 41 Coons, Steamships and Quarantines 39–44.
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they also found support of the governor of the Littoral as well as of Karl Friedrich von Kübeck, the president of the Hofkammer (Court Chamber – the department of the Treasury).42 Between 1841 and 1847 – in congruence with the passing of the plague in the Levant and with the above mentioned quarantine reforms in France – several regulations were enacted which considerably reduced the Austrian maritime quarantines and entailed the establishment of new shipping lines of the Lloyd in the Levant: they abolished quarantines for passengers on ships with clean bill from Greece and the Ionian Islands and allowed for the consummation of the required five-day quarantine during the journey which was equal to the abolishment of quarantines.43 This shows, that Ackerknecht’s thesis about the congruence between conservative ideology, contagionism and support of quarantines, was simply not valid for the Habsburg Monarchy; the leading reformists in the Austrian government were neither liberals nor adherents of anticontagionism. They recognized the need for sanitary legislation, but also the dynamic power of trade and the obstructive role of quarantines.44 But we can also make the opposite observation: apart from Weber, who passed away long before his time, Ferdinand Gobbi (1811–1889), a physician from Trieste who dealt with population statistics, and Carl Ludwig Sigmund (1810–1883), a doctor from Transylvania who in 1842 became primary physician at the Fourth Surgical Department of the Allgemeines Krankenhaus in Vienna, asked for the unthinkable – the complete abolition of the Austrian quarantines along the Military Border. Both, who seemed to develop a mutual competition in this field, held the view that the quarantines of Egypt, the Ottoman Empire, the Danubian Principalities and of Serbia would be sufficient enough to protect Austria from the plague.45 From 1842 Sigmund time and again presented the Austrian government with demands for the revision of the quarantine system, but in these final days of the Old Regime his submissions were always rejected by the Hofkriegsrat which represented the most conservative element in the government of the Vormärz pe-
42 Ibid. 45–48. On the influence of Bulard on Weber, cf. Coons, Quarantine 34, fn 49. 43 Coons, Steamships and Quarantines 49–54. 44 Cf. Coons, Quarantine 24, 28 and 38. 45 On Sigmund cf. FLAMM Heinz, Carl Ludwig Sigmund Ritter von Ilanor, der Begründer der Venerologie, ein früher Krankenhaus-Hygieniker und österreichischer Epidemiologe im Dienste der europäischen Volksgesundheit. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages im August 1810, in: Wiener klinische Wochenschrift 122/15–16 (2010), 494–507; on Gobbi cf. https://cs.wikipedia.org/wiki/Ferdinand_Gobbi.
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riod. Sigmund had gained expertise by visiting Austrian, Italian and French quarantines, and he also travelled to Great Britain and France, where he came in contact with likeminded experts.46 In his endeavors Sigmund was finally supported by Kübeck, and in 1847 Gobbi presented a similar plan, so that the government in March, 1848, was going to dispatch two medical subject matter experts to visit the quarantines at the border with Serbia and the Danubian Principalities.47 The outbreak of the revolution in Vienna in March, 1848 thwarted the ongoing preparations, however. Therefore Sigmund and Gobbi, who became deputy of the moderate right in the Austrian Reichstag, started to spread their ideas in the public, now free from censorship. By way of the press Sigmund called for the immediate abolition of the quarantines at the Austrian Military Border.48 Finally, in early 1849 the Austrian government indeed mandated a medical commission, of which Sigmund was part, to visit the quarantines in Serbia, the Danubian Principalities, Constantinople, Trebizond, Batumi, Syria, Egypt, Malta, Greece and the Ionian Islands in order to assess the prospects for the abolition of the Austrian quarantines. The mission started in early March and took about six months; what’s more, in his absence Sigmund’s adversaries circulated the rumor that en route he had fraternized with fled Hungarian insurgents.49 Gobbi had been nominated superior medical officer in the medical section of the Austrian Ministry of the Interior and had stayed in Vienna. There he prepared a monograph detailing his view on the issue of the quarantines; it was published some weeks after the return of the commission from the Orient. Gobbi’s thesis was that the European Great Powers should not only monitor the Ottoman and Egyptian quarantines, but take full responsibility for them in financial and administrative regards.50
46 SIGMUND Carl, Zur Pest- und Quarantaine-Frage, in: Österreichische medicinische Wochenschrift 7/37 (1847), 1153–1162, 7/38 (1847), 1185–1194, 7/39 (1847), 1231–1238, 7/40 (1847), 1267–1270, 7/41 (1847), 1295–1302, here 1153. 47 Der Stand der Quarantänefrage in Wien, in: Satellit des Siebenbürger Wochenblattes, 17 April 1848, 152–153. 48 SIGMUND Carl, Die Quarantänefrage. Petition, in: Wiener Zeitung, 2 December 1848, Beilage zum Abendblatte, 3–4. 49 Die Quarantänen-Angelegenheit, in: Satellit des Siebenbürger Wochenblattes, 21 February 1849, 58; Deutsche Allgemeine Zeitung, 6 March 1849, 699; Die Presse, 30 May 1849, 3, 24. July 1849, 1, 22 August 1849, 2–3. 50 Cf. Wiener Zeitung, 6 February 1849, 351; GOBBI [Ferdinand], Beiträge zur Entwicklung und Reform des Quarantainewesens. Nach eigener Anschauung, Vienna 1849.
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Sigmund, in turn, still needed one more year before he could publish his findings in monograph form. Sigmund’s interests were more closely oriented towards the immediate economic interests of the Monarchy in the Balkans. He connected them with the assessment that the plague had been never endemic there, but had been introduced from the Asian parts of the Ottoman Empire. In Sigmund’s longterm vision, the quarantines of Serbia and the Danubian Principalities could be abolished in favor of a terrestrial cordon alongside the Sea of Marmara and the Bosporus which would fend off epidemics from the Asian part of the Ottoman Empire. If not the whole Balkan Peninsula, at least Albania should by this way be included into the Austrian sphere of trade interests.51 Thereafter, the entire European part of the Ottoman Empire would come under the economic tutelage of the Habsburg Monarchy. Neither Gobbi’s nor Sigmund’s proposals were considered by the Austrian government, and the international regulations on quarantines which were resolved at the First International Sanitary Conference of 1851 in Paris did not have any effect on the quarantines in Austria or in the Ottoman Empire, because after the conference the majority of the participating countries would not ratify them. Gobbi consequently left the Ministry of the Interior and participated in the establishment of the Maritime Sanitary Department at the Austrian Ministry of Trade, while Sigmund would concentrate on his work as hygienist in the field of venereal diseases, although he would later be active in the field of epidemic defense.52 Sigmund’s and Gobbi’s visions were nonetheless keeping with the Zeitgeist. After the Crimean War, the Peace Treaty of Paris liberated the Danube from Russian influence, and the respective Danube Navigation Act of 1857 exempted all ships from quarantine measures in periods free from disease. This also had consequences for the terrestrial quarantines at the Austrian Military Border: in periods free from plague, which were the rule, since 1858 medical examination in the quarantine stations and since 1860 the obligatory passage of the border through them were no longer mandatory. Since 1843, when the plague had been observed for the last time in the Ottoman Empire, the shortened periods of quarantine during suspicious times or those of plague were no longer applied. But the monitoring of border crossings as well as the maintenance of a permanent cordon at the border
51 Sigmund, Quarantäne-Reform 55–58, 62–63. 52 Wiener Zeitung, 29 September 1850, 2921; Flamm, Sigmund 504–505.
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by soldiers remained intact.53 Austria’s reconciliation with Hungary in 1867 made the further existence of the common Military Border untenable, however. Subsequently, the quarantine system was abolished in single steps, while the Central Maritime Department, which was responsible for the maritime quarantines, split into an Austrian and a Hungarian office.
THE RETURN OF QUARANTINES AND THE EMERGENCE OF MECCA PILGRIMS AS A DISTINCT RISK GROUP In 1865 a ship of Muslim pilgrims, returning from Mecca where they had acquired cholera from their peers from India, introduced the disease to Constantinople. Other ports in the Mediterranean also became infected and the pandemic would spread across Europe. Suddenly cholera and the pilgrimage to Mecca became focal points for the reinforcement of the hitherto disliked system of quarantines which was discussed at the Third International Sanitary Conference which met in Constantinople in the following year. After the opening of the Suez Canal in 1869 Egyptian and Ottoman sanitary authorities, which were both monitored by representatives of the Great Powers, took care for the establishment of a unified system of quarantine facilities in the Red Sea and in the Eastern Mediterranean, in order to prevent the introduction of cholera and plague to Europe. These developments would drag on for more than three decades up to the turn of the 20th century; they were prepared without further pursuance, again discussed on several International Sanitary Conferences, which finally, in the 1890s, succeeded in passing sanitary conventions against cholera and the plague which made its return in these years. This whole process rendered the Hajjis a specific risk group for the transmission of these two diseases; this meant that in regard of their potentiality of being disease carriers not all travelers were treated alike. In some places and cases neo-quarantinism – medical examination and observation of passengers some days after their arrival without detaining them – was applied. But there were other groups – those who were already recognizable due to their sacred destination, the region of Hejaz on the Eastern shore of the Red Sea, and because they were crowded on specific
53 Cf. HOSTINEK Josef, Die K.K. Militär-Grenze, ihre Organisation und Verfassung, vol. 1, Vienna 1861, 84–85; SIGMUND [Karl], Die Quarantaine-Einrichtungen Österreichs, in: Österreichische Revue 4 (1863), 171–196, here 178; WIMMER Jacob, Normalien-Sammlung für Militär-Gerichte (Privatausgabe). Zehntes Supplement-Heft, Vienna 1866, 82–88; Lesky, Pestfront 102; Rothenberg, Cordon 22.
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vessels (pilgrim ships), and those who, due to their limited resources, had to content themselves with the lower passenger classes. These groups faced differential treatment within a system which resembled classical quarantine. Thus, apart from the Mecca pilgrims, Central and East European migrants to the United States had to undergo repeated medical screening along the German-Russian border, at the ports of embarkation in Hamburg and Bremen, and concluding in a final examination of their health at Ellis Island. All these developments took place in a period, when railroads became the fastest means to travel overland. With regards to medical developments this period is otherwise characterized by the application of previously elaborated-upon methods of disinfection and, what is more, by the transition to bacteriology and germ theory and the ensuing rediscovery of the cholera pathogen in 1884 by Robert Koch and the discovery of the plague bacillus by Alexandre Yersin ten years later.54
54 Cf. HOWARD-JONES Norman, The scientific background of the International Sanitary Conferences 1851–1938, Geneva 1975, HUBER Valeska, The Unification of the Globe by Disease? The International Sanitary Conferences on Cholera, 1851–1894, in: Historical Journal 49/2 (2006), 453–476; ead., Channelling Mobilities. Migration and Globalisation in the Suez Canal Region and Beyond, 1869–1914, Cambridge 2013; ead., The pilgrimage to Mecca and international health regulations, in: Eric Tagliacozzo/Shawkat M. Toorawa (eds.), The Hajj. Pilgrimage in Islam, Cambridge 2016, 175–195; Chiffoleau, Genèse 83-115, 187-219; WEINDLING Paul Julian, Epidemics and genocide in Eastern Europe 1890–1945, Oxford et al. 2000, 49–72; FAIRCHILD Amy L., Science at the borders. Immigrant medical inspection and the shaping of the modern industrial labor force, Baltimore et al. 2003; ZYLBERMAN Patrick, Civilizing the State: Borders, Weak States and International Health in Modern Europe, in: Alison Bashford (ed.), Medicine at the border. Disease, globalization and security, 1850 to the present, London et al. 2007, 21–40.
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Figure 2: The Balkans after 1878
Source: Christian Promitzer
What role did Austria-Hungary play in these developments? Although the Dual Monarchy hosted the International Sanitary Conference of 1874 in Vienna, it did not develop a vivid interest in the issue of Mecca pilgrims at first. At least the general application of quarantines in the case of cholera was a topic of vehement discussions, in which Sigmund at the end of his professional career once more participated.55 Austro-Hungarian interest in the sanitary situation of the Hejaz only increased after the Congress of Berlin in 1878, which saw the Habsburg Monarchy occupy the Ottoman province of Bosnia and Herzegovina with a considerable Muslim population. Approximately at the same time, the Dual Monarchy abolished the remnants of the Military Border with its concomitant and already outdated sanitary institutions. Sources in the Austrian State Archives reveal that the sanitary treatment of Muslim pilgrims returning from the Hejaz to Bosnia as well as the general danger of introducing cholera and, from the second half of the
55 SIGMUND R[itter] v., Die Cholera- und die Quarantänefrage vor den internationalen Sanitätsconferenzen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 8 (1876), 230–248.
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1890s, also again plague from the Ottoman Empire and Egypt followed a line which had already been suggested by Gobbi and Sigmund. The Dual Monarchy did not forego its own maritime quarantines, but it also applied the system of neoquarantinism. As for overland transport from the Ottoman Empire – in 1888 a direct railroad link between Vienna and Constantinople had been opened –, Austria-Hungary relied on the supplementary quarantine measures of its southern neighbor states Serbia, Romania and Montenegro, which as a result of the Congress of Berlin had become independent, as well as on those of the newly founded autonomous Principality of Bulgaria. The measures of the latter were particularly harsh, since the Bulgarian government used them as a means to demonstrate its own statehood.56 As for epidemic intelligence, an information system was established that was based on diplomats; they were deployed on various spots of economic and political interest in the Ottoman Empire and could account on the outbreak of local diseases within a short period, since the advantages of telegraphy were already at their disposal. At the time Austria-Hungary employed several consular officers – who were often physicians by profession – in Jeddah, Alexandria, Jerusalem, Beirut, Smyrna and Constantinople to provide advance reports about the local epidemic situation.57 When Bosnian pilgrims passed these places, the diplomats would forward their state of health. Since the early 1890s Austria-Hungary additionally engaged a system of accompanying physicians, who would join the pilgrims when they returned from the holy places. They either joined them already in Jeddah or Yanbu on their
56 Durakovi , Serbien 41–42; WATZKA Carlos, Infektionskrankheiten und Öffentliches Gesundheitswesen in Südosteuropa – ein FWF-finanziertes medizinhistorisches Forschungsprojekt an der Universität Graz, 2013–2016, in: Virus. Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 14 (2016), 343–349, esp. 349; PROMITZER Christian, Grenzen der Bewegungsfreiheit. Die Diskussion um Quarantänen am Beispiel des Osmanischen Reichs und Bulgariens vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zu den Balkankriegen (1912/13), in: Gerald Lamprecht/Ursula Mindler/Heidrun Zettelbauer (eds.), Zonen der Begrenzung. Aspekte kultureller und räumlicher Grenzen in der Moderne, Bielefeld 2012, 33–49, esp. 42–45. 57 AGSTNER Rudolf, “Die Errichtung eines österreichischen General-Consulats in Constantinopel hat auf sich zu beruhen.” Zur Geschichte der österreichischen (österreichisch-ungarischen) Konsulate in der Türkei 1718–1918, in: id./Elmar Samsinger (eds.), Österreich in Istanbul: K. (u.) K. Präsenz im Osmanischen Reich Rudolf Agstner, Münster et al. 2010, 137–174.
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way to the Egyptian quarantine station of El Tor, supervising their further treatment in the quarantines of Tripoli or Beirut in Lebanon, as well as in Clazomene near Smyrna in Asia Minor. The Austrian sanitary authorities undertook a final medical screening of the pilgrims in Trieste, the port of destination. Those pilgrims, who disembarked in Constantinople and returned home by railroad, had to suffer further severe measures of quarantine or disinfection at the Bulgarian and the Serbian borders. Since 1901 they had also to undergo a final medical screening by the Bosnian sanitary authorities upon their entry into their home province.58 Figure 3: Bosnian Hajjis in the quarantine of El Tor (1902)
Source: Austrian State Archives59
The case of the sanitary treatment of Muslim pilgrims shows that modern medical screening perfectly corresponded with premodern Orientalist stereotypes of the West, so that medical doctors and public health administrators had their share in the dissemination of a problematic image about the Muslim population of the Balkans and the Middle East. With the appropriation of the European quarantine system, the public health authorities of the Ottoman Empire furthermore introduced European fears of epidemics: When in 1902 European delegates in the Sanitary
58 See in detail BOŠKOVI Sreten/SMAILBEGOVI Ajša, Zdravstveno obezbje enje bosansko-hercegova kih hadžija na putu za Meku krajem prošlog vijeka, in: Acta Historica Medicinae Pharmaciae Veterinae 9/1–2 (1971), 75–82; cf. the forthcoming paper: PROMITZER Christian, Prevention and Stigma. Quarantines and Sanitary Control of Muslim Pilgrims from the Balkans (1830–1914), in: John Chircop/F.J. Martínez-Antonio (eds.), Mediterranean under quarantine, London 2017. 59 Austrian State Archives, Ref. Code: AT-OeStA/HHStA MdÄ AR F50-106.
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Council in Constantinople criticized the five-days of quarantine, travelers from Egypt, where the plague was raging at the time, had to undergo in Constantinople, even if they had passed a preceding observation quarantine of 24 hours in the Greek stopover at Piraeus, the Ottoman vice chairman of the body, the famous journalist and writer Ahmed Midhat Efendi (1844-1912) reacted unequivocally; he reminded the Europeans that the “dirty working class from Egypt” (“die schmutzige Arbeiter-Classe aus Egypten”) anyhow would not travel to Europe, where the revisionist system of medical examination was in practice. Since the latter was not feasible in the Ottoman Empire, quarantine had to fulfill its place.60
C ONCLUSION This chapter has sought to fill some gaps of Peter Baldwin’s seminal study on Contagion and the State in Europe by addressing the changing geoepidemiological implications of the immediate neighborhood between the Habsburg Empire and the Ottoman Empire. It furthermore tried to show how closely the production and the application of medical knowledge were entangled with mundane deliberations external to the scientific field of medical theories. The results can be summarized as follows: in the 1830s we can observe the establishment of a permanent cordon sanitaire in the Danubian Principalities. Enforced by the plague epidemic of 1835– 1841, the implementation of terrestrial quarantines in Serbia and of a full-fledged system of maritime and terrestrial quarantines in the European and Asiatic parts of the Ottoman Empire followed suit. At the same time, as a consequence of the expanding commercial activities and the increasing use of steam energy for transport, economic and medical circles as well as reformist minded public servants in Western and Central Europe considered their own systems of maritime and terrestrial quarantines an obstacle. The Habsburg Empire, in particular, with its sanitary cordon at the Military Border had to address these new challenges. Sanitary considerations and economic interests were to be combined with domestic expertise on the Orient. In this way the Austrian physician Carl Ludwig Sigmund proposed the abolishment of the Austrian Plague Front and a hygienic differentiation between “Turkey in Europe”, which in terms of epidemiology was treated as being a risk-free intermediate zone and could be economically adopted by the
60 AVA MdI, Sanitätsakten, box 2618 Epidemie Ausland 15001-30000/1902, No. 22,908/1902, Constantinople, 21 May 1902; On Ahmed Midhat Efendi cf. YILDIRIM Nuran, A history of healthcare in Istanbul, Istanbul 2010, 30.
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Austrian Empire, and the Asian parts of the Ottoman Empire, which were considered more dangerous. This presupposed a hegemonic position of Austria and the subaltern one of the Ottoman Empire. Sigmund addressed this unequal relation by the use of two phrases: While the quarantine systems of Austria and the Danubian Principalities adopt the shape of a “chain” (“Kette”) which isolates the infected other part of Europe from the healthy one, the Ottoman Empire was to be atomized by a “web” (“Netz”) of quarantines which isolate this polity’s subdivisions from each other.61 A further dismemberment would take place by the singling out of certain risk groups in the course of the fourth cholera pandemic of the 1860s, when the European great powers came to the conclusion that Muslim pilgrims were potential carriers of epidemics and engaged themselves in the monitoring of the Ottoman and Egyptian sanitary authorities’ measures to prevent the transmission of diseases by this group. After it had occupied Bosnia and Herzegovina in 1878, Austria-Hungary also realized that this category of persons could be a possible threat for the health of its population and on their return from the pilgrimage sites on the Arabian peninsula and consequently treated them as a risk group requiring special treatment with methods reminiscent of classical quarantines. Without taking issue with the suitability of the undertaken sanitary measures, one cannot deny that they were influenced by patronizing Orientalist perceptions and stereotypes relating to the Ottoman Empire and the Levant as departure points of epidemic diseases.
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61 Sigmund, Quarantäne-Reform, vii.
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Triangulation politischer Einflusssphären Die Vermessung Südosteuropas im Spiegel der österreichisch-ungarischen Balkanpolitik M ANFRED P FAFFENTHALER (K ONSTANZ )
E RKUNDUNGEN In der „Westhälfte der Alten Welt“, so der Königsberger Archäologe und Geograph Gustav Hirschfeld „dürfte es schwer sein, neue geographische Entdeckungen zu machen, wenn auch topographisch noch vielerlei zurechtgerückt werden kann und wird.“1 Aus geographischer Perspektive ist dieser Befund durchaus naheliegend, zumal im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts keine Region mehr eine Terra incognita darstellte. Hirschfeld verweist darüber hinaus aber auch auf den Umstand, dass das Voranschreiten der geographischen Disziplin gegebenenfalls ein Zurechtrücken früherer Erkenntnisse notwendig machte, was besonders für die Kartographie galt. Zwar waren die großen Landvermessungsprojekte bereits seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert in vollem Gange, doch machten die Weiterentwicklung der Vermessungsverfahren und die verbesserten Drucktechniken eine ständige Revision der Kartenwerke erforderlich.2
1
Gustav Hirschfeld war von 1878 bis 1895 Professor für Archäologie und Gründungsmitglied der Königsberger Geographischen Gesellschaft. HIRSCHFELD G[ustav], Der Standpunkt unserer heutigen Kenntnis der Geographie der alten Kulturländer, insbesondere der Balkan-Halbinsel, Griechenlands und von Kleinasien“, in: Geographisches Jahrbuch X (1884), 401–444, hier 403.
2
Zur französischen und den habsburgischen Landesaufnahmen siehe folgendes Kapitel.
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Abseits der akademischen Diskussion bekommt die in Hirschfelds Feststellung angelegte Doppeldeutigkeit aber auch noch eine weitere semantische Dimension, nämlich die des Politischen. Die politische Semantik des Zurechtrückens von Grenzen ging gewissermaßen mit der Expansionslogik der europäischen Großmächte einher, in der dem Fehlen vermeintlich neu zu entdeckender Gebiete beinahe zwingend die Notwendigkeit des Verschiebens bestehender Grenzen folgte. Die territoriale Expansion und die Ausdehnung politischer Einflusssphären wurden dabei oft lediglich mit dem Recht des Stärkeren legitimiert. Auch in Südosteuropa führten die von den europäischen Großmächten flankierten Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanländer wiederholt zu Grenzverschiebungen, die ihre vorläufigen Höhepunkte am Berliner Kongress von 1878 fanden. Die Festlegung politischer Grenzen ist in vielerlei Hinsicht ein komplexes Unterfangen, das aber letztlich auf topographischem Wissen basiert, das sich in möglichst exakten Karten wiederfinden sollte. Am Berliner Kongress waren sogenannte Delimitationskommissionen für die Bestimmung der genauen Grenzverläufe zuständig, so auch für die Festlegung der Grenzen von Serbien und Montenegro, die als unabhängige Staaten von den Signatarmächten anerkannt wurden. Dabei stützte sich die Kommissionen bei ihrer Arbeit auf die österreichische Generalstabskarte, da diese als eines der akkuratesten Kartenwerke der Region galt.3 Herausgegeben wurde die verwendete Generalstabskarte vom k. (u.) k. Militärgeographischen Institut (infolge als MGI abgekürzt)4, das seinen Sitz in Wien hatte und international über hohe Reputation verfügte. Für den vorliegenden Aufsatz von besonderem Interesse ist, dass mit seiner Gründung im Jahr 1839 eine deutliche Hinwendung zu Südosteuropa einherging, das nun zunehmend im Fokus all jener Kartographen lag, die nicht unmittelbar mit der Herstellung von Karten über das habsburgische Territorium beschäftigt waren. Einzelne Offiziere oder Spezialmissionen waren immer wieder mit der Vermessung und Aufnahme der Region
3
GEISS Imanuel (Hg.), Der Berliner Kongress 1878. Protokolle und Materialien,
4
Das Institut wurde bis 1888 als k. k. Militärgeographisches Institut bezeichnet. Von
Boppard am Rhein 1978. 1888 bis 1918 war seine offizielle Bezeichnung k. u. k. Militärgeographisches Institut. Da das Militär eine gemeinsame Einrichtung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie war, mussten auch die jeweiligen militärischen Institutionen entsprechend benannt werden. Die hier verwendete Schreibweise mit Klammern ergibt sich aus dem Umstand, dass die Umbenennung des Instituts während des Untersuchungszeitraums stattgefunden hat. MESSNER Robert, Das Wiener Militärgeographische Institut. Ein Beitrag zur Geschichte seiner Entstehung aus dem Mailänder Militärgeographischen Institut, in: Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 23/25 (1969), 206–292, hier 206.
T RIANGULATION
POLITISCHER
E INFLUSSSPHÄREN
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beschäftigt, sofern dies die politischen Beziehungen zu den jeweiligen Staaten gerade zuließen.5 So betonnte auch Vincenz Haardt, der ab 1887 Abteilungsvorstand am MGI war, noch einmal deutlich die Kontinuität des Interesses an Südosteuropa, wenn er festhält: „Es gehört mit zu den Traditionen unseres militär-geographischen Institutes, dass mit den kartographischen Arbeiten nicht an den Grenzen des eigenen Staatsgebietes Halt gemacht wird. Namentlich war der europäische Südosten seit jeher Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit.“6 Was die Karten selbst betrifft, so sind sie zunächst Medien, mit deren Hilfe Wissen über ein bestimmtes Territorium dargestellt und vermittelt wird. Mit den sich ständig verbessernden geodätischen und drucktechnischen Herstellungsverfahren erhöhte sich im 19. Jahrhundert die Exaktheit der Karten deutlich, womit sich Karte und Realität weiter annäherten.7 Die Frage nach den mathematischen und logischen Verfahren, die modernen Karten im wissenschaftlichen Sinne zugrunde liegen, soll hier aber nur am Rande eine Rolle spielen. Im vorliegenden Aufsatz wird vielmehr nach den politischen und kulturellen Bedingungen der Kartenherstellung und den Spezifika ihres Gebrauchs gefragt.8 In einer solchen Lesart „[…] bilden Karten ein Territorium nicht einfach ab, sondern bringen es hervor“, wie Sybille Krämer feststellt.9 So imaginieren auch die neu gezogenen Grenzen am Berliner Kongress bereits die politische Einheit der unabhängig gewordenen Balkanstaaten und nehmen zugleich schon die sozialen und kulturellen Transformationen vorweg, die mit der Grenzziehung einhergehen. Vor dem Hintergrund der eben angestellten Überlegungen, werden die kartographischen Praktiken des MGI sowie die von ihm hergestellten Karten genauer betrachtet. Dabei gilt es der Frage nachzugehen, inwieweit die hergestellten Karten die Balkanpolitik der Österreichisch-Ungarischen Monarchie widerspiegelten und was die Aktivitäten des MGI über das Selbstverständnis der Monarchie bzw.
5
REGELE Oskar, Beiträge zur Geschichte der staatlichen Landesaufnahme und Karto-
6
HAARDT Vincenz, Die Entwicklung der Kartographie in Oesterreich von 1848 bis
graphie in Österreich bis zum Jahre 1918, Wien 1955, 46. 1898, in: Friedrich Umlauft (Hg.), Die Pflege der Erdkunde in Oesterreich 1848–1898. Festschrift der k. k. Geographischen Gesellschaft aus Anlass des fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläums Sr. Majestät des Kaisers Franz Joseph I, Wien 1898, 83–92, hier 85. 7
KRÄMER Sybille, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität,
8
Krämer, Medium 300–303.
9
Krämer, Medium 302.
Frankfurt am Main 2008, 301 f.
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über ihre strategischen Interessen aussagen.10 Um diese Frage zu beantworten, wird ein allgemeiner Überblick über die Organisation der habsburgischen Landesaufnahmen und die Tätigkeiten des MGI gegeben, dem drei Fallbeispiele folgen, die sich mit der Vermessung Bosniens und der Herzegowina, Griechenlands sowie der europäischen Türkei beschäftigen. Dabei werden unterschiedliche Dynamiken sichtbar werden, die wesentlich Einfluss auf die Produktion von kartographischem Wissen im Untersuchungszeitraum hatten. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt hier auf dem Zeitraum zwischen dem Berliner Kongress und dem Beginn des Ersten Weltkrieges.
D IE HABSBURGISCHEN L ANDESAUFNAHMEN UND K . ( U .) K . M ILITÄRGEOGRAPHISCHE I NSTITUT
DAS
Möglichst umfassendes Wissen über Räume und Menschen zu generieren ist ein zentrales Anliegen moderner Staatlichkeit. Für die staatliche Verwaltung waren Statistik und Kartographie zunächst Mittel der Durchdringung und Aneignung von Territorium und Bevölkerung, um sich so den Zugriff auf unterschiedliche Ressourcen zu sichern. Wichtige Impulse für die staatliche Kartographie gingen von Frankreich aus, wo bereits 1750 mit einer vollständigen Landesaufnahme unter der Leitung von César François Cassini de Thury begonnen wurde. Die nach ihm benannte Carte de Cassini stellt eines der bedeutendsten modernen Kartenwerke dar, da darauf zum ersten Mal das gesamte Territorium eines Staates auf der Grundlage moderner Aufnahmemethoden dargestellt wird. Die Carte de Cassini – auch Carte de France genannt – beruht dabei auf umfassender Triangulation,
10 Zur Beantwortung dieser Frage wurden hauptsächlich publizierte Quellen herangezogen. Die folgenden Ausführungen stützen sich wesentlich auf die Mittheilungen des k. (u.) k. Militär-Geographischen Institutes, die vom k. k. Reichs-Kriegs-Ministerium von 1881 bis 1913 einmal jährlich herausgegeben wurden. Eine weitere spannende Quelle stellen die Mittheilung der k. k. Geographischen Gesellschaft dar, die seit 1857 einmal jährlich erscheinen. Vom ehemaligen Archiv des MGI ist leider kaum etwas erhalten geblieben, da vor allem nach dem Ersten Weltkrieg viele Akten skartiert wurden. Technische Aufzeichnungen und eine große Kartensammlung, die auf das MGI zurückgehen, finden sich heute noch im Bundesamt für Eich- u. Vermessungswesen. Bestände, die u. a. im unmittelbaren Bezug zum MGI stehen, finden sich auch noch im Kriegsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs. Zum Verbleib der Archivbestände des MGI vgl. Messner, Institut 208–211.
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die durch topographische Detailaufnahmen ergänzt wurde.11 Bei der Triangulation handelt es sich um ein Verfahren der Landvermessung auf Grundlage eines Dreiecksnetzes. Ausgehend von einem zentralen Vermessungspunkt und einer genau vermessenen Basislinie können über Winkelberechnungen Längen und Punkte der Dreiecke bestimmt und in Karten übertragen werden. In der Habsburgermonarchie begann ebenfalls im 18. Jahrhundert das erste große Landvermessungsprojekt, in dessen Kontext die Militärkartographie deutlich an Bedeutung gewann. Der Verlust Schlesiens an Preußen, der mit dem Ende des Siebenjährigen Kriegs 1763 endgültig wurde, machte deutlich, dass für künftige militärische Konfrontationen nicht mehr auf verlässliche Karten verzichtet werden konnte. Hohe Militärs sahen mitunter auch im Fehlen genauer Karten eine Ursache für die Kriegsniederlage, weshalb unmittelbar nach Kriegsende der Generalquartiermeisterstab von Maria Theresia damit beauftragt wurde, eine umfassende kartographische Aufnahme der Länder der Habsburgermonarchie durchzuführen.12 Diese erste Landesaufnahme, nach dem Mitregenten und Nachfolger Maria Theresias, Joseph II., als Josephinische Landesaufnahme bezeichnet, wurde zwischen 1764 und 1787 durchgeführt. Das Resultat dieser 23 Jahre dauernden kartographischen Aufnahme waren 3.589 Blätter, die allesamt per Hand gezeichnet waren und die strenger Geheimhaltung unterlagen.13 Umfang und Dauer der Josephinischen Landesaufnahme verweisen letztlich auf die Bedeutung dieses Unterfangens. Damit kann diese Landesaufnahme auch in eine Reihe von organisatorischen Maßnahmen und Reformen eingliedert werden, die von Maria Theresia und Joseph II. angestoßen wurden, um die Effizienz des Staates und seiner Verwaltung zu steigern und so weiter im europäischen Konzert der Mächte zu bestehen.14
11 DÖRFLINGER Johannes/WAGNER Robert/WAWRIK Franz, Descriptio Austriae. Österreich und seine Nachbarn im Kartenbild von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert, Wien 1977, 28. 12 HOFSTÄTTER Ernst, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahme, I./II. Teil, Wien 1989. Von der Aufnahme ausgenommen waren Tirol und die Österreichischen Niederlande, da von diesen schon entsprechende Karten existierten. Hofstätter, Beiträge 36. 13 Dörflinger/Wagner/Wawrik, Descriptio 38; Regele, Beiträge 33; Hofstätter, Beiträge 35 ff. 14 Zu den Maßnahmen und Reformen zählten etwa die Einführung der allgemeinen Schulpflicht oder die Erstellung des Katasters zur Erfassung von Gemeinde- und Grundstücksgrenzen, die u. a. steuerlichen Zwecken diente.
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Das Militär erschien als die richtige Institution zur Durchführung der Landaufnahme, zumal es über die nötigen personellen Ressourcen und die organisatorische Struktur verfügte, die für eine solche Aufgabe notwendig waren. Trotz der Bemühungen der Aufnahmeoffiziere wies die erste Landesaufnahme einige Mängel auf, wobei ein großes Problem das Fehlen einer zusammenhängenden Triangulation darstellte. So folgte unter Franz I. auch der Beschluss, das gesamte Territorium der Monarchie neu aufzunehmen. Die sogenannte Franziszeische Landesaufnahme begann 1808 und endete erst nach über 60 Jahren im Jahr 1869.15 Die lange Dauer dieser Aufnahme mag sich aus den Kriegen und politischen Umbrüchen erklären, die diese Zeitspanne kennzeichnen, zugleich verweist sie aber auch erneut auf den enormen Umfang eines solchen Unternehmens. In die Zeit der zweiten Landesaufnahme fällt nun auch die Gründung des MGI im Jahr 1839, das zwei Jahre später in das für das Institut neu errichtete Gebäude am Wiener Glacis einzog. Das MGI ging ursprünglich aus der Zusammenlegung des Mailänder Instituto Grafico Militare16 und der Wiener Topographisch-Lithographischen Anstalt hervor. Bereits 1818 hatte Franz I. die Verlegung des Mailänder Instituts nach Wien beschlossen, sobald die Arbeiten in Mailand abgeschlossen seien.17 Der Kaiser begründet seinen Beschluss damit, dass in keiner Provinz ein ähnliches Institut bestünde und deshalb auch das Mailänder Institut nach Wien umgesiedelt werden müsse, um dort ein „großes Ganzes“ zu bilden.18 Neben technischen, ökonomischen und organisatorischen Gründen, wie etwa die Erleichterung der Aufsicht durch den Generalquartiermeisterstab, sprachen auch politische und strategische Überlegungen für die Zusammenführung der beiden Institute in Wien. Ein dermaßen wichtiges Institut wie das Mailänder, sollte nicht so nahe an der Grenze der Monarchie fortbestehen, da sein Verlust bei einer „plötzlichen Invasion“ oder bei „unvorhergesehen Ereignissen“ drohen könnte. Damit würden auch die „kostbaren Materialien“ verlorengehen, die dort versammelt waren, allen voran die Karten selbst.19
15 Hofstätter, Beiträge; Dörflinger/Wagner/Wawrik, Descriptio 31 f; Regele, Beiträge 34. 16 Das Institut geht auf eine Gründung Napoleons I. zurückgeht und wurde 1814 vom österreichischen Generalquartiermeisterstab übernommen. 17 Darunter fiel etwa auch die Herstellung einer Karte des Königreichs Lombardo-Venetien. 18 Kaiserliche Entschließung vom 5. Januar 1818 zitiert nach Regele, Beiträge 45. 19 Schreiben an Seine Majestät von Graf von Hardegg GdC vom 11. September 1837 zitiert nach Messner, Institut 254 f.
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Abbildung 1: Mappeure des MGI samt Ausrüstung
Quelle: Anno, Österreichische Nationalbibliothek20
Wie die beiden bisher genannten Landesaufnahmen zeigen, wurden groß angelegte Kartierungsprojekte auf höchster Ebene entschieden. Es entsprach darüber hinaus der Logik der zentralen Verwaltung, das neugegründete MGI in Wien anzusiedeln. Die dritte Landesaufnahme, die sogenannte Franzisco-Josephinische Landesaufnahme, schloss nun unmittelbar an die zweite an, wobei sich hier das MGI für die Leitung und Organisation bereits hauptverantwortlich zeigte. Spätestens mit dieser dritten Landesaufnahme, die von 1869 bis 1887 durchgeführt wurde, erlangte das MGI den Ruf einer Institution von Weltrang, die für ihre kartographische Arbeit über die Grenzen der Habsburgermonarchie hinaus Anerkennung erfuhr. So waren etwa im Jahr 1911 neben anderen auch Offiziere aus Japan zu Gast am MGI, um sich über die Verfahren des Wiener Instituts ein Bild zu machen.21 Die beiden wichtigsten Kartenwerke, die nun aus der dritten Landaufnahme hervorgingen, waren die neue Spezialkarte 1:75.000 und die Generalkarte 1:200.000. Zwar war schon in der vorangegangenen Aufnahme eine Spezialkarte im selben Maßstab erstellt worden, doch galt das Aufnahmematerial mittlerweile als veraltet, weshalb eine vollständige Neuaufnahme der Monarchie unternommen
20 ANONYM, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XVIII (1898), Beilage. 21 Hofstätter, Beiträge 104; Messner, Institut 281 f.
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wurde. Der relativ kurze Durchführungszeitraum der Aufnahme verweist auf den großen Ressourceneinsatz, der damit verbunden war. So waren für die Herstellung der neuen Spezialkarte insgesamt 333 Personen alleine als Zeichner beschäftigt. Schließlich wurden im Jahr 1889 die letzten Teile des 752 Blätter umfassenden Werks veröffentlicht.22 Der schon zuvor erwähnte Vincenz Haardt beschreibt die Herstellung der Spezialkarte mit unverhohlener Begeisterung, wenn er meint: „Es war damit eine Leistung vollbracht, welche in der Geschichte der Kartographie ohne Beispiel dasteht und welche die gerechte Bewunderung aller Staaten erregt hat, die zu der Lösung ähnlicher Aufgaben berufen sind.“23 Mit den Arbeiten an der Generalkarte 1:200.000 wurde dagegen erst 1884 begonnen. Entsprechend ihres kleineren Maßstabes sollte sie vorrangig einen Überblick bieten, doch zugleich auch die für das Militär wichtige Geländebeschaffenheit wiedergeben. Darüber hinaus war sie auch für den wissenschaftlichen Gebrauch sowie für verkehrstechnische Zwecke gedacht. Das dargestellte Terrain der einzelnen Blätter entsprach dabei acht Blättern der Spezialkarte, womit der gleichzeitigen Gebrauch beider Karten erleichtert werden sollte.24 Die Generalkarte umfasste ganz Mitteleuropa und den Balkan und zählte im vollen Umfang 265 Blätter. Die Veröffentlichung der Karten des MGI bedurfte der Freigabe durch den Generalstab, der diese nach militärischen Überlegungen entschied. Im Gegensatz zur ersten Landesaufnahme unterlagen die Karten der dritten nun aber kaum noch der Geheimhaltung. Von der Veröffentlichung ausgenommen waren lediglich die originalen Aufnahmeblätter und die beigefügten Landesbeschreibungen.25 Nach diesem gerafften Überblick über die habsburgischen Landesaufnahmen sowie über die Kartenproduktion des MGI soll nun genauer auf die kartographische Aufnahme Südosteuropas im Kontext der österreichisch-ungarischen Balkanpolitik eingegangen werden. Dabei wird zunächst mit der Vermessung Bosniens und der Herzegowina begonnen, die den exzellenten internationalen Ruf des MGI mitbegründete.26
22 HAARDT Vincenz, Das k. u. k. militär-geographische Institut von 1848 bis 1898, in: Friedrich Umlauft (Hg.), Die Pflege der Erdkunde in Oesterreich 1848–1898. Festschrift der k. k. Geographischen Gesellschaft aus Anlass des fünfzigjährigen Regierungs-Jubiläums Sr. Majestät des Kaisers Franz Joseph I., Wien 1898, 93–106, hier 98 f. 23 Haardt, Institut 100. 24 Haardt, Institut 101. 25 Hofstätter, Beiträge 169 f. 26 Haardt, Institut 100.
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H ERZEGOWINA
Dem eingangs erwähnten Berliner Kongress ging die Orientkrise der Jahre 1875 bis 1878 voran, die ihren Anfang in der Herzegowina nahm, wo sich christliche Bauern gegen die als zu hoch empfunden Steuerabgaben auflehnten. Der Aufstand, der sich bald auf Bosnien ausbreiteten sollte, entwickelte sich schnell zu einer internationalen Krise. Dabei forderten das harte Eingreifen des osmanischen Militärs und das Vorgehen irregulärer Truppen nicht nur viele Todesopfer, sondern lösten auch eine enorme Fluchtbewegung aus. Schätzungen sprechen von 100.000 bis 250.000 Personen, die die Grenze zu Österreich-Ungarn überschritten, was international scharf kritisiert wurde. Die Gunst der Stunden nutzend, erklärten Serbien und Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg, mit der Absicht, die beiden Provinzen unter sich aufzuteilen. Da aber Serbien bald militärische unterlegen war, kam es zur Intervention Russlands, das sich als Schutzmacht der orthodoxen Balkanchristen verstand. Letzten Endes führten diese Entwicklungen zum russisch-osmanischen Krieg von 1877/78, bei dem die russischen Truppen im Westen bis vor die Tore Istanbuls gelangten.27 Der militärische Erfolg erlaubte es Russland den Frieden von San Stefano zu diktieren, der u. a. erhebliche Gebietsverluste des Osmanischen Reich zugunsten Bulgariens mit sich brachte. Bosnien und die Herzegowina sollten weiterhin Teile des Osmanischen Reiches bleiben, das sich aber dazu verpflichten musste, die nötigen Reformen in den beiden Provinzen durchzuführen.28 Letztlich bedeutete der Friedensvertrag von San Stefano einen deutlichen Zuwachs des russischen Einflusses am Balkan, was von den übrigen europäischen Mächten mit Sorge beobachtet wurde. Vor allem Österreich-Ungarn und England drängten – auch mit Kriegsdrohungen – auf Neuverhandlung des Vertrages, was schließlich am Berliner Kongresses geschah.29 Für Österreich-Ungarn ergab sich so aber auch die Gelegenheit, Bosnien und die Herzegowina in die Habsburgermonarchie zu integrieren, womit schlussendlich ein lang diskutiertes Vorhaben umgesetzt werden konnte. Bereits Anfang der 1870er-Jahre hatte sich gerade in militärischen Kreisen der Gedanke der Expansion Richtung Balkan verfestigt. Ein vorrangiges Ziel war dabei die Sicherung Dalmatiens durch die Einnahme seines Hinterlandes, namentlich der osmanischen Provinzen Bosnien und der Herzegowina. Auch der k. u. k.
27 MALCOLM Noel, Geschichte Bosniens, Frankfurt am Main 1996, 157 f. 28 Malcolm, Geschichte 158. 29 Am Kongress beteiligt waren Delegationen aus Österreich-Ungarn, dem Osmanischen Reich sowie aus Deutschland, England, Russland, Italien und Frankreich.
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Außenminister Gyula Graf Andrássy stimmte mit diesem Vorhaben überein, indem er ein Ende der „Abstinenzpolitik“ am Balkan forderte und die Besitznahme der beiden Provinzen als ein wesentliches Ziel der österreichisch-ungarischen Balkanpolitik definierte.30 Vor dem Hintergrund dieser Zielsetzung mag es nun mehr als nur zufällig erscheinen, dass bereits zwischen 1871 und 1875 Geodäten des MGI in der gesamten europäischen Teil des Osmanischen Reichs unterwegs waren, um astronomische Ortsbestimmungen im Zuge der Europäischen Gradmessung durchzuführen. Dieses internationale Vermessungsprojekt, das in den 1860er-Jahren von Preußen angestoßen wurde, hatte es sich zum Ziel gemacht, Größe und Gestalt der Erde exakt zu ermitteln. Nun muss man nicht so weit gehen, dahinter einen geheimen Auftrag zu vermuten, doch lieferte dieses Projekt mit Sicherheit wertvolle Informationen, die auch in militärischer Hinsicht relevant waren.31 Oberstleutnant Heinrich Hartl, der selbst einen Teil jener Vermessungen durchführt hatte und später Leiter der trigonometrischen Abteilung am MGI wurde, sprach von ganzen 500 Punkten, die astronomisch und von 400 Punkten, die trigonometrisch gemessen wurden. Dazu kamen noch barometrische Messungen mit deren Hilfe mehrere tausend Höhen bestimmt werden konnten.32 Im Zuge der europäischen Gradmessungsmission wurde nun auch Bosnien und der Herzegowina besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die entsprechenden Vermessungsarbeiten wurden dabei von k. k. Hauptmann im Generalstab Heinrich von Sterneck zwischen 1871 und 1873 durchgeführt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Mission von Sterneck nicht nur offiziell vom Gouverneur in Sarajevo genehmigt worden war, sondern auch, dass sie ferner die Unterstützung von lokalen Beamten erhielt. Was die osmanische Führung dazu veranlasste, diese Genehmigungen zu erteilen, kann nach gegenwärtigem Wissenstand leider nicht beantwortet werden. Da es sich aber um ein internationales Projekt handelte, wäre es durchaus möglich, dass auch ein Teil der Vermessungsergebnisse an die
30 HASELSTEINER Horst, Zur Haltung der Donaumonarchie in der Orientalischen Frage, in: Ralph Meleville/Hans-Jürgen Schröder (Hg.), Der Berliner Kongress von 1878. Die Politik der Grossmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der Zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Wiesbaden 1982, 227–243, hier 229–233. 31 KOVÁCS Béla/TIMÁR Gábor, The Austro-Hungarian Triangulations in the Balkan Peninsula (1855–1875), in: Georg Gartner/Felix Ortag (Hg.), Cartography in Central and Eastern Europe. Selected Papers of the 1st ICA Symposium on Cartography for Central and Eastern Europe, Berlin/Heidelberg 2010, 535–544. 32 ANONYM, Der IX. Deutsche Geographentag, in: Mittheilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft XXIV (1891), 227–236.
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osmanische Verwaltung weitergegeben wurde.33 Sterneck veröffentlichte seine Beobachtungen 1877 und verwies darin einleitend auf die umfangreichen Kenntnisse, die er im Zuge seiner Mission sammeln konnte: „Ich habe im Auftrag des k. k. Reichs-Kriegs-Ministeriums und mit Bewilligung der kais. türkischen Regierung durch drei Jahre Bosnien, die Herzegovina und Nord-Montenegro behufs Triangulierung und astronomischer Ortsbestimmungen bereist und hiebei eine eingehende Kenntnisse dieser Länder gewonnen, denn es wird kaum einen bedeutenderen Weg oder ein grösseres Dorf in diesen Gegenden geben, die ich nicht gesehen hätte.“34 Damit führt Sterneck sehr deutlich aus, dass er über die topographischen Verhältnisse des Landes äußerst gut Bescheid wusste, was letztlich auch für den späteren Okkupationsfeldzug relevant war. Bevor es aber zur Okkupation durch die österreichisch-ungarischen Truppen kam, wurde am Berliner Kongress der Vertragsschluss von San Stefano neuverhandelt und so über das weitere Schicksal Südosteuropas bestimmt. Die osmanische Delegation spielte bei den Verhandlungen nur eine Nebenrolle. Aus der geschwächten Position der Besiegten konnten sie ihren Einsprüchen gegen die Forderungen der Großmächte kaum Geltung verleihen. Besonders der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck, der sich als starker Gastgeber sah und auf schnelle Beschlüsse drängte, trat den osmanischen Verhandlungspartner gegenüber bisweilen despektierlich auf.35 Was die beiden osmanischen Provinzen Bosnien und die Herzegowina betraf, so stellte der k. u. k. Außenminister Andrássy in seiner Eröffnungsrede klar, dass Österreich-Ungarn, als unmittelbarer Nachbar der beiden Länder, sehr an der Lösung der dortigen Probleme gelegen sei. Dabei verwies er auch auf die große Zahl an Flüchtlingen, die über die Grenze gekommen waren und die seit drei Jahren versorgt werden mussten, was wiederum
33 Die osmanische Kartenproduktion des 18. und 19. Jahrhunderts basierte im Wesentlichen auf Übersetzungen. So wurden z. B. Karten und Atlanten aus dem Französischen übersetzt und verwendet. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bildete das osmanische Militär zwar selbst Karten-Offiziere aus, doch blieb der „europäische“ Einfluss auf die osmanische Kartographie weiterhin hoch. Vgl. dazu KREISER Klaus, Türkische Kartographie, in: Ingrid Kretschmer/Johannes Dörflinger/Franz Wawrik (Hg.), Lexikon zur Geschichte der Kartographie, Bd. 2, Wien 1986, 828–830; KARAMUSTAFA Ahmet T., Introduction to Ottoman Cartography, in: J.B. Harley/David Woodward (Hg.), The History of Cartography 2.1. Cartography in the Traditional Islamic and South Asian Societies. Chicago/London 1992, 206–209. 34 STERNECK Heinrich, Geografische Verhältnisse, Communicationen und das Reisen in Bosnien, der Herzegovina und Nord-Montenegro, Wien 1877, 7. 35 Geiss, Kongress XX.
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enorme Kosten verursache. Die Hohe Pforte sah er dagegen nicht mehr in der Lage, die Probleme in ihren nordwestlichen Provinzen in den Griff zu bekommen.36 Der Antrag auf Okkupation wurde aber letztlich nicht von Österreich-Ungarn gestellt, sondern – wie zuvor vereinbart – von der britischen Delegation, die sich für die Besetzung und Verwaltung der Gebiete durch die Habsburgermonarchie aussprachen.37 Damit ging die seit Beginn der 1870er-Jahre erkennbare Strategie Österreich-Ungarns auf, nämlich die Eingliederung der osmanischen Provinzen als Befriedungsmaßnahme darzustellen, ohne dabei einen Angriffskrieg führen zu müssen.38 Wie gut dieser Plan letzten Endes funktionierte, zeigt ein Kommentar eines französischen Unterstützer des Okkupationsantrages, der „das Einschreiten der Regierung Österreich-Ungarns [als] eine europäische Polizeimaßnahme“ bezeichnete.39 Die Verhandlungen endeten mit dem Beschluss, dass die Provinzen Bosnien und die Herzegowina von Österreich-Ungarn zu besetzen und zu verwalten seien, was so auch im Artikel 25 des Vertrages festgeschrieben wurde.40 Mit Detailfragen wollte man sich nicht weiter aufhalten; diese sollten in bilateralen Verhandlungen geklärt werden. Über die wichtige Frage nach der Oberhoheit über die Provinzen konnte man sich im Jahr darauf, in der Konvention von 1879, einigen, in der die Souveränität des Sultans über das okkupierte Gebiet weiterhin anerkannt wurde. Der Forderung, die Okkupation temporär zu begrenzen, wurde jedoch von Seiten Österreich-Ungarns nicht nachgekommen.41 So führten diese beiden Verträge auch zu einem staatsrechtlich umstritten Status der okkupierten Provinzen, da sie völkerrechtlich weiterhin Bestandteil des Osmanischen Reiches blieben, doch Österreich-Ungarn die faktische Staatsgewalt im vollen Umfang inne hatte.42 Nicht nur Kaiser Franz Joseph war mit dieser Lösung nie ganz zufrieden, da er
36 Protokoll Nr. 8, Sitzung vom 28. Juni 1978, in: Geiss, Kongress 240 ff. 37 Ebd. 242 f.; vgl. dazu auch WURMBRAND Norbert, Die rechtliche Stellung Bosniens und der Herzegowina, in: Wiener Staatswissenschaftlich Studien 12, 139–286, hier 143 f. 38 Haselsteiner, Haltung 230–233. 39 Protokoll Nr. 8, Sitzung vom 28. Juni 1978, in: Geiss, Kongress 247. 40 Geiss, Kongress 388. Im Artikel 25 wird auch festgehalten, dass die österreichisch-ungarische und die türkische Regierung über die Stationierung von Truppen im Sandschak von Novi Pazar noch im Detail verhandeln werden. 41 Wurmbrand, Stellung 144 f; PALOTÁS Emil, Machtpolitik und Wirtschaftsinteressen. Der Balkan und Rußland in der österreichisch-ungarischen Außenpolitik 1878–1895, Budapest 1995, 29–37. 42 Wurmbrand, Stellung 153 f.
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eine Annexion mit eindeutig völkerrechtlichen Status wünschte, auch das liberale Lager übte entsprechend Kritik. Letzteres befürwortete zwar die Ausdehnung des wirtschaftlichen Einflusses am Balkan, doch sollte der politische Status quo dabei beibehalten werden. Man fürchtete darüber hinaus den mit der Okkupation verbundenen Zuwachs des slawischen Bevölkerungsteils, der das politische Gleichgewicht zwischen Deutschen und Magyaren innerhalb der Doppelmonarchie empfindlich hätte stören können.43 Der Okkupationsfeldzug, der bereits am 29. Juli 1878 begann, war von heftigen Kämpfen gekennzeichnet, die schwerer waren, als von der k. u. k. Militärführung erwartet. Der Widerstand gegen den Einmarsch der k. u. k. Truppen regte sich vor allem unter der muslimischen und orthodoxen Bevölkerung. Gerade letztere wollten nicht unter habsburgische Herrschaft, nachdem sie die osmanische eben erst losgeworden waren. Am Ende dauerte die Eroberung und Besetzung der Provinzen aber weniger als drei Monate, was nicht zuletzt an den strategischen Informationen lag, die von österreichisch-ungarischen Geodäten wie Sterneck zuvor gesammelt worden war. So wusste die k. u. k. Heeresführung sehr genau über die bosnischen Städte und die militärisch relevante Infrastruktur, wie Straßen und Brücken, Bescheid.44 Zur Verwaltung der okkupierten Gebiete wurde das k. u. k. Finanzministerium bestimmt, da die beiden Provinzen weder ausschließlich der österreichischen noch der ungarischen Reichshälfte zugesprochen werden sollten. Das erklärte Ziel von Finanzminister Benjamin von Kállay war dabei die Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards, die u. a. mit dem Ausbau des Verkehrsnetzes und dem Aufbau der Industrie erreicht werden sollte.45 Viele der angestrebten Reformen konnten aber erst nach entsprechender Vorarbeit umgesetzt werden, was besonders für die Agrarreform galt, die einer umfassenden Katastralvermessung bedurfte.46 So
43 KOLM Evelyn, Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperialismus, Frankfurt am Main 2001, 105 f; Palotás, Machtpolitik 30 f. 44 Malcolm, Geschichte 160 f. 45 HEUBERGER Valeria, Politische Institutionen und Verwaltung in Bosnien und der Hercegovina 1878–1918, in: Adam Wandruszka/Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. 7/2: Verfassung und Parlamentarismus. Die Repräsentativkörperschaften, Wien 2000, 2384. 46 Heuberger, Institutionen 2390. Wichtige Maßnahmen, die unmittelbar nach der Okkupation stattfanden, waren darüber hinaus die Durchführung einer Volkszählung und die Nummerierung der Häuser. Dazu: ANONYM, Katastral-Vermessung in Bosnien und der Herzegovina, in: Mittheilungen des k. k. Militär-Geographischen Instituts I (1881), 73–82, hier 73.
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wurde bereits 1879 eine Kommission gegründet, die die nötigen Vorbereitungen für diese Vermessung treffe sollte. Als oberstes Durchführungsprinzip wurde dabei die Verwendung des Gradkartensystems der Spezialkarte 1:75.000 festgelegt, womit nun auch der bosnisch-herzegowinische Kataster der systematischen Unterteilung der Spezialkarte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie entsprach.47 Damit wurde ein geometrisches Raster über die neu gewonnenen Gebiete gelegt, das nicht nur die Vermessung erleichterte, sondern auch als Grundlage für die administrative Integration der beiden Provinzen in die Monarchie diente. Vermessungstechnisch machte dieses Vorgehen durchaus Sinn, da Triangulation und Katastralvermessung möglichst effizient ineinandergreifen sollten.48 Für die Durchführung zeichnete das MGI verantwortlich, das die im Jahr 1880 begonnen Vermessung bereits 1884 vollenden konnte. Nur fünf Jahre später waren auch die 60 Blätter der erweiterten Spezialkarte 1:75.000 fertig, der eine aktualisierte Auflage der Generalkarte 1:200.000 folgte.49 Im Zusammenhang mit der zu behandelnden Fragestellung ist nun besonders interessant, dass das MGI nicht nur umgehend nach der Okkupation mit der Vermessung begonnen hatte, sondern vor allem auch, dass die neu aufgenommenen Blätter als Teile der Spezial- bzw. Generalkarte präsentiert wurden. Bedenkt man, dass Bosnien und die Herzegowina völkerrechtlich noch immer Bestandteil des Osmanischen Reiches waren und Österreich-Ungarn die Souveränität des Sul-
47 ANONYM, Katastral-Vermessung 73. Unter den Mitgliedern der Kommission befand sich auch der spätere Direktor der Katastralvermessung Oberst Johann Ro kiewicz, der für seine Studien über Bosnien und die Herzegowina bekannt ist. 48 ANONYM, Katastral-Vermessung. Für die Triangulation I. bis IV. Ordnung, die ans Inlands-Dreiecksnetz anschloss und auf die sich die Vermessungen des Katasters stützten, wurden lediglich drei Monate Vorsprung eingeplant. Im Jahr 1880 waren deshalb auch sieben Abteilungen ausschließlich mit der Triangulation beschäftigt, wobei eine Abteilung drei Offiziere und sieben Infanteristen zählte. Da die Sicherheitslage im okkupierten Gebiet als noch nicht völlig unbedenklich galt, konnten die Offiziere Bedeckung durch das nächstgelegene Kommando anfordern. Des Weiteren wurden die Infanteristen der Abteilungen mit je einem zusätzlichen Revolver samt Munition ausgestattet. Dazu: ANONYM, Bericht über die Leistungen des k. k. militär-geographischen Instituts, in: Mittheilungen des k. k. Militär-Geographischen Instituts II (1882), 2–40, hier 9–18. 49 HAARDT Vincenz, Die Kartographie der Balkan-Halbinsel im XIX. Jahrhunderte, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XXII (1902), 155–489, hier 485.
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tans – zumindest formell – anerkannt hatte, ist dieser Umstand durchaus bemerkenswert.50 Auf vielen Karten wird die völkerrechtlich relevante Unterscheidung des Okkupationsgebietes vom Habsburgerterritorium oft erst auf den zweiten Blick deutlich, wie z. B. auch auf der nachfolgenden Übersichtskarte aus dem Jahr 1885, die ebenfalls vom MGI herausgegeben wurde (Abb. 2). Diese Karte mit dem Titel Die kaiserlich-königliche Österreichisch-Ungarische Monarchie bietet einen Überblick über die Vermessungstätigkeiten im Zuge der dritten Landesaufnahme, wobei die jeweiligen Aufnahmejahre rot eingetragen sind. Der Titel der Karte sowie der verwendete Farbcode evozieren ein nach außen hin abgegrenztes Gesamtbild der Monarchie. Die wesentliche visuelle Differenz besteht in der Abgrenzung zu den in Weiß gehaltenen Nachbarstaaten, was die kolorierten Länder als ein Ganzes erscheinen lässt. Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass das okkupierte Gebiet durch die eingezeichnete Reichsgrenze von den übrigen Teilen der Monarchie getrennt ist. Mit der semiotischen Abgrenzung durch Linie-PunktLinie (=Reichsgrenze) erfüllte Österreich-Ungarn zwar seine völkerrechtlichen Verpflichtungen, doch verweist die kartographische Gesamtdarstellung auf eine Doppelstrategie, in der die Anerkennung der osmanischen Gebietshoheit lediglich als formale Pflicht angesehen wurde.51
50 Wurmbrand, Stellung. Zu einer Verletzung der Souveränität des Sultans kam es bereits 1881 mit dem Erlass des Wehrgesetzes für Bosnien und die Herzegowina. Vgl. dazu Heuberger, Institutionen 2385 f. 51 Neben der eingezeichneten Reichsgrenze findet sich ein weiterer Hinweis auf die Sonderstellung der okkupierten Provinzen im statistischen Übersichtskasten (im rechten unteren Teil der Karte): Hier werden Fläche und Bevölkerung des Okkupationsgebietes gesondert angeführt.
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Abbildung 2: Die kaiserlich-königliche Österreichisch-Ungarische Monarchie 1:1.200.000
Quelle: Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen52
Die oben beschriebene Doppelstrategie findet sich auch in anderen kartographischen Darstellungen. Vor allem in den zwischen dem Okkupationsjahr 1878 und der Annexion 1908 herausgegebenen Schulatlanten wird die Zugehörigkeit Bosniens und der Herzegowina zur Habsburgermonarchie durch den jeweiligen Kartentitel und den entsprechenden Farbcodes suggeriert. Die Reichsgrenze blieb wie im oben besprochenen Beispiel meist als solche erkennbar, doch gibt es auch Ausnahmen, wie etwa die von Professor Richard Trampler für den Mittelschul-Atlas gezeichnete Karte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Die Reichsgrenze zum Okkupationsgebiet wurde darin kurzerhand zur Staatsgrenze umgezeichnet und die neugewonnenen Provinzen so als integrale Bestandteile des Habsburgerreiches präsentiert.53 Letztlich bestätigt die kartographische Repräsentation Österreich-Ungarns im Untersuchungszeitraum, dass die Okkupation eine auf Dauer ausgelegte Unternehmung war, die die vollständige Integration der Provinzen in das habsburgische Territorium zum Ziel hatte. Die Karten nehmen auf visueller Ebene bereits vorweg, was spätestens mit der Annexion 1908 Realität wurde.
52 BEV Archiv, 3LA, Aufnahmejahre. 53 R. Tramplers Mittelschul-Atlas. Approbiert vom hohen k. k. Ministerium für Cultus und Unterricht, Wien 1900, 11.
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Die Annexion löste erneut eine internationale Krise aus. Neben dem Osmanischen Reich protestierten vor allem England, Russland und Serbien heftig gegen das eigenmächtige Vorgehen Österreich-Ungarns. Die Protestwelle ebbte aber ab, als die Hohe Pforte nach zähen Verhandlungen die Annexion im darauffolgenden Jahr anerkannte. Österreich-Ungarn musste im Gegenzug sein Interesse am Sandschak von Novi Pazar aufgeben und eine Ablöse für das osmanische Immobilienvermögen in den beiden annektierten Provinzen zahlen.54 Ob die Investitionen und durchgeführten Reformen diesen Schritt rechtfertigen mochten oder nicht, mit der Annexion ging eine Verletzung der Souveränität des Osmanischen Reiches einher, die man für die „dynastische[n] Expansion“ in Kauf zu nehmen bereit war.55 Eingefasst wurde die Expansionspolitik durch die vom MGI produzierten Karten, indem diese visuelle Kohäsion erzeugten, die wesentlich zur Imagination einer neuen territorialen Integrität der Monarchie beitrugen.56 Nachdem bisher versucht wurde, etwas mehr Licht in das enge Zusammenspiel von Außenpolitik, Vermessung und Kartenproduktion im Fall Bosniens und der Herzegowina zu bringen, soll nun in Folge auf Griechenland und die europäische Türkei eingegangen werden.
G RIECHENLAND Dem seit 1830 unabhängigen Staat Griechenland war ebenfalls sehr daran gelegen, sein Territorium umfassend und nach modernen Standards zu vermessen. Es sollte aber bis zum Ende der 1880er-Jahre dauern, bis dieses Vorhaben tatsächlich in die Tat umgesetzt werden konnte. Der Souveränität Griechenlands, die mit dem Londoner Protokoll vom 3. Februar 1830 beschlossen wurde, ging ein Unabhän-
54 Wurmbrand, Stellung 165 f. 55 Haselsteiner, Haltung 243. 56 Als ein weiteres Beispiel für visuelle Kohäsion kann das sogenannte Kronprinzenwerk angeführt werden, in dem Bosnien und der Herzegowina ein eigener Band gewidmet wurde, der im Jahr 1901 erschien. Beim Kronprinzenwerk handelt es sich um eine ethnographische Gesamtdarstellung der Monarchie, die unter staatlicher Regie herausgegeben wurde. Die Beschreibung der beiden Provinzen, aber vor allem die Illustrationen von Land und Menschen, trugen ebenfalls zur (visuellen) Kohäsion der Monarchie bei. Vgl. dazu das aktuelle Forschungsprojekt des Autors „Staatlichkeit und visuelle Kohäsion in den Wissenschaften der Österreichisch-Ungarischen Monarchie“, http://www.uni-konstanz.de/reales/pfaffenthaler.html (25.07.2017).
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gigkeitskrieg voran, der bis zu diesem Zeitpunkt bereits beinah zehn Jahre andauerte. In diesem Krieg kämpften nicht nur griechische Aufständische gegen die osmanische Herrschaft, sondern auch eine britisch-französisch-russische Koalition, die mit ihrem Eingreifen 1827 die entscheidende Wende für die Unabhängigkeit Griechenlands brachten. Die am Unabhängigkeitskampf beteiligten Großmächte beschlossen im Londoner Vertrag von 1832 sodann die Einsetzung Ottos von Wittelsbach als künftigen König, der kurz darauf von der griechischen Nationalversammlung bestätigt wurde.57 Die Ernennung des bayrischen Prinzen zum griechischen König zeugt vom ganzen Ausmaß der Komplexität der unterschiedlichen Machtinteressen und war letztlich ein „Produkt europäischer Großmachtsdiplomatie“, wie Ioannis Zelepos festhält.58 Das Territorium des neuen griechischen Staates beschränkte sich 1830 aber lediglich auf Zentralgriechenland, die Peloponnes und die kykladischen Inseln. Einen wesentlichen Gebietsgewinn sollte es erst infolge des Berliner Kongresses geben, auf dem Griechenland die Regionen Thessalien und der südliche Teil von Epirus zugesprochen wurden. Nach weiteren Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich über den genauen Grenzverlauf wurden die genannten Gebiete 1881 Teil des griechischen Staatsgebietes, das sich damit um mehr als ein Drittel vergrößerte.59 Es waren nun auch diese neu erworbenen Gebiete, die laut dem bereits erwähnten Heinrich Hartl den Anforderungen kartographischer Darstellung am wenigsten genügten.60 Zu Thessalien führt Hartl aus: „Als […] Griechenland die Provinz Thessalien erhielt, besaß es wieder ein Stück Land, dessen Kartographie nur auf Itineraren basieren.“61 Da Itineraren ein Kartentyp sind, die auf Reisebeschreibungen basierten und im Mittelalter weit verbreitet waren, suggeriert seine Aussage auch, dass sich das im Osmanischen Reich gängige Kartenwissen auf ähnlichem Stand befände.62 Diese Kritik ist durchaus nicht unüblich und knüpft
57 ZELEPOS Ioannis, Kleine Geschichte Griechenlands. Von der Staatsgründung bis heute, München 2014, 46–56. 58 Zelepos, Geschichte 48. 59 Zelepos, Geschichte 73 f. 60 HARTL Heinrich, Meteorologische und magnetische Beobachtungen in Griechenland, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XIV (1894), 187–241, hier 187. 61 HARTL Heinrich, Die Landesvermessung in Griechenland, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts X (1890), 187–217, hier 194. 62 Zur osmanischen Kartographie vgl. Fußnote 33 in diesem Beitrag.
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an die Tradition von pejorativen Zuschreibungen an, die von Edward Said als Orientalismus bezeichnet wird.63 Es ist natürlich kein Zufall, dass Hartl sich zum Stand der Kartographie im Osmanischen Reich bzw. in Griechenland äußert, zumal er ja bereits im Zuge der Europäischen Gradmessung in der Region unterwegs war (siehe oben). Mit Sicherheit kamen ihm diese Erfahrungen auch zugute, als er nach einem Unterstützungsansuchen der griechischen Regierung zum Leiter der österreichisch-ungarischen geodätischen Mission für Griechenland ernannt wurde. Nachdem Kaiser Franz Joseph die Genehmigung dafür erteilt hatte, führte das MGI zwischen 1889 und 1896 Vermessungsarbeiten in Griechenland durch und bildete darüber hinaus griechische Geodäten aus. Das MGI war auch wesentlich an der Gründung der geodätischen Abteilung des griechischen Kriegsministeriums im Jahr 1889 beteiligt, die 1895 in Königlich Griechischer Kartendienst umbenannt wurde.64 Das Unterstützungsansuchen der griechischen Regierung kam nicht von ungefähr, da bereits schon zuvor Karten in Wien herausgegeben worden waren, auf die sich die griechische Kartographie stützten konnte.65 Nun war es aber nicht zuletzt die erfolgreiche Landesaufnahme von Bosnien und der Herzegowina, die die griechische Regierung dazu veranlasste, das MGI um Unterstützung für ihr eigenes Vermessungsprojekt zu bitten.66 So wurde 1889 unter der Leitung österreichischungarischer Offiziere mit der Triangulation 1. Ordnung begonnen (Abb. 3).67
63 SAID Edward, Orientalism, New York 1978. 64 HARTL Heinrich, Die Landesvermessung in Griechenland, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts X (1890), 187–217, hier 187 f. Vgl. dazu auch JORDAN Peter, Das Wiener Militärgeographische Institut und seine Bedeutung für die Kartographie in Ost- und Südosteuropa, in: Harald Heppner (Hg.), Der Weg führt über Österreich … Zur Geschichte des Verkehrs- und Nachrichtenwesens von und nach Südosteuropa, Wien/Köln/Weimar 1996, 143–170, hier 167. 65 Dazu zählen Josef von Schedas Generalkarte der europäischen Türkei und des Königreichs Griechenlands von 1869, die vom MGI im Jahr 1881 herausgegebene Karte von Epirus und Thessalien und die von J. Kokides entworfene Generalkarte des Königreichs Griechenland von 1884. Vgl. dazu Jordan, Institut 167. 66 Hartl, Landesvermessung 187; Messner, Institut, 281 f. 67 HAARDT Vincenz, Begleitwort zu den Blättern der Generalkarte 1:200.000, welche die Balkan-Halbinsel betreffen, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XVII (1897), 80–88, hier 81.
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Abbildung 3: Dreiecksnetz 1. Ordnung in Griechenland (1889/1890)
Quelle: Anno, Österreichische Nationalbibliothek68
Nach Beendigung der geodätischen Mission des MGI führte der Königlich Griechische Kartendienst weitere topographische Aufnahmen mit dem Ziel durch, eine Spezialkarte des gesamten Königreichs herzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde 1907 erneut eine Übereinkunft mit dem MGI getroffen, dass alle notwendigen Herstellungsarbeiten der Karte durchführen bzw. anleiten sollte. Dazu zählten vor allem die Gerippe- und Terrainzeichnungen sowie die drucktechnische Vervielfältigung. Zu jedem Zeitpunkt des gesamten Herstellungsprozesses der Kartenblätter war aber zumindest ein griechischer Offizier anwesend, der die Kartenproduktion verfolgte oder auch selbst daran mitwirkte.69 Obwohl die Karten in Wien gedruckt wurden, waren die Druckplatten und Drucksteine zu jeder Zeit Eigentum der griechischen Regierung, wie im Übereinkommen vereinbart worden war. Durch diese Regelung wäre Griechenland grundsätzlich auch in der Lage gewesen, die Karten des Königreichs selbst zu drucken. Von den 120 Blättern der
68 ANONYM, Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts X (1890), Beilage. 69 HAARDT Vincenz, Die Kartographie der Balkanhalbinsel im XX. Jahrhundert, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XXXII (1912), 153–161, hier 158 f.
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griechische Spezialkarte 1:75.000 erschienen bis zum ersten Balkankrieg 1912 aber lediglich 14 Blätter. 70 Die Griechenland-Mission des MGI ist ein besonders spannendes Beispiel für internationale Kooperationen zur Herstellung umfangreicher Kartenwerke. Das MGI stellte das für die Vermessung des griechischen Staatsgebietes notwendige Fachwissen zur Verfügung und unterstützte die griechische Regierung bei der Kartenproduktion. Indem es das tat, erlangten es aber auch Kenntnisse über das Territorium eines anderen Staates, die bisher weder lückenlos noch auf aktuellem Stand waren. Im Gegenzug konnte Griechenland auf die Erfahrungen des MGI zurückgreifen und so Karten herstellen, die auf den Höhepunkt ihrer Zeit waren. Dass diese Preisgabe der eigenen Souveränität im Hinblick auf die Kartenproduktion aber nicht völlig ohne Bedenken geschah, zeigt der Umstand, dass sich die griechische Regierung zumindest das Verfügungsrecht über die Druckplatten sicherte und die Überwachung des Herstellungsprozesses durch griechische Offiziere einforderte. Was die eingangs formulierte Fragestellung nach dem österreichisch-ungarischen Selbstverständnis betrifft, so ist die Griechenland-Mission des MGI auch in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. So formulierte etwa der Leiter der geodätischen Mission Hartl zwei Grundsätze, die der griechischen Landesaufnahme zugrunde liegen sollten:71 1) Die Aufnahme müsse mit höchster Genauigkeit durchgeführt werden und müsse „allen Anforderungen der Wissenschaft, des Militärs und des Technikers einen sehr langen Zeitraum hindurch […] genügen“.72 2) „Das Vermessungswesen ist möglichst centralistisch einzurichten, jedenfalls aber an einer Stelle zu creiren, welche von allen im Lande vorgenommenen Aufnahmearbeiten in Kenntnis gesetzt werden muss […].“73 Während der erste Grundsatz allgemein nach der Einhaltung wissenschaftlicher Prinzipien verlangt, fordert der zweite konkret die Etappierung einer zentralen Organisation, wie sie letztlich auch mit der Gründung der geodätischen Abteilung des griechischen Kriegsministeriums bzw. des Königlich Griechischen Kartendienstes realisiert wurde. Die zentralstaatliche Organisation der Habsburgermonarchie war für die Exponenten des MGI demnach auch Garant für das Gelingen von Großprojekten, zu denen die Durchführung von Landesaufnahmen zweifelsohne zählte. Die österreichisch-ungarische geodätische Mission in Griechenland hatte nicht nur einen wissenschaftlichen Charakter, sondern auch einen „zivilisatorischen“.
70 Jordan, Institut, 167 f. 71 Hartl, Landesvermessung 207. 72 Ebd. 73 Ebd.
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Wie im Fall Bosniens und der Herzegowina, kommt der Anspruch dieser „zivilisatorischen“ Mission Österreich-Ungarns immer dann besonders stark zum Ausdruck, wenn es gilt, die eigenen Interessen am Balkan von denen des vermeintlich rückständigen Osmanischen Reichs abzugrenzen. Dazu noch einmal Hartl, der dem modernen Staat, als dessen Repräsentant er sich zweifelsohne sah, die orientalische Barbarei gegenüberstellt: „Erst sieben Decennien sind verflossen, seit Griechenland sich aufgerafft hat aus dem Zustande orientalischer Barbarei, in welcher es durch so viele Jahrhunderte versunken lag. Das unter blutigen Kämpfen gegründete junge Königreich musste alle verfügbaren Mittel auf die Schaffung eines […] modernen Staatswesens verwenden.“74
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Nachdem die Rolle des MGI bei der griechischen Landesaufnahme betrachtet wurde, soll als letztes Beispiel auf die europäische Türkei eingegangen werden. Der sukzessive Gebietsverlust des Osmanischen Reichs auf der Balkanhalbinsel kennzeichnet den Verlauf des 19. Jahrhunderts. Auch nach dem Berliner Kongress blieb die Frage, wie mit der europäischen Türkei umgegangen werden soll, eine brisante. Darin trafen die meist gegensätzlichen Interessen der Großmächte sowie die Interessen der Balkanländer aufeinander, was zu erneuten Grenzverschiebungen in Folge der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs führte. Die europäischen Gebiete der Osmanischen Reichs gingen dabei beinahe vollständig in den neuen Balkanstaaten auf. Eine Ausnahme stellt lediglich der europäische Teil der türkischen Republik dar, deren Grenzen im Vertrag von Laussane 1923 festgelegt wurden. Es darf an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen werden, dass das Taktieren um politischen Einflusssphären, wie es für den Untersuchungszeitraum symptomatisch ist, sich immer auch in den Praktiken der Kartographen wie in den von ihnen produzierten Kartenwerken zeigt. So spiegelte sich das Interesse des MGI an der europäischen Türkei u. a. auch sehr deutlich in den Arbeiten von Josef von Scheda. Scheda war ab 1869 Leiter der Gruppe 1 des MGI und in dieser Funktion für sämtliche kartographischen Arbeiten des Instituts zuständig. Zu seinen hoch geachteten Kartenwerken zählten die General-Karte des Österreichischen
74 Zu den Erfordernissen eines modernen Staates zählt Hartl neben dem Aufbau eines Heeres und einer Flotte auch die Organisation der Verwaltung und des Unterrichts sowie den Bau von Verkehrswegen. Hartl, Landesvermessung 187.
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Kaiserstaates75 sowie die Generalkarte der europäischen Türkei und des Königreichs Griechenlands 1:864.000, die im Jahr 1869 veröffentlicht wurde. Die letztgenannte Karte war nicht nur für die griechische Kartographie von Bedeutung (siehe oben), sondern lieferte auch einen topographischen Überblick über das europäische Territorium des Osmanischen Reichs, der für das MGI von großem Wert war.76 Neben den Akteuren des MGI hatten aber auch Vertreter wissenschaftlicher Institutionen, wie der k. k. Geographischen Gesellschaft, die europäische Türkei im Blick. Zu den bekanntesten Exponenten der Gesellschaft gehörte der Geograph, Prähistoriker und Forschungsreisende Ferdinand von Hochstetter, der von 1866 bis 1882 auch ihr Präsident war. Im Jahr 1869 unternahm Hochstetter eine Reise durch den europäischen Teil des Osmanischen Reichs, die ihn von Istanbul bis nach Niš führte. Der Zweck der Reise war, die mögliche Trassierung eines künftigen Eisenbahnnetzes zu prüfen und die dafür notwendigen Vorstudien durchzuführen.77 Die Ergebnisse seiner Studien veröffentlichte Hofstetter in Form eines Reiseberichtes, dem er auch ein Verzeichnis aller auf der Reise durchgeführten Höhenmessungen beifügte. Darin enthalten sind sämtliche, ihrer Höhe nach vermessen Städte und Dörfer aber auch andere wichtige Höhenpunkte, wie sie Straßen und Brücken darstellten.78 Das Interesse der k. k. Geographischen Gesellschaft an Südosteuropa blieb nach der Reise Hofstetters groß, wie etwa auch die kartographische Sonderausstellung anlässlich des IX. Deutschen Geographentages 1891 in Wien belegt. Da die Fülle des zur Verfügung stehenden Kartenmaterials kaum überschaubar war, beschloss das Ausstellungskomitee sich lediglich auf „gewisse Gebiete“ zu beschränken. Neben der Österreichisch-Ungarischen Monarchie galt der Fokus der
75 General-Karte des österreichischen Kaiserstaates mit deinem grossen Theile der angrenzenden Länder 1:576.000, Wien 1856. 76 Jordan, Institut 167. 77 HOCHSTETTER Ferdinand von, Die Vorarbeiten zum Bau der türkischen Eisenbahnen, in: Mittheilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft XIII (1871), 17–19. Die Reise Hochstetters erfolgte auf Einladung Wilhelm Pressels, der zu dieser Zeit Direktor der Ingenieursabteilung der Orientbahn war. Pressel wechselte 1872 von der privaten Orientbahn zu den Ottomanischen Eisenbahnen, wo er u. a. für die Planung der Bagdadbahn verantwortlich zeigte. 78 HOCHSTETTER Ferdinand von, Reise durch Rumelien im Sommer 1869, in: Mittheilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft XIII (1871), 193–212, sowie 350–358.
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Ausstellung nun den, „ihre Interessensphären besonders berührenden“, südosteuropäischen Staaten.79 Der dazugehörige Ausstellungskatalog bot somit einen ansehnlichen Überblick über Kartenwerke, die die Balkanstaaten und die europäische Türkei zum Thema hatten.80 Dass diese Region in der Interessensphäre Österreich-Ungarns besonders berührte, belegt auch nochmal das Beispiel der Generalkarte Mitteleuropas 1:200.000, die neben der der Spezialkarte 1:75.000 das zweite große Kartenwerk des MGI war. Wie die folgende Skizze (Abb. 4) zeigt, reichte die Generalkarte Mitteleuropas 1:200.000 im Südosten bis über Istanbul hinaus, womit sie nun auch einen Teil des osmanischen Territoriums jenseits des Bosporus umfasste. Im Zusammenhang mit der hier besprochenen Fragestellung ist vor allem die im Jahr 1887 durch das MGI beschlossene Erweiterung dieser Karte von Bedeutung. Die Erweiterung sollte die übrigen Teile der europäischen Türkei, darunter wichtige Städte wie Skopje oder Monastir, sowie Nordgriechenland erfassen.81 Als Grundlage für die Aufnahme dienten vor allem die im Rahmen der bereits erwähnten Europäischen Gradmessung zwischen 1871–1875 von Offizieren des MGI durchgeführten Vermessungsarbeiten. Die Generalkarte Mitteleuropas 1:200.000 wurde damit um die in der Skizze ersichtliche Line A–B erweitert, womit sie im Süden bis zum 39. Grad nördlicher Breite reichte.82
79 JÜTTNER J. M., Der IX. Deutsche Geographentag. Teil II, in: Mittheilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft XXIV (1891), 299–303, hier 299. 80 PENCK Albrecht, Bericht über die Ausstellung des IX. Deutschen Geographentages in Wien 1891, nebst Ausstellungskatalog, Wien 1891. 81 Der Erweiterungsbeschluss wurde noch vor dem Ansuchen der griechischen Regierung um Unterstützung bei der Durchführung der Landvermessung gefasst. 82 HAARDT Vincenz, Begleitwort zu den Blättern der Generalkarte 1:200.000, welche die Balkan-Halbinsel betreffen, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XVII (1897), 81–86.
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Abbildung 4: Erweiterung der Generalkarte Mitteleuropas 1:200.000
Quelle: Anno, Österreichische Nationalbibliothek83
Die Generalkarte Mitteleuropas 1:200.000 umfasste nicht nur ein größeres Gebiet, sondern war auch inhaltlich reicher als vergleichbare Karten ihrer Zeit. Mit der Erweiterung der Generalkarte hatte das MGI somit auch die „führende Rolle in der übersichtlichen kartographischen Darstellung der Balkan-Halbinsel übernommen“, so Vincent Haardt im Jahr 1898, der damit erneut die Bedeutung dieses Kartenwerks hervorhebt.84 Einige Jahre später und in Anbetracht der beginnenden Balkankriege folgt diesem positiven Befund von Haardt eine etwas selbstkritischere Einschätzung, die zugleich noch einmal auf die strategische Bedeutung der Balkankartographie für Österreich-Ungarn verweist. „Es mußte konstatiert werden, daß trotz vieler Mühen und Anstrengungen die Entwicklung des Kartenbildes mit Schluß des vorigen Jahrhunderts in den meisten Teilen noch weit von dem
83 ANONYM, Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XVII (1897), Beilage. 84 Haardt, Institut 102.
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Ziele entfernt war, welches bei der hohen politischen und militärischen Bedeutung der Halbinsel unbedingt angestrebt werden muß.“85
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KARTOGRAPHISCHER
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Anstatt einer Zusammenfassung soll am Ende dieses Aufsatzes auf jene Dynamiken eingegangen werden, denen auch die kartographische Wissensproduktion unterliegt und die titelgebend für den vorliegenden Band sind. Karten, wie die hier besprochene Spezialkarte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1:75.000 und die Generalkarte Mitteleuropas 1:200.000, sind Momentaufnahmen eines Terrains, die 1) auf das dargestellte Gelände referieren, 2) über Strategien visueller Repräsentation Auskunft geben und 3) auf die Bedingungen ihrer Herstellung verweisen.86 Für die hier besprochene Fragestellung waren besonders die beiden letzten Punkte zentral, da sie die Dynamiken kartographischer Sichtbarmachung verstärkt in den Blick nehmen. Damit folgen die vorliegenden Ausführungen auch Steffen Siegels „Plädoyer für die ganze Karte“, der sich darin für eine möglichst umfassende Untersuchung der Bedingungen der Kartenproduktion und der damit verbundenen Strategien der Sichtbarmachung ausspricht. „Karten“ so Siegel „sind Effekte visueller Konstruktion, die tatsächliche oder imaginierte Räume mit den Mitteln graphischer Inskription zu entwerfen und zu ordnen versuchen. Hinter all diesen Konstruktionen steht daher stets ein reich differenziertes Ensemble von Techniken und Verfahren interessegeleiteter Sichtbarmachung.“87
85 HAARDT Vincenz, Die Kartographie der Balkanhalbinsel im XX. Jahrhundert, in: Mittheilungen des k. u. k. Militär-Geographischen Instituts XXXII (1912), 153–161, hier 154. 86 Die Unterscheidung zwischen dem ersten und den beiden weiteren Punkten stützt sich auf die unterschiedlichen Lesearten von Karten, die nach Sybille Krämer entweder die „Transparenz“ oder die „Opazität“ der Karten betonen. Daran anknüpfend beschreibt Krämer Karten als Medien, die als „Bote“ der Wirklichkeit oder als „Spur“ ihrer Herstellungsbedingungen verstanden werden können. Vgl. dazu Krämer, Medium. 87 SIEGEL Steffen, Die ganze Karte. Für eine Praxeologie des Kartographischen, in: Steffen Siegel/Petra Weigel (Hg.), Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung, München 2011, 7–28, hier 26. Zur Wissensgeschichte der Kartografie vgl. HOLTORF Christian, Zur Wissensgeschichte der Geografie und Kartografie. Einleitung, in: Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte 40/1 (2017), 1–16.
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Räumliche Dynamiken Was die Karten und ihre Herstellungsbedingungen betrifft, so ist die Frage nach der räumlichen Dynamik selbstverständlich eine naheliegende. Mit der Verlegung des Mailänder Instituto Grafico Militare und der Gründung des MGI wurde in Wien ein Zentrum kartographischer Wissensproduktion geschaffen, das eine führende Institution seiner Zeit war, die international höchstes Ansehen genoß. Die Akkumulation kartographischer Expertise in Wien entsprach dabei der Logik der Zentralisierung, die in einer effizienten Verwaltung den Schlüssel zum Erfolg des modernen Staates sah. Mit Hilfe der am MGI produzierten Karten konnte das gesamte Territorium der Monarchie buchstäblich überblickt werden. Die staatliche Kartographie wie auch die Statistik sind Instrumente einer Regierungstechnik der Ferne, die den Machtzentren den Zugriff auf Gebiete und Bevölkerung sichert, die nicht mehr unmittelbar gefasst werden können.88 Im Fall von Bosnien und der Herzegowina wurde dieser Zugriff gesichert, indem man umgehend nach der Okkupation mit der Volkszählung, der Nummerierung der Häuser, der Triangulation und der Katastralvermessung begann. Darüber hinaus konnten die beiden Länder durch die Vermessungsarbeiten in die Spezialkarte der Österreichisch-Ungarischen Monarchie 1:75.000 integriert werden, womit visuelle Kohäsion erzeugt wurde, die wesentlich zur Imagination einer neuen territorialen Integrität der Habsburgermonarchie beitrug. Die räumliche Dynamik im Kontext der Kartenproduktion entspricht der Bewegung der im Felde generierten Vermessungsdaten zu jenen Orten, wo sie zu visuellen Repräsentationen des Territoriums zusammengeführt werden.89 Wie oben gezeigt wurde, bedurften die großen staatlichen Landesaufnahmen einer zentralen Organisation, weshalb diese räumliche Dynamik eben immer auch eine zwischen Zentrum und Peripherie war. Was die Kartographie Südeuropas betrifft, so verstand sich Wien auch diesbezüglich als Zentrum, wie folgendes Zitat deut-
88 Zur Statistik vgl. GÖDERLE Wolfgang in diesem Band sowie TWELLMANN Marcus, ‚Ja, die Tabellen!‘ Zur Herkunft der politischen Romantik im Gefolge numerisch informierter Bürokratie, in: Gunhild Berg/Borbála Zsuzsanna Török/Marcus Twellmann (Hg.), Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750–1850, Berlin 2015, 141–169, hier besonders 166 f. 89 Zum damit verbundenen Prozess der Reduktion und Amplifikation entlang von Referenzketten vgl. LATOUR Bruno, Zirkulierende Referenz. Bodenstichproben aus dem Urwald am Amazonas, in: Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002, 36–95.
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lich macht: „Seit den grossen Türkenkriegen haben sich die Topographischen Studien vielfach aus den Grenzen des heutigen Oesterreich-Ungarn auf die Balkanhalbinsel erstreckt, die Mehrzahl der grossen kartographischen Leistungen über jenes Land ist aus Wien hervorgegangen […].“90 Mit der Gründung des MGI ging hinsichtlich der kartographischen Tätigkeiten eine klare Hinwendung nach Südosteuropa einher. Bedenkt man, dass das MGI unter staatlicher Regie agierte, wird die Ausweitung der österreichisch-ungarischen Interessensphäre in diese Richtung umso deutlicher. Zeitliche Dynamiken Was im Zusammenhang mit kartographischer Wissensproduktion oft wenig Beachtung findet ist, dass auch Karten ihre eigene Zeitlichkeit haben. Karten sind lediglich Momentaufnahmen eines Terrains, die einer ständigen Überarbeitung bedürfen, will man ihre Aktualität gewährleisten. Wie wichtig dieser Aspekt letztlich ist, zeigt der Umstand, dass am MGI eine eigene Abteilung zur Evidenthaltung eingerichtet wurde, die ausschließlich mit der Aufrechterhaltung der Aktualität der Kartenwerke beschäftigt war. Neben elementaren Ereignissen, die die Erdoberfläche zu verändern mochten, galt es vor allem Grenzverschiebungen, geänderte Ortsnamen, neu gebaute Straßen oder Siedlungserweiterungen in die Karten mitaufzunehmen.91 Die vom MGI produzierten Karten bedurften einer ständigen Revision, um zu gewährleisten, dass sie mit dem darauf abgebildeten Territorium auch weiterhin übereinstimmten. Ein weiterer Punkt, der hier angeführt werden soll, betrifft die „zivilisatorische“ Mission, in deren Tradition sich Österreich-Ungarn gerade im Hinblick auf Bosnien und die Herzegowina verstand. Diese Mission folgte der Überzeugung, dass es einen Entwicklungsvorsprung der eigenen Kultur gab und dass es die Aufgabe des Staates war, die neuen Länder möglichst schnell auf den Weg der Modernisierung zu bringen. Auch viele Exponenten der Wissenschaft sahen sich diesem Auftrag verpflichtet und stellten ihre Tätigkeit in den Dienst der Sache. So heißt es auch in einem Vortrag anlässlich des bereits erwähnten IX. Deutschen Geographentags in Wien, dass Bosnien und die Herzegowina „erst durch die österreichische Occupation aus ihrer mittelalterlichen Abgeschiedenheit heraustra-
90 Penck, Bericht 78. 91 WIESAUER Wilhelm, Die Evidentstellung der Kartenwerke des k. u. k. militär-geographischen Institutes, in: Mittheilungen des Militär-Geographischen Instituts XXI (1901), 115–129.
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ten.“ Und weiter: „Die Bemühungen der österreichischen Regierung, den Wohlstand dieser Länder zu fördern und Land und Volk nach jeder Richtung hin zum Gegenstande der eingehendsten Studien zu machen, stellen sich als geradezu grossartig da.“92 Das Hervorheben einer vermeintlichen Rückständigkeit hat in wissenschaftlichen und literarischen Darstellungen des Balkans eine lange Tradition, die auch in der visuellen Repräsentation ihre Entsprechungen findet.93 Dynamiken zwischen AkteurInnen Der letzte Punkt zu den hier am Ende angestellten Überlegungen zur Dynamik der kartographischen Wissensproduktion betrifft die AkteurInnen. Was dabei deutlich wird ist, dass an der staatlichen Kartenproduktion eine Reihe von AkteurInnen involviert war, die von der obersten staatlichen Führung über die im Feld aktiven Geodäten bis hin zur lokalen Bevölkerung reichte. Dabei ist zunächst naheliegend, dass über politische Grenzziehungen und über die großen Landvermessungsprojekte auf höchster, staatlicher Ebenen entschieden wurde, wie am Beispiel des Berliner Kongresses und den habsburgischen Landesaufnahmen gezeigt wurde. Auch die Durchführung internationaler Projekte, wie die Europäische Gradmessung, wurde auf selber Ebene beschlossen und hing zudem von der Kooperationsbereitschaft der einzelnen Staaten ab. Gerade die Tätigkeiten des MGI im Zuge der Europäischen Gradmessung zeigen aber, dass im Spiel der Großmächte um Ausweitung politischer Einflusssphären selbst die Geodäten in strategische Stellung gebracht wurden. Im Fall von Bosnien und der Herzegowina wurde die Erlaubnis zur Durchführung von Vermessungsarbeiten vom osmanischen Gouverneur in Sarajevo erteilt, der auch die lokalen Behörden zur Kooperation anwies. Nach der Okkupation waren die Geodäten ebenfalls auf die Unterstützung der lokalen Behörden und Bevölkerung angewiesen. So musste jede Gemeinde für die Triangulationsarbeiten
92 Bericht über einen Vortrag zur Landesdurchforschung Bosniens und der Herzegowina gehalten von Regierungsrath H. Müller aus Wien in: Anonym, Der IX. Deutsche Geographentag, in: Mittheilungen der k. k. Geographischen Gesellschaft XXIV (1891), 227–236, hier 233. 93 TODOROVA Maria, Imaging the Balkans, New York/Oxford 1997; KASER Karl, Andere Blicke, Religion und visuelle Kulturen auf dem Balkan und im Nahen Osten, Wien/Köln/Weimar 2013, hier besonders 182–192. Im Zusammenhang mit fotografischen Praktiken konstatiert etwa Kaser einen hegemonialen Fotodiskurs, der sich im 19. Jahrhundert im Kontext touristischen Reisens und ethnographischer Forschung verfestigte.
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Arbeitskräfte, Tragtiere und Holz zur Verfügung stellen, die von den Offizieren nach landesüblichen Sätzen abgegolten wurden. Nicht immer funktionierte die Umsetzung der entsprechenden Anordnungen dabei reibungsfrei, wie aus folgendem Zitat deutlich wird: „Bei dem Umstande jedoch, als die Ortsvorstände im Occupations-Gebiete in der Regel weder lesen noch schreiben können, aber auch den Wert und Zweck eines offenen Befehles nicht leicht begreifen und aus früherer Zeit gewohnt sind, nur einem Gendarm (Zaptieh) unweigerlich und rasch die erforderlichen Prästationen [also Abgaben und Leistungen, Anm. MPF] beizustellen, hat das k. k. Reichs-Kriegsministerium angeordnet, dass die TriangulierungsOffiziere bei dem zunächst der Arbeitsstation liegenden Gendarmerie-Posten nach Bedarf einen Zaptieh beanspruchen können.“94 Als Ortskundiger sollte der Zaptieh für die Umsetzung der Befehle sorgen und zugleich durch das fremde Terrain führen. Auch in diesem Zitat werden erneut die kulturellen Unterschiede betont, doch zeigt es auch, dass die Vermessungsarbeiten, und damit letztlich die Kartenproduktion, zuweilen wesentlich von der Kooperationsbereitschaft und dem Wissen der lokalen Bevölkerung abhängen konnte. Will man politische Einflusssphären ermessen, lohnt sich ein genauer Blick auf bzw. hinter die Karten, wie hier gezeigt wurde. Die besprochenen Karten verweisen mitunter auf bestimmte Strategien der Sichtbarmachung, die zur visuellen Kohäsion der Österreichisch-Ungarischen Monarchie beitragen sollten. Darüber hinaus zeugen die Tätigkeiten des MGI von den strategischen Interessen der Monarchie, die sich ihrem Selbstverständnis nach oft auch in einer „zivilisatorischen“ Mission verstand. In den Karten steckt demnach mehr als man zunächst vermuten mag, oder wie der zu Beginn des Aufsatzes zitierte Gustav Hirschfeld feststellt: „Wir können sagen, unsere Karten enthalten mehr, als die meisten von uns wissen, zeigen Leistungen verarbeitet, von deren Vorhandensein viele nicht einmal eine Ahnung haben.“95
L ITERATUR DÖRFLINGER Johannes/WAGNER Robert/WAWRIK Franz, Descriptio Austriae. Österreich und seine Nachbarn im Kartenbild von der Spätantike bis ins 19. Jahrhundert, Wien 1977.
94 Anonym, Bericht über die Leistungen des k. k. militär-geographischen Instituts, in: Mittheilungen des k. k. Militär-Geographischen Instituts II (1882), 2–40, hier 14 f. 95 Hirschfeld, Standpunkt 401.
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T RIANGULATION
POLITISCHER
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On the Implications of Creating Knowledge in Imperial Russia The Ethnographic Conceptualization of the Caucasus in the Mid-Nineteenth Century1 D OMINIK G UTMEYR (G RAZ ) In the present time, one has to imagine the mountaineers in the sense of an awakening from a frightening dream, in the sense of a recovery from a severe illness.2
The Russian Empire’s political annexation of the Northern Caucasus began in the 18th century and lasted until the end of the Caucasus War in 1864. At the beginning of this process, both the territories north and south of the Caucasus mountain range were regions which the Russian considered remote and populated by peoples about whom they knew little to nothing. Knowledge was disseminated and, indeed, sought rather sparingly, and the Russians had little contact and exchange with the Caucasus, especially with the mountaineers of the North Caucasus. Overshadowed by the famed 19th century Russian poets who described the Caucasus and also by the productive field of study that the literary Caucasus has proven to
1
Parts of the present article have already been published in the fourth chapter (“Researching the Caucasus”) of GUTMEYR Dominik, Borderlands Orientalism or How the Savage Lost His Nobility. The Russian Perception of the Caucasus between 1817 and 1878, Vienna 2017. They are reprinted with permission of LIT Verlag.
2
USLAR P tr K., O rasprostranenii gramotnosti meždu gorcami, in: Sbornik Svedenij o Kavkazskich gorcev 3 (1870), 1–30, 1.
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be,3 one long tended to overlook that Russian perceptions of the Caucasus and its inhabitants were not solely influenced by literary works but by other discourses as well. One of these, responsible for creating, establishing and perpetuating stereotypes of the Russian Empire’s southern borderlands was certainly the increasing scholarly interest in the newly conquered territories and the emerging field of ethnography. The period most interesting for analysis of Russian ethnography on the Caucasus is between the last decade of the Caucasus War (1817–1864), when the Russians finally managed to reinforce their position in the North Caucasus, and the last Russo-Ottoman War (1877–1878), wherein the ideological overtones of a
3
Among the many cf. for instance BURKHART Dagmar, Der Orient-Diskurs in Lev Tolstojs Kaukasus-Erzählung Chadži-Murat, in: Wolfgang Stephan Kissel (ed.), Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen, Frankfurt am Main 2012, 71–93; FRANK Susi, Gefangen in der russischen Kultur: Zur Spezifik der Aneignung des Kaukasus in der russischen Literatur, in: Die Welt der Slawen XLIII/1 (1998), 61–84; FRENKEL GREENLEAF Monica, Pushkin’s ‘Journey to Arzrum’: The Poet at the Border, in: Slavic Review 50/4 (1991), 940–53; GOULD Rebecca, Topographies of Anticolonialism: The Ecopoetical Sublime in the Caucasus from Tolstoy to Mamakaev, in: Comparative Literature Studies 50/1 (2013), 87–107; HOKANSON Katya, Writing at Russia’s Border, Buffalo/London/Toronto 2008; KRÜGER Verena, Identität – Alterität – Hybridität. Zur Funktion des Kaukasus in der russischen romantischen Literatur und im Film des postsowjetischen Russlands, Ph.D.-thesis, AlbertLudwigs-Universität, Freiburg i. Br. 2008; LAYTON Susan, Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy, Cambridge 1994; LAYTON Susan, The Creation of an Imaginative Caucasian Geography, in: Slavic Review 45/3 (1986), 470–85; MICHAELS Paula A., Prisoners of the Caucasus. From Colonial to Postcolonial Narrative, in: Russian Studies in Literature 40/2 (2004), 52–77; MICHALEVA Galina M., ‘Der böse Tschetschene kriecht ans Ufer und wetzt sein Messer.’ Die Konstruktion eines Feindbildes im russischen Massenbewusstsein, in: Wolfgang Stephan Kissel (ed.), Der Osten des Ostens. Orientalismen in slavischen Kulturen und Literaturen, Frankfurt am Main 2012, 179–201; RAM Harsha, The Imperial Sublime. A Russian Poetics of Empire, Madison 2003; REISNER Oliver, Kaukasien als imaginierter russischer Raum und imperiale Erfolgsgeschichte. Gefangen zwischen russisch-imperialen und nationalen Zuschreibungen (19./20. Jh.), in: Bianka PietrowEnnker (ed.), Kultur in der Geschichte Russlands: Räume, Medien, Identitäten, Lebenswelten, Göttingen 2007, 61–82; SAHNI Kalpana, Crucifying the Orient. Russian Orientalism and the Colonization of Caucasus and Central Asia, Bangkok 1997.
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“holy war” between the Christian Russian Empire and the Muslim Ottoman Empire once more imposed the othering of the Muslim peoples of the North Caucasus. This was a time when imperialism and nationalism assumed increasing importance and influenced the scholarly research. In the Romantic tradition, scholars imagined the world as divided into distinct and culturally defined nationalities.4 Such thinking provided the ideological underpinnings of their research, which in Russia’s case influenced the imagination of the smaller peoples as such distinct and culturally defined nationalities per se as well as their integration into a panRussian cultural but also political space. The Romantic tradition also meant that at least potentially the empire was home to many peoples. In the early 1840s, the famous literary critic Vissarion Belinskij posited that all peoples and all tribes, even the “wild,” possess folklore5 and wrote: “When a people becomes acquainted with the culture of literacy, its literature takes on a new character, depending on the spirit of the people and the stages of its civilization and education.”6 Furthermore, this period is especially promising as ethnographic studies on the Caucasus began to be published with a frequency formerly unknown to Russian academia.7 Strongly connected to the names Adol'f P. Berže (1828–1886) and Pëtr K. Uslar (1816–1875), many studies aimed to shed some light on the region, which the former still called “a terra incognita to us”8 in 1857 while the latter sought to be the first to furnish the region’s native peoples with written forms of their vernaculars.
4
TOLZ Vera, Russia’s Own Orient. The Politics of Identity and Oriental Studies in the
5
BELINSKIJ Vissarion, Polnoe sobranie so inenij. Vol. 7. Stat i i recenzii 1843 goda,
Late Imperial and Early Soviet Periods, Oxford 2011, 31. Moscow 1954, 622. 6
Ibid. Translated in JERSILD Austin, Orientalism and Empire. North Caucasus Moun-
7
On the development of Russian ethnography cf. for instance ELFIMOV Alexei, Russian
tain Peoples and the Georgian Frontier, 1845–1917, Montreal 2002, 59. Ethnography as a Science: Truths Claimed, Trails Followed, in: Roland Cvetkovski/ Alexis Hofmeister (eds.), An Empire of Others. Creating Ethnographic Knowledge in Imperial Russia and the USSR, Budapest/New York 2014, 51–79; KNIGHT Nathaniel, Constructing the Science of Nationality. Ethnography in Mid-Nineteenth Century Russia, Ph.D.-thesis, Columbia University, New York City 1994; Tolz, Russia’s Own Orient; VIGASIN Aleksej A., Istorija ote estvennogo vostokovedenija s serediny XIX veka do 1917 goda, Moscow 1997. 8
BERŽE Adol'f P., Kratkij obzor gorskich plemen na Kavkaze, in: Kavkazskij Kalendar' na 1858 god, 267–312, 271
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Even so, when reading the linguist Uslar’s diagnosis of the natives’ “recovery from a severe illness,” meaning their own history and development independent of Russia, one has to wonder about the intentions underlying such plans to devise alphabets for Caucasus languages, as well as the images of their speakers that were conveyed when doing so. In order to clarify this and to analyze the ethnographic texts, I will conduct a critical discourse analysis following Martin Reisigl’s and Ruth Wodak’s “discourse-historical approach”9 and critically scrutinize the nomination and attribution strategies in these texts for the characteristics, qualities and features ascribed to the social actors, i.e. the described inhabitants of the Caucasus region, and ask for the arguments employed in this discourse. These questions are guided by the expectation that increasing Russian interest had manifested itself with an increasing precision in naming and describing the region’s ethnic groups, helping to overcome prevailing generalizations. Against the backdrop of the Caucasus War and also Muridism’s dominant role in the resistance against Russian troops, it is promising to examine the depiction of riots and violence, i.e., whether the “mountaineers” are depicted as brutal savages, and also the depiction of Islam in the Caucasus and what argumentative strategies are employed with respect to the Muslim belief of many ethnic groups in the North Caucasus. Since it is still unclear as to whence the famous Russian poets such as Aleksandr S. Puškin acquired the knowledge for the ethnographic detail in his work and effectively produced a tribal milieu which relied solely on the monologic power of uncontested imagination,10 the present article will initially provide an overview of the first stage of (pre-)scholarly Caucasiology. What should have been the source of actual knowledge in the early 1820s and upon what foundation did the work of the first modern Russian Caucasus ethnographers rest? The second section will give some insight into the rapidly growing interest in ethnographic knowledge of the Caucasus region in the second half of the 19th century, while the third and final part will then illustrate how Russian ethnographers were both the epitome of their time but also conceptualized the Caucasus in a way that shaped the Russian image of the region’s native population between the Caucasus War and the late 1870s.
9
REISIGL Martin/WODAK Ruth, The Discourse-Historical Approach (DHA), in: Michael Meyer/Ruth Wodak, Methods of Critical Discourse Analysis, Los Angeles et al. 2009, 87–121.
10 Layton, Russian Literature 91.
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Russian Proto-Caucasiology Older Russian travelogues and chronicles did occasionally contain brief references to the peoples of the Caucasus, such as in Afanasij Nikitin’s A Journey Beyond the Three Seas [Choženie za tri morja], who travelled to India via Derbent and Baku. Until the beginning of the 18th century, accounts of the Caucasus by Western travelers were not the main goal but by-products of diplomatic missions to the courts of the Persian and Russian rulers.11 Thus, the origins of Russian Oriental Studies and therefore of ethnographic descriptions of the Caucasus are often traced back to the reign of P tr I and to his Persian campaign in particular, which triggered a larger-scale Russian focus on the regions south of his empire. Through his educational reforms, he encouraged the development of Oriental language studies. Nevertheless, all through the 18th century there was no institutionalization of Oriental Studies as an academic discipline in Russia. The rulers of Russia rather responded to emerging needs in foreign policy by training a handful of translators and interpreters, but they did not support any projects aimed at establishing centers and societies in the field.12 At the scholarly and proto-Caucasiological level, a new wave emerged with Ekaterina II, whose military expansion and her related interest in becoming familiar with the regions and native peoples she was about to conquer led to the first systematic research into the Russian Empire’s southern borderlands. As the prefix proto- already indicates, the first steps towards establishing studies on the Caucasus were far from scientifically sophisticated and were not integrated into institutionalized academia. An immense lack of knowledge about the region led to assumptions about the Caucasus, often rooted in ethnographic information from sources dating to Antiquity as the basis for the Russian discovery of the Caucasus in the 18th century.13 On this foundation of vague descriptions, the beginnings of the Russian Caucasus-ethnography were mostly pushed forward by foreigners, primarily Germans, in St. Petersburg’s service, and strongly associated with the famous expeditions organized by the Russian Imperial Academy of Sciences during the 1760s and 1770s. These expeditions must be understood as a part of
11 SIDORKO Clemens, Nineteenth century German travelogues as sources on the history of Daghestan and Chechnya, in: Central Asian Survey 21/3 (2002), 283–99, 284. 12 Tolz, Russia’s Own Orient 7. 13 HALBACH Uwe, Die Bergvölker (gorcy) als Gegner und Opfer. Der Kaukasus in der Wahrnehmung Russlands (Ende des 18. Jahrhunderts bis 1864), in: Manfred Alexander/Frank Kämpfer/Andreas Kappeler (eds.), Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas: Festschrift für Günther Stökl zum 75, Geburtstag, Stuttgart 1991, 52–65, 56.
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Ekaterina II’s eastern policy, as their organization was not motivated by pure scholarly interest but rather with the aim of determining the economic potential of the country and its borderlands. In order to achieve this, and due to the lack of Russian scholars, foreign scholars were needed and were mostly found at German universities. Explorers from Germany such as Johann Anton Güldenstädt, Peter Simon Pallas, and Samuel Gottlieb Gmelin were in the forefront when it came to the appointment of expedition leaders and to the new exploration of Russia’s frontiers, including the Caucasus. The expeditions’ more important contributions are to be found in the fields of biology, botany, geology and geography rather than ethnography. The notes by Güldenstädt constitute the first large-scale and, more importantly, systematic study of the Caucasus region, which were readily accepted by Russia’s academia in the following decades. The same applies to accounts other than the natural descriptions by Güldenstädt, including the reception of his reports on the local peoples and their economic and political status. Since the Academy’s expeditions were not conducted for purely scientific reasons but also due to political realism and the related interest in gaining insight into the region, Güldenstädt’s elaboration on the Caucasus did have further implications for the Russian Empire’s policy in the region. As the Caucasus was vital in the then ongoing Russo-Ottoman War (1768–1774) in which it was a theater of war, with the Georgians a particular point of interest, the Empire’s southern border became subject to new scrutiny. By organizing large-scale expeditions to the contested regions, Russia sought to scientifically substantiate its claims to them. Additionally, as the Russians had scarcely any knowledge on the peoples of the Caucasus, these early expeditions by the Russian Academy of Sciences certainly contributed to creating certain types of knowledge and certain images of the mountainous region’s inhabitants. Concerning Güldenstädt’s elaborations, what becomes quite clear is that a) he did not have any preliminary studies to base his work upon and that b) an ethnographic approach was not his main concern in any case as he rather favored an exploration of the region’s natural features.14 Thus, his few attempts to provide some ethnographic information must be considered pioneering attempts to scientifically describe the population of the Caucasus and his elaborations on the matter certainly indicate that he stood at the very beginning of ethnographic Caucasiology. Keeping in mind that the Northern Caucasus was at least ethnographically speaking virtually a terra incognita to the Russians, it should be clear that his
14 KÖHLER Marcus, Russische Ethnographe und imperiale Politik im 18. Jahrhundert, Göttingen 2012, 147–51.
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accounts on the peoples of the Caucasus were still dominated by over-simplifications and generalizations. Accounts on the multiethnic composition of the region’s population read as “the Caucasus mountains contain a high number of smaller and larger excesses and crowds of peoples”15, who “inhabit almost a countless amount of districts and counties, which partly bear reference to one another”16. When generalizing them as “mountain peoples,” [Gebürgvölker] he described them as “restless”17, with the claim that they knew “neither laws, nor compliance”.18 Despite the evident scientific shortcomings, Güldenstädt’s efforts during his expedition, lasting from 1768 until 1775, can be considered to have laid the foundation for scholarly research into Russia’s southern borderlands and it also reinforced the Empire’s claims to the contested region, where St. Petersburg’s interests not only clashed with an Ottoman and Persian presence but also with the desire of the local inhabitants to stay clear of Russian influences. Peter Simon Pallas (1741–1811) led another expedition between 1793 and 1794, but this time his interests took him to southern Russia, namely via Astrachan' to the Crimea and the Black Sea.19 Pallas did not have an official order to conduct his fieldwork and organized the expedition on his own but he could still rely on governmental support in administrative questions.20 Since the Crimea had been incorporated into the Russian Empire only in 1783, the expedition was of course again of high political and strategic interest to St. Petersburg. Once again, the ethnographic information on the native Caucasus population awash with pejorative attributions and observations, such as when he gave an account on the “Kuban Nogajs, who have remained very predatory, despite having come down due to
15 GÜLDENSTÄDT Johann Anton, Reisen durch Rußland und im Caucasischen Gebürge, St. Petersburg 1787, 458. 16 Ibid. 17 Ibid. 180. 18 Ibid. 458. 19 WENDLAND Folkwart, Peter Simon Pallas (1741–1811). Materialien einer Biographie. Vol. 1, Berlin/New York 1992, 271–75; The proceedings of his expedition were published in Leipzig under the title Bemerkungen auf einer Reise in die südlichen Statthalterschaften des Russischen Reichs in den Jahren 1793 und 1794 between 1799 and 1801 and were eventually re-published in London between 1802 and 1803 in two volumes under the title Travels through the southern provinces of the Russian Empire, in the years 1793 and 1794. 20 Köhler, Russische Ethnographie 181–82.
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well-deserved punishments”21 and described the Chechens as “among of the most restless, hostile, and predatory mountaineers and among the worst neighbors.”22 Mostly due to his systematic methods, Pallas became one of the main protagonists in proto-scientific endeavors to make the Russian Empire’s periphery understandable and accessible and his works greatly influenced the early Russian perception of the native population in the Caucasus region. Another scholar who emerged from the Imperial Academy of Sciences expedition was Johann Gottlieb Georgi (1729–1802), who accompanied Pallas on his expedition to Siberia from 1770 onward.23 It is especially his second work Beschreibung aller Nationen des Rußischen Reiches, ihrer Lebensart, Religion, Gebräuche, Wohnungen, Kleidungen und übrigen Merkwürdigkeiten [Description of All Nations of the Russian Empire, their Way of Life, Religion, Customs, Dwellings, Attire and other Curiosities], published in St. Petersburg between 1776 and 1780, which is of greater interest in the present case. Georgi’s publication can be considered the first volume that aimed to collect and present ethnographic information on all known (or at least identified as such) ethnic groups within the Russian Empire. With translations into English and French to follow within a decade, Georgi’s work became the standard reference in early Russian ethnography, strongly influencing perceptions of the native populations in these regions. Such proto-Caucasiological research and travelogues about the Caucasus have to be considered a special source for the region’s history and for its conquest by the Russian Empire. They had an imperial background and the ethnographic components in particular can scarcely be deemed as adhering to any scholarly standards. However, since they were widely disseminated, translated and received, their repercussions should not be underestimated. By becoming the only sources about the composition and the history of the region, the works by Güldenstädt, Pallas and others strongly influenced the picture that both Russians and Europeans had of the Caucasus. As Sidorko rightfully stressed, this implied the risk that those parts of their work based on superficial studies would be passed on without further scrutiny, meaning that imprecise and generalizing information was often carried
21 PALLAS Peter S., Bemerkungen auf einer Reise in die südlichen Statthalterschaften des Russischen Reichs in den Jahren 1793 und 1794, Leipzig 1799, 406. 22 Ibid. 418. 23 ASTRINA Natascha, Schamanen und Pflanzendrogen, St. Petersburg und die Landbevölkerung. Der Beitrag Johann Gottlieb Georgis zu den Kenntnissen über Rußland, in: Dittmar Dahlmann (ed.), Die Kenntnis Rußlands im deutschsprachigen Raum im 18. Jahrhundert, Göttingen 2006, 179–200, 179–81.
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over into contemporary knowledge about the Caucasus.24 On the other hand, the different examinations of the Empire’s borderlands brought the Caucasus into the focus of Russian academia and laid the foundation for the institutionalization of Oriental studies at Russian universities at the beginning of the 19th century.25 Already before Oriental studies were actually institutionalized in Russia and even before seeking an adequate scientific apprehension of the newly acquired lands, the Empire had once again first moved to conquer territories. The Russians knew little about the Caucasus region when they had constructed their fortifications at the end of the 18th century, and their knowledge of the peoples they deemed their enemies in the Caucasus War when it began in 1817 was scant. They were forced to rely on the superficial observation made by the scholars of the Catherinian expeditions, which were not even written in Russian. The first Russian-language essays on the Caucasus were written by Stepan D. Burnašev (1743–1824), a Russian commissary with Georgia’s King Erekle II, and by Pavel S. Pot mkin (1743–1796), the first head of the Caucasus Viceroyalty between 1785 and 1787, who compared the social structures of the Caucasus peoples to ancient Sparta.26 When the Russian Empire was able to widen and tighten its rule over different parts of the Northern and Southern Caucasus, research intensified, although initially it was strongly contingent upon geographical and military-topographic needs.
24 Sidorko, German Travelogues 283. A good example from the mid-19th century is the case of Friedrich Bodenstedt’s Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen. Ein Beitrag zur Kenntnis des Orients [The peoples of the Caucasus and their struggles for freedom against the Russians. A contribution to the knowledge of the Orient], published in Frankfurt am Main in 1848. Even though he said his statements should be deemed “stories rather than history,” scholars until quite recently cited his book as though it was factually accurate. An example from the last two decades is ZELKINA Anna, In Quest for God and Freedom: The Sufi response to the Russian advance in the North Caucasus, London 2000, 101–07, 116–19, 153, 165, etc. 25 On the institutionalization of Oriental studies at Russian universities cf. for instance FRYE Richard N., Oriental Studies in Russia, in: Wayne S. Vucinich (ed.), Russia and Asia. Essays on the Influence of Russia on the Asian Peoples, Stanford 1972, 30–51; GERACI Robert P., Window on the East. National and Imperial Identities in Late Tsarist Russia, Ithaca/London 2001; Sahni, Crucifying the Orient 18–26; SCHIMMEL– PENNINCK VAN DER OYE, Russian Orientalism: Asia in the Russian mind from Peter the Great to the Emigration, New Haven 2010, 93–121; Tolz, Russia’s Own Orient. 26 Halbach, Die Bergvölker 56.
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The first breakthrough in early Russian Caucasus studies was achieved by Sem n Bronevskij’s Novejšija geografi eskija i istori eskija isvestija o Kavkaze [A New Geography and History of the Caucasus]. Published in 1823, therefore almost simultaneously with Puškin’s famous narrative poem The Captive of the Caucasus [Kavkazskij plennik], it did not trigger a comparable boom in ethnographic studies on the Caucasus. Bronevskij aimed to juxtapose the mythological perception of the Caucasus and emphasized the need for factual information. Bronevskij’s work had one advantage in the struggle for the attention of readers: stylistic excellence. The literary scholar Susan Layton saw Puškin’s aesthetic ascendance over Bronevskij’s writings as one of the main reasons for the success of The Captive of the Caucasus, which led to a widespread knowledge and recitation of the narrative poem, thereby shaping the Russian public’s image of its southern borderlands.27 In hindsight, Bronevskij’s endeavors proved to be an early landmark in Russian ethnography on the Caucasus, but the academic response did not lead to an adequate volume of ethnographic studies on the empire’s southern borderlands and factual knowledge remained scarce. At first, this lack of interest in furthering Bronevskij’s early insights was met by the military.28 Imperial officers of both Russian and Georgian origin were a serious source of ethnographic descriptions of the Caucasus throughout the 19th century, especially for the more peripheral regions of the Northern Caucasus, since the highlands were not easily accessible and the Russian military had the means to reach these distant villages and settlements as well as every intention of doing so. Also, high military officers viewed the ethnographic understanding of the region as a necessary instrument to ultimately pacify it and to bring stability to imperial policies in the Caucasus by facilitating—after a fashion—the successful integration of the mountaineers into the Russian Empire.29 They imagined their empire not necessarily as mono-ethnic but to be populated by many peoples, who should be led by the Russians, as they were supposedly considered more developed. Driven by these ambitions, the military ethnographers tried to paint a picture of clear circumstances in the Caucasus, where the different peoples allegedly were not really so different and where the way was supposedly clear to determine the identities of the mountaineers. Against the backdrop of the long-lasting Caucasus War, the Russian officers liked to think of the Northern Caucasus as inhabited by some clearly identified peoples rather than being populated by a vast number of different tribes within a single people—the situation that usually confronted the
27 Layton, Russian Literature 30–34. 28 Halbach, Die Bergvölker 57. 29 Jersild, Orientalism 72.
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Russians within the contested region. As a consequence, early Russian ethnography by military officers aimed to describe the Caucasus region by creating a clearcut picture of peoples rather than focusing on tribal distinctions.30 Another indication of the military as a source of ethnographic interest and endeavors can be seen in the evolution of imperial cartography. Maps of the North Caucasus from the mid-18th century lack any kind of information on the region’s ethnic composition.31 Until the 1870s however, many military maps included a variety of ethnic groups such as the Adyghe, Abkhaz, Chechens, Ossetians, and others, while many tribal distinctions among these peoples were specified. While these maps very often showed major deviations, the general trend in Russian imperial cartography was towards a more precise representation of the Caucasus region’s ethnic diversity.
A Significant Upturn in Caucasus Ethnography Since academic engagement with the Caucasus did not take off immediately with Bronevskij’s 1823 efforts, while the growing preoccupation of the Russians with the otherness of the Caucasus had primarily found its manifestation in literature during the conquest of the region and the Russian Empire’s expansion towards the East, it was not until the 1850s and, actually to a much greater extent, the reforms of the 1860s that this preoccupation found a new outlet: ethnography. In the 1850s, the proto-Caucasiological studies of the 18th century were still very influential, but the time had come for other academics to point out how heavily outdated they were. Linguist Anton Schiefner (1817–1879) elucidated the deficiencies of mid19th century Caucasiology and its continued reliance on research conducted by Güldenstädt, Pallas, and others. According to Schiefner, these early works had nowhere near the quality to allow one to deduce a satisfying picture of the individual languages.32 In 1867, the first Russian Ethnographic Exposition opened in Moscow, where the exhibits were supposed to reflect the life of the Russian Empire’s peoples.33 The exposition’s president stated that “the study of our native
30 Ibid. 73–74. 31 Ibid. 75–76. 32 SCHIEFNER Anton, Kurze Charakteristik der Thusch-Sprache, in: Mélanges asiatiques II (1854), 402; SCHIEFNER Anton, Ausführlicher Bericht über des Generals Baron Peter von Uslar Abchasische Studien, St. Petersburg 1863, III. 33 DOWLER Wayne, Classroom and Empire: The politics of schooling Russia’s Eastern nationalities, 1860–1917, Montreal 2001, 3–4.
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land” was “a necessity for every educated Russian,” while the exhibition was held under the personal patronage of Tsar Aleksandr II himself.34 Events like these created an atmosphere of scholarly curiosity, especially about the peoples of the borderlands. Moreover, since language was deemed the core of national identity and consciousness in the 19th century, eventually the languages of the borderlands sparked the interest of imperial academia. The plurality of languages in the Caucasus, unrivaled by any region in the Russian Empire but also scarcely matched by any other part of the world meant that the southern borderlands soon became fascinating to Russian linguists and ethnographers, who were keen to research the various vernacular languages of the region’s native peoples. At this time, the reforms of the 1860s, with the establishment of schools for the minorities and the general increased access to the Empire’s higher educational institutions by inorodcy also brought representatives of Russia’s smaller nationalities into academia.35 A significant contribution to this development was made by Russian Oriental Studies and ethnography, whose scholars began to work with inorodcy as research assistants and informants in their fieldwork in the respective borderlands. In Russia, the first systematic use of inorodcy in a scholarly project was probably P tr K. Uslar’s ambition to create alphabets for the vernacular languages of the Caucasus region in the 1860s and 1870s. While his assistants and guides often became teachers in the new schools set up after the empire’s reforms of the 1860s, their names were neither mentioned in the works of ethnographers nor did they become a part of Russia’s academic world.36 This changed again only in the 1880s, when representatives of Russia’s minorities were able to start publishing in major Russian periodicals and thereby setting into motion the process that would transform them from unknown assistants into scholars; which continued far into the 20th century. P tr K. Uslar is rightfully considered one of the most important 19th-century Russian linguists and ethnographers specializing in the Caucasus region. He served in the military in Dagestan during the 1830s, and returned to the empire’s southern borderlands in the 1850s as a member of the Caucasus Department of the Imperial Russian Geographical Society, where he then spent most of his life, committed to the research into the indigenous population and especially their vernacular languages. The local languages had become the center of interest for Russian
34 BROWER Daniel R., Islam and Ethnicity: Russian Colonial Policy in Turkestan, in: Daniel R. Brower/Edward J. Lazzerini (eds.), Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917, Bloomington/Indianapolis 1997, 115–35, 123. 35 Tolz, Russia’s Own Orient 114–16. 36 Ibid.
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scholars of the Caucasus Department and, since the vast majority of the mountaineers were illiterate, they had yet to be transcribed. Uslar thereby contested the opinion of the “extreme poverty of these languages,” which could be held only by “people, who have no idea whatsoever” and countered that “these languages, on the contrary, are incredibly rich in their grammatical forms, which make it possible to express the most subtle, nuanced ideas.”37 Uslar’s ambition was to equip the peoples of the North Caucasus with their own written languages, and while he was not the first linguist to attempt this, he was certainly the most successful in the 19th century. The basis for the success of his research was his understanding that it would not be enough to use the Russian alphabet, which his predecessors were reluctant to modify, but rather adapt it to the needs of the phonetically diverse languages of the Caucasus.38 Uslar’s “new” alphabet was based on the Cyrillic script but included several additions in order to be able to accommodate the peculiarities of the mountaineer languages. The 1860s saw Uslar working on Abkhaz, Chechen, Avar, Lak, Dargin [Chjurkilskij jazyk], Lezgian [Kjurinskij jazyk], and other languages of the region, while his alphabets were only published posthumously.39 Uslar’s alphabets, developed to transcribe the Caucasus languages, were assumed by other Russian scholars and institutions, such as the Society for the Restoration of Orthodoxy but also by some mountaineers such as the Ossetians, who used it to publish collected Ossetian folk tales and proverbs.40 Uslar’s extensive elaborations of the respective languages include grammar studies, texts in the original with Russian translations and comments, as well as the first provisional dictionaries, providing Russian translations to a basic vocabulary in the vernacular language of the studies. With Uslar’s endeavors, Russian Caucasiologists eventually took the first steps toward their aim to equip the mountaineers with written versions of their spoken vernacular languages.
37 Uslar, O rasprostranenii 28–29. 38 Jersild, Orientalism 81–82. 39 USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie. I. Abchazskij jazyk, Tiflis 1887; USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie. II. e enskij jazyk, Tiflis 1888; USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie. III. Avarskij jazyk, Tiflis 1889; USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie. IV. Lakskij jazyk, Tiflis 1890; USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie. V. Chjurkilinskij jazyk, Tiflis 1892; USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie. VI. Kjurinskij jazyk, Tiflis 1896; USLAR P tr K., Ètnografija Kavkaza. Jazykoznanie VII. Tabasaranskij jazyk, Tiflis 1979. 40 Jersild, Orientalism 83–84.
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Naming and Framing the Caucasus Peoples The intentions of the Russian ethnographers seem noble at a first glance: they sought to include the “mountaineers” in their work and Uslar in particular intended to develop alphabets for the great variety of languages spoken in the region rather than enforcing linguistic Russification. While Uslar attacked the romantic Caucasus concept, it also has to be clear that the research conducted by ethnographers like Berže, Uslar and others, who were all members of St. Petersburg’s Imperial Academy of Sciences, proceeded in an imperial scholarly network where knowledge and authority were closely interwoven and where scholars also perpetuated images of their study subjects. Their support of schooling the Russian Empire’s minorities in the vernacular languages was therefore not quite motivated by the noble and idealistic desire to foster literacy among them, but rather often stemmed from other considerations. For example, Wayne Dowler stated that the Orientologist Vasilij V. Grigor’ev’s (1816–1881) support for schooling the nomads of the Kazakh steppe in their own languages was underpinned by his belief that it would prevent their Tatarization and Islamization, i.e., the advance of “Tatar cultural imperialism.”41 Tolz believed the long-term goal of Grigor’ev and of fellow Orientologist Nikolaj I. Il’minskij (1822–1892) in teaching the minorities in their vernacular languages was to eventually Christianize and Russify them.42 Jersild attributed chauvinistic and Russocentric ideas to the ethnographers, and viewed the purpose of fostering mountaineer literacy as a way to facilitate their access to the literature of Russia.43 However, from both the imperialist standpoint and that of the culturally dominant Russian opposition, the status quo of minorities lacking literacy in their vernacular languages, particularly widespread in the Caucasus, favored assimilation plans. For the Caucasus, the words of geographer Peter von Köppen [P tr I. K ppen] (1793–1864) are symptomatic: “The subjugation of the Daghestan latterly has let the civilized world look at the Caucasus, to which—thanks to the courage and insistence of Russian warriors—access gets easier from year to year.”44 The nomination strategies resulted in a very ambivalent and therefore inconsistent pattern.
41 Dowler, Classroom 38–39. 42 Tolz, Russia’s Own Orient 36–37. 43 Jersild, Orientalism 88. 44 KÖPPEN Peter von, Die Russisch-Kaukasische Statthalterschaft: Offizielle Zusammenstellung und Areal-Berechnung der dem Russischen Scepter am Ende des Jahres 1859 unterworfenen Kaukasischen Länder, in: Petermann’s Geographische Mitteilungen V (1860), 9–10, 9.
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On the one hand, ethnographic studies do indicate ethnic groups and subgroups with a previously unknown precision, but on the other hand, one can notice a certain willful ignorance when reading that the entire Western half of the Caucasus was, besides the Adyghe, inhabited by “a few unimportant peoples”45 or that the “dialect of the Kistinian language is a coarse and unimportant language.”46 It has to be clear that the precision in distinguishing between smaller ethnic groups and their subgroups was far from complete, and Christian Dettmering illustrated this very well using the example of the Ingush, whom Berže described as one of the many Chechen tribes despite already observing differences between the Chechen and Ingush languages.47 However, the progress from the knowledge of the 1820s and the ideas dominating Romantic poetry was enormous. A look at the nomination strategies employed by ethnographers reveals that Russian awareness of ethnic diversity in the Caucasus had increased significantly. Besides all-encompassing denominators such as gorcy [mountaineers], tuzemcy or urožency [natives], one can find geographical specifications such as adygskie narody [Adyghe peoples], Dagestanskie gorcy, trans- or zakubancy, but most of the time ethnographers tried to be precise in their descriptions of the peoples they studied. Attempts at precise descriptions were naturally somewhat hampered by the very scant knowledge upon which they could already rely. Berže spoke of Svanetian as a “completely unknown language and that it is difficult to determine the tribe to which they actually belong”48, while his division of all Caucasus peoples into seven groups, speaking dissimilar languages, namely Kartvelian, Abkhaz, Circassian, Ossetian, Ubykh, Lezgian and Chechen, can obviously only be considered the very beginning of comparative linguistics in the Caucasus region.49 Schiefner called the Dargin language “a dialect of a yet unnamed language.”50 Uslar picked this up and explained that his designation “Avar language” would encompass all dialects with the same root, but still precluding him, or others, from
45 BERŽE Adol’f P., Die Sagen und Lieder des Tscherkessenvolks, Leipzig 1866, V. 46 BERŽE Adol’f P., Die Bergvölker des Kaukasus, in: Petermann’s Geographische Mitteilungen V (1860), 165–184, 178. 47 DETTMERING Christian W., Russlands Kampf gegen die Sufis. Die Integration der Tschetschenen und Inguschen ins Russische Reich 1810–1880, Oldenburg 2011, 316. 48 Berže, Bergvölker 168. 49 Ibid. 165. 50 SCHIEFNER Anton, Ausführlicher Bericht über Baron P. v. Uslar’s Hürkanische Studien, St. Petersburg 1871, 1.
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speaking of all natives as Avars, comparing the case to the Genevans, who spoke French but were not French.51 However, it also has to be clear that in the decades from the 1850s to the 1870s one cannot expect a high level of ethnic or national consciousness among the peoples of the (North) Caucasus. Settlement patterns and tribal structures dominated social organization amongst the Caucasus peoples and identity was primarily sought in and focused on the village, region or clan to which one belonged. Regionalisms where strong everywhere, including Georgia, which was reflected quite well in the ethnographic studies, for the lines between naming ethnic groups as pre-national categories or regional affiliations such as Mtiuletians or Gurians were rather vague. Anton Schiefner even avoided speaking of any peoples and mostly referred solely to languages. It is interesting to note that nomination strategies do not contain any wholesale pejoratives. Uslar, writing to Schiefner that he was having “extreme difficulties being compelled a talk to these savages,” was certainly the exception to material that was otherwise very neutrally written.52 This, however, does not mean that these ethnographic studies were not rich in affirming and enforcing pejorative stereotypes. What was not reflected in naming can be seen more clearly in attribution. The tone in early ethnography on the Caucasus was certainly set by Sem n Bronevskij, who said of the Caucasus natives that “war is a matter of habit and the way of life of all of these peoples.”53 The attribution of theft and brigandage as deeply-rooted traits in mountain societies was not exclusively connected to resistance in the Caucasus War or the Muslim faith. Berže wrote of the Samurzakanians that they were not only Christians, but also, despite their bellicose character, completely submissive, even though they had not yet broken with the customs of theft and banditry.54 The attribution of bellicose character can be considered an important constant in Russian depictions of the Caucasus peoples. For Berže “the Akhchipsou distinguish themselves by their belligerent spirit”,55 the Ajbuga were “a small society of brigands”,56 the
51 Uslar, Avarskij jazyk 5. 52 Uslar, Lakskij jazyk 34. 53 BRONEVSKIJ Sem n, Novejšija geografi eskija i istori eskija isvestija o Kavkaze, Moscow 1823, 34. 54 Berže, Kratkij obzor 273. 55 Ibid. 274. 56 Ibid.
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Šežire “uniformly wild, predatory and poor”,57 the Saše “altogether a militant people”,58 the Machoševcy “militant and devoted to banditry”,59 the I kerincy “predatory and militant”,60 the Lezgians “bloodthirsty, neighbored by other predatory tribes”61 and the Auchovcy had “a predatory and reckless spirit”.62 As if these attributions of a bellicose and plundering character were not enough, Berže’s depiction of the Chechens speaks for itself: “The Chechens are more alien to civilization than all other mountain peoples and are close to barbarism; in their life the animal customs of a semi-wild people prevail, leaning to banditry, and murder is developed to a high degree among them and this excludes any possibility of trade and other peaceful occupations. Incidentally, there are also exceptions here: The dwellers of localities which gradually come within the borders of our possessions or border the same, realize the irresistible influence of a pleasant civilization and distinguish themselves in more peaceful customs than their distant tribal comrades.”63 Christian Dettmering rightfully stressed that no Russian ethnographer ever seemed to distinguish between traditional banditry—an integral part of life and well defined by local customs and rules, where the youth had to prove their bravery by raiding neighbors—and looting tactics in war.64 When not directly attributing wildness and thievery to them, Berže did not hesitate to speak of peoples who did “not know any civil order”,65 of the Ubykh “not having an actual government and searching, fostering a deep-seated hatred against us, to keep the hostility of other mountaineers against the Russians upright”,66 something they had in common with the Kabardians, also “nurturing concealed but impotent hatred”.67 Berže
57 Berže, Bergvölker 168. 58 Ibid. 175. 59 Ibid. 174. 60 Ibid. 180. 61 Ibid. 181. 62 Ibid. 63 Ibid. 180. 64 DETTMERING Christian W., No Love Affair: Ingush and Chechen Imperial Ethnographies, in: Roland Cvetkovski/Alexis Hofmeister (eds.), An Empire of Others. Creating Ethnographic Knowledge in Imperial Russia and the USSR, Budapest/New York 2014, 341–67, 345–46. 65 Berže, Sagen XIV. 66 Berže, Bergvölker 174. 67 Ibid. 172.
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was certainly the most productive in attributing to the Caucasus peoples a bellicose and predatory character, but Gustav I. Radde (1831–1903), by profession primarily a naturalist, also implied that the Khevsur were “no tamed people”68 and Uslar even wrote that one had to understand the gorcy “in the sense of a recovery from a severe illness.”69 On the other hand, the latter wrote about banditry as a phenomenon from the past, asserting that, “it doesn’t happen more often in Dagestan than in today’s Moscow.”70 The general attributive tone was certainly very negative. However, from time to time it was counterbalanced by attributions of bravery, modesty and physical strength or beauty. According to Berže, the Digor people were “endowed by nature with physical beauty, high stature, providential spiritual capacity and eloquence; they are proud, stay true to their word and oath […] In general they are shapely, strong and versatile, displaying a bold and noble character.”71 He then elaborated that one could not say the same of their fellow tribes, although it should be understood that there were individual exceptions. Uslar had a similar description for the Ar i people, whom he described as being “very tall, handsome, blonde with aquiline noses and long faces.”72 Radde’s image of the Khevsur accorded them with “a high degree of wildness, a shy expression and a self-confident posture”73 and also as “loyal to the government and obedient.”74 Other positive attributes stem from the Russian perception of some people being more loyal to the Russian government than others. Dettmering demonstrated this with the example of the Ingush, who were partly juxtaposed with the Chechens and declared an exception to the rule that mountaineers were all bandits.75 Perceived as loyal to the government and therefore positively displayed were Georgia’s pre-dominantly Christian groups such as the Tuš and Khevsur, whom Berže called “a reliable bulwark of Kakheti and partly of the Georgian Military Highway,” “renowned due to their manly boldness and exemplary bravery” and even “heroes in the full meaning of the word.”76 Furthermore, the Ossetians are equally displayed as peaceful and calm as they wouldn’t participate in the Murid War and would not side with the
68 RADDE Gustav, Die Chews’uren und ihr Land, Kassel 1878, 77. 69 Uslar, O rasprostranenii 1. 70 Ibid. 71 Berže, Bergvölker 176–77. 72 Uslar, Lakskij jazyk 8. 73 Radde, Chews’uren 71. 74 Ibid. 64–65. 75 Dettmering, No Love Affair 346–47. 76 Berže, Bergvölker 181.
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“desperate Sunni warriors.”77 So even though negative attributions by far outweighed the positive images of the Caucasus peoples, from time to time one can find the famous narrative of the “noble savage,” so dominant in Russia’s literary Caucasus, shining through. While nomination and attribution strategies provide good insight into the depiction of the Caucasus peoples in imperial ethnography, the analysis of argumentation strategies seems to be even more fruitful. One can clearly see Berže’s affinity for imperial Russian narratives when looking at his depiction of the genocide in the Western Caucasus and the related emigration (Muhajirism) to the Ottoman Empire. Berže cynically tried to justify the slaughter and the mass expulsions that went hand in hand with the Russian advance into the Western Caucasus. Berže, of course, never used terms like expulsion, but rather referred to it as “relocation”78 and “emigration”79, first and foremost aiming to imply the allegedly voluntary character of the many people leaving what had become Russian territories. He designed a counter-narrative to genocidal warfare and wrote of “the relocation’s unforeseeable dimensions” and that “the Russian government would have tried everything to guarantee the mountaineers’ transfer to Turkey by providing financial support to the poorest, chartering merchant vessels, assigned warships to ferry them over […] and more.”80 The great number of deceased could, according to Berže, be explained by famine and epidemics on the one hand and with the unwillingness of the mountaineers themselves to cooperate, as they allegedly preferred the harsh life of nomads, from which the Russians could not have saved them.81 In the end, the ethnographer did realize that the Western Caucasus was about to be almost entirely depopulated but cynically concluded that relocation would not have “major consequences in the political-economic respect” as “these peoples would not have guaranteed steady economic development” and even more cynically only regretted the—“from a scientific point of view—irrecoverable gap” it left behind.82 Closely related to the genocide counter-narrative is the depiction of how the complete submission of the Caucasus had supposedly occurred. Never does one find a word on Russian aggression or the Russian Empire forcefully subjugating the Caucasus peoples. The latter always play the aggressive role, such as when the
77 Ibid. 177. 78 Berže, Sagen X; XX. 79 Ibid. XXI. 80 Ibid. XX. 81 Ibid. XXI. 82 Ibid.
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Russians fortified their position on the Kuban River at the end of the 18th century. According to Berže, it was the mountaineers who “launched a continuous series of raids and plunder while making forays into our territory.”83 However, he also attested to the fairly large portion of the Transkubanians who wanted peace and healthy relations with the Russians,84 serving the narrative of fragmentation among the Caucasus peoples. The warfare could only end when they finally “submitted to General Ermolov” and when they “proclaimed fealty to our government”85—the Russian Empire obviously doing the Caucasus peoples a favor, something valid for Georgia as well, which Russia “took under its patronage.”86 Berže neglected the intentional genocidal warfare waged by the Russians and declared that the Russian government “had never aimed to exterminate the mountain peoples nor deprive them of the lands of the imperial state.”87 He did not elaborate on what alternative plans the Russians had foreseen for the native population, but just the fact that he called the territories in the West Caucasus “lands of the imperial state,”88 as though they had not just been conquered, spoke for itself. There is no doubt that the then prevailing narratives about the ancient heritage of the Caucasus peoples played a major role in how Russian ethnographers attempted to situate the region’s ethnic groups in their understanding of history. Almost every study contained an attempt to create a tie with legendary empires from Antiquity, depicting them as the ancestors of the peoples of the 19th century. In 1857, Berže started his “A short review of the mountain tribes in the Caucasus” [Kratkij obzor gorskich plemen na Kavkaze] about the Medes, the Sarmatians and the Alans89 and continued to look for the ancestors of the Ossetians90 and the Lezgians91 in “The mountain tribes of the Caucasus” [Die Bergvölker des Kaukasus]. However, the opposite may have also been the intention of ethnographers, namely by questioning a people’s claim to be the natives in a certain territory. An example is Berže’s conclusion that with the Abkhaz, there can be hardly
83 Ibid. 84 Ibid. XIII. 85 Berže, Kratkij obzor 275. 86 Ibid. 267. 87 Berže, Sagen XV. 88 Ibid. 89 Berže, Kratkij obzor 267. 90 Berže, Bergvölker 176. 91 Ibid. 181–82.
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any local traditions or historical data available to prove their continuous habitation in the Northwestern Caucasus.92 Digging in ancient history of these peoples also served another purpose: to suggest their original belonging to the Christian world. Anton Schiefner wrote about the Udis as being originally Christian and that they could only have converted to Islam during the course of the 18th century.93 Berže wrote of “the Chechens as Christians based on the traditions prevalent among them” and that “Islam had not made inroads among them until the beginning of the last century,” implying that Islam was a recent, 18th-century phenomenon, and also that traces of Christianity could still be found in their culture or language, such as for instance the Chechen language’s vocabulary for the days of the week deriving from the Georgian.94 He also emphasized that Abkhaz Christianization had already taken place in the 6th century95 while “the initial introduction of the Muslim faith among the Circassians dates back a short time; even now it cannot put down roots”, calling the Muslim religious leaders “lying apostles”.96 Another important narrative in Russian endeavors to subjugate the North Caucasus was the region’s socio-political fragmentation. Berže wrote that neither the Circassians nor the peoples of the Western Caucasus in general ever constituted a coherent political entity.97 He went on to describe “every single personality as possessed of wanton freedom and capriciousness,” which is why the individual peoples were “always quarreling and feuding among themselves” and could “never constitute an independent political body.”98 At the linguistic level, Uslar did not hesitate to approve, seeing in the Avar word an [beast] the roots for the local denotation a an for the Chechens, thereby believing that this proved that all mountain peoples hated each other.99 Uslar also attested to the opposite, that the Chechens “consider themselves nobler than the Avars.”100 However, not only was the North Caucasus in its entirety and its peoples in their mutual relations described as fragmented, but so too are the individual peoples in their overall social and leadership structures. The Samurzakanians are described as “so weak in
92 Ibid. 166. 93 SCHIEFNER Anton, Versuch über die Sprache der Uden, St. Petersburg 1863, 4–5. 94 Berže, Bergvölker 179. 95 Ibid. 166. 96 Ibid. 171. 97 Berže, Sagen X. 98 Ibid. XII. 99 Uslar, Lakskij jazyk 25. 100 Uslar, Avarskij jazyk 3.
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their authority, they cannot eradicate unrest and inner discord,” while discord, confusion, and banditry were ever-present in Abkhazia, where the local ruler could only pacify them by force of arms.101 The “bellicose Šapsugs” did not have any “inner administration and organization,” so even when the Ottomans tried to introduce the sharia to them, they were doomed to fail.102 Nomination strategies for foreign influences can be put on the same level as nomination strategies for the Ottoman Empire, which is mostly referred to as “Turkey” or “the Turks” and only in a few cases equated with its political leadership, i.e. “the Sultan.” The Ottoman Empire is depicted as an agitator, stirring up unrest among the peoples of the Caucasus. Berže furthermore wrote: “Despite all Russian efforts, relations between the Transkubanian mountain peoples and Turkey did not cease: The Turks supplied the mountaineers with some mass consumption goods and in return received slaves, especially women, filling their harems. They thereby amplified fanaticism and hatred against the Russians.”103 Berže however also emphasized that the Caucasus peoples never fully submitted to the Ottomans and that the latter could maintain their position only along the coastline of the Black Sea, as they had never been able to advance into the hinterland—the same problem long confronting the Russians.104 He also saw a connection between the resistance of the Caucasus peoples and the Russo-Ottoman Wars of the 19th century and concluded that the Oriental, i.e. Crimean War had given the Ottoman Empire the more reason to exert greater influence on the mountain peoples.105 The latter again are described as willing to follow whatever external influence helped them avoid surrendering to the Russian Empire. According to Berže, all mountain peoples would have accepted the terms of surrender if it had not been for the constant letters and proclamations by foreign powers, agitating them and raising their hopes in foreign aid arriving soon.106 He particularly named the Circassians, who had been “stirred up by the Porte,” who rendered “homage to Turkey” and who reacted to the Russian demand of submission and fealty with “constant pillage, brigandage and devastating raids on peaceful farmers settled by us in that area.”107 The narrative of the interfering Ottoman Empire was therefore
101 Berže, Bergvölker 167. 102 Ibid. 173. 103 Berže, Sagen XIII. 104 Ibid. XII. 105 Ibid. XIV. 106 Ibid. XIX. 107 Berže, Bergvölker 170.
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closely intertwined with that of the Caucasus peoples always willing to go behind Russia’s back if given the possibility. One can hardly separate the arguments concerning the Ottoman Empire and the influence of Islam on the Caucasus peoples. However, the latter is particularly intriguing when considering Uslar’s 1870 essay “On the spread of literacy among the mountaineers” [O rasprostranenii gramotnosti meždu gorcami]. In his ambition to introduce individual alphabets for the Caucasus languages, Uslar assumed anti-Muslim rhetoric, however not addressing Islam per se but concentrating on the fight against Arabic. While initially not specifying either Islam or Arabic, he clearly pointed to them when arguing that the consequences of the political change should be the “elimination of the influence of a hostile civilization” and considering the fight against the other civilization’s language easier as it was foreign to the people.108 Condemning the fact that education was available to every mountaineer boy but only in Arabic language and only in order to read and understand the Qur'an—not independently, Uslar added, but just like Mu ammad’s first disciples 1,000 years before—his harangue culminated with the point that “the Arabic language comprises in itself all hostile elements in Dagestan” and that the Qur'an would call for irreconcilable war against non-believers.109 In a letter to fellow linguist Schiefner, he furthermore wrote about widespread conspiracies stemming from Qur'anic verses, although not actually providing any detail as to what type of conspiracies.110 Uslar’s hostility to the Arabic language found approval in the Caucasus administration, which turned down suggestions of promoting the advantages of Russian rule in an Arabic-language newspaper.111 Despite Uslar’s strong condemnation of the influence of Arabic, hence Islam, in the Caucasus and despite his considerable agitation against its spiritual leadership, he also clearly stated that he did not see proselytism as their business and that he would rather focus on promoting the Russian than Christian language, i.e. that he wanted to focus on establishing Russian-language instead of Arabic-language schools rather than Christian in place of Muslim schools.112 It is clear that the two purposes cannot really be separated, but in a letter to Anton Schiefner, he again emphasized not wanting to get caught up in missionary work: “So far, I have strongly avoided translations of prayers into the mountain languages, as it would stir up suspicions of religious proselytism among the natives. In this respect, their
108 Uslar, O rasprostranenii 2–3. 109 Ibid. 3–4. 110 Uslar, Lakskij jazyk 21. 111 Dettmering, No Love Affair 357–58. 112 Uslar, O rasprostranenii 16.
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apprehension goes so far, that many look obliquely at the letter , because there is a cross on its top.”113 Radde’s description of the role of the administration in comparison to the church underlines that the ethnographers understood their work as part of a civilizing rather than proselytizing mission: “It almost seems to me that here the court, because it has more weight and proceeds more strictly, guides the wild people far more successfully on their very first path to civilization than the proselytizing church, whose leniency keeps the Khevsur indifferent […]”114 In contrast to Uslar, Schiefner was not in direct contact with the peoples he described. His 1856 “Essay on the Tuš language” [Versuch über die Thusch-Sprache], for instance, is based on materials by Marie-Félicité Brosset, brought from his fieldwork to the Imperial Academy of Sciences and stored in its Asiatic Museum. He often complained about this lack of contact in his introductions, but precisely these complaints provide some insight into his understanding of the native population’s role in their ethnographic work, as he wrote in the introduction to “An essay on the language of the Udis” [Versuch über die Sprache der Uden] that he hoped to be able to “use an indigenous Udi”,115 degrading the native population to a mere instrument of his work. The result of Schiefner’s distance from the field was that he incorporated virtually no ethnographic information in his linguistic analysis, as he concentrated very much on the structure of the Caucasus peoples’ grammar and avoided getting mired in socio-political remarks, very much in contrast to his famous colleague P tr Uslar, who regularly reported his impressions to Schiefner in extensive letters. Another scholar very much in contact with the peoples he aimed to describe was Radde, but his elaborations are also a proof of the dubious “scientific” approaches the 19th century also entailed, as he did not hesitate to express his wish for craniological and bodily measurements for the Khevsur.116 Interesting in that regard are the endeavors to derive the endo- and exonyms of the people, often hinting at some pejorative origin. Schiefner wrote that the Avars were not familiar with their exonym but continued to analyze the appellation’s Turkish origin, allegedly meaning unsettled, or vagrant.117 Uslar also had his own thoughts on the Caucasus names and appellations. He considered them
113 Uslar, Lakskij jazyk 40–41. 114 Radde, Chews’uren 117. 115 Schiefner, Sprache der Uden 2. 116 Radde, Chews’uren 78. 117 SCHIEFNER Anton, Ausführlicher Bericht über Baron P. v. Uslar’s Awarische Stud– ien, St. Petersburg 1872, 1.
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quite unsatisfactory for all peoples being discussed and elaborated how the exonym “Lezgian” could have allegedly derived from the translation of the word “bandit,” although from which language was not clear, and thought that the theory of it stemming from Arabic, meaning “not very clean” or “unclean” would make more sense, as the mountaineers had long resisted Islam.118 Uslar concluded that Caucasus ethnography would have profited a great deal if one would refer to the names peoples used for themselves, but in the end decided to refrain from doing so, for he believed that even if he had used their endonyms they would not have become commonly used and only cause confusion.119 Furthermore, he also stated that one should not believe the natives’ stories about the local languages and that one could only find the truth by direct studies.120 Schiefner, despite having no experience in the field, agreed with Uslar and called the natives “poor judges in terms of comparative linguistics.”121 So if such little credence was given to the point of view of its peoples, how can one interpret the ambitions of Russian ethnographers to learn more about the Caucasus region? First and foremost, these scholarly endeavors have to be understood in the context of the Russian Empire’s academic structure. In service of the Imperial Academy of Sciences, Russian ethnographers and linguists must be considered part of a system which primarily aimed at incorporating its newly acquired territories, where it was only useful to know more about its population. Ethnographers were therefore already influenced by a certain image of the Caucasus region which had been established throughout the first half of the 19th century or even earlier. This, however, does not mean that scholars like Berže and Uslar only rehashed existing narratives. In fact, Russian ethnography did its fair share to develop the Caucasus discourse and influence it significantly. Until the latter half of the 19th century, the field of Caucasiology was hardly developed, and early Russian descriptions of the peoples of the Caucasus region were based on short and superficial contacts and resulted in highly inaccurate accounts of the region’s ethnic and linguistic diversity. Scientific endeavors to adequately map and describe the region moved away from individual efforts only gradually, and Oriental Studies and thereby also Caucasiology were institutionalized in the Russian Empire step by step. This was mostly a response on its imperial expansion and tightening grip on the Caucasus, and it was the long and demanding
118 Uslar, Avarskij jazyk 4; Uslar, Lakskij jazyk 25. 119 Uslar, Lakskij jazyk 2. 120 Ibid. 121 Schiefner, Hürkanische Studien 4.
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Caucasus War that brought an intensification of Russian research into the Caucasus because the geopolitical situation required the Empire to become more acquainted with the region’s resisting peoples. What followed was a first boom in publications, foundations of new organizations dealing with the Caucasus, as well as a first wave of visualizing the Caucasus region. Until the end of the Caucasus War in 1864, Russian endeavors to collect precise ethnographic descriptions had only modest success, but its outcomes can and should be considered within a framework of questions related to representation and authority. When addressing the questions posed at the very beginning, one can say that the nomination strategies were fairly neutral and do reflect increasing Russian knowledge of its southern borderlands. On a predicative level however, the descriptions were far from neutral and draw an image of the Caucasus peoples as savages, whose main attributed characteristics are “wild,” “bellicose,” “predatory” and so forth. Far from romanticizing the native population, the Caucasus peoples were depicted as semi-civilized and culturally inferior to the Russians able to study them—a conclusion that comports with Yuri Slezkine’s analysis of relations between Russia and the Siberian “small peoples of the North.”122 Of the highest interest are certainly the arguments employed. The justification for forced migration, the othering of the Ottoman Empire and the Arabic language as well as the narrative of the fragmented Caucasus have to be understood in the framework of the Russian Empire’s ambition to subdue the region as a component of its own civilizing mission. In this regard, ethnographic studies effectively served the concept of legitimation on a civilizing rather than proselytizing level. As a result, the othering of the Caucasus native population was scarcely achieved by stressing denominational differences or the role of Islam in the region. Ethnography primarily helped the Russian Empire present itself as both the restorer and bearer of true culture, implying that the Caucasus peoples needed their Russian masters to do just that. These Russian representations of the Caucasus were backed by their imperial authority and therefore not only had widespread implications but also proved to be quite durable. Thus, stereotypical descriptions were well established in the Russian academic discourse of 19th century ethnography. While these stereotypes were certainly subject to alterations in changing sociopolitical frameworks, they illustrate how imperial ethnography did its fair share to make sure that Russia’s political annexation of the Caucasus did not go hand in hand with the immediate integration of its new citizens into a Russian common place but rather reinforced their status as the “Other.” The conceptualization of the Caucasus as an
122 SLEZKINE Yuri, Arctic Mirrors: Russia and the small peoples of the North, Ithaca 1994, 125.
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inferior region in need of Russian subjugation went along with the ethnographic descriptions of the region’s native peoples. It furthermore also shows the affinity of ethnographers to Russian imperial academia, in which they created, established, and perpetuated stereotypical descriptions and narratives about the region’s native population, thus affirming Russian authority over the Caucasus. The creation of knowledge was thereby strongly related to imperial policy. Only at the turn of the 20th century and against the backdrop of an intellectual and cultural shift in the two preceding decades did these considerations eventually vanish, to be replaced by the idea that fostering non-Russian nationalism amongst the Russian Empire’s minorities could help strengthen or at least preserve the multi-ethnic state at a time when imperial states were threatened by sub-state nationalisms.123 Until then, ethnography did not challenge the Russian Empire’s cultural hierarchies and certainly not the primacy of Russian culture over the frontier’s smaller peoples.
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Heimat und Welt in konzentrischen Kreisen Wissenskanon und Vorstellungswelten in slowenischen Volksschullesebüchern um 1900 K ARIN A LMASY (G RAZ )
Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann von einem modernen – weil staatlich und nicht mehr kirchlich kontrollierten – Schulwesen und damit von einem einigermaßen einheitlichen, staatlich strukturierten Wissensdiskurs im Bildungswesen der Habsburger Monarchie gesprochen werden. Das Schullesebuch, als Paradebeispiel staatlich kontrollierter Textproduktion und gängigster Schulbuchtyp vor allem in den niederen Schulstufen, bietet durch seinen universalistischen Charakter Einblicke in den Wissens- und Wertekanon von breite Bevölkerungsschichten und die darin präsentierten Vorstellungswelten über die eigene kleine Heimat, das große Vaterland und die restliche weite Welt. Der vorliegende Beitrag soll für slowenische Schulbücher nachzeichnen, aus welchen Inhalten sich dieser Wissenskanon zusammensetzte und welche spezifischen Präsentationen von Welt, welche Raumvorstellungen und Gruppenidentitäten darin tradiert wurden. Nachdem zu diesem Zwecke zunächst kurz die Grundfeste des österreichischen Schulwesens und die Charakteristika des Lesebuchs beschrieben werden, soll ein Blick in die im Gebrauch stehenden slowenischsprachigen Volksschullesebücher um 1900 den vorherrschenden Wissenskanon umreißen. In einem weiteren Schritt wird dann mit Blick auf den Kontext der Konstruktion der slowenischen Nation und Sprachentwicklung der Frage nachgegangen, welche Konzepte von Heimat, Vaterland, Welt und von „Wir und die Anderen“ der slowenisch- bzw. deutsch- und slowenischsprachigen Jugend in der Habsburgermonarchie vermittelt wurden.
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D IE B EDEUTUNG VON S CHULWESEN UND L ESEBUCH Zwar wird der Beginn des österreichischen Schulwesens meist mit der von Maria Theresia 1774 erlassenen Schulordnung datiert, tatsächlich aber kann von der Etablierung eines allgemeinen modernen Schulwesens, dessen Durchsetzung erst viele (ideelle, strukturelle, ökonomische, infrastrukturelle) Widerstände und Hürden überwinden musste, erst nach den großen Schulreformen nach der Revolution von 1848 gesprochen werden. Maria Theresia führte zwar die allgemeine sechsjährige Schulpflicht ein, allerdings glich die Formulierung in der Schulordnung, dass es „gerne gesehen wird, daß Aeltern ihre Kinder wenigstens durch 6 oder 7 Jahre in den deutschen Schulen liessen“1 eher einem Wunsch denn einer Verpflichtung und enthüllt gleichsam, wie groß die Kluft zwischen theoretischem Anspruch und Realität im Schulwesen noch lange Zeit blieb.2 Auch ein Blick auf die Alphabetisierung der Bevölkerung – einer der wichtigsten „kulturellen Basisprozesse des 19. Jahrhunderts“3 – macht dies deutlich: Um 1810 ging in den slowenisch besiedelten Gebieten erst jedes siebte Kind in die Schule, 1847 hingegen bereits jedes Dritte, während um 1910 bereits etwa 60 % der Bevölkerung in den slowenisch besiedelten Kronländern (bei starken regionalen Schwankungen) schreib- und lesekundig waren.4 Die Lesefähigkeit breiter Massen der Bevölkerung nahm also in der Zeit zwischen 1848 und 1918 beachtlich zu, der Analphabetismus hatte spätestens um die Jahrhundertwende
1
MARIA THERESIA, Schulordnung für die deutschen Normal- Haupt- und Trivialschulen. Patent vom 6ten Dezember 1774, in: Theresianisches Gesetzbuch. Sammlung aller k.k. Verordnungen und Gesetze vom Jahre 1740 bis 1780., die unter der Regierung des Kaisers Josephs des II, theils noch ganz bestehen, theils zum Theile abgeändert sind, als ein Hilfs- und Ergänzungsbuch zu dem Handbuche aller unter der Regierung des Kaisers Joseph des II. für die k.k. Erbländer ergangenen Verordnungen und Gesetze in einer chronologischen Ordnung, Wien 1774, 116–137, 129.
2 ENGELBRECHT Helmut, Geschichte des österreichischen Bildungswesens. Erziehung und Unterricht auf dem Boden Österreichs. Von 1848 bis zum Ende der Monarchie, Wien 1986, 236.
3 OSTERHAMMEL Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 1117. 4
SCHMIDT, Vlado, Zgodovina šolstva in pedagogike na Slovenskem II. 1805–1848, Ljubljana 1988, 137; RUMPLER, Helmut/SEGER, Martin, Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Bd. IX/2: Soziale Strukturen. Die Gesellschaft der Habsburgermonarchie im Kartenbild. Verwaltungs-, Sozial-und Infrastrukturen. Nach dem Zensus von 1910, Wien 2010, 228.
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seine Selbstverständlichkeit verloren und „[d]ie allgemeine Lese- und Schreibfähigkeit wurde generell als politisch erstrebenswertes Ziel und gesellschaftlich zu erwartender Normalzustand angesehen“5. Dadurch wurde eine Durchdringung der Gesellschaft mit bestimmten, als grundlegend erachteten Wissensinhalten und Bildungsaspekten, möglich. Außerdem hatte noch bis 1848 der Wunsch Maria Theresias und ihrer Nachfolger „aus den Schulen wohlgesittete, und brauchbare Unterthanen zu erhalten“6 das Schulwesen dominiert, d. h. als Hauptfunktion des noch ständisch geprägten Schulwesens hatte bis 1848 durchwegs die moralisch-religiöse, sittliche Erziehung und erst in zweiter Linie Bildung und Wissensvermittlung gegolten. In Franz Exners Entwurf der Grundzüge des öffentlichen Unterrichtswesens in Oesterreich, gewissermaßen dem Grundsatzpapier, auf welchem die Bildungsreformen nach 1848 fußten, hieß es hingegen programmatisch, dass die neuen Volksschulen „diejenige Summe von Kenntnissen und Fertigkeiten zu lehren [haben], welche künftig keinem Staatsbürger mangeln soll.“ Der radikale Wandel im Denken wird hier durch die Wortwahl offensichtlich: Nicht mehr zu gehorsamen Untertanen, sondern zu „mündigen Bewohner[n] des österreichischen Staates“ soll die Volksschule erziehen, damit jeder einzelne „durch redlichen Erwerb sein Bestehen“ sichern, seine Rechte und Pflichten gegenüber dem Staate „zum Wohle des Ganzen und seiner selbst“ wahrnehmen kann und „ein menschenwürdiges Leben zu führen im Stande sei“.7 Aus diesen Gründen kann auch in ideeller Hinsicht erst für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem modernen staatlichen Schulwesen gesprochen werden. Das Lesebuch als Anthologie und Wissenskompendium In einer Zeit, in der der breiten Bevölkerung verhältnismäßig wenig über den unmittelbaren sozialen Kontext hinausreichendes Wissen zur Verfügung stand, spielte das Schulbuch als Informationsquelle für junge Menschen eine entscheidende Rolle. In ihm wurde der geltende Wissens-, Werte- und Themenkanon über Generationen vermittelt, was in weiterer Folge nicht nur den allgemeinen Bildungsstand erhöhen und den Wissenshorizont des/r Einzelnen erweitern, sondern auch die Identifikation mit dem eigenen Staat bzw. der eigenen (z. B. nationalen) Gruppe stärken sollte. Durch die Approbation, jedes Schulbuch musste vom k.k.
5
Osterhammel, Verwandlung 1119.
6
Maria Theresia, Schulordnung 119.
7
Alle Direktzitate aus: [EXNER FRANZ SERAPHIN VON], Entwurf der Grundzüge des öffentlichen Unterrichtswesens in Oesterreich, Wien 1848, 3–6.
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Ministerium für Cultus und Unterricht zugelassen werden, stellte die Staatsadministration sicher, dass im Schulbuch jene Welt entworfen wurde, die sie durch den Unterricht durchsetzen und von den SchülerInnen angeeignet sehen wollte. Gerade im 19. Jahrhundert – einem Jahrhundert, in dem nationale Identifikationskategorien beginnen, andere und ältere (ständische, religiöse, regionale, lokale) zu überlagern – traten Schrift und Schule, materialisiert im Schulbuch, aber auch als Träger von Nationalisierungsprozessen in den Vordergrund. Will man also etwas über den Wissens- und Wertekanon und ideologische Steuerungsprozesse in einer bestimmten Gesellschaft erfahren, empfiehlt sich ein Blick in zeitgenössische Schulbücher. Das Lesebuch – der vorherrschende Schulbuchtyp des 19. Jahrhunderts – beinhaltet gleichsam einer Anthologie viele verschiedene Texte und Textsorten, mit welchen den SchülerInnen das Wissenswerte eines gesamten Schuljahres (oder auch mehrerer) vermittelt wurde: landes- und naturkundliche Sachtexte, erbaulich-moralische Erziehungsliteratur (oft in der Form von Fabeln oder moralischen Kurzgeschichten), Gedichte, Literatur, historische Sachtexte usw. Für diese Lesebücher, wie sie im Folgenden im Zentrum stehen, gilt, was laut Essman und Frank für Anthologien allgemein gilt: „[…] anthologies can do for texts what museums do for artefacts and other objects considered of cultural importance: preserve and exhibit them and, by selecting and arranging the exhibits, project an interpretation of a given field, make relations and values visible, maybe educate taste. In short, anthologies attempt to give structure to (a branch of) culture […].”8 Die Idee eines solchen universellen Schulbuches fußte im eigentlich noch vorrevolutionären, ständischen Wunsch der geistlichen und weltlichen Autoritäten, dem „einfachen Volk“ ein „Hausbuch“ in die Hand zu geben, aus dem dieses alles nötige Wissen – oder zumindest das, was diese Autoritäten als notwendig erachteten – beziehen konnte.9 Erst allmählich wichen diese Schulkompendien in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach Fächern getrennten monographischen Schulbüchern. Damit wurden nach und nach die sachkundlichen Inhalte für den Realienunterricht aus den Lese- und Sprachbüchern entfernt und stattdessen zu eigenen Realienbüchern
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ESSMAN Helga/FRANK Armin, Translation Anthologies: An Invitation to the Curious and a Case Study, in: Target. International Journal of Translation Studies (1991), 65–96, 66.
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SCHMIDT Vlado, Zgodovina šolstva in pedagogike na Slovenskem III. (1848-1870), Ljubljana 1966, 110; ALMASY, Karin, „…za Boga in véro, za cesarja in domovino!“ Kultura prevajanja in ideološko usmerjanje v slovenskih šolskih berilih (1848–1918), in: Zgodovinski asopis 70/3–4 (2016), 490–508, 494.
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oder Sachbüchern der Physik, Chemie, Geographie, Geschichte etc. zusammengefasst und die Lesebücher in ausschließlich belletristische Lesebücher umgewandelt.10
D ER W ISSENSKANON IM SLOWENISCHEN S CHULLESEBUCH UM 1900 Will man Rückschlüsse darüber ziehen, welche Themen und Werte der slowenischen Bevölkerung als wissenswert nahegelegt wurden, hilft ein Blick in die Volksschullesebücher. Gymnasiallesebücher hingegen waren für das Erreichen der breiten Masse unerheblich, denn um 1900 besuchte nur eine verschwindend kleine Minderheit ein Gymnasium oder gar eine Universität: In der zisleithanischen Reichshälfte (bei großen Schwankungen zwischen den einzelnen Kronländern) kamen auf einen Studenten fünf GymnasiastInnen und 193 VolksschülerInnen.11 Deshalb folgt nun eine Untersuchung jener neun Volksschullesebücher, die 1900 im Verordnungsblatt des Ministeriums für Cultus und Unterricht geführt und damit zum Gebrauch in Schulen mit slowenischer Unterrichtssprache zugelassen waren (vgl. dazu die Liste der Primärliteratur).12 Jene neun untersuchten Bücher deckten die achtjährige (bzw. vor allem in Krain und Küstenland de facto in vielen Schulen nur sechsjährige) Pflichtschulzeit der Kinder ab, die in ein-, zwei- oder mehrklassigen Volksschulen absolviert wurde.13 Aus ihren vielen Auflagen und der langen Verwendungszeit kann auf
10 Ausführlich, in: ALMASY Karin, „…za Boga in véro, za cesarja in domovino!”. Translationskultur und ideologische Steuerung in slowenischen Schullesebüchern (1848– 1918), unveröffentlichte Dissertation, Graz 2017. 11 Diese Zahlen beziehen sich auf 1879/80. Geschlechtergerechter Ausdruck erübrigt sich im Falle der Studenten, da Frauen der Hochschulzugang erst 1901 gewährt wurde. Vgl. Engelbrecht, Geschichte 511. 12 MINISTERIUM FÜR CULTUS UND UNTERRICHT, Verzeichnis der zum Lehrgebrauche in den allgemeinen Volksschulen, in den Bürgerschulen und in den mit Volksschulen verbundenene speciellen Lehrcursen sowie in den Fortbildungscursen für Mädchen zugelassenen Lehrbücher und Lehrmittel, in: Ministerium für Cultus und Unterricht (Hg.), Verordnungsblatt für das Ministerium für Cultus und Unterricht, Wien 1900, 315–416, 373. 13 Kronländer durften, wenn es dem Bedarf der agrarischen Bevölkerung entsprach, die schulpflichtige Zeit auf sechs Jahre reduzieren. Das ungarische Schulgesetz von 1868 reduzierte die Schulpflicht in der ungarischen Reichshälfte auf sechs Jahre; auch in
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eine enorme Verbreitung geschlossen werden.14 Üblicherweise gaben die Schulbuchautoren Reihen d. h. mehrere, aufeinander aufbauende Bücher für mehrere Schuljahre heraus (auf eine Fibel, Abecednik oder Za etnica genannt, folgten üblicherweise das Zweite, Dritte und Vierte Lesebuch und manchmal gab es ergänzend auch ein Lehrerhandbuch dazu).15 Wurde eine Schulbuchreihe aus sprachlichen oder inhaltlichen Gründen oder aufgrund veränderter Bedürfnisse nicht mehr als passend empfunden, wurde eine neue konzipiert. Darüber hinaus waren die meisten Volksschullesebücher in Abteilungen binnengegliedert: entweder in thematische Rubriken wie die Jahreszeiten, „Schule“, „Heim“, „Natur“, „Heimat“, „Gott“, „Dorf“, „Haustiere“ oder bereits in Abteilungen, die lose einzelnen Gegenständen zugerechnet werden konnten z. B. „aus der Geschichte“, „aus der Natur- und Erdkunde“ etc.16
Krain und dem Küstenland gab es in den meisten Schulen nur eine solche sechsjährige Schulpflicht, worauf auch Lehrerhandbücher Rücksicht nahmen. Vgl. dazu: JUDSON Pieter, The Habsburg Empire. A new history, Cambridge MA/London 2016, 283; SCHREINER H./HUBAD Fr., Navodilo k II. delu itank za ob e ljudske šole. Izdaja v štirih delih, Wien 1902, 7. 14 Die meisten um 1900 im Gebrauch stehenden Volksschullesebücher entstanden bereits Jahrzehnte zuvor (das älteste der neun, Janeži ’ Cvetnik, 1865, die meisten zu Beginn der 1880er-Jahre) und waren auch alle (bis auf das älteste) bis zum Ende der Monarchie im Gebrauch. Grundsätzlich nahmen die Anzahl der Auflagen und die Vielfalt verschiedener Volksschullesebuchreihen ab den 1880er-Jahren deutlich zu. Für einen Überblick vgl. den Anhang in ALMASY, Translationskultur, und die Verordnungsblätter des Ministeriums, online auf: http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=vcu (31.01. 2017). 15 Abhängig von der Dauer der Schulpflicht und der Anzahl der Klassen einer Schule variierte der Einsatz der Schulbücher in den einzelnen Klassen: Die meisten slowenischen Volksschulen am Land hatten nur eine (oder maximal zwei) Klassen, in denen die Kinder mehrerer Jahrgänge miteinander unterrichtet wurden; mehrklassige Volksschulen gab es meist nur in den Städten. Vgl. eine Anleitung zum Gebrauch der Schulbuchreihen, in: Schreiner/Huband, Navodilo 6. 16 Für eine bessere Lesbarkeit werden im Fließtext meist nur die deutschen Übersetzungen der bezeichneten Inhalte aus den slowenischen Schulbüchern verwendet. Wenn nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von der Autorin selbst. Längere Direktzitate werden in den Fußnoten zusätzlich im Original wiedergegeben.
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Wissenswertes um 1900 Die Lesebücher der einzelnen Schulstufen bauten aufeinander auf und wurden kontinuierlich komplexer. Da die Fibeln und ersten Lesebücher zunächst die Buchstaben einführen und Lesen und Schreiben geübt werden mussten, verwundert es nicht, dass die Inhalte in diesen vier der neun untersuchten Lesebücher sehr bescheiden waren. Die kurzen und sehr simplen Lesestücke, oftmals mit moralischem Unterton und religiöser Komponente, sollten zur Übung im Lesen dienen und thematisierten meist den unmittelbaren Lebenskontext (bäuerlicher) Kinder: Haus, Heim, Dorf, Schule, Kirche, Garten, Felder, Ernte, Wälder, Lebensmittel, Jahreszeiten, den lieben Gott, die menschlichen Sinne, den menschlichen Körper und die Elemente. Textgattungen wie das Gedicht und der Brief wurden eingeführt. Charakteristisch war für diese Stufe außerdem, dass Texte abwechselnd in (lateinischer) Schreib- und in Druckschrift geschrieben wurden.17 Auf der nächsthöheren Schulstufe, d. h. in den Zweiten Lesebüchern, wurde dieses bescheidene Weltwissen bereits deutlich ausgebaut: Die sachkundlichen Texte aus den Bereichen Biologie, Geographie, Geschichte und Physik nahmen zu, auch wenn sie sprachlich und inhaltlich noch immer sehr einfach waren: Es dominierten kurze Wissenstexte zu Nutz- und Wildtieren, Naturerscheinungen (Gewitter, Blitz, Donner, Sonne, Mond, Nebel, Schnee etc.) und Dingen des täglichen Lebens (Kartoffeln, Gold, Salz etc.). Der Anteil an moralisch-belehrenden und religiösen Gedichten, Fabeln und Kurzgeschichten war nach wie vor hoch.18 Im Dritten Lesebuch sind die Abteilungen bereits deutlicher den einzelnen Gegenständen zuordenbar: In „Erzählungen, Gedichte und Sprichwörter“ sind ausschließlich literarische Texte zu finden. Wer sich kanonisch hochliterarische Beiträge erwartet, wird enttäuscht: In großer Mehrheit handelt es sich dabei um kindgerechte, leichte, kleine Gedichte und Erzählungen, vielfach auch keinem Autor zugeordnet, und viele Übersetzungen (deutscher) Kinderliteratur oder Texte aus slowenischen Schulzeitschriften. In den folgenden Abteilungen überwiegen dann 17 Die deutsche Kurrentschreib- und druckschrift wurden für das Slowenische und damit auch in slowenischen Schulbüchern hingegen nicht verwendet. Vgl. etwa: RAZINGER A./ŽUMER A., Prvo berilo in prva slovnica za drugi razred štirirazrednih in petrazrednih ljudskih šol. Peti natisk, Ljubljana 1901; KOPRIVNIK Janez/MAJCEN Gabriel, Za etnica za slovenske ljudske šole, Wien 1897; PRAPROTNIK Andrej, Abecednik za slovenske ljudske šole, Ljubljana 1883. 18 Vgl. N. N. [KON NIK Peter], Drugo berilo in slovnica za ob ne ljudske šole. Na novo urejeno brez premene besedila, Wien 1893; JOSIN Maks/GANGL Engelbert, Drugo berilo in slovnica za ob e ljudske šole. Tretje šolsko leto. Nova neizpremenjena izdaja po ukazu 1898, Ljubljana 1901.
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die Sachtexte naturkundlichen Inhalts, auch wenn hie und da noch ein thematisch passendes Gedicht eingefügt wurde: In der Abteilung „Aus der Erdkunde“ wird erstmals auch Europa und Österreich im Ganzen vorgestellt. Zwei Unterabteilungen behandeln nun die im Reichsrat vertretenen Länder und die Länder der ungarischen Krone in informativen knappen Sachtexten. Es folgen „Skizzen aus der Naturkunde“ d. h. Sachtexte aus Chemie und Physik – erneut aber wieder Themen, die den Kindern aus der eigenen Anschauung bekannt sind (Magnetismus, Elektrik, kochendes Wasser, Schall) – und danach die Abteilung „Naturbeschreibung“ (Biologie), in der primär diverse Tier-, Pflanzen- und Lebensmittelarten vorgestellt werden. Es folgt noch eine kurze Abteilung „Der Mensch und die menschliche Gesellschaft“, die neben der Vorstellung des menschlichen Körpers eine starke Appellfunktion ausübt, rät sie doch zu Leibesübungen, gesunder Lebensführung, gesunder Arbeitsmoral, Fleiß und erklärt die politisch-konstitutionelle Gesellschaftsordnung der Monarchie. Zu guter Letzt folgt die Abteilung „Aus der Geschichte“, wobei fast ausschließlich die Geschichte des Hauses Habsburg und der Monarchie behandelt wird.19 Das darauffolgende Vierte Lesebuch aus derselben Reihe ähnelt in seiner Binnengliederung und inhaltlichen Ausrichtung stark dem Dritten Lesebuch. Ein bemerkenswerter Unterschied ist aber festzustellen, der sich aus der folgenden Ausschulung erklären lässt: Da dies das letzte Schulbuch für jene darstellte, die keine weiterführende Schule mehr besuchten, beinhaltete es einen großen Anteil praktischer, lebensnaher Texte, die die Ausgeschulten gewissermaßen nach Hause und ins weitere Leben mitnehmen sollten. Die Abteilung Naturbeschreibung legt nun „besonderen Schwerpunkt auf die Landwirtschaft“ und erklärt den Nutzen der Wälder, von Ton, Kalk und Dünger, Schädlinge an den Obstbäumen und wie Vieh zu halten ist. Auch die Abteilung „Der Mensch und die menschliche Gesellschaft“ ist nun deutlich länger und klärt über die Rechte und Pflichten der österreichischen StaatsbürgerInnen, Geld, Preise, Schulden, Ernährung, die Hausapotheke, Handarbeit u. ä auf.20 Dies entspricht noch ganz dem Konzept eines „Hausbuches“, wie 19 N. N. [KON NIK Peter], Tretje berilo za ob e ljudske šole. Tiskano brez premene kakor leta 1900, Wien 1901. 20 Vgl. KON NIK Peter, etrto berilo za ob e ljudske in nadaljevalne šole. Tiskano brez premene kakor leta 1900, Wien 1901. Auf das 1865 verfasste Schulbuch JANEŽI Anton, Cvetnik za slovensko mladino. Pervi del., Klagenfurt 1865 wird im Folgenden nicht näher eingegangen, da dieses Buch eigentlich ein Gymnasialbuch war, das gleichzeitig auch für die 5. Klasse fünfklassiger Volksschulen und Bürgerschulen zugelassen war und seiner Konzeption nach einer thematisch ungeordneten Gymnasiallesebuch entsprach. Dort lassen sich keine thematisch getrennten Abteilungen feststellen. Eine genaue Analyse, vgl.: Almasy, Translationskultur.
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es auch in einem Akt zur Genehmigung eines Schulbuches aus dem Jahr 1860 zu lesen ist: „[E]in gutes Schullesebuch, und insbesondere dasjenige für die oberste Volksschulklasse, [soll] auch noch über die Schule hinaus als Haus- und Volksbuch auf das Familienleben belehrend und veredelnd einwirken.“21 Denkt man an die Zielgruppe dieser Lesebücher, die vorwiegend ländliche und nicht über die Volksschule hinaus gebildete slowenische Bevölkerung, scheint der in den Volksschullesebüchern präsentierte Wissenskanon – der im Übrigen von deutsch- und tschechischsprachigen Schulbüchern dieser Stufe nicht stark divergiert – durchaus stringent zu sein: Beginnend mit der Vermittlung der basalen Kulturtechniken Lesen und Schreiben, wurde in weiterer Folge grundlegendes, wenn auch bescheidenes Wissen über die Welt, in der sie lebten, sowie basale Grundlagen der Geschichte und Naturkunde, mit einem starken Praxisbezug gegen Ende der Schulzeit, und eine implizite, aber stets präsente moralisch-sittliche Botschaft vermittelt. Sprachentwicklung – Mehrfachidentitäten – Raumvorstellungen Was könnte aus ideologischer Sicht an einem Blick in slowenische Volksschullesebücher interessant sein? Es handelt sich dabei um Schulbücher, die das kleine slawische Bevölkerungselement der SlowenInnen in der Habsburgermonarchie über alles für sie Wissenswerte instruieren sollten. Um 1900 hatte sich eine slowenische „imagined community“ etabliert. Wenngleich diese auf keine eigene historische Staatlichkeit und keine komplette Sozialstruktur zurückgreifen konnte und deren Schriftsprache sich erst im Aufbau befand, konnte sie bereits auf beträchtliche Erfolge in der Mobilisierung von Teilen der Bevölkerung zurückblicken.22 Nationaldenkende Politiker und Intellektuelle versuchten sie zum einen –
21 K.K. LANDESREGIERUNG IN LAIBACH, Kapitular-Konsistorium [...] äußert sich in Betreff des Ergänzungsheftes zum Lesebuches für die oberste Klasse der Hauptschulen, in: Arhiv Republike Slovenjie (ARS), AS 31 Namestnistvo v Ljubljani 1850–1860, Fasz. 31/14. 22 Vgl. zur Typologie von Nationalbewegungen: HROCH Miroslav, Das Europa der Nationen: die moderne Nationsbildung im Vergleich, Göttingen 2005, 42–44. Speziell zur slowenischen imagined community, vgl.: KOSI Jernej/STERGAR Rok, Kdaj so nastali „lubi Slovenci“? O identitetah v prednacionalni dobi in njihovi domnevni vlogi pri nastanku slovenskega naroda, in: Zgodovinski asopis 70/3–4 (2016), 458–488; KOSI Jernej, Kako je nastal slovenski narod. Za etki slovenskega nacionalnega gibanja v prvi polovici devetnajstega stoletja, Ljubljana 2013; ŠTIH Peter, Miti in stereotipi v podobi starejše slovenske nacionalne zgodovine, in: Zbornik 33. zborovanje Zveze zgodovinskih društev Slovenije (2006), 25–47. Ein synthetischer Überblick dazu in deutscher
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nach unten – im Bewusstsein der breiten Masse der Bevölkerung zu verankern und zum anderen – nach außen – zu vertreten und „im hegemonialen strukturierten gesellschaftspolitischen Umfeld ein gleichberechtigter Mitspieler zu werden“.23 Konstitutives Element der slowenischen nationalen Identität war die Sprache, weshalb sich die Forderungen nationalbewusster slowenischer Politiker in der Habsburger Monarchie primär um sprachpolitische Agenden rankten.24 Spannungspotential barg daher der Umstand, dass konstitutionell verankert nach dem Ausgleich von 1867 Deutsch in der zisleithanischen Reichshälfte einen höheren Status genoss und sich nationalbewusste slawische Politiker für mehr politische Mitsprache und Sprachenrechte einsetzten. Während die Tschechen und Polen auf eine gut entwickelte Schrift- und Literaturtradition, eigene vergangene Formen von Staatlichkeit, eine bessere wirtschaftliche Entwicklung und einen höheren Bildungsstand zurückblicken sowie ein bereits besser entwickeltes nationales Bewusstsein aufbauen konnten, waren die Slowenen (wie etwa auch die Slowaken und Ruthenen) mit einer kulturellen, sprachlichen und wirtschaftlichen Aufholjagd beschäftigt. Slowenisch begann erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als einheitliche, überregionale „Nationalsprache“ standardisiert, kodifiziert und ausgebaut zu werden: So hatte man sich erst in den 1840er-Jahren zwischen vier konkurrierenden Schriftvarianten auf ein einheitliches Alphabet geeinigt, waren damals noch nicht alle Textgenres in eigener Produktion ausgebildet, gab es noch kein ausgebautes Vokabular, insbesondere keine Fachterminologie für die Wissenschaften (und vor allem die Naturwissenschaften) auch noch keine einheitliche Orthographie (die erste normative Rechtschreibung, der pravopis, erschien erst 1899 im k.k. Schulbücherverlag). Deutsch war die Lingua franca unter Gelehrten Sprache, nachzulesen in: ALMASY Karin, Wie aus Marburgern „Slowenen“ und „Deutsche“ wurden. Ein Beispiel zur beginnenden nationalen Differenzierung in Zentraleuropa zwischen 1848 und 1861, Graz 2014, 10–56. 23 PRUN Erich, Hegemoniale und emanzipatorische Übersetzungsstrategien, in: Mary Snell-Hornby/Mira Kadri
(Hg.), Die Multiminoritätengesellschaft, Berlin 2011,
83–97, 86. Zur performativen ‚Beschwörung‘ ethnischer Gruppen als Akteure, obwohl es sich bei den ProtagonistInnen ‚nationaler‘ oder ‚ethnischer‘ Auseinandersetzungen stets um einzelne Organisationen u. ä. handelt, die vorgeben im Namen ihrer ‚Nation‘ zu sprechen vgl. auch: BRUBAKER Roger, „Ethnicity without groups”, in: European Journal of Sociology 43/2 (2006), 163–189. 24 JUDSON Pieter, Guardians of the Nation. Activists on the language frontiers of imperial Austria, Cambridge 2006, 13. Für ein regionales Beispiel zu den Nationalitätenkonflikten, die rund um sprachpolitische Forderungen entbrannten, vgl.: CVIRN Janez, Trdnjavski trikotnik. Politi na orientacija Nemcev na Spodnjem Štajerskem (1861– 1914), Maribor 1997.
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und Intellektuellen sowie Wissenschafts- und Bildungssprache und es bedurfte großer Anstrengungen, sich von diesem dominierenden Vorbild zu lösen, am gesellschaftspolitisch-kulturellem Feld ein Mitspieler auf gleicher Augenhöhe zu werden und eine eigene slowenische Schriftsprache, die alle Funktionsanwendungen selbst abdecken konnte, auszubilden.25 Sprache ist demnach im Wissensdiskurs des 19. Jahrhunderts kein Nebenschauplatz, sondern steht zentral im Fokus: „Sprachen sind […] selbstverständlich auch die wichtigsten Vehikel für viele andere Arten von Wissen weit über die organisierte Wissenschaft hinaus. Man kann […] nicht über die Geschichte des Wissens im 19. Jahrhundert reden, ohne auf Sprache und Sprachen einzugehen.“26 Spricht man von Sprache, dann muss auch der dafür sehr bedeutsame Faktor Translation erwähnt werden, da diese sprachlich-kulturelle Aufholjagd ohne Übersetzungen gar nicht möglich gewesen wäre: Ein massiver Anteil der Texte in den Lesebüchern und viele monographische Schulbücher waren Übersetzungen meist schon vorliegender v. a. deutscher, manchmal auch tschechischer, kroatischer oder serbischer Schulbücher, die für den eigenen Bedarf adaptiert und lokalisiert wurden, wodurch die slowenische Lexik angereichert und noch unvollständig vorhandene Textgenres ausgebaut wurden.27 War die Herausbildung eines allgemeinen Schulwesens in der Monarchie natürlich für alle Nationalitäten und für die Entwicklung zu einer modernen (Wissens-)Gesellschaft von Bedeutung, war dies nochmals zentraler für „junge“ Nationen, die einen beträchtlichen Aufholbedarf hatten. Deshalb war der Beginn eines modernen Schulbuchwesens in der Monarchie nach 1848 nicht nur der Startschuss für die erste moderne slowenische Schulbuchproduktion, sondern auch Ausgangspunkt für die Produktion erster slowenischer – nicht mehr ausschließlich liturgisch-religiöser – Literatur sowie für den Ausbau und die Vereinheitlichung der slowenischen Schriftsprache und damit wichtige Grundbedingung für die Etablierung einer Gruppensolidarität, einer slowenischen nationalen imagined community, wie sie sich parallel im selben Zeitraum, immer
25 Kosi, narod 127–202; PRUN , „Die Funktion der Übersetzung im Prozess der Nationswerdung”, in: Franz Görner (Hg.), Stabilität in Südosteuropa: eine Herausforderung für die Informationsvermittlung, Berlin 2007, 114–124; Almasy, Marburgern 26–35. 26 Osterhammel, Verwandlung 1108. 27 Zur Translationskultur in slowenischen Schullesebüchern und deren ideologische Steuerungsfunktion vgl.: Almasy, Translationskultur; zu den Übersetzungen monographischer naturwissenschaftlicher, mathematischer und geschichtlicher Schulbücher, vgl. ŽIGON Tanja/ALMASY Karin/LOVŠIN Andrej, Vloga in pomen prevajanja u benikov v 19. stoletju: Kulturnozgodovinski in jezikovni vidiki, Ljubljana 2017.
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mit Berufung auf das Unterscheidungsmerkmal und fußend auf dem Fundament der Sprache, herausbildete. Fragt man also gleichzeitig nicht nur nach der Bedeutung von Schulbüchern und dem darin präsentierten Wissenskanon, sondern auch nach den vermittelten Werten und Weltkonzepten, konnten (nationale und süd- oder panslawische) Loyalitäten in Widerspruch zur großen Staatsidee geraten. Nationalismus und Südbzw. Panslawismus konnten in der äußersten Deutungsart der gemeinsamen Staatsidee der multikulturellen Habsburger Monarchie widersprechen; weshalb auch im Schulbuch der nationale (oder gesamtslawische) Bogen nicht überspannt werden durfte.28 Gewissermaßen der Klebstoff, der den nationalen Zentrifugalkräften entgegenwirkte, hieß Austroslawismus und schaffte es für lange Zeit, nationalen Patriotismus und Loyalität gegenüber dem Hause Habsburg miteinander zu vereinen: Stolze SlowenInnen und ergebene UntertanInnen des Kaisers zu sein, sich für mehr politische Mitsprache und Sprachenrechte der SlowenInnen und gleichzeitig für eine nach außen starke Habsburger Monarchie einzusetzen, stellte somit die längste Zeit keinen Widerspruch dar; galten doch insbesondere die SlowenInnen noch bis Ende 1918 als besonders „kaisertreu“.29 Sucht man also nach Repräsentationen solcher Loyalitäten, Zugehörigkeiten und Raumvorstellungen im slowenischen Volksschullesebuch, stößt man rasch auf den Begriff der Heimat (slow. domovina), einem sehr prägenden Vorstellungskonzept und Bezugspunkt: Häufig liest man in den slowenischen Schullesebüchern von dom, doma, domoljubje, doma ija, doma i etc. (Heim, Zuhause, Heimatliebe, heimatliches Gehöft, heimisch etc.) Worum genau handelt es sich
28 Das stellte das Approbationsverfahren sicher. Dennoch geschah dies in einigen Fällen, v. a. während des Ersten Weltkrieges wurden einige slowenische Schulbücher der „panslavistischen Agitation“ bezichtigt. Detailliert nachzulesen, in: Almasy, Translationskultur. 29 Zum Austroslawismus und der slowenischen Kaisertreue vgl.: MORITSCH Andreas, Der Austroslavismus. Ein verfrühtes Konzept zur politischen Neugestaltung Mitteleuropas, Wien 1996; BISTER Feliks, „Majestät, es ist zu spät…“. Anton Korošec und die slovenische Politik im Wiener Reichsrat bis 1918, Wien 1995 für die Nationalitätenkämpfe und das Verhältnis zwischen Deutschen und SlowenInnen vgl. Cvirn, trikotnik; HEPPNER Harald, Slowenen und Deutsche im gemeinsamen Raum. Neue Forschungen zu einem komplexen Thema, München 2002; ROZMAN Franc, Sosed v ogledalu soseda. Der Nachbar im Spiegelbild des Nachbarn, Ljubljana 1995; Bister, Majestät; VODOPIVEC Peter, Kulturelle Wechselseitigkeiten in Mitteleuropa. Deutsche und slowenische Kultur im slowenischen Raum von Anfang des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Ljubljana 1995.
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bei der domovina? Wie wurde diese Heimat denn räumlich und konzeptionell verstanden? Raum soll hierbei keinesfalls nur topographisch verstanden werden, sondern als Konfiguration von Dingen, Bedeutungen und Lebensstilen und als Raumvorstellung demnach „eine Idee von Raum, eine Verdichtung dieser Raumbilder sowie deren symbolische Besetzung mit in wissenschaftlichen Disziplinen geltendem und/oder in den Alltag transformiertem Wissen um den Raum“.30 Während mit „Heimat“ noch im 18. Jahrhundert der Hofbesitz oder das eigene Elternhaus bezeichnet wurden, bekam das in Grundzügen natürlich schon ältere Heimatrecht ab 1859 konkrete rechtliche Bedeutung, als damit die Zuständigkeit einer Gemeinde für eine Person definiert wurde (Anspruch auf ungestörten Aufenthalt, „Armenversorgung“ Wahlrecht). Das Heimatrecht begründete sich in der Regel durch Geburt oder Verehelichung; das dieses bescheinigende Dokument war der Heimatschein.31 Damit weitete sich der Heimatbegriff vom Elternhaus auf die eigene heimatliche Gemeinde aus. Gleichzeitig wird die „Heimat“ im 19. Jahrhundert mit der Auflösung traditioneller Bindungen und Weltkonzepte – dem „Zerfall der Horizonte“ – zu einer unspezifischen, oft besungenen prototypischen Vorstellung einer heilen, meist ländlichen Welt und der Heimatbegriff mutierte „zur Projektionsfläche unbestimmter Sehnsüchte“.32 Selbiges kann auch über die slowenische domovina gesagt werden, wie ein Blick in zweisprachige Wörterbücher des 19. Jahrhunderts bestätigt: Sowohl in Murkos Wörterbuch von 1833 („Haus und Hof; der Besitzthum, die Heimath, das Vaterland“33) als auch noch in Pleteršniks Wörterbuch von 1893–95 („1.) das heimische Haus sammt den Grundstücken, Haus und Hof [...] 2.) die Heimat; – das Vaterland“34) wird domovina in dieser multiplen Deutung erklärt.
30 LÖW Martina, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001, 16. 31 Vgl. FRANZ JOSEPH I, Gesetz vom 3. December 1863 betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse, in: Reichsgesetzblatt für das Kaiserthum Oesterreich, 368–376 und HEINDL-LANGER Waltraud/SAUER Edith, Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867. Grenzenloses Österreich, Wien 2000, 168. 32 EBERHART Helmut, „… auf heimatlicher Grundlage …“. Viktor Geramb und der Heimatschutz 1918-1938, in: Antje Senarclens de Grancy (Hg.), Identität, Politik, Architektur, Der „Verein für Heimatschutz in Steiermark“, Berlin 2013, 71–88, 74. 33 MURKO Anton, Slovénsko-Némshki in Némshko-Slovénski rózhni besédnik kakor se slovénshina govorí na Shtájerskim, Koroshkim, Krájnskim in v' sahodnih stranih na Vógerskim. Graz 1833, 48. 34 PLETERŠNIK Maks, Slovensko-nemški slovar. Ljubljana 1893–1895, online unter: www.fran.si (31.01.2017).
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Um der Frage nachzugehen, welches Konzept von Heimat nun im slowenischen Volksschullesebuch propagiert wurde und welcher Raumbegriff dem zugrunde lag – ein lokaler, regionaler überregionaler, ideeller, dynastisch definierter? – ist besonders die Abteilung Domovina (Heimat), die fast ein jedes Volksschullesebuch besaß und die zeitnah um des Kaisers Geburtstag (18. August) oder Namenstag (4. Oktober) durchgenommen werden musste, im Fokus des Interesses, stellt sich doch die Frage, welche „Heimat“ in dieser besonderen Abteilung vermittelt wurde.35
S LOWENISCHE V ORSTELLUNGSWELTEN UM 1900: V ON ENGEREN UND WEITEREN H EIMATEN IM L ESEBUCH In der Vermittlung von Wissensinhalten, geographisch-räumlichen Dimensionen und Heimatvorstellungen galt im Schulunterricht die Empfehlung 1.) dem Erfahrungshorizont der Kindern angepasst und 2.) in konzentrischen Kreisen d. h. nach der Devise: „Vom Nahen zum Entfernten“ vorzugehen – was eine bis heute übliche und sehr einleuchtende didaktische Praxis zu sein scheint. Zum ersten Punkt erläutert ein Lehrerhandbuch, dass das Lesebuch als Textangebot zu verstehen sei, aus dem die LehrerInnen die für ihre Gegenden passenden Elemente je nach Wichtigkeit und jahreszeitlicher Aktualität – da ja das Schuljahr überall zu einer anderen Zeit begann – auswählen, aneinander reihen und manch eine Sache eventuell auch auslassen sollen. Der Text „Vinograd“ (Weinberg) habe etwa in Gegenden, in denen die Schüler noch niemals einen Weinstock gesehen haben, keine Bedeutung und solle dann eher zugunsten anderer Texte eingespart werden.36 Zum zweiten Punkt, der Vermittlung räumlicher Kontexte nach dem Prinzip vom Nahen zum Entfernten, gibt das Vorwort eines slowenischen Vaterlands- bzw. Heimatkunde-Schulbuches (also bereits eines der ersten monographisch thematisch sortieren Schulbücher) „Domovinoslovje“ Auskunft: Vaterlandskunde (d. h. Geographie und Geschichte, bis 1908 vereint in einem Fach) sei in fünf Stufen zu vermitteln: 1.) der heimatliche Ort bzw. Schulort; 2.) der Bezirk (Schul-, Gerichts- oder politischer Bezirk); 3.) das heimatliche Kronland und die Nachbarländer (im slowenischen Schulbuch hieß dies die slowenisch besiedelten Kronländer Krain,
35 Manchmal war die Abteilung Heimat auch binnengegliedert in „Geschichte“ und „Geographie“ oder nannte sich „Heimat und Geschichte“, was ihren Inhalt noch deutlicher macht. Zur Jahresplanung und der Verwendung der Abteilungen, siehe das Lehrerhandbuch: Schreiner/Hubad, Navodilo 8. 36 Schreiner/Hubad, Navodilo 8.
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Kärnten, Steiermark und Küstenland); 4.) Österreich (d. h. die gesamte Monarchie); und 5.) Europa und andere Teile der Welt.37 1. Werfen wir deshalb einen Blick in die neun um 1900 approbierten slowenischen Volksschullesebücher und tasten uns in konzentrischen Kreisen durch die Pflichtschulzeit. Vier der neun Lesebücher sind ABC-Fibeln und erste Lesebücher, die den unmittelbaren Lebenskontext (bäuerlicher) Kinder thematisieren: Haus, Heim, Dorf, Schule, Kirche, Garten, Felder, Wälder, Jahreszeiten, den lieben Gott, die menschlichen Sinne, den menschlichen Körper und die Elemente. Einzig explizit ideologischer Inhalt ist, was in keinem Schulbuch fehlen durfte: die slowenische Version der Kaiserhymne. Doch schon die in einzelne Silben unterteilten Beispielwörter und -sätze beim Erlernen der einzelnen Buchstaben führen erstmals gewisse Raumvorstellungen ein: S wie in ce-sa-ri-ca (Kaiserin), L wie in mila do-mo-vi-na (die liebe Heimat), O wie Ogersko (Ungarn), A wie in Avstrija je mogo no cesarstvo (Österreich ist ein mächtiges Kaiserreich), C und wie bei Ciril, Celje, Celovec, ehi (Kyrill, Cilli, Klagenfurt, Tschechen), I wie V Idriji na Notranjskem se koplje živo srebro (In Idrija in der Innerkrain wird Quecksilber abgebaut). etc.38 Das Erste Lesebuch von Razinger und Žumer (Erstauflage 1882) ist das erste im chronologischen Verlauf durch die schulpflichtige Zeit, das eine eigene Abteilung „Domovina“ aufweist: Neben der obligatorischen Kaiserhymne, einem Gedicht von Fran Levstik Kadar pridejo vojaki (Wenn die Soldaten kommen) über eine unter Trommelgetöse glorreich in die (nicht näher spezifizierte) Schlacht ziehende Armee und eine anekdotische Geschichte vom mildtätigen Kronprinzen Rudolf, der einer Bäuerin für einen großzügigen Preis eine Ziege abkauft, findet man ein Gedicht über kindliche Heimatliebe und einen kurzen Text mit dem Titel Domovina (Heimat).39 Welches Konzept von „Heimat“ wurde also auf dieser Schulstufe präsentiert? Eine nicht näher spezifizierte Heimat, der man emotional verbunden ist, fransig an der Peripherie, aber mit klar umrissenem Kern: der Ort, wo man geboren wurde. Dieses konzentrisches Konzept einer Raumvorstellung wird in einfachen Worten angeboten: „Das Land, in dem unser Geburtsort liegt, ist unser Mutterland oder 37 J. L. [LAPAJNE, Ivan], Domovinoslovje. Za slovenske ljudske šole, Klagenfurt 1878, 3. 38 Alle Beispiele aus: RAZINGER, A/ŽUMER, A., Abecednik za slovenske ljudske šole, Ljubljana 1880. 39 Razinger/Žumer, Prvo berilo 73–77.
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unsere Heimat. Unsere weitere Heimat ist das mächtige Österreich; hier leben viele verschiedene Völker.“40 Ungewöhnlich erscheint hierbei die im Slowenischen unübliche Wortwahl des „Mutterlandes“ (materina dežela), was hier benutzt wurde, um damit das jeweilige Kronland – in Abgrenzung zum „Vaterland“ – zu bezeichnen, obgleich im slowenischen Sprachgebrauch gar keine eigene Bezeichnung für Vaterland existiert und gemeinhin nur domovina benutzt wird. Das „Vaterland“ im Deutschen bezeichnete gemeinhin die gesamte Monarchie; empfahlen Gesetzestexte zum Schulwesen die Vermittlung von Vaterlandskunde, meinten sie damit also das gesamte Reichsgebiet.41 Da der Begriff der domovina also so breit ist, dass er die deutschen Begriffe Vaterland, Mutterland und Heimat abdeckt, wurde wohl eine Binnendifferenzierung als notwendig erachtet, weshalb man auf die nützliche Hilfskonstruktion einer „engeren“ und einer „weiteren“ Heimat (ožja in širša domovina) zurückgriff.42 Auch im Vorwort eines Gymnasiallesebuches taucht diese Konstruktion erneut auf: Die geographischen und mineralogischen Beiträge sollen „die Schüler auf Schönheit und Reichtum der heimischen Erde und insbesondere Österreichs aufmerksam machen und dadurch das Gefühl der Liebe zu unserer engeren und weiteren Heimat hegen und schüren“.43 Aussagekräftig scheint in diesem Zusammenhang auch, dass das Syntagma der engeren und der weiteren Heimat bis heute im slowenischen „Duden“, dem SSKJ, zu finden ist.44 Detailliertes Wissen darüber,
40 Originalwortlaut: „Dežela, v kateri je naš rojstni kraj, je naša materina dežela ali domovina. Naša širja domovina je mogo na Avstrija, tu živi mnogo razli nih narodov.“ Razinger/Žumer, Prvo berilo 73. [Kursivsetzung K. A.] 41 So etwa im Reichsvolkschulgesetz, vgl.: [EXNER, FRANZ SERAPHIN VON], Entwurf, 6; FRANZ JOSEPH I, Gesetz vom 14. Mai 1869, durch welches die Grundsätze des Unterrichtswesens bezüglich der Volksschulen festgestellt werden [Reichsvolksschulgesetz], in: Reichsgesetzblatt für das Kaiserthum Oesterreich (1869), 277–288, 277.
42 Vgl. Zum engeren und weiteren Heimatbegriff auch die Arbeiten von Irena Samide: SAMIDE Irena, Für Gott, Kaiser und Vaterland: (Literatur-)Unterricht im Ersten Weltkrieg, in: Hess-Lüttich (Hg.), Wendepunkte in der Kultur und Geschichte Mitteleuropas, Frankfurt am Main/Bern 2015, 66–80. 43 Originalwortlaut: „Zemljepisni in rudninoslovni sestavki naj opozorijo u ence na krasoto in bogastvo doma e zemlje in Avstrije posebej, in tako naj gojijo in netijo ut ljubezni do ožje in širje naše domovine.“, in: SKET Jakob, Slovenska itanka za tretji razred srednjih šol. III. del, Klagenfurt 1892, II. 44 SLOVAR SLOVENSKEGA KNJIŽNEGA JEZIKA, „Domovina“. Online-Ausgabe, 1970–1991, online unter: www.fran.si (31.01.2017).
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was diese „engere und weitere Heimat(en)“ denn sind und umfassen, wird den ABC-SchützInnen in der ersten Schulstufe aber noch nicht angeboten. 2. Auf der nächsthöheren Stufe der Wissensvermittlung, im zweiten Lesebuch, wird dieser Horizont bereits deutlich ausgeweitet: Die betreffenden Abteilungen heißen hier „Heim und Welt“ oder „Heimat und Geschichte“. Zwar beginnt man auch auf dieser Schulstufe mit Begriffen aus der unmittelbaren Erfahrungswelt der Kinder (dem Herdfeuer und dem heimischen Gehöft), dennoch wird gleichzeitig auch die bestehende Gesellschaftsordnung miterklärt (Lesetexte zu den verschiedenen Ständen, den Gemeinden, Bezirken und Kronländern). Es folgen nun erstmals kurze Sachtexte über einzelne Städte und Naturschönheiten, entweder im historischen (z. B. Celje als römische Stadt Celeia) oder naturkundlichen Kontext (z. B. über den Obir, den Triglav, den Zirknitzer See, die Save) Eine weitere Textgattung, die offenbar auf dieser Schulstufe als nützlich empfunden wurde, sind Sagen und Volksmärchen (z. B. die Sage vom Wörthersee-Manderl, den Wassermann povodni mož, den Goldhorn Zlatorog). Eine einheitliche Front stellen diese Heimat- und Geschichtsabteilungen aber niemals dar: regional- und landesspezifische Texte wechseln unvermittelt mit historischen kurzen Sachtexten z. B. zum Alten Griechenland, Alexander dem Großen, den alten Slawen u. ä. ab.45 Eine elegante Verbindung von historischen und patriotischen Inhalten in kindergerechter Sprache stellte außerdem eine weitere sehr beliebte Textgattung dar, die auf diesen unteren Schulstufen häufig zum Einsatz kam und durch welche Identifikation mit dem Hause Habsburg herbeigeführt werden sollte: Anekdoten aus dem Leben wichtiger Habsburger. Besonders populär waren hierfür der Dynastiegründer Rudolf von Habsburg, Joseph II. und Franz Joseph I. Dabei handelte es sich nicht um trockene Aufzählungen von Schlachten, Gebietsgewinnen oder Verwandtschaftsverhältnissen u. ä., sondern um kindergerechte, Sympathie erzeugende kleine Geschichten, die üblicherweise vom Zusammentreffen des (incognito reisenden) Monarchen mit einem einfachen Bauern, Bettler, Soldaten, einer Bäckersfrau o. ä. handelten und in denen der jeweilige Monarch stets als volksnaher, bescheidener und großzügiger Menschenfreund porträtiert wird. Dies ist aber – so wie fast alle anderen Textgattungen im slowenischen Schulbuch – keine genuin slowenische Textgattung, sondern eine Textsorte die durch Übersetzung aus vorwiegend deutschen Vorlagen ins slowenische Schulbuch gebracht wurde.46 45 Alle Beispiele aus: N. N. [KON NIK], Drugo berilo; Josin/Gangl, Drugo berilo. 46 Vgl. beispielsweise für diese Textsorte auf Deutsch: N. N. [REICHSHISTORIOGRAPH JOSEPH II.], Charakterzüge, Memorabilien und historische Anekdoten von
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3. Im dritten Lesebuch wird die Raumvorstellung über die gemeinsame Heimat erstmals über den lokal-regionalen slowenischen Rahmen hinaus geweitet: Alle restlichen Kronländer und einzelne, darin lebende Bevölkerungsgruppen werden vorgestellt. Es überwiegen nun nicht mehr die emotional-appellierenden, kindgerechten, anekdotenhaften Texte, sondern eher sachlich-informative, Lexikoneinträgen gleichende Sachtexte (in der Regel Übersetzungen), die auch Bevölkerungszahlen, Berghöhen und den prozentuellen Anteil der verschiedenen Bevölkerungsgruppen nennen. Die Länge und Anreihung der einzelnen Texte verrät die Prioritätensetzung: Während über die Bukowina lediglich ein Absatz Information gegen Ende der Abteilung gegeben wird, sind die Sachtexte zu den slowenisch besiedelten Kronländern deutlich länger, ausführlicher und detaillierter; auch die zisleithanische Reichshälfte erhielt deutlich mehr Seitenplatz als die transleithanische. An den Beschreibungen der transleithanischen Reichshälfte fällt außerdem auf, dass die SlowenInnen des Übermurgebietes (Prekmurje) mit keinem Wort erwähnt wurden – die slowenisch-nationale Gruppenidentität umfasste vor 1918 die SlowenInnen der transleithanischen Reichshälfte in der Regel nicht; der eigene Raum lag imaginär ausschließlich auf der zisleithanischen Seite. Auch die Abteilung Geschichte behielt weitestgehend den regionalen Bezug bei: Von einigen Ausnahmen abgesehen (Texte zu Sparta, der Entdeckung Amerikas und dem antiken Rom) haben alle Texte der Abteilung Geschichte einen regionalen bzw. einen Österreichbezug: von Karl dem Großen und den Awaren, dem Familienleben der Alten Slawen, den Ungarn und den Kreuzzügen, über die Babenberger, Rudolf I., die Türkeneinfälle und dem Dreißigjährigen Krieg bis zu Franz Joseph I.47 Passend dazu findet man einige patriotische Gedichte, die erneut die Heimat, genauer gesagt, die Heimat Österreich, anpreisen.48 Besonders interessant ist Avstrija za vse von Valentin Vodnik (ursprüngliche Version Estrajh za vse, 1809), eine freie Nachdichtung von Heinrich Joseph von Collins Österreich über alles. Der kleine Shift im Titel von „über alles“ auf „für alle“ (za vse) ist unscheinbar, doch folgenschwer (und ob Vodnik dies bewusst-absichtlich geändert hat, sei dahingestellt): Statt wie in der deutschen patriotischen Vorlage Österreich über alles
Kaiser Joseph II. und seiner Zeit, Leipzig/Meissen 1847; SCHÖNHUTH Ottmar, Charakterzüge aus dem Leben des guten und frommen Königs Rudolf von Habsburg, Wien 1864. 47 Alle Beispiele aus: N. N. [KON NIK], Tretje berilo. 48 Z. B. Avstrija moja von Janko Kersnik (Mein Österreich) und eine Schiller-Übersetzung namens Domovina vgl. ders., Tretje berilo 96.
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zu stellen (Deutung: dem Gesamtinteresse der Monarchie müssen Partikularinteressen untergeordnet werden), ist die Monarchie in Vodniks Nachdichtung ein Österreich für alle, wodurch die Deutung ermöglicht wird, Österreich sei sichere und fruchtbare Heimat für alle seine unterschiedlichen Länder und Völker.49 Eine ebenso vielsagende Änderung wurde nachträglich in folgendem VodnikGedicht vorgenommen: Während die erste Zeile des Gedichts Na moje rojake (An meine Landsmänner, 1806) in der ursprünglichen Version den Adressaten noch mit „Kranjc!“ ansprach und in frühen Schullesebüchern der 1850er und 1860erJahre auch so wiedergegeben wurde50, wurde dieser Wortlaut in späteren Schulbüchern zu „Slovenec!“ geändert. Hatte Vodnik nur die Krainer als seine Landsmänner verstanden (die Kärntner, Steirer etc. hingegen nicht), wurde diese Gedichtzeile knappe hundert Jahre nach Verfassen den geänderten Vorstellungswelten und Wir-Konzepten angepasst.51 4. Das vierte Lesebuch umfasste bereits die erste Illustration – ein Kaiserbild vor der Titelseite. Heimat und Loyalitätsbekundungen bekommen nun ein „Gesicht“ – jenes der Vaterfigur Franz Joseph. Um die Wirkmächtigkeit des Kaiserporträts zu erahnen, muss man sich vergegenwärtigen, wie wenig visueller Stimulus ansonsten durch das typische Lesebuch geboten wurde; das Kaiserporträt war meist das einzige Bild.52 In punkto Raumvorstellungen wird der Horizont in zweierlei Richtungen geweitet: Zum einen von der Landes- auf die Stadtebene und zum anderen über Europa in die große Welt hinein. Die Abteilung Geographie beginnt mit informativen Stadtbeschreibungen von im slowenischen Kontext relevanten Städten: Klagenfurt, Graz, Ljubljana, Triest und Wien. Nachdem in Folge die europäischen
49 Vgl. dazu: KOS Janko, Valentin Vodnik kot nacionalnopoliti ni pesnik slovenskega razsvetljenstva, in: Slavisti na revija 36/1 (1988), 13–32, 17; und im Schulbuch: N. N. [KON NIK], Tretje berilo 58. 50 VODNIK V., Na moje rojake, in: Kleemann (Hg.), Slovensko berilo za pervi gimnazijalni razred, Ljubljana 1850, 17; und ders., Na moje rojake, in: Janeži (Hg.), Cvetnik za slovensko mladino, Klagenfurt 1865, 4. 51 N. N. [KON NIK], Tretje berilo 64. 52 In den slowenischen Schulbüchern bis 1918 waren Bebilderungen äußerst selten; die deutschen und tschechischen Lesebücher waren in ihrer Gestaltung, Papierqualität und Umschlaggestaltung oft deutlich hochwertiger und beinhalteten mehr Bilder; slowenische Schulbücher waren in der Regel unauffällige braune Heftchen voller Drucktext.
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Länder faktografisch abgehandelt wurden, folgen weitere Sachtexte, kurz und trocken wie Lexikoneinträge, zum Polarmeer, dem Vesuv, Asien, Arabien, China, Afrika, die Sahara, Amerika und Australien. Auch in diesen Fällen dürfte es sich stets um Übersetzungen aus dem Deutschen handeln. Die Welt wird also größer – diese weit entfernten Gebiete scheinen aber auch emotional weit entfernt zu sein. Auch die Abteilung Geschichte wurde thematisch breiter: Zwar gibt es weiterhin Texte zu habsburgischen Dynasten oder großen Feldherren und Schlachten (z. B. Tegetthoff, Nikola Zrinski in Szigetvár, Laudon), deutlich mehr aber zu (zeitlich und geographisch) weiter entfernten Themen wie Alexander dem Großen, Karthago, Julius Caesar, Mohammed und auch Texte zu wichtigen Persönlichkeiten des slowenischen Kulturlebens (z. B. zu Bischof Slomšek und dem Schulbuchherausgeber und Sprachgelehrten Anton Janeži ).53
C ONCLUSIO Die Analyse der neun im Jahre 1900 approbierten slowenischen Schullesebücher hat gezeigt, dass dem aufbauenden Prinzip der Wissens- und Raumvermittlung in konzentrischen Kreisen – vom Nahen und Bekannten zum Entfernten – konsequent Rechnung getragen wurde. Beginnend mit Wissensinhalten, die dem Erfahrungshorizont der SchulanfängerInnen entspricht, werden die Wissensinhalte stetig komplexer und abstrakter, um gegen Ende der Volksschulzeit und vor der Ausschulung aber auch wieder Richtung praktischer (z. B. landwirtschaftlicher) Kenntnisse umgeleitet zu werden. Dieser nahtlose Übergang und stufenweise Aufbau dürfte auch dem Umstand zu verdanken gewesen sein, dass es sich in der Regel um Schulbuchreihen derselben Autoren handelte, d. h. die entsprechenden Bücher gemeinsam konzipiert worden waren. Die Heimat – charakteristischerweise im ausgehenden 19. Jahrhundert ein schwer fassbarer, oszillierender und ungenauer Begriff und Sehnsuchtsort – wird selten genau definiert. Charakteristisch jedoch scheint es, dass diese nicht näher definierte Heimat die eigenen Raumvorstellungen einzäunte: Die Welt wurde in diese „Heimat“ und die dahinterliegenden, fernen Gegenden getrennt. Bei näherer Betrachtung findet man in slowenischen Schulbüchern häufig das aussagekräftige Syntagma der engeren und der weiteren Heimat – die das Schulkind beide zu lieben lernen sollte, was patriotische Gedichte, Habsburger-Anekdoten und Lobpreisungen von Naturschönheiten im Schulbuch sicherstellen sollten. Während die weitere Heimat eindeutig die gesamte Monarchie war, also das, was im Deutschen
53 Alle Beispiele, aus: Kon nik, etrto berilo.
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meist mit Vaterland umschrieben wurde, kann die engere Heimat nicht so eindeutig dingfest gemacht werden. Zweifelsohne umfasste sie den eigenen Geburts- d. h. Heimatort, darüber hinaus aber meist auch die eigene Region d. h. das eigene Kronland. Einen gesamtslowenischen Kontext (also ohne die SlowenInnen jenseits der zisleithanischen Grenzen) stellten die slowenischen Schullesebücher hingegen nur implizit durch die Thematisierung von Städten, Naturschönheiten und sonstigen Besonderheiten in den slowenisch besiedelten Kronländern dar – eine gesamtslowenische „Heimat“ wurde nicht explizit vermittelt. Selbiges gilt für die Darstellung gesamtslawischer Zusammenhänge: Auch diese kommen in der Volksschule nur vereinzelt und versteckt zum Ausdruck (am ehesten durch Texte zu den Lebensbedingungen der Alten Slawen, wodurch eine gemeinsame unspezifische Abstammung imaginiert wurde) und prägten sicherlich nicht einschneidend das sich verfestigende Weltbild der Volksschulkinder. Damit kamen die slowenischen Volksschullesebücher jenem Auftrag nach, den sie aus Sicht der Staatsmacht primär erfüllen sollten: Sie verstärkten in erster Linie das austroslawistische Identitätskonzept. Regionale, lokale, gesamtmonarchische oder unspezifisch-patriotische Bekundungen oder Texte, die diese passenden Wissensinhalte vermittelten, waren ein probates Mittel, der slowenischen Schuljugend ihren Platz im großen Vaterland und damit in der Welt zuzuweisen.
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Experten im Profil Museumsbedienstete als Wissensressource und Distinktionsmerkmal1 T HERESA R OSINGER -Z IFKO (G RAZ )
Das Jahr 1918 bedeutete eine doppelte Zäsur: erstens der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und zweitens die Errichtung des Nachfolgestaates DeutschÖsterreich und neuer (Nachfolge-)Staaten aus der Konkursmasse der Habsburgermonarchie. Der 52 Millionen Menschen fassende Vielvölkerstaat der ehemaligen Monarchie teilte sich in zahlreiche mittelgroße Länder. Österreich war auf einen Rumpfstaat mit etwa 6,5 Millionen EinwohnerInnen geschrumpft, den der französische Ministerpräsident Clemenceau als „Restösterreich“ bezeichnete. Die Dynastie Habsburg-Lothringen wurde im April 1919 aus Österreich verwiesen, womit die über 600 Jahre dauernde Herrschaft des Hauses Habsburg zu Ende ging.2 Auf Grundlage der neu geschaffenen Verfassung etablierte sich Österreich als demokratische Republik. Damit verbunden war die Einführung des aktiven und passiven Wahlrechts für Frauen, die somit erstmals politisches Mitbestimmungsrecht erlangten. Hatten die Großparteien – die Sozialdemokratische Arbeiterpartei
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Dieser Artikel ist eine überarbeitete Fassung eines Teilbereichs der im Jänner 2016 an der Karl-Franzens-Universität Graz eingereichten Dissertation „Wem gehört das Objekt? Eine Analyse der Verhandlungen um die Zugehörigkeit archäologischer Artefakte und deren identitätsstiftende Funktion nach 1918 am Beispiel des Landesmuseums Joanneum in Graz und des Naturhistorischen Museums in Wien“ von ROSINGERZIFKO.
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KONRAD Helmut/MADERTHANER Wolfgang, ... der Rest ist Österreich. Das Werden der Ersten Republik, Bd. 1, Wien 2008; VOCELKA Karl, Geschichte Österreichs. Kultur – Gesellschaft – Politik, München 2002.
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und die Christlichsoziale Partei – im neuen Kleinstaat Österreich zunächst für den Anschluss an Deutschland gestimmt, verhinderte der Friedensvertrag von SaintGermain im Jahr 1919 einen möglichen Zusammenschluss. Durch das Anschlussverbot ebenfalls untersagt war die Bezeichnung Deutsch-Österreich für den neuen Staat. Parallel dazu mussten sämtliche Grenzziehungen der jungen Republik Österreich mit den Nachbarländern neu geregelt werden: Es galt beispielsweise, Verhandlungen mit der Tschechoslowakischen Regierung u. a. über das Sudetenland zu führen, einen Teil der neuen Südgrenze mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zu klären, in Kärnten eine Volksabstimmung durchzuführen, im Südwesten auf die „Südtirolfrage“ und im Westen auf den Anschlusswunsch Vorarlbergs an die Schweiz zu reagieren.3 Auf wirtschaftlicher Ebene litt Österreich besonders unter den veränderten Verhältnissen, die mit der Umstellung von Kriegs- auf Friedenswirtschaft einhergingen. Dazu kamen Nahrungsmittelmangel, Materialverknappung und Energieprobleme. Die sich abzeichnende Verarmung des Bürgertums sowie die geringe Lohnentwicklung ließen kaum positive Zukunftsprognosen zu, weshalb der Staat von manchen PolitikerInnen und NationalökonomInnen als praktisch lebensunfähig bezeichnet wurde.4 Die hier skizzierte politische und ökonomische Transformationsphase bildet den Hintergrund für die im vorliegenden Aufsatz besprochene Frage nach der Professionalisierung von Museumsbediensteten5. Museen werden hier nicht nur als Wissensspeicher verstanden, sondern auch als Orte der Wissensproduktion, wo Sammlungen erstellt, neugeordnet oder gegebenenfalls einzelne Sammlungsstücke skartiert werden, oder wie Gottfried Korff meint, Museumsdinge deponiert
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BUTSCHEK Felix, Österreichische Wirtschaftsgeschichte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Wien 2011, 192–201; Vocelka, Geschichte 304−308; vgl. auch DOSEDLA Heinrich, Von Habsburg bis Hitler. Österreich vor dem Anschluss, Wien 2008, 112−157.
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Butschek, Wirtschaftsgeschichte 183−185; KARNER Stefan, Problemfelder des wirtschaftlichen Aufbaus in Österreich 1918/19, in: Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky/ Manfred Zollinger (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik, Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck 2008, 205–217; KARNER Stefan, Die Steiermark im 20. Jahrhundert. Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Graz 2005, 49−134, 200−281; SUPPAN Arnold, Österreich und seine Nachbarn 1918−1938, in: Stefan Karner/Lorenz Mikoletzky/Manfred Zollinger (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik, Beitragsband der Ausstellung im Parlament, Innsbruck 2008, 499–512.
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Es handelt sich hier ausschließlich um männliche Museumsbedienstete.
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und exponiert werden.6 Die Bediensteten der jeweiligen Museen bestimmten die Verhandlungen um die kulturelle Hinterlassenschaft der Habsburgermonarchie mit, insofern ihre Einschätzungen die Objektauswahl mitentschieden. Gerade deshalb stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten bzw. Fertigkeiten sie besitzen mussten, wollten sie in den Museen beschäftigt bleiben oder neu eingestellt werden. Inwieweit positionierten sie sich als ExpertInnen und wie zeigte sich ihre proklamierte Professionalität in der Praxis? Um die gestellten Fragen zu beantworten erscheint es zielführend, an die Arbeiten von Mitchell Ash anzuschließen, der den Wissenschaftswandel an historischen Bruchstellen wie 1918, 1933/1938, 1945 und 1989 untersucht. Konkret geht es Ash dabei um die Analyse der „Um- und Neugestaltung von Ressourcenkonstellationen oder Ressourcenensembles“.7 Da hier nach der Expertise der Museumsbediensteten gefragt wird, sind besonders die personellen Ressourcenkonstellationen von Interesse. In weiterer Folge wird nun der Begriff Ressource im Verständnis von Ash verwendet, der darauf verweist, dass Ressourcen „kognitiv-konzeptioneller, apparativ-institutioneller, finanzieller oder auch rhetorischer“ Art sein können8. Dieses weitgefasste Verständnis von Ressourcen verweist zugleich auf ein breites Wissenschaftsverständnis, das den Blick auf die politische und ökonomische Einbettung des Museumsbetriebs, die kulturellen und sozialen Hintergründe der Bediensteten und die Praktiken innerhalb der Institutionen lenkt. Um die Handlungsoptionen der jeweiligen Museen sichtbar zu machen, gilt es demnach nicht nur die Artefakte zu untersuchen, sondern auch die Verfügbarkeit anderer Ressourcen, wie etwa das Mobiliar (z. B. Schaukästen) und die technische Ausstattung.9 Ressourcenkonstellationen wären auch hinsichtlich möglicher Neugründungen von Instituten zu prüfen, man denke beispielsweise an den jeweiligen Finanzrahmen. Der vorliegende Artikel widmet sich jedoch primär den personellen Ressourcen. Museumsbedienstete kumulieren Wissen über Objekte, bauen Bestände auf
6
KORFF Gottfried (Hg.), Museumsdinge – deponieren und exponieren, Köln/Wei-
7
Korff, Museumsdinge 25.
8
ASH Mitchell, Wissenschaftswandlungen und politische Umbrüche im 20. Jahrhundert
mar/Wien 2007.
– was hatte sie miteinander zu tun? Einleitung, in: Rüdiger vom Bruch/Uta Gerhardt/ Aleksandra Pawliczek (Hg.), Kontinuitäten und Diskontinuitäten in der Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2006, 25. 9
Vgl. Ash, Wissenschaftswandlungen 22.
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und gestalten somit die Geschichte der jeweiligen Häuser mit.10 Zur Diskussion stehen demnach auch die beruflichen Profile der im Museum beschäftigten Personen. Diese Profile geben Aufschluss über die geforderte Expertise und die gewünschten Fähigkeiten und Fertigkeiten der Museumsbediensteten. Um die Profile zu fassen, werden Texte der deutschsprachigen Fachliteratur zum Museumswesen besprochen. Darüber hinaus wird anhand von zwei österreichischen Museen auf die Bedeutung der Professionalisierung von Museumsbediensteten im Umbruchsjahr 1918 und den darauffolgenden Jahren der Neuorganisation hingewiesen. Als Fallbeispiele dienen hierfür das Landesmuseum Joanneum11 (kurz LMJ) in Graz und das Naturhistorische Museum12 (kurz NHM) in Wien. Die untersuchten Quellentexte13 zeichnen ein grobes Bild eines Profils von Museumsbediensteten, die um 1920 im deutschsprachigen Raum beschäftigt waren. Die Texte nehmen inhaltlich Bezug auf Deutsch-Österreich bzw. Österreich, Deutschland und die Niederlande.
10 Eine ausführliche Besprechung ist in der Dissertation von ROSINGER-ZIFKO zu finden. 11 Das Landesmuseum Joanneum (LMJ) ist seit 2003 eine gemeinnützige GmbH und trägt seit 2010 den Namen Universalmuseum Joanneum (UMJ). MUCHITSCH Wolfgang, Vom innerösterreichischen „National-Musäum“ zur GmbH, in: Peter Pakesch/Wolfgang Muchitsch (Hg.), 200 Jahre Universalmuseum Joanneum, 1811−2011, Graz 2011, 26–27. 12 Zur Geschichte des NHM: HANDLIRSCH Anton, Das Naturhistorische Museum, in: Heinrich Zimmermann/Anton Handlirsch/Ottokar Smita (Hg.), Die beiden Hofmuseen und die Hofbibliothek. Der Werdegang der Sammlungen, ihre Eigenart und Bedeutung, mit einem Vorwort von Arpad Weixelgärtner, Wien/Leipzig 1920, 31–47. Die Sammlungen beschreibt Jovanovi -Kruspel im Museumsführer: Die frühesten Sammlungen des Museums sind 250 Jahre alt. Aktuell besitzt das Museum 30 Millionen Objekte, darunter die 25.000 Jahre alte Venus von Willendorf. JOVANOVI -KRUSPEL Stefanie, Das Naturhistorische Museum Wien. Ein Führer durch die Schausammlungen, Wien 2010, 86−87; vgl. PESTA Otto, Fünfzig Jahre Naturhistorisches Museum Wien. Ein Beitrag zur Geschichte des Instituts, in: Annalen des Naturhistorischen Museums, Bd. 50, Wien 1939, VII−XII; GORKE Peter, Anton Rintelen (1876−1946). Eine polarisierende steirische Persönlichkeit, Versuch einer politischen Biographie, phil. Diss., Karl-Franzens-Universität Graz 2002, 45. 13 Relevante archivalische Quellen wurden dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, dem Österreichischen Staatsarchiv in Wien und dem Steiermärkischen Landesarchiv in Graz entnommen. Es handelt sich dabei vorwiegend um Briefe, Denkschriften, Protokolle und (inoffizielle) hausinterne Korrespondenzschriften, die das NHM und LMJ betrafen.
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DURCH
Allen voran ist die Ausbildung der Bediensteten für ihre Arbeit im Museum zu diskutieren. Vorwegzunehmen ist, dass eine universitäre Ausbildung nahezu als unumgängliche Bedingung für professionelle museale Tätigkeit galt. Dies wird in der einschlägigen Fachliteratur deutlich, wo konkret von den wissenschaftlichen Idealen der „Fachmänner“ die Rede ist. So wollte der Kunsthistoriker und Direktor der Städtischen Kunstsammlung in Düsseldorf, Karl Koetschau die Professionalisierung im Museum vorantreiben, das „Eindringen von Laien“ verhindern und die „Zunft verteidigen“.14 Ähnlich äußerte sich Viktor Pietschmann, Ichthyologe und Kustosadjunkt am NHM, der sich für die Leitung von Museen durch Fachmänner und zugleich gegen jene aussprach, die sozusagen in ihrer Freizeit ausschließlich ihrer „Liebhaberei“ nachgingen.15 Fachmänner seien in den Beamtenstand (Hochschullehrer) zu erheben und ihnen stünde die Führung des Professorentitels zu.16 Darüber hinaus kritisierte Pietschmann den Karriereweg im Museum, zumal erst auf eine jahrelange unbesoldete Tätigkeit eine fixe Anstellung folge, die oft von langen Dienstzeiten geprägt war. Davon waren auch Bedienstete
Darüber hinaus gab insbesondere die Fachzeitschrift Deutsche Museumskunde, das Sprachrohr des 1917 gegründeten Deutschen Museumsbunds, die damalige Sicht der deutschsprachigen FachwissenschaftlerInnen wieder. Punktuell wurden thematisch relevante Artikel (erschienen zwischen 1906 und 1939) gesichtet. Die Ausgabe von 1910, 1911, 1913, 1914, 1915, 1917, 1918, 1921 sowie 1924 bis 1928 sind der Autorin nicht bekannt. Das österreichische Pendant, neuesmuseum – die österreichische Museumszeitschrift − entstand erst 1989 und wird seit 1990 drei Mal pro Jahr herausgegeben. 14 KOETSCHAU Karl, Museumskurse, in: Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen 11 (1916), 31–33. 15 Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA), XII/27 Staatsnotariat, Staatssiegelamt, Oberster Verwalter des Hofärars 1918−1922, Hofärar 1919: Liquidationsakten 2, Bl. 142−147. 16 Beispielsweise wurde anlässlich des fünfjährigen Bestehens des Hörbathmuseums in Niederösterreich die Verleihung des Professorentitels an Josef Höbarth diskutiert, der seine Sammlung an die Stadtgemeinde Horn übergeben hatte. Begründet wurde die Empfehlung damit, dass der fachlich nicht vorgebildete Hörbath sich Erfahrung und Geschicklichkeit wissenschaftlicher Grabungsarbeiten praktisch erworben und sich insbesondere auf die „Heimaterforschung“ konzentriert habe. Dennoch wurde das Gesuch letztendlich abgelehnt. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 Niederösterr. Museen, Horn, Z. 41530/1935.
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mit akademischen Abschlüssen betroffen. Es sei eine „besondere Härte und Unmoral der jetzigen Verhältnisse“, dass junge Beamte auf die Pensionierung ihrer „Vordermänner“ warten müssten, die nur „durch Tod“ abgingen, weil Pensionierungen eine Seltenheit wären. So würden sich Mitarbeiter im Alter von 35 und mehr Jahren noch immer in der 9. Rangklasse befinden und ein Monatsgehalt bekommen, welches weniger als dem halben Wochenlohn eines Metalldrehers entspreche.17 Wie wichtig die fachlichen Qualifikationen, d. h. die akademische Ausbildung, der Bediensteten zu Beginn der Republik Österreich war, ist insbesondere am Reformprogramm des Kunsthistorikers Hans Tietze18 (1880−1954), einer zentralen Figur der Museumsreformen in Österreich, zu erkennen, worin er die Gründung eines Verbands der Landesmuseen vorschlug.19 Er setzte sich in seinem Programm für eine „lebendige Kulturwissenschaft“ sowie für die Neugestaltung „des Musealwesens“ ein und unterschied drei Museumstypen:20 erstens die
17 Ebd. 18 Tietze war vor 1918 im Denkmalamt mit dem Schutz und der Inventarisierung österreichischen Kunst- und Kulturgüter beschäftigt. Ab 1919 war er als Sektionschef im UM (Abteilung 10b) für die Leitung der Museumsordnung verantwortlich. Tietze nahm sich nach 1918 den Hauptproblemen an, nämlich der graphischen Sammlung, der Gemäldegalerie und der Skulpturensammlung. Es existieren zahlreiche Studien über Hans Tietze und seine Ehefrau Erica Tietze-Conrat. An dieser Stelle sei auf nur zwei verwiesen: Sabine Forsthuber widmet sich Tietzes kunstpädagogischen Ansätzen. FORSTHUBER Sabine, Hans Tietzes Kunstpädagogische Ausstellungen, in: Gottfried Fliedl/Roswitha Muttenthaler/Herbert Posch (Hg.), Museumsraum, Museumszeit. Zur Geschichte des österreichischen Museums- und Ausstellungswesens, Wien 1992, 167–188. Almut Krapf-Weiler widmet sich in dem Beitrag „Zur Neuorganisation der Wiener Museen 1919−1925 unter der Leitung von Hans Tietze“ u. a. Tietzes Verständnis von Kulturwissenschaft. KRAPF-WEILER Almut, Zur Neuorganisation der Wiener Museen 1919−1925 unter der Leitung von Hans Tietze, in: Hadwig Kräutler/Gerbert Frodl (Hg.), Das Museum. Spiegel und Motor kulturpolitischer Visionen, 100 Jahre Österreichische Galerie Belvedere: Konferenzband zum gleichnamigen Symposium anlässlich des 100-jährigen Bestandes des Museums Wien, 16. bis 19. Oktober 2003, Wien 2004, 159–178. 19 ÖStA, AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 Museen: in genere und Kommission, Z. 5690/1922. 20 Ebd. Tietzes Reformbemühungen fanden in der erwähnten Schrift „Die Wiener Kunstmuseen“ von 1925 einen Abschluss. TIETZE Hans, Die Wiener Kunstmuseen, Wien/Leipzig 1925.
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Zentralmuseen, die über einen „vollständigen Stab von wissenschaftlichen Spezialkräften verfüg[t]en“, zweitens die Landesmuseen, in welchen „Fachkräfte genötigt“ waren, mit einem „sehr großen Umkreis verschiedenartiger Disziplinen“ zu hantieren (dazu zählte er auch das Städtische Museum in Salzburg) und drittens Lokalmuseen, die über keine Fachkräfte verfügten und „im Wesentlichen von Angehörigen anderer Berufe im Nebenamte betraut“ würden.21 Entscheidend ist hierbei, dass Tietze als Distinktionsmerkmale der Museen weder auf deren Historie (Gründungsjahr des Museums), noch auf deren Sammlungen eingeht, sondern sich auf die Anzahl und fachlichen Qualifikationen der Bediensteten stützt.22 Über die Anzahl der Bediensteten und ihr Fachwissen schreibt auch Franz Schaffer (1876−1953), studierter Geologe und Paläontologe und später Direktor des NHM, in einer Stellungahme vom 1. März 1923 an das Bundesministerium für Unterricht (kurz BMU).23 Schaffer, in seiner Funktion als Vorsitzender des Kollegiums des NHM, kommentierte eine Postsendung mit Gipsabgüssen von Wien nach Weimar, die aufgrund des Ausfuhrverbots abgelehnt worden war.24 Schaffer zufolge müssten das NHM und das Kunsthistorische Museum Wien von dem Ausfuhrverbot ausgenommen werden und bat um Nachtragsverordnung, „welche in Bezug auf die ihnen vertretenen Fächer die ersten wissenschaftlichen
21 ÖStA, AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 Museen: in genere und Kommission, Z. 5690/1922. 22 Auf eine Unterscheidung zwischen „großen und kleinen Museen“ trifft man auch in den 1980er Jahren in Kryzysztof Pomians „Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln“. POMIAN Krzysztof, Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 2013. Auch dort wird die größere finanzielle Unabhängigkeit größerer Museen im Gegensatz zu kleineren Institutionen angeführt. Größere Museen hätten eher Kontakt mit SammlerInnenn und Forschungsinstitutionen und würden viel eher die universelle Geschichte zeigen, als kleinere, welche sich vielmehr einem Ort, einer Stadt oder einem Land verschrieben. Kleineren Museen misst er sogleich eine inhaltliche Orientierung bei: Sie seien mehrheitlich nicht kunstorientiert, sondern technikorientiert, fokussierten die lokale Vergangenheit und setzten Objekten als Zeugnisse der örtlichen Anwesenheit von Menschen an einem Platz in Szene. Pomian, Ursprung 97. 23 TRAUTH Friedrich, Zum Gedenken an Hofrat Prof. Dr. Franz X. Schaffer, in: Annalen des Naturhistorischen Museums 59 (1939), 5–16. 24 ÖStA, AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig, 15 Ausfuhr: Kunstwesen, Z. 4058/1923. Im Dezember 1918 wurde das sogenannte Ausfuhrverbotsgesetz verabschiedet, welches die Ausfuhr und Veräußerung von Gegenständen von geschichtlicher, künstlerischer oder kultureller Bedeutung unter Strafe stellte; damit wollte man die Verbringung von Kulturgegenständen ins Ausland verhindern.
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Institute der Bundesrepublik repräsentieren, von dieser Kontrolle ausnimmt, die allerdings für Provinzmuseen, an deren Spitze zumeist keine Fachleute stehen, eine unbedingte Notwendigkeit darstellt“25. Dieses Ansuchen verdeutlicht sehr anschaulich ein generalisierendes Urteil über die Fachkompetenz Museumsmitarbeitern in der Provinz, denen selbige pauschal abgesprochen wurde. Es gibt aber auch konträre Ansichten dazu, wie etwa die Erklärung von Kauffmann, wonach Museumsdirektoren „ohne Rücksicht auf ihre wissenschaftliche Vorbildung“ zu bestellen sein sollten, solange sie „echte Kunstfreunde“ seien. Darüber hinaus setzte er sich verstärkt für Zusammenarbeit der Bediensteten ein. Die Direktoren hätten, so Kauffmann, einen „Museumsrapport“ mit Informationen zu Programm, Gegenständen und Anordnungen vorzulegen. Dies hätte im Museum zu erfolgen, wofür ein „Museumsrat“ geeignet wäre. Der Rat hätte aus höchstens acht Mitgliedern unter Vorsitz eines Ministerialbeamten zu bestehen, würde Reformen der Museen überwachen, „die Regierung bei Ankäufen, Krediten und Ernennungen“ unterstützen und könnte Aufsichtsräte besetzen.26 In Ergänzung zur fachlichen Ausbildung sollten Museumsbedienstete auch Wissen und Erfahrung in der Praxis sammeln. In fachwissenschaftlichen Quellen ist auch mehrfach von der Notwendigkeit eines praxisnahen Qualifikationserwerbs die Rede. Nicht nur bei Kaufmann, sondern auch bei Koetschau ist über den Erwerb fachwissenschaftlicher Kenntnisse im Rahmen von museumspraktischen Tätigkeiten zu lesen. Koetschau plädierte dafür, einen „Lehrgang auf der Universität und eine praktische Lehrzeit am Museum“ als „Vorbedingung für die Anstellung eines Museumsbeamten“ anzubieten, der sich dabei speziell auf KunsthistorikerInnen in den Niederlanden bezog.27 Koetschau rief dazu auf, die fachliche, universitäre Ausbildung durch einen „methodischen Unterricht“ in der Praxis und durch die Praxis zu erweitern:28 In Museumskursen oder -schulen und Werkstätten könne eine systematische Einführung in Museumstechniken eingehend erlernt
25 Ebd. 26 KAUFFMANN Hans, Wie Holland seine Museen reformieren möchte, in: Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen 17/3 (1924), 24–25. 27 Ebd. 25. Fragen über den Wert einer fachwissenschaftlichen Ausbildung und die Notwendigkeit einer praktisch museologischen Ausbildung finden sich auch im Jubiläumsband zum 200-jährigen Bestehen des LMJ von 2011. PAKESCH Peter/MUCHITSCH Wolfgang (Hg.), 200 Jahre Universalmuseum Joanneum, 1811−2011, Graz 2011, 134−135. 28 Koetschau, Museumskurse 31−33.
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werden. Dies sei insbesondere notwendig, da neue Ausgrabungstechniken kunsthistorisch vorgebildete Personen vor neue Herausforderungen stellen würden.29 Dass dieses praxisorientierte Lernen Ende der 1920er-Jahre bereits realisiert wurde, zeigen Fortbildungen steirischer Kuratoren an Wiener Museen. Zu nennen ist etwa die dreiwöchige Entsendung des Amtsdieners Johann Pichler aus dem Antikenkabinett des LMJ nach Wien im Februar 1929, wo er die „Herstellung und Restaurierung antiker Gefäße“ erlernen sollte. Dadurch erhoffte man sich die „Konservierungstätigkeit“ des Grazer Antikenkabinetts zu stärken und somit auch „eine wesentliche Förderung der Erwerbungen des Antikenkabinettes […]“30. Umgekehrt ist eine Entsendung von Kuratoren aus Wien an steirische Museen aus den gesichteten Quellen nicht bekannt. Vielmehr wird deutlich, dass sich das NHM anderwärtig orientierte; wenn Bedienstete des NHMs von beispielhaften Sammlungsstrategien, umfangreichen Beständen und als vorbildlich erachtete Ausstellungskonzepte berichteten, handelte es sich durchwegs um internationale Häuser wie etwa das Museum Louvre in Paris,31 das British Museum in London, das Pergamonmuseum in Berlin sowie Museen in Washington – allen voran das Smithonian Institution.32
29 Ebd. 30 Die Fortbildung wurde mit 200 Schilling aus dem „Erwerbungsfonds“ subventioniert. Steiermärkische Landesarchiv (StLA), Joanneum, Landesmuseum, K. 43, H. 146, Z. 75/1929. 31 Vgl. KNAPP F., Randbemerkungen zur Valentinischen Museumsschrift, in: Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen, 15 (1920), 71–73. MEIJER-VAN MENSCH Léontine/VAN MENSCH Peter, From disciplinary control to co-creation – collecting and the development of museums as praxis in the nineteenth and twentieth century, in: Susanna Pettersson/Frank Bergevoet (Hg.), Encouraging collections mobility. A way forward for museums in Europe. Helsinki/Amsterdam/Berlin 2010, 34; ÖStA, AVAFKHA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 Hofärar, Hofburg, Z. 3681/1930. Ebd., Sig. 15 Oberösterr. Museen, Linz, Z. 7509/1921. 32 Zu London, Berlin und Washington äußert sich Finsch. FINSCH Otto, Das Reichs-Museum für Naturgeschichte in Leiden und seine Umgestaltung in ein Ideal-Museum, in: Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen 2 (1906), 29–40. Die Rolle des British Museum wird auch vom steirischen Kuratorium 1912 hervorgehoben. KURATORIUM C., Jahresbericht des Steiermärkischen Landesmuseums Joanneum. Über das Jahr 1911, Graz 1912, 10−11. Die Berliner Museen bespricht Knapp. Knapp, Randbemerkungen 71−73. Die amerikanischen Mu-
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Hinsichtlich der Professionalität der Bediensteten sei des Weiteren der fachwissenschaftliche Artikel Aufgabe und Einrichtung der vorgeschichtlichen Sammlungen33 des Prähistorikers Albert Kiekebusch, der seit 1916 Direktor der vorgeschichtlichen Abteilung des Märkischen Museums in Berlin war, erwähnt.34 Darin beginnt Kiekebusch mit ersten Bemerkungen über die steigende „Bodenwirtschaft“35, die aufgrund technischer Neuerungen wie z. B. dem elektrischen Pflug, zahlreiche „vorgeschichtliche Grabfelder und Siedlung“36 sowie „Bodenaltertümer“37 zu Tage bringe, aber zugleich vielfach zerstöre und über die „wüste Raubgräberei und die absichtliche Zerstörung“38. Hinsichtlich Professionalität gelte es, eine übergeordnete Instanz, nämlich sogenannte Vertrauensmänner, zu engagieren, die für die Feststellung von Befunden, praktische Grabungen, Veröffentlichungen, etc., zuständig sein sollten. Diese sollten stets aus „den Kreisen der Leiter fachwissenschaftlich verwalteter Museen und anderer Sachverständiger“39 bestellt werden. Für diese „Ehrenämter“, wie Kiekebusch sie nennt, wären „nur wissenschaftlich durchgebildete Persönlichkeiten“40 geeignet. Mit Nachdruck sprach er sich für Bedienstete mit fachlicher Kenntnisse und ihre zukünftige Bedeutung für Museen aus: Wenn „fachwissenschaftlich durchgebildete Kräfte zur Verfügung“ stünden, könnten Museen zeigen, dass sie „in erster Linie [...] F o r s c h u n g s i n s t i t u t e “41 seien. Diese seien deswegen notwendig, da sich wissenschaftliche Arbeit im Museum nicht auf die „bloße Sammeltätigkeit“ be-
seen diskutiert Arndt: ARNDT W., Die Museumsverbände Grossbritanniens, Frankreichs und der Vereinigten Staaten, in: Museumskunde. Vierteljahrsschrift für Verwaltung und Technik privater und öffentlicher Sammlungen 2 (1930), 4–5. 33 Der Artikel umfasste 30 Seiten und wurde 1916 publiziert. KIEKEBUSCH Albert, Aufgabe und Einrichtung der vorgeschichtlichen Sammlungen, in: Museumskunde. Zeitschrift für Verwaltung und Technik öffentlicher und privater Sammlungen 11 (1916), 1–30. 34 Eine kurze Biografie über Albert Kiekebusch verfasste Redlich. REDLICH Clara, Albrecht Kiekebusch, in: Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), Neue Deutsche Biographie, Berlin 1977, 576–577. 35 Kiekebusch, Aufgabe 9. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Kiekebusch, Aufgabe 9. (Sperrung im Original)
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schränke, sondern eine „planmäßig ins Werk gesetzte Erforschung heimischer Altertumsstätten“42 inkludiere. Als vorbildliches Beispiel führte er das Kaiserlich Archäologische Institut in Berlin mit seinen Zweigstellen in Rom und Athen sowie die römisch-germanischen Kommission in Frankfurt am Main an. Kiekebusch sah Professionalität vor allem in der systematischen Erforschung von Fundplätzen, die einer planlosen und willkürlichen Suche gegenüberstand. Diese Differenzierung führt er auf semantischer Ebene weiter, indem er für unwissenschaftliche Grabungen das Verb buddeln anstelle von graben gebraucht: Das „[…] gelegentliche Herumstochern im Boden, das ‚Buddeln‘ hat nicht mit Unrecht die Spottlust und das Achselzucken […]“43 zur Folge. Kiekebusch ging sogar noch weiter und schlug vor, nicht-wissenschaftliche Museen durch Subventionskürzungen zu sanktionieren, sofern sie − in seinem Verständnis − nicht fachmännisch agierten: „Solange ein Museum in dilettantenhafter Weise verwaltet wird, tut man sogar gut, ihm nicht reiche Geldmittel zur Verfügung zu stellen; sonst wird nur Unheil angerichtet, etwa durch Ankauf mehr oder minder, meist aber minder wertvoller Sammlungen aus allen Gegenden, die oft noch dazu mit dem Arbeitsgebiet d[es] betreffende[n] Museums in gar keinem oder recht losem Zusammenhange stehen. Nur da stellt man Mittel zur Verfügung, wo die Gewähr wissenschaftlicher Arbeit gegeben ist.“44 Kritik übte Kiekebusch auch am unwissenschaftlichen Jagen nach „Paradefunden“45 und verwies damit vermutlich auf die allgemein hohe Begeisterung für spektakuläre archäologische Funde im 19. Jahrhundert. Nun sei es an der Zeit, dass die Forschung in der Ferne der systematischen Grundlagenforschung in der unmittelbaren Umgebung, der Heimat, weiche, also der Deutung „der feinsten Bodenspuren vergangener Geschlechter“ vor Ort.46
42 Ebd. 43 Ebd. 44 Ebd. 10. 45 Ob er damit indirekt auf die Schatzfunde Heinrich Schliemanns anspielte, muss an dieser Stelle offenbleiben. EMELE Martin, Rot wie der Schal von König Priamos. Troianisches Gold zwischen Mythos und Politik, in: Sigrid Schade/Gottfried Fliedl/Martin Sturm (Hg.), Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kunst und Kulturobjekten, Wien 2000, 59–74. 46 Kiekebusch, Aufgabe 11. Später im Text schrieb er ausführlich über die Heimatkunde. Man verstand es als „Schmach“, dass Gebildete an den nahegelegenen Burgwällen und Steingräben vorübergingen. Altertümer, die unmittelbar in „der Heimat“ lagen, würden nicht ausreichend geschätzt und beachtet. Ebd. 13.
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Dass die Beschäftigung von Fachexperten als Beleg für die Professionalität des jeweiligen Museums angesehen wurde, ist auch im 1930 publizierten Artikel Zum Problem der Heimatmuseen des Kunsthistorikers Karl Steinacker, der von 1910 bis 1935 das Braunschweigische Landesmuseum leitete, zu lesen.47 Darin unterstrich Steinacker die Bedeutung der finanziellen Unabhängigkeit für Museen sowie die Relevanz des jeweiligen Museumstandorts. Steinacker war der Ansicht, dass die „Leitung des Museums durch einen berufsmäßigen Sachverständigen“48 zu erfolgen hätte und es kein „Privatunternehmer“ oder „freiwilliger Hüter“ sein dürfte. Die notwendige Anzahl an Bediensteten beschrieb er vage mit „ausreichend“; eine konkrete Zahl nannte er nicht. Hinsichtlich der praktischen Forschungsarbeit gelte es, eine systematische Vorgangsweise einer sporadischen Beschäftigung ebenso vorzuziehen, wie eine geordnete Sammlung einem „Gemenge“ durchmischter, fremdartiger Stücke. Selbständigkeit besäßen seiner Ansicht nach insbesondere städtische Museen, weil sie „mit einer bestimmten Geldsumme nach genehmigtem Plan, ihren eigenen Haushalt unter voller Verantwortung eines fachmännischen Museumsleiters [zu] regeln“49 im Stande seien. Auf die Bedeutung des Standortes verweist er, wenn er etwa „Sammlungen von wissenschaftlich übergeordneter Bedeutung“ in „Museen großer Städte“ zu finden meint. „Sie entwuchsen einem Jahrhunderte alten Kulturboden mit selbstständigen Leistungen, mit einer entsprechend reichen Hinterlassenschaft.“50 Den städtischen Museen stellt er nicht-wissenschaftliche Museen im ländlichen Raum, die seiner Meinung nach unprofessionell arbeiten würden, gegenüber: „Die selbstständigen wissenschaftlichen oder ästhetischen Ansprüche solcher ‚Museen’ sind Zufallsergebnisse, ihre populär-belehrende Bedeutung ist aber um so mehr eine unmittelbare.“51 Erst als letzten Punkt nennt er die Sammlung als wichtiges Kriterium, deren Wert sich aus der Anzahl sogenannter Originale ergebe – viele Originale zeugten von Professionalität.52
47 STEINACKER Karl, Zum Problem der Heimatmuseen, in: Museumskunde. Vierteljahrsschrift für Verwaltung und Technik privater und öffentlicher Sammlungen 2 (1930), 6–10. 48 Ebd. 7. 49 Ebd. 8. 50 Ebd. 6. 51 Ebd. 52 Die Kontrolle wollte er dem Denkmalschutz, als eine „Art von gesetzlicher Kontrolle […] zubilligen“. Steinacker, Problem 9. Kontrollinstanzen wurden bereits Anfang der 1920er-Jahre von Tietze gefordert. Krapf-Weiler, Neuorganisation 159−178.
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P ERSONALSTAND ALS C HARAKTERISTIKUM VON P ROFESSIONALITÄT Die Professionalität von Bedienstete als wesentliches Qualitätsmerkmal von Museen und dabei insbesondere ihre Anzahl – den Personalstand – als ein Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Museum von Weltrang und einem vermeintlichen Provinzmuseum anzusehen, war schon in den Jahren vor 1918 nicht neu. So ist beispielsweise bereits in dem 1906 erschienenen Artikel Das Reichs-Museum für Naturgeschichte in Leiden und seine Umgestaltung in ein Ideal-Museum von Otto Finsch, Forschungsreisender, Zoologe und Ethnograph, davon zu lesen. Schon damals beklagte er die geringe Zahl „an wissenschaftlichem Personal“, wovon die Stadt Leiden nicht mehr als sechs hätte. „Berlin besitzt allein sechs Entomologen, Washington deren neun!“53 Hier wird deutlich, dass der Personalstand zwar als ein Qualitätskennzeichen von Museen gesehen wurde, aber der Forderung nach mehr Bediensteten oft nicht entsprochen wurde. Zugleich erfuhr die Diskussion um den Personalstand aufgrund des geplanten Angestellten-Abbaugesetzes Anfang der 1920er-Jahre starken Aufwind. Diesbezüglich ist eine Stellungnahme von Ludwig von LorenzLiburnau anzuführen, der in seiner Funktion als Direktor und Vertreter der Zoologischen Abteilung des NHM, im Oktober 1922 darauf hinweist, dass durch den Vollzug des Gesetzes die Abteilung fast ein Drittel ihrer insgesamt 13 wissenschaftlichen Beamten verlieren würde.54 Dieser Stellenabbau würde die Beibehaltung wissenschaftlicher Tätigkeiten gefährden, weshalb der Sammlung ein „Zustand der Verwahrlosung drohe, welcher den materiellen und ideellen Wert des ganzen Museums tief herabsetzen würde.“55 Er fügte hinzu: „Unser armer Staat würde durch eine solche Behandlung eines seiner wenigen grösseren Wertobjekte noch ärmer werden.“56 Negative Auswirkungen prophezeite er auch dem musealen Netzwerk, zumal der „wissenschaftliche […] Verkehr mit den Gelehrten des In- und Auslandes“57 der Pflege bedürfe und bei Nichtfortführung − aufgrund des
53 Finsch, Reichs-Museum 37. 54 Betroffen waren von dem Gesetz Ludwig von Lorenz-Liburnau selbst sowie Anton Handlirsch, Hans Rebel und Rudolf Sturany. Lorenz-Liburnau strich die besonderen Fähigkeiten jener hervor, die sich allesamt in den Wissenschaften besonders verdient gemacht hätten. Er selbst kündigte seine ohnehin geplante Pensionierung an. ÖStA, AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 C1 NHM, 1921−1931, Z. 24620/1922. 55 Ebd. 56 Ebd. 57 Ebd.
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Personalmangels − der Ruf der Anstalt gefährdet sei: „Wenn die ehemalige Monarchie jetzt zu einem kleinen Staatengebiete zusammengeschrumpft ist, so ist doch unser naturhistorisches Museum nicht kleiner geworden und hat sich dessen Inhalt nicht verringert. Die in demselben zu leistende wissenschaftliche und administrative Arbeit ist nicht weniger geworden, sie hat sich im Gegenteile sogar vermehrt, indem während der langen Kriegsjahre manches zurückbleiben musste, was jetzt nachzuholen ist.“58 Personelle Einschränkungen hätten einen Qualitätsverlust zur Folge und wären ein schmerzlicher Verlust für das NHM: „[Da das NHM] eines der grössten und schönste [Museen] der Welt ist, und dessen Ruf als Stätte wissenschaftlicher Forschung allgemein bekannt ist, [würde es] einen empfindlichen Schlag erfahren […]. Jedermann kennt und bewundert dessen der Belehrung der Allgemeinheit dienenden Schausammlungen und die Gelehrtenwelt schätzt und benützt in weitestgehendem Masse seine Studiensammlungen, die ihr ebenso zu Forschungszwecken zur Verfügung stehen, wie den Museumsbeamten selbst. […] Und jetzt soll die Zahl seiner wissenschaftlichen Arbeiter eine Reduktion erfahren, wo die zu leistende Arbeit grösser geworden ist! Man kann doch nicht diese grosse [Institution] mit einemmale[sic] auf den Rang eines Provinzmuseums herabdrücken wollen!“59 Eine ähnliche Ansicht ist noch ein Jahrzehnt später im 1930 publizierten Artikel Zum Problem der Heimatmuseen zu finden, welchen der bereits genannte Steinacker verfasste.60 Kleine Heimatmuseen hätten mit „Personalproblem[en]“ zu kämpfen und verfügten oft nur über einen „freiwilligen Hüter [...]“. Für eine bildungsgerechte Aufarbeitung, die er als erstrebenswert ansah, bedürfe es jedoch einer Gruppe an Leuten, da eine „sachgemäße Ordnung und Verarbeitung von wissenschaftlich so verschiedenartiger Sammlungen eine Einzelperson normalerweise nicht mehr bewältigen“61 kann. Kritisch anzumerken wäre an dieser Stelle jedoch, dass eine größere Anzahl an Bediensteten zwar dazu führen kann, einen größeren Arbeitsumfang zu bewältigen, aber damit zwangsläufig kein Qualitätsunterschied einhergehen muss. Die Bedeutung qualifizierter Bediensteter für Museen wird noch einmal in einem Schreiben des Prähistorikers Josef Bayer, Direktor der AnthropologischenEthnographischen-Prähistorischen Sammlung des NHM in Wien, an das BMU62
58 Ebd. 59 Ebd. 60 Steinacker, Problem 6−10. 61 Ebd. 7. 62 Bundesministerium für Unterricht 1923−1938.
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vom 20. November 1922 deutlich, worin er auch das zur Diskussion stehende personelle Abbaugesetz anspricht. Er weist nachdrücklich darauf hin, dass zusätzlich zu den Sammlungen auch das qualifizierte Personal die ehemaligen Hofmuseen nicht nur an die Spitze der österreichischen, sondern an jene der internationalen Museumslandschaft stellt: Zu jenem hochqualifizierten und daher unersetzlichen Personal zählte er die Präparatoren Franz Brattina und Andreas Huber sowie den Aufseher Wilhelm Kulik, die von der Pensionierung vollständig auszunehmen seien, andernfalls drohe der „Zusammenbruch des ganzen Betriebes in kürzester Zeit“63. Der Betrieb in der prähistorischen Sammlung sei auch von den Arbeiten in den anderen Sammlungen zu unterscheiden, zumal die prähistorische Sammlung einer ständigen Überarbeitung bedürfe, da andernfalls „grosse materielle, vor allem aber wissenschaftliche Werte zu Grunde“ gehen würden. Zahlreichen Tätigkeiten stünden an: Neue Funde müssten präpariert werden, vorhandene bedürften „neuerlicher Behandlung“ wie sie etwa der Präparator Brattina durchführe. Ebenso unentbehrlich sei Präparator Huber, der sowohl Tischlerarbeiten, als auch Restaurierungen an keramischen Funden, prähistorischen Materialien und auch Arbeiten in der Gipsgießerei durchführte. Solche Gipsabgüsse würden u. a. ins Ausland verkauft, was eine wichtige finanzielle Einnahmequelle der Abteilung sei.64 Interessant ist dabei, dass Bayer die Tätigkeiten von Brattina und Huber nicht nur für sein Museum als unentbehrlich verstand, sondern auch für die vermeintlichen Provinzmuseen, für die sie Arbeiten übernahmen, „um die dort erliegenden Funde vor dem Zerfall zu retten“65. Eine genauere Definition von Provinzmuseen unterlässt er dabei ebenso wie eine Erläuterung der „Zerfallproblematik“.
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M ORAL
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Zusätzlich zur Notwendigkeit einer akademischen Ausbildung und eines praxisnahen Qualifikationserwerbs sollte sich der Museumsbedienstete vor allem auch durch moralische Kompetenz auszuzeichnen. Der Kunsthistoriker und Direktor des Museums für angewandte Kunst in Wien, Eduard Leisching, sprach 1918 von
63 ÖStA, AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 C1 NHM, 1921−1931, Z. 24620/1922. 64 Ebd. 65 Ebd.
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der persönlichen Hingabe zum Beruf und der „ideale[n], uneigennützige[n] Mitwirkung der Musealbeamten […]“66. Sie hätten den Kunstmarkt zu beobachten, um jede Gelegenheit für „günstige Erwerbungen für [das] Institut“67 nützen zu können; außerdem hätten sich Musealbeamte von „materielle[r] Nutzniessung“ und „unlauterem Wettbewerbe“ zu distanzieren.68 Er nannte fünf Punkte, die mit der „Standesehre von Museumsbeamten“ nicht zu vereinbaren seien: „Die Beteiligung am Kunsthandel zu persönlichem Vorteil; die Vornahme materieller Schätzungen von Kunstwerken; die Annahme von Schätzermeisterstellen an Auktionsinstituten (dagegen wäre zu gestatten die fallweise Abgabe von Gutachten bei gerichtlichem Verfahren über amtliche Einladung); die Anlegung von Privatsammlungen auf dem eigenen Musealgebiete; die Erteilung von wissenschaftlichen Gutachten gegen Entgelt.“69 Neben diesen Ausführungen zur geforderten Moral im Museumsbetrieb finden sich in den untersuchten Quellen auch noch Anmerkungen zur ästhetischen Urteilskraft der Museumsleitung. Nach Kauffmann sollten Direktoren von Kunstmuseen „Kunstgeschmack und visuelle Begabung“ besitzen. „Die ,organische Einheit‘ […] der Sammlung [wird] von der Persönlichkeit ihres Direktors [geprägt…], der mit Stilgefühl und künstlerischem Geschmack aus dem, worüber er verfügt – es können Dinge verschiedener Art sein –, das schafft, was wir ein Museum nennen.“70 Unbeantwortet bleiben muss an dieser Stelle, woran und wer „guten Geschmack“ beurteilte. Dies geht aus dem Schreiben nicht hervor, jedoch gewinnt man den Eindruck, als diene das Offenhalten dieses Kriteriums der Museumsleitung oder zumindest dem Expertenkreis selbst, schließlich war damit Entscheidungshoheit verbunden. Die Aufzählung der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Museumsbediensteten ist noch nicht abgeschlossen, ist doch mit der Vermittlungskompetenz eine weitere Anforderung zu berücksichtigen. Kaufmann zufolge sollten die musealen Objekte nicht von einem Expertenkreis für einen anderen ausgestellt werden, sondern durch fachmännische Belehrung die Bedeutung einzelner Stücke sogenannten
66 ÖStA, AVAFHKA, Unterricht UM, allg. Reihe, Sig. 15 Kunstwesen in gre, 1918−1919, Z. 17222/1918. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Ebd. 70 Hans Kauffmann lobte insbesondere die holländische Malerei, welche am ehesten den Antiken aus den Leidener Kunstschätzen ebenbürtig wäre. Kauffmann, Holland 26.
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Laien nähergebracht werden.71 Diese Hinwendung zum Publikum stellt den Kern der Museumspädagogik dar, deren Anfänge sich bereits in den 1880er Jahren finden.72 Es war Alfred Lichtwark, ab 1886 Direktor der Hamburger Kunsthalle, der als Vater der Museumspädagogik gilt und der als Wortführer für die bildungspolitische Nutzung der Museen für alle BesucherInnen sowie die direkte Auseinandersetzung mit dem Original eintrat.73 In der Tradition von Lichtwark äußerte sich Reinhold Valentiner 1919 in dem heiß diskutierten74 und auch als „Kampfschrift“75 bezeichneten Artikel Umgestaltung des Museums im Sinne der neuen Zeit76 zu bildungspolitischen Ansätzen und sprach sich darin für die Neugliederung des Museums aus. Er beschrieb außerdem den Museumsmann alten und neuen Typs. Kritik übte er am alten Typ und der „Museumselite“ und bezeichnete sie als „ideenloses Spezialistentum“. Fähigkeiten und Stärken des neuen Typs stellte er in sieben Punkten zusammen, wozu er etwa den Auftrag zur Volkserziehung, basierend auf einem „erkenntnisleitende[n] Interesse“ sowie Eigenschaften wie Qualitätssinn und Volksnähe zählte. Ziel
71 Eine Abhandlung über das narrative Erzählen im Museum ist bei Thiemeyer zu finden. THIEMEYER Thomas, Simultane Narration – Erzählen im Museum, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2012, 479–488. Zur Frage der Vermittlung kultureller Kompetenz und der Zielgruppenarbeit in Museen siehe JOHN Hartmut/DAUSCHEK Anja (Hg.), Museen neu denken. Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld 2008. 72 Zur Geschichte der Museumspädagogik: VIEREGG Hildegard, Vorgeschichte der Museumspädagogik. Dargestellt an der Museumsentwicklung in den Städten Berlin, Dresden, München und Hamburg bis zum Beginn der Weimarer Republik, Münster 1991; HENSE Heidi/KOCH Koch, Das Museum als gesellschaftlicher Lernort. Aspekte einer pädagogischen Neubestimmung, Frankfurt am Main 1990. 73 FLACKE-KNOCH Monika, Wilhelm R. Valentiners Museumskonzeption von 1918 und die zeitgenössischen Bestrebungen zur Reform der Museen, in: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften 8/4 (1980), 49–58. 74 Vgl. Knapp Randbemerkungen. Flacke-Knoch, Valentiners Museumskonzeption. 75 SAALMANN Timo, Kunstpolitik der Berliner Museen 1919−1959, Berlin 2013, 36. 76 Valentiner sprach sich für die Öffnung des Museums aus und forderte eine institutionelle Neuordnung der deutschen Museumslandschaft. VALENTINER Wilhelm R., Nationales oder internationales Museum? (1919), in: Kristina Kratz-Kessemeier (Hg.), Museumsgeschichte. Kommentierte Quellentexte 1750−1950, Berlin 1919/1920, 247–253. Vgl. Saalmann, Kunstpolitik 35−36; Flacke-Knoch, Valentiners Museumskonzeption 49−58.
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müsse stets der Anspruch sein, einen Museumsbesuch zu einem „Genuß der höchsten Kunst“ zu machen. Man könnte auch sagen, dass Valentiner ein Profil vor Augen hatte, welches sich – wie zuvor auch schon bei anderen – aus fachlicher Expertise und moralischen sowie ästhetischen Kriterien wie „praktisch betätigende[m] Geschmack“ zusammensetzte.77 Von keinem neuen, sondern einem modernen Museumsbeamten sprach der Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub, der 1926 eine „Museumskrise“ feststellte, die einerseits insbesondere Museen wirtschaftlich treffe und andererseits „sozial“, da die „breiten Schichten“, welche in den Nachkriegsjahren mit „einem gewissen seelischen Heißhunger nach allen Bildungsangelegenheiten, allen geistigen Anregungen verlangten“, mittlerweile Genugtuung in anderen Aktivitäten, wie der „ungeheuerliche[n] Massenbegeisterung für Sport, der Taumel der Rekorde, die Anbetung künstlich gesteigerter körperlicher Hochleistungen“ fänden.78 Den „modernen Museumsdirektor“ beschrieb er wie folgt: „Der moderne Museumsdirektor soll ferner nicht nur das Gute, sondern auch das Beispielhafte, das Charakteristische anschaffen und so muß er ganz von selbst über die zufälligen lokalen Gegebenheiten, die seine nächste Aufgabe bilden, hinausgreifen. [… Die Erwerbungen müssen] Zeitspiegel, vielleicht auch Zeitkritik durch das Medium des Kunstwerks darbieten [...]. Wenn so der Leiter des modernen Museums nach Möglichkeit Qualität sammeln soll, so muß er gleichzeitig doch auch ein Augenmerk auf die wirtschaftlichen Vorteile und Möglichkeiten solchen Sammelns haben. Gerade wegen des unleugbaren finanziellen Risikos bei modernen Erwerbungen muß der Direktor mit einer gewissen Kühnheit rechtzeitig, ja frühzeitig zuzugreifen verstehen, ehe der Marktpreis eines lebenden Künstlers schon beinahe dem der berühmten Alten gleichgekommen ist.“79 Hartlaub zufolge war es insbesondere der Direktor, der zur „Verlebendigung […] des modernen Museums täglich“ beizutragen habe, indem er Vorträge und Vortragsreihen organisiere und wechselnde Ausstellungen inklusive Ausstellungstexte mit erläuternden Redehilfen – „das helfende Wort“ − erstelle. All dies diene einerseits der Freude und andererseits dem Zweck der „Kunsterziehung, der Heranbildung des Geschmacks, weniger beim Künstler (dessen Bildung, laut
77 Ebd. 52. 78 HARTLAUB Gustav Friedrich, Aufgaben des modernen Kunstmuseums (1926), in: Kristina Kratz-Kessemeier (Hg.), Museumsgeschichte. Kommentierte Quellentexte 1750−1950, Berlin 2010, 223–230. 79 Ebd. 225−226.
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Hartlaub, Sache der Kunstschulen ist), als vielmehr beim Publikum, beim KunstNehmer“80. Von einem vergleichbaren Erziehungsauftrag der Leitung ist im sogenannten Stellenplan zu lesen, den der Sekretär des LMJ Ferdinand Bilger, am 2. Jänner 1922 an die steiermärkische Landesregierung schickte und der auf Besprechungen der Abteilungsvorstände des Joanneum beruhte.81 Die Verhandlungen über eine entsprechende Neubesoldung der Bediensteten, die Anfang der 1920er-Jahre einsetzten, inkludierte die Verschriftlichung eines entsprechenden Katalogs personeller Qualifikationen. Ein solcher wurde u. a. für Viktor Geramb, Leiter der 1913 gegründeten volkskundlichen Sammlung, erstellt; als Leiter trage er die Verantwortung für diese und darüber hinaus für die Förderung der Volksbildung.82 So wurde im Stellungsplan die Bildung des Volkes (d. h. des Publikums) als zentrale Aufgabe der Leitung festgehalten. Verantwortung dafür übernahmen allerdings nicht nur Abteilungsleiter wie Geramb, sondern − wie im Stellenplan zu lesen ist – auch Personen in anderen Funktionen: Johanna Seidnitzer war für die Altertumssammlung und das Sekretariat am LMJ tätig, eine Funktion die ein „[b]esonderer Vertrauensposten mit vielseitiger Verwendung“83 sei. Klara Katzler war für die „Ordnung und Inventarisierung wissenschaftliche Sammlungen“84 des LMJ zuständig, wofür „Verständnis für wissenschaftlichen Systematik u[nd] Nomenklatur [und ein] Vertrauensposten“85 nötig sei. Ebenso erfülle Peter Zimmermann als „Torwart des Joanneums“86 eine wichtige Aufgabe, in den man großes Vertrauen setzte. Deutlich wird anhand dieser Beispiele, dass sich die Verantwortung von Seidnitzer, Katzler und Zimmermann primär auf die Objekte und Sammlungen bezog und nicht wie bei Geramb, der als Abteilungsleiter einem Bildungsauftrag oder der „Geschmacksbildung“ gerecht zu werden hatte. Der bereits erwähnte Prähistoriker Albert Kiekebusch sprach, neben der Bedeutung des Sammelns und (Er-)Forschens materieller Objekte in vorgeschichtlichen Sammlungen, ebenso über Wissensvermittlung. Dabei war es ihm ein Anliegen, die Vorgeschichte an breite Teile der Bevölkerung zu vermitteln und dabei
80 Ebd. 226. 81 StLA, Joanneum, Landesmuseum, K. 38, H. 139, Z. 1/1922. 82 Vgl. WALTER Sepp, Das Steirische Volkskundemuseum in den Jahren 1913 bis 1941, in: Steiermärkische Landesregierung (Hg.), Festschrift 150 Jahre Joanneum 1811− 1961, Graz 1969, 205−207. 83 StLA, Joanneum, Landesmuseum, K. 38, H. 139, Z. 1/1922. 84 Ebd. 85 Ebd. 86 Ebd., Beilage 3, Bogen 2.
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besonders an Schulkinder und Lehrkräfte. Die Volksbildung ist seiner Ansicht nach eine der wichtigsten Aufgaben der vorgeschichtlichen Museen, und Voraussetzung dafür sei die Forschung: „Das Forschungsinstitut ist geradezu die Voraussetzung einer Bildungsanstalt im wahrsten Sinne des Wortes. […] weitere Kreise […] wollen belehrt werden von denen, die selbst nach Wahrheit und tiefere Erkenntnis suchen. […] Unser Volk hat ein Recht auf Bildung und darf namentlich auch nach den Leistungen des letzten Jahres erwarten, dass sich die wissenschaftliche Welt nicht für zu gut hält, selbst aufzuklären und zu belehren. Jede wissenschaftliche Anstalt hat unbedingt in den Dienst auch der Volksbildung zu treten und auf diese Weise auf die Veredlung und Heranbildung der Massen zu wirken.“87 In diesem Zitat wird einer humanistischen Denktradition entsprechend ein moralischer und zugleich politischer Auftrag des Museums hervorgestrichen: die Veredelung des Menschen. Dabei soll das Museum nicht nur Grundlagenwissen vermitteln, sondern „den Bedürfnissen der bildungsdurstigen Besucher angepasst werden“88.
C ONCLUSIO Der vorliegende Beitrag befasst sich mit dem sich wandelnden Selbstverständnis innerhalb des Museumsbetriebes infolge des Umbruchjahres 1918. Museen wurden hier nicht nur als Wissensspeicher, sondern auch als Orte der Wissensproduktion und Wissensvermittlung beschrieben. Besondere Aufmerksamkeit galt dabei den Museumsbediensteten, die als bedeutende Ressource ein wesentliches Qualitätskennzeichen von Museen darstellten und zugleich die Institutionen maßgeblich mitgestalteten. Letztlich oblag es ihrer Verantwortung, „Bewahrenswertes“ als solches zu erkennen, es entsprechend zu beschreiben, es nötigenfalls zu konservieren und ausgewählte Stücke für BesucherInnen zugänglich zu machen. Grundsätzlich können Gemeinsamkeiten allgemeiner Art in den Profilen der Museumsführung und der übrigen Bediensteten festgestellt werden, obwohl sie sich, aus leicht nachvollziehbaren Gründen, in wesentlichen Punkten unterschieden. DirektorInnen und KuratorInnen sollten über eine entsprechende akademische Ausbildung verfügen, die geforderte Expertise besitzen und bereit sein, sich in Museumskursen weiterzubilden. Darüber hinaus sollten sie moralisch und ästhe-
87 Ebd. 12. 88 Ebd.
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tisch gebildet sein und ein hohes Maß an persönlicher Hingabe für den Beruf mitbringen sowie Bereitschaft zeigen, sich für die Wissensvermittlung zu engagieren, die an eine möglichst breite Öffentlichkeit adressiert sein sollte. Zumal die Museumsleitung eine öffentliche Institution repräsentiert, sollte gerade ihre moralische und ästhetische Urteilskraft fraglos sein. Fachpersonal unterhalb der Führungsetage sollte ebenfalls soziale Kompetenz besitzen und zudem bereit sein, sich fachlich weiterzubilden. Als Qualitätskriterium für Museen wurde häufig der Personalstand angeführt. Dabei wurde die Anzahl der Bediensteten nicht genauer bestimmt, sondern lediglich vage mit „ausreichend“ umschrieben. Damit meinte man einen Personalstand, der es den Fachkräften ermöglichte, sich ihren Spezialgebieten zu widmen, ohne parallel fachfremde Tätigkeiten ausüben zu müssen. Die Anzahl der ExpertInnen bestimmte auch den Status der Museen, die sich darüber als Museum von Weltrang oder als Provinzmuseum definierten. Die Expertise der Museumsbediensteten wurde dabei u. a. über die Systematik der von ihnen betreuten Sammlungen, über ihre Forschungsleistung (z. B. systematische vs. planlose Grabungen) und über ihre Kenntnisse des Kunstmarktes definiert.
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Archivalische Quellen HAUS-, HOF- UND STAATSARCHIV (HHStA), Wien: HHStA, XII/27 Staatsnotariat, Staatssiegelamt, Oberster Verwalter des Hofärars 1918−1922, Hofärar [Jahr]: Liquidationsakten 1−25. ÖSTERREICHISCHES STAATSARCHIV (ÖStA), Wien: ÖStA, AVA, FHKA89, Unterricht UM90, allg. Reihe, Signaturen (Sig.) 15 (B91 und C, 1−292). STEIERMÄRKISCHES LANDESARCHIV (StLA), Graz: StLA, Joanneum, Landesmuseum, K. 38 (H. 139), K. 43 (H. 146).
89 AVAFHKA = Allgemeines Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammerarchiv. 90 UM = Unterrichtsministerium (1918−1920 und 1945 ,Staatsamt‘, 1919−1923 mit dem Innenministerium verbunden, 1923−1938 Bundesministerium für Unterricht). 91 Buchstaben-Signaturschlüssel des ÖStAs (Auswahl): B1 Ökonomie, Bauten, B2 Rektor, Dekan, Kuratorium, Aufsichtsrat, B2A Kanzleipersonal, B2B Diener, C1 Anstellung, Rang, Entlassung, Staatsbürgerschaft, Disziplinierung. 92 Zahlenschlüssel: 1 Zentralstellen, Behörden und staatliche Einrichtungen; 2 Allgemeine Schul- und Unterrichtsangelegenheiten.
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Das Wissen des modernen Staates Standardisierung und Internationalisierung als externe Einflussfaktoren in der staatlichen Wissenserzeugung W OLFGANG G ÖDERLE (G RAZ )
E INLEITUNG Der vorliegende Beitrag widmet sich, auf der Grundlage meiner Dissertation zum Zensus im späten Habsburgerreich, Fragen nach den Beziehungen zwischen den beiden Komplexen Wissen und Staat.1 Er konzentriert sich dabei auf Protagonisten aus der Zentralverwaltung der Habsburgermonarchie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zentrum steht die Person Karl von Czoernigs. Zunächst ist festzulegen, wie mit dem Staatsbegriff in diesem Zusammenhang analytisch umgegangen werden kann, da das dahinterstehende Phänomen ein äußerst komplexes ist und in zahllosen unterschiedlichen Ausprägungen diversen grundlegenden Wandlungen unterworfen ist.2 Davon ausgehend soll exemplarisch für das späte Habsburgerreich aufgezeigt werden, wie die Entwicklung staatlicher Institutionen und Attribute im 19. Jahrhundert maßgeblich durch die Erzeugung, Anwendung und Weiterverarbeitung von Wissen katalysiert wurde und welche Akteurskollektive an diesen Prozessen partizipierten und auf unterschiedliche Arten Einfluss nahmen.
1
Vgl. GÖDERLE Wolfgang, Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über
2
Vgl. MAIER Charles S., Leviathan 2.0. Die Erfindung moderner Staatlichkeit, in:
soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016. Emily S. Rosenberg (Hg.), 1870–1945. Weltmärkte und Weltkriege, München 2012, 33–286, hier 38 ff.
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Besondere Aufmerksamkeit liegt dabei auf jenen Verbindungen und Beziehungen, die in einem transimperialen Rahmen stattfanden und verdeutlichen, dass die Genese moderner Staatlichkeit sich mitnichten in einem isolierten und nationalisierten Rahmen vollzog, sondern vielmehr einen globalen Deutungshorizont evoziert. Insbesondere die Volkszählungsvornahme veranschaulicht, wie über transimperiale Konventionen „moderner Staatlichkeit“ Entwicklungen in Verwaltung und Politik Pfadabhängigkeiten unterlagen, die nicht dem Gestaltungswillen einzelner staatlicher AkteurInnen unterworfen waren. Staatliches Wissen und die Normen, denen dessen Herstellung folgte, dienten dabei in verschiedenen Repräsentationen als Dispositiv, über das neue soziale und politische Kategorien und Vorstellungen Verbreitung fanden, und auch über Rechtsinstitute normative Wirkung entfalteten. Dieser Beitrag verortet sich im weiteren Kontext der laufenden Auseinandersetzung zu einer new imperial history, in deren Sog Fragen nach Staatlichkeit verstärkte Aufmerksamkeit erfahren. Er knüpft an die jüngsten Publikationen von Pieter Judson und John Deak zur Geschichte des späten Habsburgerreiches an und greift deren Befund auf, dass der Vielvölkerstaat in mehreren Hinsichten über ein leistungsfähiges und ausbalanciertes institutionelles Gefüge verfügte.3 Theoretisch nimmt dieser Text Anleihen bei Bernhard Schärs Konzept der Transimperialität, das gut geeignet erscheint, die globalen Bezüge sichtbar zu machen, die sich aufgrund des hohen Grades weltumspannender Vernetzung im mittleren 19. Jahrhundert auf allen Ebenen manifestierten und auf die Erfahrungen und Lebenswirklichkeiten der untersuchten AkteurInnen einwirkten.4 Weiters wird auf das Konzept der seriality zurückgegriffen, das Benedict Anderson zur Verfügung stellt, und das es erlaubt, die globale Verbreitung sozialer Tatsachen, Praktiken und Vorstellungen in diesem zeitlichen Kontext zu analysieren.5
3
Vgl. JUDSON Pieter M., The Habsburg Empire. A New History, Cambridge MA/ London 2016; und DEAK John, Forging a Multinational State. State Making in Imperial Austria from the Enlightenment to the First World War, Stanford 2015.
4
Vgl. SCHÄR Bernhard, Tropenliebe. Schweizer Naturforscher und niederländischer
5
Vgl. ANDERSON Benedict, The Spectre of Comparisons. Nationalism, Southeast Asia
Imperialismus in Südostasien um 1900, Frankfurt am Main 2015, 12–25. and the World, London/New York 1998, 29–45.
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Staat und Staatlichkeit Aktuelle imperialgeschichtliche Debatten haben zuletzt Fragen um Staatlichkeit wieder stärker in das Interesse von HistorikerInnen gerückt.6 Das ist insofern zu begrüßen, als der Begriff des Staates in der Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten vielfach unterdefiniert geblieben ist und sich stark an einer rechtsnormativen Auslegung des Terminus orientiert hat. Diesem Begriff vom Staat steht ein äußerst vielfältiges und in enormem Wandel inbegriffenes Phänomen gegenüber.7 Wie der Staat durch unterschiedliche AkteurInnen und Kollektive definiert wurde, welche Anforderungen an ihn gestellt wurden und welchen Vorstellungen seine Instanzen folgten, wurde nicht extensiv erforscht. Das Habsburgerreich illustriert dieses Problem sehr anschaulich: Zunächst noch als Imperium und Teil des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation wurde es 1805 zum Kaisertum Österreich, um 1867 zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie zu werden. Eine etwas nähere Betrachtung offenbart ein noch viel komplexeres Phänomen und die Unschärfe der Übergänge: Mit dem Ende des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806 wurde Österreich zu einem föderativen Einheitsstaat, der ab 1848 zentralstaatliche Züge annahm, ehe in den 1860er-Jahren sukzessive föderalistische Elemente wiedereingeführt wurden. Mit dem Ausgleich des Jahres 1867 entstand die Doppelmonarchie, die sich analytisch als Imperium, bestehend aus einem sich entwickelnden Nationalstaat und einem Vielvölkerstaat, beschreiben lässt.8 Dieser komplexe Entwicklungsverlauf ist dabei keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal des Habsburgerreiches, viele andere staatliche Gebilde im 19. Jahrhundert wiesen vergleichbare Genesemuster auf.9 Eine zu starke Dichotomisie-
6
Vgl. GHOSH Durba, Another Set of Imperial Turns?, in: AHR 117/3 (2012), 772–793; BURBANK Jane/COOPER Frederick, Imperien in der Weltgeschichte. Das Repertoire der Macht vom Alten Rom und China bis heute, Frankfurt am Main/New York 2012.
7
Vgl. dazu den Überblick bei NELLEN Stefan/STOCKINGER Thomas, Staat, Raum und Verwaltung im langen 19. Jahrhundert, in: Administory 2 (2017), 3–34. Für die Gelegenheit, diesen Beitrag bereits im Vorfeld zu lesen danke ich sehr herzlich.
8
Vgl. dazu auch die von GAMMERL Benno, Untertanen, Staatsbürger und Andere. Der Umgang mit ethnischer Heterogenität im Britischen Weltreich und im Habsburgerreich 1867–1918. Göttingen 2008 entfaltete Perspektive, die einer nationalstaatlichen und einer imperialen sehr fruchtbar eine etatistische Logik zur Seite stellt.
9
Als Vergleich würden sich etwa das Osmanische Reich oder auch Spanien anbieten. Vgl. etwa HARTMANN Elke, Die Reichweite des Staates. Wehrpflicht und moderne
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rung zwischen nur zwei Polen, einerseits dem Empire, andererseits dem Nationalstaat, erscheint daher unangebracht.10 Insbesondere die Vorstellung vom Nationalstaat verlangt nach einer analytischen Schärfung, zumal sich teilweise bereits im 18. Jahrhundert staatliche Konstrukte bildeten, die sich zwar vom Empire deutlich absetzten und Strukturelemente entwickelten, die später von Nationalstaaten übernommen wurden, deren Vorhandensein aber keinesfalls zu einer frühzeitigen und ahistorischen Bestimmung des Nationalstaates führen sollte. Die Kontingenz des nationalstaatlichen Narrativs tritt etwa in der Vorbereitung auf die Volkszählung des Jahres 1869 deutlich zu Tage, als Administrativstatistiker vor der Frage standen, wie der Staat, den sie durch ihre Vermessung zu bestimmen hatten, überhaupt beschaffen sei.11 Solche Momente eröffnen in den Quellen einen Ausblick auf alternative Entwicklungsräume.12 Für den vorliegenden Beitrag gehe ich von der Prämisse aus, dass das 19. Jahrhundert weniger ein Jahrhundert des Nationalstaatlichen war, als vielmehr ein Zeitalter moderner Staatlichkeit.13 Insbesondere europäische Staaten standen dabei im Wettbewerb zueinander, noch in den 1860er-Jahren war keinesfalls entschieden, dass der Nationalstaat eine hegemoniale Position für sich beanspruchen konnte. Solange andere Formen von Staatlichkeit den sich ständig verschärfenden Anforderungen an Modernität genügen konnten, blieb die Auseinandersetzung of-
Staatlichkeit im Osmanischen Reich 1869–1910, Paderborn 2016; MILLÁN Jesús, Von der dynastisch-katholischen Weltmacht zum spanischen Staat. Zur Diskussion eines liberalen Staatsbildungsprozesses zwischen Absolutismus und Massengesellschaft, in: Historische Zeitschrift 302/2 (2016), 363–389. 10 Als Beispiel für starke Dichotomisierung LEONHARD Jörn/HIRSCHHAUSEN Ulrike von, Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2011. 11 Im Quellenbestand wird das etwa bei FICKER Adolf, Vorträge über die Vornahme der Volkszählung in Österreich: Gehalten in dem vierten und sechsten Turnus der statistisch-administrativen Vorlesungen, in: Mittheilungen aus dem Gebiete der Statistik 17/2 (1870) 1–142, hier ab S. 27 besonders anschaulich. Vgl. auch GÖDERLE Wolfgang, Administration, Science, and the State: The 1869 Population Census in AustriaHungary, in: Austrian History Yearbook 47 (2016), 61–88. 12 Vgl. FILLAFER Franz Leander/WALLNIG Thomas (Hg.), Josephinismus zwischen den Regimen. Eduard Winter, Fritz Valjavec und die zentraleuropäischen Historiographien im 20. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2016. Insbesondere die hervorragende Einleitung, die präzise nachzeichnet, wie zentraleuropäische Geschichtserzählungen des 20. Jahrhunderts retrospektiv Perspektiven entwarfen. 13 Vgl. Maier, Leviathan 2.0.
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fen. Auf welchen Ebenen wurden die Definitionskriterien für moderne Staatlichkeit aber festgelegt und ausverhandelt? Wer nahm auf die daraus resultierenden Normen Einfluss und wie konnte deren Einhaltung sichergestellt werden? Wissen und Herrschaft Moderne Staatlichkeit im europäischen Kontext entwickelte sich in enger Abhängigkeit von der Fähigkeit bürokratischer Apparate, Wissen zu erzeugen, zu verwalten und anzuwenden. Die administrative Kenntnis sozialer Wirklichkeiten schuf Möglichkeiten des Vergleichs zwischen Orten und Regionen, es konnten zunehmend Faktoren identifiziert werden, die Aspekte der sozialen Welt in der einen oder anderen Weise beeinträchtigten, es eröffneten sich Möglichkeiten des ausgleichenden und verbessernden Eingriffs. Aus dieser Perspektive besehen war Wissenserzeugung ein Herrschaftsmittel.14 Staatliche Wissensproduktion erfuhr dabei in Zentraleuropa im 19. Jahrhundert eine enorme Ausweitung, in mehreren Dimensionen: Die Übernahme von Elementen der Aufklärung in Herrschaftsrepertoires im 18. Jahrhundert katalysierte ein neues Weltbild und eine verbreitete Akzeptanz von Wissensformen, die davor sozialen Eliten vorbehalten war. In weiterer Folge veränderte sich das Herrschaftsgefüge, im sukzessiven Rückbau von Relikten einer feudalen Gesellschaftsordnung entwickelten sich neue Aufgabenfelder für eine rapide expandierende Staatlichkeit, aber auch eine neue Beziehung zwischen Herrschenden und Beherrschten, die keinesfalls eindimensional konzeptualisiert werden darf.15 Bürokratisches Wissen stellte eine zentrale Herrschaftsressource für moderne Staatlichkeit zur Verfügung, wobei dessen Entstehung und Anordnung zumindest in Teilen nach aufgeklärten Vorstellungen ablief. Der vorliegende Beitrag stützt sich insbesondere auf den Bereich der Administrativstatistik des Habsburgerreiches zwischen den 1820er-Jahren und den 1860er-Jahren, ein Feld, in dem sich vor allem die Ideen, Vorstellungen und Postulate von Kameralisten wie Sonnen-
14 Vgl. grundlegend HOLENSTEIN André, Gute Policey und die Information des Staates, in: Arndt Brendecke (Hg.), Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, Berlin, Münster 2008, 201–213. Siehe auch BERG Gunhild/TÖRÖK Borbála Zsuzsanna/TWELLMANN Markus (Hg.), Berechnen / Beschreiben. Praktiken statistischen (Nicht-)Wissens 1750–1850, Berlin 2015. 15 Vgl. dazu beispielhaft TANTNER Anton, Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen – Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie, Wien 2004.
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fels und von Polizeiwissenschaftlern wie Justi als einflussreich und langlebig herausstellten.16 Die Administrativstatistik nahm insgesamt eine Sonderrolle ein, ebenso wie die Kartographie, die beide einen starken Bezug zu objektivierbaren Wirklichkeiten für sich beanspruchen konnten. Karten und statistische Tafeln verband die Fähigkeit, räumliche und soziale Strukturen in Gesellschaften zu visualisieren, dahinter wurden Strukturen vermutet, deren Freilegung über wissenschaftliche Verfahren einerseits neue Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten, andererseits aber auch Gelegenheiten zur Partizipation und Emanzipation verschiedener Gruppen bieten würden.17 Um diesem Anspruch auch gerecht werden zu können, mussten konkrete Anforderungen an Wissenschaftlichkeit befolgt werden.18 Dabei waren weder Karten noch statistische Tafeln zu dieser Zeit noch innovative Neuerungen, die technischen und medialen Entwicklungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts evozierten in Verbindung mit neuen Vorstellungen von Objektivität aber erstmals Möglichkeiten, nicht nur die Darstellungspotentiale, die diese beiden Medien besaßen, großmaßstäblich zur Anwendung zu bringen, sondern sie auch als Mittel zur Analyse und Verwertung von Wissen zu nützen.19 Das gesteigerte Interesse an dem in Karten und statistischen Tafelwerken eingelagerten Wissen manifestierte sich auch in einer wachsenden öffentlichen Nachfrage. Wissensbestände, die noch wenige Jahrzehnte zuvor ein exklusives herrschaftliches Machtwissen konstituiert hatten, wurden nach 1840 nicht nur in Zentraleuropa sukzessive für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich. Diese Öffnung
16 Siehe zum Kameralismus SANDL Marcus, Ökonomie des Raumes. Der kameralwissenschaftliche Entwurf der Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert, Köln u. a. 1999; zur Polizeiwissenschaft ISELI Andrea, Gute Policey. Öffentliche Ordnung in der Frühen Neuzeit, Stuttgart 2009. 17 Vgl. GÖDERLE Wolfgang, Modernisierung durch Vermessung? Das Wissen des modernen Staats in Zentraleuropa, circa 1760–1890, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017) 155–186. 18 Vgl. Göderle, Zensus 113 ff. 19 Vgl. GOODY Jack, The Domestication of the Savage Mind, Cambridge 1977; vgl. auch KITTLER Friedrich, Aufschreibesysteme 1800/1900, München 2003. Zur analytischen Umsetzung siehe auch HANSEN Jason D., Mapping the Germans. Statistical Science, Cartography & the Visualization of the German Nation, 1848–1914, Oxford u. a. 2015.
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vollzog sich im breiteren Kontext der Erkenntnis, dass dieses Wissen das wirtschaftliche Wachstum, im konkreten Fall in Zentraleuropa, beschleunigen und verstärken könnte.20 Die neu entstehende Klasse an Experten, derer Unterstützung Staaten zur Wahrnehmung der neuen Aufgabenkomplexe bedurfte, rekrutierte sich aus einer Bevölkerungsgruppe, die ein enormes Wachstum erfuhr: Neben den Mitgliedern der (niedrigeren) Aristokratie traten insbesondere Angehörige des Bürgertums, die bestimmte Ausbildungskriterien erfüllten, in staatliche Dienste ein. Das Bürgertum war in Zentraleuropa eine in Breite und Tiefe sehr heterogene Gruppe, größere und kleinere Unternehmer, Kaufleute und Bankiers gehörten ihm ebenso an wie Lehrer, Angestellte und Handwerker. Statistiker im 19. Jahrhundert Anhand des Lebensverlaufes und der Aktivitäten einer zentralen Figur in der Statistik des Habsburgerreiches des 19. Jahrhunderts wird eine biographische Skizze gezeichnet, die über das Persönliche hinaus paradigmatische Bilder und Verbindungen zwischen einzelnen Personen und Gruppen sichtbar machen soll. Damit soll auch der Unschärfe, die in den Abgrenzungen von Gruppenbeziehungen stets zutage treten, eine Aufmerksamkeit zukommen, die es erlaubt, das Changieren und den ständigen Wechsel in solchen Akteurskollektiven herauszuarbeiten.21 Karl von Czoernig nahm in der zentraleuropäischen Statistik eine Pionierfunktion ein. Eine umfassendere Betrachtung seiner Vernetzung und seines beruflichen Wirkens vor dem Hintergrund jüngerer Forschungserkenntnisse steht bislang jedoch noch aus. Czoernig deckt dabei im Großen und Ganzen die ersten drei Jahrzehnte vor der Jahrhundertmitte ab und repräsentiert einen längeren Zeitabschnitt in der Entwicklung moderner Staatlichkeit in Zentraleuropa.22 Es wird in der Folge
20 Siehe etwa v. W., Das statistische Bureau in Preußen, in: Journal des Oesterreichischen Lloyd (Centralorgan für Handel, Industrie, Schiffahrt und Volkswirthschaft) 132 (17.8.1846), 1–2. 21 Vgl. auch SIEMANN Wolfram, Metternich. Stratege und Visionär, München 2016. Siemanns magistrale Arbeit bietet ein neues Epochenporträt, das an vielen Stellen Anknüpfungspunkte für Überlegungen zu einer Kollektivbiographie von Angehörigen des Bürgertums und des Adels im frühen 19. Jahrhundert bereitstellt. 22 Vgl. RUMPLER Helmut, Carl Josef Czoernig Frh. von Czernhausen als „Vater“ der österreichischen Verwaltungsstatistik, in: Christian Brünner et al. (Hg.), Mensch – Gruppe – Gesellschaft: Von bunten Wiesen und deren Gärtnerinnen bzw. Gärtnern. Festschrift für Manfred Prisching zum 60. Geburtstag, Band 2, Graz 2010, 833–848.
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dargelegt werden, dass er mitnichten ausschließlich als „Statistiker“ tätig war, vielmehr werden mannigfaltige Bezüge zu anderen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Handlungsfeldern zutage treten, vor allem aber stellte er auch einen spezifischen Repräsentanten eines habsburgischen Bürgertums zu einer spezifischen Zeit dar. Auch auf diesen Aspekt, die persönlichen Hintergründe, die Herkunft und das Aufwachsen, wird eingegangen. Und schließlich treten an diesem Protagonisten einer Verwaltungsgeschichte des 19. Jahrhunderts, aber auch einer Wissenschaftsgeschichte, einer politischen Geschichte, einer Sozialgeschichte, spezifische räumliche Bezugsrahmen hervor: Czoernig wie auch seine Kollegen zeichneten sich durch eine hohe Mobilität aus. Sie hatten an unterschiedlichen Orten gearbeitet, im Rahmen ihres Dienstauftrages Reisen auf sich genommen und kannten sowohl das Habsburgerreich selbst, als auch das europäische Umland. Sie verfügten über ein Bild des Staates, das sich auf persönliche (auch berufliche) Erfahrungen gründete, zugleich agierten sie in einem transimperialen, später zunehmend internationalen Umfeld.23
ANFÄNGE ZENTRALER W ISSENSERZEUGUNG
STAATLICHER
Das frühe 19. Jahrhundert in Zentraleuropa Mit der Gründung des Kaiserthums Oesterreich 1804 entstand in der Theorie ein zentralistischer Einheitsstaat in Zentraleuropa, wenngleich die (unveränderte) Verwaltungsstruktur diesem Anspruch nicht zu folgen vermochte. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Revolutionsjahr 1848 wurden umfassende Anpassungen und Reformen vorgenommen, die eine Grundlage für einen weitreichenderen Umbau der Monarchie in eine Struktur, auf die das Prädikat „moderner Staatlichkeit“ im zeitlichen Kontext zutraf, schufen. Die massiven und tiefgreifenden Veränderungen blieben aber dem sogenannten Neoabsolutismus vorbehalten. Das Kaiser-
Diese biographische Skizze entspricht dem gegenwärtigen state of the art, eine vollständige Biographie liegt nach dem Wissen des Verfassers noch immer nicht vor. 23 Vgl. Schär, Tropenliebe 12 ff.
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tum, wenngleich in Idee und Theorie Zentralstaat, operierte vorerst in jener imperialen Verfasstheit weiter, die die deutliche Handschrift des als Modernisierers bekannten Joseph II. trug.24 Eine Stärkung zentralstaatlicher Entscheidungskompetenzen und Durchgriffsmöglichkeiten blieb auch unter Franz I./II. ein politisches Ziel.25 Parallel zur nach wie vor bestehenden ständischen Herrschaftspragmatik wurden, primär unter den Schlagworten militärischer bzw. fiskalischer Bedürfnisse, neue und kostspielige Operationen zur Generierung von Wissen begonnen.26 So wurde 1807 weitestgehend unumstritten die Zweite (später Franziszeische genannte) Landesaufnahme angefangen, 1817 wurde auch mit einer erneuten Katastervermessung angefangen. Knapp 100 Jahre nach dem Beginn des Censimento Milanese wurde die so erfolgwie folgenreiche Maßnahme aus einer imperialen Randlage in das Zentrum des Habsburgerreiches getragen und dort, verbunden mit den gutfunktionierenden Technologien der Triangulation, zur Erzeugung eines herrschaftlichen Machtwissens nutzbar gemacht, das auf mittlere Sicht das Verhältnis zwischen dem Herrscher und seinen ständischen Mittelsleuten maßgeblich verändern würde. Schließlich war der Kaiser im Begriff belastbare Informationen zu den Besitzständen und Einkommensverhältnissen der Grundherrschaften und Untertanen herzustellen und würde auf dieser Grundlage die Praktiken der Besteuerung anpassen können.27
24 Vgl. Göderle, Zensus 21 f.; Nellen/Stockinger, Staat; sowie insbesondere BRANDT Harm-Hinrich (Hg.), Der österreichische Neoabsolutismus als Verfassungs- und Verwaltungsproblem. Diskussionen über einen strittigen Epochenbegriff, Wien/Köln/Weimar 2014. 25 Vgl. auch den Überblick bei BRANDT Harm-Hinrich, Einleitung, in: Brandt, Neoabsolutismus 11–30. 26 Vgl. auch das in diesem Kontext gebräuchliche Konzept des fiscal-military state: HOCHEDLINGER Michael, The Habsburg Monarchy: From ›Military-Fiscal State‹ to ›Militarization‹, in: Christopher Storrs (Hg.), The Fiscal-Military State in EighteenthCentury Europe, Farnham/Burlington 2009; sowie TORRES SANCHÉZ Rafael, War, State and Development. Fiscal-Military States in the Eighteenth Century, Pamplona 2007. 27 Zu den jüngeren Arbeiten zu den Landesaufnahmen 250 Jahre Landesaufnahme. Eine Festschrift, hg. vom Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, Wien 2014. Vgl. auch ZEGER Josef, Die historische Entwicklung der staatlichen Vermessungsarbeiten (Grundlagenvermessungen) in Österreich, Bd. 1: Verschiedene Arbeiten vom Altertum zum Ersten Weltkrieg, Wien 1992; HOFSTÄTTER Ernst, Beiträge zur Geschichte der österreichischen Landesaufnahmen, 2 Bde., Wien 1989. Zur Erzeugung von Wissen zum Zweck der Besteuerung: DROBESCH Werner, Bodenerfassung und
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Während die Katastervermessungen und Landesaufnahmen zunächst vom General-Quartiermeister-Stab lanciert und bald an eigens geschaffene zentralstaatliche Einrichtungen übertragen wurden, blieben andere Facetten der zeitgenössisch als vielversprechend erachteten Herrschaftswissensproduktion vorerst noch unberührt. In der Statistik, die im zentraleuropäischen Verwaltungsdiskurs des frühen 19. Jahrhunderts sehr häufig als Zwilling einer „topographischen Landesbeschreibung“ evident wurde, blieb zunächst ein vergleichbarer Kraftakt zur Herstellung eines einheitlichen zentralstaatlichen Zahlenwissens über die „Bevölkerung“ und deren Verhältnisse aus.28 Zentrale Wissensformationen moderner Staatlichkeit Die Operationen zur militärischen und ökonomischen Aufnahme, wie die Landesund Katasteraufnahmen häufig genannt wurden, stellten Unternehmungen einer neuen Qualität für das Habsburgerreich wie auch für viele andere Imperien dar. Sie erforderten neue Technologien und Verfahren zur Speicherung und Pflege enormer Informationsmengen, vereinheitlichte methodische Zugänge, gut geschultes und ausgebildetes Personal, teure Hilfsmittel und langfristige Planung. Der finanzielle Aufwand zur Vornahme dieser Operationen war also beträchtlich. Dazu ergaben sich neue personelle Erfordernisse. Zu deren Deckung musste man bereits für die Josephinischen Aufnahmen auf das Militär zurückgreifen, das alleine dazu in der Lage war, die Bedürfnisse im Hinblick auf die Menge und die Qualifikation des benötigten Personals zu decken. Nicht nur für offizielle kartographische Unternehmungen, auch für andere Bereiche innerhalb einer stärker auf Straffheit, Effizienz und Optimierung – vor dem Hintergrund von Kameralismus und Polizeiwissenschaft – abzielenden Verwaltung, die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts im Bereich der Zentralstellen im Wachsen inbegriffen war, wurden im zunehmenden Umfang Personen mit speziellen Fähigkeiten und Ausbildungen benötigt. Landesaufnahmen und umfassende „statistische“ Erhebungen – die Bedeutungshorizonte des Begriffes „Statistik“ unterlagen gerade am Beginn des 19.
Bodenbewertung als Teil einer Staatsmodernisierung. Theresianische Steuerrektifikation, Josephinischer Kataster und Franziszeischer Kataster, in: Reto Furter/Anne-Lise Head-König/Luigi Lorenzetti (Hg.), Les migrations de retour. Rückwanderungen, Zürich 2009, 165–185; SCHARR Kurt, Der Franziszeische Kataster als Mittel der Raumkonsolidierung in der Habsburgermonarchie am Beispiel der Bukowina, in: 250 Jahre Landesaufnahme, 39–50. 28 Vgl. zur Organisation der Landesaufnahmen: Zeger, Entwicklung 46 ff.
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Jahrhunderts einer weitreichenden Neudefinition – konstituierten die beiden zentralen Felder einer „modernen“ staatlichen Wissenserzeugung, da beide Maßnahmen darauf abzielten, dem Herrscher einen neuen Blick auf Ressourcen zu gewähren, einen Blick, der ihm durch die wechselseitigen Verpflichtungen und die indirekte Herrschaftsstruktur eines ancien régime im weiteren und des Alten Reiches im engeren Sinne verstellt geblieben war.29 Tatsächlich sollten Statistik und Kartographie im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts neue Perspektiven auf einen Staat ermöglichen, der durch die Maßnahmen zur Herstellung dieser spezifischen Wissensformationen in entscheidendem Umfang mitkonstituiert wurde. Weder Statistik noch Kartographie vermochten das Herrschaftsgefüge des ancien régime zu durchdringen, aber sie entwarfen jeweils alternative Sichtweisen auf das soziale Gefüge und erlaubten es, imperiale Herrschaft im Habsburgerreich im 19. Jahrhundert unter sukzessiver Umgehung der bislang an der Herrschaft beteiligten Stände zu umgehen. Dazu stützte sich der Kaiser auf ein aufstrebendes Bürgertum, auf dessen Fähigkeiten und Kompetenzen und auf dessen Abhängigkeit vom existenzsichernden Dienstverhältnis. Staatliche Wissensarbeiter Die überwiegende Mehrzahl der Kartographen und Statistiker, also der Juristen, Historiker, Philologen, Offiziere und Naturwissenschafter, die sich dahinter verbargen, die im letzten Drittel des 18. und im frühen 19. Jahrhundert in wachsenden Zahlen in den Zentralstellen Arbeit und ein Einkommen fanden, entstammten bürgerlichen und kleinadeligen Verhältnissen. Ihre wichtigste Ressource bestand in den Kompetenzen, die sie sich in dieser angeeignet hatten.30 Insbesondere Juristen hatten schon vor dem 18. Jahrhundert über gute Beschäftigungsmöglichkeiten verfügt, ihre Kenntnisse und Fertigkeiten waren auch in der grundherrschaftlichen und städtischen Verwaltung sowie darüber hinaus gefragt.31 Für andere Ausbildungswege ergaben sich erst mit der massiven Expansion der Zentralstellen Beschäftigungsmöglichkeiten und berufliche Perspektiven, die es denkbar erscheinen ließen, dass auch Personen, die nicht über private Ressourcen zur Existenzsicherung verfügten, damit ein Auskommen finden konnten.
29 Vgl. dazu BEHRISCH Lars, Die Berechnung der Glückseligkeit, Ostfildern 2016, 18 ff. 30 Vgl. HEINDL Waltraud, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich 1780 bis 1848 Wien/Köln/Graz 1990, 30; N.N., Czoernig Freiherr von Czernhausen, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich 3, 1858, 117–120. 31 Heindl, Rebellen 98.
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Abgesehen von einigen Pionierarbeiten, die das Studium eines sich entwickelnden und sich rasch vergrößernden Berufsbeamtentums erst eröffnet haben, lässt sich konstatieren, dass nach wie vor nur wenig Forschung zu den Tätigkeiten, beruflichen Selbstverortungen und Aktivitäten einer sozialen Gruppe existiert, die im 19. Jahrhundert schnell und entschieden einen maßgeblichen Anteil an vielen tiefreichenden Entwicklungen hatte: des Bürgertums, das durch seine Arbeit in den besagten Zentralstellen viele kaiserliche Entscheidungen zur Umsetzung brachte, bzw. in der einen oder anderen Art und Weise daran Teil hatte. Zwar existiert eine umfangreiche und profunde Bürgertumsforschung, deren Erkenntnisse die Entstehung und Konsolidierung einer zentralen Gruppe moderner Gesellschaften umfassend ausleuchten, und die auch deren politische Präferenzen und Interessen miteinbezieht. In anderen Feldern, nicht zuletzt der jüngeren Wissenschaftsgeschichte, spielten die bürgerlichen Hintergründe der Akteure vielfach eine Rolle, ohne dass diesen jedoch in aller Regel erschöpfend nachgegangen wurde.
S TATISTISCHE I NSTITUTIONALISIERUNG Anfänge der Institutionalisierung Die Institutionalisierung der Herstellung eines systematischen Wissens über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich auf der Grundlage einer quantitativen Beschreibung entsprang zunächst keiner herrschaftlichen Initiative. Anders als in den Landes- und Katasteraufnahmen hatte die Statistik für die Zentralstellen zunächst keine hohe Priorität. Zwar wurde seit den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts immer wieder über eine topographisch-statistische Anstalt nachgedacht, wiederholt auf Allerhöchste Entschließung, aber bis weit in die 1820er-Jahre kam es noch zu keiner Initiative zur Umsetzung.32 Erst 1829 wurde ein statistisches Bureau ins Leben gerufen, unter der Leitung von Anton von Baldacci, in dessen GeneralRechnungs-Directorium die neue Einrichtung auch angesiedelt wurde. Baldacci wurde über ein kaiserliches Kabinettschreiben beauftragt, seine Handlungsspiel-
32 Vgl. MEYER Robert (Hg.), Denkschrift der K.K. Statistischen Zentralkommission zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestandes, Wien 1913, 4 ff. Auf diese äußerst quellennah und detailreich gehaltene Arbeit wird im Weiteren häufig zugegriffen, da deren Verfasser noch Quellen zur Verfügung standen, die seither als verschollen gelten. Vgl. die Einleitung bei Tantner, Ordnung.
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räume in der Umsetzung wurden aber sehr eng bemessen: „Ich überlasse die Ausführung ganz Ihrem Ermessen, nur unter den Bedingungen, daß daraus keine neuen Personalanstellungen oder Vermehrungen abgeleitet; ferner keine mit Aufsehen verbundenen Erhebungen veranlaßt; endlich die vollbrachten Zusammenstellungen nicht an Behörden oder Personen mitgeteilt werden, welche nicht nach ihrem Dienstberufe davon in Kenntnis zu stehen berechtigt sind.“ 33 Der Wunsch des Kaisers, über statistische Tafeln eine Wissensformation für den ausschließlichen Gebrauch im Verwaltungskontext herzustellen, blieb im zeitlichen Kontext nicht gänzlich unwidersprochen, die nachdrückliche Forderung, einschlägige Informationen als Interna zu behandeln mag in Bezug darauf verstanden werden. Baldacci betraute Johann von Metzburg mit der Entwicklung von Plänen einer Statistik für die Gesamtmonarchie und brachte das statistische Büro zunächst in den Räumlichkeiten seiner Behörde im Mariazellerhof (Johannesgasse 6/Annagasse 5, 1. Wiener Gemeindebezirk) unter, wo zunächst fünf Rechnungsbeamte an der Statistik arbeiteten. Metzburg konnte innerhalb eines halben Jahres eine erste Übersicht für das Jahr 1828 vorlegen, die sämtlichen Zentralstellen und dem Kaiser selbst zur Verfügung gestellt wurden.34 Daraus wurde in der Folge ein erstes Reihenwerk entwickelt, Metzburg machte kein Geheimnis daraus, dass er die Arbeiten gerne einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hätte, was Franz I. nicht gestattete. Das etablierte Arbeitsverfahren, das vorsah, dass untergeordnete Stellen statistische Daten an das statistische Büro lieferten, das die Zusammenstellung und Auswertung vornahm und die Publikationen in der Folge in hoher zwei- oder niederer dreistelliger Auflage auf der höchsten Ebene der Administration und beim Herrscher selbst disseminierte, zeigte nach Zeller negative Auswirkungen dahingehend, dass die Lieferanten und Hersteller der Rohdaten bereits in den frühen 1830er-Jahren keine ausgeprägte Motivation mehr aufwiesen, weiter Informationen zu liefern, deren Auswertung und Analyse sie nicht zu Gesicht bekommen sollten.35
33 Aus dem kaiserlichen Kabinettschreiben vom 6. April 1829, zit. nach ebd. 12. 34 Vgl. ZELLER Wilhelm, Geschichte der zentralen amtlichen Statistik in Österreich, in: Geschichte und Ergebnisse der zentralen amtlichen Statistik in Österreich 1829–1979. Festschrift aus Anlaß des 150jährigen Bestehens der zentralen amtlichen Statistik in Österreich, Wien 1979, 19 f. 35 Ebd. 20 ff.
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Die statistischen Tafeln entwickelten bereits früh einen Doppelcharakter, einerseits dienten sie einem amtlichen Gebrauch, andererseits berücksichtigte Metzburg schon frühzeitig auch „wissenschaftliche“ Aspekte in der Datenauswertung.36 Analyse und Darstellung der Daten folgten in Struktur und Anordnung der offiziellen Gliederung des Kaiserstaates in 15 Provinzen, die statistische Präsentation ging damit der institutionellen Homogenisierung auf der Ebene der Verwaltung voraus. Damit entstand in der Statistik der Zentralstellen in den frühen 1830er-Jahren ein Schattenbild moderner Staatlichkeit, das eine Operationalisierung der so skizzierten Verwaltungsstrukturen um fast zwei Jahrzehnte vorwegnahm.37 Das statistische Wissen, das in den späten 1820er-Jahren und durch die 1830er-Jahre hindurch produziert wurde, wurde nur in kleinsten Auflagen publiziert, zumeist einmal als „Hofausgabe“ und als wesentlich schlichter gestaltete Ausgabe für die Zentralstellen. Letztere enthielten dabei nicht alle Daten, sie verzichteten insbesondere als sensibel erachtete Militär- und Finanzdaten. Für diesen restriktiven Umgang mit Wissen zeichnete Franz I. persönlich verantwortlich. Staatswissen wurde als Herrschaftswissen behandelt, daran hielt auch Ferdinand I. (1835–1848) zunächst fest. Damit trafen konservative herrschaftliche Selbstverständnisse auf eine staatliche Infrastruktur, die bereits in erheblichem Maße Wissen erzeugte und zu zirkulieren suchte. Viele der Konflikte, die Franz I. im Hinblick auf die Statistik austrug, entwickelten sich von dieser Bruchlinie ausgehend, ein sich als Letztentscheider verstehender Herrscher stieß insbesondere in den 1830er-Jahren auch an die quantitativen Grenzen des Wissens, das er selbst noch verarbeiten konnte. Mit der Übernahme der Leitung des General-Rechnungs-Directoriums durch Karl Friedrich von Kübeck 1839 kam es zu einer rascheren Entwicklung der zentralen Statistik: Durch Kaiser Ferdinand I. wurde am 31. März 1840 die Einrichtung der k.k. Direction der administrativen Statistik verfügt.38 Diese entwickelte eine umfassende Tätigkeit, nachdem 1841 Karl von Czoernig, bis zu diesem Zeitpunkt Präsidialsekretär der Lombardei, die Leitung übernahm.39
36 Ebd. 20. 37 Vgl. Meyer, Denkschrift 14 f. 38 Vgl. BRANDT Harm Hinrich, Kübeck von Kübau, Carl Friedrich Freiherr (österreichischer Ritter 1816, Freiherr 1825), in: Neue Deutsche Biographie 13, Berlin 1982, 169–171. 39 Vgl Meyer, Denkschrift 24 f.
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Musterbeamte Unter den bereits genannten Akteuren befanden sich einige prototypische Vertreter des habsburgischen Berufsbeamtentums der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Kübeck, Baldacci, Metzburg gehörten dieser Gruppe an.Ein Blick auf die Gemeinsamkeiten, die diese drei Beamten teilten, könnte bereits als grobe Skizze einer sozialen Gruppe dienen, deren Vertreter zwischen der Jahrhundertwende und dem Revolutionsjahr 1848 an vielen wichtigen Positionen saßen. Kübeck (*1780) entstammte einer Handwerkerfamilie aus Mähren, sein Vater war Schneidermeister gewesen, seine Mutter war die Tochter eines Bindermeisters. Nach dem Gymnasium in Znaim ermöglichte ihm ein kaiserliches Stipendium das Studium der Rechtwissenschaften an der Universität Wien. 1801 trat er in den Staatsdienst ein und arbeitete sich schnell nach oben.40 Baldacci (*1762) wurde in eine Familie geboren, die in den frühen 1730erJahren aus Korsika eingewandert war, sein Vater war kaiserlich-königlicher Obristwachtmeister, seine Mutter die Tochter eines höheren Hofbeamten. Er besuchte das Theresianum in Wien und trat 1781 in den Staatsdienst ein, in dem er recht kontinuierlich aufstieg und am Ende als Präsident dem General-Rechnungsdirectorium vorstand.41 Metzburg (*1780) schließlich war der Sohn eines Diplomaten, seine Mutter war die Tochter eines Hofrats der Hofkanzlei. Er besuchte das Theresianum und absolvierte in der Folge ein juristisches Studium an der Universität Wien.42 Wenngleich alle drei Genannten mehr oder weniger in den gehobenen Staatsdienst aufstiegen, so muss ihr beruflicher Erfolg doch im Rahmen eines gewissen Erwartungshorizontes angesiedelt werden: Baldacci und Metzburg kamen aus arrivierten Familien, vor allem letzterer hatte einen sehr wohlhabenden familiären Hintergrund aufzuweisen. Kübeck stieg, gemessen an seiner Ausgangsposition, am bemerkenswertesten auf, wobei sein sozialer Hintergrund keineswegs schlecht war, aber im Unterschied zu den beiden anderen verfügte er über keine Verbin-
40 Vgl. Brandt, Kübeck. 41 Vgl. RÖSSLER Hellmuth, Baldacci, Anton Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie 1, Berlin 1953, 548. 42 Vgl. OTRUBA Gustav, Metzburg, Johann Nepomuk Freiherr von, in: Neue Deutsche Biographie 17, Berlin 1994, 250 f.
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dungen zur Staatsverwaltung. Sowohl das Theresianum als auch das Rechtsstudium, vor allem (aber nicht nur) an der Universität Wien waren Stationen, die für Karrieren im gehobenen Dienst der Verwaltung qualifizierten.43 Czoernig, der 1804 geboren wurde und damit ein bzw. zwei Generationen jünger als die Genannten war, fügte sich soweit gut in den beschriebenen Hintergrund ein: Sein Vater war Beamter der Herrschaft Clam-Gallas, seine Mutter die Tochter eines Leinenfabrikanten in Reichenberg. Czoernig besuchte zunächst die Gymnasien in Jicin und Prag und nahm anschließend das Studium der Rechtswissenschaften in Wien und Prag auf. 1828 trat er in den Staatsdienst ein und war anschließend zwei Jahre lang in Triest tätig (1829–30) ehe er nach Mailand versetzt wurde, und dort 1834 zum Präsidialsekretär des Gouverneurs Graf Hartig aufstieg. Aus dieser Position heraus wurde er 1841 nach Wien an die Spitze der Direktion der administrativen Statistik berufen.44 Czoernigs analytische Fähigkeiten fielen zumindest seinen akademischen Lehrern früh auf, einer von ihnen, Joseph Kudler, bezeichnete ihn dem Vernehmen nach als „künftigen Dupin Oesterreichs“.45 Kudler war selbst ein Rechtswissenschaftler, der sich stark auf die staatswissenschaftlichen Aspekte seines Faches verlegte und als Mitbegründer und Leiter mehrerer Vereine in Erscheinung trat, die sich in einem breiten Tätigkeits- und Interessensspektrum bewegten, von finanziellen über industrielle hin zu sozialen Agenden. Czoernig selbst trat nach dem Abschluss seines Studiums neben seiner Tätigkeit als Beamter früh als Publizist hervor, er veröffentlichte 1829 Topographischhistorisch-statistische Beschreibung von Reichenberg. Nebst einem Anhange: Die Beschreibung von Gablonz enthaltend und 1831, als er sich bereits in Triest aufhielt, Ueber den Freihafen von Venedig, mit Rücksicht auf den österreichischen Seehandel im Allgemeinen. In der Folge, während seiner Tätigkeit in Mailand, befasste er sich eingehend mit der Erarbeitung einer Statistik Lombardo-Venetiens. Statistik trat in diesen Arbeiten noch in ihrer engen Verbindung zur Staatswissenschaft zutage, nicht als ausschließlich quantifizierende Beschreibungs- und Analysemethode. Die frühen Arbeiten Czoernigs vertraten einen bemerkenswert
43 Vgl. Heindl, Rebellen 93 ff.; BEER Siegfried/GÉMES Andreas/GÖDERLE Wolfgang/MUIGG Mario, Institutional Change in Austrian Foreign Policy and Security Structures in the 20th Century, in: Andreas Gémes/Florencia Peyrou/Ioannis Xydopoulos (Hg.), Institutional Change and Stability. Conflicts, Transitions and Social Values, Pisa 2009, 177–204, 186 ff. 44 Vgl. N.N., Czoernig Freiherr von Czernhausen, in: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich 3, 1858, 117–120. 45 Ebd. 117.
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breiten Ansatz hinsichtlich der Einbeziehung und Verwertung von Informationen und Daten. Czoernig entwickelte sich, und das zeigt sich am deutlichsten in seiner bekanntesten Arbeit, der Ethnographie der oesterreichischen Monarchie, zu einem Meister der Zusammenstellung, er verband Karten mit statistischen Daten, bezog daraus entstehende Bilder in einen weiter gedachten historischen Kontext ein und erzeugte so einige nachhaltige und weitreichende Repräsentationen insbesondere des neoabsolutistischen Staates.46 Czoernigs Arbeiten, und insbesondere seine Ethnographie, stießen auf ein reges öffentliches Interesse. Mit seinem Hauptwerk erwarb er sich ein anhaltendes Renommee als Wissenschaftler. Dabei profitierte er davon, dass ein wissenschaftliches Berufsbild des Statistikers in den 1840er und 1850er-Jahren noch nicht klar ausdefiniert war.47 Seit den 1830er-Jahren befand sich ebendieses in einem massiven Umbruch: Mit der Institutionalisierung der Verwaltungsstatistik als Methode unter dem maßgeblichen Einfluss von Adolphe Quetelet wurden komplexere mathematische Verfahren herangezogen, deren korrekte Anwendung durch Beamte ein größeres und spezielleres Vorwissen erforderte.48 In der Anlage und Ausgestaltung der staatlichen Statistik gewannen dabei transimperialer Austausch und die Beziehungen, die zwischen den Fachleuten unterschiedlicher Länder bestanden, zunehmend an Bedeutung. Wissensproduktion und -distribution durch Privatgelehrte und „Literaten“, die häufig in der Staatsverwaltung tätig waren, war der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit verbreitet. Solcherart entstandenes und vielfach auch in Umlauf gebrachtes Wissen hatte dabei häufig einen engen Bezug zu staatlichen Wissensinteressen: von Landesbeschreibungen über Reiseberichte bis hin zu statistisch-topographischen Arbeiten erstreckte sich ein breiter Bogen. Sehr viel von dem so entstandenen Wissen scheint durch das Selbstverständnis von Franz als Herrscher als Ressource ungenutzt geblieben zu sein.49 Umso mehr ist die Frage von Relevanz, warum eine bürgerliche Wissensproduktion in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sozusagen aufblühte, trotz einer restriktiven und misstrauischen Herrschaft. Welche Motivlagen und Erwartungshaltungen bewogen vormärzliche Beamte, Bürger und Aristokraten dazu,
46 Vgl. Hansen, Mapping 56. 47 Vgl. Göderle, Zensus 170 ff. 48 Vgl. RANDERAAD Nico, States and statistics in the nineteenth century. Europe by numbers, Manchester 2010, 10 ff. 49 Vgl. insbes. CLEWING Konrad (Hg.), Roher Diamant Dalmatien. Die habsburgische Verwaltung, ihre Probleme und das Land, wie beschrieben von seinem Gouverneur Lilienberg für Kaiser Franz I., München u. a. 2015, 5 ff.
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staatliche Wissensinteressen teilweise sogar gegen den Herrscherwillen, teilweise im Wissen um kaiserliches Desinteresse, zu bearbeiten? Diese Frage, die bislang dominant über die politischen Interessen der bürgerlichen Protagonisten beantwortet wurde, sollte auch im Hinblick auf den Hintergrund der Veränderung kollektiver kognitiver Strukturen bearbeitet werden. Welche Wissensrepräsentationsmodelle waren im Entstehen, und wie wirkten sich diese auf das geteilte mentale Modell, wie ein Staat funktionieren würde, aus?50
S TATISTIK ALS ZENTRALES I NSTRUMENT STAATLICHER W ISSENSERZEUGUNG UND V ERWALTUNG Statistik als Disziplin und Verwaltungsinstrument Was bis in die 1830er-Jahren unter Statistik verstanden worden war ging primär auf eine Deutsche oder Universitätsstatistik zurück sowie auf eine englische Tradition der politischen Arithmetik. Beide Schulen wurzelten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, aber während sich die Universitätsstatistik, die eng mit der Universität Göttingen und dort nacheinander den Namen Conring, Achenwall und Schlözer verbunden war, primär auf eine quantitative Beschreibung und elaborierte tabellarische Darstellung verlegte, zog man in der politischen Arithmetik bereits verhältnismäßig früh mathematische Verfahren heran, um Stichproben auf größere Populationen hochzurechnen.51 Quetelet, der von Laplace beeinflusst war, dachte bereits seit den 1810er-Jahren über die Verbindung von Stichprobenverfahren mit einer „modernen“ Bevölkerungsstatistik nach. Die Gelegenheit, seine Überlegungen in die Tat umzusetzen, erhielt er ab den 1830er-Jahren in Belgien. Als Quetelet 1835 sein Hauptwerk Physique sociale veröffentlichte, brachte er damit den Begriff des homme moyen, des durchschnittlichen Menschen in den Diskurs ein. Dieser repräsentierte in jeder Beziehung den Mittelwert der Durchschnittsbevölkerung, von der Größe zum Gewicht. Quetelet ging darüber hinaus und er erachtete seine Annahmen auch für „moralische“ Aspekte, insbesondere Kriminalität als relevant. An der Person und am Werdegang Quetelets lassen sich mehrere Aspekte beobachten, die eine allge-
50 Vgl. RENN Jürgen, From the History of Science to the History of Knowledge – and Back, in: Centaurus 57 (2015), 37–53, 40 f. 51 Vgl. DESROSIÈRES Alain, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Heidelberg 2005, 19 ff.
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meinere Bedeutung haben: Quetelet war ein ausgebildeter Astronom, der scheinbar mühelos in das Feld der Verwaltungsstatistik wechselte, die Denkweisen und methodischen Instrumentarien seiner Ausbildung mitnahm, und dort nutzbar machte. Recht zwanglos wandte er Verfahren, die für die Bearbeitung und Lösung naturwissenschaftlicher Probleme entwickelt worden waren, auf soziale und administrative Fragen an und zog Schlüsse allgemeinerer Natur daraus. Mit dem state of the art seiner Zeit war er vertraut, während eines Forschungsaufenthaltes in Paris im Jahr 1823 hatte er von einigen der bedeutendsten Mathematiker des frühen 19. Jahrhunderts gelernt.52 Von einem Verwaltungswerkzeug, das prinzipiell eine Beschreibung hervorzubringen hatte und eine Darstellung von Sachverhalten in einer möglichst übersichtlichen Art und Weise leistete, wurde durch Quetelet eine Brücke geschlagen, hin zu einem Instrument, das auch eine Vorhersage auf der Grundlage quantifizierter Daten liefern konnte. Zwischen diesen beiden Polen, Beschreibung und Vorhersage, zwischen Statistik als einem Hilfsmittel zur Beschreibung des Sozialen, oder aber als einem Instrument, das in wissenschaftlicher Art und Weise politische Eingriffe evozieren und dazu beitragen konnte, deren Folgen abzuschätzen, entfaltete sich in der Konsequenz das breite Feld der einschlägigen Auseinandersetzung im 19. Jahrhundert. Das Wissen moderner Staatlichkeit: Die 1840er-Jahre und Czoernig an der Spitze der Verwaltungsstatistik Czoernig leitete die Direktion der administrativen Statistik von 1841 bis 1863 und trat in der Folge als erster Präsident an die Spitze der neugegründeten statistischen Zentralkommission. In der ersteren Funktion weitete er zunächst die Quellenbasis für die staatliche Statistik deutlich aus und bezog Datenmaterial mit ein, das nicht nur aus der Verwaltung stammte. Durch eine penible und vor allem sehr aktive Datenakquise gelang es ihm in den darauffolgenden Jahren, die staatliche Statistik insbesondere in den wirtschaftlichen und industriellen Bereichen sehr viel stärker und ergiebiger zu machen.53 Daneben trat er für eine Öffnung der Statistik hin zu den Bürgern ein. Dabei erhielt er massive Unterstützung durch Kübeck, der inzwischen der allgemeinen Hofkammer vorstand und dort zu seiner Verwunderung nur unvollständige Ausgaben der durch das statistische Büro besorgten Auswertungen vorfand. In der
52 Vgl. DESROSIÈRES Alain, Adolphe Quetelet, in: Courrier des statistiques 104 (2002), 3–7. 53 Vgl. Meyer, Denkschrift 25 ff.
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Folge setzte er sich vehement bei Kaiser Ferdinand für eine weitere Öffnung dieser Unterlagen ein. Mit zusätzlicher Unterstützung durch den obersten Kanzler Mettrowsky und den Staatskanzler Metternich wurden ab 1842 umfassendere Bestände zumindest einem größeren Benutzerkreis in der Verwaltung zugänglich gemacht. Ab 1845 stimmte Ferdinand zudem einer Veröffentlichung und dem Verkauf volkswirtschaftlich besonders relevanter Teile der Statistik durch die k.k. Hof- und Staatsdruckerei zu. In den darauffolgenden Jahren wurden die Beschränkungen weiter gelockert.54 Die zunehmende Veröffentlichung vormals als geheim klassifizierten Wissens in den 1840er-Jahren vollzog sich vor dem Hintergrund mehrerer Faktoren: Einerseits argumentierte Kübeck, dass Wissenschaftler und Autoren im Ausland mitunter bessere Arbeitsbedingungen vorfänden als deren Kollegen im Inland, was auch in Publikationen zum Habsburgerreich manifest würde. So würden etwa einige preußische Statistiker offensichtlich über bessere Informationen zum Kaiserstaat verfügen als deren österreichische Kollegen. Für Kübeck bedeutete das einen unnötigen Imageschaden des Kaisertums als moderner Staat auf internationaler Ebene.55 Nicht nur dieses Argument evoziert eine liberalere Auffassung von Staatlichkeit, auch wirtschaftliche Argumente wurden ins Treffen geführt, die darauf hinwiesen, dass eine weitere Öffnung des statistischen Wissens des Staates insbesondere für jene Teile des Bürgertums, die in Handel und Industrie involviert waren, ein wirtschaftliches Wachstum zur Folge haben könnte.56 Ab 1848 stand die Geheimhaltung statistischen Wissens weitestgehend im Hintergrund, der Austausch von Daten und Informationen mit vergleichbaren statistischen Institutionen im Ausland wurde aufgenommen, und wenngleich der Absatz der publizierten Statistischen Tafeln überschaubar blieb, wurden diese Werke
54 Ebd. 27 ff. 55 Ebd. 27 f. Kübeck sprach übrigens von Literaten, und tatsächlich waren statistische Bücher und Lehrbücher ein Gegenstand, der noch vornehmlich im Kontext der Literatur besprochen und behandelt wurde. Zu der Feinfühligkeit, die man insbesondere gegenüber einschlägigen Veröffentlichungen aus Preußen an den Tag legte, vergleiche auch o.V., Besprechung zu Statistik. Lehrbuch der Statistik. Ausgearbeitet von Johann Georg Meusel, in: Chronik der österreichischen Literatur (7. März 1818), 73–75. 56 Vgl. etwa o.V., Ueber Förderung der Statistik durch Privatpersonen, in: Journal des Oesterreichischen Lloyd (13. September 1846), 1–2. Zur Bedeutung der Statistik für den liberalen Staat: Randeraad, States 11 ff.
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über öffentliche Bibliotheken gut zugänglich und für eine breite Öffentlichkeit nutzbar.57 An dieser Stelle kam ein Prozess in Gang, der sich mit einem Konzept von Benedict Anderson als Serialisierung bezeichnen lässt: Eine Angleichung von Vorstellungen und Ausprägungen von Staatlichkeit wurde indirekt dadurch forciert, dass Beamte und Wissenschaftler, in zunehmendem Maße aber auch Politiker und Bürger, auf jene Entitäten und Benennungsangebote zurückgriffen, die durch einen mehrsprachigen, transimperialen Fachdiskurs bereitgestellt wurden.58 Insbesondere Publikationen, die dazu dienen sollten potentiellen Investoren Informationen als Entscheidungsgrundlage anzubieten – und fast alles, was im statistischen und kartographischen Bereich im Habsburgerreich in den 1840er-Jahren publiziert wurde, wurde mit diesem Argument legitimiert – mussten in der der Aufbereitung und Erzeugung ihrer Inhalte sicherstellen, dass diese durch eine transimperiale Klientel entsprechend rezipiert werden konnten. Damit mussten Informationen über Zentraleuropa in eine Struktur transformiert werden, die es beispielsweise französischen Investoren erlaubte, darauf belastbare Erwägungen und Berechnungen aufzubauen. Nicht nur die statistischen und kartographischen Repräsentations- und Darstellungsweisen unterschiedlicher Staaten näherten sich einander an, indem man sich zunehmend auf vergleichbare Parameter und Verfahren einigte. Auch das dahinterliegende strukturelle Verständnis von grundlegenden Funktionen des modernen Staates wurde im Zuge dieses Prozesses „serialisiert“. Diese Unschärfe im Diskurs bedeutete zugleich auch das Herausbilden eines common grounds moderner Staatlichkeit, um deren Ausdeutung es Konflikte gab. Letztere wurden auf mehreren Ebenen ausgetragen: Auf einer transimperialen Ebene unter Beamten und Wissenschaftlern, die untereinander darüber diskutierten, woran sich moderne Staatlichkeit messen ließe und worin sie überhaupt bestünde. Innerhalb von Staaten und Imperien entstanden Konflikte unter Beamten und deren Vorgesetzten, bis hin zu Herrschenden, zumal sich Letztere in zunehmendem Ausmaß einer Einschränkung ihrer Handlungsspielräume ausgesetzt sahen, zumindest, wenn sie Wert darauf legten, als „modern“ zu gelten.
57 Vgl. Meyer, Denkschrift 29. 58 Vgl. Anderson, Seriality 32 ff.
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Statistik im Zentralstaat: 1848 und die 1850er-Jahre Die Direktion der administrativen Statistik vergrößerte sich unter Czoernig kontinuierlich. Er legte Wert auf die fortlaufende Weiterbildung seines Personals, das im Übrigen, ebenso wie er, eine beachtliche private Publikationstätigkeit (teils unter Nützung dienstlicher Ressourcen) entfaltete. Im Dezember 1848 wurde die Direktion dem neugegründeten Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten unterstellt, was ihr zusätzliche Möglichkeiten einräumte. In der Folge wurde Czoernig mehrfach mit zusätzlichen Aufgaben betraut: Von 1850 bis 1852 organisierte er in Triest die Zentralseebehörde.59 Die durch ihn etablierten Mitarbeiter führten die Arbeit soweit fort. Durch die (administrativ besehen zentralstaatlichen) 1850er-Jahre hindurch, die im Zeichen des Neoabsolutismus standen, konnte die statistische Wissensproduktion kontinuierlich ausgeweitet werden, die Publikationsformen und -reihen erfuhren nacheinander eine Neuaufstellung und -ausrichtung, dazu kamen neue Reihenpublikationen, die erstmals auch höhere Auflagen (um die 1.000 Stk.) erreichten.60 Czoernig selbst schaffte es nicht nur, angesichts zahlreicher anderer beruflicher Verpflichtungen und Leitungsaufgaben, die Führung der Direktion der administrativen Statistik fortzusetzen, neben der Ethnographischen Karte, die 1853 vollendet wurde, veröffentlichte er auch weiterhin statistische Auswertungen und Analysen. Das betraf insbesondere Bereiche der Handels- und Industriestatistik.61 Ab 1853 etablierte sich der Internationale Statistische Kongress, der danach regelmäßig in wechselnden Hauptstädten tagte, und institutionalisierte den fachlichen Austausch. Der Kongress stellte nicht nur eine wichtige Plattform für den Austausch von Erfahrungen und Anwendungswissen bereit, er entwickelte sich auch sehr schnell zu einer standardisierenden und normierenden Instanz.62 Dabei bot er eine Bühne, auf der sich verschiedene Auffassungen von Staatlichkeit begegneten, inszenierten und teilweise auch konfrontativ gegeneinander in Stellung brachten. Prinzipiell als administrativer und wissenschaftlicher Erfahrungs- und Wissensaustausch angelegt wurde die Veranstaltung bald zu einer Leistungsschau des jeweiligen Gastgebers. Ein „Heimvorteil“ wurde insbesondere in der Zusammensetzung der Konferenzbesucher evident: Von den – in den 1850er-Jahren – durchschnittlich 200 bis 250 Besuchern stammten zumeist rund
59 Vgl. Meyer, Denkschrift 30 ff. 60 Ebd. 61 Ebd. 38 ff. 62 Ebd.
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80 Prozent aus dem jeweiligen Gastgeberland. Dazu hatten die Gastgeber das Privileg, die Agenda festzulegen.63 Aber transimperiale Beziehungsnetzwerke etablierten sich auch über den Rahmen der Kongresse hinaus. So agierten und publizierten die Protagonisten der zentraleuropäischen Verwaltungsstatistik häufig in einem viel weiter gefassten, teilweise auch globalen, Handlungs- und Bezugsrahmen.64 An der Organisation des ersten internationalen statistischen Kongresses, der 1853 in Brüssel stattfand, war Czoernig maßgeblich beteiligt. Er blieb in dieser ersten Phase einer auch formalisierten, zunehmend institutionalisierten und immer stärker in einen wissenschaftlichen Deutungsrahmen einrückenden, administrativen Statistik einer der wichtigsten Akteure. Nachdem der zweite Kongress 1855 in Paris stattgefunden hatte, wurde der dritte 1857 in Wien abgehalten, für Randeraad eine offensichtliche Wahl, da der Regierung daran gelegen war, ihr internationales Ansehen weiter zu stärken.65 Mit der Auflösung des Handelsministeriums 1859 fiel die Direktion der administrativen Statistik wieder an die oberste Rechnungskontrollbehörde zurück, was insofern von Nachteil war, als dass dort weniger Ressourcen verfügbar waren und auch weniger Bedarf an der von der Direktion geleisteten Analyse und Auswertung bestand.66 Allerdings stand ab 1860 eine Neuorganisation im Raum, die dem Umstand Rechnung tragen sollte, dass statistische Daten und deren Analyse in zunehmendem Umfang auch in den übrigen Ressorts und Ministerien einer sich stark verändernden Herrschaftsorganisation immer wichtiger wurden. Als nach dreijährigen Verhandlungen die k.k. statistische Central-Commission ins Leben gerufen wurde, entstand damit eine Institution, die zwischen allen Ministerien positioniert war und durch diese mit jeweils einem Vertreter beschickt wurde. Ihr war die Direktion der administrativen Statistik als ausführendes Organ untergeordnet.67 Czoernig wurde zum ersten Präsidenten der Zentralkommission und blieb das noch bis 1865.
63 Ebd. 51. 64 Diesen Schluss legen bislang unausgewertete Archivfunde nahe, die eine Korrespondenz und einen Austausch einschlägigen Datenmaterials u. a. mit südamerikanischen (Argentinien) Ländern belegen. 65 Vgl. Randeraad, States 60. 66 Vgl. Rumpler, Czoernig 844 f. 67 Die Errichtung ebendieser statistischen Zentralkommission gehört zu den wenigen Aspekten die sich noch anhand von erhaltenen Archivquellen näher untersuchen lassen, wenngleich auch in diesem Bereich viel skartiert wurde: Vgl. Äußerung über den Stand
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In diesem Jahr trat er einen langen Ruhestand an – bis 1889 – und zog sich nach Görz zurück. Czoernig blieb weiter aktiv, er beschäftigte sich mit den in Istrien gesprochenen Sprachen, er publizierte weiterhin und korrespondierte auch noch mit alten Kollegen.
C ONCLUSIO Karl Freiherr von Czoernig-Czernhausen Karl Freiherr von Czoernig-Czernhausen war im Kontext seiner Zeit kein ungewöhnlicher Beamter und Statistiker. Er war äußerst vielseitig und es erscheint im Rückblick schwierig, eine genaue Trennlinie zwischen seinen privaten und seinen professionellen Aktivitäten zu ziehen, wobei auch die Frage aufgeworfen werden muss, ob eine solche Grenzziehung in diesem Kontext überhaupt sinnvoll und möglich wäre. Czoernig wusste, und auf diese Beobachtung wird noch zurückzukommen sein, Interessen und Pflichten miteinander zu verbinden. Einerseits war er ein gewissenhafter, verlässlicher und offensichtlich auch höchst befähigter Spitzenbeamter, der, aus bürgerlicher Herkunft aufgestiegen, wiederholt mit anspruchsvollen bis hin zu sehr schwierigen Aufgaben betraut wurde. Seine Reorganisation der Statistik ab den 1840er-Jahren stieß international auf Anerkennung und verschaffte dem Habsburgerreich auf internationaler Ebene ein entsprechendes Renommee. Über seine Leitungsfunktion hinaus arbeitete er auch inhaltlich federführend an der Statistik mit, je nach Perspektive, aus der man ihn betrachtet, als Literat, Wissenschaftler oder Beamter. Diese drei Tätigkeitsfelder verwoben sich so eng, dass eine analytische Trennung wenig vielversprechend erscheint, vielmehr ist es angebracht, nach strategischen Aspekten zu suchen – oder, in Anlehnung an Latour: nach Vernetzungen.68 Czoernig diente als Beamter einem Staat und einer Vorstellung von diesem, den es in der Wirklichkeit so nicht gab. Sein Dienst ging über die Verpflichtungen, die ihm seine Beamtentätigkeit auferlegte, hinaus. Was sich Czoernig unter einem Staat vorstellte, einen – in der Diktion der Gegenwart – multiethnischen, modernen, Gesamtstaat wurde in seinen Schriften und Arbeiten mehrfach evident. Subtil nützte er die bescheidenen Freiheiten des Literaten, um ebendiese Vorstellungen
der Verhandlungen wegen Organisirung der statistischen Central-Commission, ATOeStA/FHKA Präs FM Akten 2.438. 68 Vgl. LATOUR Bruno, Existenzweisen: Eine Anthropologie der Modernen, Frankfurt am Main 2014, 73 ff.
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als populäre, lesbare und hervorragend illustrierte Werke zu popularisieren.69 Dass er für diese Arbeiten auf dienstliche Ressourcen zurückgreifen konnte, wurde ihm von seinen Vorgesetzten und vom Herrscher zugestanden, zumal er darauf achtete, die großen Linien aktueller staats- und herrschaftsstabilisierender Narrative mitzutragen. Als Wissenschafter argumentierend konnte er mitunter ein Moment aufbauen, das dazu beitrug, sachpolitisch bestimmte Vorhaben zu unterstützen oder zu unterminieren, wobei die durch ihn verfolgte Stoßrichtung in aller Regel die einer zentralisierten Gesamtstaatlichkeit war, der durch ihn verfolgte Pfad jener einer Modernisierung, insbesondere auf der Ebene der Verwaltung. Das Bild und die Auffassung, die sich Czoernig vom Habsburgerreich als dem primären Rahmen seines Handelns als Publizist, Beamter und Wissenschaftler machen konnte, muss als geprägt durch die Mobilitäts- und Reiseerfahrungen angesehen werden, die er sammeln konnte. Geboren und aufgewachsen in Böhmen lernte er als Student auch Wien kennen, er verbrachte seine frühen Berufsjahre in Triest und stieg anschließend in Mailand in der Hierarchie nach oben. Seine Rückkehr nach Wien, zur Übernahme der Leitung der Direktion der administrativen Statistik war mit weiteren und durchaus ausgedehnten Reiseaktivitäten verbunden, darunter seine Entsendungen dienstlicher Natur, wie Triest In diesen Zeitraum fielen die dreizehn Jahre der Arbeit, die er an seiner Ethnographie verbrachte, und für die er viel Aufwand und Energie betrieb. Als polyglotter Bürgersohn mit einem großen Interesse an und Verständnis für Industrialisierung, wirtschaftliche Zusammenhänge und damit verbundene Schwierigkeiten diente er auch, und das wurde an einigen der Aufgaben evident, die ihm übertragen wurden, als einer der vielen Vermittler zwischen jener neuen, aufsteigenden gesellschaftlichen Gruppe des Bürgertums und einer alten Herrschaftskontinuität sowie den Überresten des Apparates an Repräsentanten und Mittelsleuten, der im frühen 19. Jahrhundert noch fortbestand. Czoernig war im Habsburgerreich der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dessen staatliche (oder imperiale?) Gestalt durchaus als fluide bezeichnet werden kann – schwankte es doch zwischen Anspruch (zentralisierter Einheitsstaat), konkurrierenden normativen und idealisierten Vorstellungen und insbesondere der administrativen Realität – keineswegs ein Fremdkörper, im Gegenteil. Er verfügte über ein großes und tragfähiges Beziehungsnetzwerk, sowohl inner- als auch außerhalb des Reiches, und seine Arbeit stieß größtenteils auf Wertschätzung, sowohl in der Behörde und in den Augen der Herrscher, als auch in einer breiten und
69 Vgl. VOGL Joseph (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999.
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sich sukzessive verbreiternden Öffentlichkeit. Czoernigs Leben verlief nicht außergewöhnlich, seine Karriere ist im zeitlichen Kontext durchaus im Rahmen dessen einzuordnen, was auch andere Vertreter seiner Generation und seines Hintergrundes erwarten oder erreichen konnten, er fügte sich gut in das soziale und politische Gefüge seiner Zeit und seines Milieus ein und kann damit durchaus Anspruch auf eine gewisse Repräsentativität erheben. Der Fokus seiner Handlungen verdient Beachtung: Insbesondere an Czoernigs Ethnographie tritt deutlich zutage, dass der Verfasser einerseits keine Berührungsängste mit Feldern hatte, für die er nicht als Experte gelten konnte, dass ihn andererseits aber seine umfassende und weitreichende Allgemeinbildung auch dazu in die Lage versetzte, Verbindungen und Verknüpfungen herzustellen, die zumindest eine gewisse Grundplausibilität vorweisen konnten. Darüber hinaus hatte er wenig Scheu, gegebenenfalls mit einer gewissen Phantasie und Kreativität an Dinge heranzugehen. Dieser Mut, der mit bestehenden Vorstellungen zum politischen und intellektuellen Klima des 19. Jahrhunderts kaum in Übereinstimmung zu bringen ist, zeichnete Czoernig aus, aber auch etliche seiner Beamtenkollegen. Netzwerke Aus etwas größerer Distanz wird sichtbar, dass Czoernig Teil eines Kollektivs war, von dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr viel an Veränderung und auch Innovation ausging. Nicht nur in dem großen Reservoir an hochrangigen und jederzeit einsetzbaren Spitzenbeamten eines weitgehend vergleichbaren Qualifikations- und Ausbildungshintergrundes, sondern auch auf der Ebene einer Zusammenarbeit über Reichs- und Staatsgrenzen hinweg, war sehr viel theoretisches und praktisches Wissen gebündelt. Das solcherart umrissene Beamtenkollektiv hatte in Zentraleuropa in vielen Bereichen eine ältere Gruppe verdrängt, zum kleineren Teil indem sie Aufgaben von dieser übernommen hatte, zum größeren Teil, weil Herrschaft auf eine andere Wissensgrundlage gestellt worden war. Damit hatten adelige Mittelsleute und Repräsentanten der habsburgischen Herrscher an Macht verloren, wenngleich sie ihre Partizipation an der imperialen Herrschaft nach wie vor praktizierten. Aber zentrale Wissensformationen, deren Erzeugung Langzeitprojekte darstellten, insbesondere der Steuerkataster, waren im Begriff, anlässlich ihrer Fertigstellung die Bedingungen für den Adel grundlegend zu verschieben. In dem Maße, in dem die Erzeugung, Lagerung und Distribution von Wissen sukzessive zur fundamentalen Ressource moderner Staatlichkeit wurde, wurden Akteure wie Czoernig, die diesen institutionellen Umbau begleiteten und auch aktiv betrieben, zu Architekten des modernen Staates.
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Mit der Pensionierung Czoernigs übernahmen seine langjährigen und verdienten Mitarbeiter seine Agenden und Aufgaben. Relativ gesehen stellte das eine Schwächung dieser Institutionen, also der Direktion der administrativen Statistik und der statistischen Zentralkommission dar: Keiner der Nachfolger Czoernigs hatte sein (auch politisches) Gewicht. Adolf Ficker, der sich über die eineinhalb Jahrzehnte nach Czoernig bis zu einem gewissen Grad als sein Nachfolger herauskristallisierte, entwickelte sich zu einem durchaus tüchtigen „Wissenschaftler“, das Renommee und Durchsetzungsvermögen Czoernigs erreichte er nicht. Was bedeutete das für die weitere Entwicklung der Statistik im Habsburgerreich? Waren die Institutionen, die Czoernigs Initiative ins Leben gerufen und etabliert hatte, stark genug um auch einen längeren Zeitraum ohne energische Führung zu bestehen? Ficker wusste das Netzwerk, das Czoernig gezielt und umfassend erweitert hatte, durchaus geschickt zu nützen: Wenngleich er es nie zum Sektionschef eines Ministeriums brachte, agierte er beruflich auf einer vergleichbaren Ebene, aber mit weniger sozialem Kapital. Unter anderem über seine Spitzenfunktion im Alpenverein hatte Ficker einen privilegierten und funktionierenden Zugang zu Entscheidungsträgern auf der höchsten Ebene, auch international festigte er die durch Czoernig aufgebauten Beziehungen im Internationalen Statistischen Congress, zu dessen Präsidenten er es unter anderem brachte. Wie Czoernig arbeitete Ficker an der Etablierung und weiteren Festigung seiner Reputation als Wissenschafter, auch er konnte noch dienstliche Ressourcen über den deren zweckmäßigen Gebrauch hinaus strapazieren um seinen Ruf als Statistiker zu festigen. Zugleich zeigte sich ab den 1870er-Jahren auf der internationalen Ebene, dass Fickers Position insbesondere im administrativen Gefüge der Monarchie, und dazu die Position der Monarchie insgesamt, deutlich schwächer geworden waren. Das wird insbesondere an den Diskussionen und Auseinandersetzungen um die Einführung der Sprachenzählung deutlich. Ficker hatte, und er hielt damit an einer Position Czoernigs fest, die auf Rückhalt in der politischen Führung des Habsburgerreiches stieß, in seiner Spitzenfunktion im Internationalen Statistischen Congress die Nationalitätenfeststellung im Rahmen der Volkszählung mit wissenschaftlichen Argumenten lange blockiert. Damit wurde an einer Auffassung von moderner Staatlichkeit festgehalten, die nicht zwangsläufig an eine Nationalisierung der Bevölkerung gebunden war. Im internationalen statistischen Kongress in Sankt Petersburg 1872 war diese Position nicht mehr zu halten.
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Statistik und statistisches Wissen und moderne Staatlichkeit im 19. Jahrhundert Eine differenzierte Beurteilung der Rolle von Statistik und statistischem Wissen im Hinblick auf die Entwicklung moderner Staatlichkeit im 19. Jahrhundert mahnt eine gewisse Vorsicht ein: Unbestreitbar wurde die Verwaltungsstatistik im Kontext Zentraleuropas nach 1840 recht schnell zu einer Einrichtung erheblicher Bedeutung in der Administration. Sie stellte Wissen bereit, das neu aufbereitet und in neuen Medien Zusammenhänge und Überblicke ermöglichte, die davor nicht visualisierbar gewesen wären. Auch konnte sie erhebliche Datenmengen überschau- und kontrollierbar machen. Zugleich dauerte es noch knapp 30 Jahre bis zur ersten „modernen“ Volkszählung (1869) und auch danach sollten noch Jahrzehnte vergehen, bis statistische Daten in Verwaltungsbehörden ein gewöhnliches Arbeitsmittel geworden waren. Der Einfluss, den sie zur Ausprägung moderner Staatlichkeit leistete, sollte weder unter- noch überschätzt werden. Einerseits wurde Statistik schnell zu einem grundlegenden Merkmal moderner Staatlichkeit, sie war ein zentraler Eintrittspunkt für Serialität im Sinne Andersons: Im verwaltungsstatistischen Diskurs wurde die Frage nach der Art und Struktur des eigenen Staatswesens, abgeleitet aus der ständigen Praxis des Vergleichs mit anderen, zu einer permanenten Übung. Die Wichtigkeit und Notwendigkeit der Statistik für den modernen Staat und der hohe Grad an Expertise, den sie voraussetzte, machte sie mitunter zu einem wertvollen politischen Instrument zur Durchsetzung von Interessen, insbesondere jener gesellschaftlichen Gruppe, die sich in den Beamtenrängen am stärksten vertreten fand: des mittleren und gehobenen Bürgertums. Spitzenbeamte, die zunächst noch als Literaten öffentliche Aufmerksamkeit für die Produkte ihrer Arbeit generieren konnten und später stärker in die Rolle „objektiver“ Wissenschaftler schlüpften, stellten die Statistik – je nach Publikum – als Machtmittel, oder auch als Instrument zur Repräsentation und Partizipation dar. Zur Entwicklung des Nationalstaats als Norm einer Weltwahrnehmung leistete die Statistik einen schwerlich zu überschätzenden Beitrag: Ab den 1880er-Jahren hatte jeder sich als „modern“ gerierende Staat (mit Ausnahme jener mächtigsten Imperien und Staaten, deren Status ohnehin außer Frage stand) die Daten zu seiner Bevölkerung im Zensus hervorzubringen, die eine Darstellung als Nationalstaat erlaubten. Die Statistik trug gemeinsam mit der Karte maßgeblich dazu bei, jene Bilder zu popularisieren, die Staaten und Reiche im 19. Jahrhundert von sich selbst zeichneten.
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Zugleich war der Einfluss, den die an dieser Stelle beleuchteten Statistiker des Habsburgerreiches direkt oder indirekt nehmen konnten, auch unter Ausnützung aller ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, sehr überschaubar. Hegemoniale Darstellungsnormen wurden transimperial ausverhandelt, Machteingriffe, insbesondere einiger führender Reiche oder Staaten blieben stets eine Option und waren zum Teil auch erfolgreich. Ein Beitrag, den die Statistik zur Genese moderner Staatlichkeit jedenfalls geleistet hat, ist die Ausweitung politischer Partizipationsmöglichkeiten. Vom Zensus zur Wahlurne führte eine Kontinuitätslinie, und das Bild des Zauberlehrlings ist nicht ganz unangebracht, hinsichtlich der rasanten diesbezüglichen Entwicklung in weiten Teilen zumindest West- und Zentraleuropas in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
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Wege des Wissens Aspekte einer Wissensgeschichte der Sprachforschung am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert am Beispiel Hugo Schuchardts J OHANNES G REGOR M ÜCKE (G RAZ )
1
Ü BERSICHT
Dieser Text entstand im Rahmen des FWF-Projekts Network of Knowledge (Projektnummer P 24400-G15, 2012-2015, verlängert bis 2016, Planung, Beantragung, Leitung: Bernhard Hurch). Ungeachtet der Tatsache, dass die Förderung des FWF ausgelaufen ist, gehen die Arbeiten am Projekt stetig weiter (vgl. dazu das Webportal1). Im vorliegenden Beitrag werde ich zunächst (Abschnitt 2) die grundsätzlichen Projektideen skizzieren,2 um daran einige Exemplifizierungen der
1
HURCH Bernhard (Hg.), Hugo Schuchardt Archiv, [o.O.] 2007-. http://schuchardt.uni-
2
Vgl. durchgehend zum Folgenden die grundlegenden Texte von Bernhard Hurch wie
graz.at (25.10.2016). der von ihm verfassten FWF-Projektantrag „Network of Knowledge – Netzwerk des Wissens“; HURCH Bernhard, Ein Netzwerk des Wissens. Einige Voraussetzungen zur Profilierung der Philologie, in: Christoph König (Hg.), Das Potential europäischer Philologien. Geschichte, Leistung, Funktion, Göttingen 2009, 292–308; HURCH Bernhard, Bausteine zur Rekonstruktion eines Netzwerks I: Einleitung – Prolegomena, in: Grazer Linguistische Studien (GLS) 72 (2009), 5–17.
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Ideen entlang der von Peter Burke vorgeschlagenen Wissenspraktiken3 anzuschließen (Abschnitt 3). Am Ende (Abschnitt 4) werde ich die zentralen Punkte nochmal zusammenfassen. Die ausgewählten Themenbereiche sind als Illustrationen zu den von Hurch genannten „großen Punkten“4 zu verstehen.5
2
R AHMENBEDINGUNGEN
2.1 Wenn der Postbote nicht mehr klingelt „The postman won’t ring at all. Canada Post ends home delivery“, titelte The Economist in seiner Onlineausgabe am 14.12.2013. Weiter heißt es: „Canada Post has been hit by a familiar story: rising electronic communication and declining volumes of letters.“6 Im Jahr 2012 wurden von der kanadischen Post eine Milliarde Briefe weniger als 2006 ausgeliefert, das Ende der Postzustellung sollte die hohen Verluste kompensieren. Auch wenn der Briefträger oder die Briefträgerin in Europa noch nicht abgeschafft wurde, zeichnen sich auch hier Rückgänge bei der versandten Briefpost ab. Erreichte die Gesamtzahl der Briefsendungen bis 1.000 Gramm beispielsweise in Deutschland im Jahr 2008 mit 17,4 Mrd. Stück ihren bis dato höchsten Wert,
3
Vgl. BURKE Peter, Die Explosion des Wissens. Von der Encyclopédie bis Wikipedia,
4
HURCH Bernhard, Hugo Schuchardt, in: Karl Acham (Hg.), Kunst und Wissenschaft
Berlin 2014. aus Graz. Werk und Wirken überregional bedeutsamer Künstler und Gelehrter: vom 15. Jahrhundert bis zur Jahrtausendwende, Kunst und Wissenschaft aus Graz, Bd. 2, Wien/Köln/Weimar 2009, 493–510. Die dort als besonders wichtige, miteinander verknüpfte Arbeitsfelder behandelten „großen Punkte“ sind „Sprachwandel und historische Sprachwissenschaft“, „Sprachmischung und Mischsprachen“, „Romanistik“, „Baskologie“ sowie „Vermischtes und Allgemeines und Politisches“. 5
Der Text wäre nicht möglich gewesen ohne die kritischen Anmerkungen von Bernhard Hurch, Verena Schwägerl-Melchior, Silvio Moreira de Sousa, Luca Melchior, Stefan Frühwirth und den vielen Studierenden, die im Projekt mitgearbeitet haben. Ihnen allen sei an dieser Stelle mein herzlicher Dank ausgesprochen. Für das kritische Durchsehen danke ich auch den beiden Herausgebern des Bands sehr herzlich.
6
M. D., The postman won’t ring at all. Canada Post ends home delivery, in: The Economist, 14. Dezember 2013. http://www.economist.com/blogs/americasview/2013/12/ canada-post-ends-home-delivery (20.10.2016).
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erfolgte 2009 ein Einbruch auf 16,3 Mrd. Briefe.7 Seit 2011 sind die „Sendungsmengen […] rückläufig“, 2014 waren es nur mehr 15,9 Mrd. Postsendungen, womit in etwa das Niveau von 1998 erreicht war.8 In den anderen europäischen Staaten sind ähnliche Veränderungen festzustellen.9 Die Ursache sieht die deutsche Netzagentur bei den technischen Entwicklungen: „Die Sendungsmengenrückgänge sind vor allem auf die wachsende Nutzung elektronischer Übertragungswege zurückzuführen“.10 Die digitale Revolution zeigte demnach „Wachstumsgrenzen für den traditionellen schriftlichen Austausch von Nachrichten“ auf.11 Die Zahlen und ihre Interpretation helfen zu verstehen, in welchem Ausmaß die Post sich am Ende des 20. Jahrhunderts als Kommunikationsmittel etabliert hatte, sie setzen aber auch die Veränderungen des Postwesens am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert in Relation. Historische Vergleichsdaten von der vorletzten Jahrhundertwende können nur grobe Richtwerte sein, doch geben sie einen Eindruck von der langsam aber stetig steigenden Zahl der Briefsendungen. Die Wachstumsraten sind beachtlich: Im deutschen Kaiserreich wurden 1879 ungefähr 850 Mio. Briefe verschickt, 1906 waren es 4,9 Mrd., in Österreich-Ungarn betrug die Anzahl der Briefsendungen 1879 zusammengenommen 410 Mill., 1906 waren fast 1,9 Mrd.12 Vergleichbare, spiegelbildliche Entwicklungen zeigen das so genannte Zeitungssterben und auch die Krise der wissenschaftlichen Fachjournale, besehen im Lichte der „Gründerzeit“ der Fachzeitschriften im 19. Jahrhundert. Auch hier hat
7
BUNDESNETZAGENTUR für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, Tätigkeitsbericht 2012/2013. Bericht gemäß § 47 Absatz 1 Postgesetz, 29. http://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Downloads/DE/Allgemeines/Bundes netzagentur/Publikationen/Berichte/2013/131216_TaetigkeitsberichtPost2012.pdf?__ blob=publicationFile&v=3 (21.10.2016).
8
BUNDESNETZAGENTUR für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen, Marktuntersuchung. Bericht über den lizenzpflichtigen Briefbereich 2015. Stand: März 2016, 6. http://www.bundesnetzagentur.de/SharedDocs/Downloads/DE/ Sachgebiete/Post/Unternehmen_Institutionen/Marktbeobachtung/Lizenzpflichtige-PD L/Marktuntersuchung2015.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (21.10.2016).
9
Bundesnetzagentur, Bericht 29, vgl. auch Bundesnetzagentur, Marktuntersuchung 6.
10 Bundesnetzagentur, Marktuntersuchung 6. 11 Bundesnetzagentur, Bericht 14. 12 [O. A.], s. v. Post, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 16, Leipzig 1908, 209–215. http://www.zeno.org/nid/20007279140 (21.10.2016). Vergleichbare Steigerungen sind auch für die anderen großen europäischen Staaten der Zeit angegeben.
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die digitale Revolution massive Spuren hinterlassen, die sich mit den Veränderungen im Zeitungs- und Zeitschriftenwesen des 19. Jahrhunderts vergleichen lassen.13 Hurch hat diese Wechselwirkungen für die Sprachforschung sehr klar skizziert, an vielen Beispielen erläutert und ausführlich im Projektantrag für das FWFProjekt „Network of Knowledge – Netzwerk des Wissens“ dargelegt.14 In ihrer modernen Form sind Briefpost und Fachjournal Produkte des 19. Jahrhunderts (wenn auch mit viel älteren historischen Wurzeln).15 Fachzeitschriften und Briefe waren wichtige Instrumente für das Sammeln, Analysieren, Verbreiten und Anwenden von wissenschaftlichem Wissen. Diese Tätigkeiten werden von Burke als Wissenspraktiken bezeichnet.16 Burkes geschichtliche Soziologie des Wissens zeigt, inwieweit diese Wissenspraktiken seit dem Ende des 18. Jahrhunderts global und lokal möglich waren, betrieben wurden und heutige Vorstellungen von geordnetem Wissen miterzeugten. Die Medien- und Kommunikationsrevolution des 19. Jahrhunderts führte auch zu einem Wandel der Wissenspraktiken. Woran lässt sich dieser Wandel festmachen? Ein Wissenschaftler wie der Grazer Romanist Hugo Schuchardt (18421927) steht exemplarisch für die Arbeit mit den Instrumenten Post und Zeitschrift. An seinem Beispiel lässt sich – auch aufgrund des umfangreichen und gut erhal-
13 Zur gegenwärtigen Krise der Fachzeitschriften vgl. auch WOLL Christian, Wissenschaftliches Publizieren im digitalen Zeitalter und die Rolle der Bibliotheken, Köln 2005 , http://www.fbi.fh-koeln.de/institut/papers/kabi/volltexte/Band046.pdf (21.10.2016) mit einem Überblick über das Phänomen. Nicht nur die Krise des wissenschaftlichen Zeitschriftenwesens wird oft unter dem Aspekt des freien und offenen Zugangs zu Wissen kontrovers diskutiert. Dies verdeutlicht, dass es bei der durch die Digitalisierung ausgelösten medialen und kommunikativen Revolution um mehr geht als um höheres Briefporto und Bezahlschranken. Es geht im Kern um die Möglichkeit der öffentlichen Teilhabe an Wissen und Kommunikationsmitteln. 14 Vgl. Hurch, Hugo Schuchardt 507; Hurch, Bausteine 5–11; sowie HURCH Bernhard, Über ‚Weiberraub‘ und Lautgesetze. Anmerkungen zu Georg von der Gabelentz’ Handbuch zur Aufnahme fremder Sprachen in baskischer Version, in: Beiträge zur Geschichte der Sprachwissenschaft 21 (2011), 239–262, v. a. 255–258 und insgesamt Hurch, Netzwerk. Vgl. auch MELCHIOR Luca/MÜCKE Johannes, Bausteine zur Rekonstruktion eines Netzwerks IV: Von Diez zur Sprachanthropologie, in: Grazer Linguistische Studien (GLS) 80 (2013 [2015]), 5–22. 15 Vgl. dazu auch BEHRINGER Wolfgang, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003. 16 Vgl. Burke, Explosion.
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tenen Nachlasses – sehr konkret zeigen, wie diese Wissenspraktiken in der Sprachforschung am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu neuem Wissen führen konnten. Zwei auf den ersten Blick recht unterschiedliche und periphere Forschungsgebiete oder Interessenbereiche Schuchardts können die Verschränkung der Praktiken mit dem erzeugten Wissen zeigen: Zum einen untersuchte Schuchardt grammatische Eigenschaften des Georgischen und anderer Sprachen des Kaukasus, zum anderen publizierte er Studien zu Fischereigeräten und deren Bezeichnungen. Der Fokus liegt im Folgenden darauf, exemplarisch zu zeigen, wie Schuchardt zu diesen Themenbereichen Wissen sammelte, analysierte, verbreitete und anwendete, und keineswegs darauf, Schuchardts Forschung dazu erschöpfend darzustellen. Als Ausgangspunkt dient die Idee, dass man eine Verbindung zwischen dem lebensweltlichen Raum und dem Schuchardt'schen Wissensraum herstellen kann. Die so verstandenen Wissensordnungen umfassen Bibliothek, Notizbücher und Briefsammlungen, aber auch die Gebäudeplanung auf der einen Seite,17 auf der anderen Seite die räumliche Projektion des Wissens, wie sie in Sprachenkarten oder in quasi geographisch strukturierten Abhandlungen von Schuchardt gedacht wird.18 2.2 Das World Wide Web um 1900 Dass das Wissen selbst eine Geschwindigkeit hat, ist in einer Zeit, in der fast jede Information in Sekunden mit dem Smartphone über das Internet verschickt oder abgerufen werden kann, nicht unmittelbar bewusst. Kommt es jedoch vor, dass eine nicht digitalisierte Quelle zu konsultieren ist, die sich an einem anderen Ort befindet, ist man gelegentlich mit der Post wieder auf das traditionelle System der Wissens- und Informationsverbreitung angewiesen. Doch die Post ist nicht nur im Vergleich zu moderneren Kommunikationsmitteln, sondern auch zu ihrer eigenen Vergangenheit langsamer geworden, wie sich an so genannten Isochronenkarten
17 Vgl. dazu HURCH Bernhard, Más que una continuidad filológica: Humboldt qua Schuchardt, in: Nuevos Extractos, de la Real Sociedad Bascongada de los Amigos del País, Suplemento 18-G del Boletín de la RSAP, Donostia-San Sebastian (2009), 17–42, http://www.liburuklik.euskadi.net/applet/libros/JPG/fs02/RSBAP-LG-ALD-1518/200 9_01_01/RSBAP-LG-ALD-1518-2009_01_01.pdf (22.09.2017), der auf Seite 39 auf diesen Zusammenhang aufmerksam macht. 18 Für die Formulierung dieses Gedankens danke ich Michaela Wolf.
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– Karten, in denen Entfernungen auch zeitlich dargestellt werden – veranschaulichen lässt.19 Eine dieser Karten zeigt die Welt im Jahr 1906 von London aus gesehen.20 Farblich markiert sind die Reisezeiten in Tagen. Das innerhalb von fünf Tagen erreichbare Gebiet ist durch eine rot gefärbte Fläche gekennzeichnet. Es umfasst im Prinzip fast ganz Europa, aber auch Teile Nordafrikas. Rosa eingefärbt ist die nächstfolgende Zone, die all jene Orte enthält, die man in fünf bis zehn Tagen von London aus erreichen konnte wie etwa die US-amerikanische Ostküste. In brauner Farbe sind die Teile der Erde dargestellt, in die man in zehn bis zwanzig Tagen gelangen konnte, wie beispielsweise die restlichen USA, die Küsten Südamerikas und Afrikas, das koloniale Indien. Am Ende der Skala, jenseits grüner (erreichbar in 20-30 Tagen) und hellblauer Areale (in 30-40 Tagen), findet man ein dunkles Blau, das diejenigen Territorien bezeichnet, für welche man vom Zentrum des britischen Empire über 40 Tage brauchte, um dort einzutreffen – wie etwa das Innere Afrikas oder Patagonien. In kleinerem Maßstab findet man solche Reisezonen zum Beispiel auf einer Karte, die Zentraleuropa im Jahr 1906 mit Wien im Mittelpunkt darstellt.21 Der in hellem Violett markierte Bereich war in zwei bis fünf Stunden erreichbar wie etwa Graz oder Budapest, der weinrote Bereich, in dem München, Prag, aber auch Zagreb liegen, wurde in fünf bis zehn Stunden erreicht. Die dunkelgrün kolorierten Flächen markieren Gebiete, die in zehn bis fünfzehn Stunden erreist werden konnten und Orte wie Triest, Rijeka oder Pula, aber auch Belgrad oder Lemberg enthalten. Etwa einen Tag (20-25 Stunden) benötigte man dagegen, um Sarajevo, Sofia oder Bukarest zu erreichen. Diese Karten zeigen nicht allein die Geschwindigkeit, mit denen Personen sich fortbewegen konnten, sondern vermitteln auch einen Eindruck von der Geschwindigkeit des Postsystems und somit der Geschwindigkeit, mit der sich Wissen auf
19 Zu den folgenden Ausführungen – insbesondere zum Vergleich mit dem Internet – vgl. Hurch, Bausteine 5–11; Hurch, Netzwerk. 20 BARTHOLOMEW J. G, Atlas of the World’s Commerce. London 1907. Online: David Rumsey Historical Map Collection 2010. http://www.davidrumsey.com/luna/servlet/ detail/RUMSEY~8~1~248919~5516349:Title-Page--Atlas-of-the-World-s-Co?sort =pub_list_no_initialsort%2Cpub_date%2Cpub_list_no%2Cseries_no&qvq=w4s:/ what%2FStatistical%2BAtlas%2Fwhen%2F1907;sort:pub_list_no_initialsort%2C pub_date%2Cpub_list_no%2Cseries_no;lc:RUMSEY~8~1&mi=1&trs=138# (21.10.2016). 21 [O. A.], s. v. Österreich-Ungarische Monarchie, in: Brockhaus' Kleines KonversationsLexikon, fünfte Auflage, Bd. 2, Leipzig 1911, 324–325. Karten II. http://www.ze– no.org/nid/20001705822 (25.10.2016).
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postalischem Weg um 1900 auf der Erde ausbreiten konnte.22 Ihre Farbgebung erinnert an das Spektrum warmer und kalter Farben. Man kann sie als Heatmaps des Postwesens lesen, das Behringer als „das erste Internet“ (kursiv i. Orig.) bezeichnet.23 Die Post war zu diesem Zeitpunkt aber nicht nur ein sehr effizientes und schnelles, sondern auch ein sehr verlässliches Kommunikationsmittel. Das Adressenbuch der Stadt Graz von 1897 enthält die Rubrik „Zustellungszeit der Briefpostsendungen in Graz“, in der einige Straßen aufgelistet sind, in welchen „die Zustellung der Briefe täglich nur zweimal“ stattfand und nicht viermal, wie es an Werktagen üblicherweise der Fall war.24 Eine Heatmap im lokalen Maßstab würde es erlauben, die urbanen Zonen postalischer Erreichbarkeit im Maßstab einzelner Uhrzeiten abzugrenzen. Die Post ermöglichte schriftliches Kommunizieren innerhalb einer Stadt in einem in Stunden messbaren Rhythmus – ein Short Message
22 Wobei hier Personen und Postverkehr nicht absolut gleichgesetzt werden sollen. Mit der Entstehung eines globalen Systems elektrischer Telegraphie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bestand darüber hinaus die Möglichkeit, Informationen sehr viel schneller zu verbreiten als physische Objekte. Mit Burke, Explosion 14, der metaphorisch auf Lévi-Strauss (LÉVI-STRAUSS Claude, Mythologiques I. Le cru et le cuit, Paris 1964, dt.: Mythologica I. Das Rohe und das Gekochte, Frankfurt am Main 1971) anspielt, wird hier Wissen als aufbereitete, verarbeitete Information, als „Gekochtes“ im Gegensatz zum „Rohen“ verstanden. Das klassische Recherchemedium war jedoch die Post, die im Normalfall mit der Eisenbahn befördert wurde: Über sie wurden auch Bücher, Zeitungen und Druckerzeugnisse verschiedener Art transportiert und distribuiert. Vgl. Hurch, Bausteine 6–7, der auch auf die ökonomischen Aspekte dieser Veränderungen aufmerksam macht. 23 Behringer, Zeichen 685. 24 Die Zustellungszeiten waren 7:30 Uhr, 9:30 Uhr, 14:30 und 17:30 Uhr. An Sonntagen wurde die Post zweimal, an Feiertagen dreimal zugestellt. Als Briefpost zählten „[g]ewöhnliche und recommandierte Briefe, Correspondenzpostkarten, Drucksachen und Muster“. [O. A.], Grazer Adressenbuch für 1897. Einundzwanzigster Jahrgang. Nach amtlichen Quellen. Enthält sämmtliche Behörden, Institute, Unterrichts-Anstalten, Vereine, ein Handels- und Gewerbe-Adressenbuch, sämmtliche protokollierte Firmen Steiermarks, das Verzeichnis der Häuser und deren Besitzer, einen Wohnungsanzeiger und viele andere Verkehrs-Behelfe. Mit einem Plane der Stadt Graz. Graz 1897, 34. Vgl. dazu auch Hurch, Bausteine 7.
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Service, von dem man sich noch heute anhand von erhaltenen Korrespondenzkarten überzeugen kann, wenn man sich die Mühe macht, den zeitlichen und räumlichen Verlauf ihres Austauschs zu rekonstruieren.25 Um 1900 war eine gezielte Wissensverbreitung und -recherche sowohl im globalen, als auch im lokalen Maßstab effektiv planbar. Die Post fungierte als Verteilungs- und Zustellsystem materieller Wissensträger.26 Auch in der öffentlichen Architektur des Zeitalters machte sich das bemerkbar. Der Stellenwert, den die Post und die Bahn am Übergang ins 20. Jahrhundert hatten, zeigt sich an den Bahnhöfen und Postämtern, deren Frontfassaden repräsentativ waren wie die der neu errichteten Universitäten, Finanzämter oder Rathäuser. 2.3 Ein Expatriate in Graz Ein vermutlich oft gesehener Gast auf dem Grazer Postamt – wenigstens ein häufiger Benutzer der Grazer Briefkästen – war Hugo Schuchardt. Geboren und aufgewachsen im thüringischen Gotha wechselte er in den 1870er Jahren nach dem Studium in Jena und Bonn nach Leipzig. 1873 wurde er zunächst Professor für Romanische Philologie in Halle, um knapp drei Jahre später 1876 an die Grazer Universität berufen zu werden.27 Hier war er Professor bis 1900 und blieb bis an sein Lebensende in Graz. Nach seiner Pensionierung war Schuchardt noch immer sehr produktiv. Etwa die Hälfte seiner über 800 Publikationen stammen aus der Zeit von 1901 bis 1927. Seit 1906/1907 bewohnte er die Villa Malwine, die er für sich errichten hatte lassen. Das Flachdach und die Dachterrasse wirken neuartig im Vergleich zu den
25 Die Ausstellung Social Media 1900. Illustrierte Postkarten und ihr Gebrauch im Grazmuseum (12.3.-17.8.2015) hat diese Aspekte sehr anschaulich anhand von privater Korrespondenz aufgearbeitet. 26 Dieser physische, haptische Aspekt der Verfügbarkeit von Wissen ist mit dessen fortschreiter Digitalisierung jedoch ein Stück weit verloren gegangen. 27 Vgl. „Vita“ auf Hurch, Hugo Schuchardt Archiv: http://schuchardt.uni-graz.at/hugoschuchardt/vita (22.09.2017) und Hurch, Hugo Schuchardt 494–496. Eine ausführlichere Lebensbeschreibung stellt der Nachruf von RICHTER Elise, Hugo Schuchardt 1842–1927, in: Archiv für das Studium der Neueren Sprachen und Literaturen 83/154/Neue Serie 54 (1928), 224–258 dar.
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zeitgleich und teilweise später errichteten Villen in der Nachbarschaft und dennoch treffen sich in der Architektur moderne und traditionelle Formen.28 Schuchardt ließ eigens Postkarten herstellen, auf denen ein Foto der Villa abgebildet war und die er für seine Korrespondenz benutzte. Eine dieser Karten verschickte er beispielsweise an den Romanisten Hermann Suchier (1848-1914), seinen Nachfolger auf dem Lehrstuhl in Halle.29 Auf dem begehbaren Dach, das mit einem Zaun umgeben war, sieht man eine Person, möglicherweise Schuchardt selbst. Dieses Haus wurde für Schuchardt zu einer wissenschaftlichen Werkstatt. Abbildung 1: Hugo Schuchardt auf dem Dach der Villa Malwine
Quelle: Das Foto wurde freundlicherweise von Bernhard Hurch zur Verfügung gestellt.
28 Vgl. SENARCLENS DE GRANCY Antje, „Moderner Stil“ und „Heimisches Bauen“. Architekturreform in Graz um 1900, Wien/Köln/Weimar 2001, 256. Der Architekt war Georg Hönel. 29 Vgl. die Postkarte aus dem Februar 1912 in HURCH Bernhard, Die Korrespondenz zwischen Hermann Suchier und Hugo Schuchardt, in: Bernhard Hurch (Hg.), Hugo Schuchardt Archiv, [o. O.] 2015 (2007-). http://schuchardt.uni-graz.at/id/letters/2815 (25.10.2016).
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2.4 Eine Wissenswerkstatt Ausdruck von Schuchardts enormer Arbeitsleistung ist nicht nur sein publiziertes Werk, sondern auch ein Reservoir an nachgelassenen Manuskripten, Briefen, Gegenständen und gesammelten Büchern. Über deren ursprüngliche Anordnung ist nicht allzu viel bekannt. Die nachgelassenen Teile dieses Wissensreservoirs lassen sich heute in drei Bereiche gliedern. Ein Bestandteil des Wissensreservoirs ist die Bibliothek, die nur teilweise erhalten ist. Ursprünglich muss sie wohl zwischen 15.000 und 20.000 Bücher umfasst haben.30 Nach seinem Tode wurde sie der Grazer Universitätsbibliothek vererbt.31 Erst in den 1970er und 1980er Jahren wurden die in der universitären Hauptbibliothek erhaltenen Bände – erkennbar an Schuchardts Exlibris-Stempel – von Brigitta Weiss verzeichnet. Im von ihr angefertigten Katalog der Schuchardt -Bibliothek finden sich etwa 2.000 Titel.32 Noch einmal 1.000 sind in der Fachbereichsbibliothek der Romanistik Graz zugänglich.33 Der Rest ist verschollen oder verteilt an den Grazer Fachbereichsbibliotheken. Der Weiss-Katalog enthält zahlreiche Werke zum Georgischen, Übersetzungen ins Georgische sowie Jahrgänge georgischer Zeitungen (wie Iweria), aber auch ausgedehnte Literatur zur Fischereitechnik und -terminologie (hauptsächlich in Europa) oder Kataloge von internationalen Fischereiausstellungen. Zur Grammatik des Georgischen und anderer Sprachen im Kaukasus finden sich 77 bibliographische Referenzen, zu Fischereigerät und zugehöriger Terminologie 109 Titel.34 Einen zweiten Bestandteil bildet der handschriftliche Nachlass, ausführlich von Michaela Wolf verzeichnet, der nicht nur ungefähr 14.000 Briefe an Schuchardt, sondern auch Materialien wie Notizbücher, Abschriften, Sprachpro-
30 HIRSCHEGGER Manfred, Ein Jahrhundert aus der Bibliotheksgeschichte. Die Universitätsbibliothek Graz seit dem Jahr 1895, in: Liber. Ligue des Bibliothèques Européennes de Recherche 32, 33 (Festgabe für Franz Koller zum 65. Geburtstag) (1989), 8, WOLF Michaela, Hugo Schuchardt Nachlaß. Schlüssel zum Nachlaß des Linguisten und Romanisten Hugo Schuchardt (1842–1927). Graz 1993, IX. 31 Schuchardts Bücherspende muss auch numerisch für den Gesamtbestand der Grazer Universitätsbibliothek bedeutsam gewesen sein, der 1926 etwa 336.000 Bücher umfasste. Vgl. HIRSCHEGGER Manfred, Geschichte der Universitätsbibliothek Graz 1918–1945. Wien 1989, 18–23. 32 WEISS Brigitta, Katalog der Schuchardt-Bibliothek, Graz 1986. 33 Vgl. Wolf, Hugo Schuchardt Nachlass IX. 34 Vgl. Weiss, Katalog 158-164, 179-187.
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ben von fremder Hand, Zeitungsausschnitte, Zeichnungen, Karten und Fotos sowie eine Sammlung von mehr als 200 Rezensionen der von Schuchardt verfassten Werke umfasst. Man kann von mehreren tausend Werkmanuskriptseiten ausgehen. Zum Georgischen und anderen Sprachen des Kaukasus wurden von Wolf insgesamt 262 Briefe als thematisch relevant gekennzeichnet.35 Darunter sind einzelnen Briefe aus längeren Korrespondenzen mit Sprachforschern wie Jan Baudouin de Courtenay (1845-1929)36 oder Antoine Meillet (1866-1936), die sich für die Thematik interessierten, aber auch ganze Korrespondenzen mit Georgiern und teilweise in georgischer Sprache wie etwa die mit Noè Geordania (1868-1953), dem späteren Premierminister der kurzlebigen ersten georgischen Republik. Zu Fischereiausdrücken und Fischereigerät listet Wolf 176 Briefe an Schuchardt auf, deren AbsenderInnenkreis ebenfalls sehr heterogen ist.37 Der dritte Teil umfasst die Objektsammlung. Schuchardt sammelte nicht nur Fischereigerät, er interessierte sich auch für Spinnwerkzeug, landwirtschaftliche Geräte und Kreisel. Seine KorrespondenzpartnerInnen schickten ihm Objekte aus verschiedensten Teilen Europas zu, doch Schuchardt sammelte, erwarb und bestellte auch selbst. In seiner ab 1907 bewohnten Villa fanden diese Dinge einen Platz in einer Art „privatem Museum“. Die Sammlung bildete auch ein materielles Pendant zu den gesammelten Quellen zur Fischereiterminologie. Schuchardt notierte bereits an einigen, aber bei weitem nicht allen Objekten Herkunftsort und Vermittlungsperson, legte aber – soweit bekannt – kein Inventar der umfangreichen Sammlung an.38 Diese verschiedenen Bestände sind Teile eines Wissenssystems, das schon bestand, bevor es die Villa Malwine gab. Der Grazer Sprachforscher und Volkskundler Rudolf Meringer (1859-1931), mit dem Schuchardt die Forschungsrichtung „Sachen und Wörter“ zunächst gemeinsam initiierte, schrieb 1904: „Als ich nach
35 Vgl. Wolf, Hugo Schuchardt Nachlass 474. Zu den für dieses Thema relevanten Manuskriptseiten vgl. Wolf, Hugo Schuchardt Nachlass 597–599. 36 Vgl. auch EISMANN Wolfgang/HURCH Bernhard, Jan Baudouin de Courtenay Hugo Schuchardt. Korrespondenz, Heidelberg 2008. 37 Wolf, Hugo Schuchardt Nachlass 464–465. Zu den Fischereimanuskripten vgl. Wolf, Hugo Schuchardt Nachlass 585, 588–590, 592. 38 Die Objektsammlung kam erst Ende der 1950er Jahre an das Volkskundemuseum in Wien, wo sie katalogisiert und inventarisiert wurde. Derzeit befindet sie sich im Depot des Museums und wurde im Rahmen einer Kooperation mit dem Projekt Netzwerk des Wissens untersucht. Vgl. hierzu SCHWÄGERL-MELCHIOR Verena, Bausteine zur Rekonstruktion eines Netzwerks V: Die Objektsammlung Hugo Schuchardts im Netzwerk des Wissens, in Grazer Linguistische Studien (GLS) 85 (2016), 5–23.
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Graz kam, fand ich H. Schuchardt in einem Gewirr von Netzen und anderen Fischereigeräten“.39 Die Villa Malwine wurde als ein Gefäß geplant, um die schon angesammelten Bestände zu enthalten, zu beherbergen, aber auch zu bearbeiten. Elise Richter (1865-1943) schreibt in ihrem Nachruf: „Als er 1907 seine Wohnung verlassen sollte, die er fast 30 Jahre innegehabt hatte, für die Bücher aber nicht so leicht eine passende Unterkunft zu finden war, erwarb er auf einer sanften Anhöhe drei Bauplätze und 'baute seinen Büchern eine Villa, in der er selbst auch einen Unterschlupf fand' […], pflanzte edle Bäume, Obst und Rosen, richtete sein Fischerei-Museum ein und benützte den dritten Baugrund als Radfahrbahn.“40 Ein Blick auf den Grundriss der Villa Malwine (datiert mit Oktober 1907) zeigt, wie diese gebaute Wissensordnung aussah.41 Im Hochparterre gelangte man aus dem Treppenhaus durch einen Vorraum in ein etwa 45m2 großes, zentrales Zimmer, das mit einer weiten Fensterfront nach Südosten geöffnet war. Von diesem Raum, der im Grundriss mit „Bibliothek“ bezeichnet wird, führte auf jeder Seite jeweils eine Tür zu einem angrenzenden Zimmer. Das eine, mit etwa 15m2 kleinere Zimmer ist mit „Fischerei“ beschrieben, das andere, etwa 31m2 große Zimmer wiederum mit „Bibliothek“.42 Das eigentliche Arbeitszimmer befand sich im darüber liegenden Stockwerk. In seiner epistemischen Werkstatt konnte Schuchardt also neben und mit den Büchern, den Briefen, den Notizen und den Gegenständen leben und arbeiten. Wie gut sich Schuchardt selbst in dieser bewohnten „Zettelwirtschaft“ zurecht fand, ist nicht ganz klar. Während er die Briefe sorgfältig nach Personen ordnete43 und über Korrespondenzen teilweise Buch führte, wobei er zu einzelnen Themenbereichen notierte, wem er wann geschrieben hatte, wer geantwortet hatte und so
39 MERINGER Rudolf, Wörter und Sachen, in: Indogermanische Forschungen. Zeitschrift für indogermanische Sprach- und Altertumskunde 16 (1904), 102. 40 Richter, Hugo Schuchardt 254. Vgl. auch HURCH Bernhard, „Bedauern Sie nicht auch, nicht an der Front zu sein?!“, oder: Zwei Generationen und ein Krieg. Der Briefwechsel zwischen Hugo Schuchardt und Elise Richter, in: Grazer Linguistische Studien (GLS) 72 (2009), 135–197. 41 Ich danke Bernhard Hurch und Luca Melchior, die mir Kopien der Pläne zur Verfügung gestellt haben. 42 Auf dieser Etage wurde nicht nur „Wissen gekocht“, auch die tatsächliche Küche befand sich hier. 43 Vgl. Wolf, Hugo Schuchardt Nachlass X.
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weiter,44 ist in Bezug auf seine Bibliothek in Richard Rieglers Nachruf zu lesen: „Wenn man ihn besuchte, fand man ihn meist mit einem sprachlichen Problem beschäftigt, Notizen machend, Korrekturen lesend, Leitern hinankletternd, auf der nicht selten vergeblichen Suche nach einem Buche. Zum Ordnen seiner Riesenbibliothek, die alle Zimmer überflutete, fehlte es ihm immer an Muße“.45 Wie war Schuchardt an alle diese Wissensträger gelangt? Wie arbeitete Schuchardt in und mit diesem materiellen Wissensfundus? Es zeigt sich, wie die theoretische Arbeit mit den Praktiken des Wissens sehr eng verschränkt war.
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3.1 Sammeln Schuchardt verschickte und empfing Briefe und er sammelte Objekte. Beide Tätigkeiten – hier unter der Burke'schen Wissenspraxis des Sammelns subsumiert – standen nicht selten in einem wechselseitigen Zusammenhang, wie folgendes Beispiel illustriert. Am 26.9.1902 schrieb Antonio Ive, seit 1894 Professor für italienische Sprache und Literatur in Graz, aus Rovinj an Schuchardt: „Di là il proverbio: Ki nun téira paga téira Kruóko! C'è proprio una specie di cintura col legno ricurvo sul davanti che mettono sulla pancia! Forse mi verrà fatto di procurargliene un esemplare e di portarglielo costì“ (kursiv i. Orig. unterstrichen).46 Darunter befindet sich eine Zeichnung des „Kruóko“. Ive erklärt, dass es sich bei diesem istrischen Fischereigerät um eine Art Gürtel mit einem hölzernen Griff handelt, den man zum Fischen sich um den Körper legte, um damit das Netz aus dem Wasser zu ziehen. Ive teilt weiter mit, er wolle ein Exemplar besorgen und nach Graz mitbringen. In der Schuchardt'schen Objektsammlung im Volkskundemuseum in
44 Vgl. dazu etwa die im Nachlass unter 11.1.8 verzeichnete Kladde, in der viele Korrespondenzen zur Recherche über Kreolsprachen nach Erdteilen, Ländern und Personen geordnet festgehalten sind. 45 RIEGLER, Richard, Hugo Schuchardt †, in: Archivum Romanicum, 11 (1927), 270–72. http://schuchardt.uni-graz.at/id/bytes/nachrufe/riegler.pdf (28.10.2016), 271. Vgl. zu Riegler auch HAUSMANN Frank-Rutger, Die Korrespondenz zwischen Richard Riegler und Hugo Schuchardt, in: Bernhard Hurch (Hg.), Hugo Schuchardt Archiv, [o. O.] 2016 (2007-). http://schuchardt.uni-graz.at/id/letters/2520 (27.10.2016). 46 SCHWÄGERL-MELCHIOR Verena/MÜCKE Johannes, „Ihre Angelegenheit in Bezug auf d[as] Spinnen werde ich nicht aus den Augen lassen“ – Briefe Antonio Ives an Hugo Schuchardt, in: Grazer Linguistische Studien (GLS) 85 (2016), 209.
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Wien liegt auch ein „Crocco di Rovigno“ (Inventarnummer ÖMV/63.543) vor, der vielleicht nicht identisch mit der Zeichnung in Ives Brief, aber von derselben Art ist. Möglicherweise ist es das Exemplar, das Ive aus Rovinj nach Graz mitbrachte.47 Da unter das Sammeln von Wissen in einem weiteren Sinne auch das Lernen fällt, sind hier Schuchardts Bemühungen um die Erlernung der georgischen Sprache zu nennen. Das praktische Aneignen bildete einen Teil seiner theoretischen Beschäftigung mit dem Georgischen. Der bereits erwähnte Noè Geordania, der zu diesem Zeitpunkt in Europa reiste und studierte, war einer von Schuchardts georgischen Briefpartnern. Geordania schreibt ihm am 13.3.1896 aus Berlin (vorläufige Transkription, JM): „Aus Batum hat man mir mitgetheilt, dass Sie angefangen haben die georgische Sprache zu erforschen. […] Georgien freut es sehr wenn die europäischen Gelehrten ihre Aufmerksamkeit auf uns richten.“ Im nächsten Brief vom 22.3.1896 schreibt er bereits: „Ich freue mich, dass sie meinen georgischen Brief verstanden haben. Also von jetzt ab schreibe ich Ihnen nur die georgischen Briefe.“ Von da an geht es auf Georgisch weiter. Im Nachlass Schuchardts sind auch Übungshefte erhalten, in denen georgische Vokabeln und deutsche Übersetzungen gut erkennbar sind. Später konnte Schuchardt selbst auf Georgisch korrespondieren, wie sich an seinen Briefen an die georgische Gesellschaft für die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit ersehen lässt.48 3.2 Analysieren Burkes zweite Gruppe von Wissenspraktiken ist unter dem Etikett des Analysierens zusammengefasst. Ein wichtiges Analysewerkzeug – nicht nur für Schuch– ardt – war das Konzept der Verwandtschaft, das als eine Kategorie aufgefasst wurde, welche verschiedene Arten von Beziehungen zwischen unterschiedlichen Dingen beschrieb.49 Auf der einen Seite benutzt Schuchardt das Konzept, um Zusammenhänge zwischen Sachen und Wörtern zu untersuchen. Das Ergebnis einer detaillierten Analysearbeit zu den verschiedenen Bezeichnungen von Fischernetzen und deren verschiedenen Formen im romanischen Sprachgebiet findet sich in
47 Diese Wiederherstellung des Zusammenhangs zwischen Brief, Person und Objekt wurde ermöglicht durch die Zusammenarbeit mit dem Wiener Volkskundemuseum. 48 An dieser Stelle sei Sophie Mujiri von der Tifliser Universität herzlich gedankt, die einige digitalisierte Briefe Schuchardts aus Georgien im Rahmen eines Aufenthalts im Jahr 2015 am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Graz mitbrachte. 49 Vgl. Hurch, Más que una continuidad 24, 37.
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Schuchardts großformatiger Festschrift An Adolf Mussafia.50 Die Seiten 32-34 zeigen Abbildungen von Netzen mit der Bezeichnung „nassa“ oder „negossa“ (oder ähnliches). Kurz gesagt kommt Schuchardt zu dem Ergebnis, dass zu ähnlichen Zwecken gebrauchte ethnographische Objekte einander ähnelnde Bezeichnungen haben, deren Unterschiede und Gemeinsamkeiten sich in einem geographischen Sinne parallel verfolgen lassen. „Die Verwandtschaft“, fasst Schuchardt zusammen, „aller der erwähnten Namen: negossa, nigossa, nagossa, angossa, ganossa, navoussa, arguss, ligursa stützt sich auf die Verwandtschaft der damit bezeichneten Dinge, die zum großen Teil als völlige Übereinstimmung auftritt. Wir müssen dabei allerdings nicht bloß die Gestalt des Gerätes, sondern auch seine Handhabung oder vielmehr seine Gebrauchsweise überhaupt ins Auge fassen.“51 Diese gewissermaßen interdisziplinäre Herangehensweise zwischen Sprachforschung und Volkskunde wurde später methodisch aufbereitet und auch kartographisch umgesetzt von Karl Jaberg (1877-1958) und Jakob Jud (1882-1952) im Sprachund Sachatlas Italiens und der Südschweiz.52 Auf der anderen Seite führte das Vergleichen von Sprachen zu einer Um- oder Neudeutung des Konzepts der Sprachverwandtschaft.53 Nach der Suche der „Ursprache“ und der Etablierung der großen Sprachfamilien in Europa durch die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts – die finno-ugrische und die indoeuropäische Sprachgruppe – blieb die Einordnung der scheinbar „exotischen“, zunächst in keine Kategorien passenden Sprachen Europas (wie etwa des Baskischen oder des Georgischen) ungeklärt. Schuchardt interessierte die Frage, ob diese beiden Sprachen verwandt sein könnten oder in welcher Art sie als verwandt bezeichnet werden könnten. Ihm war im Zuge seiner Beschäftigung mit dem Georgischen aufgefallen, dass dieses eine Ergativsprache wie das
50 SCHUCHARDT Hugo, Hugo Schuchardt an Adolf Mussafia, Graz 1905. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/53 (27.10.2016). 51 Schuchardt, An Adolf Mussafia 35. 52 JABERG Karl/JUD Jakob, Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, Zofingen 1928–1940. Auf diesen Umstand weist auch Hurch, Hugo Schuchardt 498–499 hin. Zu Kontinuitäten und Unterschieden vgl. Schwägerl-Melchior, Bausteine 15–16. Beide Sprachgeographen standen in Briefkontakt mit Schuchardt. Vgl. HEINIMANN Siegfried, Hugo Schuchardt an Jakob Jud: fünf unveröffentlichte Briefe, in: Vox Romanica 31 (1972), 1–23, HEINIMANN Siegfried, Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt, in: Vox Romanica 51 (1992), 1–39. 53 Vgl. Hurch, Más que una continuidad 24–25.
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Baskische ist, mit dem er sich intensiv befasste.54 Ergativität – oder „Passivismus“, wie Schuchardt sie nennt – ist in der globalen Sprachenvielfalt nicht selten, aber in der Sprachenlandschaft Europas so eigenartig, dass die Frage nach einer möglichen Urverwandtschaft aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts nachvollziehbar ist. Später verneint Schuchardt diese Frage: „Denn erstens begegnet uns der Passivismus bei nicht wenigen weit auseinanderliegenden Sprachen die niemand in verwandtschaftliche Beziehungen zu setzen denkt, zweitens ist er seinem Wesen nach ebenso natürlich wie der Aktivismus, und drittens ist der Übergang von dem einen System zum andern nicht nur begreiflich, sondern zum Teil auch festzustellen.“55 Da auch das Vergleichen von lexikalischem Material – die klassische Methode zur Analyse von Sprachverwandtschaft – keine ausreichenden Übereinstimmungen zwischen beiden Sprachen erbracht hatte, gelangte Schuch– ardt zur Ansicht, dass es sich hier nicht um eine „geschichtliche“, sondern um eine „elementare“ Art der Sprachverwandtschaft handelt. Dieser begriffliche Transfer aus der Ethnologie verweist auf Adolf Bastians (1826-1905) Konzept der „Elementargedanken“.56 Ebenfalls 1912 erläutert Schuchardt: „Alle unsere Spracherwägungen gehen zwischen Einheit und Vielheit
54 Vgl. SCHUCHARDT Hugo, [Rez. von:] Gerland, Georg, Die Basken und die Iberer, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 9 (1888), 229. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/729 (29.10.2016); SCHUCHARDT Hugo, Über den passiven Charakter des Transitivs in den kaukasischen Sprachen, in: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften 133/1 (1895), 1. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/166 (28.10.2016). 55 SCHUCHARDT Hugo, Zur methodischen Erforschung der Sprachverwandtschaft (Nubisch und Baskisch), in: Revista Internacional de Estudios Vascos / Revue International des Études Basques 6 (1912), Seperatum 12. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/717 (28.10.2016). 56 Vgl. u. a. BASTIAN Adolf, Ethnische Elementargedanken in der Lehre vom Menschen, Berlin 1895, https://archive.org/details/ethnischeelemen00bastgoog (28.10.2016), XV (eckige Klammern im Original): „Unter den geo-meteorologischen Agentien der geographischen Provinzen keimen die ethnischen Elementargedanken, um [mit wahlverwandtschaftlichen Affinitäten (beim Durchwandern der dem Globus eingegrabenen Geschichtsbahnen geschwängert] in den Differencirungen der Völkergedanken dasjenige zu entfalten, was über seinen einheitlichen Menschheitsgedanken der Logos zu künden haben wird“.
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hin und her“.57 In der einen Richtung suchen die Sprachforscher die „einstige Einheit zu der heutigen Vielheit“ und finden sie in den „Grundsprachen für Gruppen von Sprachen die wir dann als verwandt bezeichnen“.58 Neben dieser Art von ererbter Verwandtschaft kann auch Entlehnung – als Sprachkontakt – eine Art von Verwandtschaft erzeugen. Ergänzt werden diese beiden Verwandtschaftsarten von einer Verwandtschaft, die nicht als Ergebnis historischer Prozesse analysiert werden kann, wie Schuchardt schreibt: „Aber auch der dritte von Bastians Faktoren, der Elementargedanke offenbart sich immer und überall in den Sprachen: der geschichtlichen Verwandtschaft in ihren beiden Arten steht die ungeschichtliche, die elementare gegenüber. Deren Entwicklungslinien laufen parallel, zum mindesten liegt ihr Schnittpunkt, also die Einheit nicht innerhalb der fertigen Sprache, sondern hinter ihr, in der allgemeinen seelischen Veranlagung.“59 Scheinbar ganz nebenbei erweitert Schuchardt den Begriff der Verwandtschaft um einen allgemeinen, typologischen Aspekt.60 Die elementare Verwandtschaft wird von Schuchardt direkt mit den inneren Formen zusammengebracht, die dem Sprachtypus entsprechen: „Auch wo die innern Formen sich mehr oder weniger auf der ganzen Linie entsprechen, wo, mit andern Worten, der Typus der einen Sprache dem der andern mehr oder weniger ähnelt, auch da können beide selbständig erwachsen sein“.61 In Schuchardts Spätwerk Das Baskische und die Sprachwissenschaft (1925) ist diese begriffliche Transition schon soweit vollzogen, dass die elementare Sprachverwandtschaft mit der Idee einer typologischen Sprachklassifikation verbunden wird: „Die Übereinstimmung innerer Formen zwischen zwei oder mehreren Sprachen beruht großenteils nur auf elementarer Verwandtschaft; für sich allein beweist sie geschichtliche Verwandtschaft nicht“.62 Mit Bezug auf den „Passivismus“ des Baskischen, der eine innere Form ist, schreibt er weiter: „Es ist nun sehr wohl denkbar daß auf den innern Formen eine Klassifikation der Sprachen,
57 SCHUCHARDT Hugo, Geschichtlich verwandt oder elementar verwandt?, in: Magyar Nyelv r 41 (1912), 4. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/674 (28.10.2016). 58 Schuchardt, Geschichtlich verwandt, 5. 59 Schuchardt, Geschichtlich verwandt, 5. 60 Vgl. auch PLANK, Frans, Geschichtlich verwandt – elementar verwandt – typologisch verwandt, in: Linguistische Berichte 74 (1981), 35–44. 61 Schuchardt, Zur methodischen Erforschung, 11. 62 SCHUCHARDT Hugo, Das Baskische und die Sprachwissenschaft, in: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-historische Klasse 202/4 (1925), 9. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/6 (28.10.2016). Hervorhebung im Original.
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eine typologische aufgebaut würde.“ Die Entwicklung eines derartigen Analyseschemas wäre Schuchardt ohne konkrete Beschäftigung mit dem Georgischen als zu erlernender Sprache nicht möglich gewesen, wenn auch viele andere Aspekte ebenfalls dafür Voraussetzung waren, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 3.3 Verbreiten Auf den ersten Blick scheint es fast müßig, auf die dritte Gruppe der Burke'schen Wissenspraktiken in Schuchardts wissenschaftlicher Arbeit einzugehen. Schuch– ardt publizierte ungefähr 800 Schriften und sorgte auf diesem Wege für die Verbreitung seiner Wissensarbeit. Aber auch tausende von verschickten Briefen transportierten Wissensstücke oder speisten postalisch verbreitete Publikationen als Korrespondenzbeilagen in das weltweite, wissenschaftliche Netzwerk Schuch– ardts ein. Überlieferte Versandlisten auf Rückseiten einiger Sonderabdrucke geben davon Zeugnis und lesen sich nicht selten wie ein Who‘s who der damaligen Sprachforschung.63 Dennoch zeigt sich ein Missverhältnis, wenn man die Menge der nachgelassenen Materialien zum Fischfang ansieht. Hier finden sich tausende Manuskriptseiten, Notizbücher, Exzerpte, Zeichnungen und ähnliches, die nur in geringem Maße von Schuchardt in Publikationen verarbeitet wurden. Das ist auch insofern erwähnenswert, als Schuchardt in vielen anderen Themenbereichen das gesammelte Material zu großen Anteilen auch tatsächlich analysierte und publizierte. Auf der anderen Seite soll hier noch auf zwei andere Aspekte des Verbreitens aufmerksam gemacht werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Schuchardts Arbeiten zu Wörtern und Sachen großen Einfluss auf die spätere Sprachgeographie hatte. Schuchardt war aber auch selbst auf dem sprachkartographischen Gebiet tätig und publizierte eine Karte über die Sprachgebiete im Kaukasus in Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt (PGM).64 Ob die Einfärbungen und Schraffuren der Sprachgebiete direkt von Schuchardts Hand stammen oder nur nach seinen Angaben angefertigt wurden, ist nicht ganz klar. Der Briefwechsel mit den Kartographen in der geographischen
63 Vgl. etwa den Sonderabdruck des erwähnten Aufsatzes „Geschichtlich verwandt oder elementar verwandt?“, der auf Hurch, Hugo Schuchardt Archiv abrufbar ist. 64 SCHUCHARDT Hugo, Zur Geographie und Statistik der kharthwelischen (südkaukasischen) Sprachen. (Mit Karte, s. Taf. 6.), in: Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes geographischer Anstalt (PGM) 43 (1897), 49–59, 80–86, 119–127. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/426 (28.10.2016).
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Anstalt in Schuchardts Heimatstadt Gotha ist jedoch instruktiv für den Entstehungsprozess der Karte, der buchstäblich von einigem Hin und Her geprägt worden sein dürfte.65 Klar ersichtlich daraus wird, dass und wie Schuchardt die farbliche und graphische Gestaltung der Karte mitbestimmte. Die praktische Auseinandersetzung mit dem Produzieren einer Sprachkarte ermöglichte Schuchardt auch eine theoretische Beschäftigung mit der linguistischen Kartographie. Der zur Karte zugehörige Aufsatz enthält eine kritische Diskussion des Begriffs „Volk“ und der ethnographischen Karte als solcher. Das Problem, so Schuchardt, liege bereits bei der Abgrenzung der Völker oder vielmehr in ihrer Einteilung mit familiären Begriffen, wobei der Sprachforscher das mythologische Fundament dieser Kategorisierung freilegt: „Diese Anschauung, derzufolge ein Volk im wesentlichen nicht anderes ist als eine Familie, ist die des Alten Testaments, wie sie sich in den Völkertafeln ausspricht; sie hätte sich in der Wissenschaft nicht fortsetzen sollen. Denn vom rein genealogischen Standpunkt aus ist eine brauchbare Definition von Volk ganz unmöglich“.66 Unter praktischen Gesichtspunkten seien es vor allem die Sprachen, die – als ethnographisches Merkmal – kartographisch abbildbar sind: „[W]enn wir von solchen [ethnographischen Karten, JM] schlechtweg sprechen, werden wir wohl stets Sprachenkarten meinen“.67 Eine andere Art des Verbreitens, die vervielfältigende Verfügbarmachung von Wissen, wird in der Korrespondenz Schuchardts mit dem georgischen Ethnographen Leo Lopatinskij (1842-1922) deutlich. Dieser berichtet in einem Brief aus Tiflis vom 21.1.1897 von einem Kuriosum (vorläufige Transkription, JM): „Hochgeehrter Herr Professor! In Kutais hat sich ein ziemlich alter Leiturgikon aus der ersten Hälfte des XVIII Jahrhunderts (1710) mit dem Wappen der Bagratiden und dem Bildniß Wachtang's des VI-ten erhalten. Dieses gedruckte Meßbuch ist insofern merkwurdig, als es den Namen eines Druckers (eines Rumänen) und 6 gereimte Verse in rumänischer Sprache enthält. Das rumänische ist nicht mit kirchenslavischen Buchstaben, wie es in jenen Zeiten üblich war, sondern mit grusinischen Zeichen wiedergegeben.“ Es folgt die Abschrift der rumänischen Verse in georgischer Schrift, die im 18. Jahrhundert in Georgien gedruckt wurden. Diesen Hinweis auf die Beziehungen und den Kontakt zwischen den Anrainerregionen am Schwarzen Meer publizierte Schuchardt in fast exaktem Wortlaut in
65 Ich danke Sven Ballenthin von der Sammlung Perthes Gotha für die Übersendung der dort erhaltenen digitalisierten Briefe von Schuchardt an das Grazer Projekt Netzwerk des Wissens und Wolfgang Göderle für den Hinweis. Eine Bearbeitung und Edition der Materialien steht noch aus. 66 Schuchardt, Geographie 3. 67 Schuchardt, Geographie 2.
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einer kleinen Notiz in der Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (WZKM) im selben Jahr und machte den Passus somit für einen breiten Kreis von Rezipienten verfügbar: „Wie mir Herr Leo von Lopatinskij, Bezirksinspector des kaukasischen Schulbezirks, mittheilt, befindet sich zu Kutaïs ein gedrucktes Messbuch in georgischer Sprache mit dem Wappen der Bagratiden und dem Bildniss Wachtang’s VI.“68 Anschließend sind die Verse in georgischer Schrift und in lateinischer Transkription wiedergegeben. 3.4 Anwenden Schuchardt betrieb keine anwendungsorientierte Forschung im Burke'schen Sinne einer außerwissenschaftlichen Anwendung des Wissens, seine Arbeit stand kaum im Dienst von Industrie, Wirtschaft oder Politik. Nicht in der wissenschaftlichen oder praktischen Anwendung, sondern in der „Vervollkommenung der Methoden“ sah er den wissenschaftlichen Fortschritt.69 Dennoch war Schuchardt als ordentlicher Universitätsprofessor eingebunden in die administrativen und politischen Zwecke, in deren Spannungsfeld die Universitäten in Europa am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts sich bewegten. Die Lehre etwa wäre durchaus ein Arbeitsbereich gewesen, in dem Schuchardt seine Forschungsarbeit in einem institutionellen Rahmen hätte anwenden können. In der Tat waren unter seinen Studierenden zahlreiche spätere schulische Lehrkräfte. Allerdings war Schuchardt kein begeisterter Hochschullehrer. Der bereits erwähnte Richard Riegler zeichnete – als ehemaliger Lehramtsstudent war er Hörer bei Schuchardt, später arbeitete er als Lehrer – in einer Würdigung zum 80. Geburtstag ein lebendiges Bild des Grazer Romanisten: „Der typische, philologische Hochschulbetrieb mit seinen systematischen Vorlesungen, den vollgepfropften Hörsälen, dem atemlos mitstenographierenden Auditorium, dieser ganze akademische Mechanismus behagte ihm nicht“.70 In Graz unterrichtete Schuchardt stattdessen eher zu Hause: „Bald gab er den nüchternen Hörsaal ganz auf und lud seine Getreuen zu sich in seine
68 SCHUCHARDT Hugo, Rumänisches in georgischer Schrift, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (WZKM) 11/2 (1897), 207. http://schuchardt.unigraz.at/id/publication/360 (28.10.2016). 69 SCHUCHARDT Hugo, Sachen und Wörter, in: Zeitschrift für romanische Philologie 29 (1905), 622. https://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/303 (07.02.2017). Ich danke Verena Schwägerl-Melchior für diesen Hinweis. 70 RIEGLER, Richard, Hugo Schuchardt als Lehrer, in: Die Neueren Sprachen 30 (1922), 46. http://schuchardt.uni-graz.at/id/bytes/wuerdigungen/riegler.pdf (28.10.2016).
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behagliche Wohnung“.71 Das war möglich, da nur wenige Studierende die Übungen besuchten: „Seine wenigen Hörer – die Dreizahl wurden selten überschritten – bat er zu sich ins Haus,“ ergänzt Riegler in seinem Nachruf.72 Zu den von Schuchardt abgehaltenen Lehrveranstaltungen ist anzumerken, dass die Bereiche, zu denen Schuchardt forschte, in der Lehre kaum repräsentiert waren; zumindest finden sie sich nicht in den Veranstaltungstiteln seiner Lehre.73 Es überwiegen Veranstaltungen zur Grammatik romanischer Sprachen und romanische Literaturstudien. Auch die Überlegungen zur elementaren Sprachverwandtschaft und der Zusammenhang zwischen Wörtern und Sachen spielten in Schuchardts Lehre keine irgendwie erkennbare Rolle, was nicht überraschend ist, da diese Gedanken erst nach seiner Pensionierung ausgearbeitet wurden. Das gesammelte, analysierte, verbreitete Wissen fand zumindest im Grazer Hochschulbetrieb keine direkte praktische Anwendung. Allerdings war Schuchardt ein politischer Mensch, der sich nicht scheute, sich auch zu politischen Fragen in Briefen oder Publikationen zu Wort zu melden.74 Durch seine georgische Korrespondenz war er durchaus indirekt involviert in die politischen Zusammenhänge in Georgien. Wer waren die georgischen Gewährspersonen des Grazer Romanisten? Von Noè Geordania, von dem Schuchardt Georgisch lernte, war bereits die Rede. Er war Sozialdemokrat und erster Premierminster Georgiens in der kurzen Phase der Unabhängigkeit vor der sozialistischen Sowjetrepublik Georgien und lebte ab 1921 im französischen Exil. Um nur zwei andere noch zu erwähnen: Peter Melikischwili (1850-1927, russisch Melikoff) war Chemiker und erster Rektor der Staatlichen Universität Tiflis. Ilia Tschaw– tschawadse (1837-1907) wiederum war Dichter, politisch engagierter Journalist und Herausgeber der georgischen Zeitung Iweria, die auch Schuchardt abonniert hatte.75 Man kann sagen, dass Schuchardt mit prägenden Intellektuellen Georgiens um 1900 und später in Kontakt stand. Schuchardts Interesse an der georgischen Sprache wurde in Georgien nicht nur wohlwollend registriert, es spielte eine Rolle
71 Riegler, Hugo Schuchardt als Lehrer 46. 72 Riegler, Hugo Schuchardt † 271. 73 Vgl. LEHNER Johannes, Die Geschichte der Romanistik an der Universität Graz. Universität Graz, Hausarbeit, Graz 1980, 79–80. 74 Vgl. Hurch, Hugo Schuchardt 505–507. 75 Vgl. CHKHARTISHVILI Mariam, The Shaping of Georgian National Identity: Iveria and its readers, in: Ivan Biliarsky/Ovidiu Cristea/Anca Oroveanu (Hg.), The Balkans and Caucasus: Parallel Processes on the Opposite Sides of the Black Sea, Cambridge 2012, 188–211.
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außerhalb der Universität, indem es als Anerkennung einer eigenständigen georgischen Kultur interpretiert wurde.76 3.5 Praktiken des Rezipierens Was geschah mit dem Wissen, nachdem es von Schuchardt aggregiert, untersucht und weiterverbreitet wurde? Schuchardts Studien zum Georgischen und zur Fischereiterminologie wurden in unterschiedlichsten Zeitschriften und in verschiedensten Sprachen rezensiert. Schuchardts Wissensarbeit wird hier selbst zum Objekt einer anders gelagerten Wissenspraxis, nämlich der des Rezipierens.77 Auffallend ist, dass die Publikationen zum Georgischen und anderen Sprachen des Kaukasus nicht so häufig rezensiert wurden – auf Über das Georgische78 entfallen sechs Rezensionen, auf die Abhandlung Über den passiven Charakter des Transitivs in den kaukasischen Sprachen nur vier – wie Schuchardts Festschrift An Adolf Mussafia, die allein 22 Mal rezensiert wurde. Ergänzend zu dieser Quantifizierung lassen sich praktische Aspekte des Rezipierens am Einzelfall aber noch einmal anders veranschaulichen.79 Ein Aspekt ist die Geschwindigkeit, mit der sich das Wissen nicht nur ausbreitet (oder besser, ausgebreitet wird), sondern auch rezipiert wird. Der rumänische
76 Vgl. für eine Würdigung Schuchardts aus georgischer Sicht IMNAISCHWILI Wachtang, Hugo Schuchardt und das Georgische, in: Klaus Lichem/Hans Joachim Simon (Hg.), Hugo Schuchardt (geb. Gotha 1842 – gest. Graz 1927). Schuchardt-Symposium 1977 in Graz. Vorträge und Aufsätze, Wien 1980, 73–83, und eine Beschreibung des Wissensaustauschs zwischen Schuchardt und seinen georgischen Korrespondenten IMNAISCHWILI Wachtang, Was it in 1928 that the data about Georgian manuscripts kept at the University of Graz became known in Georgia for the first time?, in: Spekali 1 (2010). http://www.spekali.tsu.ge/index.php/en/article/viewArticle/1/4 (28.10.2016). 77 Vgl. dazu Hurch, Bausteine, 8–11 und insbesonere Hurch, ‚Weiberraub‘ 255–258 sowie allgemein Hurch, Netzwerk. Die Praxis des Rezensierens wurde anhand der Rezensionen der Werke Schuchardts in einer Masterarbeit im Rahmen des Projekts „Network of Knowledge“ am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Graz ausführlich untersucht, vgl. VOGELTANZ Maximilian, Rezensionen zu den Werken Hugo Schuchardts und deren Bedeutung für die Sprachwissenschaft, Graz 2017. http://unipub.unigraz.at/download/pdf/1938234 (23.05.2017). 78 SCHUCHARDT Hugo, Über das Georgische, Wien 1895. http://schuchardt.unigraz.at/id/publication/95 (28.10.2016). 79 Die Rezensionen sind auf dem Hugo Schuchardt Archiv bei den jeweiligen Publikationen Schuchardts unter den entsprechenden, auch hier angegebenen Links abrufbar.
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Sprachforscher Moses Gaster (1856-1939), der seit 1885 in London lebte,80 publizierte im gleichen Jahr eine Reaktion auf Schuchardts Notiz Rumänisches in Georgischer Schrift in einem späteren Heft in der WZKM, in der er von rumänischen Druckern in Georgien berichtet.81 Damit rezipierte er das von Schuchardt verfügbar gemachte und verbreitete Wissen. Ein zweiter Aspekt der Rezeption umfasst ihre Reichweite. Schuchardts Artikel ‚Kharthwelische Sprachwissenschaft. III‘82 (1897) wurde im selben Jahr in der georgischen Zeitung Iweria rezensiert, von der sich ein Exemplar auch an der Grazer Universitätsbibliothek findet. Darin ist die Rezension farblich markiert, vielleicht von Schuchardt selbst.83 Seine Arbeit wurde binnen Jahresfrist in Georgien registriert und rezipiert, was sich auch für andere Publikationen Schuchardts zum Georgischen zeigen lässt.
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W ENN W ÜNSCHEN IN F ÜRCHTEN UMSCHLÄGT
Was kann nun anhand dieses oberflächennahen Querschnitts durch die Schuchardt’schen Wissenspraktiken zusammenfassend gesagt werden? Allgemein ist festzustellen, dass im Zuge der Kommunikations- und Medienrevolution des 19. Jahrhunderts sich auch die wissenschaftlichen Arbeitsweisen in der Sprachforschung veränderten. Die Post als System nicht nur zur Informations-, sondern auch zur Wissensübermittlung spielte hierbei als schnelles, effizientes und zuverlässiges Instrument sowohl im globalen, als auch lokalen Maßstab eine wichtige
80 Vgl. auch MELCHIOR Luca, Die Korrespondenz zwischen Moses Gaster und Hugo Schuchardt, in Bernhard Hurch (Hg.), Hugo Schuchardt Archiv, [o. O.] 2014 (2007-). http://schuchardt.uni-graz.at/id/letters/1554 (28.10.2016). 81 GASTER Moses, Rumänische Drucker in Georgien, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (WZKM) 11/4 (1897), 383–385. http://www.jstor.org/stable/ 23860959 (28.10.2016). 82 SCHUCHARDT Hugo, Kharthwelische Sprachwissenschaft. III, in: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes (WZKM) 11/2 (1897): 167–180. http://schuchardt.unigraz.at/id/publication/369 (28.11.2016). 83 [O. A.]. [Rez. von:] [...] ‚Kharthwelische Sprachwissenfs‘ [sic] von Hugo Schuchardt. III, in: Iweria [
], Nr. 262, 18. Dezember 1897, 3. Für die Auffindung der Zei-
tungsnummer danke ich Patricia Candea. Die Zeitung wurde Schuchardt vermutlich mit der Post aus Georgien zugestellt, auf einigen Exemplaren sind Briefmarken und Poststempel zu erkennen.
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Rolle. Die Arbeit des Grazer Romanisten Schuchardt verdeutlicht die nun mögliche Nutzung nicht nur des Postwesens, sondern auch des Zeitschriftensystems, um an verwertbares Wissen für Studien zu gelangen und dieses Wissen dann zu verarbeiten, zu verbreiten und auch einer internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit zur Diskussion und Rezeption verfügbar zu machen.84 Die Folgen dieser Arbeitsweise lassen sich bis in Schuchardts theoretische Durchdringung der untersuchten Gegenstände hineinverfolgen. Die Villa Malwine diente ihm als Lebens- und Arbeitsort. In dieser Werkstatt wurde das Wissen in unterschiedlichen Formen gelagert, gelesen, bearbeitet und analysiert und verließ die Villa wieder – manchmal auf ähnlichen Wegen, manchal in neuen Formen. Die Burke'sche Einteilung dieser Praktiken des Wissens in Sammeln, Analysieren, Verbreiten und Anwenden kann als Heuristik für einen Überblick herangezogen werden. Die Wissenspraktiken sind im Forschungsalltag nicht voneinander zu trennen – Sammeln, Analysieren, Verbreiten und Anwenden fallen oft in derselben Tätigkeit oder im selben Objekt zusammen: „Wer sammelt oder beobachtet, tut dies nicht, ohne bereits etwas im Kopf zu haben. […] Weitergabe schließt häufig Analyse mit ein.“85 Anhand von Schuchardts Beschäftigung mit Fischereigeräten und Fischereiausdrücken sowie mit den Sprachen des Kaukasus lässt sich zeigen, wie das Sammeln etwa von Fischernetzen oder das Erlernen des Georgischen ohne ein elaboriertes Postsystem nicht ohne weiteres möglich gewesen wäre. Das Analysieren der Wissensstücke führte Schuchardt zu einer Transformation des Begriffs der Verwandtschaft – einerseits der sprachlichen Verwandtschaft, die nicht nur geschichtlich, sondern auch elementar verstanden werden konnnte, andererseits der Verwandtschaft zwischen Dingen und deren Bezeichnungen, die Schuchardt in der Sachwortforschung untersuchte. Für die Verbreitung des Wissens nutzte Schuchardt periodisch erscheinende Zeitschriften, versandte Publikationen aber auch postalisch, wovon regelrechte Verteilerlisten noch heute zeugen. Er suchte gezielt fachspezifische Periodika, um das geeignete Publikum zu erreichen, etwa, wenn er eine Sprachenkarte des Kaukasus im – damals führenden – Geographiejournal PGM publizierte oder die Nachricht über Rumänisches in georgischer Schrift in der WZKM. In solchen Fachzeitschriften wurde das Publizierte nicht nur gelesen, sondern auch rezensiert, kommentiert und diskutiert. Die gesellschaftliche, außerwissenschaftliche Anwendbarkeit des Wissens stand für
84 Die Frage, ob Schuchardt allerdings exemplarisch für die Sprachforschenden seiner Zeit steht oder als individueller Querdenker zu sehen ist, kann hier nicht erörtert werden. Dazu müssen seine Arbeitsweisen systematisch mit denen anderer SprachforscherInnen der Zeit verglichen werden. 85 Burke, Explosion 19.
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Schuchardt nicht im Zentrum des Interesses. Auch die institutionalisierte Lehre wurde von ihm nicht als vorrangiges Instrument für die Weitergabe und Anwendung des wissenschaftlichen Wissens genutzt. Nichtsdestotrotz entfaltete das Wissen seine gesellschaftliche Wirkung wie etwa in Georgien, wo seine Beschäftigung mit der georgischen Sprache von den wichtigen Instellektuellen des Landes als Aufwertung der eigenen Nationalität und kulturellen Identität verstanden wurde. Seine sachwortgeschichtlichen Studien wiederum waren grundlegende Arbeiten für die Sprachgeographie, und nicht nur Protagonisten dieser Forschungsmethode wie Jakob Jud verehrten Schuchardt empathisch als „Meister“.86 Der Grazer Romanist wurde ebenso zersplittert rezipiert, wie er publizierte, er bildete keine Schule, etablierte keine Fortführung seiner Studien in Graz. Diesbezügliche Zentren entstanden andernorts wie etwa in der Schweiz oder den Niederlanden. Schuchardts Interessen waren so breit gefächert, dass dies anders aber auch kaum möglich gewesen wäre. Den akademischen Rahmen eines universitären Faches hatte er sukzessive verlassen.87 Und doch war Schuchardt in seinem Denken und Arbeiten in mancher Hinsicht sehr traditionell verankert. Das private Fischereimuseum erinnert an das Sammlungskonzept der Wunderkammer und somit auch an die höfisch geprägte Welt, aus der Schuchardt stammte.88 Auch bei der Weitergabe des Wissens zeigen sich „alte“ Strukturen, die universitäre Lehre steht hier einem persönlichen Verhältnis von Meister und Lehrling gegenüber.89 Beim Freilegen des „Traditionellen“ in Schuchardts Denk- und Arbeitsstil stellt sich aber die Frage, ob nicht auch daraus das „Moderne“ geworden ist.90 Abseits eines historiographisch konstruierten Mainstreams wurde Schuchardt am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert zu einem Impulsgeber und Anreger für die spätere Sprachwissenschaft. In Zürich etwa wurden von Jud ab 1917 systematisch
86 So auch Leo Spitzer, vgl. zum Verhältnis von Spitzer und Schuchardt insgesamt HURCH, Bernhard, Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt, Berlin 2006. 87 Dies wird auch hervorgehoben in Hurch, Hugo Schuchardt 499–503 und ausführlich in thematisiert in Hurch, Netzwerk. 88 Schuchardt kannte vermutlich die Herzoglichen Sammlungen im Schloss Friedenstein in Gotha, die mehrere Kabinette und die Bibliothek umfassten. In seinen Briefen an Jud erwähnt er die herzogliche Bibliothek mehrfach, vgl. Heinimann, Hugo Schuchardt 10, 17. Wolfgang Göderle danke ich für die Anregung zu dieser Notiz. 89 Ich danke Simon Rebohm für diese Hinweise und die daraus entstandenen Gedanken. 90 Zu dieser Fragestellung regte mich Bernhard Hurchs Vortrag „Hugo Schuchardt and modernism: a linguistic aproach“ an, den er am 5.5.2015 in Odense und im Projektkontext noch einmal in Graz hielt.
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die wichtigsten Schriften Schuchardts in einer Vorlesung „Zur Forschungsarbeit Hugo Schuchardts“91 gelehrt und diskutiert. Wie nahm Schuchardt seine Arbeit und die Vielfalt des von ihm bearbeiteten Wissens selbst wahr? Anlässlich der 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, die 1909 in Graz ausgerichtet wurde, schrieb Schuchardt einen Beitrag zur Festgabe, der als Resümee und Zwischenstand seiner Sprachforschung interpretiert werden kann (und vielleicht auch so gedacht war), in dem er den Wert der Sprachgeschichte erörterte. Zum Problem der Abgrenzung des Wesentlichen vom Unwesentlichen beschreibt der Grazer Romanist „einen äußern und innern Zustand“, den er oft erlebt habe, mit einer geographischen Metapher: „Ich liege am Rand eines Wäldchens und schaue hinab auf das Dorf im Tale; dem Studierzimmer und seiner Kleinarbeit entrückt, lasse ich meine Gedanken über das weite Gebiet der romanischen Mundarten dahin gleiten, stelle fest daß die darauf bezügliche Literatur noch sehr viel Lücken aufzuweisen hat, male mir aus wie sie auszufüllen sind, welche Rätsel dann sich lösen werden, und so fort, bis auf einmal mein Wünschen in ein Fürchten umschlägt. Wie soll man die immer wachsende Zahl von Lautgesetzen und Lautgesetzchen beherrschen?“92 Man kann sich vorstellen, wie Schuchardt von der Dachterrasse der Villa Malwine die damals noch in Entwicklung begriffene, ländlich geprägte Gegend des Grazer Universitätsviertels vom Fuchsberg aus überblickte, während er einen derartigen dialektischen Moment erlebte, in dem das Wünschen nach immer mehr Wissenserwerb „in ein Fürchten umschlägt“, ein Fürchten, dass das angesammelte Wissen nicht mehr zu überblicken, nicht mehr zu verstehen, nicht mehr zu beherrschen ist. Doch Schuchardt ließ sich nicht von seiner Arbeit abbringen und forschte bis in ein hohes Alter weiter. Wenn allerdings die Werkzeuge seiner Wissensarbeit nicht mehr so funktionierten, wie er es gewohnt war, wurde er in seinen Arbeitsabläufen behindert und artikulierte sein Missbehagen darüber auch öffentlich. Schuchardts kleiner Beitrag zur Grazer Tagespost vom 12.8.1913 verdeutlicht, welchen Stellenwert das Postsystems für sein Leben als Wissenschaftler hatte. Anlass für seinen Unmut war die Aufstellung neuer Briefkästen. Deren Einwurföffnungen, „die sich nach Liebesbriefchen geradezu spitzen, verhalten sich gegen Wissenschaft und Literatur ganz ablehnend“, klagt Schuchardt, weil sie zu schmal für seine Korrespondenzstücke waren – eine „Verschlimmbesserung“, wie der
91 Heinimann, Briefe von Jakob Jud 12, vgl. ebd. 13, 14. 92 SCHUCHARDT Hugo, Sprachgeschichtliche Werte, in: [o. Hg.],
.
Grazer Festgabe zur 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, Graz 1909, Sonderdruck, 7–8. http://schuchardt.uni-graz.at/id/publication/505 (29.10.2016).
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Sprachforscher schreibt. Nachdem er sich beschwert hatte, bekennt Schuchardt: „In meiner Jugend hätte ich es lächerlich gefunden, mich über Briefkästen so wortreich oder überhaupt zu äußern […]. Aber jetzt spielt der Briefkasten eine äußerst wichtige Rolle in meinem Leben und die Störung eines jahrzehntelangen, ungetrübten innigen Verhältnisses zu ihm berührt mich schmerzlich.“93
L ITERATUR [O. A.], [Rez. von:] [...] ‚Kharthwelische Sprachwissenfs‘ [sic] von Hugo Schuchardt. III, in: Iweria [ ], Nr. 262, 18. Dezember 1897, 3. [O. A.], Grazer Adressenbuch für 1897. Einundzwanzigster Jahrgang. Nach amtlichen Quellen. Enthält sämmtliche Behörden, Institute, Unterrichts-Anstalten, Vereine, ein Handels- und Gewerbe-Adressenbuch, sämmtliche protokollierte Firmen Steiermarks, das Verzeichnis der Häuser und deren Besitzer, einen Wohnungsanzeiger und viele andere Verkehrs-Behelfe. Mit einem Plane der Stadt Graz. Graz 1897. [O. A.], s. v. Österreich-Ungarische Monarchie, in: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Bd. 2, Leipzig 1911, 324–325. Karten II. http://www.zeno.org/nid/20001705822 (25.10.2016). [O. A.], s. v. Post, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 16, Leipzig 1908, 209–215. http://www.zeno.org/nid/20007279140 (21.10.2016) BARTHOLOMEW J. G, Atlas of the World's Commerce. London 1907. Online: David Rumsey Historical Map Collection 2010. http://www.davidrumsey.com /luna/servlet/detail/RUMSEY~8~1~248919~5516349:Title-Page--Atlas-ofthe-World-s-Co?sort=pub_list_no_initialsort%2Cpub_date%2Cpub_list_no %2Cseries_no&qvq=w4s:/what%2FStatistical%2BAtlas%2Fwhen%2F1907; sort:pub_list_no_initialsort%2Cpub_date%2Cpub_list_no%2Cseries_no;lc: RUMSEY~8~1&mi=1&trs=138# (21.10.2016). BASTIAN Adolf, Ethnische Elementargedanken in der Lehre vom Menschen, Berlin 1895. https://archive.org/details/ethnischeelemen00bastgoog (28.10. 2016). BEHRINGER Wolfgang, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit. Göttingen 2003.
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W ISSENSWEGE
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The Expert as Messenger Media Philosophy and the Epistemology of the Inexact Sciences C HRISTIAN D AYÉ (K LAGENFURT )
I NTRODUCTION One dimension of knowledge that humanist scholars have been interested in is the production of new knowledge. Most societies have institutional arrangements that provide for individuals or organizations whose primary task is to produce knowledge. Knowledge production in this perspective is an intentional process – the arrangements come with a specific bundle of expectations towards those who take the position and status of knowledge producers. True, new knowledge can emerge without being sought. However, the term of knowledge production implies intentionality on both individual and institutional levels. Knowledge producing entities can follow a variety of pathways. Nowadays, the most important way is science, but firstly, science is not without alternatives. In addition, there are different strategies to come to new knowledge even within science, all of them accompanied by very protracted and tricky debates about the respective advantages and disadvantages. Empiricism, rationalism, realism etc. embody different understandings of the sources of new knowledge. And beyond these more well-known strategies, there are ways which have not received the same amount of epistemological attention as the ones just mentioned. One of these stands in the focus of my paper. It is the production of new knowledge by pooling human carriers of knowledge. The idea that new knowledge might emerge from bringing together knowing humans is of course not new. Despite being partly hidden behind his strict scheme of the division of scientific labor in what he called “Salomon’s House,”
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we already find it in Bacon’s New Atlantis, and it finds its continuation in many charters of learned societies, both national and international, of academies of science, or later of commissions or similar bodies in charge of regulatory science. All these instances link the likelihood to reach truth to a co-presence of a multitude of knowing persons. Thus, the assembly of these persons is the strategy of knowledge production followed by these institutions. This strategy, as I have already mentioned, has nonetheless not received much scrutiny. Western epistemological reasoning has focused mostly on the individual as the entity of discovery, thereby bypassing social forms of knowledge production. Literature addressing these social forms has only emerged in the last three decades, during which it received a field label – social epistemology – and, on the initiative of its controversial mentor, Steve Fuller, a journal with the same name.1 In this literature, the production and acquisition of knowledge through social interaction is explored for its philosophical and epistemological implications. The case I am presenting here is one of the rare attempts to sketch an epistemological foundation of social knowledge production in the sciences. My paper thus contributes to the above-mentioned literature by analyzing an episode from the mid-20th century in which a handful of researchers developed a very specific social epistemology avant la lettre. While being aware of the philosophical debates on social epistemology, it does not take the philosophical path, but instead approaches this episode from the perspective of the history and sociology of (scientific) knowledge. From this perspective, the social relations of knowledge producers, among other things, come into sight. The researchers under scrutiny were firmly located in the tradition of Western philosophy. They saw themselves as representatives of logical empiricism, a philosophy of science in the tradition of positivism that is often, although sometimes too quickly, assessed as not being interested in the sociality of knowledge. The paper assesses the struggles these philosopher-scientists encountered when formulating an epistemology of the social production of knowledge. The next section provides information on the historical case. It results from a larger project concerned with the history of the social sciences at the RAND Corpora-
1
FULLER Steve, Social Epistemology, Bloomington 1988. The journal Social Epistemology was founded in 1987. Recently, two independent collections of essays appeared that, in a handbook-like manner, aim to take stock of the literature. These are GOLDMAN Alvin I./WHITCOMB Dennis (eds.), Social Epistemology: Essential Readings, Oxford/New York 2011. HADDOCK Adrian/MILLAR Alan/PRITCHARD Duncan (eds.), Social Epistemology, Oxford/New York 2010.
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tion, a U.S.-American think tank with headquarters in Santa Monica, California. Here, a group of researchers interested in the social sciences developed an epistemology that was based on positivist philosophy of science, but at the same time attempted to establish experts as mediators of new knowledge – a potentially conflicting and thus troublesome presumption. As the analysis shows, the solution that emerged in the work of the RAND researchers was to conceive of the expert as medium. This justifies the turn to contemporary media philosophy in order to understand the implications of the conception of the expert as medium; a step that is taken in the ensuing section. An approach to philosophizing media recently proposed by philosopher Sybille Krämer receives special attention. After introducing Krämer’s approach, the remainder of the paper assesses how it helps to understand the intricacies of the social production of knowledge envisioned by RAND’s positivists.
A T ROUBLESOME P RESUMPTION : E XPERTS M EDIATORS OF K NOWLEDGE
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In July 1963, philosopher of science Olaf Helmer confronted the participants of the Third International Conference on Operational Research in Oslo, Norway, with the question whether or not operations research (OR) can be regarded as a science.2 To Helmer, this question was of vital importance. Born in Berlin in 1910, he had studied philosophy with Hans Reichenbach, a renowned philosopher of science and proponent of neo-positivism. After his emigration, Helmer, together with Carl Gustav Hempel, formed the core of what has been called the second generation of the Berlin School of Logical Empiricism.3 The notion of science Helmer had in mind when addressing the Conference on Operational Research was positivist – clear-cut, rigorous, and without any concessions to the non-observable.4 For him, assessing a discipline as scientific was not an issue of academic politics, but one of basic epistemological principles.
2
HELMER Olaf, The Systematic Use of Expert Judgment in Operations Research, P-
3
RESCHER Nicholas, The Berlin School of Logical Empiricism and its Legacy, in:
4
DAYÉ Christian, ’A fiction of long standing‘: Techniques of prospection and the role
2795, Santa Monica 1963. Erkenntnis 64/3 (2006), 281–304. of positivism in US cold war social science, 1950-65, in: History of the Human Sciences 29/4–5 (2016), 35–58.
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When questioning the scientific character of OR, Helmer knew what was at stake. After the United States had entered World War II, Helmer took part in the war effort by serving on the National Defense Research Council. Here, mathematicians and economists researched strategic and war-related problems. Helmer continued this line of work after the end of the war at the RAND Corporation, a de iure independent research organization that de facto heavily depended on the U.S. Air Force.5 The RAND Corporation had emerged out of a collaboration project between the U.S. Air Force and Douglas Aircraft Company, already named Project RAND (for Research ANd Development), in 1947. Its research focused on strategic and technical analyses of (nuclear) warfare and its social, societal and economic consequences. Soon, RAND had become one of the leading research organizations of the Cold War era. In the years and months prior to the July conference, Helmer and his colleagues had been involved in policy research on the Korean War, on the Berlin Crisis and on the Cuban Missile Crisis.6 Vietnam was a hotspot, and RAND researchers were busy with developing and evaluating strategies, which they then communicated to decision-makers in the U.S. Air Force, the Pentagon, and other government agencies. Acting on the highest levels of international polity, strategy analysts like Olaf Helmer had developed a high sensibility for the consequences of their research results. This applied also, if perhaps less drastically, to those in the OR community who worked for large companies. Of course, on the one hand, the question whether OR was more than a mere technique of warfare or business was closely related to the self-concept of the operation researchers. Were they scientists? Or were they military decisions-makers? On the other hand, however,
5
Cf. SMITH Bruce L. R., The RAND Corporation: Case Study of A Nonprofit Advisory Corporation, Cambridge 1966; KAPLAN Fred, The Wizards of Armageddon, New York 1983; HOUNSHELL David, The Cold War, RAND, and the Generation of Knowledge, 1946–1962, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 27/2 (1997), 237–267; idem, The Medium is the Message, or How Context Matters: The RAND Corporation Builds an Economy of Innovation, in: Agatha C. Hughes/Thomas P. Hughes (eds.), Systems, Experts, and Computers: The Systems Approach in Management and Engineering, World War II and After, Cambridge/London 2000, 255–310; COLLINS Martin J., Cold War Laboratory: RAND, the Air Force, and the American State, 1945-1950, Washington/London 2002; ABELLA Alex, Soldiers of Reason: The RAND Corporation and the Rise of the American Empire, Orlando/Austin/New York 2008.
6
ROBIN Ron, The Making of the Cold War Enemy: Culture and Politics in the Military-Intellectual Complex, Princeton 2003.
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the answer to this question also informed the disciplinary structures of OR. While roughly for the first two decades of its existence, OR had been skeptical towards “theory,” this had begun to change during the 1950s.7 When some operations researchers began to claim for a more thorough theoretical foundation of their work, they did so in an attempt to strengthen the identity of the field. This applied in particular to those operations researchers seeking to apply their knowledge in the business sector. Their situation was critical, since many large companies already had their own staff for strategic planning. “In a marketplace replete with expertise, OR’s proponents […] had to offer something more specific.”8 Developments in mathematical theory – innovations in fields such as statistics, game theory, liner programming, and inventory theory – provided a means to ensure a better selling position for OR knowledge. Considerations concerning the marketability of the field’s products thus formed an important factor driving the scientification of OR. However, there was more at stake than just the self-concepts of strategy analysts or the marketability of a field. The whole story had moral implications that transcended the narrow margins of the people within OR. Given the practical success of OR, to establish its character as a science would mean to establish the identity, or at least the congruence, of tactical rationality and scientific truth.9 In this sense, OR complemented the coeval rise of modernization theory, which was concerned with the fate of countries other than the U.S. – mainly with the Third World –, with a focus on how economic and other processes could be organized efficiently in already modernized countries like the U.S.10 Regardless of whether they worked for the military or in the business sector, operations researchers felt a moral responsibility to increase the efficiency of procedures. If
7
Cf. THOMAS William, Rational Action: The Sciences of Policy and Britain and
8
Thomas, Rational Action 198.
9
AMADAE S. M., Rationalizing Capitalist Democracy: The Cold War Origins of Ra-
America, 1940-1960, Cambridge 2015, 196–198.
tional Choice Liberalism, Chicago 2003; ERICKSON Paul/KLEIN Judy L./DASTON Lorraine/LEMOV Rebecca/STURM Thomas/GORDIN Michael D., How Reason Almost Lost Its Mind: The Strange Career of Cold War Rationality, Chicago 2014. 10 On the history of modernization theory, see LATHAM Michael E., Modernization as Ideology. American Social Science and “Nation Building“ in the Kennedy Era, Chapel Hill/London 2000; GILMAN Nils, Mandarins of the Future. Modernization Theory in Cold War America, Baltimore/London 2003; SHAH Hemant, The Production of Modernization: Daniel Lerner, Mass Media, and The Passing of Traditional Society, Philadelphia 2011.
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businesses performed better, the lives of many Americans were improved. If foreign policy performed better, the threat of a nuclear sneak attack by the Soviets would decrease. Given these high stakes, the psychological pressures on those involved in decision-making depended on the stability of the results: the more stable the results, the less hard it was to decide. To cast OR as a science and to develop a systematic body of theory for it was also a strategy to ease the psychological pressure decision-makers were confronted with. At the Oslo conference, Helmer answered his own question with a qualified yes. Given the current state of the field, OR was not able to reach the exactness of the exact sciences. With “no well-established theory for the phenomena to be dealt with by the operations analyst” at hand, the field in his view followed a strategy of successive approximation, trying various models but always being ready to discard them as soon as improved models were available.11 However, while “it is with regard to exactness that operations research falls short”, Helmer argued that this does not necessarily affect the scientific character of its methods.12 Expert judgments or expert opinions could be used as the material basis of research in the inexact sciences. If pooled, expert judgments will result in empirically founded estimations about the phenomenon under scrutiny. What does this conception of a social production of knowledge imply about the nature of those human carriers of knowledge? If by epistemic role we understand the bundle of expectations towards human actors implied in a given social scientific methodology, what is the epistemic role of the experts involved in such “inexact” research? One may start by noting that, in line with those methods of qualitative social research that focus on the expert but in contrast with many other methods of social research, the expert-based conception of a social production of knowledge proposed by Helmer does not attempt to access the cultural meanings an expert attaches to the world she lives in.13 The expert is of interest because of her privileged access to a specific realm – an organization, or a system. In the frame of Helmer’s social epistemology, the system to which the researchers want to gain access is knowledge – knowledge that is often tacit and thus not scientific, but nonetheless crucially informing the experts’ opinions. Their task is to mediate between an audience – the study leaders – and a realm of knowledge
11 Helmer, Systematic Use 2. 12 Helmer, Systematic Use 2. 13 A word on gender: I decided to use the female form when talking about the expert or the messenger. I have also done this in the sections translated from German, though, because as both “Experte” and “Bote” are male nouns, in the original there was always the male form. Of course, all genders are addressed.
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that is not directly accessible to the audience. As Helmer remarked, “[t]he justification for such a procedure [for explicitly and systematically obtaining expert opinions] may be seen in looking upon the expert as an objective indicator, comparable to a measurement instrument.”14 The expert, thus, is expected to deliver data. She is a carrier of knowledge, but of a kind of knowledge she is not fully and reflexively aware of. She is seen as a storage device that delivers messages without distorting them (intentionally). She is, in a word, treated as a medium. Helmer thus assigned to the expert an epistemic role that is foundational for his social epistemology. Since, as I showed above, this epistemic role has considerable overlap with existing theories of mediation, I use theorems and ideas from media philosophy to describe it. Specifically, I look into the work of Sybille Krämer who attempts to reconfigure media philosophy by elaborating on the metaphor of the messenger.15 Unlike other approaches to understanding media, the metaphor of the messenger opens up a perspective of potential agency that makes it very suitable for the human subjects who participated in the RAND studies and were, nonetheless, conceptualized as devices.
T HE M ESSENGER M ODEL OF M EDIA The Mediating Character of the Messenger In her book Medium, Bote, Übertragung, Sybille Krämer proposes an innovative and fruitful approach to media philosophy. She argues that philosophical debate has too long been paralyzed by a manichaean confrontation between positions that ignore media by referring to their supposedly complete transparency and passivity, and positions that, most prominently in Marshall McLuhan’s saying “The medium is the message”, consider media as not heteronomously mediating, but generating or at least substantially transforming information.16
14 Helmer, Systematic Use 3. 15 KRÄMER Sybille, Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt am Main 2008. 16 MCLUHAN Marshall, Understanding Media: The Extensions of Man, London 2003 (originally 1964). The full quotation, on page 7, reads: “In a culture like ours, long accustomed to splitting and dividing all things as a means of control, it is sometimes a bit of a shock to be reminded that, in operational and practical fact, the medium is the message.”
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Krämer attempts to find the middle ground between these two positions and achieves this by using the metaphor of the messenger (Bote) in her approach to describe media. Her analysis leads to the formulation of five dimensions that characterize the messenger model of media: distance, heteronomy, the significance of the third, materiality, and finally indifference.17 First, in contrast to many parts of communication studies literature, a big part of human communication is not dialogical. The situations in which messengers find themselves are exclusively non-reciprocal. There is a difference or distance between those who communicate, which requires the use of a medium to deliver the messages. “The errand is – upon first inspection – a uni-directional, asymmetrical givenness.”18 Second, messengers are heteronomous. The messenger’s task is to deliver the message. When she speaks, she speaks with a voice that is not hers. In this sense, Krämer argues that there is always an external world in which media function and on which they substantially depend. Neither the content of the message nor the selection of its addressee(s) are the messenger’s business. Far from being the message, the medium merely transports it. The message is like a parcel the messenger is not allowed to open. Third, the messenger allows for a (social) relation between previously unrelated entities. As such, she is a nucleus (Keimzelle) of sociality: she makes possible the transgression of the dyadic and the formation of a triadic social structure, of course without taking part in it as subject. But this sociality of the messenger, Krämer writes, also leads to the continuous fragility of the institution of the messenger: “Just because the communicating entities are beyond each other’s reach, the question gains significance whether the messenger keeps her heteronomous status and the neutrality thus established or whether she shows herself as sovereign and manipulator of ‘her’ messages, hence omitting, distorting, or inventing.”19 Fourth, the messenger is conceived of as the materialization of the message. The message is idealistic and per se immobile. To become mobile, it needs a ma-
17 Krämer, Medium 110 ff. 18 My translation of: “Der Botengang ist – zuerst einmal – eine unidirektionale, asymmetrische Gegebenheit.” Krämer, Medium 10. 19 My translation of: “Gerade weil die Kommunizierenden füreinander unerreichbar sind, wird die Frage von Belang, ob der Bote seinen heteronomen Status und die darin angelegte Neutralität wahrt oder ob er sich doch als Souverän und Manipulator ‘seiner’ Nachrichten ‘geriert’, mithin weglässt, verzerrt oder erfindet.” Krämer, Medium 115 f.
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terial carrier. The messenger is the material carrier of the message, of information. To her, the message is external. She lends her physis to the message in order to transport it from one corner of the world to another. The materialization, however, is temporary – the message has to be delivered. The fate of the messenger after this delivery is open; generally, it is assumed that the role of the messenger ends with the delivery of the message, implying that the message slips into oblivion on the part of the messenger. Finally, the messenger behaves indifferently towards the content of her message. She can fulfill her role as a carrier of messages only if she is able to put aside any interest in the meaning of the message she is carrying. Her task is to represent the speech of a communicating party to the other, and this entails the neutralization of her own self – Fremdvergegenwärtigung durch Selbstneutralisierung, as Krämer calls it.20 Mediation by Trustworthiness – The Case of the Witness In the second part of Krämer’s book, the notional framework developed by the use of the metaphor of the messenger is applied to the study of a variety of instances of mediation. Examples of these instances are the figure of the angel, viruses, money, and witnesses. Each of these detailed instances helps her to highlight features and qualities of media. Angels, for instance, mediate by hybridization: they manage to transgress the distance and difference between the two communicating parties by taking a hybrid position, by showing both human and god-like qualities. Another form of mediation is exemplified by money. Money mediates not by hybridization, but by dis-substantialization. Its ability to function as a medium is grounded in the fact that nearly everything can be transferred into its logic: it offers a system in which heterogeneous objects, like e.g. a cottage and a sailing trip, become comparable. Similar to Georg Simmel’s well known analysis, Krämer understands money as substance-less, but at the same time – like Simmel – is able to see that it is exactly this lack of substance that enables money to work as medium and as a nucleus of sociality. In Simmel’s words, money creates a common and central interest that transgresses otherwise separated interests and thereby creates a relation between those, a relation mediated via money.21
20 Krämer, Medium 118. 21 SIMMEL Georg, Philosophie des Geldes, Frankfurt am Main 1989 (originally 1900), 593.
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The instance of most relevance to the topic of this paper, i.e. the concept of the expert in the RAND branch of the Berlin School, is the witness. To Krämer, a witness’s statement or testimony is the mediation of knowledge by trustworthiness (Vertrauenswürdigkeit). The philosophical problem with witnesses and testimony is that traditional Western philosophy has been highly critical of the possibility to achieve true knowledge by testimony of an Alter. Even though knowledge by testimony is a ubiquitous phenomenon, it has long lost out against two other, more prestigious sources of knowledge: direct perception and conclusive reasoning.22 It was not until the last decades that philosophers seriously started to discuss the phenomenon of knowledge by testimony and moved away from the epistemological individualism of traditional analytic epistemology for the benefit of a perspective that acknowledges the dependence of our knowledge on others, i.e. for the benefit of a social epistemology. Nowadays, it is plausible to argue that “ [i]n any case, testimony is a means of the creation of knowledge. (...) Testimony ought to be one of the central topics in the theory of knowledge. ”23 Another philosopher stresses: “Virtually everything we know depends in some way or other on the testimony of others…”24 The following aspects of mediation of knowledge via trustworthiness are of direct relevance to my topic.25 Seen from the standpoint of media philosophy, the situation of a witness in a lawsuit is characterized (1) by an imbalance between the witness and the addressees. The witness has gone through a singular experience that is not only not shared by the audience, but in principle not shareable. At most, this experience is communicable. By communicating her experience, the witness manages to transform a situation marked by ignorance and insecurity into a clear and evident one. (2) The role of the witness is marked by a conflict: “In the horizon of an understanding of the witness as medium whose task it is to
22 Cf. Krämer, Medium 224 f. 23 LIPTON Peter, The Epistemology of Testimony, in: Studies in the History and Philosophy of Science 29/1 (1998), 1–31, this quote: 2. 24 LACKEY Jennifer, Testimony: Acquiring Knowledge from Others, in: Alvin I Goldman/Dennis Whitcomb (eds.): Social Epistemology: Essential Readings, Oxford/New York 2011, 71–91, this quote: 71. 25 Krämer, Medium 228–234, 257–260. Although Krämer also offers an interesting discussion of two extreme types of witnesses, the martyr and the person surviving a major accident or disaster (Überlebenszeuge), I will for obvious reasons focus on the more familiar parts of her discussion, which deal mainly with the concept of witnesses in lawsuits.
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transmit and mediate experiences, we encounter a dilemma which is characteristic for the figure of the witness: the requirement to behave at the same time as a ‘thing’ and as an ‘authentic person’.”26 Both parts of the dilemma are necessary to establish the witness’s trustworthiness. (3) New knowledge on the side of the addressees is created in the interaction between the witness and the addressees and thus depends first on the transmission or mediation of knowledge or experience by the witness and second on the trust the addressees show toward the witness. In a lawsuit, trustworthiness is established by a variety of rituals and routines; to testify at court is a highly structuralized, institutionalized and formalized performative act. This high degree of formalization differentiates a testimony from any other speech act: ideally speaking, it lends truth to the statements. The institutional framework in which the testimony occurs enables it to create evidence (Evidenz) without requiring further justification or theoretical corroboration as any other, ‘normal’ statement would. These considerations of Krämer’s on media and the ways they function – by hybridization, dis-substantialization, trustworthiness etc. – provide fruitful points of departure for tackling many different questions. I will next turn to one specific case: to the RAND philosophers of science and their concept of the expert as medium.
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On the Epistemology of Inexact Sciences The considerations Olaf Helmer presented at the 1963 Conference on Operations Research were not new. He merely re-contextualized and promoted positions he had originally formulated in a paper written together with Nicholas Rescher and published in 1959 in Management Science.27 Rescher, self-declared member of
26 My translation of: “Im Horizont des Verständnisses vom Zeugen als einem Medium, dessen Aufgabe es ist, Wahrnehmungen zu übertragen und zu vermitteln, stoßen wir auf ein Dilemma, welches für die Figur des Zeugen charakteristisch ist: sich zugleich wie ein ‘Ding’ und wie eine ‘authentische Person’ verhalten zu müssen.” Krämer, Medium 259. 27 HELMER Olaf/RESCHER Nicholas, On the Epistemology of the Inexact Sciences, in: Management Science 6/1 (1959), 25–52. The paper circulated internally at RAND as HELMER Olaf/RESCHER Nicholas, On the Epistemology of the Inexact Sciences, R-353, Santa Monica 1960. The following quotes refer to the 1960 RAND report.
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the third generation of the Berlin School of Logical Empiricism, was born in Germany in 1926 and emigrated to the U.S. with his family at the age of twelve. He worked with Helmer at RAND from 1954–57. “On the Epistemology of the Inexact Sciences” sets forth the reasons why sciences that are not in a status to deliver results of high mathematical and logical exactness nevertheless are to be understood as sciences. The authors contend that only a small section of the (natural) sciences are exact in a narrow sense and that the main part of scientific work is carried out under circumstances that undermine any attempt to produce exact results. In many parts of science, “exact procedures are still intermingled with unformalized expertise.”28 This applies both to natural and social sciences. However, the authors argue, what makes something a science is not its degree of exactness, but “objectivity – that is, the intersubjectivity of findings independent of any one person’s intuitive judgment”.29 What is needed is thus to systematize the assessment of expertise required in a given research project into a structure that lends objectivity to its use. If it does so convincingly, then even the social sciences would acquire the potential to predict future developments, of course always tied to an index of contingency. Helmer and Rescher then proceed to describe how the expert, in their view, must be characterized in order to allow for the construction of an epistemology. They define: “A (predictive) ‘expert’ in some subject matter is a person who is rational..., who has large background knowledge E in that field, and whose predictions (actual or implicit in his personal probabilities) with regard to hypotheses H in that field show a record of comparative success in the long run.”30 By rational, the authors understand (1) that the person’s preferences are mutually consistent, (2) that her personal probabilities, i.e. the degree of her convictions in the truth of given hypotheses, are reasonably stable over time; (3) that she is able and willing to change her mind in case new evidence is brought to her attention, and (4) that, given that she knows a hypothesis H, the related evidence E, and the
28 Helmer/Rescher, Inexact Sciences 2. 29 Helmer/Rescher, Inexact Sciences 3. This, of course, is a historically contingent understanding of objectivity. In their book Objectivity, Lorraine Daston and Peter Galison have explored the succession of alternative meanings attributed to the term objectivity with regard to graphic displays of biological entities from the 18th century to the present; cf. DASTON Lorraine/GALISON Peter, Objectivity, Brooklyn 2007. 30 Helmer/Rescher, Inexact Sciences 17.
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degree to which E confirms H, her personal probabilities are in reasonable agreement with this “objective” degree of confirmation.31 All this appears as highly technical, subject-centered and positivist epistemology, not far from the contemporary mainstream e.g. in economics or other fields in which rational choice models were discussed. However, Helmer and Rescher go beyond the traditional reference point of epistemology, the single human mind. Aiming to develop a social alternative to existing epistemologies, they address the question what to do if there is not just one expert, but many experts available on a given research question. “How is the best joint use of these various expert valuations to be made?”32 Apart from selecting one favorite expert or calculating the mean of all the experts’ estimations, Helmer and Rescher mention consensus procedures: the experts are brought into interaction with each other. In the course of this interaction, it is expected, a consensus emerges between experts which then can be taken as a reliable result. This can be done by organizing group discussions or political and operational games but also by the so-called Delphi method, a consensus technique developed by Helmer and colleagues at RAND in the early 1950s.33
31 Helmer/Rescher, Inexact Sciences 16 f. 32 Helmer/Rescher, Inexact Sciences 32; see also KAPLAN A./SKOGSTAD A. L./GIRSHICK M. A., The Prediction of Social and Technological Events, in: Public Opinion Quarterly 14/1 (1950), 93–110. 33 On political games, see GHAMARI-TABRIZI Sharon, Simulating the Unthinkable: Gaming Future War in the 1950s and 1960s, in: Social Studies of Science 30/2 (2000), 163–223; BESSNER Daniel, Weimar Social Science in Cold War America: The Case of the Political Game, in: Jan Logemann/Mary Nolan (eds.), More Atlantic Crossings? European Voices in the Postwar Atlantic Community, Bulletin of the German Historical Institute, Supplement, Washington 2014, 91–109; DAYÉ Christian, In fremden Territorien: Delphi, Political Gaming und die subkutane Bedeutung tribaler Wissenskulturen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25/3 (2014), 83–115; BESSNER Daniel, Organizing Complexity: The Hopeful Dreams and Harsh Realities of Interdisciplinary Collaboration at the Rand Corporation in the Early Cold War, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 51/1 (2015), 31–53. On Delphi, see TOLON Kaya, Future Studies: A New Social Science Rooted in Cold War Strategic Thinking, in: Mark Solovey/Hamilton Cravens (eds.), Cold War Social Science: Knowledge Production, Liberal Democracy, and Human Nature, New York 2012, 45–62; Dayé, Territorien; idem, Fiction.
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At its core, the Delphi method consists of several dependent phases of data gathering.34 After a first questionnaire has been sent out to the participating experts and the answers have been collected, the aggregated results of the first questionnaire are fed back to the experts (optionally with further materials) together with the question whether they want to revise their first answers. This is done as long as – so the expectations of the Delphi developers – the experts’ judgments and estimations converge in an acceptable range. Figure 1: The convergence of experts’ estimates
Source: Dalkey/Helmer, Experimental Application 15.35
In a study that tried to assess the American defense capability in the case of a Soviet nuclear bombing campaign against the U.S., the RAND researchers asked experts to estimate how many bombs the Soviets would have to deliver on target
34 Cf. LINSTONE Harold A./TUROFF Murray (eds.), The Delphi Method: Techniques and Applications, London/Reading 2002; HÄDER Michael, Delphi-Befragungen. Ein Arbeitsbuch, Wiesbaden 2009. 35 Re-printed with the permission of the RAND Corporation.
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in order to damage the defense capabilities of the U.S. to a degree from which the U.S. most likely would not recover within a one-year period.36 While the first estimates covered a relatively large range, the procedure of repeated interrogation indeed resulted in a convergence of experts’ estimates towards a smaller range that was then interpreted as expert consensus (Figure 1). What can we make of Delphi as an instantiation of Helmer and Rescher’s epistemology? What do we learn about the epistemic role of the expert when we attempt to describe it in the language of media philosophy? First, we can note that like the witness, the expert in Delphi studies is conceptualized as a medium that can provide the addressees with knowledge they previously did not have. To this end, experts and witness have specific roles to play which in some respects appear to be very similar. First, there is an imbalance of knowledge between them and their audience. This imbalance defines their communication situations. Both are asked with the hope that they will manage to introduce insight and knowledge into a situation of ignorance and insecurity. On the other hand, a first difference between the witness and the Delphi expert can be identified: while the witness is expected to communicate firsthand knowledge and experiences, the Delphi expert is expected to communicate judgments and estimations based on her expert knowledge. With regard to the cognitive status of the message they are expected to convey, there exists thus a crucial difference between the witness and the Delphi expert. Further, both the witness and the expert are conceived of as something neutral, non-human, objective. This is their epistemic role. Two quotes illustrate this quite impressively. The one is Krämer on the witness: “Witnesses are persons ... which are used as means of evidence...; they ‘serve’ as ‘objects’ and ‘instruments’ for the acquisition of factual knowledge”.37 The second quote is Helmer’s view on experts already cited above: “The justification for such a procedure [for obtaining expert opinions] may be seen in looking upon the expert as an objective indicator, comparable to a measurement instrument.”38 One central feature of what the audiences expect from witnesses and experts is that they act not as persons, but as objective devices that simply record and report facts. However, while witnesses in lawsuits face the dilemma of having to behave in a manner
36 Cf. DALKEY Norman/HELMER Olaf, An Experimental Application of the Delphi Method to the Use of Experts, RM-727/1-ABRIDGED, Santa Monica 1962. 37 My translation of: “Zeugen sind Personen, die ... als Beweismittel (diese ‘sächliche’ Ausdrucksform ist wichtig) eingesetzt werden; sie ‘dienen’ als ‘Objekte’ und ‘Instrumente’ zum Erwerb von Tatsachenwissen...” Krämer, Medium 228. 38 Helmer, Systematic Use 3.
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that is both non-human and human in order to be trusted, comparable considerations at first sight seem to be missing in the epistemology of the inexact sciences. Experts participating in Delphi do not interact directly, a measure allegedly levelling out the "biases" that emerge in social interaction. At closer inspection, however, it becomes clear that the human side plays a larger role within the Delphi and, most likely, within the social epistemology of Helmer and Rescher than acknowledged. One instance to prove this is the hypothesized (and later proven) convergence of experts’ judgments. Quite obviously, the convergence hypothesis is in conflict with the measurement criterion of reliability. Why would an objective measurement instrument alter its results when confronted with the measurement results of other, comparable instruments? No one would expect her watch to change the time it displays after she is shown another watch’s time. Why would a convergence take place if not for social reasons? As a matter of fact, the whole procedure of Delphi would not be necessary, if the expert was only an “objective indicator.” Both the Delphi expert and the witness, then, are expected to show human and non-human forms of behavior. However, this does not imply that the strategies to deal with this problem are the same. In the lawsuit, it appears to be a manner of personality, of acting abilities. The trustworthiness of the witness is, as has been discussed above, further corroborated by the formalized rituals that surround any testimonial in a lawsuit. I do not think it is too farfetched to argue that in the absence of face-to-face interaction, the ideas proposed by Helmer and Rescher must rely almost exclusively on such ritualization to establish trustworthiness. The epistemology of the inexact sciences, but particularly the Delphi method, are forms of ordering speech acts into a formalized structure that entail epistemological ennoblement. The purpose of Helmer and Rescher’s paper was to set forth an argument over the ability of the inexact sciences to deliver objective results. However, in the end, the Delphi procedure does not do much more than lend trustworthiness to an expert consultation process.
C ONCLUSION This chapter discussed a particular approach to the social production of know– ledge. This approach was developed in the 1950s by researchers who worked in operations research for a U.S.-American think tank that received most of its money from military sources. In this context, the question whether or not operations research was a science was not trivial, but opened up a wide array of epistemological, cultural, political, and moral concerns.
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The social epistemology proposed by the RAND researchers aimed to corroborate the claim that operations research was a science, and not just operations research, but other “inexact” sciences as well. It was based on the idea that one could use experts as measuring devices, asking them to deliver estimations about phenomena otherwise not observable. These estimations could then be used as data and receive further analytical treatment, for instance by techniques for establishing a consensus among the experts. Since the expert emerged as such a crucial category, it appeared fruitful to explore in more detail the epistemic role the expert plays in this approach to the social production of knowledge. This was done by reference to ideas from media philosophy, especially those by Sybille Krämer. Using Krämer’s considerations on mediation by trustworthiness as a frame helped to establish that the considerations on the social production of scientific knowledge put forth in “On the Epistemology of the Inexact Sciences” can be reduced to procedural ideas about rituals to establish trustworthiness. Olaf Helmer and Nicholas Rescher, these social epistemologists avant la lettre, in the end failed to establish a convincing epistemological position. It appears that they were still too strongly attached to core ideas of positivist philosophy to realize in its entirety the epistemological potential of thinking about knowledge from a social perspective. This would have required a breach too radical with the tenets they had internalized during their academic lives.
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Zwischen Interpretation und Gestaltung Translation in den Sozial- und Geisteswissenschaften R AFAEL Y. S CHÖGLER (G RAZ )
E INLEITUNG Wissenschaftsgeschichte beschäftigt sich unter anderem mit der Beschreibung unterschiedlicher Deutungen, Kritikpunkte, Interpretationen und Reinterpretationen leitender Theorien, Konzepte und Ideen einer kleinen Anzahl von DenkerInnen. Wenig Beachtung findet die wiederkehrende Interpretation von Texten in Form translatorischer Produkte (Translate). Dieser Beitrag argumentiert, dass die Produktion von Übersetzungen und Neuübersetzungen im Bereich der Sozial- und Geisteswissenschaften als Wissensgestaltung konzipiert werden kann. Dabei bilden Translate nicht zuletzt ein Vehikel für die Beeinflussung der Rezeption bzw. Interpretation aufstrebender oder etablierter Ideen. Das Zustandekommen einer Übersetzung ist ein arbeitsteiliger Prozess. Das Translat steht am Ende einer langen Reihe von Aushandlungen. Verhandelt werden die Selektion, Produktion, Distribution und später auch die Rezeption des Textes. Dabei geht es – insbesondere im wissenschaftlichen Kontext – um die Deutungshoheit und die Interpretationsspielräume, die unterschiedlichen AkteurInnen zugestanden werden. Translate werden als solche nur dann erkannt, wenn diese eine Verbindung zu einem Ausgangstext aufweisen. Auf dem Weg von Ausgangstext zu Zieltext finden jedoch Transformationen statt, die diese Verbindung mehr oder weniger stark aufscheinen oder verschwinden lassen. Denn jede Transformation ist nicht nur sprachlicher Art, sondern auch diskursiver. ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen und all jene, die Kommentare, Einleitungen und andere einbettende Paratexte verfassen, tragen zu diesen Transformationen bei. Auch ver-
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legerische Paratexte beeinflussen die Wahrnehmung und diskursive Weiterverwendung. So kann eine Übersetzerin etwa ausschließlich als solche auf einem Titelblatt aufscheinen oder auch die Rolle der Herausgeberin zuerkannt bekommen. Es geht im vorliegenden Beitrag darum, diese transformativen, wissensgestalterischen Charakteristika translatorischer Praktiken in den Geistes- und Sozialwissenschaften theoretisch zu konzipieren und beispielhaft anhand der Übersetzungen zweier kanonisierter Autoren – Georg Simmel und Max Weber – aufzuarbeiten. Definitorische Abgrenzungen zwischen Übersetzung, Neuübersetzung, Neufassung oder Überarbeitung sind dabei sekundär. Im Vordergrund stehen Selektionspraktiken, wissensgestaltende Transformationen und damit einhergehende Positionierungskämpfe der involvierten AkteurInnen. Wissensgestaltung in den Sozial- und Geisteswissenschaften beschränkt sich nicht auf die Beobachtung und Darstellung sozialer Fakten. Wissen wird in vielfacher Weise diskursiv gestaltet, verändert und adaptiert. Denn die Interpretation, Darstellung und Ordnung von Konzepten und Ideen gehört hier ebenso zur Wissensproduktion, wie das Sammeln von Daten, die Beobachtung sozialer Phänomene oder die Analyse von Quellendokumenten. Besonders ausgeprägt zeigen sich wissensgestaltende Praktiken bei Übersetzungen kanonisierter Texte, was in einigen Fällen sogar zu Neuübersetzungen führen kann und für die exemplarische Veranschaulichung der Gestaltungsspielräume von Nutzen sein wird.
T RANSLATION , W ISSEN UND I NTERTEXTUALITÄT Übersetzungen und Neuübersetzungen als eigenständige Entitäten zu verstehen, widerspricht klassischen – und alltagsnahen – Definitionen von Übersetzung. Linguistische Definitionen basieren ihre Ausführungen auf Äquivalenzkonzeptionen, die stets den Vergleich des Zieltextes mit dem Ausgangstext suchen. Dabei wird die Deutungshoheit dem Ausgangstext gegeben. Diese Ansätze implizieren, ebenso wie die deskriptiven Ansätze der Translationswissenschaft, unterschiedliche Voraussetzungen für Übersetzungen: erstens, das Ausgangstextpostulat oder die Notwendigkeit der Existenz eines Ausgangs- und eines Zieltextes; zweitens, die Möglichkeit einer (logisch und praktisch) herstellbaren Verbindung zwischen Ausgangs- und Zieltext (Beziehungspostulat) und, drittens, die Annahme, dass
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tatsächlich ein Transfer vom Ausgangs- zum Zieltext stattfindet (Transferpostulat).1 In letzter Instanz verwirft Gideon Toury diese Voraussetzungen, indem er die Beweislast umkehrt und Übersetzungen als jene Entitäten definiert, in denen im Zielkontext die drei Postulate als wahr angenommen werden.2 Damit wird dem – im wissenschaftlichen Feld bisher weitgehend unerforschten – Fall der Pseudotranslation Platz eingeräumt. Ein Pseudotranslat bezeichnet ein Produkt, welches zwar im Zielkontext als Übersetzung wahrgenommen wird, jedoch keinen reellen Ausgangstext vorweisen kann.3 Anders ausgedrückt, wäre dies eine Transformation aus dem Nichts. Diese Postulate sagen wenig über die Steuerung und das Zustandekommen eines Translats aus. Auf textueller Ebene wurde und wird daher nach (universell gültigen, kultur- oder textspezifischen) Übersetzungsnormen4 gesucht und – davon meist unabhängig – die soziale und kulturelle Steuerung von Translation problematisiert. Mit dem Rewriting-Konzept führt André Lefevere eine der Hauptideen der sogenannten Manipulation School aus und geht einen Schritt weiter, indem er den transformativen Charakter von Translation ins Zentrum rückt. Die Manipulation äußert sich bereits in der Selektion der zu übersetzenden Texte und setzt sich auf der Textebene fort; sie kann bewusst oder unbewusst stattfinden, wird jedoch – so Lefevere – von unterschiedlichen gesellschaftlichen Kräften sowohl extern (Patronage-System) als auch intern durchgesetzt (für das literarische Feld benutzt Lefevere die Bezeichnung Poetics und bezeichnet damit die vorherrschenden Vorstellungen zu literarischen Werken, die einen Einfluss auf die Manipulation von Texten haben).5 Rewriting bezeichnet jedoch nicht nur die Übersetzung, sondern auch die Präsentation von Texten in neuer Form, wie beispielweise als Sammelband, in Zusammenfassungen oder in einer wissenschaftlichen Abhandlung. Die Konzeption des Rewritings erlaubt es auch, die Ausgangstext-
1
TOURY Gideon, Descriptive Translation Studies and beyond, Amsterdam 1995; für eine Übersicht translationswissenschaftlicher Ansätze siehe: PRUN Erich, Entwicklungslinien der Translationswissenschaft, Leipzig 2007.
2
Toury, Descriptive Translation Studies 35 f.
3
Diese Strategie wurde beispielsweise in autoritären Kontexten genutzt, um Zensurmaßnahmen zu umgehen oder, um den literarischen Kanon zu brechen und für neue bzw. fremde Elemente eine höhere Akzeptanz zu generieren.
4
CHESTERMAN Andrew, Proposal for a Hieronymic Oath, in: The Translator 7/2 (2001), 139–154; oder CHESTERMAN Andrew, From ‘Is’ to ‘Ought’: Laws, Norms and Strategies in Translation Studies, in: Target 5/1 (1993), 1–20.
5
LEFEVERE André, Translation, Rewriting, and the Manipulation of Literary Fame, New York 1992.
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Zieltext Beziehung zu überdenken und paratextuellen Elementen und deren interpretativer Kraft mehr Bedeutung beizumessen.6 Wissensgestaltung als translatorisches Charakteristikum wird hier impliziert. Übersetzungen oder, um bei Lefevere zu bleiben, Rewritings beeinflussen Kulturen. Dabei sind die Einflüsse in unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft unterschiedlich groß. Die wohl meistbeachtete Form des Rewritings findet sich bei religiösen Schriften und den damit verbundenen Reinterpretationen, die für das gesellschaftliche Zusammenleben prägend sind. Ein Interesse für die Prozesse, welche die Selektion von und Manipulationen in Rewritings bestimmen, sollten – nach Susan Bassnett und Lefevere7 – vor allem jene Gesellschaften entwickeln, die zur Sozialisierung nachkommender Generationen verstärkt auf Übersetzungen zurückgreifen.8 Für die wissenschaftliche Sozialisation gilt dies analog und zwar in Bezug auf die Sozialisation in Diskurs- oder Denkgemeinschaften. Disziplinen und deren Subsphären definieren sich unter anderem durch einen gemeinsamen Grundstock an Literatur, Konzepten, Theorien, die als ein intertextuelles Geflecht Teil der spezifischen Sozialisation heranwachsender ForscherInnen sind. Diese in den jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaften kanonisierten Texte, oftmals als „Gründerväter“ oder „Klassiker“ bezeichnet, sind häufig – zumindest in Teilen – übersetzt. Ohne detaillierter auf den Kanonisierungsbegriff eingehen zu können, werden hier AutorInnen und Werke umfasst, die eine lange, wiederkehrende, zum Teil sogar institutionalisierte Form der Interpretation aufweisen und Paradigmenwechsel überstehen. Die Übersetzung dieser Texte wird in den Sozial- und Geisteswissenschaften nur in wenigen Fällen von „uneigennützigen“ (disinterested bei Robert Merton) ÜbersetzerInnen vorgenommen, sondern oftmals mit Hilfe oder gar vollständig von etablierten oder sich gerade etablierenden ForscherInnen. Alleine dadurch erlangt, zumindest in diesem Kontext, die wissensgestaltende Komponente des wissenschaftlichen Rewritings vordergründig Bedeutung. Die ÜbersetzerInnen werden zu Mittlerfiguren, die komplexe Interessenskonfigurationen
6
Führt man diese Gedanken weiter, könnte man auf Homi K. Bhabha verweisen, der die Veränderbarkeit des Originals und die Transformation von Deutung und Bedeutung in den Mittelpunkt translatorischer Mittlerarbeit stellt. Siehe: WOLF Michaela, Die vielsprachige Seele Kakaniens: Übersetzen und Dolmetschen in der Habsburgermonarchie 1848 bis 1918. Wien/Köln/Weimar 2012, 40 ff.
7
BASSNETT Susan/LEFEVERE André, Constructing cultures: Essays on Literary
8
Bassnett/Lefevere, Cultures 10.
Translation, Clevedon 1998.
ZWISCHEN I NTERPRETATION
UND
G ESTALTUNG
| 263
repräsentieren und ihre individuelle Sozialisation, Erfahrungen und Prägung reflektiert oder unbewusst-unreflektiert in den Prozess der Übersetzung einfließen lassen. Diese ersten Konzeptionen von Translation im Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften führen die Wissensgestaltung vor allem auf eine Betrachtung des Zieltextes, der zielkulturellen Einbettung und zielkulturellen Interessen zurück. Transformationen müssen dabei nicht unbedingt als solche wahrgenommen werden, um stattgefunden zu haben. Wie im Fall des Pseudotranslats ist die Wahrnehmungsebene wichtiger als tatsächliche Sinn- oder Kontextverschiebungen. Die soziale Konstruktion von Wissen Auch in der wissenschaftssoziologischen Auseinandersetzung mit der Produktion wissenschaftlichen Wissens ist nicht nur die Analyse des Produktes von Interesse. Wie unterschiedliche Ansätze zeigen, werden auch dort die Entstehungszusammenhänge, Interessen und Machtasymmetrien beachtet. Dies ist ein Umstand, dem die Konzeption von Translation als Wissensgestaltung entgegenkommt. Die erste Welle der Wissenssoziologie sah die Auseinandersetzung mit Wissen nicht als Selbstzweck, sondern lediglich als Mittel zur Unterstützung soziologischer Theorie.9 In diesem Kontext ist vor allem die analytische und real angenommene Trennung zwischen der internen Substanz von Ideen und der externen sozialen Herstellung ebendieser bedeutsam.10 Wissenschaftliches Wissen wurde, da es als rational und asozial angesehen wurde, aus der wissenschaftssoziologischen Analyse ausgenommen. Diese Argumentation lässt sich sowohl für die Natur- als auch die Geistes- und Sozialwissenschaften finden. Zwar wurde in manchen Fällen der Entstehungskontext wissenschaftlicher Erkenntnisse aufgezeigt, allerdings keine soziologischen Schlüsse daraus gezogen.11
9
CAMIC Charles/GROSS Neil, The New Sociology of Ideas, in: Judith R. Blau (Hg.), The Blackwell Companion to Sociology, Malden/Oxford/Carlton 2004, 236–249; für eine umfassendere Sammlung von Texten siehe: CAMIC Charles/GROSS Neil/LAMONT Michèle (Hg.), Social Knowledge in the Making, Chicago/London 2011.
10 Camic/Gross, Sociology 243–248. 11 Camic/Gross, Sociology 239.
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Die New Sociology of Ideas hingegen macht die wissenschaftliche Wissensproduktion zum eigenständigen Forschungsobjekt.12 Diese Reorientierung führt auch zu einem Verwerfen der intern/extern-Distinktion, d. h. einem Verwerfen des Zweifels daran, dass lokale, soziale Gegebenheiten einen Einfluss auf die Produktion von Wissen nehmen können. In der Ideengeschichte finden also der Entstehungskontext und die Einflüsse, denen AutorInnen ausgesetzt waren, zunehmend Beachtung.13 Damit wird u. a. die Annahme verworfen, Texte seien als transparente und kontextlos verständliche Elemente zu betrachten. Verstärkte Beachtung fanden auch lokale Produktionsumstände,14 man widmete sich nunmehr lokalen institutionellen Arrangements statt Erklärungsversuche anhand makrosoziologischer Kategorien zu suchen. Diese Ansätze sind stärker in anthropologischen Traditionen verhaftet und ermöglichen differenziertere Beschreibungen von Handlungsmustern, die auch lokale Lösungen hervorheben können. All diese Faktoren werden mit dem Kampf um soziale und intellektuelle Positionen verbunden.15 Diese Kämpfe haben, so die Annahme, einen Einfluss auf die Ideen, die Form der Äußerung dieser Ideen und die gewählten Formen der Positionierung.16 Charles Camic und Neil Gross führen – mit Bezug auf Michèle Lamont – als Beispiel die Präsentation von Jacques Derrida in Frankreich an. In diesem Zusammenhang könnte auch auf die erfolgreiche Positionierung intellektueller Werke als Teil der Suhrkamp-Kultur in den 1970er-Jahren verwiesen werden, die einen Einfluss auf Rezeption und Verbreitung bestimmter theoretischer Ideen hatte. Diese Beispiele zeigen, dass die Produktion des Wissens lokal ist, dies auf die Rezeption hingegen nicht unbedingt zutrifft, und auf die Vereinbarung jener sozialen Übereinkünfte, wonach Wissen als für einen Bereich legitim erachtet wird, ebenso wenig. Diese
12 Eine der bekanntesten Arbeiten in dieser Tradition ist Bourdieus Homo Academicus. BOURDIEU Pierre, Homo Academicus, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Frankfurt am Main 1988; Camic/Gross, Sociology 243. 13 Camic/Gross, Sociology 246. Dieser Ansatz eignet sich besonders für die Untersuchung von Translation, da auch dort zunehmend der Kontext für die Interpretation und das Verständnis eines Werkes bedeutsam wird. 14 Camic/Gross, Sociology 246 f. 15 Camic/Gross, Sociology 248 f. 16 Zu Positionierung siehe: BAERT Patrick, Positioning Theory and Intellectual Interventions, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 42/3 (2012), 304–324. Für die Verwendung in der Translationswissenschaft siehe: SCHÖGLER Rafael Y., Suhrkamp, Theorie und Translationspolitik. Erste Rekonstruktionsversuche, in: Dirk Kemper, Natalia Bakshi, Paweł Zajas (Hg.), Kulturtransfer und Verlagsarbeit. Suhrkamp und Osteuropa, München 2018.
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Übereinkünfte sind vielmehr Resultat der Verhandlungen der AkteurInnen spezifischer Felder, die für die Hierarchisierung wissenschaftlichen Wissens und von dessen ProduzentInnen verantwortlich sind. Translation und die soziale Konstruktion von Wissen Im Zuge der Diskussion der neuen und alten Wissenschaftssoziologie treten einige Unterscheidungen zum Vorschein, die es ermöglichen, den wissensgestaltenden Charakter von Translation besser zu fassen. Zunächst ebnet die Aufhebung der Unterscheidung zwischen intern und extern den Weg für ein Verständnis von Translation als wissensgestaltend. Denn wenn man die sozialen Umstände, die eingebundenen AkteurInnen und deren soziales, kulturelles und symbolisches Kapital als relevante Umstände anerkennt, kann man auch Übersetzung als wissensgestaltend verstehen. Trennt man jedoch die Produktionsweisen und Produktionsumstände von den Ideen an sich, reduziert sich die translatorische Tätigkeit auf den Aspekt der Reproduktion. Das kontextuelle Verständnis von Ideen scheint der bisher meistbeachtete Aspekt in der Diskussion wissenschaftlicher Übersetzungen zu sein, wenngleich diese Kontextualisierungen von Übersetzungsproduktion und Ideen zumeist als normative Forderung oder Übersetzungskritik präsentiert werden.17 Die Lokalität der translatorischen Wissensproduktion äußert sich wiederum im Stellenwert übersetzerischer Tätigkeiten an unterschiedlichen Orten. So ist die Übersetzung innerhalb einer spezifischen soziologischen Reihe womöglich ein normales Phänomen,18 welches einen bedeutenden Teil der Publikationstätigkeit einer Reihe insgesamt ausmacht (siehe z. B. Suhrkamps Theorie-Reihe oder die Soziologischen Texte des Verlags Luchterhand).19 In anderen Kontexten kann Translation zum Randphänomen werden, welches keinerlei Anerkennung verspricht. Eine rezent installierte institutionelle Rahmenbedingung, die einen Einfluss auf translatorische Tätigkeit hat, sind Evaluierungspraktiken, die lediglich in
17 Auf abstrakter Ebene siehe z. B. GHOSH Peter, Translation as a Conceptual Act, in: Max Weber Studies 2/1 (2001), 5–9; WALLERSTEIN Immanuel, Concepts in the Social Sciences: Problems of Translation, in: Marilyn Gaddis Rose (Hg.), Translation Spectrum. Essays in Theory and Practice, Albany 1981, 88–98; oder als Ausnahme in diesem Diskurs MUNDAY Jeremy, A Translation Studies Perspective on the Translation of Political Concepts, in: Martin J Burke, Melvin Richter (Hg.), Why Concepts Matter, Leiden 2012, 41–58. 18 Schögler, Suhrkamp. 19 Siehe RÖMER Oliver, Die Edition ‚Soziologische Texte’, in: Martin Endress/Klaus Lichtblau/Stephan Moebius (Hg.), Zyklos, Wiesbaden 2015.
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seltenen Fällen das Übersetzen – auch wissenschaftlicher Werke – als eine wissenschaftliche Praxis anerkennen und (positiv) in die Evaluierung einfließen lassen.20 Dieser letzte Punkt weist eine enge Verbindung mit dem Kampf um Ressourcen, Positionen, Legitimität und Anerkennung auf. Diese Aspekte der Wissensproduktion sind in mehrfacher Weise mit translatorischen Praktiken verwoben. Translation kann, wie für literarische Zwecke mehrfach gezeigt wurde, legitmitätsschaffend sein.21 In den Sozial- und Geisteswissenschaften tragen Übersetzungen unter anderem dazu bei, neue Forschungsfelder oder Theoriestränge zu etablieren.22 Auf individueller Ebene können WissenschaftlerInnen Übersetzung in Positionierungskämpfen nutzen. Zum einen können die Übersetzungsstrategien und die gewählten begrifflichen Lösungen theoriegeleitete Präferenzen im Zielkontext beinhalten (siehe iron cage-Debatte unten); zum anderen begrenzt sich der Einfluss auf die Rezeption gewöhnlich nicht auf die textuelle Ebene, sondern beinhaltet ebenso translatorische Paratexte, die maßgeblich die Lektüre und somit auch Interpretationen einer Erst- oder Neuübersetzung beeinflussen können (siehe die Simmel-Einbettung weiter unten). Wissensgestaltung äußert sich in der Transformation eines Ausgangstextes durch den/die ÜbersetzerIn in einem lokalen Kontext, ausgestattet mit spezifischem kulturellen Kapital,23 aber ebenso in den durch die Übersetzung hervorgerufenen Neupositionierung von Wissen im Zielkontext.
20 Siehe z. B.: SIGNATORIES Multiple, Translation as Research: A Manifesto, in: Modern Languages Open (2015), 1–3. 21 EVEN-ZOHAR Itamar, Polysystem Theory, in: Poetics Today 1/1-2, Special Issue: Literature, Interpretation, Communication (1979), 287–310; GOUANVIC Jean-Marc, Sociologie de la traduction. La Science-Fiction Américaine dans l’espace culturel Français des années 1950, Arras 1999; KAINDL Klaus, Übersetzungswissenschaft im interdisziplinären Dialog. Am Beispiel der Comicübersetzung, Tübingen 2004. 22 Zur Einschätzungen des Beitrags von Übersetzungen zur soziologischen Theoriebildung in Slowenien siehe: ADAM Franc, Der Einfluß der Übersetzungen von (deutschen) soziologischen Theoretikern auf die Entwicklung und Profilierung der Soziologie in Slowenien, in: Armin Paul Frank, János Gulya/Ulrich Mölk/Fritz Paul/Brigitte Schultze/Horst Turk (Hg.), Übersetzen, verstehen, Brücken bauen. Geisteswissenschaftliches und literarisches Übersetzen im internationalen Kulturaustausch, Berlin 1993, 777–782. 23 D. h. vor allem sprachliche Kompetenzen, aber ebenso Wissen über die Herstellungszusammenhänge des Ausgangstextes, oder auch Wissen über die bisherige Rezeption eines Werkes/eines Autors oder einer Autorin im Zielkontext.
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Michaela Wolf nennt als zentrale Elemente einer Translationssoziologie die Selektion, Produktion, Distribution und Rezeption von Übersetzungen.24 Beachtet man die Konzeption von Wissen, Wissensproduktion und Wissensforschung der new sociology of ideas aus translationssoziologischer Sicht, treten die Ebenen der translatorischen Wissensgestaltung noch deutlicher zutage: Erstens, Selektion ist auch in der Wissenschaftssoziologie eine bedeutende Größe. Diese wurde sowohl in den alten als auch in den neuen Ansätzen thematisiert und lässt sich gegenwärtig in der Untersuchung lokaler Praktiken und institutioneller Rahmenbedingungen wiederfinden. Die Auswahl der zu übersetzenden Titel wird damit zu einem ersten wissensermöglichenden (oder -verhindernden) Element. Zweitens führt das Verständnis von Wissensproduktion und Übersetzungsproduktion als soziale Praxis dazu, auch translatorische Praktiken als geformt und formend/verändernd anzusehen. Drittens sind die Distributionskanäle und die damit einhergehenden Anerkennungsmechanismen ebenso Teil des Interesses wissenschaftssoziologischer Untersuchung und lassen sich mit der vierten Ebene – der Rezeption – leicht verbinden. Die Formen und Präsentationsweisen der Distribution beeinflussen maßgeblich die Rezeption und Rezeptionsmöglichkeiten. Einleitungen, Nachworte, Rezensionen und das fortwährende Rewriting bestehender Texte und Übersetzungen zeigen den fluiden Charakter der Wissensgestaltung. Simpel ausgedrückt, beschränkt sich für die new sociology of ideas die Wissensproduktion nicht auf das „asoziale“ Erschaffen von Ideen, sondern ist bedingt durch ihre soziale Einbettung und die damit einhergehenden Auswahl-, Produktions-, und Rezeptionspraktiken, die auch die Ideen formen, verändern und ihnen jene Legitimität geben, die notwendig ist, um Teil des wissenschaftlichen Diskurses werden zu können. Intertextualität auf den Schultern von Riesen Geht man detaillierter auf die Wissensgestaltung in den Sozial- und Geisteswissenschaften ein, bietet der Diskurs- und Intertextualitätsbegriff die Möglichkeit zu verstehen, auf welchen Ebenen Translation gestaltend wirkt. Die Grundidee der Intertextualität liegt im Diskursbegriff, der Texte nicht als Einzelelemente, sondern als miteinander in Verbindung stehende Entitäten versteht, die sich durch diese Verbindungen erklären und Bedeutung erhalten. Intertextualität bezeichnet
24 WOLF Michaela, Übersetzer/innen – Verfangen im sozialen Netzwerk? Zu gesellschaftlichen Implikationen des Übersetzens, in: Maria Krysztofiak-Kaszynska (Hg.), Studia Germanica Posnaniensia XXIX. Probleme des literarischen Übersetzens, Pozna 2003, 105–119.
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die diversen, zum Teil widersprüchlichen Textelemente, die bei der Erstellung eines Textes verwendet werden und somit dessen Bestandteile ausmachen. Norman Fairclough verweist auf zwei Ebenen der intertextuellen Netzwerke, die diskurstheoretisch entwickelt wurden. Jene Einflüsse, die sich auf allgemeine Konventionen und Normen von Texten beziehen und Einzug in einen Text finden, werden constitutive intertextuality genannt, und jene Textbezüge, die sich auf einen spezifischen Text zurückverfolgen lassen, als manifest intertextuality bezeichnet. Die Rückverfolgung bleibt dabei jedoch theoretischer Natur, da diese nicht unbedingt explizit angeführt werden muss, um zu bestehen.25 Wissenschaftliche Texte bilden keine Ausnahme in Hinblick auf Intertextualität. Vielmehr basiert wissenschaftliche Wissensproduktion auf ihr. Durch nachvollziehbare Zitierweisen sind sie Prototypen der sichtbaren manifesten Intertextualität, wenngleich diese in historischer Perspektive einer gewissen Relativierung unterzogen werden muss. Die Abhängigkeit der Wissensproduktion auf Vorwissen wird – wunderbar verkürzt – in der bekannten Aussage „auf den Schultern von Riesen“26 festgehalten. Um welche Riesen es sich dabei handelt und welche Texte sich aufeinander direkt oder indirekt beziehen, wird in Diskursgemeinschaften, Wissenskulturen oder Denkschulen ausgehandelt. Übersetzungen unterscheiden sich von anderen wissenschaftlichen Texten darin, dass der Bezugsrahmen (Ausgangstext) dominant ist und somit die intertextuelle Beziehung auch stärker ist, als dies in anderen Formen der wissenschaftlichen Textproduktion der Fall ist. Durch den sprachlichen Transfer findet jedoch unweigerlich eine Transformation der Riesen statt, auf die sich der Zieltext, im Gegensatz zum Ausgangstext, bezieht. Dazu ist eine Gestaltung des Wissens notwendig, die eine eigenständige und kreativ-generierende Arbeit darstellt. Dies ist sowohl für breitere constitutive intertextuality der Fall, als auch für manifest intertextuality. Fairclough hebt hervor: „The concept of intertextuality points to the productivity of texts, to how texts can transform prior texts and [...] generate new ones.“27 Die Veränderbarkeit bestehender bzw. die Generierung neuer Texte ist jedoch nicht unlimitiert, sondern abhängig von vorgelagerten Diskursen und Machtverhältnissen. Für die Übersetzung wissenschaftlicher Texte kann dies anhand einfa-
25 FAIRCLOUGH Norman, Discourse and Social Change, Cambridge/Malden 1992, 102 ff. 26 Für eine Aufarbeitung der Herkunft im Kontext der sozialen Konstruktion von Wissen siehe: MERTON Robert, On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. With a Foreword by Catherine Drinker Bowen, New York 1965. 27 Fairclough, Discourse 102.
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cher Gedankenexperimente nachvollzogen werden. Die Manipulationsmöglichkeiten sind kontext- und personenabhängig. Die (sozial akzeptierte) Manipulation des Textes hängt dabei beispielsweise an der Legitimität und Position der ÜbersetzerInnen: Wird der Text von der Autorin selbst übersetzt? Behält diese dadurch die Kontrolle und kann Eingriffe (Hinzufügungen, Auslassungen, Restrukturierungen, Begriffsbenennungen ...) vornehmen, die andernfalls negativ rezipiert würden? Ist der Übersetzer als Wissenschaftler selbst in der historischen Aufarbeitung der Ideengeschichte eines Begriffs/Autors involviert oder wird der Text von einer „desinteressierten“ Übersetzerin transformiert? Auch die Sprachenkombination kann einen Einfluss auf die Veränderung intertextueller Beziehungen haben: Existieren in einem Sprachraum gewisse Denktraditionen? Wird der/die AutorIn bereits rezipiert oder gar schon übersetzt? Wie nah sind die Sprachen und somit alltagssprachlichen Konzepte, die vorgestellt werden? Ebenso kann der Status der AutorInnen die wissensgestaltenden Transformationen beeinflussen: ist die Autorin am Leben und in der Lage die Zielsprache zu verstehen oder ist der Autor tot und kanonisiert? Das Maß an Reproduktion von Wissen im Vergleich zur Gestaltung – oder gar Produktion28 – von Wissen ist also relativ. In allen Fällen jedoch werden in der translatorischen Praxis Entscheidungen getroffen, die zu einer intertextuellen Konstruktion von Wissen in einem (neuen) Zielkontext beitragen. Auf einer globalen Ebene betrachtet, ist diese Form der Intertextualität wissenschaftlichen Wissens lediglich durch einen Minimalkonsens der wissenschaftlichen Rationalität möglich. Es geht dabei weniger darum, objektives Wissen – ein Konzept, das in vielerlei Hinsicht kritisiert wurde und womöglich besser als Praktik zu untersuchen ist29 – zu produzieren und reproduzieren, sondern darum, Translation als Teil der globalen Expansion der wissenschaftlichen Methode und des wissenschaftlichen Denkens zu verstehen.30 Translation bietet dabei die Möglichkeit, eine repro-
28 Alternativ könnte der Wissensproduktionsbegriff verwendet werden. In diesem Zusammenhang soll mit dem Gestaltungsbegriff jedoch hervorgehoben werden, dass sowohl Neues“ als auch die (neue) Kombination von Altem eine Dimension der Wissensproduktion (oder eben Wissensgestaltung) sein kann und somit die Transformationsarbeit ein reeller und anerkannter Bestandteil in der Ausgestaltung von Wissen in den Sozialund Geisteswissenschaften ist. 29 DASTON Lorraine/GALISON Peter, Objektivität, Frankfurt am Main 2007, 56. 30 Zur Konzeption einer globalen Expansion der wissenschaftlichen Denkweise siehe: DRORI Gili S./MEYER John W./SCHOFER Evan, World Society and the Authority and Empowerment of Science, in: Gili S. Drori/John W. Meyer/Francisco O.
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duktive und gestaltende Kraft zu sein: reproduktiv in Status, Legitimität und Positionierung von Wissen und gestaltend in der Transformation und Einbettung von Wissen, die den lokalen Bedürfnissen der wissenschaftlichen Logik entsprechen. Beide Ebenen sind für eine global funktionierende Wissenschaftslandschaft notwendig und werden auch indirekt diesen Artikel prägen. Im Folgenden wird die wissensgestaltende Komponente translatorischer Praxis anhand dreier Beispiele aufgezeigt. Zunächst werden Selektionsmechanismen besprochen, die Translation und die Erlangung symbolischen Kapitals beinhalten. Dabei wird die Vielübersetzung zweier Gruppen von WissenschaftlerInnen (fast ausschließlich männlichen Geschlechts) differenziert. In einem zweiten Schritt wird die intertextuelle Transformationsarbeit und Wissensgestaltung auf textuellinhaltlicher Ebene zunächst anhand der Übersetzung, Einbettung und (unmittelbare) Rezeption Simmels Philosophie des Geldes ins Englische diskutiert. Das Gestaltungsinteresse der involvierten AkteurInnen wird dabei mit den Transformationsspielräumen in Verbindung gebracht. Schließlich wird – aufbauend auf bestehenden Analysen – die terminologische Wissensgestaltung in der Übersetzung Webers Protestantische Ethik ins Englische thematisiert, um die Gestaltungsspielräume unterschiedlicher AkteurInnen herauszuarbeiten.
S ELEKTION , ANERKENNUNG UND K ANONISIERUNG Gisèle Sapiro und Mauricio Bustamante zeigen, am Beispiel der internationalen Rezeption Pierre Bourdieus, wie diese sich in der Übersetzung zentraler und weniger zentraler Werke äußert.31 Die Sprachen, in die übersetzt wird, folgen dabei zunächst größeren Mustern.32 Auf einer Zeitachse aufgespannt, bieten diese einen Indikator für die zunehmende symbolische Anerkennung Bourdieus auf globaler Ebene. Es ist jedoch die Veröffentlichung und Übersetzung eines Schlüsselwerkes, Sur la télevision, die dazu beigetragen hat, Bourdieu zu einem „globalen Denker“ (global thinker)33 zu transformieren. Ab diesem Zeitpunkt verändern sich die
Ramirez/Evan Schofer (Hg.), Science in the Modern World Polity. Institutionalization and Globalization, Stanford 2003, 27 f. 31 SAPIRO Gisèle/BUSTAMANTE Mauricio, Translation as a Measure of International Consecration. Mapping the World Distribution of Bourdieu’s Books in Translation, in: Sociologica. Italian Journal of Sociology 2–3 (2009), 1–44. 32 HEILBRON Johan, Translation as a Cultural World System, in: Perspectives 8/1 (2000), 9–26; Sapiro/Bustamante, Translation 13 f. 33 Sapiro/Bustamante, Translation 16.
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Übersetzungsmuster: neu publizierte Werke werden schneller übersetzt, und die Zielsprachen diversifizieren sich. Der sogenannte Matthäus-Effekt fängt an zu wirken, d. h. die Anerkennung Bourdieus wirkt sich überproportional stark auf die weitere Beachtung seines Werkes aus.34 Anders ausgedrückt: Bourdieus Werke werden überproportional oft für die Übersetzung selektiert und die Transformation und Wirkung seiner Schriften in neuen Kontexten damit unterstützt. Aus der Selbstdarstellung von VerlegerInnen entnehmen Sapiro et al., dass Übersetzungen für diese ein größeres Risiko darstellen, als dies für monolinguale Publikationen der Fall ist. Neben den ökonomischen Kosten ist in diesem Fall besonders die Zeitkomponente von Bedeutung: die Zeit, geeignete ÜbersetzerInnen zu finden, die Verträge zwischen RechteinhaberInnen zu klären und die erhöhten Anforderungen, um die Kommunikation zwischen allen beteiligen AkteurInnen aufrecht erhalten zu können.35 Die extreme Form der internationalen Anerkennung und Rezeption durch Übersetzung, wie sie Bourdieu zuteilwurde, können nur sehr wenige ForscherInnen vorweisen. Die Schriften solcher globaler DenkerInnen sind in der Regel näher an populärwissenschaftlichen Diskursen oder dem Essay angesiedelt. Damit stehen solche Werke im Widerspruch zu grundlegenden Publikationspraktiken der Fachdisziplinen. Auch die Einbettung in breit sichtbare Reihen, die Auswahl der Verlage und Zitierformen (meist allgemeiner gehalten) dieser Publikationen entsprechen nicht unbedingt den Erwartungen an traditionelle wissenschaftliche Werke. Letztere werden von solchen Personen meist ebenso produziert, jedoch erhalten diese – im Vergleich zu allgemein zugänglichen Monografien – weniger Aufmerksamkeit auf internationaler Ebene bzw. sie werden direkt in einer dominanten akademischen Verkehrssprache verfasst.36
34 MERTON Robert, The Matthew Effect in Science: The Reward and Communication Systems of Science are Considered, in: Science 159/3810 (1968), 56–63. Der MatthäusEffekt bezeichnet die überproportionale Anerkennung, welche jenen VertreterInnen des wissenschaftlichen Feldes entgegengebracht wird, die bereits ein hohes Ausmaß an Anerkennung aufweisen. 35 SAPIRO Gisèle/DUJOVNE Alejandro/FRISANI Marcello/MCCOY Jill Allessandra/ OSTROVIESKY Heber/SEILER-JUILLERET Hélène/SORÁ Gustavo, Sciences humaines en traduction. Les livres français aux États-Unis, au Royaume-Uni et en Argentine, herausgegeben von Gisèle Sapiro. Paris 2014. 36 So ist es beispielsweise weitaus weniger üblich, Zeitschriftenartikel in mehreren Sprachen zu finden. Wenn diese in Übersetzung erscheinen, so meist in gebündelter Form als Leseband, jedoch nicht in einer zielsprachlichen wissenschaftlichen Zeitschrift.
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Für die letzten Jahre und Jahrzehnte könnte man den Versuch unternehmen, eine Liste solcher ForscherInnen/Intellektueller zu erstellen, die überproportional stark für Übersetzungen selektiert wurden. In alphabetischer Reihenfolge könnte diese Liste etwa aus Pierre Bourdieu (375), Noam Chomsky (489), Umberto Eco (1224), Jürgen Habermas (378) und vielleicht auch Amartya Sen (93) oder Slavoj Žižek (175) bestehen.37 Diese Auswahl soll nicht weiter diskutiert werden, wenngleich angemerkt werden darf, dass Umberto Eco durch seine Tätigkeit als Schriftsteller und Forscher eine besondere Position einnahm und daher auch in der Menge an Übersetzungen, die anderen Autoren weit übertrifft. Tabelle 1: Kanonisierte Denker und globale Intellektuelle Name
Lebenszeit
Anzahl Übersetzungen 378
Anzahl Sprachen
Jürgen Habermas
1929
Max Weber
1864–1920
326
37
Theodor W. Adorno
1903–1969
296
30
Norbert Elias
1897–1990
192
24
Georg Simmel
1858–1918
160
27
Niklas Luhmann
1927–1998
126
18
Ulrich Beck
1944–2015
114
24
36
Quelle: UNESCO38
Das Beispiel Bourdieu, aber auch der Verweis auf die Liste gegenwartsnaher Autoren, beschreibt einen ersten dominanten Selektionstypus wissenschaftlicher Übersetzung. Der/Die globale Intellektuelle kommt durch die, einmal etablierte, Anerkennung seiner Schriften in die Position überproportional oft übersetzt zu werden. Bestehende internationale Anerkennung wird zu einem Faktor, der so-
37 Zur allgemeinen Orientierung werden in Klammer die unbereinigten Zahlen des UNESCO Index Translationum, für die Zeitspanne von 1979–2009, ausgewiesen. 38 Daten entnommen aus: UNESCO, Index Translationum: World Bibliography of Translation, 2016, http://www.unesco.org/xtrans/ (1.3.2018).
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wohl durch Übersetzung produziert wird als auch zugleich (weitere) Übersetzungen initiiert. Ein zweites Selektionskriterium, das ebenfalls im symbolischen Kapital verhaftet ist, findet sich in der Übersetzung kanonisierter Denker. In Tabelle 1 werden deutschsprachige Sozialwissenschaftler aufgezählt.39 Die Tabelle besteht aus sieben Vertretern und in allen Fällen oszilliert die Disziplinzugehörigkeit zwischen Soziologie und Philosophie. Unterteilen lassen sich die Autoren nach ihrer Lebenszeit: Mit Habermas, Luhmann und Beck wurden drei Autoren ausgewählt, die – mehr oder weniger – zu gegenwärtigen Vertretern dieser Fächer zählen. Adorno, Elias, Simmel und Weber hingegen sind fest im Kanon der Geschichte der Soziologie (und auch anderer Fachrichtungen) verankert. Der dritte und gewichtigste Identifikationsfaktor ist, abgeleitet von der Diskussion um die globalen Intellektuellen, die Anzahl existierender Übersetzungen. In allen Fällen können im Index Translationum der UNESCO über 100 Übersetzungen ausgewiesen werden, die sich eindeutig den Autoren zuordnen lassen, jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit Zweitauflagen beinhalten, Daten aus manchen Sprachen nicht berücksichtigen und andere Ungenauigkeiten aufweisen.40 Aus der Auswahl ist unschwer das Fehlen weiblicher Vertreterinnen zu erkennen. Als historische Vergleichsgrößen könnten hier lediglich Hannah Arendt (1906–1975), Marie Jahoda (1907–2001) oder Renate Mayntz (1929) dienen. Zwar ist die erste kaum der Soziologie zuordenbar, dafür scheinen über 300 Übersetzungen in 33 Sprachen in der digitalen Fassung des Index auf. Die zwei letzteren sind klarere Vertreterinnen des Faches, weisen jedoch lediglich zehn Übersetzungen auf. Noch besser als die Anzahl der Übersetzungen eignet sich eine Beachtung der Streuung in unterschiedliche Sprachen, um zuverlässige Ergebnisse zu erhalten, da hier Zweit- und Drittauflagen an Relevanz verlieren. Dieses Maß ist auch insofern interessant, als es die globale Verbreitung von Ideen anzeigt. Was die Anzahl der Sprachen und Übersetzungen betrifft, sind sich die globalen Intellektuellen und Klassiker ähnlich. Die weite Verbreitung und Übersetzung der Werke eines Autors/einer Autorin sind jedoch nicht unbedingt ein Indikator für die Kanonisierung wissenschaftlicher AkteurInnen. Die globale Präsenz kann zwar dazu führen, dass die Schriften, Ideen und Theorien dieser Personen in Zu-
39 In den meisten Fällen publizieren die oben genannten Autoren auch auf Englisch (tlw. aus dem Exil) und wurden teilweise ebenfalls aus dem Englischen übersetzt. 40 Für einige Probleme des Index bei der Datenverwendung siehe: SCHÖGLER Rafael Y., Die Rolle von Übersetzungen für die internationale Rezeption der deutschsprachigen Soziologie, in: Stephan Moebius/Andrea Ploder (Hg.), Geschichte der Soziologie im deutschsprachigen Raum, Wiesbaden 2016, 1–20.
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kunft kanonisiert werden, dies ist jedoch nicht notwendigerweise der Fall. Anzeichen für eine Kanonisierung findet man bei Klassikern in Peritexten, die der Übersetzung beiliegen und eine wissenschaftliche Einbettung bzw. Interpretation vornehmen.41 Es kann in diesem Zusammenhang die Hypothese formuliert werden, dass ÜbersetzerInnen dieser kanonisierten AutorInnen großes Interesse haben, sich selbst im Kampf um die legitime Interpretation der übersetzten AutorInnen im Ziel- oder auch Ausgangsfeld zu positionieren.42 Sapiro et al.43 zeigen anhand von Interviews, dass VerlegerInnen die Selektion zu übersetzender Titel stark nach ökonomischen Gesichtspunkten auswählen, wenngleich hier weniger die Profitmaximierung als das Ziel, zumindest kostendeckend zu arbeiten im Vordergrund steht. Die zwei hier gezeigten Beispiele deuten darauf hin, dass die Selektion übersetzter Texte – als Element der Wissensproduktion – zugleich der Anerkennungslogik des wissenschaftlichen Feldes folgen. Für globale Intellektuelle, wie auch für Klassiker wird das Translat (das übersetzte Produkt) nicht nur zum Symbol der Reproduktion ihrer Ideen in einem neuen Kontext, sondern trägt auch zur Legitimierung, Anerkennung, Gestaltung oder gar Kanonisierung dieser Ideen bei. Diese zwei Gruppen sind natürlich nicht die einzigen WissenschaftlerInnen, die übersetzt werden; die Selektionslogik zeigt jedoch, wie bereits etablierte Wissensäußerungen sich leichter verbreiten und legitimieren lassen als dies für Neuankömmlinge im Feld der Fall ist.44
41 Für eine Fallstudie, welche den Unterschied zwischen kanonisierten und nicht-kanonisierten Texten in der Reihe eines namhaften deutschen Verlags herausarbeitet, siehe Schögler, Suhrkamp. 42 Diese Aussage muss hypothetischen Charakter aufweisen, da das kulturelle Kapital der ÜbersetzerInnen von globalen Intellektuellen und Klassikern in beiderlei Fällen meist spezifisch den Fachbereichen zugeordnet werden kann. Die institutionelle Anbindung und das Interesse bestimmte theoretische Ideen in einem Feld zu verbreiten hingegen ist womöglich bei den ÜbersetzerInnen von Klassikern höher. Diese Annahme basiert auf Vorarbeiten zu einem Korpus an Übersetzungen vom Deutschen ins Französische im Bereich der SGW von 2003 bis 2013. 43 Sapiro et al., Sciences. 44 Die Selektion von Übersetzungen im wissenschaftlichen Feld lässt sich auch auf anderen Ebenen aufzeigen, wie z. B. der verlegerischen Tätigkeit, die in manchen Fällen stark programmatisch vorgeht und damit die Selektion des zu übersetzenden Wissens beeinflusst.
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Rezeption, Paratexte und Kanonisierung Ein Buch kommt selten allein. Für Gérard Genette werden Texte stets begleitet von Paratexten, d. h. Texten, Bildern, Strukturen, die den eigentlichen Text umrahmen und den LeserInnen vorstellen. Dabei unterscheidet Genette zwischen Peri- und Epitexten. Erstere sind auf bzw. zwischen den Buchdeckeln zu finden und zweitere außerhalb. Zu zweiteren gehören somit Korrespondenzen zwischen Autorin und Lektor oder Notizen der AutorInnen in Tagebuchform. Auch die Korrespondenz mit ÜbersetzerInnen kann hinzugezählt werden, ebenso wie die unmittelbare Rezeption eines Werks in Form von Rezensionen, Werbeanzeigen und dergleichen. Paratexte erfüllen Genette zufolge spezifische Funktionen. Der wohl wichtigste Peritext, die Einleitung, kann dazu genutzt werden, Texte aufzuwerten, abzuwerten, zu erläutern usw.45 Peritexte dienen aber auch dazu, den involvierten AkteurInnen Anerkennung zukommen zu lassen. Die „Umschlagseite eins“46 z. B. zählt die AutorInnen, HerausgeberInnen, ÜbersetzerInnen und ParatextverfasserInnen auf, denen in weiterer Folge auch die Verantwortung für das Werk und das damit verbundene symbolische Kapitel zuerkannt wird.47 In der Translationswissenschaft wurden Paratexte bisher mit dem Ziel untersucht, die Sichtbarkeit von ÜbersetzerInnen zu diskutieren oder den Einfluss von ÜbersetzerInnen auf die Position von Übersetzungen im kulturellen Zielkontext zu erklären. Deane-Cox bezeichnet solche Elemente auch als „translatorische Paratexte.“ Diese können, ebenso wie Ausgangstextvorwörter etc., zur Positionierung beitragen, aber auch als Informationsquelle bezüglich gewählter Übersetzungsstrategien dienen.48 In Translaten kanonisierter AutorInnen sind solche translatorischen Paratexte besonders einflussreich und eine Quelle, die Aufschluss über die Wissenstransformationen, Anknüpfungspunkte und Positionierung im Zielfeld geben kann.
45 GENETTE Gérard, Paratexte, mit einem Vorwort von Harald Weinrich, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt am Main/New York 1987, 190 ff. 46 Genette, Paratexte 29. 47 Genette versteht Übersetzungen selbst als Paratexte. Dies wird von Tahir-Gürçaglar problematisiert, da diese Ansicht der Übersetzung jedwede Eigenständigkeit nimmt. Siehe: TAHIR-GÜRÇAGLAR Sehnaz, What Texts Don’t Tell: The Uses of Paratexts in Translation Research, in: Theo Hermans (Hg.), Crossculturals Transgressions, Manchester 2002, 44–60. 48 DEANE-COX Sharon, Retranslation. Translation, Literature and Reinterpretation, London 2007, 29.
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In folgendem Abschnitt werden zunächst ausgewählte Peritexte in der Übersetzung von Simmels Philosophie des Geldes ins Englische besprochen, um diese anschließend in den Kontext einiger Epitexte, v. a. Rezensionen, zu stellen. Dieser Fall veranschaulicht den Umgang mit kanonisiertem Wissen, die Interessen der involvierten AkteurInnen und die intertextuelle Vernetzung einer translatorischen Äußerung. Simmel gestalten Georg Simmel, ein Autor aus der oben angeführten Liste, wurde in zumindest 27 Sprachen übersetzt. Die Übersetzung einiger seiner Werke ist besonders hervorzuheben. Seine Philosophie des Geldes etwa wurde in zwei Fassungen auf Deutsch veröffentlicht, zunächst 1900 und dann 1907 in einer vermehrten Auflage. Diese zweite Auflage ist vor allem im ersten Teil etwas länger, macht jedoch keine gravierenden argumentativen Schwünge, wurde in weiterer Folge mehrmals aufgelegt und dient häufig als Ausgangstext für Übersetzungen.49 Für den Zeitraum von 1979 bis 2009 findet man Übersetzungen dieses Werkes ins Chinesische, Englische, Finnische, Französische, Italienische, Japanische, Polnische, Serbische, Ungarische und Tschechische, d. h. in zehn Sprachen.50 Die englische Übersetzung erscheint zum ersten Mal 1978 beim Verlag Routledge und Kegan Paul in London und enthält einige translatorische Paratexte.51 Neben der Erwähnung der zwei Übersetzer Tom Bottomore und David Frisby im verlegerischen Paratest (Seite eins), sind dies eine Danksagung (Acknowledgements; xii), eine „Note on the Translation“ (xiii) und eine „Introduction to the translation“ (1–49). Die Danksagung und die Notiz sind beide mit D.F. gezeichnet; die Entstehung der Einleitung wird in der Danksagung kommentiert und damit auch David Frisby zuordenbar.
49 SIMMEL Georg, Philosophie des Geldes, Leipzig 1900; SIMMEL Georg, Philosophie des Geldes, zweite vermehrte Auflage, Leipzig 1907. 50 Quelle ist hier wieder der Index Translationum sowie der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek. 51 SIMMEL Georg, The Philosophy of Money, aus dem Deutschen von Tom Bottomore und David Frisby, London 1978; SIMMEL Georg, The Philosophy of Money, 2nd enlarged edition, herausgegeben von David Frisby, aus dem Deutschen von Tom Bottomore, David Frisby und Käthe Mengelberg, London/New York 1990; SIMMEL Georg, The Philosophy of Money, aus dem Deutschen von David Frisby, London/New York 2004. In späteren Fassungen (z. B. 2004) wird nur Frisby als Übersetzer im verlegerischen Paratext genannt.
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Die Nennung zweier Übersetzer im verlegerischen Paratext schließt die Mitarbeit anderer Personen an der Übersetzung nicht aus. In der Danksagung wird spezifiziert, dass die zwei ersten und das dritte Kapitel von Tom Bottomore übersetzt wurden und der Rest von David Frisby. Des Weiteren werden Glyn Adey, der eine Rohfassung einiger Teile bereitgestellt hatte, und Kaethe Mengelberg, die eine Rohübersetzung des gesamten Werkes zur Verfügung gestellt hatte und bei Erscheinen 1978 bereits verstorben war, genannt. Bei Mengelberg handelt es sich wohl um die exilierte Nationalökonomin Bauer-Mengelberg (1894–1968).52 Weitere namentlich genannte Personen sind Pru Larsen, die für die damals noch notwendige und aufwendige Tipparbeit verantwortlich war, und Professor Horst Baier, der bei der Erstellung der Einleitung zur Seite stand. Adey war zuvor, unter anderem gemeinsam mit David Frisby bei der Übersetzung Karl-Otto Apels Transformation der Philosophie, ebenso wie auch nach Erscheinen des Buches als Übersetzer tätig. Die Zuordnung, Hierarchisierung und Spezifizierung der translatorischen Tätigkeiten positioniert die Akteure zueinander. Frisby wird als zentrale Figur positioniert, die damit auch für die veröffentliche Fassung verantwortlich ist, dem dafür jedoch auch offiziell als Übersetzer Anerkennung entgegengebracht wird. Frisby schließt zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Übersetzung 1978 seine Dissertation ab. Bereits in den 1960er-Jahren war er als Lecturer in Kent tätig und konnte 1975 in ebendieser Position nach Glasgow wechseln, wo er später eine Professur (1991–2005) innehatte, bevor er für einige Jahre an die London School of Economics nach London (2005–2009) wechselte, jener Ort, an dem er seinen ersten Abschluss gemacht hatte.53 Der Lebenslauf Frisbys liest sich für einen Übersetzer eines kanonisierten Werkes nicht unbedingt mit Erstaunen. Man denke dabei an den ersten Übersetzer der Protestantischen Ethik, Talcott Parsons, der ebenfalls als PhD-Student diese Übersetzung anfertigte. In beiden Fällen wird
52 Käthe Menegelberg wird in der Taschenbuchedition von 1982 mit dem Verweis „from a first draft by“ im verlegerischen Paratext erwähnt. Zu Mengelberg siehe: OETTING Jürgen, Käthe Mengelberg, http://www.exilarchiv.de/DE/index.php?option=com_con tent&view=article&id=3678%3Abauer-mengelberg-kaethe&catid=24&Itemid=78& lang=de (1.3.2018). 53 Biografie siehe u. a. GLASGOW University of, David Frisby Biography, 2017, http://www.gla.ac.uk/schools/socialpolitical/research/sociology/frisbymemoriallectures/davidfrisby (1.3.2018); FOWLER Bridget, David Frisby Obituary. Scholar and Expert on German Social Theory, in: theguardian.com, 14.12.2010, https://www. theguardian.com/education/2010/dec/14/david-frisby-obituary (1.3.2018).
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die Notwendigkeit auf fachliche Vorkenntnisse aufzubauen und die damit verbundene wissensgestalterische Komponente der translatorischen Praxis sichtbar. Beide Übersetzer/Sozialwissenschaftler verfügten über Expertise in inhaltlichen Belangen, waren dabei, sich im Zielfeld zu etablieren und wiesen darüber hinaus eine geographische Beziehung zum Ausgangsfeld auf (bei Parsons war dies ein Aufenthalt in Heidelberg, bei Frisby ein Stipendium an der Universität Konstanz). Übersetzung enthält eine wissensgestaltende Komponente, die sich auf persönlicher ebenso wie auf Ebene bestimmter wissenschaftlicher Diskurse manifestiert. Die Akquise personenbezogenen Wissens zeigt sich unter anderem in der weiteren Publikationstätigkeit der AkteurInnen. Frisby wird später als Simmel-Experte anerkannt und publiziert einschlägige Werke, u. a. 1984 Georg Simmel oder 1985 Fragements of Modernity, beide mehrmals übersetzt. Auch das kulturelle translatorische Kapital wird weiter genutzt. Übersetzungen findet man in seiner Bibliografie vereinzelt bereits vor 1978, u. a. Übersetzungen von Artikeln von Hans Albert und Jürgen Habermas gemeinsam mit Glyn Adey. Die letzte Übersetzung seines Lebenslaufs wird mit 1998 datiert und führt zurück zu Simmel On the Sociology of the Family. Die diskursive Ebene wird weiter unten im Konnex der Rezeption der Übersetzung im Zielfeld angesprochen. Der zweite zentrale Akteur ist Tom Bottomore. Frisby lernt Bottomore im Zuge seines MA-Studiums in Sussex kennen, wo letzterer zu diesem Zeitpunkt eine Professur innehat. Damit wird Bottomore zu einer Art Wegbereiter oder Türöffner, wenngleich über die Arbeitsteilung auf Basis der verfügbaren Materialen nur spekuliert werden kann.54 In anderen Fällen ist die Zusammenarbeit eines etablierten Akteurs mit einem Neuankömmling durch die paratextuelle Arbeit geregelt. So kann hier etwa auf die Einleitung von Richard H. Tawney in der ersten Übersetzung der Protestantischen Ethik im Jahre 1930 verwiesen werden, die das soziologische Feld Großbritanniens auf dieses Werk vorbereiten sollte. Zugleich gab dies Tawney die Möglichkeit, seine eigenen Schriften zum Thema Religion und Kapitalismus mit Weber in Verbindung zu bringen.55 Es wurde bereits festgehalten, dass Wissensproduktion nicht nur an der Idee an sich untersuchenswert ist, sondern auch in Bezug auf Äußerungsformen, Präsentationen und die Legitimierung dieses Wissens zu betrachten ist. Für Translate kanonisierter AutorInnen findet eine doppelte Legitimierung statt: Die ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen
54 Möglicherweise könnten die Archive der London School of Economics in den Bottomore Papers nähere Auskunft geben. 55 Für Näheres zu Weber und weitere Quellen siehe: SCHÖGLER Rafael Y., Übersetzungsstrategien und Übersetzungsfelder, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23/3 (2012), 127–160.
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und sonstige Personen, die Texte beisteuern, stellen explizit intertextuelle Verbindungen zum Zielkontext her. Damit legitimieren sie die Übersetzung und die transferierten Wissenselemente. Zugleich dient das symbolische Kapital der Übersetzten als (teil)transferierbar. Die Bedeutsamkeit der Übersetzung der Philosophie des Geldes für den soziologischen und ökonomischen Diskurs ist an den zahlreichen Rezensionen der ersten Übersetzung abzulesen. In den ersten Jahren findet man Rezensionen in The Economic Journal (1979), Journal of Economic Literature (1980), The British Journal of Sociology (1980), Contemporary Sociology (1979), The Review of Metaphysics (1979) oder auch der Revue Française de Sociologie. Zwei Elemente der Rezensionen sind für die Beziehung von Übersetzung und Wissensproduktion von besonderer Bedeutung: der Status der Übersetzung für die Wissenschaft und die die Hervorhebung der gestaltenden Leistung des Übersetzers Frisby. Die Einschätzung des Status der Übersetzung für die wissenschaftliche Weiterverwendung äußert sich in unterschiedlicher Weise. Zunächst wird in allen Rezensionen auf die lange Durststrecke bzw. den langen Zeitraum zwischen der Veröffentlichung des Ausgangstextes und dem Erscheinen der Übersetzung hingewiesen (immerhin 71 bzw. 78 Jahre). Der zweite, viel wichtigere Punkt jedoch, der indirekt den Einfluss von Übersetzungen auf die Entwicklung einer Disziplin anerkennt, sind kontrafaktische Analysen des Wirkens Simmels auf die Ökonomie. Herbert Frankel schreibt dazu beispielsweise „I have no doubt that if an English translation had been available it would have greatly influenced British economists, including, possibly, J. M. Keynes.“56 Auch David Laidler und Nicholas Rowe versuchen sich in einer kontrafaktischen Analyse, indem sie den (möglichen) Nutzen Simmels Denken für die – bereits zum damaligen Zeitpunkt – stark englischsprachige Ökonomie herauszuarbeiten versuchen.57 Simon Smelt hingegen bringt die Rezeptionsgeschichte nicht mit dem Zustandekommen eines Translats in Verbindung. Es sei eher die essayistische Form des Buches, die lediglich „theories in embyro (sic)“ enthielte, und „a failure to produce an analytically clear and productive grasp of the nature and place of money in society“, die eine Rezeption
56 FRANKEL Herbert S., Review: The Philosophy of Money by Georg Simmel, Translated by Tom Bottomore and David Frisby, in: The Economic Journal 89/353 (1979), 180–181. Frankel hatte bereits 1977 einen Artikel geschrieben, der auch in die Rezension von Laidler/Rowe einfließt. 57 LAIDLER David/ROWE Nicholas, Review: George Simmel’s Philosophy of Money. A Review Article for Economists, in: Journal of Economic Literature 18/1 (1980), 97–105.
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gehemmt haben. Um sowohl ökonomische als auch soziologische Theorie zu beeinflussen, wäre „a clearer book by Simmel“ notwendig gewesen.58 Intertextualität ist im Fall der Philosophie des Geldes besonders interessant, da dieses Werk einem essayistischen Texttyp folgt und daher auf Fuß- oder Endnoten verzichtet. Dies eröffnet die Möglichkeit für Kommentatoren, die manifest intertextuality in Einleitungen, Notizen und dergleichen herauszuarbeiten. Ein solcher Kommentar erscheint als Peritext, verfasst von Frisby in Form einer Einleitung. Die Rezensionen loben diese Arbeit überschwänglich: „David Frisby’s Introduction, based on original research, is a major contribution. It lists every significant reference to The Philosophy of Money by Simmel’s contemporaries and by subsequent commentators and analyses their views“;59 „substantielle introduction, riche, solidement documentée. Remarquable par le sérieux et la somme de travail accompli“;60 „The translators’ Introduction helps place the work in the context of Simmel’s own and contemporary German thought“;61 oder auch, indem die Übersetzer zu Herausgebern transformiert werden, wenn es heißt „According to editors.“62 Neben diesen anerkennenden Worten werden die translatorischen Paratexte Frisbys auch inhaltlich beachtet. Vor allem Kurt Wolff nutzt Frisbys Analysen und Einbettungen, um selbst die Rolle Simmels in der Soziologie zu hinterfragen. Simmel, Frisby und andere historisch an Simmel interessierte AutorInnen werden dabei ineinander verwoben.63 Verweise auf manifeste Intertextualität bei Simmel werden besonders deutlich bei Laidler und Rowe mit Satzbausteinen, wie „obviously derives from“, „rejects [author x]“ oder „the source of many of Simmel’s ideas on [...] is clearly [author y]“, auch das Fehlen von Zitaten wird hervorgehoben. Die Verbindungen zu anderen Texten beziehen sich jedoch nicht nur auf die Vergangenheit, sondern auch
58 SMELT Simon, Review: The Philosophy of Money by Georg Simmel, translated by Tom Bottomore and David Frisby; Money: Two Philosophies (The Conflict of Trust and Authority) by S. Herbert Frankel, in: The British Journal of Sociology 31/1 (1980), 138. 59 Frankel, Review 181. 60 CHERKAOUI Mohamed, Review: The Philosophy of Money by Georg Simmel, translated by Tom Bottomore and David Frisby, in: Revue Française de Sociologie 21/2 (1980), 307. 61 Smelt, Review 137. 62 H.N.T., Review: The Philosophy of Money by Georg Simmel, translated by Tom Bottomore and David Frisby, in: The Review of Metaphysics 33/1 (1979), 205. 63 WOLFF Kurt H., Review: The Philosophy of Money by George Simmel, translated by Tom Bottomore and David Frisby, in: Contemporary Sociology 8/4 (1979), 646 ff.
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auf – für Simmel – zukünftige Texte. So werden Ähnlichkeiten zu „modern neoconservatives“64 oder Zitate von in den 1970er-Jahren veröffentlichten Werken angeführt. Auch die Wirkung Simmels in Form von Zitaten in der deutschsprachigen Ökonomie und der Einzug seiner Gedanken in den Kanon des Faches, die eine Zitierung nicht mehr notwendig machten, werden thematisiert.65 Damit wird auch die Nähe mancher Ideen bei Friedrich A. Hayek und Simmel angesprochen, die dann auch in andere Sprachräume überschwappen. Die finale Conclusio von Laidler und Rowe besagt, dass moderne monetäre Ökonomie und Simmels Gedanken sich ergänzen ließen und Simmel die Theoriebildung auch in Zukunft noch beeinflussen werde, d. h. selbst bei einem 70-jährigen zeitlichem Abstand zwischen Ausgangstextproduktion und Zieltextveröffentlichung wird eine unmittelbare Relevanz und intertextuelle Verbindung hergestellt. Manchen gehen die (translatorischen) Manipulationen nicht weit genug. Zwar wird die Veränderung der Struktur positiv empfunden: „the translators have simplified the difficult format of the original text by introducing sub-headings to it“, 66 jedoch gibt es auch Kritik daran, dass nicht noch mehr translatorische Paratexte bzw. Eingriffe zur zielkulturellen Anpassung vorgenommen wurden: „readers might well have benefited from still further guidance as to the main points in his argument.“67 Einen Sonderfall stellt eine Rezension der englischen Übersetzung in der Revue Française de Sociologie dar, die zunächst die dünne Lage an Übersetzungen im französischen Sprachraum beklagt und die weit fortgeschrittene Simmel-Rezeption im englischsprachigen Raum sowie die stete Erweiterung des übersetzten Korpus hervorhebt.68 Im Gegensatz zu den anderen Rezensionen bietet der Verfasser Mohamed Cherkaoui zugleich eine Kritik der Interpretation bzw. des Rewritings durch Bottomore und Frisby. Nach einem Verweis auf die Komplexität der translatorischen Aufgabe wird angemerkt: „Il n’est donc guère étonnant de rencontrer dans la traduction que nous proposent Bottomore et Frisby des libertés, voire même des interprétations parfois douteuses.“69 Auf welche fragwürdigen Übersetzungslösungen sich die Kritik bezieht, bleibt unbeantwortet. Simmel war zu diesem Zeitpunkt im englischsprachigen Raum bereits rezipiert worden, nicht zuletzt durch das kontinuierliche Übersetzen seiner Werke seit
64 Laidler/Rowe, Review 99. 65 Laidler/Rowe, Review 100. 66 Frankel, Review 181. 67 Smelt, Review 137. 68 Cherkaoui, Philosophy 306. 69 Cherkaoui, Philosophy 306.
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(spätestens) 1893,70 aber auch durch die – nicht auf Übersetzungen basierende – Rezeption auf Englisch. Das American Journal of Sociology (AJS) hat bereits zu Simmels Lebzeiten einige Artikel und Übersetzungen einzelner Kapitel seiner Werke publiziert. Aus der Philosophie des Geldes wurde beispielsweise bereits 1900 ein Kapitel veröffentlicht, wobei für die Übersetzung auf das bis dahin unveröffentlichte Manuskript zurückgegriffen wurde.71 Zudem erscheint 1903 ein Text von Samuel P. Altmann im AJS, in welchem dieser die Philosophie des Geldes (in deutscher Fassung zitiert) diskutiert. 1959 findet sich in einem SimmelSammelband eine kommentierte Übersetzung des Inhaltsverzeichnisses der Philosophie des Geldes durch Howard S. Becker.72 In diesem Text kritisiert Becker die unvollständige Rezeption und Übersetzung dieses Werkes im englischsprachigen Raum und nennt lediglich zwei Rezeptionsversuche. Neben Altmann ist dies ein Text von Nicholas Spykman aus dem Jahr 1952, der als deutlich fehlgeleitet eingeschätzt wird.73 Zurück zu Frisby. In einem Nachruf wird ihm nachgesagt, folgende Worte gerne verwendet zu haben „I work on dead Germans, [...] who can't answer back!“74 Für Frisby war das Übersetzen Simmels nicht nur ein Reproduzieren eines Textes, sondern Teil der Arbeit über Simmel, Teil der Interpretations- und Präsentationsweise, an der er arbeitete. Die Möglichkeit durch die Übersetzung den Ausgangstext zu interpretieren, wird in den Rezensionen nur von Cherakoui
70 Siehe: WOLFF Kurt H (Hg.), Georg Simmel, 1858-1918: A Collection of Essays, with Translations and a Bibliography, Columbus 1959, 357 ff. An anderer Stelle (Arnowitz 1994) wird auf Parsons Verzicht Simmel zu behandeln, verwiesen. Parsons konnte mit seinen Schriften die US-amerikanische Rezeption europäischer Denker maßgeblich beeinflusste. Aronowitz begründet die Marginalisierung Simmels bei Parsons damit, dass Simmel keine klare (positivistischen) Methodologie präsentiert (S. 400). Simmel wird vor allem in der Chicagoer Schule früh positiv rezipiert und auch zum Teil übersetzt (siehe S. 401). Dies betrifft jedoch hauptsächlich Schriften Simmels über die Stadt. Siehe: ARONOWITZ Stanley, The Simmel Revival: A Challenge to American Social Science, in: The Sociological Quarterly 35/3 (1994), 397–414. 71 SIMMEL Georg, A Chapter in the Philosophy of Value, in: American Journal of Sociology 5/5 (1900), 577–603. 72 BECKER Howard S., On Simmel’s Philosophy of Money, in: Kurt H. Wolff (Hg.), Georg Simmel, 1858-1918: A Collection of Essays, with Translations and a Bibliography, Columbus 1959, 216–32; ALTMANN S.P., Simmel’s Philosophy of Money, in: American Journal of Sociology 9/1 (1903), 46–68. 73 Becker, Simmel 216 ff. 74 Fowler, Frisby.
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angesprochen, dort jedoch mit kritischen Worten quittiert. Die interpretative Dimension der translatorischen Tätigkeit wird hingegen in der Herausarbeitung der manifesten Intertextualität, welche Frisby nicht nur für den sprachlichen Transfer benötigt hat, sondern auch in eine eigenständige Einleitung einfließen ließ, deutlich. Übersetzungsproduktion und Transformation von Wissen Die immanente Wissensproduktion in der Übersetzungsproduktion wird bei vergleichenden Analysen der – recht raren – Neuübersetzungen kanonisierter Werke leichter sichtbar, als dies in alltäglicheren Übersetzungsanalysen der Fall wäre. Dies hängt mit der Unregelmäßigkeit der Rezeptionsgewohnheiten des wissenschaftlichen Feldes zusammen. Ideengeschichten, Rekonstruktionen der Denktraditionen vergangener DenkerInnen und die wiederholte Auseinandersetzung mit hervorgebrachten Begriffen konzentrieren sich zumeist auf einige wenige AutorInnen und deren Ideen. Wird eine Idee, ein Konzept oder ein Begriff durch ein Translat vermittelt, führt dies in manchen Fällen zu Kritik der Übersetzungsstrategie. Die Übersetzung kann dabei sogar für eine mögliche „Fehlrezeption“ verantwortlich gemacht werden. Das Etikett des Fehlers hilft dabei, die Kritik stärker zu machen, neue Lösungen als besser darzustellen und auf alternative Leseweisen eines Textes, Begriffs oder Konzepts hinzuweisen. Anhand dieser Kritik wird jedoch auch sichtbar, wie Translation als transformative Praktik Wissen gestaltet. Die Übersetzung eines Begriffs ist nie eindeutig – so wie bei der Erschaffung neuer Begriffe selten eine Lösung als einzige Lösung angedacht wird –, und somit enthält die Wahl einer Übersetzungsstrategie stets eine wissensgenerierende Komponente. In weiterer Folge kann diese Transformation weitreichenden Einfluss auf die Rezeption eines Werkes haben bzw. damit auch die Verwendung von Konzepten und die damit verbundene Wissensproduktion beeinflussen. Ein Translat – vor allem eines Klassikers – wird durch Rezeptionsarbeit Teil eines komplexen Ganzen. Der Austausch gewisser Elemente dieses Ganzen ist dabei nicht ohne weiteres möglich, da die Rezeption von Ideen selten an dessen Grenzen stehen bleibt, sondern Kritik, Erweiterung oder Anwendung dieser konzeptuellen Ideen sucht. Wird im Nachhinein versucht ein Element (ein Konzept, einen Begriff oder gar nur eine Benen-
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nung) zu verändern, hat dies Folgen für die bis dahin existierende Rezeptionsarbeit und die Legitimationsarbeit dieser.75 Zugleich macht es die wissensgestaltende Komponente – neben der wissensreproduzierenden – sichtbar. Die Gestaltung von Wissen ist hier sowohl in der translatorischen Praktik als auch in der weiteren Verwendung des produzierten Textes zu finden. Ein mehrmals ins Englische übersetzter soziologischer Klassiker ist Max Webers Protestantische Ethik. Die Weber-Rezeption hat eine eigene Zeitschrift Max Weber Studies hervorgebracht und eine Vielzahl an Begleittexten zu unterschiedlichen Übersetzungen hervorgerufen, die sich mit den Begrifflichkeiten des Weber’schen Denkens auseinandersetzen. Einer dieser Begriffe ist die metaphorische Verwendung von „stahlhartes Gehäuse“,76 die von Weber verwendet wird, um die Strukturierungskraft von Bürokratie zu erklären.77 Die drei bisherigen Übersetzungen wählen hier unterschiedliche Lösungen: Bei Parsons78 wird der oft zitierte iron cage Begriff eingeführt, Peter Baehr und Gordon C. Wells machen daraus „shell as hard as steel“79 und Kalberg bevorzugt „steel hard casing.“80 Bruce R. Douglass gehört zu den letzten, der sich mit dem iron cage Begriff auseinandersetzt und hält dabei deutlich fest: „Max Weber did not invent the
75 In gewisser Weise könnte man Rezeptionsarbeit als ein emergentes Phänomen darstellen. Die Einzelteile werden – durch die fortführende Kanonisierung – zu mehr als der Summe ihrer einzelnen Elemente. Der Emergenzgedanke müsste an anderer Stelle näher ausgeführt werden, um diese im Kontext von Rezeption und Translation anwenden zu können. Hier kann lediglich auf Émile Durkheim, Norbert Elias und Niklas Luhmann verwiesen werden, die mit diesen Konzepten in der Soziologie arbeiten. 76 WEBER Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie 1–3, Tübingen 1920/1988, 203. 77 Für eine Diskussion des iron cage Begriffs siehe: KALBERG Stephen, The Modern World as a Monolithic Iron Cage? Utilizing Max Weber to Define the Internal Dynamics of the American Political Culture Today, in: Max Weber Studies 1/2 (2001), 178–95. 78 WEBER Max, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism, mit einem Vorwort von Richard H. Tawney, aus dem Deutschen von Talcott Parson, London 1930. 79 WEBER Max, The Protestant Ethic and the ‚Spirit’ of Capitalism and Other Writings, herausgegeben, übersetzt aus dem Deutschen, mit einer Einleitung von Gordon C. Wells und Peter Baehr, New York/London/Dublin 2002, 121. 80 WEBER Max, The Protestant Ethic and the Spirit of Capitalism with Other Writings on the Rise of the West, mit einer Einleitung, aus dem Deutschen von Stephen Kalberg, Oxford/New York 2009, 158.
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image of the iron cage. [...] that was the work of Talcott Parsons.“81 Der Begriff wurde quasi zu einem Symbol Weber’schen Denkens und wiederholt an der Erstübersetzung kritisiert. Douglass, wie viele andere auch, versucht sich in ideengeschichtlicher Hermeneutik, um Webers Interpretation des „Gehäuses“ aus anderen Textstellen zu rekonstruieren. Baehr, einer der späteren Übersetzer, identifiziert den Erfinder des Begriffs ebenso deutlich: „the real author of the ‚iron cage’ is not Weber, but one of his first translators, Talcott Parsons.“82 Baehr wählt einen komparativen Zugang, indem er die Charakteristika des „stahlharten“ und des „eisenharten“ Gehäuses vergleicht. Dabei wird die Formbarkeit von Stahl sowie die (durch Menschenhand geleistete) Verarbeitung, im Gegensatz zu Eisen, hervorgehoben. Auch die Unterscheidung zwischen Käfig und Gehäuse kommt dabei zum Vorschein. Diese spezifische Begriffsentscheidung ist in der Rezeption besonders gut aufgearbeitet, jedoch nur ein Bestandteil der Transformationen, welche durch die Übersetzung vollzogen wurden. Gisèla Hinkle weist auf eine breitere Amerikanisierung bei der Übersetzung Webers hin und bringt ein interessantes Verständnis von Übersetzung. Übersetzung ist dabei nicht nur eine sprachliche Transferübung, sondern enthält die Transformationen der Gedankenwelt, die von AutorInnen, ÜbersetzerInnen oder auch den LeserInnen jedoch nicht unbedingt wahrgenommen werden.83 Neben dieser kulturellen Dimension der Wissenstransformation wird der ersten Übersetzung der Protestantischen Ethik auch eine „Parsonifizierung“ vorgeworfen. Baehr beispielsweise hebt Parsons Abneigung der Verhaltenspsychologie hervor, um zu erklären, weshalb Parsons die Rolle von „Antrieben“ als psychologisches Konzept bei Weber herunterspielt.84 Diese hier allzu unzureichend diskutierten Bausteine machen die Transformationsarbeit translatorischer Praktiken deutlich. Zum Vorschein kommen diese – wie bereits Hinkle anmerkt – nicht unbedingt. Auch müssen solche Transformationen nicht unbedingt die ideengeschichtliche Kritik hervorrufen, die es im Fall Parsons gegeben hat. Immerhin resultierte dies in mehrfache Neuübersetzungen,
81 DOUGLASS R. Bruce, ‘Shell as Hard as Steel’ (Or, ‘Iron Cage’): What Exactly Did That Imagery Mean for Weber?, in: Journal of Historical Sociology 29/4 (2015), 503; für eine frühere Diskussion siehe: TIRYAKIAN Edward A., The Sociological Import of a Metaphor: Tracking the Source of Max Weber’s ‘Iron Cage’, in: Sociological Inquiry 51/1 (1981), 27–33. 82 BAEHR Peter, The ‘Iron Cage’ and the ‘Shell as Hard as Steel’. Parsons, Weber, and the Stahlhartes Gehäuse, in: History and Theory 40/2 (2001), 154. 83 HINKLE Gisela, The Americanization of Max Weber, in: Current Perspectives in Social Theory 7/1 (1986), 89 in: Baehr, Iron 155. 84 Baehr, Iron 156.
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die jeweils umfassende Einleitungen, Notizen und Fuß- bzw. Endnoten beinhalten. Es ist sogar wahrscheinlicher anzunehmen, dass diese Transformationsarbeit nur in wenigen Ausnahmefällen Beachtung findet. Dies ist nicht zuletzt der Fall, da – wissenschaftlichen Konventionen folgend – „nur“ die AusgangstextautorInnen zitiert werden. Die Wissensgestaltung kommt also nur dann zum Vorschein, wenn eine zitierbare Einleitung vorzufinden ist, oder massive Kritik an den gefundenen Lösungen verlautbart wird. Die Grenzen zwischen einer neuen Übersetzung, einer Überarbeitung und der neuen Präsentation einer Übersetzung durch die veränderte paratextuelle Einbettung sind fließend, erscheinen für die Kanonisierung wissenschaftlicher Texte jedoch gleichsam von Bedeutung. Die Übertragung und damit einhergehende Transformation von Wissen erfolgt stets unter Einbezug des internalisierten kulturellen Kapitals der involvierten AkteurInnen. Dies äußert sich sowohl im eigentlichen Ausgangstext-Zieltext Transfer, als auch in translatorischen Paratexten, die – vor allem im wissenschaftlichen Bereich – Prägungen, theoretische Vorlieben und das Verständnis der ÜbersetzerInnen für die Ziel- und Ausgangsdiskurse zum Vorschein bringen.
Z USAMMENFASSUNG Die Fragen, die man sich nach diesen Ausführungen stellen muss, lauten: Kann man die Gestaltung von der Reproduktion von Wissen überhaupt trennen? Sind Praktiken der Wissensgestaltung in den Sozial- und Geisteswissenschaften nicht stets eine Mischung aus Produktion und Reproduktion? Wird durch die Transformationen, Interessen, Positionierungen, Einbettungen die translatorische Praktik dadurch nicht ebenso zu einer wissensgestaltenden Praktik? Für die Übersetzer von Simmels Philosophie des Geldes war die Übersetzung Mittel zum Zweck. Die sprachliche Übertragung entsprang dem ideengeschichtlichen Interesse und der Auseinandersetzung mit Simmels Denken. Durch die Einbettung konnte die Rezeption mitgestaltet werden und zugleich – wie aus den Rezensionen zu entnehmen ist – die Position des Übersetzers als (historisch arbeitender) Sozialwissenschaftler gestärkt werden. Im Fall Parsons und der Transformation von Begrifflichkeiten zeigen sich zwei Ebenen der Wissensgestaltung. Zum einen wird in der Literatur auf die theoretische Umwandlung durch Translation hingewiesen, die Parsons dazu verhalf, sein eigenes theoretisches Programm zu stärken und – durch den in der „Fremde“ etablierte Namen – zu unterstützen. Zum anderen hat die Schaffung des iron cage Begriffs die Rezeption dieses maßgeblich mitgestalten können. Nicht nur, dass damit eine erste Benennung für das
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„stahlharte Gehäuse“ gefunden wurde, es wurde damit eine neue rezeptionsrelevante Konnotation geschaffen. Des Weiteren haben solche Transformationen und die Fortführung der Weber-Rezeption dazu geführt, eine Grundlage für die Neuübersetzung – und somit neuerliche Transformation – der Protestantischen Ethik ins Englische zu schaffen. Womöglich ist es nicht weiter von Bedeutung, in der translatorischen Praktik die wissensgestaltende Komponente zu identifizieren und festzuhalten. Womöglich ist es von größerem Interesse, die Fluidität der Transformation und die oftmals damit einhergehenden Interessen (der Verlage, ÜbersetzerInnen, HerausgeberInnen, AutorInnen ...) in Verbindung zu setzen. Im Zusammenhang mit Übersetzung in den Sozial- und Geisteswissenschaften konnte gezeigt werden, wie die Wissensgestaltung bereits bei der Selektion der zu übersetzenden Texte beginnt und mit der Rezeption aufhört.
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AutorInnen
Karin Almasy ist Historikerin, Translationswissenschaftlerin und Übersetzerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die slowenisch-deutschen Wechselbeziehungen, die slowenische Sprachentwicklung, die Slawen in der Habsburger Monarchie sowie die, mit diesen Forschungsthemen in Zusammenhang stehenden, Nationalisierungsprozesse und Translationsgeschichte. Von 2014 bis 2016 war sie Universitätsassistentin am Institut für Theoretische und Angewandte Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz; aktuell ist sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Rahmen des FWF-Projekts „Postcarding Nation, Language, and Identities. Lower Styria on Picture Postcards (1885–1920)“ am Institut für Slawistik und als Lektorin am Institut für Translationswissenschaft der Karl-Franzens-Universität Graz tätig. Karin Almasy ist Autorin von Wie aus Marburgern „Slowenen“ und „Deutsche“ wurden. Ein Beispiel zur beginnenden nationalen Differenzierung in Zentraleuropa zwischen 1848 und 1861, Graz 2014; und Kanon und nationale Konsolidierung. Übersetzungen und ideologische Steuerung in slowenischen Schullesebüchern (1848–1918), Wien/Köln/ Weimar 2018. Christian Dayé ist Assistent am Institut für Soziologie der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt und arbeitet zu Themen der Wissens- und Wissenschaftssoziologie, der Geschichte der Sozialwissenschaften und der Soziologischen Theorie. Er promovierte 2012 an der Karl-Franzens-Universität Graz mit einer Dissertation zur Entwicklung von Methoden der Sozialprognose in der Zeit des Kalten Kriegs. Aktuelle Publikationen: ’A Fiction of Long Standing:’ Techniques of Prospection and the Role of Positivism in US Cold War Social Science, 1950–1965, in: History of the Human Sciences 29/4-5 (2016); gem. mit Stephan Moebius (Hg.): Soziologiegeschichte. Wege und Ziele, Berlin 2015; gem. mit Christian Fleck: Methodology of the history of the social and behavioral sciences, in: James D. Wright (editor-in-chief), International Encyclopedia of the So-
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cial & Behavioral Sciences, 2nd edition, Vol 15, Oxford 2015; In fremden Territorien: Delphi, Political Gaming und die subkutane Bedeutung tribaler Wissenskulturen, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 25/3 (2015). Wolfgang Göderle ist Assistent am Institut für Geschichte der Karl-FranzensUniversität Graz und arbeitet zu neuerer und neuester Wissens- und Technikgeschichte mit Schwerpunkt Zentraleuropa, insbesondere Wissenslogistik und Speichertechnik. Er hat als Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Paris und Graz promoviert und war in der Folge als Postdoc an den Universitäten Erfurt und Wien tätig. Aktuelle Publikationen: Zensus und Ethnizität. Zur Herstellung von Wissen über soziale Wirklichkeiten im Habsburgerreich zwischen 1848 und 1910, Göttingen 2016; Administration, Science, and the State: The 1869 Population Census in Austria-Hungary, in: Austrian History Yearbook 47 (2016); Modernisierung durch Vermessung? Das Wissen des modernen Staats in Zentraleuropa, circa 1760–1890, in: Archiv für Sozialgeschichte 57 (2017). Dominik Gutmeyr ist Assistent am Arbeitsbereich für Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie am Institut für Geschichte der Karl-FranzensUniversität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind Repräsentation und Fotografie im (süd-)östlichen Europa sowie im Kaukasus. Aktuell (2017–2020) ist er Co-Leiter des EU-Forschungsprojektes „Knowledge Exchange and Academic Cultures in the Humanities. Europe and the Black Sea Region“. Jüngste Publikationen: Borderlands Orientalism or How the Savage Lost His Nobility. The Russian Perception of the Caucasus between 1817 and 1878, Wien 2017; gem. mit Karl Kaser (Hg.), Europe and the Black Sea Region. A History of Early Knowledge Exchange (1750–1850), Wien 2018. Johannes Mücke studierte allgemeine Sprachwissenschaft und Philosophie an der Technischen Universität Berlin und ist seit 2012 Doktorand an der KarlFranzens-Universität in Graz. Von 2012 bis 2016 war er Mitarbeiter im FWFProjekt „Netzwerk des Wissens“ am Institut für Sprachwissenschaft der KarlFranzens-Universität Graz; seit 2016 ist er Stipendiat der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Aktuelle Publikationen: gem. mit Luca Melchior und Verena Schwägerl-Melchior (Hg.): Schnittstelle(n) (der) Philologie. Beiträge anlässlich der gleichnamigen Sektion des 9. Kongresses des Frankoromanistenverbandes „Schnittstellen/Interfaces“ (24.–27. September 2014) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Graz 2017; gem. mit Luca Melchior (Hg.):
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Bausteine zur Rekonstruktion eines Netzwerks IV: Von Diez zur Sprachanthropologie, Graz 2013. Manfred Pfaffenthaler ist Mitarbeiter am Graduiertenkolleg „Das Reale in der Kultur der Moderne“ der Universität Konstanz. Nach der Promotion war er Assistent am Arbeitsbereich für Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. In seinem aktuellen Forschungsprojekt beschäftigt er sich mit Staatlichkeit und visueller Kohäsion in den Wissenschaften der Habsburgermonarchie. Jüngste Publikationen: Verlorenes Gold und wachsende Nullen. Zum Trauma der Inflation als Referenzverlust der Zeichen, in: Konstanzer Hefte für Medienwissenschaft 69/20 (2017), 67–74; gem. mit Stefan Benedik und Andreas Zettler: Ort, an denen Geschichte geschrieben wird. Topographien historischen Arbeitens, Weitra 2016; gem. mit Stefanie Lerch, Katharina Schwabl und Dagmar Probst (Hg.), Räume und Dinge: Kulturwissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2014. Christian Promitzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Sozialgeschichte der Medizin, Geschichte der slowenisch-österreichischen Beziehungen und das historische Verhältnis zwischen dem „Westen“ und dem südöstlichen Europa. In den Jahren 2013 bis 2017 war er Leiter des FWF Forschungsprojekts „Infektionskrankheiten und Gesundheitspolitik auf dem Balkan“ mit dem zeitlichen Schwerpunkt auf die Jahre 1828 bis 1912. Aktuelle Publikationen: gem. mit Siegfried Gruber und Harald Heppner (Hg.), Southeast European Studies in a Globalizing World, Zürich 2015; Combating Cholera during the Balkan Wars: The Case of Bulgaria, in: James Pettifer, Tom Buchanan (Hg.), War in the Balkans: Conflict and Diplomacy before World War I. London/New York 2016; Prevention and stigma: the sanitary control of Muslim pilgrims from the Balkans, 1830–1914, in: John Chircop, Francisco Javier Martinez (Hg.), Mediterranean quarantines, 1750–1914: Space, identity and power, Manchester 2018. Theresa Rosinger-Zifko ist Historikerin und Kulturwissenschaftlerin mit den Forschungsschwerpunkten Museologie, Ausstellungsdesign und Design. Ihre Arbeiten wurden mit dem JungforscherInnen-Stipendium der Karl-FranzensUniversität Graz (2012) sowie dem Theodor-Körner-Preis (2015) ausgezeichnet. Aktuell ist sie in einer Netzwerkgesellschaft für Internationalisierung zuständig
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und verantwortlich für ein Netzwerk der Stadt Graz als UNESCO City of Design. Rafael Y. Schögler ist Assistenzprofessor für Translationswissenschaft an der Karl-Franzens-Universität Graz. 2017 war er Gastforscher am Centre for Translation Studies der UCL London sowie dem Centre for Translation and Intercultural Studies der Universität Manchester. Seine Forschungsinteressen umfassen Translationssoziologie, Translation in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Translationsgeschichte und soziologische Methoden für translationswissenschaftliche Fragen. Aktuelle Publikationen: Les fonctions de la traduction en sciences humaines et sociales, in: Parallèles 29/2 (2017); Translation in the Social Sciences and Humanities: Circulating and Canonizing Knowledge, in: Alif 38 (2018).
Geschichtswissenschaft Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.)
Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 2015, 494 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-2366-6 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2366-0
Reinhard Bernbeck
Materielle Spuren des nationalsozialistischen Terrors Zu einer Archäologie der Zeitgeschichte 2017, 520 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 € (DE), 978-3-8376-3967-4 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3967-8
Debora Gerstenberger, Joël Glasman (Hg.)
Techniken der Globalisierung Globalgeschichte meets Akteur-Netzwerk-Theorie 2016, 296 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3021-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3021-7
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Geschichtswissenschaft Alban Frei, Hannes Mangold (Hg.)
Das Personal der Postmoderne Inventur einer Epoche 2015, 272 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3303-0 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3303-4
Manfred E.A. Schmutzer
Die Wiedergeburt der Wissenschaften im Islam Konsens und Widerspruch (idschma wa khilaf) 2015, 544 S., Hardcover 49,99 € (DE), 978-3-8376-3196-8 E-Book: 49,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3196-2
Pascal Eitler, Jens Elberfeld (Hg.)
Zeitgeschichte des Selbst Therapeutisierung – Politisierung – Emotionalisierung 2015, 394 S., kart. 34,99 € (DE), 978-3-8376-3084-8 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3084-2
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