Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert: Persönlichkeiten und Institutionen 9783110888065, 9783110128413


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German Pages 880 [884] Year 1992

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Table of contents :
VORWORT der Herausgeber
EINFÜHRUNG
Die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft
Berlin als Standort historischer Forschung
BEITRÄGE
Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin
Alte Geschichte in Berlin 1810–1960
Mittelalterforschung in Berlin. Dauer und Wandel
Die „Neuere Geschichte“ an der Berliner Universität. Historiker und Geschichtsschreibung im 19./20. Jahrhundert
Brandenburgische Landesgeschichte und preußische Staatsgeschichte. Universitäten, Hochschulen, Archive. Historische Gesellschaften und Vereine
Die Historischen Hilfswissenschaften in Berlin
Die Berliner Kirchenhistoriker
Rechts- und Verfassungsgeschichte in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Berlin
Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums
Osteuropäische Geschichte
„Deutschland und der Osten“ als Problem der historischen Forschung in Berlin
Die Geschichte Nordamerikas in Berlin
Geschichte Lateinamerikas in Berlin
Entwürfe Historischer Welten. Von Humboldt bis Meinecke
Auswahlbibliographie
Register (Personen und Institutionen)
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Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert: Persönlichkeiten und Institutionen
 9783110888065, 9783110128413

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V E R Ö F F E N T L I C H U N G E N DER

H I S T O R I S C H E N KOMMISSION ZU BERLIN BAND 82

PUBLIKATIONEN SEKTION

DER

FÜR DIE GESCHICHTE

BERLINS

w _G DE

Walter de Gruyter · Berlin · New York 1992

GESCHICHTSWISSENSCHAFT IN BERLIN IM 19. UND 20. J A H R H U N D E R T PERSÖNLICHKEITEN UND INSTITUTIONEN

Herausgegeben

von

REIMER HANSEN und WOLFGANG RIBBE

Mit Beiträgen von W I L L I PAUL ADAMS · MARIANNE A W E R B U C H · ALEXANDER D E M A N D T F R I E D R I C H E B E L · KASPAR E L M · W O L F R A M F I S C H E R · H E I N Z G R Ü N E R T REIMER HANSEN · G E R D HEINRICH · ECKART HENNING D I E T E R H E R T Z - E I C H E N R O D E · R E I N H A R D L I E H R · KLAUS M E Y E R W O L F G A N G R I B B E · H A G E N SCHULZE · K U R T - V I C T O R SELGE KLAUS ZERNACK

w DE

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Walter de Gruyter · Berlin · New 1992

York

Die Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin erscheint mit Unterstützung der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung, Berlin

Lektorat der Schriftenreihe Christian Schädlich

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert : Persönlichkeiten und Institutionen / hrsg. von Reimer Hansen und Wolfgang Ribbe. Mit Beitr. von Willi Paul Adams ... — Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin ; Bd. 82 : Publikationen der Sektion für die Geschichte Berlins) ISBN 3-11-012841-1 NE: Hansen, Reimer [Hrsg.] ; Adams, Willi Paul; Historische Kommission < Berlin > : Veröffentlichungen der Historischen ...

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Historische Kommission zu Berlin, Berlin 38 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61

VORWORT Dieses Buch ist aus einer Ringvorlesung unter dem gleichen Titel hervorgegangen, die das Friedrich-Meinecke-Institut im Fachbereich Geschichtswissenschaften als seinen Beitrag zum Veranstaltungsprogramm der Freien Universität zur 750-Jahr-Feier Berlins im Rahmen der Ausstellungen und Vortragsreihen zum Thema „Berlin in der Wissenschaft — Wissenschaft in Berlin" im Wintersemester 1987/88 durchgeführt hat. Den äußeren Zusammenhang des Themas bilden zum einen die Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft und zum anderen der Weg Berlins von der königlich-preußischen Residenzstadt über die deutsche Reichshaupt- und Weltstadt zur gespaltenen VierMächte-Stadt, gelegentlich — im Wege des Nachtrags — auch bereits bis zur wiedervereinigten Hauptstadt des geeinten Deutschland. Die Disposition orientiert sich im wesentlichen an der fachsystematischen und institutionellen Gliederung der modernen Geschichtswissenschaft, wie sie sich in der Tradition der Friedrich-WilhelmsUniversität an der Freien Universität Berlin im Friedrich-MeineckeInstitut des Fachbereichs Geschichtswissenschaften, den historischen Disziplinen und Einrichtungen benachbarter Fachbereiche und Zentralinstitute sowie schließlich an der Kirchlichen Hochschule Berlin ausgebildet hat. Der Gegenstand umfaßt indes erheblich mehr als den Bereich der universitären Forschung und Lehre. Die Planung und Anlage der Ringvorlesung war von der Absicht bestimmt worden, die bedeutenden Repräsentanten, Institutionen und Organisationen der modernen Geschichtswissenschaft in Berlin darzustellen und zu würdigen. So sind über die Universitäten und Hochschulen hinaus auch die übrigen Einrichtungen und Stätten der Erforschung und öffentlichen wissenschaftlichen Pflege von Geschichte miteinbezogen und berücksichtigt worden. Der ursprünglich vorgesehene Beitrag aus der Freien Universität über die Ur- und Frühgeschichte konnte aufgrund unvorhersehbarer ungünstiger Umstände leider nicht geliefert werden. Wir sind daher dem Fachvertreter an der Humboldt-Universität, Herrn Kollegen Heinz Grünert, zu besonderem Dank verpflichtet, daß er die

VI

Vorwort

empfindliche Lücke mit seiner nachträglichen ausführlichen Abhandlung geschlossen hat. Der bemessene Umfang der Lektion einer Ringvorlesung schließt — auch bei extensiver Überarbeitung für die Drucklegung eine erschöpfende Behandlung des jeweiligen Themas aus und nötigt zu Eingrenzung, Auswahl und Uberblick, zu exemplarischer und orientierender Darstellung. Die hierfür erforderlichen sachlichen und konzeptionellen Entscheidungen haben die Autoren jeweils eigenverantwortlich getroffen. Dagegen war allgemein vereinbart worden, grundsätzlich keine lebenden Persönlichkeiten zu behandeln. In wenigen Ausnahmen schien es allerdings ratsam, hiervon abzuweichen, weil sonst wichtige Zusammenhänge zerrissen worden wären. Die Veröffentlichung der Ringvorlesung war ursprünglich im Rahmen der Schriftenreihe der Freien Universität aus Anlaß der 750-JahrFeier Berlins „Wissenschaft und Stadt" vorgesehen. Als dies indes immer fraglicher wurde und weitere Verzögerungen sich schwerlich verantworten ließen, haben wir gern das Angebot der Historischen Kommission und des Verlags Walterde Gruyter wahrgenommen, sie in die Schriftenreihe „Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin" aufzunehmen und alsbald zu publizieren. Gleichwohl beträgt der Abstand zwischen der Ringvorlesung und ihrer Veröffentlichung mittlerweile vier Jahre. Soweit die eng begrenzten Möglichkeiten es zuließen, sind hin und wieder bis zur Fahnenkorrektur geringfügige Änderungen und Ergänzungen, namentlich der Literaturhinweise, nachgetragen worden. Im großen und ganzen präsentiert das Buch jedoch mit Ausnahme des Beitrags über die Ur- und Frühgeschichtsforschung den Stand zur Zeit der Ringvorlesung. Die Orientierung der Gliederung an der etablierten Spezialisierung der modernen Geschichtswissenschaft war nicht unproblematisch, weil sie die heute übliche Abgrenzung und Einteilung nach Epochen, Regionen und Teilbereichen auch auf jene Zeiten ihrer Geschichte überträgt, in denen die fachsystematische und institutionelle Differenzierung noch nicht entsprechend weit ausgebildet war, und sie Persönlichkeiten und Institutionen daher, aber auch aufgrund ihrer besonderen Prägung zuweilen nur teilweise und in verschiedenen Zusammenhängen in Erscheinung treten läßt. Dem möglichen Einwand partieller Behandlung und Würdigung einheitlicher wissenschaftlicher Biographien, Organisationen oder Institutionen steht der konzeptionelle Vorzug zusammenhängender Abhandlungen der geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen gegenüber. Wir hoffen, in dieser Hinsicht mit der vorliegenden

Vorwort

VII

Sammlung ein Buch zu präsentieren, das bei aller Unterschiedlichkeit der Anlage, des Blickwinkels und der Beurteilung im einzelnen einen weitgehend geschlossenen Überblick über das abgesteckte Gebiet ermöglichen und damit zugleich auch die Leistung und Bedeutung der Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert sowie ihren Beitrag zur allgemeinen Entwicklung der modernen Geschichtswissenschaft verdeutlichen kann. Der Aufstieg Berlins zur wissenschaftlichen Metropole Preußens, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik hatte bewirkt, daß die Berufung auf einen Lehrstuhl an der Friedrich-Wilhelms-Universität als „das Laufbahnziel eines deutschen Geschichtsprofessors" 1 oder — wie Friedrich Meinecke in seinen Erinnerungen schreibt — „in der Regel als Höhepunkt und Endstation im akademischen Leben" 2 galt. Die Geschichte der modernen Geschichtswissenschaft in Berlin läßt daher bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein die deutsche Geschichtswissenschaft gleichsam im Fokus ihrer Entwicklung erscheinen und ist somit über die Wissenschaftsgeschichte der Stadt hinaus auch großenteils von allgemeiner, repräsentativer Bedeutung. Die zeitliche Begrenzung auf das 19. und 20. Jahrhundert fixiert einen — bei aller Variation und Differenzierung im Verlauf der Entwicklung — im großen und ganzen recht kohärenten historischen Gegenstand von ungebrochener Vitalität: die moderne Geschichtswissenschaft, der auch das Friedrich-Meinecke-Institut des Fachbereichs Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin mit seiner tagtäglichen institutionellen und individuellen Arbeit in Forschung und Lehre, Ausbildung und Studium unmittelbar angehört. Die auf Berlin konzentrierten Beiträge werden daher über die historische Darstellung, Deutung und Einordnung hinaus auch zu einem Teil als Rechenschaftsbericht, Standortbestimmung und Selbstreflexion der rezenten Berliner Geschichtswissenschaft gelten dürfen. Berlin, im Sommer

Reimer Hansen

1992

Wolfgang

Ribbe

1 Kurt Düwell, Geschichte, in: Tilmann Buddensieg / Kurt Düwell / Klaus-Jürgen Sembach (Hrsg.), Wissenschaften in Berlin. Begleitband .Disziplinen' zur Ausstellung „Der Kongreß denkt", Berlin 1987, S. 111. 2 Friedrich Meinecke, Autobiographische Schriften, hrsg. und eingeh von Eberhard Kessel (= Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 8), Stuttgart 1969, S. 226.

INHALT

VORWORT

der Herausgeber

V

EINFÜHRUNG

REIMER H A N S E N

Die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft

3

W O L F G A N G RIBBE

Berlin als Standort historischer Forschung

45

BEITRÄGE

HEINZ GRÜNERT

Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin ALEXANDER

91

DEMANDT

Alte Geschichte in Berlin 1810—1960

149

K A S P A R ELM

Mittelalterforschung in Berlin. Dauer und Wandel DIETER

211

HERTZ-EICHENRODE

Die „Neuere Geschichte" an der Berliner Universität. Historiker und Geschichtsschreibung im 19./20. Jahrhundert 261

Inhalt

χ GERD

HEINRICH

Brandenburgische Landesgeschichte und preußische Staatsgeschichte. Universitäten, Hochschulen, Archive. Historische Gesellschaften und Vereine 323 ECKART

HENNING

Die Historischen Hilfswissenschaften in Berlin KURT-VICTOR

365

SELGE

Die Berliner Kirchenhistoriker

409

FRIEDRICH EBEL

Rechts- und Verfassungsgeschichte in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert 449 WOLFRAM FISCHER

Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Berlin

487

MARIANNE AWERBUCH

Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums

517

KLAUS M E Y E R

Osteuropäische Geschichte

553

KLAUS Z E R N A C K

„Deutschland und der Osten" als Problem der historischen Forschung in Berlin 57-1 WILLI PAUL ADAMS

Die Geschichte Nordamerikas in Berlin

595

REINHARD LIEHR

Geschichte Lateinamerikas in Berlin HAGEN

633

SCHULZE

Entwürfe Historischer Welten. Von Humboldt bis Meinecke . .

657

Inhalt C A R O L I N E F L I C K und G E R T R A U D

XI SCHRÄGE

Auswahlbibliographie

677

R O S E M A R I E BAUDISCH

Register (Personen und Institutionen)

847

Einführung

Die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft"' REIMER H A N S E N

I

Sucht man die moderne Geschichtswissenschaft in Abgrenzung zur voraufgegangenen der Frühen Neuzeit allgemeingültig zu bestimmen, so wird man sie wohl am deutlichsten durch ihr grundlegendes disziplinares Selbstverständnis charakterisieren können, das sich der Historizität ihres Gegenstandes wie ihrer Erkenntnis bewußt ist. Diese genuine Bedeutung moderner Historie hatte sich angesichts der Auflösung der alteuropäischen Ordnungen unter dem Einfluß der Aufklärung im Verlauf des 18. Jahrhunderts herausgebildet und schließlich gegen das ältere — gleichsam unhistorische — Verständnis der Geschichte durchgesetzt. Anders als in der Antike und im Mittelalter war Historie in der Frühen Neuzeit — ihrem ursprünglichen griechischen Wortsinn entsprechend — im wesentlichen umfassende Erfahrungsund Wirklichkeitswissenschaft, cognitio histórica: empirische Erkenntnis des Konkret-Singulären, der Fakten und Daten. Dem vormodernen Geschichtsbegriff korrespondierte mithin kein bestimmter Erkenntnisgegenstand, sondern nur die allgemeine empirische Erkenntnismethode der cognitio ex datis, die gleichermaßen für die Historia naturalis 1 wie für die Historia humana galt. * Die Anmerkungen sind auf das Nötigste reduziert worden und beschränken sich zur Hauptsache auf Belege. Die Orthographie und Interpunktion historischer Zitate sind um ihrer Ursprünglichkeit willen bewußt nicht modernisiert worden. 1 Allgemein hierzu: Arno Seifert, Cognitio histórica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie (= Historische Forschungen 11), Berlin 1976, insbes. S. 63 ff., 1 7 9 f f . ; Horst Dreitzel, Die Entwicklung der Historie zur Wissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 8 (1981), S. 257 ff.

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Hansen

So konnte Christian Wolff in seiner lapidaren „Eintheilung der Schriften" apodiktisch feststellen: Sie handeln entweder von Geschichten, oder tragen gewisse Lehren vor. Die ersten Schriften, welche man Historische zu nennen pfleget, erzehlen entweder was in der Natur vorgegangen, oder was sich unter den Menschen zugetragen.2 Und noch Immanuel Kant lehrte in seinen Vorlesungen über Logik, daß alle Gelehrsamkeit entweder historisch oder rational sei, sie habe entweder Objecte der Geschichte oder Objecte, die nur durch die Vernunft denkbar sind. Beide Arten der Gelehrsamkeit seien nur der Form nach unterschieden, denn ein historischer Gegenstand könne rational, ein rationaler historisch erkannt werden.3 Wenn eine Erkenntnis das Besondere aus dem Allgemeinen betrachte, sei sie aus der Vernunft entsprungen, wenn man hingegen das Allgemeine aus dem Besonderen ziehe oder auch das Besondere für sich selbst betrachte, so sei die Erkenntnis, die man dadurch erlange, historisch. So kann man, heißt es in einer Nachschrift der Vorlesung, selbst die Philosophie historisch erlernen, wenn man die Sätze eines andern nach der Reihe sich bekannt macht, ohne einzusehen, wie diese Sätze aus allgemeinen Grundsätzen gezogen sind. Die Experimentalphysik ist historisch; denn sie geht nur auf einzelne Fälle. So bald man sie aber durch allgemeine Sätze erkläret, wird sie vernünftig. Vernunfterkenntnisse seien von den historischen somit nicht der Materie, sondern nur der Form nach unterschieden.4 Die empirischen, auf die Erkenntnis des Einzelnen und Besonderen gerichteten gemeinen Wissenschaften sind nach Kant die Domäne des Historikers, die von den konkreten Gegenständen absehenden rationalen Wissenschaften hingegen die des Mathematikers oder des Philosophen.5 Alles vernünftige Wissen werde von der Polymathie, alles konkrete von der Polyhistorie erfaßt. 6 Derjenige, der alle Historische Erkenntniß aller möglichen Wißenschaften innehabe, sei der Polyhistor.7 Als solcher galt ihm 2 Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gehrauche in Erkäntnifi der Wahrheit, in: Christian Wolff, Gesammelte Werke, hrsg. von J. Ecole, J. E. Hofmann, M. Thomann, H . W. Arndt, Abt. 1, Bd. 1, hrsg. von Hans Werner Arndt, Hildesheim 1965, S. 219. 3 Immanuel Kant, Vorlesungen über Logik, in: Kant's Vorlesungen, hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1 ( = Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 24, 4. Abt., Bd. 1), Berlin 1966, S. 359. 4 5 6 7

A. A. A. A.

a. O., a. O., a. O., a. O.,

S. S. S. S.

343. 359. 522, 619, 625. 69.

Moderne Geschichtswissenschaft

5

namentlich Gottfried Wilhelm Leibniz, 8 der freilich auch mit gleichem, wenn nicht gar größerem Fug und Recht als Prototyp des alle mögliche rationale Erkenntnis, also die Polymathie seiner Zeit beherrschenden Mathematikers und Philosophen bezeichnet werden könnte. Die Systematisierung der Wissenschaften nach den Kriterien allgemeiner und singulärer, rationaler und faktischer Erkenntnis ist übrigens auch für Leibniz kennzeichnend, der sich der Berliner Wissenschaftsgeschichte vor allem als Gründungspräsident der Sozietät der Wissenschaften eingeprägt hat. So heißt es in der konzisen Formulierung der Monadologie: Il y a deux sortes de vérités, celles de Raisonnement et celles de Fait. Die Wahrheiten der Vernunft seien notwendig und ihr Gegenteil unmöglich, die der Fakten dagegen kontingent und ihr Gegenteil möglich. 9 Historia war für Leibniz, wie noch ein Jahrhundert später für Kant, die supradisziplinäre Einheit sämtlichen Datenund Faktenwissens. Dabei gliederte er die alle empirische Kenntnis vereinigende Historia universalis in eine Historia naturalis, die die Gegebenheiten der Natur, und eine Historia humana, die die Tatsachen des menschlichen Geschehens erfasse. Letztere galt ihm, der über drei Jahrzehnte am Hof zu Hannover hauptamtlich im Rang eines Hofrats als Historiograph des Weifenhauses wirkte, freilich auch als Historia im engeren und eigentlichen Sinne.10 Die Definition der Historie durch Universalität der Materie und Kontingenz der Erkenntnis hat ihre Ausbildung zu einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin nachhaltig beeinträchtigt. Noch Kant konnte die historische Erkenntniß die leichteste nennen, da sie im Unterschied zur rationalen nur entdecke, was bereits gedacht sei, ohne selbst zu denken.n Sie werde a posteriori gegeben und enthalte schon alles in sich, was zur vernünftigen gehöret.12 Historiker oder Polyhistoren hätten zwar eine wahre Bibliotheca im Kopf, 13 seien jedoch nichts als Halb8

A. a. O., S. 375.

9

Gottfried Wilhelm Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace, fondés en Raison. — Principes de la Philosophie ou Monadologie, publiés intégralement d'après les manuscrits de Hanovre, Vienne et Paris et présentés d'après des lettres inédites par André Robinet, Paris 1954, S. 88. — Zu Leibniz' Bedeutung für die Wissenschaftsgeschichte Berlins: Gerd van den Heuvel, Leibniz in Berlin (= Aus Berliner Schlössern. Kleine Schriften 9), Berlin 1987. 10 Werner Conze, Leibniz als Historiker (= Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1646— 1946, Lief. 6), Berlin 195t, S. 37ff. 11 I. Kant, Vorlesungen... (wie Anm. 3), S. 383. 12 A. a. O., S. 49. " A. a. O., S. 69.

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Hansen

gelehrte.14 Wer nur eine blose Historische Erkenntniß habe, könne wirklich gar nicht Philosophiren, und selbst über Objecte dencken, und urtheilen.15 Im Wissenschaf tsgefüge der frühneuzeitlichen Universität bildete die Historie mithin noch kein eigenständiges Fach. Sie war vor allem Teil des propädeutischen Grundstudiums und seit dem 17. und 18. Jahrhundert zunehmend auch hilfswissenschaftliche Teildisziplin der oberen Fakultäten, namentlich der Theologie und der Jurisprudenz.16 Die moderne Geschichtswissenschaft ist zur Hauptsache aus der Historie im engeren Sinne, der Historia humana, hervorgegangen, die die überlieferten menschlichen Erfahrungen vergangener Zeiten bewahrte und vermittelte, freilich noch nicht im Bewußtsein ihrer Historizität, sondern ihrer überzeitlichen Exemplarität. Die Historia humana verfügte über den großen und reichen Erfahrungsschatz des Menschenmöglichen, sie war Beispielsammlung in pragmatischer Absicht, magistra vitae. Als Gewährsmann dieser Erfahrungen galt weniger der nachgeborene Historiker als der zeitgenössische, der authentische Augen- und Ohrenzeuge. Es sei hier kurz am Beispiel des wohl berühmtesten Repräsentanten der vormodernen Historiographie in Berlin, an Friedrich dem Großen, verdeutlicht. Er hat nämlich mehrmals bekannt, er habe die „Histoire de mon temps" geschrieben, weil er sich verpflichtet gefühlt habe, der Nachwelt, insonderheit seinen Nachfolgern, eine wahre und exakte Darstellung der Ereignisse zu überliefern, die er selbst gesehen habe. Er schrieb ausdrücklich comme témoin oculaire oder comme contemporain et comme acteur17 in der erklärten Uberzeugung, daß die Geschichte am glaubwürdigsten in authentischen Berichten von Zeitgenossen beschrieben werde und daß es daher nicht irgendeinem gelehrten Pedanten, der 1840 geboren werde, noch — in offensichtlicher Anspielung auf Jean Mabillon — einem Benediktiner der Kongregation von St. Maur zukomme, die Geschichte der Begebenheiten darzustellen, die er selbst erlebt und an denen er teilgehabt habe.18 A. a. O., S. 619. A. a. O., S. 50. 16 Hierzu: Josef Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Hundert Jahre Historische Zeitschrift 1859—1959. Beiträge zur Geschichte der Historiographie in den deutschsprachigen Ländern (= Historische Zeitschrift 189), München 1959, S. 266 ff. 17 Friedrich II., König von Preußen, Histoire de mon temps, in: Œuvres historiques de Frédéric le Grand, Roi de Prusse, Bd. 2 (= Œuvres de Frédéric le Grand, Bd. 2), Berlin 1846, S. X X V (Avant-propos 1775), S. XIV (Avant-propos 1746). 18 Friedrich der Große, Geschichte meiner Zeit, in: Die Werke Friedrichs des Großen, 14 15

Moderne

Geschichtswissenschaft

7

Friedrich schrieb die Geschichte seiner Zeit freilich nicht nur zur Unterrichtung, sondern auch zur Belehrung der Posterität. Denn die Geschichte sei die Schule der Fürsten, und es sei an ihnen, aus den Fehlern der vergangenen Jahrhunderte zu lernen, um sie zu vermeiden. 19 Das maßgebliche Kriterium verbürgter Zeitgenossenschaft für die Gewißheit vormoderner historischer Erkenntnis spricht auch aus der dezidierten Auffassung Gotthold Ephraim Lessings, daß der Name eines wahren Geschichtsschreibers nur demjenigen zukomme, der die Geschichte seiner Zeiten und seines Landes beschreibe. Denn nur er könne selbst als Zeuge auftreten und dürfe hoffen, auch von der Nachwelt als solcher geschätzt zu werden, wenn alle anderen, die sich nur als Abhörer der eigentlichen Zeugen erwiesen, schon nach wenigen Jahren von ihresgleichen verdrängt worden seien. Und er fährt fort: Ich bedaure daher oft den mühsamen Fleiß dieser letztern... Die süße Uberzeugung von dem gegenwärtigen Nutzen, den sie stiften, muß sie allein wegen der kurzen Dauer ihres Ruhmes schadlos halten.20 Die abschließende Bemerkung reflektiert einen sicherlich zutreffend beobachteten Sachverhalt, vermag ihn jedoch noch nicht adäquat als Ausdruck der Historizität aller Historiographie zu erklären und einzuordnen. Gleichwohl war diese für die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft bahnbrechende Einsicht bereits merklich herangereift, als Friedrich und Lessing noch so nachdrücklich die Zeugenschaft als eigentliches Kriterium wahrer Geschichtsschreibung geltend machten. II Wichtige Impulse für die Herausbildung und Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft gingen zunächst von der humanistischen Philologie aus. Sie hatte mit ihrer historischen Dreiteilung der lateinischen Literatur das Bewußtsein für die Differenz der Zeiten geschärft, wenn auch durch die normative Verabsolutierung der Antike noch keine wirkliche Historisierung und Individualisierung der Epochen erreichen können. Sie hatte überdies mit der historisch-kritischen Methode zur Restituierung antiker Texte ein wissenschaftliches Ver-

hrsg. von Gustav Berthold Volz, Bd. 2, Berlin 1912, S. 1 (Vorwort 1742). Etwas abweichend: Friedrich II., König von Preußen, Œuvres historiques... (wie Anm. 17),S. XIV. 19 A. a. O., S. XXXII (Avant-propos 1775). 20 Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend, hrsg. u. kommentiert von Wolfgang Bender, Stuttgart 1979, S. 177 f. (52. Brief vom 23.8.1759).

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Reimer Hansen

fahren entwickelt, das analog die Rekonstruktion historischer Daten und Fakten ermöglichte. 21 Andere Anstöße des Wandels waren den Reichsjuristen des 17. und 18. Jahrhunderts zu danken. Sie hatten die Historie, speziell die „Ternsche Reichs-Historie", weiterhin als allgemeine Beispielsammlung für die Praxis behandelt, zugleich aber auch als jeweils besonderen Kontext der Gesetze und Verträge entdeckt, der ihre ursprüngliche Bedeutung und eigentliche Intention, ihre Genese und ihre Wirkung erst hinreichend verständlich machen und authentisch erschließen konnte. 22 So belehrte Nicolaus Hieronymus Gundling seine Studenten an der Universität Halle in einer Vorlesungsankündigung aus dem Jahre 1710 in direkter Ansprache über die Notwendigkeit historischer Studien zum rechten Verständnis der Reichsverfassung, die Historie bilde den wahren grund des iuris publici. Wer dies außer acht lasse, werde den Gegenstand seines Studiums nicht begreifen können. An den faulen und nachlässigen Studenten, der sich der Mühe historischer Studien entziehe, waren daher folgende deutlichen Worte gerichtet: Und damit du deiner kahlen sache eine schmincke geben mögest, so stüzest du dich auf die leges fundamentales und recommendirest dieselbige auf einen visirlichen galimathias, und giebest zu erkennen, das dir selbsten verborgen, was du reden oder schnattern wollen. Dann wann du die leges fundamentales recht verstündest, so wärest du gewiß ein tapferer historicus, und tüchtig, dieselbige gründlich zu erklären. Dann die güldene Bulle muß aus den alten Zeiten und geschickten erläutert, und die reichs-abschiede, welche sich auf vergangene dinge gründen, müssen auch aus büchern und instrumenten, welche vergangene sachen in sich halten, deutlich gemachet werden.23 Der Passauer Vertrag, der Augsburger Religionsfrieden und der Westfälische Frieden seien eine fast zusammenhängende historie und könnten ohne vielen fleiß,

21 Hierzu: Ulrich Muhlack, Historie und Philologie, in: Hans Erich Bödeker/Georg G. Iggers/Jonathan B. Knudsen/Peter H. Reill (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte. Studien zur deutschen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 81), Göttingen 1986, S. 4 9 f f . 22 Hierzu: Notker Hammerstein, Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an deutschen Universitäten im späten 17. und im 18. Jahrhundert, Göttingen 1972, zu den folgenden Ausführungen insbes. S. 2 2 6 f f . ; ders., ReichsHistorie, in: H. E. Bödeker/G. G. Iggers/J. B. Knudsen/P. H. Reill (Hrsg.), Außlärung und Geschichte... (wie Anm. 21), S. 8 2 f f . 23 Nicolaus Hieronymus Gundling, Vorbericht zu denen winter-lectionen 1710, in: Nicolai Hieronymi Gundlings Sammlung kleiner Teutscher Schriften, und Anmerkungen, als ein Anhang zu denen Gundlingianis, Halle 1737, S. 113.

Moderne Geschichtswissenschaft

9

und sonderliche documenta nicht... verstanden werden.24 Gundling hat diesen Zusammenhang auch über den speziellen Gegenstand der Reichsverfassung hinaus verallgemeinert und in der Feststellung zusammengefaßt, das Gegenwärtige müsse aus dem vergangenen, und das zukünftige aus dem gegenwärtigen und vergangenen beurtheilet werden.25 Schließlich sei die für die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft grundlegende Einsicht in die Standortgebundenheit jeder historischen Aussage — des Augenzeugenberichts wie der Mitteilung und Auslegung historischer Nachrichten — erwähnt, die der Erlanger Theologe Johann Martin Chladenius um die Mitte des 18. Jahrhunderts in eingehender Untersuchung des hermeneutischen Erkenntnisvorgangs bei der Auslegung Historischer Nachrichten und Bücher formuliert hat. Jede Historie sei von einem bestimmten Sehe-Punckt aus betrachtet und beschrieben worden und bestehe aus lauter A nschauungs-Urtheilen.26 Die hervorragende Bedeutung der Zeitgenossenschaft für die vormoderne Geschichtsschreibung beruhte auf der gleichsam selbstverständlichen Voraussetzung der unbedingten Glaubwürdigkeit authentischer Augen- und Ohrenzeugen. Die ausdrückliche Selbstverpflichtung zu strikter Wahrhaftigkeit, zu Uberparteilichkeit und Objektivität ist daher geradezu ein Topos der älteren Chronisten und Historiographen ihrer Zeit. So versichert Friedrich der Große seinen Lesern im Vorwort zur „Histoire de mon temps" von 1775 mit der ihm eigenen suggestiven Eindringlichkeit, er werde sich durch nichts davon abhalten lassen, ausschließlich die als Gewährsmann und Akteur erlebte historische Wirklichkeit zu verbürgen, ihre Wahrheit zu bezeugen: Da mein Buch für die Nachwelt bestimmt ist, bin ich von dem Zwange befreit, die Lebenden zu schonen und gewisse Rücksichten zu nehmen, die mit dem Freimut der Wahrheit unvereinbar sind. Ich werde rückhaltlos und ganz laut sagen dürfen, was man sonst nur im stillen denkt. Ich werde die Fürsten schildern, wie sie sind, ohne Vorurteilfür meine Verbündeten und ohne Haß gegen meine Feinde. Von mir selbst werde ich nur da reden, wo es unvermeidlich ist, und man wird mir erlauben, alles, was mich selbst betrifft, nach Casars Vorbild in der dritten Person zu erzählen, um den häßlichen Schein der Selbstsucht zu vermeiden.27 S. 114.

24

A.a.O.,

25

A. a. O., S. 96.

26

J ohann Martin Chladenius, Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und

Schriften, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1742, mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer (= Instrumenta Philosophica. Series Hermeneutica 5), Düsseldorf 1969, S. 181, 184. 27

Friedrich der Große, Geschichte...

(wie Anm. 18), S. 13.

10

Reimer

Hansen

Die Entdeckung des historiographischen Gesichtspunkts und die damit verbundene bewußte Erfahrung der Standortgebundenheit und Perspektivität aller historischen Erkenntnis hat an der Forderung nach wahrhafter, objektiver und unparteiischer Darstellung der Geschichte zunächst nichts geändert, aber das erkenntnistheoretische Interesse vom Gegenstand auf das Subjekt der cognitio histórica erweitert. 28 Chladenius betonte in diesem Zusammenhang, daß der Verfasser einer Historie an einem gewissen Orte, vor gewisse Personen, und unter gewissen Umständen geschrieben habe; daraus erhelle, warum es zu dem Verstände eines historischen Buches nötig sei, daß man den Verfasser, die Zeit und Ort, wenn und wo es geschrieben, und auch wohl die Gelegenheit zu schreiben erkundigen müsse.29 Denn jede Historie, auch und ausdrücklich, wo man nichts als die unumstößlichsten Wahrheiten vortragen, und alle erschlichene Sätze und übereilte Urtheile, ja auch den Schein und allen Vorwurff derselben vermeiden wolle, würde wie jede Einsicht in die Geschichte, ob sie nun bald aus eigener Erfahrung, bald aus anderer Leute Zeugniß, bald durch Muthmassungen gewonnen worden sei, durch AnschauungsUrtheile konstituiert, 30 die wiederum ihrem besonderen Sehe-Punckt unablösbar verhaftet blieben. 31 Eine von Sehe-Punckten und AnschauungsUrtheilen freie Geschichte war für Chladenius nicht mehr denkbar. Die innovativen Impulse, die hauptsächlich von der humanistischen Philologie, der „Reichs-Historie" und der exegetischen Hermeneutik ausgegangen waren, haben die Historie im Verlauf der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nachhaltig beeinflußt, ihr disziplinäres Selbstverständnis und ihre Stellung an den Universitäten merklich verändert. Sie wurden zunehmend in jeweils unterschiedlicher Intensität von der historischen Propädeutik der unteren Artisten- oder philosophischen Fakultäten wie von den historischen Hilfswissenschaften der oberen theologischen und juristischen Fakultäten aufgenommen und programmatisch fortgebildet, wenn auch erst ansatzweise in der historiographischen Praxis erprobt. Man findet sie freilich nicht selten noch recht unvermittelt neben dem tradierten Verständnis der Geschichte wie beispiels-

28 Hierzu: Reinhart Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: Ders./Wolfgang J. Mommsen/Jörn Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit (= Theorie der Geschichte. Beiträge zur Historik, Bd. 1), München 1977, S. 1 7 f f . 29 J. M. Chladenius, Einleitung... (wie Anm. 26), S. 370. 30 A.a.O., S. 184. 51 A.a.O., S. 187.

Moderne

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weise bei dem Professor der Geschichte an der Königlichen Ritterakademie zu Berlin, Jakob Wegelin. Geschichte war für ihn weiterhin die unbegrenzte Sammlung aller menschlichen Erfahrungen und Erkenntnisse, 32 aber auch schon die stuffenweise geschehende Entwickelung, die aus der Folge und dem Zusammenhange der Begebenheiten33 hervorgehe. Man findet sie indes auch reflektiert, verarbeitet und eigenständig weitergeführt wie bei den Repräsentanten der Göttinger historischen Schule, die namhaften Anteil an der Ausbildung der Geschichte zu einer selbständigen wissenschaftlichen Disziplin hatten. 34 Dies gilt neben August Ludwig Schlözer insonderheit für Johann Christoph Gatterer, der weniger durch sein historiographisches Werk als durch seine erkenntnistheoretische, hilfswissenschaftliche und programmatische Begründung einer pragmatischen Geschichtsschreibung zur disziplinären Neuorientierung und Verselbständigung der Historie beigetragen hat. 35 Gatterer hielt noch die Akteure des historischen Geschehens, die bey der Entstehung der Begebenheiten gleichsam in der Fabrike mit gegenwärtig gewesen seien und wie Thukydides, Caesar oder Einhard selbst Hand mit angelegt hätten, für die am besten geeigneten Historiographen. 36 Er berief sich hierbei jedoch nicht so sehr auf die Augen- und Ohrenzeugenschaft des Zeitgenossen als vielmehr auf die aus der eigenen Erfahrung in den Geschäften der Welt gewonnene Fähigkeit zur Erkenntnis der kausalen und finalen Zusammenhänge historischer Begebenheiten. Dieses Kriterium mochte auch Friedrich der Große mitbedacht haben, wenn er für sich in Anspruch nahm, de transmettre à la postérité les faits principaux auxquels j'ai eu part, ou dont j'ai été témoin, zumal er neben anderen zentralen Gesichtspunkten der Geschichte seiner Zeit 32 Jacob Wegelin, Briefe über den Wert der Geschichte, Berlin 1783 (= Scriptor Reprints. Sammlung 18. Jahrhundert), Königstein/Ts. 1981, S. 1. 33 A.a.O., S. 24f. 34 Hierzu: Rudolf Vierhaus, Die Universität Göttingen und die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 18. Jahrhundert, in: Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe ( = Göttinger Universitätsschriften, Serie A, Bd. 2), Göttingen 1987, S. 9 ff. 35 Hierzu: Peter Hanns Reill, Johann Christoph Gatterer, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 6, Göttingen 1980, S. 7 ff.; ders., Die Geschichtswissenschaft um die Mitte des 18. Jahrhunderts, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, S. 171 ff. 36 Johann Christoph Gatterer, Vom historischen Plan, und der darauf sich gründenden Zusammenfügung der Erzählungen, in: Ders. (Hrsg.), Allgemeine Historische Bibliothek von Mitgliedern des königlichen Instituts der historischen Wissenschaften zu Göttingen, Bd. 1, Halle 1767, S. 83 f.

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ausdrücklich les causes qui m'ont fait agir37 hervorhob und vom verantwortlich handelnden Staatsmann forderte, er müsse bei seinen Entscheidungen alle Folgen eines Unternehmens vorhersehen können: prévoire toutes les suites d'une entreprise.38 Gatterer galt es indes als wichtigste Voraussetzung, ja als Gestaltungsprinzip pragmatischer Historiographie, die den Plan zur Erzählung der Begebenheiten am Triebwerk der Geschichte selbst orientiere. 39 Er hielt die pragmatische jeder anderen Form der Geschichtsschreibung für weit überlegen, weil das innere Verhältnis der Begebenheiten,40 die Kohärenz allen Geschehens und damit zugleich auch seine angemessene historiographische Ordnung und Entwicklung weder durch die Chronologie noch durch die Geographie, sondern allein durch den kausalen und finalen Nexus hinreichend begründet und dargestellt werden könne. Gatterer bezeichnete dieses wesentliche methodische Prinzip pragmatischer Historiographie als Ordnung nach Systemen.41 Ein System von Begebenheiten habe seinen eigenen Zeitlauf, der sich nicht nach der bürgerlichen Abtheilung der Zeit richte und sich von den Wurzeln an durch alle Haupt- und Nebenzweige bis zu seinem Ende zusammenhängend beschreiben lasse.42 Den Primat der Akteure behauptete er auch selbst in dem Falle, wenn sie nicht ihre eigenen Begebenheiten beschrieben, denn sie könnten — wie es in seiner Begründung heißt — das Triebwerk in menschlichen Dingen aus dem Grundsatze, daß aus ähnlichen Ursachen ähnliche Wirkungen entspringen, und einerley Mittel zu einerley Zwecke führen, weit eher heraus bringen, als Leute, die in der Studierstube über den Zusammenhang der Dinge speculieren. Doch vermöchten auch diese durch systematische Reflexion ihrer eigenen Lebenszusammenhänge und Erfahrungen im Kleinen die Befähigung zu pragmatischer Geschichtsschreibung zu erwerben und den erstem, wo nicht gleich zu werden, doch nahe zu kommend Damit hatte Gattererden Kreis potentieller pragmatischer Geschichtsschreiber, ob nun der eigenen oder anderer Zeiten, vom Akteur auf den durch Studium und Erfahrung ausgerüsteten professio37 Friedrich II., König von Preußen, Œuvres historiques... (wie Anm. 17), S. XXIII (Avant-propos 1775). 38 Α. a. O., S. XXXI. 39 J. Chr. Gatterer, Vom historischen Plan... (wie Anm. 36), S. 80, 84 f. 40 A. a. O., S. 78. 41 A. a. O., S. 80. 42 A. a. O., S. 81 f. 43 A. a. O., S. 84.

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nellen Historiographen oder — in seiner Terminologie — den quellenmäßigen Schriftsteller44 schrittweise ausgeweitet. Ähnlich wie der Akteur, der als Autor seiner eigenen Geschichte bei Gatterer Urheber heißt, erfährt auch der Augenzeuge als Bürge für die Gewißheit historischer Nachrichten einen merklichen Bedeutungswandel. Gatterer lehrt zwar, daß neben echten, unverfälschten Urkunden und Denkmälern auch die Berichte unbegeisterter Urheber und Augenzeugen als Grundsätze — gemeint sind mit einem noch verblümtem Worte Quellen — historischer Demonstration und somit als wahr zu gelten hätten, 45 weist aber zugleich darauf hin, daß der Vorwurf der Begeisterung... bey Berichten der Urheber und A ugenzeugenfast immer als gegründet vorauszusetzen sei. Um sie als wahr ausweisen zu können, müßten sie daher erst in kritischer Prüfung von solchem Vorwurf frey gemacht werden,46 Gatterer knüpft also zunächst noch an die tradierte Bedeutung des Akteurs und Augenzeugen für die moderne historische Erkenntnis und Geschichtsschreibung an, präzisiert, relativiert und modifiziert sie jedoch im Verlauf seiner Erörterungen so entscheidend, daß veritable Geschichte schließlich nicht mehr durch authentische Zeitgenossenschaft vermittelt erscheint, sondern durch methodisch-kritische Vergegenwärtigung verbürgter Vergangenheit. Der Geschichtsschreiber, führte er aus, bringt durch die Evidenz seiner Erzählung ein Ganzes, das schon einmal da gewesen ist, auf eben die Art, wie es da gewesen ist, nur aufs neue zum Vorschein: er macht gleichsam das Todte wieder lebendig und das Vergangene wieder gegenwärtig, und nähert sich und seine Leser durch eine zwar schwache Nachahmung, die aber doch eine wirkliche Nachahmung ist, auf gewisse Art der Gottheit, in deren Verstände nichts Vergangenes, nichts Zukünftiges, sondern alles gegenwärtig, nichts abstractes, sondern alles individuell, alles anschauende Erkentniß ist.*7 Durch die pragmatische Entwicklung der Begebenheiten und die Erweckung idealer Gegenwart stifte er beim Leser die Evidenz seiner historischen Erzählung, 48 mache er ihn gleichsam zum Mitgenossen der erzählten Begebenheiten.49 44

Johann Christoph Gatterer, Von der Evidenz in der Geschichtskunde. Vorrede zu: Friedrich Eberhard Boysen (Hrsg.), Die Allgemeine Welthistorie, die in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten ausgefertiget worden, Bd. 1, Halle 1767, S. 24, 28, 31 f. 45 A.a.O., S. 23f. 46 A. a. O., S. 32. 47 A.a.O., S. 20f. 48 A. a. O., S. 22. 49 A.a.O., S. 17.

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Es mag hier dahingestellt bleiben, ob Gatterers skizzierte Revision vormoderner Historie einer ausgereiften, bedachten Argumentation folgt, die den Adressaten in didaktischer Absicht schrittweise führen und überzeugen will, oder eher — um Heinrich von Kleist zu variieren — die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben dokumentiert. 50 Hier soll das Ergebnis seiner Ausführungen, die theoretischprogrammatische Begründung einer „pragmatischen" Geschichtsschreibung als methodisch und sachlich eigenständiger Disziplin hervorgehoben werden, die mit ihrer zusammenhängenden Entwicklung und anschaulichen Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens für die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft von einflußreicher Bedeutung gewesen ist. In der einschlägigen Literatur sind neben den hier umrissenen konkreten Neuerungen und Veränderungen auch die großen geistigen Strömungendes 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, namentlich die „deutsche Bewegung", die Aufklärung, der Neuhumanismus, der Idealismus, die Klassik und die Romantik als Wegbereiter, wenn nicht gar als Urheber der modernen Geschichtswissenschaft bezeichnet worden.51 Solche Einflüsse sind unbestritten, sie lassen sich jedoch schwerlich als ursächlich nachweisen, da die wesentlich neuen, bahnbrechenden Einsichten in die Eigenartigkeit, die Differenz und den Entwicklungszusammenhang der historischen Epochen — bei freilich unterschiedlichem, in der Bewertung des Mittelalters auch gegensätzlichem normativen Gegenwartsbezug — allen genannten geistesgeschichtlichen Strömungen gleichermaßen gemeinsam sind. Die allgemeine Historisierung des reichen Erfahrungsschatzes der Historia humana und der cognitio histórica kann daher nicht hinreichend begriffen, verstanden und erklärt werden, wenn man sie auf eine oder einige von ihnen

50 Heinrich von Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken heim Reden, in: Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke, hrsg. von Paul Stapf, Berlin-Darmstadt-Wien 1962, S. 1032 ff. 51 Hierzu nur: Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, Bd. 1 : Vorstufen und Aufklärungshistorie, Bd. 2: Die Deutsche Bewegung, München-Berlin 1936; Peter Hanns Reill. The German Enlightenment and the Rise of Historicism, Berkeley-Los Angeles-London 1975; H. E. Bödeker/G. G. Iggers/J. Β. Knudsen/P. H. Reill (Hrsg.), Aufklärung und Geschichte... (wie Anm. 21); Ernst Schulin, Der Einfluß der Romantik auf die deutsche Geschichtsforschung, in: Ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 24 ff.; Ulrich Muhlack, Empirisch-rationaler Historismus, in: Historische Zeitschrift 232 (1981), S. 605 ff.

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zurückzuführen versucht. Sie war ganz offensichtlich ein übergeordneter Vorgang, an dem sie allesamt auf je eigene Weise teilhatten. III Damit wären in knappen Strichen die wesentlichen wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft und der sie prägenden Grundeinsicht in die Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes wie ihrer Erkenntnis skizziert. Folgt man den großen Darstellungen der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft, dann ist sie gleichsam mit der Eröffnung der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Jahre 1810 in der Gestalt Barthold Georg Niebuhrs ins Leben getreten. Eduard Fueter charakterisiert ihn als den Begründer der philologisch-kritischen Methode in der Geschichte, mit der eine neue Ara in der Geschichte der historischen Forschung begonnen habe. Für Heinrich Ritter von Srbik ist er der große Wegbereiter der Höhezeit deutscher Geschichtswissenschaft; und George Peabody Gooch bezeichnet ihn als die erste beherrschende Gestalt der modernen Historiographie: The first commanding figure in modern historiography. Und weiter: als the scholar who raised history from a subordinate place to the dignity ofan independent science, the noble personality in whom the greatest historians of the succeeding generation found their model or their inspiration.52 Dabei war Niebuhr weder professioneller Historiker noch einer der neuberufenen Professoren. Er hat sich rückblickend einen Autodidakten genannt, der bis dahin den Geschäften im dänischen und preußischen Staatsdienst für historische Studien nur Nebenstunden entzogen habe.53 Diese Äußerung ist sicherlich nicht unzutreffend. Man wird sie freilich nicht verabsolutieren dürfen, da er Hardenberg aus Anlaß seines Entlassungsgesuchs für eine weitere Verwendung im preußischen Staatsdienst am 12. Juni 1810 sowohl die Ernennung zum Historiographen als auch die Ernennung zum Professor der Geschichte an der hiesigen Universität vorgeschlagen Eduard Fueter, Geschichte der neueren Historiographie (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, hrsg. von Georg von Below, Friedrich Meinecke, Abt. 1), München-Berlin 1911, S. 467,470; Heinrich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus his zur Gegenwart, Bd. 1, 3. Aufl., München-Salzburg 1964, S. 210; George Peabody Gooch, History and Historians in the Nineteenth Century, revised, with a new introduction, London-New York-Toronto 1958, S. 14. 53 Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, neue Ausgabe von M. Isler, Bd. 1 — 3, Berlin 1873—1874, Bd. 1, S. XXIX (Vorrede zum 1. Teil, 2. Ausgabe, 1826). 52

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hatte, letztere mit dem Zusatz: allerdings ein mühsamer Beruf; aber auch dieser würde mich zu den Wissenschaften zurückführen, hei denen allein ich aufleben kann und die ich nie hätte verlassen sollen.54 Auf Antrag Hardenbergs war Niebuhr daraufhin am 16. Juni 1810 als Nachfolger Johannes von Müllers zum Hofhistoriographen ernannt worden. 55 Seine berühmte Vorlesung über „Römische Geschichte" hielt der Geheime Staatsrat als Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Die im Rahmen der Preußischen Reformen unter dem maßgeblichen Einfluß Wilhelm von Humboldts und seines neuhumanistisch-idealistischen Bildungskonzepts gegründete Berliner Universität war von allgemeiner, wegweisender Bedeutung und darf mit Fug und Recht als Prototyp der modernen deutschen Universität des 19. und 20. Jahrhunderts gelten. Mit ihrer zentralen Bestimmung, der freien Bildung durch Einsicht in die reine Wissenschaft56 zu dienen, hatte sie die Fächer der philosophischen Fakultät von praktischen Zwecken und utilitaristischer Applikation im Dienste anderer Wissenschaften befreit und überdies zu ihrem Herzstück gemacht. Die Geschichtswissenschaft war dadurch aus der abhängigen Stellung einer propädeutischen und hilfswissenschaftlichen Disziplin, aus der Funktion einer Rüstkammer und Beispielsammlung ad usum zur selbständigen Wissenschaft erhoben worden. Mehr noch: Ihr bedeutender erkenntnistheoretischer und methodologischer Fortschritt, der ja großenteils aus den hilfswissenschaftlichen Teildisziplinen der theologischen und juristischen Fakultäten erwachsen war, hatte weit über die engeren Fachgrenzen ausgestrahlt und eine allgemeine Historisierung aller Wissenschaften ausgelöst, die ihre propädeutischen Dienste und ihr Arsenal belehrender Exempel in Anspruch nahmen. Die Folge war die Bildung historischer Schulen außerhalb der genuinen Geschichtswissenschaft, wie beispielsweise an der Berliner Universität die historische Schule der Jurisprudenz unter Friedrich Carl von Savigny oder die jüngere historische Schule der deutschen Nationalökonomie unter Gustav Schmoller. Wie weit diese allgemeine Historisierung bereits in den ersten Jahren der Berliner Universität gediehen war, möge Savignys Urteil über die Barthold Georg Niebuhr, Briefe, hrsg. von Dietrich Gerhard, William Norvin, Bd. 1—2, Berlin 1926—1929, Bd. 2, Nr. 333, S. 117. 55 A. a. O., S. 120. 56 Wilhelm von Humboldt, Der Königsberger und der Litauische Schulplan (1809), in: Wilhelm von Humboldt, Werke in 5 Bänden, hrsg. von Andreas Flittner, Klaus Giel, Bd. 4, Darmstadt-Stuttgart 1964, S. 191. 54

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Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart erhellen. Er wollte, wie er 1815 im Geleitwort zum ersten Band der von ihm mitherausgegebenen „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" schrieb, jedes Zeitalter eines Volkes als die Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeiten verstanden wissen. Unter dieser maßgeblichen Voraussetzung sei die Geschichte dann nicht mehr blos Beyspielsammlung, sondern der einzige Weg zur wahren Erkenntniß unsers eigenen Zustandest7 Die für die Entfaltung der modernen Geschichtswissenschaft bahnbrechende Erkenntnis der Gegenwärtigkeit der Geschichte und der Geschichtlichkeit der Gegenwart bildete auch den historischen Gehalt der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels, der seit 1818 an der Berliner Universität lehrte. Die Geschichte war für ihn freilich nur Ausdruck eines metahistorischen Prozesses, Objektivation des Weltgeistes in seinem stufenweisen Fortschritt in der Zeit zum eigentlichen Zweck und Ziel der Geschichte, dem Bewußtsein seiner selbst. Die Geschichte, führte Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte aus, sei die Entfaltung der Natur Gottes in einem besondern bestimmten Element und insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes,5* oder der vernünftige, notwendige Gang des Weltgeistes ..., der die Substanz der Geschichte sei.39 Hegel bezeichnete die erkenntnistheoretische Funktion dieser essentiellen Aussagen seiner Geschichtsphilosophie durchaus zutreffend, wenn er sie das Apriorische der Geschichte nannte, dem die Erfahrung entsprechen müsse.60 Es liegt auf der Hand, daß die moderne empirisch-kritische Geschichtswissenschaft und die spekulativ-teleologische Geschichtsphilosophie Hegels bei aller Ubereinstimmung in der grundsätzlichen Beurteilung der Gegenwart als Resultat der Geschichte an diesem Punkt der allgemeinen fakultätsübergreifenden Historisierung radikal auseinandertreten mußten. War das moderne Geschichtsbewußtsein bei Savigny und Hegel vornehmlich in der Erkenntnis der Geschichte 57 Friedrich Carl von Savigny, Ueber den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), S. 3 f.; Nachdruck: Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften, mit einer Einführung von Hans Hattenhauer, München 1973, S. 262 f. 58 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte. Auf Grund des aufbehaltenen handschriftlichen Materials neu hrsg. von Georg Lasson (= Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, vollständig neue Ausgabe, hrsg. von Georg Lasson, Bd. 1), Leipzig 1917, S. 24 f. 59 A. a. O., S. 6. 60 A.a.O., S. 137.

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als gegenwärtiger Vergangenheit zum Ausdruck gekommen, so trat es in der eigentlichen Geschichtswissenschaft vor allem in der methodischen Rekonstruktion vergangener Gegenwart hervor. Niebuhr bezeichnete diesen historischen Erkenntnisvorgang in Ubereinstimmung mit Gatterer auch als Vergegenwärtigung andrer Zeiten,61 auf den Gegenstand seiner Vorlesung bezogen, als Vergegenwärtigung der römischen Geschichte,''2 insonderheit ihrer Anfänge. Diese Vorlesung wurde — um Alfred Heuß zu zitieren — die Sensation des ersten Semesters der Berliner Universität. 63 Unter den 256 immatrikulierten Studenten hatten sich 69 für die Philosophische Fakultät, darunter 15 für Alte Sprachen und Archäologie und nur ein einziger für das Fach Geschichte, entschieden.64 Der erste und zunächst einzige Professor der Geschichte, der aus Greifswald berufene Friedrich Rühs, konnte seine Vorlesung über die mittlere Geschichte immerhin vor fünf Hörern durchführen. Fichte zählte 90, Savigny 46 und Schleiermacher 17 Hörer. 65 Niebuhr hatte mit 10 bis 20, höchstens 30 gerechnet, und er wäre auch bereit gewesen, vor fünfen zu lesen; es wurden indes gegen 200, unter ihnen zahlreiche Beamte und Gelehrte, namentlich Ancillon, Schleiermacher, Spalding und Savigny sowie die ganze Sektion Kultus und öffentlicher Unterricht im preußischen Innenministerium mit Nicolovius, Schmedding, Uhden und Süvern.66 Niemals, urteilt Max Lenz ein Jahrhundert später, habe ein Lehrer der Berliner Universität ein glänzenderes Auditorium gehabt als Niebuhr im Winter 1810. Daneben trat er als Interpret Herodots in der „Graeca", dem wöchentlichen Treffpunkt der Lehrer des klassischen Altertums, in Erscheinung. Diesem Kreis gehörten weiterhin Buttmann, Spalding 61

Β. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXXI. " A. a. O., S. XXIX. 63 Alfred Heuß, Vom Ursprung Niebuhrscher Geschichtsschreibung, in: Gerhard Wirth (Hrsg.), Barthold Georg Niebuhr. Historiker und Staatsmann. Vorträge bei dem anläßlich seines 150. Todestages in Bonn veranstalteten Kolloquium 10.—12. November 1981 (= Bonner Historische Forschungen 52), Bonn 1984, S. 23. 64 Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1—4, Halle a. d. Saale 1910, Bd. 3, S. 518. 65 M. Lenz, Geschichte... (wie Anm. 64), Bd. 1,1910, S. 356 f.; Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (= Gedenkschrift der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin), Berlin 1960, S. 224. 66

B. G. Niebuhr, Briefe...

(wie Anm. 54), Nr. 357, S. 163 f.

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und Heindorf, Schleiermacher, Süvern und Hirt an. Es fehlte der hochangesehene und von Niebuhr sehr geschätzte Begründer der Klassischen Philologie als historischer Altertumswissenschaft, Friedrich August Wolf, der sich, wie Lenz rückblickend beklagt, so ganz isolierte und der gemeinsamen Arbeit an dem Aufbau seiner Wissenschaft entzog.67 Savigny schrieb gut einen Monat nach Eröffnung der Universität, er höre Niebuhrs Vorlesung über römische Geschichte, die nun eigentlich Modekolleg ist, obgleich es durch die ungeheure Erudition und Gründlichkeit nicht berufen ist, die Menge zu locken. Er befand, daß Niebuhr eine neue Epoche für die römische Geschichte anfanget Und er täuschte sich nicht, es sollte — mehr noch — der Anfang der modernen deutschen Geschichtswissenschaft werden. Niebuhrs Leistung und Wirkung waren dem Umstand einer historischen Konstellation zu danken, in der biographische, zeit- und wissenschaftsgeschichtliche Voraussetzungen zusammentrafen und miteinander verschmolzen. Hier seien vor allem Niebuhrs profunder historischer Kenntnisreichtum, seine souveräne Vertrautheit mit der Materie, den antiken Quellen wie der philologisch-kritischen Methode der klassischen Altertumswissenschaft, das neuhumanistische Bildungsideal und die damit verknüpfte Verselbständigung der Geschichtswissenschaft an der neugegründeten Berliner Universität und schließlich das persönliche Erlebnis einer epochalen Zeitenwende als prägende Momente hervorgehoben. 69 Niebuhr hat entschieden die neugewonnene Selbständigkeit seiner Disziplin begrüßt und vom Katheder aus gegen jene jetzt veraltete Uη terordnung der A Iterthümer und ihre Herabwürdigung zu einem Hülfs-Studium anderer Wissenschaften wie der Philologie oder der Jurisprudenz engagiert Stellung genommen. 70 Für ihn M. Lenz, Geschichte ... (wie Anm. 64), Bd. 1, 1910, S. 345 f., 352, zu F. A. Wolf: U. Muhlack, Historie und Philologie... (wie Anm. 21), S. 76ff. 68 Idee und Wirklichkeit... (wie Anm. 65), S. 223 f.; corr. „anfinge": B. G. Niebuhr, Briefe... (wie Anm. 53), Bd. 2, Nr. 357, S. 165. 69 Hierzu: A. Heuß, Vom Ursprung... (wie Anm. 63), S. 9 ff.; ders., Barthold Georg Niebuhr 1776—1831, in: Die großen Deutschen. Deutsche Biographie, hrsg. von Hermann Heimpel, Theodor Heuß, Benno Reifenberg, Bd. 5, Berlin-Frankfurt a. M.-Wien 1960, S. 208 ff.; ders., Näheres zu Niebuhr. Zur 150. Wiederkehr seines Todestages am 2. Januar 1981, in: Antike und Abendland 27 (1981), S. 1 ff.; Karl Christ, Barthold Georg Niebuhr, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 6, Göttingen 1980, S. 23 ff. 67

Barthold Georg Niebuhr, Einleitung zu den Vorlesungen über Römische Alterthümer (1811), in: Barthold Georg Niebuhr, Kleine historische und philologische Schriften, Sammlung 1 u. 2, Bonn 1828 u. 1843, Zweite Sammlung, Neudruck Osnabrück 1969, S. 5, 17. 70

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stand unzweifelhaft fest, daß die Alterthümer merkwürdiger Völker den gegründetsten Anspruch haben, als selbständige Theile der historischen Kenntniß und nicht bloß als philologische Hülfskenntnisse betrachtet zu werden.71 Niebuhr war sich von Anbeginn der Geschichtlichkeit, der Andersund Eigenartigkeit seines historischen Gegenstandes bewußt. Die allgemeine, im Grunde unhistorische Funktion der Geschichte als vitae magistra hat er deshalb gründlich in Zweifel gezogen. Wahre historische Erkenntnis, stellte er dagegen fest, verhindere, dass ein bethörtes Gefühl aus ganz andern Zeiten übertrage, was jezt völlig unanwendbar sei.72 Das Bewußtsein der Geschichtlichkeit aller historischen Erkenntnis scheint sich dagegen erst im Verlauf seines Kollegs über die römische Geschichte vollständig ausgebildet zu haben. In der Einleitung, also der ersten Vorlesung im Oktober 1810, heißt es noch: Wären die klassischen Werke der römischen Schriftsteller noch in ihrem ganzen Umfange vorhanden; besäßen wir in Livius und Tacitus Geschichten eine ... zusammenhängende Geschichte vom Anfang der Stadt bis auf Nerva; so würde es thöricht und zweckwidrig seyn, die Erzählung derselben Begebenheiten, welche diese Historiker vorgetragen haben, zu unternehmen. Freilich mit Ausnahme der früheren Jahrhunderte, wo Livius uns ohne Kunde lasse oder irreführe.73 In der Neuausgabe der Druckfassung lesen wir dagegen: Aber wären sie erhalten, so würden wir dennoch veranlasst seyn, eine römische Geschichte zu bilden, wie sie für uns Bedürfniss ist.74 Stärker noch als in der Vorrede zum ersten Teil hat Niebuhr in der Vorrede zum zweiten Teil seiner „Römischen Geschichte" aus dem Jahre 1812 das Recht jeder Gegenwart auf ihre Ansicht der Geschichte betont. Es wäre, führt er dort aus, um die Geschichte gethan, und ein sonst großer Geschichtsschreiber ... wäre ein wahrer Unheilbringer für das Andenken der vergangenen Zeiten, wenn seine Ansicht den nachfolgenden Geschlechtern Gesetze vorschreiben dürfte. Und in unverkennbarer Ubereinstimmung mit Wilhelm von Humboldts Reformgedanken fügt A. a. O., S. 5. B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXXII. 73 Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, Erster Theil, Berlin 1811, S. l,und: Einleitung zu den Vorlesungen über die Römische Geschichte. October 1810, in: Ders., Kleine ... Schriften... (wie Anm. 70), Erste Sammlung, Bonn 1828, Neudruck Osnabrück 1969, S. 85. 74 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. 4. 71

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er hinzu: Die freye und immer rege Prüfung die allen Wissenschaften allein das Leben erhalten kann, darf der Geschichte nicht fehlenΡ Niebuhr hatte damit zugleich die für die cognitio histórica der modernen Geschichtswissenschaft zentrale Frage nach dem erkenntnistheoretisch-methodologischen Zusammenhang von gegenwärtigem und historischem Zeithorizont angeschnitten. Er selbst hat sein Interesse an der alten, speziell der römischen Geschichte unter anderem mit dem Erfordernis erklärt, sie, nachdem sie solchem Anspruch nicht mehr genügt habe, wieder an Klarheit und Bestimmtheit neben die Gegenwart stellen zu können. Diese Gegenwart, fährt er fort, war eine Zeit, in der wir Unerhörtes und Unglaubliches erlebten: eine Zeit, welche die Aufmerksamkeit auf viele vergessene und abgelebte Ordnungen durch deren Zusammensturz hinzog.76 Alfred Heuß hat in seinen umfassenden, eindringlichen Studien über die wissenschaftlichen Anfänge Niebuhrs des näheren herausgearbeitet, daß es ein bestimmtes zeitgeschichtliches Ereignis, nämlich die loi agraire der Französischen Revolution war, die den leidenschaftlichen Anhänger der dänisch-schleswig-holsteinischen Agrarreformen zum Studium der römischen lex agraria und über diesen Anlaß schließlich zur kritischen Behandlung der römischen Geschichte bestimmt hat.77 Niebuhr hatte sich die Aufgabe gestellt, die frühe Geschichte Roms mit Hilfe der kritischen Methode von Gedicht und Verfälschung zu reinigen, um die Züge der Wahrheit, befreit von jenen Ubertünchungen, 7 zu erkennen. * Dabei suchte er, an den spärlichen Relikten Spuren ihrer vergangenen Lebenszusammenhänge zu entdecken, um durch Anstrengung des Blicks die Form des Ganzen zu errathen, dem sie angehörten Sinn und Zusammenhang zu entdecken, wo er unfehlbar einst war.79 Er hat diese methodische Rekonstruktion Vergegenwärtigung andrer oder Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, Zweyter Theil, Berlin 1812, S. IV. B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXVIII. 77 Alfred Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge. Untersuchungen und Mitteilungen über die Kopenhagener Manuscripte und zur europäischen Tradition der lex agraria (loi agraire) (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse, Dritte Folge, Nr. 114), Göttingen 1981, insbesondere S. 335ff., zur erkenntnistheoretischen Problematik: S. 455ff.; ders., Näheres zu Niebuhr... (wie Anm. 69), S. 11 ff. 78 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXII. 79 A. a. O., S. XXIII. 75

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vergangener Zeiten genannt; 80 er konnte sich dabei — wie er es formulierte — so lebhaft in jene Zeiten hineindenken,81 daß er wie ein Mitlebender fühlte. 82 Die so gewonnene Ansicht von der Geschichte der römischen Verfassung hatte für ihn, wie er 1812 an Goethe schrieb, eine so unerschütterliche Gewißheit als ob sie von gleichzeitigen Zeugen niedergelegt wäre. Und weiter: ich habe jetzt die römische Geschichte mit dem Gefühl eines Zeitgenossen geschrieben, und anders sollte man wohl keine verflossene Geschichte schreibend Den Lesern seiner „Römischen Geschichte" bekannte er zudem in der Vorrede zur ersten Ausgabe des ersten Teils im Jahre 1811, daß er Wahrheit gesucht und ohne alle Parthey und Polemik geschrieben habe.84 Als Niebuhr im Oktober 1810 das Katheder der Berliner Universität betrat, waren diese historiographischen Prämissen, jeweils für sich genommen, im Kern durchaus nicht mehr neu. Sie lassen sich — wie die Selbstverpflichtung zu wahrhafter und unparteiischer Darstellung — zum Teil bis weit in die vormoderne Geschichtsschreibung zurückverfolgen. Die kritische Reinigung der wahren Historie von Gedicht und Verfälschung hatte sich — längst vor Gatterer — auch schon Leibniz in seiner Geschichte des Weifenhauses zur Aufgabe gemacht, wenn er, so viel Wahrheit allda zwischen den Fabeln herfürblicket, mit einem examine critico der Uberlieferung ermitteln wollte. 85 Und er ist hierbei — wie Werner Conze feststellt — ein gutes Stück auf dem Wege zur modernen Geschichtswissenschaft vorangekommen. 86 Auch die allgemeine Einsicht in die Eigenartigkeit, den Zusammenhang und die Gegenwärtigkeit vergangener Zeiten in der historischen Erkenntnis war bereits vor ihm formuliert worden, namentlich von Gatterer, mit dem er zum Teil bis in die Nomenklatur und Metaphorik in so auffälliger Weise übereinstimmt, daß ein Zusammenhang geradezu auf der Hand zu liegen scheint. Ein direkter Einfluß der Göttinger historischen

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A.a.O., S. XXXI,4. B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 73), Erster Theil, S. 13. 82 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXXII. 85 B. G. Niebuhr, Briefe... (wie Anm. 54), Bd. 2, Nr. 431 (8. 8. 1812), S. 303. 84 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXIV. 85 Gottfried Wilhelm Leibniz, Entwurf der Weifischen Geschichte (1690), in: Gottfried Wilhelm Leibniz, Geschichtliche Aufsätze und Gedichte (= Gesammelte Werke, hrsg. von Georg Heinrich Pertz, I, Geschichte 4), Nachdruck Hildesheim 1966, S. 242. 86 W. Conze, Leibniz als Historiker... (wie Anm. 10), S. 62. 81

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Schule, insonderheit Gatterers, auf Niebuhr ist — soweit ich sehe — kaum wahrscheinlich, wohl aber ein indirekter über die prägenden Bildungseinflüsse im Elternhaus, die bis ins frühe Knabenalter zurückreichen. Niebuhr ist in Meldorf, dem Hauptort der Landschaft Süderdithmarschen, aufgewachsen, wo sein Vater, der angesehene Forschungsreisende Carsten Niebuhr, seit 1778 das Amt des königlich-dänischen Landschreibers versah. Das Amt des Landvogts in Süderdithmarschen bekleidete seit 1781 Heinrich Christian Boie, der vor allem als Mitglied des Göttinger Hainbundes und Herausgeber des „Deutschen Museums" in Erinnerung geblieben ist. Zwischen Boie und Niebuhrs Vater entstand alsbald eine dauerhafte Freundschaft, die ihre Familien mitumfaßte. 8 7 Beide Männer hatten einst die Universität Göttingen besucht und waren dort auch — Niebuhr über den Orientalisten Johann David Michaelis und Boie vornehmlich über den Klassischen Philologen Christian G o t t l o b Heyne — in den Umkreis der Göttinger historischen Schule getreten, 8 8 freilich ohne sich selbst vertieften historischen Studien zu widmen. Boie hat das universitäre Leben in Göttingen von Meldorf aus mit reger Anteilnahme begleitet und durch seine persönlichen Beziehungen manche Verbindung gestiftet, die sich fruchtbar auf den Bildungsgang des Knaben Barthold Georg Niebuhr auswirken sollte. Hier seien nur der bemerkenswerte Kontakt des fortgeschrittenen Schülers mit Heyne und die familiären Begegnungen mit dem Hainbunddichter, Homer- und Vergilübersetzer Johann Heinrich Voss erwähnt, der ein Schüler Heynes und Schwager Boies war. 89

87

Hierzu: Barthold Georg Niebuhr, Carsten Niebuhrs

Georg Niebuhr, Kleine ... bensnachrichten einiger

seiner

A. Heuß,

Schriften.,.

Leben (1816), in: Barthold

(wie Anm. 70), Erste Sammlung, S. 50 ff.; Le-

über Barthold Georg Niebuhr aus Briefen desselben und aus nächsten

Barthold

Freunde,

Georg

Bd. 1—3,

Niebuhrs

Hamburg

wissenschaftliche

1838—1839, Anfänge...

Erinnerungen

Bd. 1, S. 3 ff.; (wie Anm. 77),

S. 347 ff. 88

Zu Michaelis: P. H . Reill, Die Geschichtswissenschaft...

(wie Anm. 35), S. 180ff.;

zu Heyne: Ulrich Muhlack, Klassische Philologie zwischen Humanismus nismus, in: R . Vierhaus (Hrsg.), Wissenschaften

und

Neuhuma-

im Zeitalter der Aufklärung...

Anm. 3 5 ) , S . 109ff.;ders., Historie und Philologie...

(wie

(wie Anm. 2 1 ) , S . 54 f., 58 ff.; dort

auch, S. 70f., Berührungspunkte zwischen Heyne und Gatterer. 89

Ich war wohl klug, daß ich Dich fand.

Luise Mejer 1777—85,

Heinrich

Christian Boies Briefwechsel

mit

hrsg. von Ilse Schreiber, München 1961, dokumentiert Boies

vielfältige Beziehungen zur Universität Göttingen (passim). Zu Heyne und Voss siehe auch B. G. Niebuhr, Lebensnachrichten...

(wie Anm. 87), S. 17f., 29. Boies Beziehun-

gen zu Heyne behandelt eingehend: Karl Weinhold. Heinrich Christian Boie. Beitrag zur

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In der Vorrede zur zweiten Ausgabe des ersten Bandes seiner „Römischen Geschichte" hat Niebuhr ausdrücklich an Voss erinnert. Mit ihm habe eine neue Aera des Verständnisses des Alterthums begonnen, er habe Homer und Vergil so verstanden und ausgelegt, als wären sie nur im Raum von uns entfernte Zeitgenossen, sein Vorgang habe auf viele gewirkt, auf ihn selbst vom Kindesalter her.90 Niebuhr war zunächst im Elternhaus vom Vater und von Privatlehrern unterrichtet worden. Erst in seinem 13. Lebensjahr trat er in die Meldorfer Gelehrtenschule ein, freilich sogleich in die Prima, deren Pensum er schon nach anderthalb Jahren absolviert hatte. Danach hat er nur noch in den alten Sprachen Unterricht erhalten, während er sich in den übrigen Fächern im wesentlichen durch Selbststudium weiterbildete. Hierfür stand ihm zur Hauptsache Boies — wie er später schrieb — sehr schöne und reichhaltige Bibliothek zur Verfügung, die seit den Göttinger Jahren beständig angewachsen war.91 Niebuhr hat rückblickend — mit deutlicher Kritik an der elterlichen Erziehung zu einem wahren Stubenvogel — bekannt, daß er als Knabe ohne Maß und Ziel gelesen und neben den in der Schule erworbenen Kenntnissen von tausend andern erlesbaren Dingen wie ein Erwachsener Bescheid gewußt habe. 92 Der Umfang und die Intensität dieser Selbstbildung müssen in Geschichte der deutschen Literatur im achtzehnten Jahrhundert, Halle 1868, passim. Der fünfzehnjährige B. G. Niebuhr an Heyne: B. G. Niebuhr, Briefe ... (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 5. 90 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXVIII. 91 B. G. Niebuhr, Carsten Niehuhrs Lehen... (wie Anm. 87), S. 53. — Dazu die autobiographischen Bemerkungen: Ders., Geschichte des Zeitalters der Revolution. Vorlesungen an der Universität zu Bonn im Sommer 1829gehalten, Bd. 1 u. 2, Hamburg 1845, Bd. 1, S. 38f.; zu Boies Bibliothek: K. Weinhold, Heinrich Christian Boie ... (wie Anm. 89), S. 103, 137. 92 B. G. Niebuhr, Briefe... (wie Anm. 54), Bd. 2, Nr. 400, S. 238 f. — Boie hat diese Entwicklung mit einer Mischung aus unverhohlenem Staunen und gedämpfter Besorgnis registriert. Vom Sechsjährigen weiß er einen bemerkenswerten Beweis seines Nachdenkens zu berichten, der uns alle sehr in Verlegenheit setzte (Ich war wohl klug... [wie Anm. 89], S. 188). Dem Achtjährigen attestiert er: In dem Knaben steckt der Keim zu einem großen Mann und ich fange wieder an zu hoffen, daß er nicht verknickt werden, sondern sich entwickeln wird. Das schlimmste ist sein unbändiger Ehrgeiz, ein Unkraut, das scharf beschnitten und recht gepflegt noch eine edle Pflanze werden kann. ( A . a . O., S. 461.) Und über den Fünfzehnjährigen schreibt er: Aus Niebuhrs Sohn kann nichts werden, als ein Gelehrter vom ersten Rang. Eine Facultät wird er schwerlich wählen: Wenn er einmal Professor ist, der er gewiß wird, wenn er leben bleibt, soll er mir die Erziehung meines Buben vollenden helfen. ( O t t o Brandt, Geistesleben und Politik in Schleswig-Holstein um die

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der T a t erstaunlich gewesen sein. So konnte der Siebzehnjährige schon bald, nachdem er das Studium an der Universität Kiel begonnen hatte, an seine Eltern schreiben, daß er dort mit Ausnahme der Philosophie nichts lerne gegen das gerechnet, was ich zu Hause lernte, nemlich auf meiner Stube. Er erwähnte dabei ausdrücklich auch das Kolleg des renommierten Historikers Dietrich Hermann Hegewisch über Reichsgeschichte; teils, schreibt er, wisse er schon so viel als davon gelesen werde, teils könne er im Selbststudium mehr davon lernend Abgesehen von konkreten Berührungspunkten wie zwischen Niebuhr und Heyne, 94 wird es schwerlich möglich sein, diesen ungewöhnlichen Bildungsprozeß im einzelnen zu rekonstruieren; nennenswerte Einflüsse der Göttinger historischen Schule dürften indes kaum von der Hand gewiesen werden können. Sie mögen sich dem Knaben gleichsam auf osmotischem Wege eingeprägt haben und ihm seither selbstverständlich gewesen sein. Dies gilt vor allem für die hermeneutische Vergegenwärtigung oder — in der Formulierung Gatterers — für die Erweckung idealer Gegenwart als Bedingung historischer Erkenntnis. So heißt es bereits in dem zitierten Brief des siebzehnjährigen Studenten: Ich sehne mich nach meinen Alten, nach meinen vertrautesten Freunden.95 Und der Einundzwanzigjährige hält es für das Verständnis der alten Literatur und ihrer historischen Zusammenhänge für unumgänglich notwendig, alles was uns aus dem Altertum noch geblieben ist, wenigstens einmal, das wichtigere mehrmal, mit angestrengtester Aufmerksamkeit zu lesen und sich jedes Zeitalter aufs lebendigste und vertrauteste bekannt zu machend

Wende des 18. Jahrhunderts, Stuttgart-Berlin-Leipzig 1925, S. 194.) Dazu auch: K. Weinhold, Heinrich Christian Boie... (wie Anm. 89), S. 104 ff. 93 B. G. Niebuhr, Lehensnachrichten... (wie Anm. 87), Bd. 1, S. 41. 94 Hierzu: U. Muhlack, Historie und Philologie... (wie Anm. 21), S. 80; A. Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge... (wie Anm. 77), S. 322 ff. — Peter Hanns Reill, Barthold Georg Niebuhr and the Enlightenment Tradition, in: German Studies Review 3 (1980), S. 9 ff., setzt intensive Einflüsse der Göttinger historischen Schule auf Niebuhr voraus, läßt aber über den Erweis offenkundiger Ubereinstimmungen hinaus konkrete Belege direkter Rezeption vermissen. Seine prononcierte Charakterisierung Niebuhrs als a man of the A ufklärung (S. 18) oder one of the last and one of the greatest historians of the Enlightenment (S. 10) bleibt unbefriedigend und einseitig, weil sie die bahnbrechenden und zukunftweisenden Züge seiner Historiographie ignoriert. 95 B. G. Niebuhr, Briefe... (wie Anm. 54), Bd. 1, Nr. 8, S. 31. 96 A.a.O., Nr. 69, S. 139.

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Um sich 50 nahe als möglich an die abgeschiedenen Jahrhunderte heben und sich gleichsam in sie einleben zu können, wollte er auch alle übrigen Relikte miteinbezogen wissen: Auch däucht mir, daß ich nicht ruhen kann, bis ich alle Trümmer auf dem Boden, den die größten Menschen betreten, gesehen und der Erinnerung unauslöschlich eingeprägt habe: mich däucht, daß ich eher nicht ganz in meinem eigentlichen Lande, in meiner wahrhaften Heimat lebe.97 Analoge Äußerungen Niebuhrs in den folgenden Jahren sind hinreichend belegt. 98 Im Verlauf der Vorlesung über die Römische Geschichte wurde diese hermeneutische Prämisse schließlich um die grundlegende Erkenntnis der Historizität jeder Ansicht der Geschichte ergänzt und vertieft. Und in der Einleitung zum nachfolgenden Kolleg über „Römische Alterthümer" im Jahre 1811 wird der historische Erkenntnis Vorgang der methodischen Vergegenwärtigung bereits weniger metaphorisch beschrieben; alle Geschichte, als Darstellung des Handelns, heißt es dort, werde nur durch ein gedachtes Handeln begriffen, wie alle Wissenschaft in der Construction — man wird hier für die Geschichtswissenschaft präzisieren dürfen: in der Rekonstruktion — und in einem gedachten Schaffen bestehe." Niebuhr orientierte sein historiographisches Selbstverständnis mithin — im Zuge der allgemeinen Historisierung — an Kriterien, deren Befolgung die vormoderne Bedingung „wahrer'' Geschichtsschreibung gründlich verändern und überwinden mußte. An die Stelle unmittelbarer Zeitgenossenschaft war eine vermittelte getreten, die vergangene Gegenwart durch historisch-kritische Rekonstruktion im Horizont der je eigenen Gegenwart als mittelbar gegenwärtige Vergangenheit erscheinen und erleben ließ. Dies war die entscheidende Voraussetzung für die Uberwindung der auf authentischer Augen- und OhrenzeugenA.a.O., S. 140f. A. Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge... (wie Anm. 77), S. 456 f. 99 B. G. Niebuhr, Einleitung ... Römische Alterthümer... (wie Anm. 70), S. 4. A. Heuß, Näheres zu Niebuhr... (wie Anm. 69), S. 20, schreibt unverständlicherweise, daß Niebuhr den Ausdruck der Vergegenwärtigung — wie den der Rekonstruktion — wohl sinngemäß gemeint, aber nicht gebraucht habe. Niebuhr bediente sich zwar gern naheliegender Analogien und plastischer, metaphorischer Umschreibungen, um den historischen Erkenntnisvorgang zu verdeutlichen, aber auch — wie die angeführten Zitate hinreichend belegen — der abstrakten Charakterisierung als Vergegenwärtigung. Auch ging es ihm ausdrücklich darum, die Verfassungen der alten Welt zu reconstruieren; Barthold Georg Niebuhr, Vorträge über römische Alterthümer an der Universität zu Bonn gehalten, hrsg. von M. Isler ( = ders., Historische und philologische Vorträge an der Universität zu Bonn gehalten, 4. Abt.), Berlin 1858, S. 26. 97

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schaft gegründeten cognitio histórica, wie Lessing und Friedrich der Große sie noch wenige Jahrzehnte zuvor so vehement propagiert hatten. Sie ermöglichte nunmehr eine der historia sui temporis gleichrangige Vergegenwärtigung andrer Zeiten, die den Historiker wie seine Adressaten gleichsam zum mittelbaren Zeitzeugen machte. IV Was Niebuhr von den älteren Vorläufern und Wegbereitern der modernen Geschichtswissenschaft von der humanistischen Philologie bis zur Göttinger historischen Schule unterschied, worin er sie schließlich weit übertreffen und hinter sich zurücklassen sollte, war die Verwirklichung, die konsequente historiographische Ausführung der methodisch-quellenkritischen Vergegenwärtigung. Er hatte ihre Ansätze, wie Alfred Heuß es treffend formuliert, zu Grundsätzen der geschichtlichen Methodik erhoben 100 und damit die Tür zur Geschichte als Wissenschaft aufgemacht.101 Dies dürfte wohl auch zur Hauptsache die große Resonanz erklären, die Niebuhrs Vorlesung fand, zumal er sich — im Unterschied zur nur erzählenden Historie — nicht darauf beschränken mochte, die Ergebnisse seiner quellenkritischen Untersuchungen darzustellen, sondern auch die Untersuchungen selbst und somit den historischen Erkenntnisprozeß der Vergegenwärtigung vergangener Gegenwart in seinem konkreten Vollzug Schritt für Schritt mitzuteilen pflegte. Wenn er sich dabei mit einem Zeitgenossen, gleichzeitigen Zeugen oder Mitlebenden der römischen Geschichte verglich, so war dies letztlich nur eine metaphorische Umschreibung des realen hermeneutischen Vorgangs historischen Verstehens in der Nomenklatur vormoderner historischer Erkenntnistheorie. Er hat ihn indes auch einfacher und direkter in der bereits zitierten Formulierung zu erfassen versucht: wenn wir uns lebhaft in jene Zeiten hineindenken. Es ist der seither immer wieder unternommene und — soweit ich es zu beurteilen vermag — allenfalls annäherungsweise und wiederum weitgehend nur metaphorisch geglückte Versuch, den hermeneutischen Akt des historischen Verstehens erkenntnistheoretisch zu erklären, wie Wilhelm Diltheys nach wie vor virulente Deutung als sinnbezogenes Nacherleben durch Einfühlen und Hineinversetzen 100

A. Heuß, Barthold Georg Niebuhr... (wie Anm. 69), S. 216. A. Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge... S. 484. 101

(wie Anm. 77),

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oder Jürgen Habermas' an Hans-Georg Gadamers grundlegenden Studien geschultes Modell der Teilnahme an einer eingelebten Kommunikation.102 Wie nahe Niebuhr beiden bereits war, mögen seine einschlägigen Ausführungen belegen. Diesem, wenn er forderte, daß wir den unermeßlichen Vortheil einer Unterredung mit den erhabensten Geistern, die vor Jahrtausenden die Zeitgenossen unserer Vorfahren waren, ... so vernehmen als redeten sie zu unserem Ohre, und unsrer lebendigen Wißbegierde;l0i jenem, wenn er betonte, daß man in der Historie sehr vieles durch den auf Erfahrung, Beobachtung und Verkehr gegründeten Sinn und die Mittel — er nennt sie auch Künste — der Kritik und Divination verstehen müsse104 und daß dies alles demjenigen möglich sei, der sich durch reiche Erfahrung ausgerüstet hineindenkt und versetzt.105 Niebuhr betrachtete die historisch-kritische Methode nicht als besondere Errungenschaft neuzeitlicher Wissenschaft. Er sah sie bereits bei antiken Autoren, betonte jedoch, daß unsere Zeit treffender als die ihrige, Fabel von Würklichkeit unterscheide.106 Für die Historie vergangener Zeiten, umriß er sein Verfahren historisch-kritischer Rekonstruktion, muß Liebe Eifer erregen: ämsiger Fleiß den Stoff unvermittelt sammeln; dann bilden sich vor dem Blicke des Historikers Punkte gewisser Wahrheit, und wenn er diese scharf und in allen ihren Beziehungen bestimmt hat, so wird aus ihnen ein Licht auf die dunkeln und nur halbsichtbaren Theile fallen, welche den oberflächlichen Leser verwirren, so daß auch sie sich wieder zum Selbstleuchten entzünden, und allmählig das eingeschobene Fremde entdeckt, der Raum des Verlorenen wenigstens in seinen Umrissen bestimmt werde. Das ist Kritik und Divination, in deren Anwendung einzelne Irrthümer möglich sind, die aber dennoch im Allgemeinen für den, der sie redlich ausübt, eine Sicherheit gewähren, in der er die Einladungen des bloßen Fleißes, das Ueberlieferte zu bewahren und Verlorenes verloren zu achten, mit der Gewißheit ablehnen kann, durch sein Bestreben weit sichrere wie viel reichere Resultate zu gewinnen. Allein mit dieser Methode können die römischen Alterthümer Licht erlangen und hergestellt werden.107 102 J ü r g e n H a b e r m a s , Erkenntnis und Interesse {= Theorie 2), 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1969, S. 226. 103

B. G . Niebuhr, Einleitung...

104

A.a.O., S. 11, 16. Barthold G e o r g N i e b u h r , Lieber den Unterschied zwischen Annalen und Historie,

105

Römische Alterthümer...

(wie A n m . 70), S. 9.

in: Ders., Kleine ... Schriften... (wie Anm. 70), Zweite Sammlung, S. 233. 106 B. G . N i e b u h r , Römische Geschichte... (wie A n m . 55), neue Ausgabe, Bd. 2, S. 20. 107

B. G . Niebuhr, Einleitung...

Römische Alterthümer...

(wie A n m . 70), S. 11 f.

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Rätsel, heißt es an anderer Stelle, würden sich so in beständige Zeugnisse verwandeln, die dann weitere Folgerungen begründeten. 108 Und an wiederum anderer Stelle kennzeichnet er es als Aufgabe seiner historisch-kritischen Methode, abgerissene und ärmliche Nachrichten mit Sorgfalt und Anstrengung so zu ergründen, zu verbinden und zu beleben, dass daraus für die Zeiträume wo uns ein Besseres fehlt, im Wesentlichen doch lebendig und voll hervortrete, was aus reichem und edel gebildetem Stoff leicht entsteht. Seine „Römische Geschichte" sollte auf diese Weise Verschwundenes wieder ins Daseyn zurückrufen, damit die Römer klar, verständlich, vertraut wie Zeitgenossen, mit ihren Einrichtungen und ihrer Geschichte vor dem Blick stehen, leben und weben.109 In späteren Jahren hat Niebuhr in seinen allgemeinen methodologischen Darlegungen die metaphorische Paraphrase der historischen Erkenntnis als Produkt mittelbarer Zeitgenossen- und Zeugenschaft zugunsten direkter Beschreibungen etwas zurücktreten lassen. Dies hing offensichtlich mit einer schärferen begrifflichen Trennung von Historie und Geschichte zusammen. Hatte er sie bislang zumeist als synonyme Bezeichnungen verwandt, so wollte er Historie nunmehr — in Anlehnung an ihre Definition bei Servius — im engeren Sinne und in bewußter Gegenüberstellung zu der früher vergangenen als die Geschichte erlebter Zeiten, das heißt als Zeitgeschichte, verstanden wissen.110 Am deutlichsten traf er diese Unterscheidung in seinen zeitgeschichtlichen Vorlesungen an der Universität Bonn im Jahre 1829 über die „Geschichte der letzten vierzig Jahre". Dort heißt es: Eine wahre Geschichtsschreibung, Historie, findet aber nur für Das statt was wir selbst erlebt haben; für die Vergangenheit kann man höchstens dahin gelangen, daß, wenn wir eine Gegenwart mit einer gewissen Anschaulichkeit erlebt haben, wir diese Anschauungen auf frühere Zeiten übertragend1 Während der erste Satz geradezu als Rückgriff auf die Erkenntnistheorie der vormodernen Geschichtsschreibung anmutet, erinnert der zweite vielmehr an Gatterers Begründung einer pragmatischen Historiographie durch quellenmäßige Schriftsteller. Von der Anders- und Eigenartigkeit vergangener Lebenszusammenhänge und ihrer methodischen

108

B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 2, S. 21 f. 109 A.a.O., Bd. 1, S. 4 f. 110 B. G. Niebuhr, Ueher den Unterschied... (wie Anm. 105), S. 233. 111 B. G. Niebuhr, Geschichte des Zeitalters der Revolution... (wie Anm. 91), Bd. 1, S. 37.

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Vergegenwärtigung im Wege eingelebter mittelbarer Zeitgenossenschaft, von Kritik und Divination ist hier nicht mehr die Rede. Man wird daraus nicht gleich auf eine erkenntnistheoretisch-methodologische Rückwendung schließen dürfen, zumal es Niebuhr diesmal ja nicht um vergangene, sondern um gegenwärtige, um erlebte Geschichte ging. Es war seine erklärte Absicht, die Begebenheiten unserer Zeit112 oder die Zeit, die ich selbst erlebt habe, mit Treue und Wahrheit in Umrissen darzustellen.U3 Gleichwohl bleibt es bemerkenswert, daß schon die Veränderung der Blickrichtung von der Vergangenheit auf die Gegenwart und die Konzentration des historischen Interesses auf die Zeitgeschichte bei Niebuhr mit einer substantiell so merklich reduzierten Charakterisierung der Methode vergangenheitsorientierter Geschichtsschreibung einhergehen konnten. Dabei verdankte er das zeitgeschichtliche Wissen zum geringsten Teil eigener Augen- und Ohrenzeugenschaft. Es entstammte zur Hauptsache zahlreichen schriftlichen und mündlichen Quellen unterschiedlicher Provenienz und Qualität, die freilich — im Kontrast zu den spärlichen Relikten und Traditionen der älteren römischen Geschichte — dem gleichen Zeithorizont wie die eigenen Lebenszusammenhänge angehörten und sich mit diesen zum Teil sogar berührten, aber nichtsdestoweniger als Informationen aus zweiter Hand — wie jene — der kritischen Prüfung bedurften. Die historia sui temporis war daher für Niebuhr zum weitaus größten Teil nur mittelbar und nicht aus eigener Anschauung selbst erlebt worden. Er war sich dieser Differenz zu seiner Definition der Historie im engeren Sinne wohl auch bewußt, wenn er hinsichtlich der Französischen Revolution und Restauration gleichsam kompensatorisch argumentierte, er glaube, daß er aufgrund der besonderen Umstände seiner Biographie die Anschauung habe, welche jemand haben könnte, der in Frankreich gelebt.114 Niebuhr hat hieraus jedoch keine weiteren Konsequenzen gezogen. Das hat dann wenige Jahrzehnte später Johann Gustav Droysen in seinen Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte besorgt, indem er in kritischer Auseinandersetzung mit der einschlägigen Äußerung Lessings die Bedingung der Zeugenschaft als Ausdruck eines ziemlich platten Skeptizismus beurteilte und zu Recht daran erinnerte, wie unendlich wenig der einzelne sieht und hört, und daß dies Wenige noch obendrein leicht das Unbedeutende sein 112 113 114

A.a.O., A.a.O., A.a.O.,

S. 40. S. 38. S. 40f.

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wird, zumal wenn der Schreibende nicht wie Cäsar oder Friedrich Große auf einem besonders hohen Standpunkt und im Mittelpunkt werdenden Dinge sah und hörte.115

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der der

Barthold Georg Niebuhrs hervorragende Bedeutung bleibt indes an die erkenntnistheoretische Begründung und historiographische Demonstration seiner historisch-kritischen Methode gebunden, deren Zweck es war, die Vergangenheit in ihrer jeweiligen Anders- und Eigenartigkeit, in ihrer historischen Individualität, erkennen, rekonstruieren und so neben die Gegenwart stellen zu können. Hierbei war er zweifellos auf die in den eigenen Lebenszusammenhängen gewonnenen Erfahrungen und Anschauungen angewiesen. Mit ihrer bloßen Übertragung auf frühere Zeiten, wie es in der verkürzten Formulierung der zeitgeschichtlichen Vorlesungen heißt, wäre freilich noch keine Historisierung der Vergangenheit möglich gewesen. Dies konnte erst mit Hilfe der historisch-kritischen Methode erreicht werden, die vergangene Gegenwarten nicht nach dem Muster der rezenten, sondern in den Formen ihrer jeweils eigenen historischen Lebenszusammenhänge zu rekonstruieren sucht. Um sie — und sei es auch nur fragmentarisch — wiederherstellen zu können, orientierte Niebuhr sich an den Spuren, die sie in ihren Relikten hinterlassen hatten. In der Einleitung seiner Vorlesungen über die römische Geschichte warnte er ausdrücklich vor einer unhistorischen, rein gegenwartsbezogenen Anschauung der Alten. Man werde sie nicht verstehen, wenn man Gegenstände ihres täglichen Lebens, die uns mit ihnen gemein sind, nicht in der Gestalt sich anschaulich denkt, unter welcher diese ihren Augen gewöhnlich waren. Daher müßten wir wissen, daß wir durchaus irregehen würden, wenn wir uns, wie es das Mittelalter that, und, weil in ihm noch so viel unverändert erhalten war, mit geringer Täuschung thun konnte, ein Römisches Haus, ein Römisches Schiff, Römische Landwirthschaft und Gewerbe, Römische Kleidung oder das Innere des gewöhnlichen Lebens im alten Rom, unter der Anschauung denken wollten, welche bei uns den Gegenständen dieser Worte entspricht.116 Dies gelte nicht minder für die römischen Begriffe, welche der Einrichtung des Staats und seiner Verwaltung zum Grund liegen. Sie seien von den unsrigen nicht

115 Johann Gustav Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hrsg. von Rudolf Hübner, 5. Aufl., München 1967, S. 70. 116 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 73), Erster Theil, S. 8. Hier in der verbesserten Fassung von 1828 zitiert: Kleine... Schriften... (wie Anm. 70), Erste Sammlung, S. 92.

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weniger verschieden, als der Römer Wohnung, Kleidung und Speise17 In der Vorlesung selbst hat die Historisierung des alten Rom dann gleichsam Gestalt angenommen, indem sich seine vertraute Erscheinung im Medium der historisch-kritischen Rekonstruktion auf ebenso faszinierende wie einleuchtende Weise in ein ungewohntes Bild mit eigentümlichen Konturen und Figuren verwandelte. Niebuhr erschloß es seinem Auditorium als gegenwärtige Ansicht des historischen Rom, als Vergegenwärtigung der römischen Geschichte in ihrer historischen Eigenartigkeit. Der Historisierung des Gegenstandes entsprach die Historizität seiner Ansicht. Als Leopold von Ranke gut vier Jahrzehnte später, im Sommersemester 1852, die Vorlesung über „Römische Geschichte" an der Berliner Universität hielt, hat er sie mit bemerkenswert sicherem Blick in ihrem spezifischen Gegenwartsbezug gekennzeichnet. Er verwies auf das — erst in unserer Zeit durch Alfred Heuß eingehend untersuchte — treibende Interesse Niebuhrs an der Erforschung der analogen Verhältnisse des römischen Altertums zur Zeit der agrarischen Gesetze118 und befand, daß in seiner Darstellung dem objektiven... ein subjektives Element beigesellt sei. So sehr er der älteren Historiographie, namentlich Machiavelli und Montesquieu, an Gelehrsamkeit überlegen sei, so sei es doch auch bei ihm die Stellung in seiner Zeit und die daraus hervorgegangene Weltansicht, was seinem Werke Leben gebe. Die Gelehrsamkeit Niebuhrs werde hie und da zur Divination, aber belebt werde sie doch durch die Auffassung nach den Eindrücken der Gegenwart."9 Mit dieser treffenden Charakterisierung wären wir zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung und Beurteilung der Vorlesungen Barthold Georg Niebuhrs an der neugegründeten Berliner Universität zurückgekehrt, von der unsere Ausführungen über die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft ausgegangen waren. Sie sollen nunmehr, ohne den einschlägigen Beiträgen vorgreifen zu wollen, mit einigen repräsentativen Stimmen abgeschlossen werden, die die einflußund wirkungsgeschichtliche Bedeutung der „Römischen Geschichte" Niebuhrs für die weitere Entwicklung der modernen GeschichtswisA.a.O., S. 9 ( S . 93). Leopold von Ranke, Vorlesungseinleitungen, hrsg. von Volker Dotterweich, Walther Peter Fuchs (= Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlaß, hrsg. von Walther Peter Fuchs, Theodor Schieder, Bd. 4), München-Wien 1975, S. 228. 119 A.a.O., S. 230. 117

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senschaft in Berlin im Verlauf des 19. Jahrhunderts würdigen. Leopold von Ranke hatte die Buchfassung der Vorlesungen — wie er Niebuhr bei Überreichung seines Erstlingswerks im Jahre 1824 schrieb — als Student exzerpiert und sich auf alle Weise zu eigen zu machen gesucht. Er verstand sich aufgrund dieses Unterrichts, den ich ohne Ihr Wissen von Ihnen genossen, als Schüler Niebuhrs und wußte sich ihm deswegen zu fortwährender Dankbarkeit verpflichtet.120 Auch Rankes Nachfolger auf dem Lehrstuhl der Berliner Universität, Karl Wilhelm Nitzsch, hat sich ausdrücklich zur Schule Niebuhrs bekannt. In seiner Antrittsrede als neugewähltes Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften im Jahre 1879 führte er aus, daß er wie so viele andere zuerst durch Niebuhrs „Römische Geschichte" mit den Aufgaben und der Methode historischer Forschung vertraut gemacht worden sei und daß sein seitheriger wissenschaftlicher Weg ihn auf den dadurch bestimmten Standpunkt nicht sowohl zurückgeführt als auf ihm festgehalten121 habe. Nitzsch hob besonders die Allseitigkeit dieses gewaltigen Geistes hervor. Sie sei in diesem Kreise seit jenen Tagen anerkannt, da sich Böckh, Pertz und Ranke jeder auf dem Gebiet seiner Wissenschaft Niebuhr's Schüler genannt hätten. 122 Er betonte zudem die Fruchtbarkeit dervon Niebuhr bevorzugt angewandten Erklärung durch Analogien anderer Entwicklungen, die ihm sein immenses historisches Wissen ermöglicht habe,123 vor allem aber die hervorragende Bedeutung seiner historischen Methode, die Verhältnisse der älteren verfassungsgeschichtlichen Perioden weder nach allgemeinen und abstracten Maßen noch von den Anschauungen späterer Uberlieferung zu beurtheilen, sondern nach den in ihnen selbst wirkenden und erscheinenden Gesetzen.124 Nitzsch verwies gewiß zu Recht auf die für Niebuhrs Darstellung geradezu charakteristischen historischen Analogien. Niebuhr bediente sich ihrer freilich noch nicht im Wege methodischer und systematischer Komparation, sondern hauptsächlich als Mittel der Verdeutlichung und der Erläuterung. Er liebte es, aus seinem schier unermeßlichen Wissensfundus vertraute

120 Leopold von Ranke, Das Briefwerk, eingeh u. hrsg. von Walther Peter Fuchs, Hamburg 1949, S. 70. 121 Monatsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1879, Berlin 1880, S. 521. 122 A. a. O., S. 520. 123 A.a.O., S. 520f. 124 A. a. O., S. 522.

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historische Zusammenhänge meist assoziativ als gleichsam selbstevidente Parallelen zur Bekräftigung seiner Einsichten und Deutungen anzuführen. Die Kennzeichnung seiner historischen Methode als Orientierung an den in der Geschichte wirkenden und erscheinenden Gesetzen ist indes zumindest mißverständlich; im Sinne einer nomologischen Interpretation wäre sie sicherlich unzutreffend. Dieser Einwand gilt noch mehr für die Würdigung Niebuhrs durch Theodor Mommsen, der Nitzsch in seiner Eigenschaft als ständiger Sekretär der philosophisch-historischen Klasse der Akademie antwortete. Er führte aus, daß alle Historiker, soweit sie den Namen verdienten, die Schüler Niebuhrs seien und diejenigen nicht am wenigstens, die zu seiner Schule sich nicht bekennen. Niebuhr habe als erster gewagt, die Geschichtswissenschaft an der Logik der Thatsachen zu prüfen, aus dem trüben Wust unverstandener und unverständlicher Tradition das innerlich Unmögliche auszuscheiden, das durch die nothwendigen Gesetze der Entwicklung Geforderte auch da zu postulieren, wo es in der Uberlieferung verwirrt oder aus ihr verschollen sei. Mommsen definierte dies aprioristische Moment historisch-kritischer Rekonstruktion, das unsere Geschichtswissenschaft seitdem vor anderen auszeichne, terminologisch schärfer und methodologisch enger als Nitzsch, im wesentlichen jedoch schwerlich noch im Einklang mit Niebuhr, als das Erkennen des Gewesenen aus dem Gewordenen mittelst der Einsicht in die Gesetze des Werden.s.125 Er war sich mit Ranke und Nitzsch in der überragenden und wegweisenden Bedeutung Niebuhrs für die moderne Geschichtswissenschaft einig, seine Würdigung des gemeinsamen Lehrmeisters dürfte indes eher ihn selbst und sein Verständnis Niebuhrs als dessen Methode und Werk kennzeichnen. Die epochemachende Bedeutung der Vorlesung Niebuhrs unterstrich schließlich auch — aus Anlaß der Jahrhundertfeier der FriedrichWilhelms-Universität zu Berlin im Jahre 1910 — der Enkelschüler Rankes, Max Lenz, wenn er es als das schönste Blatt in der Geschichte des ersten Jahres unserer Hochschule bezeichnete, daß das Buch, mit dem die wissenschaftliche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts beginne, auf einem ihrer Katheder gelesen worden sei. 126 Und mit Blick auf seinen Verfasser führte er aus, für die Universität sei es fast die größte Erinnerung an die Zeit ihrer Gründung, daß sie den Bahnbrecher der

125

A.a.O.,

126

M. Lenz, Geschichte...

S. 5 2 2 f . (wie Anm. 64), Bd. 1, S. 345.

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modernen Geschichtswissenschaft Lehrern gehabt habe.127

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ein paar Jahre hindurch unter ihren

V

Mit der methodischen Vergegenwärtigung andrer oder vergangener Zeiten und ihrer begrifflichen Differenzierung zwischen den Zeithorizonten des historischen Gegenstandes und seiner historiographischen Rekonstruktion war jener doppelten Historisierung die Bahn geebnet, die das disziplinare Selbstverständnis der modernen Geschichtswissenschaft charakterisiert. Niebuhr war sich dieser Implikation seiner Methode, der Historizität nicht nur des historischen Gegenstandes, sondern auch der historischen Erkenntnis und des daraus resultierenden Anspruchs jeder historischen Gegenwart auf ihre eigene Ansicht der Geschichte ja — wie gesagt — erst im Verlauf seiner Vorlesung über die römische Geschichte vollständig bewußt geworden. Sie korrespondierte im Rahmen der allgemeinen Historisierung der von Savigny formulierten Einsicht, die jedes Zeitalter eines Volkes als die Fortsetzung und Entwicklung aller vergangenen Zeiten begriff. Niebuhr hat die historische Erkenntniß des gegenwärtig auf der Erde bestehenden deutlich von der des vergangenen Geschichtlichen unterschieden.128 Sein Interesse galt freilich nicht so sehr der historischen Erkenntnis gegenwärtiger Vergangenheiten als der Vergegenwärtigung der Zustände und Verhältnisse, der Verfassung vergangener Gegenwarten. Beides indes sollte fortan mit dem Bewußtsein der eigenen Geschichtlichkeit das Gesicht der modernen Geschichtswissenschaft prägen.129 Es ist — um es endlich beim Namen zu nennen — der Historis-

A. a. O., S. 262. B. G. Niebuhr, Carsten Niebuhrs Leben... (wie Anm. 87), S. 52. 129 Niklas Luhmanns apodiktische Definition, wissenschaftliche Geschichtsforschung befasse sich mit vergangenen Gegenwarten, nicht mit der Gegenwart von Vergangenheit, greift zu kurz und läßt — abgesehen von der Theorie und Methodologie — wesentliche Bereiche der Zeitgeschichte außer acht; Niklas Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Peter Christian Ludz (Hrsg.), Soziologie und Sozialgeschichte (= Kölner Zeitschriftfür Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16),Opladen 1972, S. 92. Hierzu: Gerhard Schulz, Die Gegenwartsproblematik der Geschichtswissenschaft, in: Ders. (Hrsg.), Geschichte heute. Positionen, Tendenzen, Probleme, Göttingen 1973, S. 146 ff. Andererseits dürfte der von Ferdinand Fellmann formulierten denkbaren Möglichkeit, eines Tages schon heute die Geschichte von morgen schreiben zu können, in 127 128

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mus, der hier nach langer Entstehungszeit mit seinen wesentlichen Merkmalen im historiographischen Werk Barthold Georg Niebuhrs in Erscheinung tritt und seitherdas erkenntnistheoretische und methodologische Fundament der Geschichtswissenschaft in all ihren Ausprägungen bildet. Historismus, heißt es in Benedetto Croces unübertroffen einfacher und klarer Definition, bedeute im wissenschaftlichen Sinn des Wortes, daß das Leben und die Wirklichkeit Geschichte sind und nichts anderes als Geschichte.130 Das Stichwort Historismus ist hier bislang nicht ohne Bedacht vermieden worden, weil es durch fortgesetzten willkürlichen und polemischen Gebrauch so sehr an begrifflicher Schärfe verloren hat, daß es das Verständnis der umrissenen wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge im Verlauf ihrer Entwicklung nur allzu leicht durch widersprüchliche oder irreführende Assoziationen hätte beeinträchtigen können. Die Gründe für die Verzerrungen des Historismusbegriffs dürften vor allem in der jüngeren — durchaus nicht immer wissenschaftlichen — Historismuskritik zu suchen sein, die vorzugsweise markante Besonderheiten einzelner Richtungen oder herausragender Köpfe der modernen — insonderheit der deutschen — Geschichtswissenschaft verallgemeinert und als typische Merkmale des Historismus gewertet hat. 131 Dabei hatte Karl Mannheim in seiner nach wie vor sehr lesenswerten Bestandsaufnahme im Jahre 1924 angesichts einer ungebrochenen universalen Entfaltung des Historismus als Weltanschauung ausdrücklich davor gewarnt, der philosophischen Arbeit von Generationen vorgreifen zu wollen: nichts wäre armseliger, als eine seiner vorläufigen

der Geschichtswissenschaft wohl kaum ernstliche Resonanz zuteil werden; Ferdinand Fellmann, Das Ende des Laplaceschen Dämons, in: Reinhart Koselleck/Wolf-Dieter Stempel (Hrsg.), Geschichte — Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 117. 130 Benedetto Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Einführung von Hans Barth, Hamburg 1944, S. 63. — Diese wissenschaftsgeschichtliche Beurteilung und Einordnung Niebuhrs unterscheidet sich freilich von A. Heuß, Barthold Georg Niebuhrs wissenschaftliche Anfänge... (wie Anm. 77), S. 473, und ders., Näheres zu Niehuhr... (wie Anm. 69), S. 23. Besonders heftig: Imanuel Geiss, Kritischer Rückblick auf Friedrich Meinecke, in: Das Argument 70 (1972), Sonderbd.: Kritik der bürgerlichen Geschichtswissenschaft I, S. 22 ff.; siehe aber auch u. a.: Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971, insbes. S. 14ff.; Georg G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft. Vom Historismus zur Historischen Sozialwissenschaft. Ein internationaler Vergleich, München 1978, insbes. S. 97 ff. 131

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Lösungen als endgültige hinzunehmen.132 Heute, da sich die Geschichtswissenschaft nach eingehender Diskussion ihrer erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen wieder der ganzen Breite unterschiedlicher Ausprägungen des Historismus 133 und seiner unüberholten epistemologischen und kulturellen Substanz134 vergewissert hat, wird Mannheims Warnung freilich besser verstanden.135 Das gilt dementsprechend auch für Friedrich Meineckes Beurteilung der Entstehung des Historismus als einer der größten geistigen Revolutionen in der Geschichte des abendländischen Denkens.136 Denn wenn es — bei aller Reserve gegen eine allgemeine Ubertragbarkeit der von Thomas S. Kuhn für die Naturwissenschaften geltend gemachten Struktur wissenschaftlicher Revolutionen — auch in der Geschichte der Geschichtswissenschaften je einen analogen „Paradigmawechsel" (paradigm change)1*7 gegeben haben sollte, dann dürfte hierfür angesichts der tiefgreifenden und umfassenden Veränderungen der gesamten Disziplin doch wohl zunächst nur ihre doppelte Historisierung im Zuge des Ubergangs von der vormodernen Historie zur modernen Geschichtswissenschaft in Frage kommen. Niklas Luhmann hat den Historismus geradezu auf die methodische Ermöglichung der hermeneutischen Differenz von gegenwärtiger Vergangenheit und vergangenen Gegenwarten zurückgeführt.138 Karl Mannheim, Historismus, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 52 (1924), S. 2. 133 Karl-Georg Faber, Ausprägungen des Historismus, in: Historische Zeitschrift 228 (1979), S. 1 ff. 134 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel-Stuttgart 1977, S. 7, siehe u.a. auch S. 118ff. 135 Thomas Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute. Bemerkungen zur Diskussion, in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 18), Göttingen 1976, S. 59 ff. In der sowjetmarxistischen Geschichtswissenschaft hat gar eine stillschweigende nomenklatorische Wandlung des Historischen Materialismus zum wirklich wissenschaftlichen Historismus stattgefunden; K.-G. Faber, Ausprägungen des Historismus... (wie Anm. 133), S. 2. Dabei wird freilich der marxistisch-leninistische oder wissenschaftlich begründete materialistische Historismus scharf vom bürgerlichen oder reaktionären Historismus abgegrenzt; Ernst Engelberg (Hrsg.), Probleme der Geschichtsmethodologie, Berlin [Ost] 1972, S. 33, 318, passim. 136 F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus... (wie Anm. 51), Bd. 1, S. 1. 137 Thomas S. Kuhn, The Structure ofScientific Revolutions (= International Encyclopedia of Unified Science, II, 2), Chicago 1962, S. 66; siehe auch K.-G. Faber, Ausprägungen des Historismus... (wie Anm. 133), S. 8. 138 N. Luhmann, Weltzeit und Systemgeschichte... (wie Anm. 129), S. 93; grundle132

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Aus der gleichsam unhistorischen, weil zeitlose Gültigkeit beanspruchenden Beispielsammlung nützlicher Erfahrungen der menschlichen Geschichte war somit die methodische Vergegenwärtigung vergangener Lebenszusammenhänge hervorgegangen, die zum einen — wie bei Barthold Georg Niebuhr — als Verfassung ruhender oder stehender Verhältnisse,139 zum anderen — wie bei Leopold von Ranke — als Entwickelung der Einheit und des Fortgangs der Begebenheiten140 in Erscheinung tritt. Im Unterschied zur vormodernen Historie wird der Überlieferung vergangener Zeiten in der modernen Geschichtswissenschaft nicht mehr eo ipso allgemeine exemplarische Aussagekraft und praktische Anwendbarkeit beigemessen. Sie gilt zwar weiterhin als lehr- und aufschlußreicher Fundus der cognitio histórica, jedoch zunächst — um Jacob Burckhardts konzise Formulierung zu zitieren — nur als Zeugnis der historischen Anschauungen und Interessen ihrer Zeit für ihre Zeit.ui Ihre aktuelle Bedeutung für andere Zeiten läßt sich vom Boden der modernen Geschichtswissenschaft aus nicht mehr mit der zeitlosen Beispielhaftigkeit ihres historischen Erfahrungsgehalts begründen, sie wird vielmehr — in Niebuhrs Formulierung — durch die Ansicht und die normative Beurteilung im Erfahrungs- und Erkenntnishorizont der jeweils anderen Zeit bestimmt und ist somit selbst wiederum Zeugnis einer spezifischen historischen Situation und deren eigener Zeiterfahrung. Dieser wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhang vermag schließlich noch einmal die Folgerichtigkeit zu verdeutlichen, mit der die Historie im Verlauf der Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft ihre tradierte Rolle als vitae magistra gleichsam einbüßen mußte. Ihrer doppelten Historisierung entsprach das von Grund auf veränderte allgemeine historische Erkenntnisinteresse, das die moderne Geschichtswissenschaft seither in Theorie und Praxis bestimmt. So hatte

gend zum hermeneutischen Prinzip der Historizität historischer Erkenntnis: HansGeorg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 2. Aufl., Tübingen 1965, S. 250 ff., insbes. S. 275 ff. 139 Adolf von Harnack (Bearb.), Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1,2, Berlin 1900, S. 887f. 140 Leopold von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 his 1514 (= Leopold von Ranke's Sämmtliche Werke 33/34), 3. Aufl., Leipzig 1885, S. VII. 141 Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der,, Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hrsg. von Peter Ganz, München 1982, S. 250.

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Niebuhr in der Vorrede zur zweiten Ausgabe des ersten Teils seiner „Römischen Geschichte" feststellen können, die methodische Rekonstruktion oder Vergegenwärtigung andrer Zeiten verhindere, dass ein bethörtes Gefühl aus ganz andern Zeiten übertrage, was jezt völlig unanwendbar sei.142 Und Ranke hatte wenige Jahre zuvor in der Vorrede zu seinem Erstlingswerk über die „Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514" den oft, aber meist nur unvollständig zitierten, programmatischen Satz geschrieben: Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Amter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen.143 Am längsten hat sich das vormoderne Verständnis der Geschichte als vitae magistra in der politisch engagierten Historiographie halten können, die das aus hilfswissenschaftlicher Abhängigkeit befreite historische Erkenntnisinteresse immer wieder von neuem in Dienst genommen und offener politischer Parteilichkeit unterworfen hat. In der nationalliberal-borussischen wie in der sowjet-marxistischen Geschichtsschreibung dürfte es sich wohl am zählebigsten behauptet haben. Die Grenze zwischen beanspruchter Objektivität und bewußter Parteilichkeit war freilich seit der bahnbrechenden Entdeckung der Standortgebundenheit jeglicher Geschichtsschreibung und der daraus folgenden Einsicht in die Historizität aller historischen Erkenntnis noch weit schwieriger zu bestimmen als zuvor. Und der Streit darüber, ob der unvermeidliche Sehepunckt überhaupt — wie Chladenius schrieb — eine unpartheyische Erzehlung oder Nachricht zulasse144 und ob man diejenigen Momente, die weniger über die Geschichte als über den Verfasser ihrer Erzehlung aussagen, im Interesse historischer Objektivität durch methodische Kritik und Selbstreflexion weitgehend aus der Geschichtsschreibung eliminieren könne und solle, ist im Kern so alt wie die Erkenntnis der epistemologischen Grundproblematik selbst. 1,2

B. G. Niebuhr, Römische Geschichte... (wie Anm. 55), neue Ausgabe, Bd. 1, S. XXXI f. 143 L. von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker... (wie Anm. 140), S. VII. In der ersten Ausgabe der Schrift (1824) heißt es in dem bekannten Diktum sagen statt zeigen; hierzu: Konrad Repgen, Über Rankes Diktum von 1824: „Bloß sagen, wie es eigentlich gewesen", in: Historisches Jahrbuch 102 (1982), S. 439ff. 144 Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft, worinnen der Grund zu einer neuen Einsicht in allen Arten der Gelahrtheit gelegt wird, Leipzig 1752, S. 150.

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Die oft und gern zitierten kontroversen Positionen von Leopold von Ranke auf der einen, Johann Gustav Droysen und Heinrich von Sybel auf der anderen Seite 145 waren im wesentlichen schon ein Jahrhundert zuvor von Johann Martin Chladenius und Johann Christoph Gatterer bezeichnet worden. Sah der erste den Geschichtsschreiber ohne Religion, ohne Vaterland, ohne Familie als ein Ding der Unmöglichkeit an 146 und wollte er daher nur das bewußt Verdrehte wieder in seinen rechten Stand gesetzt wissen,147 so forderte der andere, daß sich der Geschichtsschreiber durch nichts in der Welt, nicht durch Religion, nicht durch Vaterland, nicht durch Familie und Freundschaft, nicht durch Affecten, durch nichts mit einem Worte, hindern lassen dürfe, seinen Lesern die lautere und wirkliche Wahrheit zu sagen.148 Gewiß, die Unterschiede waren deutlich, aber noch nicht so zugespitzt formuliert worden, daß sie bereits als konträr und grundsätzlich unvereinbar hätten verstanden werden müssen; auch galt partheyisch für Chladenius — im Unterschied zu Droysen und Sybel — durchaus noch als Synonym für „unwahr"; gleichwohl läßt die Distanz zwischen Gatterer und ihm unschwer schon die Ansätze der prinzipiellen Positionen erkennen, die — bei aller seitherigen Vertiefung, Differenzierung und Modifizierung im einzelnen — immer noch die Kontroverse um konfessionelle, nationale oder politische Parteilichkeit und Objektivität in der Geschichtsschreibung bestimmen. 149 Die Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft hat schließlich auch eine umfassende Historisierung aller hilfswissenschaftlichen Teildisziplinen bewirkt, die sich der Historie als Sammlung belehrender Beispiele für die Praxis zu bedienen pflegten. Gustav Schmoller hat diesen grundlegenden Wandel aus der Sicht der historisch orientierten

145 L. von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker ... (wie Anm. 140); ders., Englische Geschichte vornehmlich im siebzehnten Jahrhundert, Bd. 4 (= Leopold von Ranke's Sämmtliche Werke 17), 3. Aufl., Leipzig 1877, S. 201 f.; J. G. Droysen, Historik... (wie Anm. 115), S. 287; Heinrich von Sybel, Über den Stand der neueren deutschen Geschichtsschreibung (Marburg 1856), in: Ders., Kleine Historische Schriften, Bd. 1, 3. Aufl., Stuttgart 1880, S. 355 f. 146 J. M. Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft... (wie Anm. 144), S. 151. 147 A. a. O., S. 149. — Bezeichnenderweise galten ihm gerade Gottfried Arnolds unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historien als Beispiel für parteiische Geschichtsschreibung, deren Verdrehungen... durch eine wahre Erzehlung begegnet werden müsse. 148 J. Chr. Gatterer, Von der Evidenz in der Geschichtskunde... (wie Anm. 44),S. 19. 149 Hierzu die einschlägigen Beiträge in: R. Koselleck/W. J. Mommsen/J. Rüsen (Hrsg.), Objektivität und Parteilichkeit... (wie Anm. 28).

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allgemeinen Volkswirtschaftslehre treffend beschrieben. Die strengere Wissenschaft, wie sie sich im 19. Jahrhundert mehr und mehr herausgebildet habe, führte er aus, will nicht mehr in erster Linie ein „ Sollen" lehren und Anweisungen fürs praktische Leben geben; sie will begreifen und zu unumstößlichen Wahrheiten über den Zusammenhang der Dinge kommen.150 Und Jacob Burckhardt hat in diesem Zusammenhang den Satz historia vitae magistra neu überdacht und ihm einen veränderten höhern und zugleich bescheidnern Sinn zugesprochen, der seine vormoderne Bedeutung im Lichte der modernen Geschichtswissenschaft ergänzt und relativiert. Wir wollen, lautet seine bekannte Formulierung, durch Erfahrung nicht so wohl klug (für ein andermal), als vielmehr weise (für immer) werden.151 Diese Anmerkungen zur historischen Einordnung und Beurteilung der beschriebenen Zäsur zwischen vormoderner Historie und moderner Geschichtswissenschaft mögen hier genügen, um ihre Bedeutung für die Geschichte der Geschichtswissenschaft hinreichend zu kennzeichnen. Damit hätte die Skizze des wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhangs der Entstehung und Herausbildung der modernen Geschichtswissenschaft den eigentlichen Gegenstandsbereich der Ringvorlesung eingeholt. Die Ausführungen sollen jedoch nicht beendet werden, ohne zuvor noch einen auf wenige namhafte Beispiele eingeschränkten, flüchtigen Blick auf die Entwicklung des weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhangs der vormodernen Historie als allgemeiner Erfahrungs- und Wirklichkeitswissenschaft geworfen zu haben. Die Trennung der Historia humana von der Historia naturalis war in der Historik der modernen Geschichtswissenschaft und in der allgemeinen Wissenschaftstheorie zu einer prinzipiellen, gleichsam unüberbrückbaren Entgegensetzung von Natur und Geschichte fortgebildet worden. In Droysens Historik heißt es, daß diese das im Bleiben

150 Gustav Schmoller, Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 3. Aufl., Leipzig 1908, S. 100. 151 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte... (wie Anm. 141), S. 230. Burckhardt hat die Geschichte — wie er 1874 an Friedrich Nietzsche schrieb — noch wesentlich als propädeutisches Fach gelehrt-, Jacob Burckhardt, Briefe, bearb. von Max Burckhardt, Bd. 5, Basel-Stuttgart 1963, S. 222. Freilich nicht mehr als Hilfswissenschaft anderer Disziplinen! Gleichwohl betrachtete er die Naturwissenschaften als unsern einzigen uneigennützigen Cameraden, während Theologie und Jus uns meistern oder doch als Arsenal benützen wollen und die Philosophie, welche über Allen stehen will, eigentlich bei Allen hospitirt; J. Burckhardt, Uber das Studium der Geschichte... (wie Anm. 141), S. 253.

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Veränderliche, im Gleichen Wechselnde, jene das im Wechsel Gleiche, das in der Veränderlichkeit Bleibende suche.152 Und Heinrich Rickert behauptete, die Wirklichkeit werde Natur, wenn man sie mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie werde Geschichte, wenn man sie mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle betrachte. 153 Es bedarf hier sicherlich keiner näheren Darlegungen, um nachzuweisen, daß dies keine sachlichen, sondern dogmatische Definitionen waren, in denen überdies noch Reste des vormodernen Geschichtsverständnisses überlebt hatten. Leopold von Rankes „große Mächte", Otto Hintzes „Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes" oder Fernand Braudels „longue durée" sollen hier als historische,154 die moderne Kosmologie seit Kant und Laplace, Charles Darwins „Origin of Species", Alfred Wegeners „Entstehung der Kontinente und Ozeane" oder Konrad Lorenz' „Ethologie sozialer Corviden" als naturwissenschaftliche Gegenbeispiele155 genügen. Sie mögen hinreichend belegen, daß die moderne Geschichtswissenschaft ebensosehr auch das im Wechsel Gleiche und Bleibende, Allgemeine erforscht wie die Naturwissenschaft das im Gleichen Wechselnde, sich Wandelnde, Besondere und Individuelle. Dies war im Grunde auch Droysen und Rickert bewußt, jenem, wenn er die Darwinsche Theorie als das Hervorkehren des ... geschichtlichen Moments in dem Bereiche der organischen Natur charakterisierte, 156 diesem, wenn er zwischen den generalisierenden Natur- und den individualisierenden

J . G. Droysen, Historik... (wie Anm. 115), S. 11. Heinrich Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, 5. Aufl., Tübingen 1921, S. 63. 154 Leopold von Ranke, Die großen Mächte, in: Rankes Meisterwerke, Bd. 10: Kleinere Schriften, München-Leipzig 1915, S. 423 ff.; Otto Hintze, Typologie der ständischen Verfassungen des Abendlandes, in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Gerhard Oestreich mit einer Einleitung von Fritz Härtung (= Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen 1), 3. Aufl., Göttingen 1970, S. 120ff.; Fernand Braudel, Histoire et sciences sociales. La „longue durée", in: Annales E.S.C. 13 (1958), S. 725ff. 152

153

155 Charles Darwin, On the Origin of Species by Means of Natural Selection or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, 5. Aufl., London 1869; Alfred Wegener, Die Entstehung der Kontinente und Ozeane, Nachdruck der 1. u. der 4. Aufl., hrsg. u. mit einer Einleitung versehen von Andreas Vogel, Braynschweig-Wiesbaden 1980; Konrad Lorenz, Beiträge zur Ethologie sozialer Corviden (1931), in: Ders., Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre (= Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1 u. 2), Berlin-Darmstadt-Wien 1967, S. 15 ff. 154

J. G. Droysen, Historik...

(wie Anm. 115), S. 406.

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historischen Kulturwissenschaften Mischformen und Mittelgebiete einräumte. 157 Die lange Zeit wirksame wissenschaftssystematische Abgrenzung und Entgegensetzung darf heute als weitgehend überwunden, wenn auch noch nicht als gänzlich verschwunden gelten. Wolf Lepenies hat gezeigt, wie die Historia naturalis um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert von einer der Historia humana entsprechenden Historisierung erfaßt und verändert worden ist;158 Werner Conze hat auf dem Berliner Historikertag 1984 die wissenschaftsgeschichtliche Parallelität der doppelten Verzeitlichung des Menschen durch Evolution und Geschichte eindrucksvoll belegt; 159 und Carl Friedrich von Weizsäcker hat darüber hinaus auch eine Historisierung der unbelebten Natur durch den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik erwiesen, den er bezeichnenderweise als den Satz von der Geschichtlichkeit der Natur umschreibt. 160 Der Nobelpreisträger für Chemie 1977, Ilya Prigogine, hat schließlich mit seiner wegweisenden Erforschung der Ubergänge dissipativer in stabile Phasen dynamischer Systeme durch Selbstorganisation — wie er schreibt — gleichsam Geschichte in die Physik und Chemie eingeführt}61 Der Titel seines Werkes „From Being to Becoming" vermag geradezu Assoziationen an Savigny oder Hegel zu wecken. Hegels Geschichtsphilosophie hat übrigens durch die umfassende Historisierung der Naturwissenschaften eine neue, unvermutete Aktualität erhalten, die freilich ihrer spekulativ-idealistischen und teleo-

157

H . Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft... (wie Anm. 153),S. 118. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, München-Wien 1976, S. 52ff., 120f. 159 Werner Conze, Evolution und Geschichte. Die doppelte Verzeitlichung des Menschen, in: Historische Zeitschrift 242 (1986), S. 1 ff. 160 Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Geschichte der Natur. Zwölf Vorlesungen, 2. Aufl., Göttingen 1954, S. 10, siehe auch S. 35 ff., 42. — H . Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft... (wie Anm. 153), S. 144 ff., hatte dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik konsequenterweise historisch gar keine Bedeutung beigemessen (a.a.O., S. 147). 161 Ilya Prigogine, From Being to Becoming. Time and Complexity in the Physical Sciences, San Francisco 1979, S. 106: It is interesting that, in a sense, the bifurcation introduces history into physics and chemistry, an element that formerly seemed to be reserved for sciences dealing with biological, social, and cultural phenomena. Siehe hierzu auch die einschlägigen Beiträge in: Klaus Hierholzer/Heinz-Giinter Wittmann (Hrsg.), Phasensprünge und Stetigkeit in der natürlichen und kulturellen Welt. Wissenschaftskonferenz in Berlin 8—10. Oktober 1987, Stuttgart 1988. 158

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logischen Züge weitgehend entbehrt; so zum Beispiel, wenn Konrad Lorenz Hans Tuppy zitiert: Im Menschen wird sich die Evolution ihrer selbst bewußt.ik2 Diese Einsicht hatten im Grundsatz ein halbes Jahrhundert zuvor bereits unabhängig voneinander Pierre Teilhard de Chardin 163 und Kurt Breysig, Professor für Gesellschaftslehre und allgemeine Geschichtswissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, auf je eigenen Wegen gewonnen. In Breysigs im Austausch mit Niels Bohr entstandener und diesem gewidmeter Schrift „Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte" aus dem Jahre 1933 wird die universale Entwicklung von der anorganischen Materie zum Menschen aus dem Prinzip der Eigenbewegtheit in physikalischer, biologischer und historischer Bewegtheitsform dargestellt. 164 Ordnen wir diese unübersehbare Historisierung zunächst der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, dann aber auch der Naturwissenschaften in den weiteren wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhang unseres Themas ein, so wird eine erneute Verallgemeinerung der cognitio histórica deutlich, diesmal freilich — dem Vorgang der Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft entsprechend — in der Erkenntnis der Historizität allen Geschehens, des natürlichen wie des vom Menschen gestalteten, aber anders als in der vormodernen Einheit von Menschen- und Naturgeschichte unter Wahrung der durch Gegenstand und Methode definierten disziplinären Eigenständigkeit der Geschichtswissenschaft. 165

162

Konrad Lorenz, Das Wirkungsgefüge der Natur und das Schicksal des Menschen. Gesammelte Arbeiten, hrsg. u. eingel. von Irenaus Eibl-Eibesfeld, München-Zürich 1978, S. 35. Hierzu u.a.: Rupert Riedl, Leben als kenntnisgewinnender Prozeß bei Konrad Lorenz, in: Ders./Elfriede Maria Bonet (Hrsg.), Entwicklung der Evolutionären Erkenntnistheorie (= Wiener Studien zur Wissenschaftstheorie 1), Wien 1987, S. 47 ff. 163

Pierre Teilhard de Chardin, La Vision du Passé, Paris 1958, insbes. S. 165 ff., 201 ff. ,6 1 ' Kurt Breysig, Naturgeschichte und Menschheitsgeschichte, Berlin 1933, S. 246ff., 302 ff.; ders., Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. Aus dem Nachlaß hrsg. von Gertrud Breysig, Michael Landmann, Berlin 1962, S. 154 ff. 174 f.; siehe dazu: Bernhard vom Brocke, Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie (= Historische Studien 417), Lübeck-Hamburg 1971, S. 117f., 228 ff., 242 ff. 165 Nach Abschluß der Umbruchkorrekturen erschien: Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklärung. Die Vorgeschichte des Historismus, München 1991. Dieses Buch wird künftig für das hier behandelte Thema grundlegend und maßgeblich sein.

Berlin als Standort historischer Forschung W O L F G A N G RIBBE

Mit der Eröffnung der Berliner Universität 1810 etablierte sich auch die moderne Geschichtswissenschaft an der Spree. Die Vorlesungen von Niebuhr und Rühs (der seit 1815 leider auch durch antisemitische Reden und Schriften hervortrat) lockten das Bildungsbürgertum der preußischen Hauptstadt in die Hörsäle, das in der Zeit der Napoleonischen Kriege und der Preußischen Reformen Kraft, Zuversicht und Rückhalt in einer politisch angespannten Situation aus den philosophischen und historischen Vorlesungen der Professoren der neuen Alma Mater zog.1 Die damals neu nach Berlin gekommenen Historiker konnten dabei kaum an vorgefundene historiographische Traditionen anknüpfen, die Berliner Geschichtslandschaft war in dieser Hinsicht bis zur Gründung der Universität eher dürftig ausgestattet. Dies gilt bereits für das Mittelalter. 2 Eine der geistlichen Gelehrsamkeit verpflichtete mittelalterliche Historiographie etwa hat es in Berlin und im Berliner Raum nicht gegeben, und weltliche Geschichtsschreibung, wie sie seit dem späteren Mittelalter beispielsweise in vielen oberdeutschen und rheinischen Städten, aber auch in den norddeutschen Hansestädten durch das Patriziat angeregt worden ist, existierte hier ebenfalls nicht. Wenn 1

Mario Krammer, Von Pufendorf bis Treitschke. Aus der Entwicklung der Geschichtsschreibung zu Berlin, in: Beiblatt zur Zeitschrift des Vereins für die Geschichte Berlins 2 (1942), S. 7 2 Max Treiter, Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Mark Brandenburg im Mittelalter. [Nebst einer bibliographischen Beilage], in: Wichmann-Jahrbuch des Geschichtsvereins Katholische Mark 1 (1930), S. 5—73; Willy Hoppe, Von Urkunden, Chroniken und alten Drucken der Mark Brandenburg, in: Brandenburgisches Jahrbuch 2 (1927), S. 3—12; Wolfgang Ribbe, Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen Geschichte von Berlin-Brandenburg (= Schriften des Vereins für die Geschichte Berlins, H . 61), Berlin 1977.

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nicht wichtige erzählende Quellen und chronikalische Aufzeichnungen bei einem der vielen Stadtbrände verlorengegangen sein sollten, dürfte das schon so oft beklagte Kulturgefälle jener Zeit, dessen Ursachen hier nicht zu erörtern sind, an der mangelhaften historiographischen Ausstattung Berlins im Mittelalter schuld sein. Dieser Zustand änderte sich erst mit der Reformation und der kurz zuvor errichteten Universität in Frankfurt an der Oder. 3 Wie die meisten anderen Hochschulneugründungen im Deutschland der frühen Neuzeit war auch die Viadrina eine Schöpfung des Territorialherren. Ihr Lehrkörper blieb entscheidend von ihm abhängig. Gelehrte fast aller Disziplinen suchten sich die Gunst des Landesherren innerhalb und außerhalb der Universität dadurch zu erwerben und zu erhalten, daß sie die Geschichte des „Regierenden Hauses" schrieben, um sie dann ihrem landesherrlichen Gönner zu dedizieren. Neben Naturwissenschaftlern, wie dem Physiker Wolfgang J o b s t , und Juristen, wie Zacharias Garcaeus, waren es vor allem als Pfarrer und Lehrer tätige Theologen, die den Grundstein zur neueren Historiographie der Mark Brandenburg und damit auch Berlins legten. Genannt seien hier neben Paul Creusing, Christoph Entzelt und Nikolaus Leuthinger vor allem Andreas Angelus und Peter Hafftiz. Der Nachwelt sind sie überwiegend als Geschichtsschreiber bekannt geworden, ihre Vorbildung und ihr Beruf blieben aber weitgehend unbeachtet, obwohl doch ihrer Geschichtsschreibung gerade hierdurch der Weg und das Ziel gewiesen wurden. In Hafftiz' Microchronicon Marchicum besitzen wir die ersten chronikalischen Aufzeichnungen zur Geschichte Berlins. 4 Sie stehen bereits unter dem Zeichen der Abkehr von der Gegenwartschronistik, die als Parteiengeschichtsschreibung, also als Waffe und Rechtfertigungsmittel, die ersten Jahrzehnte der Reformation beherrscht hatte. Als die Reformatoren auf das persönliche Engagement der Historiographen weitgehend verzichten konnten, nachdem die Zeit der harten Auseinandersetzungen von einer Phase der Konsolidierung abgelöst worden war, stand nicht mehr der Mensch im Vordergrund, der aufge-

5 Friedrich Weichert, Die Oder- Universität Frankfurt und ihre Reformbestimmungen aus dem 16. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der theologischen Aspekte, in: Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 55 (1985), S. 113—156. 4 Wolfgang Ribbe, Peter Hafftiz als Historiograph. Edition der Vorrede zum Microchronicon Marchicum, in: Brandenburgische Jahrhunderte. Festgabe für Johannes Schultze zum 90. Geburtstag, hrsg. von Gerd Heinrich und Werner Vogel, Berlin 1971, S. 91 — 114.

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rufen war, einer Idee den Weg zu bahnen. Das Individuum hatte sich jetzt der Idee unterzuordnen, und so endete die nachreformatorische Historiographie in einer Abkehr von der Gegenwartschronistik. Unter diesem Zeichen entstand die landschaftlich gebundene Geschichtsschreibung des Kurfürstentums Brandenburg im 16. Jahrhundert. Durch sie wurde übrigens auch ein Teil der wenigen, ursprünglich vorhandenen mittelalterlichen Geschichtszeugnisse überliefert, sei es in mehr oder minder vollständiger Abschrift oder durch ausführliche Zitierung. Die brandenburgischen Geschichtsschreiber dieser Zeit waren nicht nur in der kurfürstlichen Residenz Berlin und in der Universitätsstadt Frankfurt an der Oder, sondern auch in kleineren Provinzstädten ansässig, in denen sie zumeist als Pfarrer oder Lehrer wirkten. Mit dem wachsenden Interesse der Kurfürsten von Brandenburg an einer Hofgeschichtsschreibung zum Ruhm des „Regierenden Hauses" konzentrierte sich die Historiographie mehr und mehr auf die Residenz Berlin, die als Sitz der Verwaltung auch das kurfürstliche Archiv beherbergte und deren Bibliothek eine systematische Auswertung der Bestände erst ermöglichte. So beauftragte schließlich Friedrich Wilhelm I. den Groninger Professor Martin Schook, ein richtige und vollkommene Historie der Churfürsten und Markgrafen zu Brandenburg zu verfassen. 5 Neben den großen Sammlungen der Königlichen Bibliothek und des Archivs wurden auch die regionalen Bestände herangezogen. Auf landesherrlichen Befehl hin hatten die Städte ihre alten Privilegien und sonstigen wichtigen Unterlagen nach Berlin zu schicken, wo die Archivare Abschriften anfertigten, die größtenteils in die Sammlung des königlichen Bibliothekars und Frankfurter Professors Christoph Hendreich übergingen, der nach Schooks frühem Tod mit der Vollendung des Werkes beauftragt wurde, ohne aber selbst ans Ziel zu gelangen. Schließlich erhielt der Frankfurter Professor Johann Christoph Bekmann freien Zugang zum Archiv. Er ergänzte seine Material- und Quellensammlung durch Umfragen, die er an Personen und Behörden in der Provinz richtete, doch eine Darstellung zu vollenden gelang auch ihm nicht. 6 Erst sein Großneffe, Bernhard Ludwig Bekmann, vermochte Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Nachlaß des Onkels eine

5 Ernst Fischer, Die offizielle brandenburgische Geschichtsschreibung zur Zeit Friedrich Wilhelms, des großen Kurfürsten (1640—1648), in: Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde 15 (1878), S. 377—430, bes. S. 400. 6 Zu Johann Christoph Bekmann vgl. Richard Specht, in: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 730.

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erste zusammenfassende Geschichte des brandenburgischen Staates vorzulegen. 7 Aber nicht nur die auf schriftlichen Zeugnissen fußende Geschichtsschreibung in Berlin-Brandenburg entstand im späten 16. sowie im 17. Jahrhundert. Auch die V o r - und Frühgeschichtsforschung hat in dieser Zeit ihren Ursprung. Neben Bekmann sind hier vor allem die Kammergerichtsräte Erasmus (1594—1655) und Martin Friedrich Seidel (1621—1693) — Vater und Sohn — zu nennen, die über das Sammeln von römischen Altertümern hinaus zu eigenen Grabungen, zur Katalogisierung der Funde und deren Publikation gelangten. 8 Neben der Frankfurter Hochschule, die seit der Reformation zum geistigen Mittelpunkt der Mark Brandenburg und Berlins geworden war, strahlte auch die Universität Halle auf die hauptstädtische Bildung im allgemeinen und auf die Geschichtsschreibung im besonderen aus. Hier sind als Historiographen vor allem Samuel Lentz und Philipp Wilhelm Gercken zu nennen. 9 Ein dritter Schwerpunkt entstand schließlich mit der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. 1 0 Beim Regierungsantritt Friedrichs des Großen glaubten nicht nur die Philosophen um Voltaire, daß nun die Wissenschaften und Künste auf den T h r o n gestiegen seien. Friedrich hatte bereits als Kronprinz die Idee zur Gründung einer neuen Akademie für die schönen Künste, zu denen er auch die Wissenschaften rechnete. D o c h seine Hoffnung, die führenden Gelehrten Europas in die preußische Hauptstadt ziehen zu können, erfüllten sich nicht im erhofften Umfang, woran nicht nur die Schlesischen Kriege schuld waren. Auch die heute so aktuelle, aber bereits im 16. und 17. Jahrhundert verbreitete Idee eines geistigen Mittelpunktes Europas, die bereits zur Zeit des G r o ß e n Kurfürsten Berlin zum Sitz einer gelehrten Gesellschaft machen wollte, hatte sich nicht verwirklichen

7 Johann Christoph Bekmann, Historische Beschreibung der Chur und Mark Brandenburg. Forgesetzt und hrsg. von Bernhard Ludwig Bekmann, Bd. 1 u. 2, Berlin 1751 — 1753. 8 Vgl. u. a. Johannes Boke, Martin Friedrich Seidel, ein brandenburgischer Geschichtsforscher des 17. Jahrhunderts (= Wissenschaftliche Beiträge zum Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums zu Berlin, Ostern 1896), Berlin 1896. 9 Gottfried Wentz, Samuel Lentz, in: Mitteldeutsche Lebensbilder 4 (1929), S. 88—107; ders., Philipp Wilhelm Gercken, in: Mitteldeutsche Lebensbilder 3 (1928), S. 24—45. 10 Adolf [von] Harnack, Leibniz und Wilhelm von Humboldt als Begründer der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1910), S. 53—63.

Berlin als Standort historischer Forschung

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lassen. 11 Es gelang 1686 lediglich, den bedeutenden Naturrechtler Samuel von Pufendorf als brandenburgischen Historiographen an den Berliner H o f zu ziehen. 12 Von weitreichender Bedeutung waren dagegen die erfolgreichen Bemühungen der Kurfürstin Sophie Charlotte, den als Gelehrten ungleich bedeutenderen Gottfried Wilhelm Leibniz an Berlin zu binden, der hier erstmals seine Idee von einer Akademie zu realisieren versuchte. Auch Kurfürst Friedrich III. unterstützte den Akademiegedanken und erweiterte die vornehmlich auf naturwissenschaftlich-technische Bereiche gerichtete Planung durch die Einbeziehung historischer und philologischer Disziplinen. Leibniz berief zum Beispiel Bekmann zum korrespondierenden Mitglied der Akademie. Doch 1711 verließ der Philosoph enttäuscht die preußische Hauptstadt; die neue Akademie hatte aus Geldmangel nie so wirken können, wie es sich ihr Initiator gewünscht haben mag. 13 Die Arbeit der Akademie geriet endgültig ins Stocken, als sich der Nachfolger König Friedrichs I., der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I., den zwar hochgelehrten und kenntnisreichen, aber haltlosen Berater Jacob Paul Gundling zum neuen Präsidenten der Akademie ernannte. 14 Gundling sammelte zwar mehr als 4000 Urkunden zur brandenburgischen und deutschen Geschichte, doch die Akademie der Wissenschaften war auch damals bereits mehr naturwissenschaftlich orientiert, so daß weitere historiographische Anstöße von dieser Institution nicht zu verzeichnen sind. Die anderen Berliner Historiographen jener Zeit konzentrierten sich eher auf die engere Landesgeschichte, wie der Berliner Rektor Georg Gottfried Küster, dessen gedruckt vorliegende Quellensammlungen noch heute unent-

11 Werner Hartkopf / Gerhard Dunken, Von der Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaften zur Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin [Ost] 1967. 12 Johannes Schultze, Der Geschichtsschreiber Samuel Pufendorf, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 55 (1943), S. 149—180. " Vgl. den zeitgenössischen Bericht von Isaac Briand, Nachricht von dem jetzigen Zustand der Königlichen Priviligirten Academie, welche zu Berlin,.. unlängst angerichtet worden, Berlin 1713, sowie Adolf [von] Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1—3, Berlin 1900 [Nachdruck: HildesheimNew York 1970], bes. Bd. 1/1, S. 176—215, sowie Hans Poser, Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Wolfgang Treue / Karlfried Gründer (Hrsg.), Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60. Berlinische Lebensbilder, Bd. 3), Berlin 1987, S. 1—16. 14 Leben und Thaten Jakob Freiherrn von Gundling, ... eines höchst seltsamen und abenteuerlichen Mannes, Berlin 1795.

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behrlich sind. 1 5 U n t e r Friedrich dem G r o ß e n war dann das naturwissenschaftliche Element in der neuen Akademie wieder besonders vertreten, und hier ist in erster Linie die Heilkunde zu nennen. G r o ß e n W e r t legte der König auch auf die neu eingerichtete „Klasse für spekulative Philosophie", die der Aufklärung den Weg bahnte. 1 6 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte dann die „Historiographie der Bürokratie" ein. 1 7 Hier ist wohl an erster Stelle der preußische Wirkliche Staats-, Kriegs- und Kabinettsminister Ewald Friedrich von Hertzberg zu nennen, der einigen wenigen Historikern den damals schwierigen Weg in die Archive ebnete und der selbst die erste Edition des berühmten Landbuches der Mark Brandenburg von 1375 besorgte. Die „Historiographie der Bürokratie" hat dann mit Friedrich Wilhelm August Bratring auch eine erste „statistisch-topographische Beschreibung" der preußischen Kernlandschaft um Berlin hervorgebracht. 1 8 Die gesamte bisher erwähnte Geschichtsschreibung konzentrierte sich aber auf den brandenburg-preußischen Staat beziehungsweise auf die Hohenzollern. Dies änderte sich erst mit der Gründung der Berliner Universität und der Berufung einer großen Zahl von Professoren von außen, die im Zeitalter der nationalen Erhebung eine andere Sicht der Dinge verbreiteten.

In der preußischen Reformdiskussion um die Wende zum 19. Jahrhundert spielte die Erneuerung des Bildungswesens eine zentrale Rolle. 1 9 Zu jener Zeit besaß Berlin eine größere Zahl von wissenschaft15 F. Meyer, Georg Gottfried Küster, in: Ders., Berühmte Männer Berlins und ihre Wohnstätten, Bd. 2, Berlin 1876, S. 11, sowie: Opera omnia quotquot reperiripotuerunt Georgias Gothofredus Küsterus edidit, Vol. 1 u. 2, Frankfurt an der Oder 1729.

A. v. Harnack, Geschichte ... (wie Anm. 11), Bd. 1/1, S. 245—492. Vgl. Gerd Heinrich, Historiographie der Bureaukratie. Studien zu den Anfängen historisch-landeskundlicher Forschung in Brandenburg-Preußen (1788—1837), in: Brandenburgische Jahrhunderte. Festgabe für Johannes Schultze zum 90. Geburtstag, hrsg. von Gerd Heinrich und Werner Vogel, Berlin 1971, S. 161— 200. 18 Gerd Heinrich, Friedrieb Wilhelm August Bratring. Lebensweg und Werk, in: FJriedrich] W[ilhelm] A[ugust] Bratring, Statistisch-topographische Beschreibung der gesamten Mark Brandenburg, Neuausg. bearbeitet von Otto Büsch und Gerd Heinrich (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 22), Berlin 1968, S. XV—XVII. " Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens. Neuausgabe mit Nachtrag, 3. Aufl., Tübingen 1960. 16

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historischer

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Forschung

liehen Einrichtungen, so neben den Akademien der Wissenschaften und der Künste auch die Bauakademie, ein Lehrinstitut für Bergwerksund Hüttenwesen, Schulen für die Ausbildung von Militär- und Tierärzten sowie von Allgemeinmedizinern, militärische Bildungseinrichtungen und eine landwirtschaftliche Lehranstalt. 20 Aber erst die von dem Geheimen Staatsrat und Direktor der Sektion Kultus und des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern, Wilhelm von Humboldt, vorbereitete Universitätsgründung gelangte weit über die Grenzen Berlins und Preußens hinaus zu Ansehen. Sie sollte vor allem der geistigen Erneuerung dienen. Die Freiheit der Wissenschaften und die untrennbare Verbindung von Forschung und Lehre waren dazu unabdingbare Voraussetzungen. 21 Wilhelm von Humboldt hat auf drei Gebieten die Entstehung des modernen Bildungswesens und der Kulturpolitik des Staates von Berlin aus wesentlich gefördert: durch die Gründung der Universität (1810), durch den entscheidenden Einfluß, den er auf die Grundlegung des staatlichen Unterrichtswesens ausübte (1809/1810), und durch seinen maßgeblichen Einsatz für die Ausbildung eines modernen staatlichen Museumswesens (1830). 22 Die Dauer seiner amtlichen Tätigkeiten auf diesen Gebieten war erstaunlich kurz, die Wirkung jedoch erheblich. Man kann die Relevanz seiner Tätigkeit nicht nur auf die Situation des Umbruchs im preußischen Staatsleben zurückführen. Vor allem der enge Zusammenhang der Humboldtschen Existenz als Philosoph und Staatsmann, seine stark ausgebildete und philosophisch fundierte Vorstellung des Verhältnisses von Staat und Bürger, von Bildung und Politik, ließ sich in seinen nur kurzen Amtszeiten in Grundsatzentscheidungen umsetzen. Erfand auf vielen Gebieten Pläne und Tendenzen vor; sein Verdienst ist es, aus den widersprüchlichen Programmen und Vorschlägen klare Konzeptionen entwickelt und damit eine in die Praxis umsetzbare Kulturpolitik ermöglicht zu haben. 23 20

Ludwig Geiger, Berlin 1688—1840.

Geschichte des geistigen Lehens der preußischen

Hauptstadt, Bd. 1 u. 2, Berlin 1893—1895, passim. 21

Wilhelm Weischedel (Hrsg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität.

zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität 22

Dokumente

zu Berlin, Berlin 1960, passim.

Karl-Ernst Jeismann, Wilhelm von Humboldt als Chef der Sektion für Kultus und

Unterricht in Berlin und seine Bedeutung für die Bildungsreformen

in Deutschland,

in:

Berlin im Europa der Neuzeit. Ein Tagungsbericht, hrsg. von Wolfgang Ribbe und Jürgen Schmädeke (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 75), Berlin-New York 1990, S. 99—111. 23

Rudolf Vierhaus, Wilhelm von Humboldt,

schaftspolitik ... (wie Anm. 13), S. 63—76.

in: W . T r e u e / K . Gründer, Wissen-

52

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Die Wirkung seiner Initiativen war erheblich, wenngleich bei der Umsetzung in die Realität nicht ungebrochen. Der in der Restaurationszeit übermächtig werdende „Etatismus" ließ auch im Erziehungsund Bildungswesen nur Teilstücke der Reform zur Geltung kommen, und ohne den Zusammenhang des Ganzen war ihr hochgestecktes Ziel, die Umbildung von Staat und Gesellschaft, nicht zu erreichen. Aber die im Widerstreit von „Bildung und Herrschaft" zurückgedrängten Ansprüche der Humboldtschen Bildungsidee meldeten sich in veränderten Formen bis in unsere Zeit immer wieder zu Wort; so ist die Auseinandersetzung um die von Humboldt formulierten Grundsätze bis heute aktuell geblieben.24 Im Oktober 1810 wurde die Universität mit der Aufnahme der Vorlesungen im Palais des Prinzen Heinrich gegenüber der Oper offiziell eröffnet. Im ersten Jahr lehrten dort 52 Professoren, 256 Studenten waren als Hörer eingeschrieben. 25 Durch die seit 1828 so genannte „Friedrich-Wilhelms-Universität" erhielt Berlin einen geistigen Mittelpunkt, und mit ihr zeigte sich der preußische Staat als Vorbild für die planmäßig betriebene Wissenschaftspflege. Als die Berliner Universität gerade dreißig Jahre bestand, schrieb der Minister von Altenstein an den König wegen neuer Mittel: die Berliner Universität müsse eine Weltuniversität sein, um das Gewicht geltend zu machen, das sie bisher in Bezug auf Intelligenz behauptet habe,26 und Ludwig Feuerbach schrieb 1824 vom Studium in Berlin an seinen Vater: wahre Kneipen sind andere Universitäten gegen das hiesige Arbeitshaus.27 Allgemeine Anerkennung genossen der um die Reform der preußischen Gymnasien verdiente Erste Rat im Kultusministerium, der Mecklenburger Johannes Schultze, 28 und ebenso der Ministerialdirektor Christian Peter Wilhelm Beuth 29 als Förderer des „Gewerbeflei24

A.a.O., S. 75 f. Heinrich Dernburg, Die Königliche Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin in ihrem Personalbestande seit ihrer Errichtung Michaelis 1810 bis Michaelis 1885, Berlin 1885; Johannes Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, Bd. 1:1810— 1945, Leipzig 1955; Verzeichnis der Studirenden auf der Königlichen Universität zu Berlin, Berlin 1828. 25

26

Conrad Varrentrapp Johannes Schultze und das höhere preußische Unterrichtswesen in seiner Zeit, Leipzig 1889, S. 510. 27 Vgl. Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1—4, Halle a.d. S. 1910—1918, Bd. 2.1, S. 183. 28 C. Varrentrapp, Johannes Schultze... (wie Anm. 25), passim. 29 Wilhelm Treue, Christian Peter Wilhelm Beuth, in: W. Treue / K. Gründer, Wissenschaftspolitik ... (wie Anm. 13), S. 119—134.

Berlin als Standort historischer Forschung

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ßes", besonders des Maschinenbaus. Die von der Stadt Berlin eingerichtete Gewerbeschule galt als Musteranstalt, und als 1830 der französische Philosoph Victor Cousin, der in Deutschland studiert hatte, im Auftrag seiner Regierung Preußen bereiste, fand er, daß das klassische Land der Kasernen nun auch das klassische Land der Schulen geworden sei. 30 Doch das traf nur teilweise zu: Die Idee einer schulischen Ausbildung für bestimmte Berufsfelder setzt sich erst von 1880/90 an auf breiter Front durch. Frühere Versuche, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, führten zwar zum Erfolg für die militärischen und zivilen Staatsdienste, scheiterten aber weitgehend für die gewerbliche Wirtschaft. Immer wieder „siegte" das Prinzip der Allgemeinbildung über das der Fachbildung. Die einzige gewichtige Ausnahme ist das Berliner Gewerbe-Institut; aber auch seine Geschichte spiegelte lange Zeit weniger den „Bedarf" des privatwirtschaftlichen Arbeitsmarktes als die Ausstrahlungskraft des öffentlichen Dienstes wider. 31 Zur Gründungszeit der Berliner Universität diente die Geschichte nicht mehr vorrangig als Hilfsdisziplin, um die Herrschaftsansprüche einer Dynastie zu legitimieren oder gar zur Kommentierung des Reichs- und Staatsrechts, sondern entwickelte sich zu einer selbständigen Wissenschaft, 32 die allerdings noch lange Jahrzehnte ohne eigenes Seminar auskommen mußte. Als zentrale Figur der Berliner Historiker im 19. Jahrhundert darf Leopold von Ranke gelten, der wohl als letzter bedeutender Gelehrter die Universalität der Geschichtsbetrachtung für unverzichtbar hielt und die Aufspaltung der Historik in mehr oder weniger isolierte Fachwissenschaften noch nicht kannte. Er lehrte noch „Weltgeschichte" unter Einschluß von Fächern, für die in seiner Nachfolge jeweils spezielle Professuren an der Friedrich-Wilhelms-Universität geschaffen wurden, 33 die in der Philosophischen Fakultät angesie-

30 Zitiert nach Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Freiburg 1929—1937, bes. Bd. 2, S. 343 und Bd. 3, S. 149.

Bd. 1—4,

31 Ilja Mieck, Preußische Gewerbepolitik in Berlin 1804—1844. Staatshilfe und Privatinitiative zwischen Merkantilismus und Liberalismus (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 20), Berlin 1965, S. 40—42; Peter Lundgreen, Berlin als Schulstadt: Bildungspolitische Grundlagen der Wirtschaftsentwicklung (1770—1870), in: Berlin im Europa der Neuzeit... (wie Anm. 22), S. 113—118. 32 Josef Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 189 (1959), S. 223—378. 33 Helmut Berding, Leopold von Ranke, in: Deutsche Historiker, hrsg. von HansUlrich Wehler, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 7—24; Felix Escher, Leopold von Ranke, in:

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delt waren. Geschichte lehrten aber auch Fachvertreter benachbarter Fakultäten. Während Althistoriker und Philologen die Berliner W i r t schaftsgeschichtsforschung begründeten (August Boeckh wagte den Anfang, 3 4 der Ranke-Nachfolger Karl Wilhelm Nitzsch und andere schlossen sich ihm an), lehrten Juristen und Theologen die Historie ihrer Fächer. Zu den Mitbegründern der Berliner Universität im Jahre 1810 hatte Friedrich Carl von Savigny gehört, der hier seit 1815 seine richtungweisende, direkt aus den Quellen erarbeitete „Geschichte des römischen R e c h t s im Mittelalter" veröffentlichte und mit Hilfe seiner zahlreichen Schüler eine Juristische Fakultät aufbaute, die von den H ö h e n und Tiefen der deutschen Politik im 19. und 20. Jahrhundert nicht unberührt blieb. 3 5 Mit der Begründung der „Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft" führte Savigny die Historische Rechtsschule in Deutschland an. Gerade auch die Rechts- und Verfassungsgeschichte blieb an der Berliner Universität mit „großen N a m e n " verbunden, die nicht allein auf die Juristische Fakultät begrenzt sind beziehungsweise sich als Juristen nicht allein mit Rechts- und Verfassungsgeschichte befaßt haben. In der Nachfolge Savignys sei auf Georg Friedrich Puchta, Karl Friedrich Eichhorn (als Begründer der Verfassungsgeschichte), J a c o b Grimm, Georg Beseler, Karl Gustav Homeyer, Rudolf von Gneist, O t t o [von] Gierke und Heinrich Brunner verwiesen, denen seit 1875 auch ein Juristisches Seminar zur Verfügung stand. 3 6

Michael Erbe (Hrsg.), Geisteswissenschaftler (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60. Berlinische Lebensbilder, Bd. 4), Berlin 1989, S. 109—125. 34

Die wichtigste Literatur zu Boeckh: Max Hoffmann, August Boeckh, Leipzig 1901;

Johannes Schneider, Das Wirken August Boeckhs an der Berliner Universität und Akademie, in: Altertum 15(1969), S. 103—115; Johannes Irmscher, August Boeckh und seine Bedeutung für die Entwicklung der Altertumswissenschaft, in: Jahrbuch für schichte (WH),

Wirtschaftsge-

S. 107—118; George Peabody Gooch, Geschichte und Geschichtsschreiber

im 19. Jahrhundert,

Frankfurt am Main 1964, S. 40 ff.; Wolfhart Unte, Berliner Klassi-

sche Philologen im 19. Jahrhundert,

in: Willmuth Arenhövel / Christa Schreiber (Hrsg.),

Berlin und die Antike, Berlin 1979, S. 9—67, bes. S. 15—20; A. [v.] Harnack, Geschichte . . . (wie Anm. 13), Bd. 1.2, S. 8532ff.; Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff,

Ge-

schichte der Philologie, Nachdr. Leipzig 1959, S. 54 f.; Ada Hentschke / Ulrich Muhlack, Einführung 35

in die Geschichte der Klassischen Philologie, Darmstadt 1977, S. 88 ff.

Ernst Heymann, Hundert

Jahre

(Hrsg.), Die juristische Fakultät

Berliner Juristenfakultät,

in: O t t o Liebmann

der Universität Berlin von ihrer Gründung

Gegenwart, Berlin 1910, S. 3—66. 36

Vgl. den Beitrag von Friedrich Ebel in diesem Band, S. 449—485.

bis zur

Berlin

als Standort

historischer

55

Forschung

In der Theologischen Fakultät war die Kirchengeschichte angesiedelt. 37 Auch sie ist in Berlin an illustre Namen gebunden. Substantiell analysiert die Kirchengeschichtsforschung das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft: Sie will das Christentum geschichtlich und auf die Gegenwart und Zukunft hin bedenken und steht unter Erwartungen aus der Gesellschaft, mit denen sie sich befassen muß.iS Ein getaufter Jude, der gebürtige Hamburger Johann August Wilhelm Neander, hat seit 1813 an der Theologischen Fakultät 37 Jahre lang gelehrt und insbesondere zur älteren Kirchengeschichte publiziert. In seiner Nachfolge wirkte der glänzende Wissenschaftsorganisator Adolf [von] Harnack in Berlin, dessen zahlreiche Quelleneditionen und Studien zur altchristlichen Literaturgeschichte, aber auch zur Dogmen- und Missionsgeschichte die Forschung noch immer tangieren. Neben Harnack lehrte seit 1906 Karl Holl, dessen Arbeitsgebiete mit denen seines Kollegen und Mentors korrespondierten. Dies gilt auch für den in der Nachfolge Harnacks berufenen Hans Lietzmann. Um die Wende zum 20. Jahrhundert etablierte sich noch die regionale Kirchengeschichtsforschung an der Universität mit Nikolaus Müller, der 1904 das „Jahrbuch für brandenburgische Kirchengeschichte" begründete. 39

Die Entwicklung der Berliner Universität verlief nicht geradlinig. Sie war — damals wie heute — abhängig von den politischen Ereignissen. 40 Dies zeigt sich deutlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als es in der Folge der Achtundvierziger Revolution zu restaurativen Maßnahmen der preußischen Regierung kam. Wie die „Stiehlschen Regulative" im Bereich von Schule und Bildung eine Abwendung vom Bildungskonzept der Reformzeit bedeuteten, in dem man etwa die Entwicklung des Geistesvermögen an abstrakten Inhalten für überflüssig und gefährlich erklärte, so daß der Lehrstoff im Elementarbereich auf die notwendigen 37

Hans-Dieter Döpmann, Die Geschichte

schichte, in: Wissenschaftliche

des Berliner

Lehrstuhls für

Zeitschrift der Humboldt-Universität

Kirchenge-

zu Berlin.

Gesell-

schaftswissenschaftliche Reihe 34 (1985), S. 544—553. 38

Vgl. den Beitrag von K u r t - V i c t o r Selge in diesem Band, S. 409—447.

39

Vgl. A d . O . , S. 446, Anm. 122, sowie zu Lietzmann Kurt Aland (Hrsg.), Glan/

Niedergang

der deutschen Universität. 50]ahre

an und von Hans Lietzmann

(1892—1942).

Mit einer einführenden Darstellung, Berlin-

New Y o r k 1979; dazu die Rezension von K u r t - V i c t o r Selge, in: Jahrbuch für Brandenburgische 40

Kirchengeschichte

und

deutsche Wissenschaftsgeschichte in Briefen Berlin-

52 (1980), S. 168—174.

H o r s t Möller, Die politische und kulturelle Rolle Berlins von der A ufklärung bis zur

Reichsgründung,

in: Berlin im Europa der Neuzeit...

(wie Anm. 22), S. 55—73.

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Fähigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens reduziert wurde, traf die reaktionäre Bildungskritik auch die Berliner Universität, der man in Regierungskreisen lebhaftere Revolutionsaktivitäten nachsagte, als tatsächlich von ihr ausgegangen waren. Der neue Kultusminister von Raumer unterwarf den Lehrbetrieb ähnlichen Kontrollen, wie sie nach den Karlsbader Beschlüssen üblich geworden waren. V o r allem reduzierte er den Lehrkörper. Die Zahl der Professoren verringerte sich bis 1852 von 108 auf 92. Davon war in erster Linie die philosophische Fakultät betroffen, die allein 10 Professuren verlor. Aber auch die Zahl der Studenten ging zurück; im Wintersemester 1848/49 waren bereits 20 Prozent Studenten weniger immatrikuliert als im vorausgegangenen Revolutionssemester. 4 1 Besonderer Druck wurde auf den akademischen Nachwuchs ausgeübt, vor allem auf die Privatdozenten, sofern sie dem liberalen Lager angehörten. Die Stellenstreichungen der fünfziger Jahre verhinderten den Aufstieg in die Professur. So mußte sich Rudolf Gneist mit einer außerordentlichen Professorenstelle begnügen, denn er war als Berliner Stadtverordneter politisch verdächtig. Erst 1860 wurde der international renommierte Verwaltungsjurist Ordinarius. Ahnlich blockiert hat man die Karrieren anderer Liberaler, nur die Berufung Rudolf Virchows (1856) darf als bemerkenswerte Ausnahme gelten. 42 Mit der „Neuen Ära" wandelte sich das Bild. Der dem liberalen Lager zuzurechnende Kultusminister von Bethmann Hollweg, der die Universität im Vormärz als R e k t o r geleitet hatte, betrieb eine Berufungspolitik, die den Lehrkörper qualitativ verbesserte und zugleich verjüngte. 4 3 D o c h die politische Tauwetterperiode war nur von kurzer Dauer. Die politischen Tagesereignisse gingen an der Universität nicht spurlos vorüber, und der 1862 ausbrechende Verfassungskonflikt, in dem Professoren wie Gneist und Virchow als Parlamentarier entschieden gegen die Politik Bismarcks auftraten, ließen die Friedrich-Wilhelms-Universität zu einem H o r t der Opposition werden. Aber mit der Gründung des „Norddeutschen Bundes" und der „Nationalliberalen Partei" schrumpfte die Professorenopposition zusammen. Die Berliner 41 Karl Obermann, Die Berliner Universität am Vorabend und während der Revolution von 1848/1849, in: Forschung und Wirken 1 (1960), S. 165—201; M. Lenz, Geschichte ... (wie Anm. 27), bes. Bd. 2.2, S. 186—313; Erich J . C. Hahn, The Junior Faculty in „Revolt". Reform Plans for Berlin University in 1848, in: American Historical Review 82 (1977), S. 875—895. 42 M. Lenz, Geschichte ... (wie Anm. 27), Bd. 2.2, S. 283—289 u. S. 325. 43 A. a. O., S. 345.

Berlin als Standort

historischer

Forschung

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Universität unterstützte nun die Gründung eines deutschen Nationalstaates sogar in einer Weise, die jedes unabhängige Denken vermissen ließ. 44 Für die Berliner Geschichtswissenschaft war die Auseinandersetzung mit den politischen Tagesereignissen durchaus fruchtbar. Dies gilt — wie in unserer Ringvorlesung deutlich wurde — nicht nur für die Neuhistoriker, sondern auch für die Mediävisten und vor allem für die Althistoriker. 4 5 Doch verlor sich an der Berliner Universität der liberale Geist der Generation von 1848, wie ihn der Historiker Theodor Mommsen und der auch als Berliner Stadtverordneter verdienstvolle Rudolf Virchow beispielhaft verkörperten. 1875 kam Heinrich von Treitschke nach Berlin, ein unbedingter Verfechter des preußischen Machtstaates und eines nationalistischen Antisemitismus, über den er 1879/80 vor allem mit Mommsen in einen heftigen Streit geriet. 46 Insgesamt rückte damit aber die Berliner Geschichtswissenschaft in den Mittelpunkt zumindest der deutschen Forschung. Sie korrespondierte darin mit vielen anderen Fächern der Berliner Universität, die sich bereits vor der Reichsgründung auf vielen Gebieten der Wissenschaft zur führenden Hochschule im deutschen Sprachraum entwickelt hatte. Diese gelangte nicht nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften, 47 vor allem in der Medizin, der Physik und der Chemie zu Weltruhm, sondern auch im Bereich der Geisteswissenschaften und hier besonders in der Geschichte und in den Altertumswissenschaften. 48 Dies setzte sich im 20. Jahrhundert fort, wobei die Reichshauptstadt Berlin einen immer stärkeren Sog ausübte und eine Berufung nach hier als das höchste Ziel galt, das zu erreichen ein Wissenschaftler in Deutschland anstreben konnte.

44

A. a. O., S. 350 f. Für die nachfolgende Zeit vgl. auch: Christian Simon, Staat und

Geschichtswissenschaft in Deutschland und Frankreich 1871—1914.

Situation und Werk

von Geschichtsprofessoren an den Universitäten Berlin, München, Paris, Bern-Frankfurt/M.N e w York-Paris 1988. 45

Vgl. vor allem den Beitrag v o n Alexander D e m a n d t in diesem Band, S. 149—209.

46

Marianne Awerbuch, Heinrich von Treitschke, in: M. Erbe (Hrsg.), Geisteswissen-

schaftler. .. (wie Anm. 33), S. 223. 47

Rudolf Virchow, Die Gründung der Berliner Universität und der Übergang, aus dem

philosophischen in das naturwissenschaftliche Zeitalter. Rede 1893 in der Aula der Universität zu Berlin, gehalten v o n dem derzeitigen Rector, Berlin 1893. 48

Ulrich v o n Wilamowitz-Moellendorff, Das Institut für Altertumskunde,

Lenz, Geschichte...

in: M.

(wie A n m . 27), Bd. 3, S. 216—219; Max Lenz / Michael Tangl, Das

Historische Seminar, in: A. a. O., S. 247—263.

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Als die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität 1910 ihr hundertjähriges Jubiläum beging, hatte sie sich nicht nur auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften, vor allem in den Sparten Geschichte und Altertumswissenschaften, sondern auch im Bereich der Naturwissenschaften zur führenden Hochschule im deutschen Sprachgebiet entwickelt. Der 1882 bis 1908 als Ministerialdirektor für das Hochschulwesen im preußischen Kultusministerium tätige Friedrich Althoff ließ den Naturwissenschaften besondere Förderung angedeihen.49 Nachdem die Universität um die Jahrhundertwende mit rund 5000 Studenten bei etwa 350 Lehrkräften und einer sonst kaum üblichen Fächervielfalt eine kritische Größe erreicht hatte, waren die Unterbringungsmöglichkeiten in der Innenstadt weitgehend erschöpft, so daß Althoff den Plan faßte, viele naturwissenschaftliche Disziplinen der Universität nach Dahlem zu verlegen, wo ein Deutsches Oxford entstehen sollte. 50 Seit 1911 entstanden in Dahlem dann die Forschungszentren der neugegründeten KaiserWilhelm-Gesellschaft, die zunächst ausschließlich naturwissenschaftlich orientiert waren und der reinen Forschung (also nicht der Lehre) dienen sollten. Seitens der Industrie hatte Karl Bosch, einer der führenden Industriellen, diese Gründung energisch betrieben. Ihr geistiger Initiator und zugleich ihr erster Präsident war der Theologe Adolf [von] Harnack, seit 1905 Generaldirektor der reorganisierten Königlichen Bibliothek. Kritiker der Monarchie bezeichneten ihn als Hoftheologen. Er war — wie bereits erwähnt — einer der letzten großen Kirchenhistoriker, und es stimmt nachdenklich, wenn es ausgerechnet ihm gelang, dem Kaiser eine solche Stiftung plausibel zu machen. Allerdings war Harnack auch ein Weltmann großen Stils, der in den Salons der Industriellen ebenso zu Hause war wie auf Kongressen und Tagungen. Durch solche Verbindungen kamen auch die benötigten Mittel zusammen, und etwa 200 angesehene Männer und Frauen aus der deutschen Wirtschaft (darunter Thyssen, Kirdorf und Stinnes) zeichneten als Gründer. Einige Industrien waren durch Stiftungen direkt an den Instituten beteiligt. Aber auch mehrere deutsche Länder steuerten ihr Schärflein bei. Der preußische Staat stiftete Grundstücke seiner Dahlemer Domäne (den Kern der heutigen Freien Universität) und richtete für die Direktoren Beamtenstellen ein. Kaiser Wilhelm II.

49 Bernhard vom Brocke, Von der Wissenschaftsverwaltung zur Wissenschaftspolitik. Friedrich Althoff (19. 2. 1893 — 20. 10. 1908), in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 1—26. 50

Michael Engel, Geschichte Dahlems, Berlin 1984.

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Forschung

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übernahm das Protektorat über die Gesellschaft, die seinen Namen tragen sollte und die wir heute — vollständig dezentralisiert — als MaxPlanck-Gesellschaft kennen. 51 Die Leistungen von Universitäten und Forschungsinstituten waren enorm. 5 2 Der Pathologe Paul Ehrlich, von 1890 bis 1900 Professor an der Berliner Universität, seit 1895 Direktor des Instituts für Serumforschung in Steglitz, schuf der Anilin- und Arzneimittelindustrie mit seinen farbanalytischen Untersuchungen, 1909 mit der Entdeckung des Salvarsans, wichtige Grundlagen. 1892 setzte Emil Fischer die Forschungen Hofmanns fort, dessen Experimentaluntersuchungen, insbesondere stickstoffhaltiger Verbindungen, den Siegeszug der modernen Chemie beschleunigt und den Anstoß zur Gründung der Teerfarbenindustrie gegeben hatten. Fischer gelang die Synthese von Zucker, die Analyse von Eiweißstoffen, die Darstellung des Veronals und Coffeins. 1902 erhielt er als erster Berliner Gelehrter den Nobelpreis für Chemie. Sein Plan einer Chemischen Reichsanstalt mit dem Berliner Physiker Walther Nernst und dem Leipziger Chemiker Wilhelm Ostwald nach dem Muster der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt Charlottenburg, für deren Gründung die optische Industrie (Ernst Abbe) und die Elektroindustrie (Werner Siemens) schon 1887 gesorgt hatten, scheiterte an der Aufrüstung und am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. An ihrer Stelle übernahm das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie diese Aufgabe mit: Leiter war der Chemiker Fritz Haber, dem 1908/09 die synthetische Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff aus der Luft zu Ammoniak gelang, ein Verfahren, das er mit Bosch bis zur technischen Anwendung vervollkommnete. 53 Die bedeutendsten Namen der damaligen Wissenschaft hatten aber die beträchtlich erweiterten physikalischen Lehrstühle aufzuweisen. Hermann von Helmholtz und Georg Kirchhoff, die beide bereits den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten von Strahlung, Wärme und Elektro51 Lothar Burchardt, Wissenschaftspolitik im Wilhelminischen Deutschland. Vorgeschichte, Gründung und Aufbau der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, Göttingen 1975. 52 Bernhard vom Brocke, Forschung und industrieller Fortschritt: Berlin als Wissenschaftszentrum. Akademie der Wissenschaften, Universität, Technische Hochschule und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: Berlin im Europa der Neuzeit ... (wie Anm. 22), S. 165—197. 53 Vgl. auch die einschlägigen Beiträge in: Wilhelm Treue / Gerhard Hildebrandt (Hrsg.), Naturwissenschaftler (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 60. Berlinische Lebensbilder, Bd. 1), Berlin 1987, passim.

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dynamik nachgespürt hatten, folgten Walther Nernst, der vor allem wesentlich die Erforschung der Wärmeprozesse und die Ionentheorie förderte, und Max Planck, der 1910 diese Nernstschen Hauptsätze erweiterte. Bereits 1901 hatte Planck seine Quantentheorie aufgestellt, die zur Grundlage für eine völlige Umgestaltung der Physik geworden ist.54 Die Berliner Universität entwickelte sich aber auch zum Kristallisationspunkt der modernen Atom- und Strahlenforschung. Im Jahre 1914 wurde der fünfunddreißigjährige Albert Einstein, der bereits 1905 durch die Veröffentlichung seiner speziellen Relativitätstheorie von sich reden gemacht hatte, als hauptamtliches Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik und Kuratoriumsmitglied der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt nach Berlin berufen. Eine Professur an der Universität bekam er nicht, was mit dem latenten Antisemitismus einflußreicher Kreise an der Berliner Universität zusammenhing. Doch Einstein besaß als Akademiemitglied das Recht, Vorlesungen zu halten, und hat dies auch wahrgenommen. Übrigens wurde 1919 mit Lise Meitner an der Berliner Universität auch der erste weibliche (außerordentliche) Professor ernannt. 55 1919 kam schließlich auch Max von Laue hinzu, der bereits mit seinen Forschungen über die Wellennatur der Strahlen und seinem Relativitätsprinzip (1911) bekannt geworden war.56 Die Forschungen gerade dieser und anderer Institute lieferten wichtige Grundlagen für die Mathematik, Chemie und Physik und nicht zuletzt für die Navigation, an der die Admiralität interessiert war, während es dem Generalstab vor allem auf die exakten Erdvermessungen ankam, die als internationale Gemeinschaftsarbeit betrieben wurden, was man im Außenministerium als „Mangel an Patriotismus" beanstandete. Ausschlaggebend für die Konzentrierung so vieler Spezialfächer und Institutionen in Berlin dürfte die Funktion der Stadt als Hauptstadt Preußens und später als Reichshauptstadt gewesen sein.57 Hier in Berlin konzentrierten sich nun neben den vielen Institutionen im ökonomisch-technischen Bereich auch Bildung und Wissenschaft. 54

Vgl. ebda. Reimer Hansen, Lise Meitner. Eine Würdigung, Berlin 1989. 56 Vgl. ebda. 57 Dazu ausführlicher Wolfgang Ribbe, Berlin im Europa der Neuzeit: Nationale Hauptstadt und europäische Metropole, in: Berlin im Europa der Neuzeit ... (wie Anm. 22), S. 17—51, sowie Lothar Gall, Berlin als Zentrum des deutschen Nationalstaats, in: A. a. O., S. 229—238. 55

Berlin als Standort

historischer

Forschung

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Die preußische beziehungsweise deutsche Hauptstadt bot dazu in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Voraussetzungen, wie sie kein anderer Ort in Deutschland aufzuweisen hatte: Berlin war Sitz der Regierung und Hauptversorungsplatz der Armee. Durch den Bau der Eisenbahnen hatte sich die Stadt zum Verkehrsknotenpunkt entwickelt. 58 Aus den östlichen preußischen Provinzen strömte die nach den preußischen Reformen freigesetzte bäuerliche Bevölkerung in die Hauptstadt und bildete hier den Pool für die Industriearbeiterschaft mit großen Auslesemöglichkeiten für besonders spezialisierte Produktionszweige. Der wissenschaftliche Uberbau war in naturwissenschaftlich-technischen Gesellschaften institutionalisiert, so in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, vor allem aber auch in der Technischen Hochschule Charlottenburg sowie später in den entsprechenden Kaiser-Wilhelm-Instituten. Die aus diesen Instituten hervorgegangenen Erfindungen und Patente legten den Grundstein für die Entwicklung und internationale Wettbewerbsfähigkeit der neu entstehenden Industriezweige. Entscheidenden Anteil an der industriellen Nutzung hatten aber die Ingenieure und Techniker, die aus den Berliner Lehranstalten hervorgegangen waren, die mit den Namen Beuth und Gaus verknüpft sind. Schließlich benötigte man für die industrielle Expansion auch die entsprechenden finanziellen Voraussetzungen, und so steht der wirtschaftliche Aufschwung Berlins in einem engen Zusammenhang mit der Entwicklung der Stadt zum überlokalen Bankenund Börsenplatz. Seit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts verlegte eine Reihe west- und süddeutscher Bankgeschäfte ihren Sitz nach Berlin. Eine noch größere Anzahl von Banken wurde hier neu gegründet. 59 Die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität entwickelte sich während dieser Zeit zur größten deutschen Universität, mit bedeutenden Leistungen sowohl in den Natur- wie in den Geisteswissenschaften. Neben den Instituten für theoretische Physik, für physikalische Chemie, für Mathematik und den medizinischen Instituten (denen die zweihundertjährige Charité angeschlossen wurde) zogen die Seminare

58

Michael Erbe, Berlin als Verkehrsknotenpunkt und Handelszentrum, in: A. a. O., S. 211—219. 59 Richard Tilly, Berlin als preußisches und deutsches Finanzzentrum und seine Beziehungen zu den anderen Zentren in Ost und West, in: A. a. O., S. 199—210, sowie Ilja Mieck, Berlin als deutsches und europäisches Wirtschaftszentrum, in: A. a. O., S. 121 — 139.

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für Alte und Neue Philologie, für Kunstgeschichte usw. viele ausländische Studenten nach Berlin. Seit Deutschland Kolonialpolitik betrieb, gewann das angegliederte Seminar für Kolonialwissenschaft und für orientalische, vor allem asiatische und afrikanische Sprachen praktische Bedeutung für Offiziere, Beamte, Kaufleute und Arzte. 6 0 Ein besonderes Steckenpferd des Kaisers wurde das 1910 aus deutschen und amerikanischen Stiftungen gegründete Amerikanische Institut, das durch Austauschprofessoren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der deutschen und der amerikanischen Wirtschaft verstärken sollte. 61 Die Industrie war mehr denn je an einer systematischen Grundlagenforschung und wissenschaftlichen Untersuchungen von Produktionsvorgängen interessiert, insbesondere auf allen Gebieten der Chemie und Physik, aber auch an den Untersuchungsergebnissen der Nationalökonomie und der Soziologie, die in Berlin stark vertreten waren. Einen ersten Gipfel erreichte die neue Disziplin mit Gustav Schmoller, der nach Studium und Tätigkeit in der Finanzverwaltung über die Universitäten Halle und Straßburg schließlich 1882 nach Berlin kam, wo er seine einzigartige Wirkung vor allem auch als erfolgreicher Wissenschaftsorganisator entfaltete. 6 2 Von ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Herkunft waren dann die nachfolgenden Kollegen Schmollers, von denen hier der Preußen- und Verfassungshistoriker O t t o Hintze, aber auch die schillernde Persönlichkeit des Nationalökonomen Werner Sombart 6 3 genannt sein sollen.

Ein Geflecht universitärer und außeruniversitärer Forschung, wie es seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Naturwissenschaften erkennbar wird, ist auch in den Geisteswissenschaften zu beobach-

60

Cornelia Essner, Berlins Wirtschaft

und der Kolonialismus,

in: A.a. O., S. 221 —

226. Vgl. dazu auch die Ausführungen unten, S. 65 mit Anm. 77. Vgl. dazu den Beitrag von Wolfram Fischer, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Berlin, unten S. 487—516, bes. S. 496—503. 63 Die Historische Kommission zu Berlin hat Hintzes Werk mit einem Symposion gewürdigt, dessen Ergebnisse veröffentlicht wurden: O t t o Büsch / Michael Erbe (Hrsg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. Ein Tagungsbericht (= Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 38), Berlin 1983. Uber Sombart vgl. den in Anm. 62 zitierten Beitrag von W. Fischer in diesem Band, S. 505—513. 61

62

Berlin als Standort

historischer

Forschung

63

ten. Das Reich bestimmte Berlin zum Sitz der „Monumenta". 6 4 Hier war der Sitz der Preußischen Akademie der Wissenschaften, 65 die Zentrale Leitung und der Fundus der Preußischen Staatsarchive und der Staatsbibliothek, 66 des (seit 1911 bestehenden) Kaiser-Wilhelm-Instituts für Deutsche Geschichte mit der „Germania Sacra" 67 und bedeutender historischer Kommissionen. Hier ist dann auch — ähnlich wie in den Naturwissenschaften — „Großforschung" betrieben worden. Zur Leitfigur der Berliner geschichtswissenschaftlichen Forschung avancierte Paul Fridolin Kehr, der als Direktor zahlreicher außeruniversitärer Forschungseinrichtungen vor allem auf mediävistischem Gebiet wirkte und der auch das Preußische Historische Institut in Rom gründete. 68 Seine Funktion nahm seit den späten zwanziger Jahren Albert Brackmann wahr, der sich darüber hinaus noch der „Ostforschung" wid64 Herbert Grundmann, Monumenta Germaniae histórica 1819—1969. [Mit einem chronologischen Verzeichnis der ständigen Mitarbeiter der M G H seit 1819], München 1969; Georg Winter, Z«r Vorgeschichte der Monumenta Germaniae Histórica, in: Neues Archiv 47 (1928), S. 1—16, sowie Harry Breßlau, Geschichte der Monumenta Germaniae Histórica (= Neues Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, Bd. 42), Hannover 1921. 65 A. [v.] Harnack, Geschichte ... (wie Anm. 12), passim. 66 Ernst Müller u. a. (Hrsg.), Übersicht Uber die Bestände des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin-Dahlem (= Mitteilungen der Preußischen Archiwerwaltung, H. 24 u. 25), Leipzig 1934/35; eine Geschichte dieses Archivs ist noch immer ein Desiderat. Im übrigen vgl. Werner Schochow, 325 Jahre Staatsbibliothek in Berlin. Das Haus und seine Leute, Wiesbaden 1986. 67 Paul F. Kehr, Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte, in: Max Planck (Hrsg.), 2 Í Jahre Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Bd. 3: Die Geisteswissenschaften, Berlin 1937, S. 68; ders., Zum ersten Band der neuen Germania Sacra, in: Sitzungsberichte der preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Berlin 1929, S. 360—375; Albert Brackmann, Vorschläge für eine Germania Sacra, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 30 (1909), S. 1—27, sowie Gottfried Wentz, Die Germania Sacra des Kaiser-Wilhelm-Instituts für deutsche Geschichte, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 86 (1941), S. 92—106. 68 Zur Persönlichkeit Kehrs vgl. die Nachrufe von Walther Holtzmann, Paul Fridolin Kehr, in: Deutsches Archiv für die Erforschung des Mittelalters 8 (1951), S. 26—58, und Friedrich Baethgen, Paul Kehr 1860—1944, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften Berlin 1950—51, Berlin 1951, S. 160; Paul F. Kehr, Über die Sammlung und Herausgabe der älteren Papsturkunden bis Innozenz III. (1198), in: Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse, Berlin 1934, S. 72 ff.; ders., Das preußische Historische Institut in Rom, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 8 (1913), Nr. 2, S. 148, sowie Gerd Tellenbach, Zur Geschichte des Preußischen Historischen Instituts in Rom (1888—1936), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 50 (1971), S. 382—419.

64

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mete, was ihm während der NS-Herrschaft zu besonderem Ansehen verhalf. 6 9 Reinhold Koser holte als Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive 1904 die Marburger Archivschule nach Berlin. 7 0 Albert Brackmann erweiterte 1930 die praktische Ausbildungsstätte für Archivare beim Geheimen Staatsarchiv zu einem „Institut für Archivwissenschaften und geschichtswissenschaftliche Fortbildung", die den Rang eines Universitätsinstituts erreichte. 7 1 Schließlich gab es auch erfolgreiche Bemühungen, das national bestimmte Geschichtsbild, das vorrangig auf das Reich und „Alteuropa" ausgerichtete Studien hervorbrachte, zu erweitern. Ende des 19. Jahrhunderts gelang es dem Deutschbalten T h e o d o r Schiemann, das Fach „Osteuropäische Geschichte und Landeskunde" an der Berliner Universität zu etablieren. 1887 habilitiert, erreichte er 1902 die Gründung eines Seminars für Osteuropäische Geschichte unter seiner Leitung, das 1905 eigene Räume im Hause Behrenstraße 70 beziehen konnte. 7 2 Als selbständiges Fach in Forschung und Lehre ist die Osteuropäische Geschichte dann während des gesamten 20. Jahrhunderts in Berlin vertreten gewesen, wobei die jeweiligen Lehrstuhlinhaber recht unterschiedliche, teilweise konträre Akzente setzten. Bereits Schiemanns Nachfolger O t t o Hoetzsch (und auch Karl Stählin, der bis 1939 in Berlin wirkte) setzten auf eine wissenschaftliche Zusammenarbeit mit der noch jungen Sowjetunion. Hoetzsch sah vor allem auch in der Erforschung der deutsch-polnischen Beziehungen eine Aufgabe seines Fachgebietes. Dies führte letztlich auch zum Verzicht auf seine Professur 1935 aus politischen Gründen, aber ebenso zu seiner Neuberufung 1945; doch starb Hoetzsch bereits ein J a h r später. 7 3 O h n e bedeutende wissenschaftliche Erträge blieb das Wirken von

69

Vgl. dazu die Ausführungen von Klaus Zernack in seinem Beitrag

„Deutschland

und der Osten" als Problem der historischen Forschung in Berlin im vorliegenden Band, S. 585 einschließlich Anm. 44. 70

Eckart Henning, Der erste Generaldirektor

Koser, in: Neue Forschungen

der Preußischen Staatsarchive,

zur Brandenburgischen

Reinhold

und Preußischen Geschichte 1 (1979),

S. 259—293. 71

Wolfgang Leesch, Das Institut für A rchivwissenschaft und

che Fortbildung

(IfA) in Berlin-Dahlem

(1930—1945),

geschichtswissenschaftli-

in: Brandenburgische

Jahrhun-

derte. Festgabe für Johannes Schultze zum 90. Geburtstag, hrsg. von Gerd Heinrich und Werner Vogel, Berlin 1971, S. 219—254. 72

Vgl. den Beitrag von Klaus Meyer, Osteuropäische

Band, S. 5 5 3 — 5 7 0 , bes. S. 558 (mit Anm. 13). 7>

A.a.O.,

S. 562.

Geschichte, im vorliegenden

Berlin als Standort historischer

Forschung

65

Hans Uebersberger in der Nachfolge von Hoetzsch und Stählin während der NS-Zeit. 7 4 Die Osteuropa-Forschung in beiden Teilen Berlins nach 1945 haben im wesentlichen zwei Persönlichkeiten bestimmt. In Ost-Berlin setzte Eduard Winter als Direktor des „Instituts für die Geschichte der Völker der U d S S R " mit einem Großprojekt zur Erforschung der Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland im 18. Jahrhundert neue Akzente. 7 5 In West-Berlin baute Werner Philipp das Seminar für Osteuropäische Geschichte der F U zu einem umfassenden OsteuropaInstitut aus. 76 Die deutschen Historiker des 19. Jahrhunderts waren und blieben nationalstaatlich orientiert und betrachteten die Geschichte eurozentristisch. Dies gilt auch für „universalgeschichtlich" ausgerichtete Gelehrte wie Leopold von Ranke, der zum Beispiel dem amerikanischen Doppelkontinent nur wenige Seiten gewidmet hat. Ahnlich wie Hegel in seiner Geschichtsphilosophie betrachtete auch Ranke ganz Amerika nur als einen Appendix Europas. So sind Nordamerika-Studien in Berlin erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts institutionalisiert worden, und zwar zunächst im Dienst der kaiserlichen Weltpolitik. Uber ein Austauschprogramm lehrten deutsche Wissenschaftler („Kaiser-Wilhelm-Professoren") in den U S A und amerikanische Gelehrte („Roosevelt-Professoren") in Berlin. 7 7 Aus den USA-Aufenthalten von Hermann Oncken und Eduard Meyer gingen noch vor dem Ersten Weltkrieg Amerika-Studien hervor, mit denen diese Wissenschaftler die Amerikanistik auf historischem Gebiet in Deutschland begründeten. 78 Doch am historischen Seminar der Berliner Universität blieb das Lehrangebot auf diesem Gebiet eher von Zufällen als von Planungen bestimmt, was sich auch nicht änderte, nachdem Friedrich Schönemann (ein „studierter" Germanist und Anglist) als Leiter der Amerika-Abteilung des Seminars für Englische Philologie (seit 1936 als Ordinarius)

Walter Leitsch / Manfred Stög, Das Seminar für osteuropäische Geschichte an der Universität Wien 1907—1948, Wien-Köln-Graz 1983, S. 172 ff., sowie den Beitrag von K. Meyer in diesem Band, S. 565 f. 75 A.a.O., S. 567f. 76 A.a.O.. S. 568f. 77 Bernhard vom Brocke, Der deutsch-amerikanische Professorentausch, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 31 (1981), S. 128—182. 78 Vgl. den Beitrag von Willi Paul Adams, Die Geschichte Nordamerikas in Berlin, im vorliegenden Band, S. 595—631, bes. S. 608 ff. 74

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mehr sporadisch als regelmäßig auch „Amerikakunde" lehrte. 79 Ein außeruniversitäres Amerika-Institut unterhielt das preußische Unterrichtsministerium von 1910 bis 1945 im Gebäude der Bauakademie. 80 Nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Ost-Berliner Universität keine Professur für Nordamerika-Studien geschaffen. Lediglich Karl Obermann und sein Nachfolger als Leiter der Abteilung für Allgemeine Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der D D R , Karl Drechsler, befaßten sich auch mit amerikanischer Sozial- und Ideengeschichte beziehungsweise mit der amerikanischen Außenpolitik seit Roosevelt. 81 An der West-Berliner Freien Universität entwickelte sich dieses Fachgebiet naturgemäß anders. Bereits in den fünfziger Jahren ist eine Amerikanische Abteilung bei den Anglisten aufgebaut worden. Nach dem Mauerbau entstand mit Unterstützung der Ford-Foundation daraus das heutige John-F.-Kennedy-Institut mit zwei Professuren für die Geschichte und einer Professur für die Wirtschaft des nordamerikanischen Kontinents. 8 2 Die Erforschung Ibero-Amerikas ist selbst während des wilhelminischen Weltmachtstrebens in Berlin nicht wesentlich befördert worden. An die Pionierleistungen eines Alexander von Humboldt hatte während des gesamten 19. Jahrhunderts niemand angeknüpft. Erst in der Endphase der Weimarer Republik gründete der Preußische Staat ein „Ibero-Amerikanisches Institut" mit Sitz im Marstall am Berliner Stadtschloß, das dem Kultusministerium unterstand. 83 Es vereinigte Sammlungen aus Vorläufer-Institutionen in Hamburg und Bonn. Der spiritus rector der neuen Forschungsstätte, O t t o Quelle, erhielt 1930 ein Ordinariat an der T H Berlin; seit 1940 vertrat er das Fach „Geographie, Volks- und Landeskunde Spaniens und Ibero-Amerikas an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität.

79 Vgl. Christian H . Freitag, Die Entwicklung der Amerika-Studien in Berlin bis 1945 unter Berücksichtigung der Amerikaarbeit staatlicher und privater Organisationen, Phil. Diss., Berlin 1977, S. 26f. 80 Ebda. 81 Karl Drechsler, Research Trends and Accomplishments in the Study of United States History in the German Democratic Republik, in: Lewis Hanke (Hrsg.), Guide to the Study of United States History outside the U.S. 1945—1980, Bd. 2, White Plans/Ν. Y . 1985, S. 257—277. 82 Vgl. dazu den Beitrag von Willi P. Adams in diesem Band, S. 595—601. 83 Hans-Joachim Bock, Das Ibero-Amerikanische Institut, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1 (1962), S. 324—345.

Berlin als Standort

historischer

Forschung

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Dort lehrte von 1940 bis 1945 auch Egmont Zechlin „Überseegeschichte und Kolonialpolitik". 8 4 Einer der besten deutschen Kenner der spanischen, aber auch der iberoamerikanischen Geschichte, Richard Konetzke, hat nach seiner Promotion bei Friedrich Meinecke seine fundamentalen Quellenkenntnisse als Stipendiat auf Forschungsreisen erworben. Neben einer Tätigkeit als Studienrat in Berlin publizierte er dann in den dreißiger und frühen vierziger Jahren bereits zahlreiche Aufsätze und zwei bedeutende monographische Studien, erhielt eine Professur aber erst 1954 in Köln, wo er bis zu seiner Emeritierung wirkte. 8 5 In Berlin blieb auch nach dem Zweiten Weltkrieg das Ibero-Amerikanische Institut, das nun bei der Stiftung Preußischer Kulturbesitz ressortiert, Mittelpunkt der Lateinamerika-Forschung. Sein gegenwärtiger Direktor, Reinhard Liehr, steht zugleich der historischen Abteilung eines entsprechenden Zentralinstituts an der F U vor, an dem er ein Ordinariat bekleidet. 8 6 An der Humboldt-Universität aber, vor deren Eingangsportal die Statuen beider Brüder Humboldt das doppelte Patronat der Berliner Alma Mater verkünden, wird an die Pionierleistung des großen Alexander seit dem Weggang von Friedrich Katz in den sechziger Jahren und dem T o d von Ursula Schienther (1979) nicht mehr angeknüpft. Lediglich das Zentralinstitut für Geschichte der ehemaligen Akademie der Wissenschaften der D D R unterhielt eine Alexandervon-Humboldt-Forschungsstelle. 8 7

Bei aller Spezialisierung und Ausweitung des historischen Fächerkanons standen die „Kernprofessuren" der Alten, Mittelalterlichen und Neueren Geschichte im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Geschehens. Die Alte Geschichte war und blieb an der Berliner Universität bei den Altertumswissenschaften angesiedelt, getrennt von den Histori-

84

Hermann Kellenbenz/Jürgen

Schneider, Geschichte,

(Hrsg.), Deutsche Iheroamerika-Forschung

in den Jahren

in: Wilhelm

Stegmann

1930—1980, Berlin 1987,

S. 55 f. A. a. O., S. 57—62. Vgl. auch seinen Beitrag Geschichte Lateinamerikas in Berlin im vorliegenden Band, S. 633—656. 87 Vgl. dazu auch Renate Ferno / Wolfgang Grenz (Hrsg.), Handbuch der deutschen 85

86

Lateinamerika-Forschung,

Hamburg 1980.

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kern, aber innerhalb der Philosophischen Fakultät. Althistorische Lehrveranstaltungen haben daneben die Theologen und Juristen, vor allem aber auch die Philosophen, Philologen und Archäologen angeboten. Niebuhr hielt als Akademiemitglied althistorische Vorlesungen, erster Lehrstuhlinhaber war aber Christian Friedrich Rühs, der, ähnlich seinem Nachfolger, Friedrich von Raumer, die Alte Geschichte in den Rahmen der Universalgeschichte stellte, wie gleichzeitig und später noch viele andere, unter ihnen Leopold von Ranke. 8 8 Größer war der Anteil der Antike bereits im W e r k von Johann Gustav Droysen, 8 9 aber erst Theodor Mommsen begründete die Alte Geschichte als selbständige Disziplin in Berlin mit der Übernahme des Lehrstuhls für römische Altertumskunde im Jahre 1861. Mommsen zählte zu den „politischen" Professoren; dabei hat er nicht nur den Antisemitismusstreit mit Treitschke geführt, sondern vor allem auch als Gegner Bismarcks in das Tagesgeschehen eingegriffen und auch da, wo es ihm angemessen schien, die Wissenschafts- und Stellenbesetzungspolitik der preußischen Staatsbehörden kritisiert. 9 0 Diese hatten — zumindest was seine Nachfolger angeht — keine glückliche Hand. Erst mit Eduard Meyer gelang es, wieder einen Maßstäbe setzenden und mit internationalem Renommee ausgestatteten Althistoriker nach Berlin zu verpflichten. Meyer hat vielbeachtete Gastvorlesungen in den U S A gehalten und ist mit Ehrendoktoraten der führenden westlichen Universitäten geradezu überschüttet worden, was ihn nicht daran hinderte, sie nach Eintritt der U S A in den Ersten Weltkrieg zurückzugeben, um sich nun dem kommunistischen Rußland zuzuwenden, von dem er sich maßgeblichen Einfluß auf die künftige Gestaltung Europas erhoffte. 9 1 Nach seinem T o d 1930 blieb die Professur vakant. Neben Eduard Meyer wirkte bis 1931 der eher unpolitische Ulrich Wilcken in Berlin. 9 2 Während der NS-Zeit beherrschte Wilhelm Weber die althistorische Abteilung, ein Nationalsozialist, der eng mit dem Regime kollaborierte. N u r sein T o d

88

Vgl. dazu den Beitrag v o n Alexander Demandt im vorliegenden Band, S. 1 4 9 — 2 0 9 ,

bes. S. 1 5 3 — 1 5 5 . 89

Hans Joachim Gehrke, Johann Gustav Droysen, in: M. Erbe (Hrsg.),

Geisteswissen-

schaftler ... (wie A n m . 33), S. 1 2 7 — 1 4 2 . 90

H a r t m u t Galsterer, Theodor

W u c h e r , Theodor Mommsen, 91

Mommsen,

in: A. a. O., S. 1 7 5 — 1 9 4 , sowie A l b e r t

in: Deutsche Historiker,

Bd. 4, G ö t t i n g e n 1972, S. 7—24.

G u s t a v A d o l f Lehmann, Eduard Meyer, in: M. Erbe (Hrsg.),

Geisteswissenschaftler

. . . (wie A n m . 33), S. 2 6 9 — 2 8 7 . 92

Zu den nachfolgenden Ausführungen vgl. wieder A . Demandts Beitrag in diesem

Band, S. 1 4 9 — 2 0 9 , bes. S. 1 9 2 f.

Berlin als Standort historischer Forschung

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hat es verhindert, ihn nach dem Krieg an die neugegründete Freie Universität berufen zu sehen. An der Humboldt-Universität führte die Alte Geschichte in der D D R - Z e i t nur noch ein Schattendasein. Die Forschung ist weitgehend an die Akademie der Wissenschaften verlagert worden. Im Westteil der Stadt erhielt Franz Altheim ein Ordinariat, ohne allerdings große Resonanz in der Lehre zu finden. Dies blieb seinen Nachfolgern an der F U , T U und P H vorbehalten. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang gab es an der Berliner Universität keine speziellen Mediävisten unter den Historikern. 9 3 Viele der bereits genannten „Althistoriker" haben auch mittelalterliche Geschichte gelehrt, unter anderen Rühs, von Raumer, Ranke und Droysen, und so gehen zum Beispiel auf Ranke auch die für das Fach noch immer unverzichtbaren „Jahrbücher der deutschen Geschichte" zurück. In Rankes Nachfolge hat (der im Antisemitismusstreit auf Treitschkes Seite agierende) Karl Wilhelm Nitzsch 1872 den neugeschaffenen Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte übernommen; ihm zur Seite gestellt wurden im folgenden Jahr Wilhelm Wattenbach sowie 1877Harry Breßlau. Julius Weizsäcker gelang es 1882 endlich, an der Philosophischen Fakultät ein eigenes Historisches Seminar einzurichten. Als 1890 mit Paul Scheffer-Boichorst und 1897 mit Michael Tangl zwei weitere bedeutende Mediävisten an die Friedrich-WilhelmsUniversität verpflichtet werden konnten, hatte das Fach eine Spitzenstellung in Deutschland erreicht, insbesondere hinsichtlich der Urkundenforschung und der Texteditionen. Diese Position war und blieb untrennbar verknüpft mit den von der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde" geförderten Arbeiten an den „Monumenta Germaniae histórica", seit 1875 mit Sitz in Berlin, unter der Leitung von Georg Waitz. 9 4 93 Max Lenz / Michael Tangl, Das historische Seminar, in: M. Lenz, Geschichte ... (wie Anm. 27). 94 Eugen Meyer, Die mittelalterliche Geschichte an der Berliner Universität während der letzten hundert Jahre, in: Hans Leussing / Eduard Neumann / Georg Kotowski (Hrsg.), Studium Berolinensis. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Gedenkschrift der Westdeutschen Rektorenkonferenz und der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr des Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960; Johann Jastrow, Karl Wilhelm Nitzsch und die deutsche Wirtschaftsgeschichte, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 8 (1884), S. 144— 171; Georg von Below/Maria Schulz, Briefe von Karl Wilhelm Nitzsch an Wilhelm Maurenbrecher (1861—1880), in: Archiv für Kulturgeschichte 8 (1910), S. 305—366 und S. 437—468; Friedrich Baethgen, Harry Breßlau 1848—1926, in: Historische Vierteljahr-

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Auch im Bereich der Mediävistik hat das Wilhelminische Deutschland „politische" Professoren an die hauptstädtische Renommieruniversität berufen, allen voran den deutschnationalen Dietrich Schäfer. 95 Nach seiner Emeritierung 1921 gelang es Schäfer, die Berufung Albert Brackmanns auf den freigewordenen Lehrstuhl durchzusetzen. Mit ihm gewann die Friedrich-Wilhelms-Universität zwar einen ausgewiesenen Wissenschaftler und Organisator, doch korrespondierte seine „Ostforschung" eng mit den politischen Vorstellungen des deutschen Faschismus, dem sich Brackmann anschloß. 9 6 1929 hatte er bereits die Generaldirektion der Preußischen Archive übernommen und lehrte nur noch sporadisch an der Universität, die R o b e r t Holtzmann zu seinem Nachfolger berief. 9 7 Neben ihm wirkten Anfang der dreißiger Jahre Erich Caspar und Ernst Pereis, 98 die allerdings nach der „Machtergreifung" das Feld räumen mußten. Erich Caspar wurde in den Freitod getrieben, Ernst Pereis ließ sich vorzeitig emeritieren. Nachdem sein Sohn sich am Widerstand gegen Hitler beteiligt hatte, nahm das Regime den Vater in Sippenhaft. Die Befreiung aus dem K Z 1945 hat Pereis nur wenige Tage überlebt. Die mediävistischen Lehrstühle sind während der N S - Z e i t mit Fritz Rörig, Wilhelm Engel und Friedrich Baethgen besetzt worden, die alle — wenn auch in unterschiedlicher Intensität — dem N S - R e g i m e dienten. 9 9 Ein neu geschaffenes Ordinariat für „Mittelalterliche Geschichte schrift 24 (1929), S. 142—144; Ernst Bernheim, Julius Ludwig Friedrich Weizsäcker, in: Allgemeine Deutsche Biographie, hrsg. durch die Historische Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften, Bd. 35, München 1896, S. 637—645; Ferdinand Güterbock, Aus Scheffer-Boichorsts Leben, in: P[aul] Scheffer-Boichorst, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (= Historische Studien, Bd. 42), Berlin 1903; Ernst Pereis, Michael Tangl, in: Historische Vierteljahrschrift 21 (1924), S. 123—125; Karl Obermann, Die Begründung der Monumenta Germaniae Histórica und ihre Bedeutung, in: Joachim Streisand (Hrsg.), Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, 2. Aufl., Berlin 1969, S. 113—120. 95 Kurt Jagow (Hrsg.), Dietrich Schäfer und sein Werk, Berlin 1925; Dietrich Schäfer, Mein Leben, Berlin-Leipzig 1926.

Hans Boetting, Albert Brackmann, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, Berlin 1955, S. 504 f. 96

97 Heinrich Sproemberg, Robert Holtzmann, S. 449 f.

in: Historische

Zeitschrift

170 (1950),

98 Hans Erich Feine, [Erich Caspar], in: Savigny-Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 24 (1933), S. 435; Fritz Weigle, Ernst Pereis, in: Deutsches Archiv 8 (1951), S. 262f. 99 Ahasver von Brandt, Fritz Rörig. Worte des Gedenkens, in: Hansische Geschichtsblätter 71 (1952), S. 1; Otto Meyer, Wilhelm Engel. Ein Nachruf, in: Mainfränkisches

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mit besonderer Berücksichtigung der brandenburgischen Landesgeschichte" erhielt Willy H o p p e , dem N S - S t a a t und Partei 1937 bis 1942 auch das A m t des R e k t o r s der Friedrich-Wilhelms-Universität übertrugen. 1 0 0 Engel (der zuvor noch nach Würzburg berufen worden war) und Hoppe kehrten wegen zu starker politischer Belastung nach dem Ende der N S - H e r r s c h a f t nicht wieder in ihre akademischen Amter zurück, während Rörig den nahtlosen Ubergang zur kommunistisch gelenkten Linden-Universität fand, 1 0 1 die später auch seinen Schüler Eckhard Müller-Mertens als seinen Nachfolger einsetzte. In WestBerlin hat der aus Göttingen berufene Wilhelm Berges die Mediävistik neu aufgebaut. 1 0 2 Obwohl Leopold [von] Ranke als akademischer Lehrer auch die Antike und das Mittelalter mit berücksichtigte, stand im Mittelpunkt seiner Forschungen das neuzeitliche Alteuropa der romanischen und germanischen Völker, aber auch die deutsche Nationalgeschichte, mit einem Schwerpunkt bei der Preußischen Geschichte. Damit gab er den Themenkanon vor, dem fast alle seine Nachfolger auf dem Lehrstuhl der Friedrich-Wilhelms-Universität verpflichtet bleiben sollten. So bewegte sich Johann Gustav Droysen durchaus in den Bahnen Rankes bei der Beurteilung des Staates als eines historischen Gegenstandes und der Beurteilung Preußens als eines Faktors der deutschen Geschichte, doch wich er dabei erheblich von Rankes Geschichtstheorie ab, indem er nicht im göttlichen Willen, sondern in den „sittlichen M ä c h t e n " , in überindividuellen Gemeinschaften, den Sinn der Geschichte sah. 1 0 3 Auch die Rolle, die Heinrich von Treitschke in der wissenschaftlichen Publizistik spielte, wurde bereits erwähnt. Treitschke huldigte einer borussischen Geschichtsschreibung mit einer subjektiv gefärbten, emotional aufgelade-

Jahrbuch 16 (1964), S. 413—426; Gerd Tellenbach, Das wissenschaftliche Lebenswerk von Friedrich Baethgen, in: Deutsches Archiv 29 (1973), S. 1—17; Friedrich Baethgen, Mediaevalia. Aufsätze, Nachrufe, Besprechungen (= Schriften der Monumenta Germaniae Histórica, Bd. 17/1), Stuttgart 1960, S. V I I — X V I I . 100 Ernst Kaeber, Willy Hoppe als märkischer Historiker, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 5 (1954), S. 7—12; Eberhard Faden, Willy Hoppe (1884—1960), in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 11 (1960), S. 158. 101 Peter Neumeister, Fritz Rörig (1882 bis 1952), in: Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft. Biographien, hrsg. von Heinz Heitzer, Karl-Heinz NoacK und Walter Schmidt, Berlin [Ost] 1989, S. 216—230. 102 Dietrich Kurze, Wilhelm Berges. 8. April 1909 — 25. Dezember 1978, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 28 (1979), S. 530—553. 103

H. J . Gehrke Johann

Gustav Droysen ... (wie Anm. 89), S. 127—142.

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nen Komponente, die den politischen Tagesereignissen verpflichtet war. 104 Eine strikt gegensätzliche Position dazu vertrat Droysens Nachfolger Max Lenz, der erste voll ausgebildete Fachhistoriker auf einem Berliner Lehrstuhl. 105 Er sah in der Geschichtswissenschaft nicht die Dienerin der Politik, sondern wollte (mit Ranke) nur berichten, wie wir zu dem geworden sind, was wir sind. Dagegen trat Hans Delbrück ganz in die Fußstapfen seines Vorgängers Heinrich von Treitschke, wenn er auch nicht dessen politische Auffassungen teilte. Als Herausgeber der „Preußischen Jahrbücher" und als Reichstagsabgeordneter blieb er ein homo politicus, jedoch ohne nationalistische Spitze. Ausgehend von seiner vierbändigen „Geschichte der Kriegskunst" gelangte Delbrück, der zu den wenigen Historikern gehörte, die nach dem Ersten Weltkrieg die Republik anerkannten, noch zu einer „Weltgeschichte". 1 0 6 Politisch ähnliche Ansichten wie Delbrück vertrat Friedrich Meinecke, der den Lehrstuhl von Max Lenz übernahm. Mit Meinecke hielt auch die geistes- und ideengeschichtliche Historiographie erneut Einzug in die Berliner Alma Mater. Er untersuchte die Entwicklung des deutschen Nationalbewußtseins und die Idee der Staatsräson, den Persönlichkeitswert des Menschen und sein Verhältnis zum Staat sowie die Entstehung des Historismus. Als Herausgeber der „Historischen Zeitschrift" hielt Meinecke auch eine Schlüsselposition bei der wissenschaftlichen Meinungsbildung in Händen. Seine zahlreichen Schüler besetzten bis weit in die Nachkriegszeit hinein Lehrstühle im In- und Ausland, und noch im biblischen Alter wirkte er als Gründungsrektor der Freien Universität, dessen Historisches Seminar seinen Namen trägt. Bei einer konservativ bis nationalliberalen Grundhaltung hat Meinecke den deutschen Weg von der Monarchie zur Republik akzeptiert (als „Vernunftrepublikaner") und totalitäre Systeme stets abgelehnt. Anders als viele seiner Kollegen hat er wissenschaftliche Arbeiten auch dann akzeptiert und gefördert, wenn er deren politischen Impetus nicht teilte. So promovierte Meinecke zum Beispiel Paul Fridolin Kehrs Neffen Eckart mit 104 M. Awerbuch, Heinrich von Treitschke, in: M. Erbe (Hrsg.), Geisteswissenschaftler . . . (wie Anm. 33), S. 209—230. 105 Friedrich Graefe, Max Lenz zum Gedächtnis. Verzeichnis seiner Schriften. Mit zwei Erinnerungsblättern von Erich Mareks und Karl Alexander von Müller und einem Vorwort von Arnold Reimann (= Schriften der Historischen Gesellschaft zu Berlin, H. 4), Berlin 1935.

Andreas Hillgruber, Hans Delbrück, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, S. 40—53. 106

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einer Dissertation über den deutschen Schlachtflottenbau summa cum laude, die mit ihrer These vom „Primat der Innenpolitik" Deutschland die Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges anlastete, eine Auffassung, die Meinecke gewiß nicht teilte. 107 Während Friedrich Meinecke die politische Geschichtsschreibung bevorzugte, erweiterte der durchaus auch vom Historismus seiner Zeit geprägte O t t o Hintze die Historiographie um die wirtschaftliche und soziale Komponente, die ihm Gustav Schmoller nahegebracht hatte. Hintze integrierte die auf Bestimmung typischer Abläufe und Strukturen gerichtete Arbeitsweise der Sozialwissenschaften in die individualisierende Geschichtswissenschaft, verband die politische Institutionengeschichte mit der Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse und entwickelte eine historische Typologie. Er blieb [aber] Historiker und im wesentlichen auch Historist. Er übernahm das Neue ohne das Alte aufzugeben, und kam auf diese Weise zu einer Eigenständigkeit in Forschung und Lehre, die alle, die in Berlin bei ihm hörten, als ungewöhnliche geistige Weite empfunden haben. Hintzes Werk dürfte auch wissenschaftlich stärker nachgewirkt haben als die Erträge seiner Zeitgenossen, Meinecke eingeschlossen.108 Weitaus unorthodoxer als Hintze und politisch linksliberal agierend hat ein anderer Schmoller-Schüler, Gustav Mayer, seit 1922 an der Berliner Universität gelehrt. Nach seiner Promotion in Basel (mit einer von Georg Adler angeregten Dissertation über Lassalle als Ökonom) wirkte Mayer zunächst journalistisch bei der „Frankfurter Zeitung", als deren Auslandskorrespondent er um die Jahrhundertwende nach Amsterdam, Den Haag und Brüssel ging. Zwei Habilitationsversuche scheiterten am Widerstand von Dietrich Schäfer und seiner Gesinnungsgenossen — aus politischen Gründen —, obwohl sich auch Hintze und Meinecke nachdrücklich für Mayer eingesetzt haben. Dabei war dieser alles andere als ein Kommunist, was ihm trotz der sonst bekundeten Sympathie noch bis in die jüngste Zeit hinein den Tadel seiner DDR-Biographen eingetragen hat, von Hans Schleier bis Kurt Paetzold. Mayers Forschungen über die Entstehung der deutschen Sozialdemokratie, über Lasalle und Johann Baptist von Schweitzer, vor allem aber seine zweibändige Engels-Biographie, erschienen den einen zu sozialistisch, den anderen zu bürgerlich. Erst der Umbruch von 107

Ursula Baumann, Friedrich Meinecke, in: M. Erbe (Hrsg.), Geisteswissenschaftler . . . (wie Anm. 33), S. 311—326. 108 Brigitte Oestreich, Otto Hintze, in: A. a. O., S. 287—310.

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1918/19bahnte Gustav Mayer den Weg an die Friedrich-Wilhelms-Universität, an der er von 1922 bis 1933 auf einer „außerplanmäßigen" Professur „Geschichte der Demokratie, des Sozialismus und der politischen Parteien" lehrte. Die Hitler-Diktatur überlebte er mehr schlecht als recht im englischen Exil, wo er 1948 starb. Der abschließende Band seiner großen Engels-Biographie war 1924 in den Niederlanden erschienen.109 Anderen „Außenseitern" blieb die akademische Lehre unter den politischen Systemen im 19. und frühen 20. Jahrhundert ganz verwehrt. Dies trifft auf Franz Mehring mit seinen „marxistischen" Schriften zur Arbeiterbewegung und zum Hohenzollernstaat ebenso zu wie für Veit Valentin mit seiner Revolutionsgeschichte und Ludwig Bergsträsser mit seinen Forschungen zur Parteiengeschichte. Valentin und Bergsträsser fanden eine Anstellung lediglich im Reichsarchiv, ersterer nachdem ihn die Freiburger Universität 1917 zum Verzicht auf seine Venia legendi gezwungen hatte, und letzterer, bevor er nach dem Zweiten Weltkrieg endlich an die Technische Universität Darmstadt berufen wurde. 110 Neben Gustav Mayer hatte sich auch Hermann Oncken mit der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung befaßt, vor allem mit Marx, Engels und Lassalle. In einer 1919 veröffentlichten Studie über „Bürgerliche Geschichtsschreibung und Klassenkampf. Vom Nutzen und Nachteil des Antitraditionalismus" warf er seinen Zunftgenossen vor, bürgerlich befangen und obrigkeitsstaatlich orientiert zu sein. Doch Oncken wandte sich in den zwanziger Jahren selbst der „nationalen" Geschichtsschreibung zu und bearbeitete außenpolitische The-

109 Gustav Mayer, Erinnerungen, München 1949; Hans-Ulrich Wehler, Gustav Mayer, in: Deutsche Historiker, Bd. 3, Göttingen 1971, S. 120—132; Hans Schleier, Zu Gustav Mayers Wirken und Geschichtsauffassung: Klassenkampf — Sozialreform — Revolution, in: Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, hrsg. von Horst Bartel u.a., Bd. 1, Berlin [Ost] 1976, S. 301 ff.; Kurt Pätzold, Gustav Mayer (1871 bis 1948), in: Berliner Historiker. Die neuere deutsche Geschichte in Forschung und Lehre an der Berliner Universität (= Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, H. 13), Berlin [Ost] 1985, S. 64—88. 110 Helga Grebing / Monika Kramme, Franz Mehring, in: Deutsche Historiker, Bd. 5, Göttingen 1972, S. 73—94; Elisabeth Fehrenbach, Veit Valentin, in: Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 69—85, sowie dies., Ludwig Bergsträsser, in: Deutsche Historiker, Bd. 7, Göttingen 1980, S. 101—117. Beide übten jedoch eine nebenamtliche Lehrtätigkeit an der Berliner Handelshochschule aus. (Hans Schleier, Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik, Berlin [Ost] 1975, S. 363.)

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men. Mit den Nazis sympathisierte er nicht, erhielt aber trotzdem 1934 die Nachfolge Meineckes als Präsident der „Historischen Reichskommission", wurde aber bald darauf von Walter Frank gestürzt.111 Onckens Nachfolger, Arnold Oskar Meyer und Wilhelm Schüßler — beide Bismarck-Forscher — huldigten offen dem nationalsozialistischen Zeitgeist,112 was von Fritz Härtung, der in der Nachfolge und als Schüler Hintzes Verfassungsgeschichte lehrte, nicht überliefert ist. Nach der Promotion (mit einer Hardenberg-Studie) wandte sich Härtung der frühen Neuzeit zu mit grundlegenden Untersuchungen zur „Geschichte des fränkischen Kreises (1529—1559)" und über „Karl V. und die deutschen Reichsstände (1546—1555)", um dann sofort den Bogen über die gesamte Neuzeit zu spannen mit seiner 1914 erstmals erschienenen „Deutschen Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart", die seither in vielen veränderten Neuauflagen vorliegt, angepaßt an den Stand der Forschung. Der „Absolutismus" und vor allem auch „Preußen" waren weitere Forschungsbereiche Hartungs, der in seine reiche publizistische Tätigkeit die Politik mit einbezog. Auch als Mitherausgeber führender Fachzeitschriften, vor allem aber als Editor bedeutender Quellenwerke hat Härtung maßgeblichen Einfluß auf die historische Forschung ausgeübt und über den politischen Umbruch von 1945 hinaus an der Linden-Universität und an der Akademie der Wissenschaften noch mehrere Jahre gewirkt.113 Doch das kommunistische Regime drängte bald die noch amtierenden „bürgerlichen" Wissenschaftler aus der Universität heraus. Der 1946 zum Professor für „Politische und soziale Probleme der Gegenwart" ernannte Alfred Meusel erhielt 1947 den Lehrstuhl für „Neuere Geschichte". 114 Als Dekan der Philosophischen Fakultät [1946 bis 1950] trug Meusel in diesen Jahren heftigsten Klassenkampfes dazu bei, die

111 Klaus Schwabe, Hermann Oncken, in: Deutsche Historiker, Bd. 2, Göttingen 1971, S. 81—97. 112 Vgl. den Beitrag von Dieter Hertz-Eichenrode im vorliegenden Band, S. 261— 322, bes. S. 299—305. 113 Richard Dietrich, Fritz Härtung zum Gedächtnis, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 16/17 (1968), S. 721—729; Gerhard Oestreich, Fritz Hartungals Verfassungshistoriker (1883—1967), in: Der Staat 7 (1968), S. 447—469; Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit. Versuch über Fritz Härtung (1883—1967), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 219—250. 114 Joachim Streisand, Alfred Meusels Weg vom bürgerlich-demokratischen Soziologen zum marxistisch-leninistischen Historiker, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 23 (1975), S. 1021—1031.

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antiimperialistisch-demokratische und schließlich sozialistische Wissenschaftsstrategie an der Universität durchzusetzen.*15 In diesem Sinne wirkte Meusel bis zu seinem Tode 1960 in vielen weiteren Amtern und Positionen, unter anderem als Direktor des Museums für Deutsche Geschichte, als „Vorsitzender des Autorenkollektivs" für das „Lehrbuch der deutschen Geschichte", als Mitbegründer und -herausgeber der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft". Der wissenschaftliche Einfluß, den Meusel ausübte, korrespondierte aber nicht mit seiner eigenen wissenschaftlichen Leistung als Historiker, die als gering angesehen werden darf und selbst von führenden sozialistischen Fachgenossen heimlich belächelt wurde. 116 In West-Berlin sorgte Hans Herzfeld für den Neuaufbau des Faches „Neuere Geschichte". Auch er mußte einen beträchtlichen Teil seiner Arbeitskraft auf die Wissenschaftsorganisation verwenden, wobei er mit großem Erfolg nicht nur am Historischen Seminar der Freien Universität, sondern auch als Gründer und langjähriger Vorsitzender der Historischen Kommission zu Berlin sowie beim „Deutschen Institut für Urbanistik" wirkte. Auch Herzfeld war in der NS-Zeit (aus „rassischen" Gründen) verfemt und konnte eine wissenschaftliche Karriere erst nach dem Krieg, in bereits vorgerücktem Alter, beginnen. Seine wissenschaftliche Produktion — die Hand- und Lehrbücher einschloß — war beachtlich, und seine Wirksamkeit als Hochschullehrer reichte an die von Friedrich Meinecke heran. Herzfeld-Schüler besetzten und besetzen zahlreiche Lehrstühle und wirken auch heute noch maßgeblich auf die deutsche Wissenschaftspolitik ein.117

Vieles änderte sich auch für die Berliner Geschichtswissenschaft mit der Machtausübung der Nationalsozialisten. Nach 1933 wurde auch der wissenschaftliche Bereich von staatlich verordneter beziehungsweise sanktionierter Willkürherrschaft ergriffen. Die Universitäten und Hochschulen, die sich im Zusammenhang mit der Bücherverbrennung als Wegbereiter der nationalsozialistischen Tyrannei erwiesen 115

Horst Hann, Alfred Meusel. 1896 bis 1960, in: Wegbereiter der DDR-Geschichtswissenschaft... (wie Anm. 101), S. 149—168, bes. S. 155. 116 Vgl. die Besprechung von Meusels „Thomas Müntzer und seine Zeit" durch Max Steinmetz, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1953), S. 968—978. 117 Gerhard A. Ritter, Hans Herzfeld. Persönlichkeit und Werk, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 32 (1983), S. 13—93.

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hatten, gingen nun daran, politisch nicht konforme Professoren und Studenten sowie die jüdischen Mitglieder der Universitäten aus den Hochschulen und Instituten hinauszudrängen. 118 Friedrich Meinecke hatte sich bereits vor 1933 weitgehend aus seinen einflußreichen Amtern zurückgezogen, viele andere folgten ihm zwangsweise nach. Durch Emigration und Vertreibung verlor Berlin einen großen Teil seiner bedeutenden Künstler und Wissenschaftler. 119 Nur in den seltensten Fällen gelang es, durch eine annähernd gleichwertige Besetzung der freiwerdenden Stellen die Lücken zu schließen, die im Bereich von Wissenschaft und Kunst durch die nationalsozialistischen Herrschaftspraktiken entstanden. Die freigewordenen Stellen nahmen Parteigänger des Regimes ein, solche die als Mitläufer gelten können, und andere, die nach dem unrühmlichen Ende des NS-Regimes keine Anstellung mehr an einer deutschen Universität fanden. Das Schicksal einiger jüngerer Berliner Historiker mag das Geschehen verdeutlichen. Von den Althistorikern sind Eugen Täubler, Elias Bickermann, Ernst Stein und vor allem der Marxist und kommunistische Reichstagsabgeordnete Arthur Rosenberg zu nennen, die alle von der Universität entlassen wurden, emigrieren mußten und nicht mehr nach Deutschland zurückkehrten. 1 2 0 Hedwig Hintze, die zum hoffnungsvollsten Nachwuchs am Historischen Seminar der FriedrichWilhelms-Universität gehörte, konnte nur wenige Jahre nach ihrer Habilitation über die Französische Revolution dort lehren. Sie hatte es besonders schwer, sich gegen Mißgunst und gesellschaftliche Vorur118

Vgl. den grundlegenden Aufsatz von Horst Möller, „ Wissenschaft für die Volks-

gemeinschaft."

Bemerkungen

zur nationalsozialistischen

T r e u e / K . Gründer, Wissenschaftspolitik

...

Wissenschaftspolitik,

in: W .

(wie Anm. 13), S. 307—324; dazu eine

Reihe von Beiträgen in der TU-Festschrift Wissenschaft und Gesellschaft. Beitrage zur Geschichte der Technischen

Universität Berlin 1879—1979,

im Auftrag des Präsidenten

der Technischen Universität Berlin, hrsg. von Reinhard Riirup, Bd. 1, Berlin-Heidelberg-New Y o r k 1979, bes. Rudolf Schottlaender, Antisemitische Hochschulpolitik: Lage an der Technischen Hochschule Berlin 1933/34,

Technische Hochschule Berlin und der Nationalsozialismus: und rassistische Säuberungen,

Zur

S. 4 4 5 — 4 5 4 , sowie Hans Ebert, Die Politische

„Gleichschaltung"

S. 4 5 5 — 4 6 8 . Im Beitrag von Kaspar Elm, unten S. 231 ff.,

sind noch weitere betroffene Gelehrte erwähnt. Uber die Entwicklung der Geschichtswissenschaft in Berlin 1 9 2 5 — 1 9 5 5 sind neue Ergebnisse von einem Forschungsvorhaben zu erwarten, das Peter T h . Walter zur Zeit realisiert. 119

Rudolf Schottlaender, Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk

(= Stätten

der Geschichte Berlins, Bd. 23), Berlin 1988. 120

Helmut Schachenmayer, Arthur Rosenberg als Vertreter des Historischen

Materia-

lismus (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München, Bd. 20), Wiesbaden 1964.

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teile durchzusetzen: als Frau in einer sonst reinen Männergesellschaft, als Tochter jüdischer Eltern in antisemitischer Umgebung, als Sozialistin im deutsch-nationalen Universitätsbetrieb und als Revolutionshistorikerin im nationalsozialistischen Staat. Getrennt von ihrem fast erblindeten Ehemann, O t t o Hintze, versuchte sie in Westeuropa ihr Leben zu retten. Ohne Aussicht auf Hilfe — auch nicht von jüdischen Organisationen — nahm sie sich in Holland das Leben.121 Der bedeutendste aus Berlin vertriebene Historiker ist zweifellos Hajo Holborn, ein Meinecke-Schüler, der nach seiner Promotion in Berlin und seiner Habilitation in Heidelberg von 1931 an den „Carnegie-Lehrstuhl für Geschichte und Internationale Beziehungen" an der Berliner „Hochschule für Politik" innehatte und gleichzeitig als Privatdozent an der Universität las. Politisch Sozialdemokrat und mit einer Jüdin verheiratet, emigrierte Holborn über England in die USA, wo er an der YaleUniversity eine Professur erhielt und für die amerikanische Regierung wirkte. Seine wissenschaftlichen Themen reichten von der Antike bis zur Gegenwart. Neben zahlreichen historisch-politischen Essays schrieb er eine umfangreiche „Deutsche Geschichte". Er blieb Deutschland nach dem Krieg verbunden, lehnte aber die Rückkehr an eine deutsche Universität ab.122 Soweit gerade jüdische Historiker nach 1933 eine gewisse Zeit noch in Deutschland lehren konnten, waren sie an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums tätig, die es seit 1872 in Berlin gab, deren Betrieb im Verlauf der dreißiger Jahre allerdings zunehmend behindert wurde und die mit allen zu dieser Zeit sonst noch existierenden jüdischen Institutionen am 19. Juli 1942 geschlossen worden ist. 123 Die Nationalsozialisten haben aber nicht nur bestehende Institutionen mit ihnen ergebenen beziehungsweise genehmen Wissenschaftlern besetzt, sondern auch neue, systemkonforme Forschungseinrichtungen geschaffen. Neben dem 1936 von Walter Frank gegründeten „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands" 124 sind hier vor allem 121 Den besten Beitrag über Hedwig Hintze lieferte Brigitta Oestreich in ihrem Artikel über O t t o Hintze, in: Michael Erbe (Hrsg.), Geisteswissenschaftler ... (wie Anm. 33), S. 287—310. Vgl. außerdem Erika Schwarz, Hedwig Hintze (1884 bis 1943), in: Berliner Historiker. Die neuere deutsche Geschichte in Forschung und Lehre an der Berliner Universität, Berlin 1985, S. 80—88. 122 Bernd Faulenbach, Hajo Holborn, in: Deutsche Historiker, Bd. 8, Göttingen 1982, S. 114—132. 123 Vgl. den Beitrag von Marianne Awerbuch in diesem Band, S. 517—551, bes. S. 549. 124 Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen

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Ämter und Institutionen zu nennen, die den Naziführern Rosenberg und Himmler ihre Existenz verdanken. Sie dienten vorrangig der wissenschaftlichen Untermauerung der NS-Rassenideologie. Hans Reinerth, der die nationalistische Ur- und Frühgeschichtsforschung Kossinnas weiter förderte, avancierte 1934 zum Leiter der Abteilung Vorgeschichte im „Amt Rosenberg", ohne allerdings ein mit fachlicher Weisungsbefugnis ausgestattetes „Reichsinstitut für Vorgeschichte und germanische Frühgeschichte" etablieren zu können; doch gelang ihm die Gleichschaltung des „Reichsbundes für Deutsche Vorgeschichte". 125 Wer dem Sog dieser Bestrebungen entgehen wollte, konnte den Teufel mit Beizebub austreiben und in Himmlers SS-Organisation „Das Ahnenerbe" mitarbeiten, das ebenfalls prähistorische Grabungen durchführte. 126 Auch alte, traditionelle Institutionen wie die „Monumenta Germaniae histórica" sind nach dem Führerprinzip neu geordnet und umbenannt worden, in diesem Fall zum „Reichsinstitut für ältere deutsche Geschichtsforschung". 127 Von dem erzwungenen Exodus des Geistes hat sich die Berliner Wissenschaftslandschaft nicht mehr erholen können. Wenn auch einige Emigranten nach dem Krieg zurückkehrten, so ist doch insgesamt ein Substanzverlust zu verzeichnen, der die Stadt auf Dauer schädigte. Wie sich die Geschichtswissenschaft während der nationalsozialistischen Herrschaft in Berlin entwickelt hat, bleibt noch zu untersuchen.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges und damit des nationalsozialistischen Regimes markiert jedenfalls eine tiefe Zäsur in der Berliner Geschichtswissenschaft. Berlin blieb nicht länger der hervorragendste Standort für die historische Forschung in Deutschland. Die Universität

Deutschlands, Stuttgart 1966; Rudolf Vierhaus, Walter Frank und die Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 207 (1968), S. 617—627. Frank ist aber bereits Ende 1941 entlassen worden. Als sein Nachfolger fungierte Karl Richard Ganzer. 125 Bettina Arnold, The Past as Propaganda: Totalitarian Archaeology in Nazi Germany, in: Antiquity 64 (1990), S. 464—478; Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 221—235. 126 Michael H . Kater, Das Ahnenerbe der SS 1935—1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974. 127 Herbert Grundmann, Monumenta Germaniae Histórica 1819—1969, München 1969.

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existierte zwar fort, und am Historischen Seminar wirkten auch einige der politisch belasteten Professoren weiter; andere Einrichtungen sind aber nach Westdeutschland verlagert oder — soweit sie nationalsozialistischen Charakter trugen — , aufgelöst worden. Die Monumentisten wanderten nach München ab, 1 2 8 die Archivschule nach Marburg, 1 2 9 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Deutsche Geschichte erhielt als MaxPlanck-Institut für Geschichte in Göttingen seinen Sitz, 1 3 0 und das ehemals Preußische Historische Institut in R o m ressortiert heute beim Bonner Innenministerium. Das Reichsinstitut für die Geschichte des neuen Deutschlands ging mit dem Nachfolger Walter Franks, Karl Richard Ganzer, im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs unter. Neues, qualifiziertes Lehrpersonal ließ sich für die Berliner Universität kaum gewinnen. Viele der einst Vertriebenen waren für eine solche Tätigkeit zu alt oder bereits gestorben, die anderen, jüngeren, waren nicht zu bewegen, aus ihrem erzwungenen Exil in die zerstörte deutsche Hauptstadt zurückzukehren, die mitten in der Sowjetisch Besetzten Zone lag, also politisch eine ungewisse Zukunft vor sich hatte. Die alte Friedrich-Wilhelms-Universität, die vom 8. Februar 1949 an den Namen ihres Gründers Wilhelm von H u m b o l d t tragen sollte, geriet sehr bald unter kommunistischen Einfluß. Die sowjetische Besatzungsmacht unterstellte sie ohne Widerspruch der westlichen Alliierten ihrer deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung in der S B Z . Damit hatte sie die Möglichkeit, die Ausrichtung der Universität weitgehend selbst zu bestimmen. Freiheit von Forschung und Lehre gab es nicht, eine Autonomie der Universität schon gar nicht, und die Studentenvertretung wurde reglementiert. W e r sich widersetzte, riskierte Verhaftung und langjährige Freiheitsstrafen. 1 3 1 N u r wenigen Historikern mit einer so-

Theodor Schieffer, Eugen Meyer, in: Deutsches Archiv 29 (1973), S. 666Í. Erst später sind dann an der Humboldt-Universität ein „Institut für Archivwissenschaft" und am (Deutschen) Zentralarchiv in Potsdam eine Ausbildungsstätte für Archivare eingerichtet worden. Vgl. Helmut Lötzke, Bedeutung und Aufgaben der historischen Hilfswissenschaften im Rahmen der marxistischen Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Sonderheft 10 (1962), S. 375—385. 130 Hermann Heimpel, Max-Planck-Institutfür Geschichte in Göttingen, in: Jahrbuch der Max-Planck-Gesellschaft 2 (1961), S. 316—338. 131 Die Vorgänge sind — jeweils dem politischen Standort entsprechend — kontrovers dargestellt worden: Ernst Becker / Percy Stulz, Der Kampf um die antifaschistischdemokratische Umgestaltung und um die Einheit der Berliner Universität 1946 bis 1949, in: Forschen und Wirken 1 (1960), S. 629—646; Siegward Lönnendonker, Freie Universität Berlin. Gründung einer politischen Universität, Berlin 1989, bes. S. 3ff.; James F. 128

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liden Ausbildung gelang die Karriere im entstehenden SED-Staat, so dem Rörig-Schüler Eckhard Müller-Mertens. Nach der Anpassung der ostdeutschen Universitäten an das sowjetische Hochschulsystem 1951 ist an der Humboldt-Universität das Institut für Geschichte des Deutschen Volkes errichtet worden, mit der Aufgabe, marxistisch-leninistisch eingestellten Nachwuchs für Lehre und Forschung auszubilden; auch für die Erarbeitung von entsprechenden Hochschullehrbüchern war nun dieser ideologisch festgelegte Kern des Historischen Seminars zuständig. 132 Nach sowjetischem Vorbild konzipierte „die Partei" dann auch ein „Institut für Geschichte" an der neuformierten „Akademie der Wissenschaften", die nun nicht mehr „preußisch", sondern „deutsch" firmierte, um nach der Aufgabe gesamtdeutscher Ziele unter sozialistischen Vorzeichen als „Akademie der Wissenschaften der D D R " weiterzuwirken. Straff koordiniert und kontrolliert durch einen „Rat für Geschichtswissenschaft", dem neben Wissenschaftlern vor allem Vertreter des Zentralkomitees der S E D und der zuständigen Ministerien angehörten, entwickelte sich die Akademie zu einem personalintensiven Forschungskonglomerat, das bei seiner Evaluierung durch den Wissenschaftsrat nach dem Ende der D D R mit einer ganzen Reihe von historischen Forschungsinstituten bestückt war. 133 Das „Zentralinstitut für Geschichte" umfaßte die Wissenschaftsbereiche „Feudalismus", „1789 bis 1917", „1917 bis 1945", „ D D R Geschichte", „Kulturgeschichte/Volkskunde", „Geschichtswissenschaftliche Information", „Methodologie", „Akademiegeschichte", die „Alexander-von-Humboldt-Forschungsstelle", „Regionalgeschichte", „Kirchengeschichte" sowie die „Geschichte der Widerstandsorganisation Schulze-Boysen/Harnack". Im Sommer 1986 entstand durch die Herauslösung der Wissenschaftsbereiche „Allgemeine Geschichte" und „Entwicklungsländer" aus dem „Zentralinstitut für Geschichte" das „Institut für Allgemeine Geschichte". Diese faktische Institutsteilung Tent, Freie Universität Berlin 1948—1988. Eine deutsche Hochschule im Zeitgeschehen, Berlin 1989. 132 Albrecht Timm, Das Fach Geschichte in Forschung und Lehre in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands seit 1945 (= Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland 25), 4., erg. Aufl., Bonn-Berlin 1966. 133 Rudolf Landrock, Die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1945 bis 1971, ihre Umwandlung zur sozialistischen Forschungsakademie. Eine Studie zur Wissenschaftspolitik der DDR (= Analysen und Berichte aus Gesellschaft und Wissenschaft 13), Erlangen 1977. Die nachfolgende Auflistung verdanke ich Dr. Detlef Kotsch.

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ist wohl nicht als Resultat weitsichtiger Wissenschaftspolitik der Akademieleitung oder anderer Institutionen anzusehen, sondern vor allem das Ergebnis ehrgeiziger Bestrebungen einflußreicher Mitarbeiter, in der Wissenschaftshierarchie aufzusteigen. Daneben gab es das „Institut für Wirtschaftsgeschichte", das unter anderem als Herausgeber des renommierten „Jahrbuches für Wirtschaftsgeschichte" fungierte und das sich in die Wissenschaftsbereiche „Sozialismus", „Imperialismus", „Geschichte der Produktivkräfte" und „Vorkapitalistische Produktionsweise" gliederte. Schließlich unterhielt die Akademie auch noch ein „Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft" , dem eine voluminöse Darstellung der „Wissenschaft in Berlin" zu verdanken ist, die — vom parteilichen Standpunkt aus konzipiert — die Geschichtswissenschaft(en) leider nicht im wünschenswerten Umfang berücksichtigt. 134 Zu den wissenschaftlich bedeutendsten Forschungsabteilungen der Akademie gehörte zweifellos das „Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie", in dem zahlreiche Forschungsprojekte von internationaler Bedeutung angesiedelt waren, von denen mehrere das Ende der DDR-Akademie überdauert haben, und zwar aus den Wissenschaftsbereichen „Alter Orient", „Griechisch-Römische Geschichte", „Griechisch-Römische Kulturgeschichte", sowie „Ur- und Frühgeschichte". Im einzelnen arbeiteten die vier genannten Abteilungen an folgenden Projekten, die teils bereits von der alten Preußischen Akademie begonnen worden waren und von denen einige nun, nach der Evaluierung der DDR-Akademie, unter anderer Trägerschaft fortgeführt werden. 135 Wissenschaftsbereich Alter Orient: — Turfanforschung — Keilschriften / Urkunden in Boghazköi — Indologie — Ausgrabungen in Ägypten — Ägyptologisches Wörterbuch — Archäologische Feldforschung in Syrien — Archäologische Feldforschung im Sudan Wissenschaftsbereich Griechisch-Römische Geschichte: — Ammianus Marcellinus — Griechisches Münzwerk ' 54 Hubert Laitko (Leitung eines Autorenkollektivs), Wissenschaft in Berlin. Von den Anfängen bis zum Neubeginn nach 1945, Berlin [Ost], S. 1987. 135 Auch diese Übersicht hat Dr. Detlef Kotsch beigesteuert.

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Inscriptiones Graecae Corpus Inscriptionum Latinarum Prosopographia Imperii Romani Berliner Byzantinistische Arbeiten Wirtschaftsgeschichte der Antike

Wissenschaftsbereich Griechisch-Römische Kulturgeschichte: — T e x t e und Untersuchungen altchristlicher Literatur — Griechisch-christliche Schriftsteller der ersten Jahrhunderte — Bibliotheca Teubneriana — Corpus Medicorum Graecorum — Corpus Medicorum Latinorum — Mittellateinisches Wörterbuch Wissenschaftsbereich Ur- und Frühgeschichte: — Germanenforschung — Corpus der römischen Funde — Archäologische Feldforschung in der D D R — Ausgrabungen in Karasura (Bulgarien) — Archäozoologie — Dendrochronologie — C-14-Labor Bereits 1946 gab es Bestrebungen, eine von Bevormundung freie Hochschule in den Westsektoren der Stadt zu etablieren. Während des Blockadewinters konnte 1948 die mit amerikanischer Hilfe in Dahlem neu gegründete „Freie Universität" eröffnet werden. 136 Zunächst aber war nach Kriegsende die um ein humanistisches Studium 1 3 7 erweiterte Technische Hochschule in Charlottenburg die einzige intakte Hochschule in den Westsektoren; hier wurde ebenfalls die Fachrichtung „Geschichtswissenschaft" etabliert. 1 3 8 Auch die 1920 gegründete Deut136 S. Lönnendonker, Freie Universität... (wie Anm. 100),S. 9 7 f f . , sowie J. F. Tent, Freie Universität Berlin ... (wie Anm. 100), bes. Kapitel I, S. 1 7 f f . 137 Vgl. Reinhard Rürup, Die Technische Universität Berlin 1879—1979: Grundzüge und Probleme ihrer Geschichte, in: Ders. (Hrsg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Beiträge zur Geschichte der Technischen Universität Berlin 1879—1979, im Auftrage des Präsidenten der T U Berlin herausgegeben (= Festschrift zum hundertjährigen Gründungsjubiläum der T U Berlin), Bd. 1, S. 31—34, sowie die Beiträge von Peter Brandt, Dorothea Fitterling und Hans-Joachim Rieseberg im sechsten Teil des Bandes, S. 495—563. 138 Hans Ebert, Geschichte in praktischer Absicht. Zur Geschichtswissenschaft an Technischen Hochschulen unter besonderer Berücksichtigung der Technischen Universität Berlin, in: Technikgeschichte 47 (1980), S. 133—153.

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sehe Hochschule für Politik gab es wieder. Auf Initiative des Stadtverordnetenvorstehers O t t o Suhr, der auch als erster Direktor der Neugründung fungierte, sollte die Hochschule für Politik wissenschaftlich geschulte Persönlichkeiten auch für die praktische Politik heranbilden. Sie ist später in die Freie Universität Berlin integriert worden und trägt heute als Institut bzw. Fachbereich den Namen ihres Neubegründers. 1 3 9 Bereits vor ihrer Einbindung in die F U gehörte Walter Bußmann zu den D o z e n t e n dieser Hochschule; den Lehrstuhl für die geschichtlichen Grundlagen der Politik übernahm später Georg Kotowski. Wenn man einmal von dem Gründungsrektor, dem bereits emeritierten Friedrich Meinecke absieht, dann hat kein amtierender Historiker der alten Friedrich-Wilhelms-Universität den Weg an die Freie Universität gefunden. Mit dem Staatsarchivrat Johannes Schultze konnte das Historische Seminar der neugegründeten Freien Universität Berlin den einzigen Wissenschaftler der älteren Generation gewinnen, der vor dem Neuanfang von 1945 bereits in Berlin tätig gewesen war. 140 Die Lehrstühle allerdings besetzten frisch Habilitierte aus Westdeutschland — wie Wilhelm Berges (Göttingen) — und aus der Sowjetisch Besetzten Zone vertriebene Historiker, insbesondere aus Leipzig, die zumeist über westdeutsche Universitäten an die West-Berliner Neugründung gelangten. Altere, renommierte Historiker dürften die Universitätsneugründung in Berlin-Dahlem nicht als lebensfähig betrachtet haben. Ihre Zurückhaltung resultierte aber auch aus dem Verlust der Hauptstadtfunktion Berlins und aus den Problemen, die sich aus der sich anbahnenden Teilung Berlins ergaben oder gar aus politischer Belastung in der N S - Z e i t . Die politische Situation des geteilten Berlin im geteilten Deutschland mit den nicht zu beseitigenden Standortnachteilen hatte also entscheidende Veränderungen für die Berliner Geschichtswissenschaft zur Folge. Die Historischen Seminare der WestBerliner Universitäten mußten aus dem „Nichts" heraus aufgebaut werden; das gilt für den Lehrkörper ebenso wie für die Ausstattung mit Lehr- und Forschungsmaterial sowie mit geeigneten Unterkünften. Roswitha Wollkopf, Zur politischen Konzeption und Wirksamkeit der Deutschen Hochschule für Politik 1920—1933, 2 Bde., Phil. Diss., Berlin [Ost] 1983; Bodo Zeuner, Markierungspunkte in der Geschichte des Fachhereichs Politische Wissenschaft der FU, vormals Otto-Suhr-Institut, vormals Deutsche Hochschule für Politik. Vortrag auf der Eröffnungsveranstaltung der Fachbereichstage des FB Politische Wissenschaft der Freien Universität am 31. Mai 1983, in: Mitteilungen aus dem Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin 2 (1984), S. 9—39. 140 Vgl. dazu auch die memorialen Aufzeichnungen von Johannes Schultze, Meine Erinnerungen, im Auftrag des Autors hrsg. von Gerhard Knoll, Berlin 1976. 139

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Anders in Ost-Berlin, das de facto seine Hauptstadt-Funktion behielt. Hier konnte man nicht nur teilweise auf die personelle und materielle Ausstattung der Universität zurückgreifen, sondern hat auch an der wiederbegründeten Akademie der Wissenschaften den historischen Disziplinen einen besonderen Platz eingeräumt,141 ganz im Gegensatz zu der viel später entstandenen, kurzlebigen West-Berliner Akademie, die — eher an die Vorstellungen des 17. und 18. Jahrhunderts in Berlin anknüpfend — den Naturwissenschaften den Vorzug gab.142 Während in Ost-Berlin die Ansiedlung zentraler Behörden und Institutionen ganz natürlich zur Etablierung immer weiterer historischer Lehr- und Forschungseinrichtungen führte (man denke hier unter anderem an das Deutsche Institut für Zeitgeschichte, das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED und an die Fachhochschule für Wirtschaft in Karlshorst),143 konnte man in West-Berlin in einigen Bereichen der Geschichtswissenschaft durch den Ausbau traditioneller Sammlungen und Institutionen (zum Beispiel Geschichte Lateinamerikas,144 Kirchliche Hochschule),145 aber auch durch Neugründungen (Pädagogische Hochschule,146 Kennedy-Institut147 und Historische Kommission)148 neue Schwerpunkte bilden. Soweit diese Institutionen in den Beiträgen zur Ringvorlesung eingehender behandelt worden sind, kann an dieser Stelle auf weitere Erläuterungen verzichtet werden. Dies gilt insbesondere für das Ibero-Amerikanische Institut und für das John-F.-Kennedy-Institut. Die anderen Einrichtungen (Kirchliche

R. Landrock, Die Deutsche Akademie... (wie Anm. 133), passim. Aufgabenstellung und erste Arbeitsberichte dieser Institution in: Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Jahresüberblick 1988, Berlin 1989. 143 Stefan Doernberg, Fünfundzwanzig Jahre Deutsches Institut für Zeitgeschichte 1946—1971, in: Dokumentation der Zeit 23 (1971), H. 8, S. 4—13. 141

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Vgl. den Beitrag von Reinhard Liehr in diesem Band, S. 654 f. Heinrich Vogel / Günther Harder, Aufgaben und Weg der Kirchlichen Hochschule Berlin 1935—1955, Berlin 1956; Christof Gestrich, Gedanken zum Weg der Kirchlichen Hochschule, in: Berliner theologische Zeitschrift 2 (1985), S. 211—219 [dort weitere Beiträge]. 146 Gerd Heinrich (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte der Pädagogischen Hochschule Berlin (= Abhandlungen aus der Pädagogischen Hochschule Berlin, Bd. 6), Berlin 1980. 147 Vgl. den Beitrag von Willi Paul Adams in diesem Band, S. 597—601. 148 Otto Büsch, Historikervereinigung und Forschungsinstitution. 25 Jahre Historische Kommission zu Berlin. Zur Geschichte eines Hauptstadt und Weltstadt orientierten Zentrums historischer Forschung in Deutschland, in: Beiträge zur Organisation der historischen Forschung in Deutschland. Aus A nlaß des 25jährigen Bestehens der Historischen Kommission am 3. 2.1984, Berlin-New York 1984, S. 1—45. 144

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Hochschule, Pädagogische Hochschule und Historische Kommission) seien hier kurz vorgestellt. Um von nationalsozialistischen Einflüssen frei zu sein, hatte die Bekennende Kirche 1935 eine von der Universität unabhängige Theologenausbildung ermöglicht. 149 Den reformierten Zweig der Hochschule siedelte der Bruderrat der altpreußischen Kirche in Elberfeld an, den lutherischen Zweig in Berlin-Dahlem. Zu den Gründungsdozenten gehörte auch der Kirchenhistoriker Johannes Wolff (1884—1977). Sofort mit nationalsozialistischem Verbot belegt, mußte die Hochschule in der Illegalität wirken, bis die Gestapo dem Lehr- und Forschungsbetrieb im Mai 1941 ein gewaltsames Ende bereitete und die Dozentenschaft verhaftete, um ihr den Prozeß zu machen, allen voran dem Spandauer Superintendenten Martin Albertz, neben Hans Asmussen der führende Kopf der „ K I H O " . 1 5 0 Albertz sorgte auch im Sommer 1945 für die Weiterführung der in den Kampfjahren 1936 bis 1941 errichteten Kirchlichen Hochschule,151 die in Räumen der Zehlendorfer Gemeinde ihre Lehrtätigkeit wieder aufnahm. Seither führt sie eine niemals ungefährdete Existenz, beruhend auf innerkirchlichen Konflikten, politischen Querelen und Auseinandersetzungen mit den Universitäten in Ost- und West-Berlin, wobei das Fach Kirchengeschichte aber immer voll vertreten wurde und wird, zur Zeit von Kurt-Victor Selge und Gerhard Besier. 152 Das Studium der Geschichte an der 1946 unter der Leitung des Berliner Reformpädagogen Wilhelm Blume (1884—1970) gegründeten „Pädagogischen Hochschule von Groß-Berlin" stand naturgemäß ganz im Zeichen der Lehrerausbildung. Nach Blumes demonstrativem Rücktritt im Zusammenhang der Spaltung Berlins (Anfang Dezember 1948) und der Ubersiedlung der Hochschule aus Berlin-Mitte (sowjetischer Sektor) nach Berlin-Lankwitz (amerikanischer Sektor) erfolgten unter der Leitung des Pädagogen und Historikers Wilhelm Richter (1901 — 1978), der von 1949 bis 1959 das Amt des Direktors der „Pädagogischen Hochschule Berlin" ausübte, Ausbau und Konsolidierung einer wissen-

H. Vogel IG. Harder, Aufgaben und Weg... (wie Anm. 145). Gerhard Besier, Die Gründung der Kirchlichen Hochschule Berlin 1935/1945 und ihre,, Väter", in: W. Treue / K. Gründer, Wissenschaftspolitik... (wie Anm. 13), S. 325— 336. 151 Vgl. ο. V., Grundlage und Aufgabe der Kirchlichen Hochschule, Berlin o. J . [1948], S. 9. 152 G. Besier, Die Gründung der Kirchlichen Hochschule... (wie Anm. 150). 149

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schaftlichen Lehrerausbildung. Mit dem „Gesetz über die Pädagogische Hochschule Berlin" vom 13. November 1958 kam diese Entwicklung zum Abschluß. Die P H wurde als wissenschaftliche Hochschule... anerkannt und erhielt das Recht der Akademischen Selbstverwaltung (§ 2) im Rahmen einer Rektoratsverfassung. Im Fach Geschichte wurde diese Entwicklung maßgeblich durch Christian Friese (1902—1973) geprägt. Friese war — wie Richter — ein Schüler Friedrich Meineckes und durch seine Forschungs- und Editionsarbeit in der „Historischen Reichskommission" wie durch seine Tätigkeit als Studienrat im Berliner Schuldienst besonders für die Aufgabe der wissenschaftlichen Lehrerausbildung im Fach Geschichte ausgewiesen. Er hat von 1953 bis zu seiner Emeritierung 1970 als Dozent und Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der P H und daneben als Honorarprofessor an der FU Berlin gewirkt. Mit dem starken Anstieg der Studentenzahlen und der korrespondierenden Vergrößerung des Lehrkörpers, der fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Lehrerausbildung und der zunehmenden Spezialisierung der Fach- wie der Unterrichtswissenschaften trat seit 1970 auch am Historischen Seminar der P H Berlin eine wachsende Differenzierung ein. Die Fachdidaktik erhielt im Zuge ihrer Verselbständigung als Unterrichtswissenschaft eigene, von der Fachwissenschaft getrennte Professuren, die geschichtswissenschaftlichen Professuren wurden sukzessive spezialisiert. Mit der Auflösung der P H und ihrer Integration in die Berliner Universitäten und die Hochschule der Künste im Jahre 1980 wurde der Lehrkörper des Historischen Seminars der P H je nach Option in die entsprechenden geschichts- und unterrichtswissenschaftlichen Institutionen der Freien Universität und der Technischen Universität aufgenommen. 153 Als außeruniversitäres Forschungsinstitut ist 1959 die „Historische Kommission beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin" mit Hans Herzfeld als Vorsitzendem begründet worden. Sie knüpfte mit ihrem Arbeitsprogramm an die 1925 mit finanzieller Unterstützung der Brandenburgischen Provinzialverwaltung und der Stadt Berlin entstandene „Historische Kommission für die Provinz

153 Die Ausführungen über die Pädagogische Hochschule sind Reimer Hansen zu verdanken. Vgl. außerdem Michael Sören Schuppah, Berliner Lehrerbildung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Pädagogische Hochschule im bildungspolitischen Kräftespiel unter den Bedingungen der Vier-Mächte-Stadt (1945—1958) (= Europäische Hochschulschriften, Reihe XI, Bd. 403), Frankfurt a. Main-Bern-New York-Paris 1990. G. Heinrich, Beiträge zur Geschichte ... (wie Anm. 146).

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Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin" an, die rein landesgeschichtliche Ziele hatte und vor allem Quellen und Forschungsergebnisse zur Geschichte Berlins und Brandenburgs publizierte sowie einen Historischen Atlas der Region herausgab. Nach Auflösung der Kommission 1939 und den mehr oder weniger erfolglosen Neugründungen von 1943 erwuchs dann aus der Keimzelle des seit 1952 erscheinenden „Jahrbuchs für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands" die heutige „Historische Kommission zu Berlin. Forschungszentrum für Geschichte", mit einem ständig erweiterten Aufgabenbereich, der unter Einschluß der Landesgeschichte nun auch die Bereiche der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Kulturgeschichte sowie der Deutsch-jüdischen Geschichte umfaßte und endlich auch weitere regional- beziehungsweise beziehungsgeschichtliche Spezifika einschloß, wie die Preußische Geschichte, die Deutsch-Polnischen und neuerdings die Deutsch-Französischen Beziehungen. So ist ein Forschungsprogramm entstanden, das, ausgehend von der Region Berlin-Brandenburg-Preußen, dem Verhältnis Preußens zu seinen Nachbarn und schließlich gesamteuropäischen Phänomenen gewidmet ist.154 Insgesamt gesehen befand sich aber die West-Berliner Geschichtswissenschaft nach 1945 in einer Randlage. 155 Solange sich die politischen Verhältnisse in Deutschland nicht änderten, blieb es bei dieser Randlage, denn „künstlich" nach Berlin verpflanzte Institutionen entwickelten nicht dieselbe Wirksamkeit wie historisch gewachsene. Die Rückführung des ausgelagerten „Preußischen Kulturgutes" nach Berlin erstreckte sich über einen längeren Zeitraum, da die notwendigen Unterbringungsmöglichkeiten fehlten und erst wieder neu zu schaffen waren. Soweit Sammlungen und Institutionen in Ost-Berlin weiterexistierten, blieben sie — aus politischen Gründen — der West-Berliner Forschung nur eingeschränkt oder gar nicht zugänglich. Nach der Wiedervereinigung gilt es nun, das Getrennte wieder zusammenzuführen und die Berliner Wissenschaftslandschaft neu zu strukturieren. Die Geschichtswissenschaft ist davon in besonderer Weise betroffen. Das Ergebnis der Bemühungen um einen Neuanfang, der ja die hier nachgezeichnete historische Entwicklung nicht negieren kann, bleibt abzuwarten. 154

O. Büsch, Historikervereinigung... (wie Anm. 148), S. 1—45. Vgl. dazu künftig die Beiträge von Michael Hubensdorf, Winfried Schulze, Peter Th. Walter u. a. in dem Sammelband Exodus der Wissenschaften aus Berlin, hrsg. von Klaus Hierholzer, Berlin-New York 1993. 155

Beiträge

Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin HEINZ GRÜNERT

Im Boden überlieferte materielle Hinterlassenschaften und andere Lebensäußerungen von Menschen sowie deren körperliche Uberreste bilden als sogenannte Bodenaltertümer die Quellen der Archäologie. Durch Ausgrabung, Zusammenstellung, Aufbereitung und quellenkritische Analyse dieser Zeugnisse wird die Urgeschichte 1 erforscht, die älteste und längste Periode der Menschheitsgeschichte, die vom Beginn der Besiedlung in den einzelnen Regionen — im Berliner Raum seit der vor etwa 10 000 Jahren einsetzenden Nacheiszeit — bis zum Aufkommen historischer Schriftquellen reicht. Aber auch für den darauffolgenden frühgeschichtlichen Forschungsbereich, der in Mitteleuropa bis in das hohe Mittelalter andauert und vereinzelt bis zur Neuzeit, sind Bodenfunde unabdingbare Ergänzungen der schriftlichen Uberlieferungen. Die Geschichte der Ur- und Frühgeschichtsforschung begann damit, daß Bodenaltertümer zur Kenntnis genommen, als Menschenwerk erkannt, schließlich in ihrem Quellenwert für die Geschichtsforschung anerkannt, gesammelt, gepflegt und wissenschaftlicher Betrachtung unterzogen wurden. I Ein Uberblick über die Entwicklung der Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin kann von dem aus Basel stammenden Naturforscher und Alchimisten Leonhard Thurneysser (Leonhart Thurneisser) zum 1 Der Verfasser bevorzugt den in den Dienstbezeichnungen der heutigen Berliner Universitätseinrichtungen geführten Begriff „Urgeschichte". Der synonym verwendete Terminus „Vorgeschichte" wird im folgenden Text dort gebraucht, wo es sich um offizielle Bezeichnungen von Museen oder anderen Einrichtungen bzw. um Zitate handelt.

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T h u m (1530—1596) ausgehen, der von 1571 an Leibmedicus des Kurfürsten Johann Georg war und eine einflußreiche Stellung am Hofe und in der Berliner Gesellschaft bekleidete. 2 In seinem Buche „Pison", 3 das die Gewässer, Bodenschätze, Pflanzen und Erdgewächse behandelt und auf ihren Nutzen eingeht, erwähnt er im Boden gefundene Gefäße, vor allem aus der Gegend von Liibben in der Niederlausitz, und stellt die wichtigsten der zu ihrer Erklärung umlaufenden Auffassungen zusammen, die gewissermaßen ein Spektrum des allgemeinen Meinungsstandes zu dieser Frage bilden. Er selbst bezieht keine Position, hält die Gefäße aber in pulverisiertem Zustand als Medizin für nützlich. 4 Damit blieb er weit hinter dem sächsischen Naturforscher und Montanpraktiker Georgius Agricola (1494—1555) zurück, der schon 1546 in seinem Werk „De natura fossilium" Gefäßfunde von Lübben erwähnt und sie richtig als Leichenbrandbehälter vorchristlicher Bevölkerungen angesprochen hatte. 5 Einen Schritt vorangekommen war ein Vierteljahrhundert später Andreas Angelus (1561—1598), der sich nach Strausberg, seinem 2 Zu Thurneysser zuletzt: Dieter Engelmann, Zum Leben und Werk von Leonhard Thurneysser, in: Jahrbuch des Märkischen Museums 8 (1982), S. 83—94; zu Thurneysser unter archäologischem Aspekt u. a. Lothar Schott, Kurzer Abriß der Entwicklung der Urgeschichtsforschung im Lande Brandenburg von den ersten Anfängen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Pädagogischen Hochschule Potsdam. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 2 (1955), H. 1, S. 87f.; ders., Berliner Urgeschichtsforschung vergangener Jahrhunderte, in: Berliner Heimat 1 (1957), S. 8; Rainer Schulz, Die Universität Frankfurt (Oder) (1506—1811) und die Anfänge der archäologischen Ur- und Frühgeschichtsforschung in der Mark Brandenburg, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 24 (1983), S. 608 und 637, Anm. 4; ders., Bemerkungen zu den Anfängen der archäologischen Urgeschichtsforschung in der Mark Brandenburg im Zusammenhang mit der Universität Frankfurt (Oder), in: Die OderUniversität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, Weimar 1983, S. 203 ff. 3 Leonhart Thurneisser zum Thum, Pison. Das erst Theil. Von Kalten, Warmen, Minerischen und Metallischen Wassern, sampt der vergleichunge der Plantarum und Erdgewechsen, 10 Bücher, Franckfurt an der Oder 1572. [Unter der Namensschreibung Leonhard Thurneysser zum T h u m a uff s neu durchgesehen, corrigirt und verbessert... von Johann Rudolf Saltzmann, Straßburg 1612.] * A.a.O., 7. Buch, 84. Kapitel; vgl. dazu Hans Prescher, „Bergmännlein" — Zwergentöpfe. Ein Beitrag zum Beginn der Vorgeschichtsforschung zur Agricola-Zeit, in: Beiträge zur Ur- und Frühgeschichte, Bd. 2 (= Arbeits- und Forschungsberichte zur sächsischen Bodendenkmalpflege, Beih. 17), Berlin [Ost] 1982, S. 388 f. 5 Georgius Agricola, De natura fossilium, 1546, zit. n. Hans Heß von Wichdorff, Uber die ersten Anfänge vorgeschichtlicher Erkenntnis im Ausgange des Mittelalters, in: Mannus 1 (1909), S. 124—126; vgl. auch H. Prescher,„Bergmännlein"... (wie Anm. 4), S. 386 f.

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Geburts- und Wirkungsort als Propst, auch Strutiomontanus nannte. In seinen 1598 erschienenen „Annales Marchiae Brandenburgicae" deutete er Bodenfunde als Hinterlassenschaften früherer Kriege.6 Das 17. Jahrhundert brachte in der Anerkennung der Bodenaltertümer als Zeugnisse menschlichen Wirkens in vergangenen Jahrhunderten den Durchbruch. Fürstlichkeiten und gebildete Einzelpersonen anderer Stände begehrten Altertümer für ihre Raritäten- und Kunstkabinette, den Vorläufern unserer Museen. Die in ihnen verwahrten Gegenstände regten zu Vergleichen und Erörterungen über ihr Alter, ihre Herkunft, ihren Gebrauch und andere Fragen an, und die an solchen Problemen sowie am Erwerb weiterer Altertümer interessierten Personen traten miteinander in Beziehung und verbreiteten ihren Wissensstand in gedruckter Form. Auch in Berlin tätige beziehungsweise mit der Residenzstadt in Verbindung stehende Gelehrte hatten Anteil an der Erarbeitung und Erweiterung dieser Kenntnisse. 1642 gelangte die Sammlung des Berliner Kammergerichtsrates Erasmus Seidel (1594—1655), die er in seiner Beamtentätigkeit in dem seit 1609 de facto kurbrandenburgischen Herzogtum Cleve zusammengetragen hatte, mit vor allem römischen Altertümern in das kurfürstliche Antikenkabinett.7 Sein Sohn, Martin Friedrich Seidel (1621— 1693),8 von 1648 an ebenfalls kurfürstlicher Kammergerichtsrat und 1671—1679 in Wolgast im Dienste der die Altertumsforschung bereits staatlich fördernden schwedischen Regierung, war ein bedeutender Historiker und Sammler von Archivalien, Büchern und Antiquitäten. Er führte ergebnisreiche Ausgrabungen auf jungbronzezeitlichen Urnengräberfeldern durch, so 1666 in der Gemarkung Lichtenberg bei Frankfurt an der Oder und 1685 bei Müllrose. Das Protokoll seiner 6 Andreas Angelus, Annales Marchiae Brandenburgicae, das ist Ordentliche Verzeichniß vnd beschreibvng der fürnemsten vnd gedenkwürdigsten Märck'tschen Jahrgeschichten vnd Historien..., Frankfurt an der Oder 1598; vgl. dazu R . Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2), S. 608. 7 Hans Gummel, Forschungsgeschichte in Deutschland, Berlin 1938, S. 29; R . Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2), S. 615.

' Zu M. F. Seidel: Johannes Bolte, Martin Friedrich Seidel, ein brandenburgischer Geschichtsforscher des 17. Jahrhunderts (Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht des Königlichen Gymnasiums zu Berlin, Ostem 1896), Berlin 1896; Horst Kirchner, Des churbrandenburgischen Hof- und Kammergerichtsraths Martin Friedrich Seidel (1621— 1693) Thesaurus Orcivus Marchicus. Aus den Anfängen der Vorgeschichtsforschung in der Mark Brandenburg ( = Berliner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte 14), Berlin 1972; R . Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2),S. 615 ff.; ders., Bemerkungen zu den Anfängen... (wie Anm. 2), S. 207.

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Ausgrabungen bei Lichtenberg ist der älteste bekannte Grabungsbericht aus der Mark Brandenburg. Besonderen Wert für die Forschung besitzt der subtil beschriebene und exakt bebilderte Katalog seiner Sammlung vor allem brandenburgischer Bodenfunde unter dem Titel „Thesaurus orcivus Marchicus". Darin vermittelte er auch seine Erfahrungen in der Grabungstechnik. Obwohl dieses Werk damals unveröffentlicht blieb,9 war es, wie auch andere seiner Manuskripte und Kenntnisse, den interessierten Zeitgenossen bekannt und verstärkte seinen Ruf als einer Autorität auf dem Gebiet der Altertumskunde. Nicht minder bedeutend für die Begründung der Ur- und Frühgeschichtsforschung in der Mark ist der zwei Jahrzehnte jüngere Johann Christoph Beckmann (Bekmann) (1641—1717), ein vielseitiger Gelehrter an der aima mater Viadrina zu Frankfurt, deren Rektorat er achtmal bekleidete und deren mit Sammlungen verbundene Bibliothek er auf eine beachtliche Höhe hob. 10 Bereits 1676 zog er bei der Bearbeitung und Neuherausgabe der über hundert Jahre alten Beschreibung der Stadt Frankfurt von Wolfgang Jobst 11 bewußt archäologische Funde heran, um Licht in die Perioden schriftloser Geschichte, die tempora obscura, wie er sie 1710 nannte, zu bringen. In der Folgezeit vertiefte er die Beschäftigung mit den Bodenaltertümern. Er betrieb Forschungen im Gelände, verschaffte sich durch Anfragen bei gebildeten Zeitgenossen weitere Informationen und bemühte sich mit aufklärerischer Zielsetzung um die Wesensbestimmung der Funde und ihre ethnische Zuordnung. König Friedrich I., dem Beckmann wiederholt regionalgeschichtliche Abhandlungen vorgelegt hatte, beauftragte ihn schließlich, eine „Historische Beschreibung der Chur- und Mark Brandenburg" zu verfassen, und wies 1712 zur Unterstützung dieses Projekts Geistliche und andere Gebildete an, Informationen über Geschichte und Altertümer 9 Faksimilierte und kommentierte Erstveröffentlichung durch H. Kirchner, Des churbrandenburgiscben... (wie Anm. 8). 10 Zu Beckmann: Hannelore Scheidtner, Die frühgeschichtliche Zeit im Geschichtsbild des Landeshistorikers Johann Christoph Beckmann (1641—1717), unveröff. Phil. Diss., Heidelberg 1944 (mit sehr eingeengter Quellenbasis); L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 91 f.; R. Schulz, Die Universität Frankfurt ... (wie Anm. 2), S. 619ff.; ders., Bemerkungen zu den Anfängen... (wie Anm. 2), S. 209—213. 11 Johann Christoph Beckmann, Kurtze Beschreibung der Alten und löblichen S tat Franckfurt an der Oder ... durch Wolffgangum Jobsten, 2. ed. hervorgegeben und mit etlichen Anmerkungen versehen durch Johann Christoph Beckmann . . . , in: J. C. Becmanus, Memoranda Francofurtana. Notitia Universitatis..., Frankfurt an der Oder 1676.

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ihrer Gemeinden an Beckmann zu senden. In diesem Werk, das erst 34 Jahre nach dem Tode seines Verfassers durch dessen Großneffen im Auftrage König Friedrichs II. — noch immer nicht ganz vollendet — veröffentlicht wurde, 12 sind Bodenaltertümer wiederum als unverwerfliche Zeugnisse der alten Einwohner einbezogen und ausgewertet worden. Sie sind im zweiten Teil des Werkes, das „Von den Alterthümern der Mark" handelt, so solide dokumentiert, daß noch heute mit ihnen gearbeitet werden kann, obwohl viele Originale längst verlorengegangen sind. Die Beschreibung der Urnenfunde von Lichtenberg, die Ausführungen über das methodische Vorgehen bei Ausgrabungen und die für einzelne Fundkategorien gebrauchten Bezeichnungen gehen vermutlich auf Manuskripte M. F. Seidels zurück. Insgesamt aber hat Beckmann die archäologische Urgeschichtsforschung eigenständig vorangebracht. Mit Berlin unmittelbar verbunden wurde er durch Leibniz, der ihn 1701 als auswärtiges Mitglied an die von ihm begründete Akademie berief. 13 Altersmäßig zwischen Seidel und Beckmann steht der dritte frühe märkische Urgeschichtsforscher, Magister Gotthilff Treuer (1632— 1711).14 Von 1652—1672 war er Subrektor an Berlins Gymnasium zum Grauen Kloster, doch die Hauptzeit seines Wirkens durchlief er danach als Geistlicher in der Universitätsstadt Frankfurt. 1688 erschien zu Nürnberg seine „Kurtze Beschreibung der Heidnischen Todten-Töpffe". 15 Darin erweist Treuer sich als archäologischer Urgeschichtsforscher auf der Höhe seiner Zeit. Er bemüht sich um die wissenschaftliche Erklärung der Urnen und anderer Funde, ihre Datierung und 12

Johann Christoph Bekmann/Bernhard Ludwig Bekmann, Historische Beschreibung der Chur- und Mark Brandenburg nach ihrem Ursprung, Einwohnern, Natürlichen Beschaffenheit..., zusammengetragen und verfasset von Johann Christoph Bekmann . . e r g ä n z e t , f o r t g e s e t z t und herausgegeben von Bernhard Ludwig Bekmann, Teil 1 und 2, Berlin 1751 und 1754. " Conrad Grau, Die Alma mater Viadrina und die Academia Scientiarum Berolinensis, in: Die Oder-Universität Frankfurt. Beiträge zu ihrer Geschichte, Weimar 1983, S. 189. 14 Hans Gummel, Magister Gotthilf Treuer, der älteste Brandenburgische Vorgeschichtsforscher, und seine „Todten-Toepffe", in: Brandenburgisches Jahrbuch (1938), H . 12; L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 89f.; ders., Berliner Urgeschichtsforschung. .. (wie Anm. 2), S. 9f.; R. Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2), S. 606 ff. 15 Gotthilff Treuer, Kurtze Beschreibung der Heidnischen Todten-Toepffe In welchen die Heiden ihrer verbrannten Todten überbliebene Gebein und Aschen aufgehoben, unter der Erden beygesetzet Und bey den jetzigen Zeiten in der Chur- und Marek Brandenburg Hauffen-weise ausgegraben werden, Nürnberg 1688.

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soziale Zuordnung, er vermittelt Erfahrungen über Ausgrabungen in Form von Instruktionen und verwendet für Gefäße und Beigaben Bezeichnungen, die teilweise bis heute gelten. Da seine Darlegungen zuerst zusammenfassend und ausführlich begründet publiziert wurden, schien ihm das Primat zu gebühren, und er wurde zum ältesten brandenburgischen Vorgeschichtsforscher^6 erklärt; zu Unrecht, wie wir heute wissen, da er ohne Namensnennung die Manuskripte Seidels großzügig heranzog und auch Erkenntnisse Beckmanns verwertete, 17 seine Zeitgenossen also plagiierte. Nichtsdestoweniger erlangte seine Publikation für den Aufschwung individueller Sammeltätigkeit und öffentlichen Interesses an heimischen Bodenaltertümern große Bedeutung. Der Wissensstand an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert konzentriert sich für viele Disziplinen in der Persönlichkeit von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646—1716). Auch die Bedeutung der Bodenfunde hatte er erkannt, wie seine in den neunziger Jahren fragebogenartig von Pastoren erbetenen Auskünfte über Urnen- und andere Bodenfunde, deren Fundumstände und Beschaffenheit sowie seine aus dem Nachlaß zusammengestellten „Leibnitiana de urnis et tumulis veterum Germanorum" bezeugen. 18 Schon im Jahr nach der Gründung der „Kurfürstlich Brandenburgischen Societaet der Wissenschaften" am 11. Juli 1700 hatte er in die nun Königlich Preußische GelehrtenAkademie — wie bereits erwähnt — den Regionalhistoriker und Urgeschichtsforscher J. C. Beckmann als auswärtiges Mitglied berufen. 19 Nach dessen Tod blieb die „Fachvertretung" acht Jahre vakant, bis

16 H. Gummel, Magister Gotthilf Treuer... (wie Anm. 14); ähnlich auch L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 89 f.; ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 9 f. 17 Paul Hans Stemmermann, Die Anfänge der deutschen Vorgeschichtsforschung. Deutschlands Bodenaltertümer in der Anschauungdes 16. u. 17. Jahrhunderts, Phil.Diss., Heidelberg 1934, zugleich Leipzig 1934, S. 101; H. Kirchner, Des churbrandenburgischen... (wie Anm. 8), S. 16; R. Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2), S. 606 und 629 f. 18 H. Gummel, Forschungsgeschichte... (wie Anm. 7), S. 101 f.; Wilhelm Unverzagt, Wege und Ziele der Vorgeschichtsforschung, in: Wissenschaftliche Annalen 1 (1952), S. 477 f.; Gedanken und Erkenntnisse von Leibniz zur Ur- und Frühgeschichte wurden in das Werk von Johann Georg Eccard, De origine Germanorum, einbezogen, das — von Christian Ludwig Scheidius bearbeitet — 1750 in Göttingen erschien; vgl. dazu P. H. Stemmermann, Die Anfänge... (wie Anm. 17), S. 119f. und H. Gummel, Forschungsgeschichte. .. (wie Anm. 7), S. 95 f., Anm. 4.

" Vgl. Anm. 13.

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1725 mit Pastor Leonhard David Hermann (1670—1736) 20 erneut ein Urgeschichtsforscher zum auswärtigen Mitglied der Akademie berufen wurde. Er hatte durch die Ausgrabung und Publikation des ausgedehnten jungbronzezeitlichen Urnengräberfeldes auf dem „Töppelberge" von Massel (nördlich Breslau) auf sich aufmerksam gemacht. Obwohl seit der Regierungszeit König Friedrich Wilhelms I. dem Generaldirektorium der Kunstkammer übersandte Berichte über Bodenfunde der Akademie zugeleitet wurden, 21 betrieb diese keine archäologischen Forschungen. Mehrere preisgekrönte Arbeiten aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die urgeschichtliche Themen berühren, 2 2 wurden nicht mit archäologischen Quellen bearbeitet. Diese fanden in der Akademie erstmals am 30. August 1798 Beachtung, als Aloys H i r t (1759—1839) die Funde urgeschichtlicher Friedhöfe Norddeutschlands als „Denkmäler der nordischen Völker" behandelte. 23 Parallel zur Entwicklung des Interesses an Bodenfunden erfolgten staatliche Maßnahmen, vor allem mit dem Ziel, die Bestände der Kunstkammer des Schlosses zu mehren. Nach dem Ankauf der Sammlung Erasmus Seidels 1642 veranlaßte der Große Kurfürst, Friedrich Wilhelm, Ausgrabungen in einem Großsteingrab in Holstein, die aber nicht den erwarteten Erfolg brachten. 2 4 Auch M. F. Seidels Ausgrabungen in Lichtenberg bei Frankfurt waren 1666 durch den kurfürstlichen Minister Freiherrn von Schwerin angeregt worden. 25 1707 wurde 20 Hans Seger, Ζ um 200. Todestage Leonhard David Hermanns (1. Mai 1736), in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 12 (1936), S. 49f.; H . Gummel, Forschungsgeschichte. .. (wie Anm. 7), S. 106; W. Unverzagt, Wege und Ziele... (wie Anm. 18), S. 478. 21 Leopold Freiherr von Ledebur, Das Königliche Museum vaterländischer Alterthümer im Schlosse Monbijou zu Berlin, Berlin 1838, S. V. 22 H . Gummel, Forschungsgeschichte... (wie Anm. 7), S. 106; L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 90; ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 12. 25 Aloys Hirt, Ueber die Denkmäler der nordischen Völker, in: Sammlung der deutschen Abhandlungen, welche in der Koeniglichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vorgelesen worden in den Jahren 1798 bis 1800, Berlin 1803, S. 175—208; Gustav Kossinna (Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft [= MannusBibliothek 9], zit. n. 4., verm. u. verb. Aufl., Leipzig 1925, S. 235f.) bewertete Hirts Abhandlung als eine für die damalige Zeit treffliche Vorlesung. Irrtümliche Angabe des Vortragsjahres (1783) bei L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 90, und ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 12. 24 Walther Schulz, Jacobus Tollius und die Großsteingräber bei Magdeburg, in: Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 43 (1959), S. 122. 25 R. Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2), S. 615.

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u n t e r K ö n i g F r i e d r i c h I. ein p r ä c h t i g e s jungbronzezeitliches T o n g e f ä ß aus W u l f e n , Kreis K o t h e n , das m a n für r ö m i s c h gehalten h a t t e , für den s t a t t l i c h e n Preis v o n 1 0 0 T a l e r n aufgekauft. E s befindet sich m i t einem zweiten G e f ä ß dieser F u n d s t e l l e n o c h h e u t e im B e s i t z des M u s e u m s für V o r - und F r ü h g e s c h i c h t e . 2 6 U n t e r d e m „ S o l d a t e n k ö n i g " ,

Friedrich

W i l h e l m I., w u r d e n z w a r k a u m M i t t e l für g r o ß z ü g i g e A n k ä u f e bereitgestellt, aber Anweisungen erlassen, auf heimische Bodenfunde z u acht e n , über sie z u b e r i c h t e n und m ö g l i c h s t den S a m m l u n g e n z u z u f ü h ren.27 Seit d e m E n d e des 17. J a h r h u n d e r t s wuchs infolge v e r m e h r t e r B a u t ä tigkeit in Berlin und seiner näheren U m g e b u n g das F u n d a u f k o m m e n . I m J a h r e 1 6 9 6 wurden beim G r a b e n des F u n d a m e n t e s für S c h l o ß L i e t z e n b u r g ( L ü t z e n b u r g ) , das n a c h d e m T o d e der feinsinnigen Schloßherrin, Königin Sophie C h a r l o t t e , 1 7 0 5 in C h a r l o t t e n b u r g u m b e n a n n t wurde, U r n e n g e f u n d e n , 2 8 v o n denen einige in das Königliche K a b i n e t t gelangten. I m 18. J a h r h u n d e r t n a h m dann auch die private S a m m e l t ä tigkeit zu. D e r herausragende U r g e s c h i c h t s f o r s c h e r in Berlin war im 18. J a h r hundert Christian Gottfried Eltester ( 1 7 1 0 — 1 7 7 6 ) . 2 9 Im Justizdienst 26 U. a. Wilhelm Unverzagt, Zur Hundertjahrfeier der Prähistorischen Abteilung des Staatlichen Museumsfür Völkerkunde in Berlin, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 6 (1930), S. 147; L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 90; ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 10—12; Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, Bd. 1, Köln 1976, S. 66 f. Uber Fund- und Erwerbsjahre sowie Katalognummern dieser Gefäße ist in der Fachliteratur ein beträchtlicher Wirrwarr entstanden. Nach L. von Ledebur, Das Königliche Museum... (wie Anm. 21), S. 159—161, wurden beide Gefäße neben anderen Funden am 10. Dezember 1692 in Wulfen einem Steinkistengrabe entnommen. Die 1707 für 100 Taler aufgekaufte Urne trägt seit der Inventarisierung durch v. Ledebur die Katalognummer 1.2 der „Vorgeschichtlichen Sammlung". Das zweite Gefäß gelangte erst 1798 mit der Bezeichnung „Großmutter aller urnarum" in die Sammlung. Es trägt die Katalog-Nummer 1.1. Die Namengebung geht auf einen Irrtum bereits vor dem Erwerb des Gefäßes zurück, wobei dessen Höhe mit 8 Schuh (das wären ca. 2,50 m!) angegeben worden war; vgl. dazu Leopold Freiherr von Ledebur, Uber die deutsche Urnenliteratur vom 16.—18. Jahrhundert, in: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 1872, S. 18. 27 W. Unverzagt, Zur Hundertjahrfeier... (wie Anm. 26), S. 147. 28 Leopold Freiherr von Ledebur, Die heidnischen Alterthümer des Regierungsbezirkes Potsdam, Berlin 1852, S. 56; Ernst Friedel, Vorgeschichtliche Funde aus Berlin und Umgegend (= Schriften des Vereins für die Geschichte der Stadt Berlin, Bd. 17), Berlin 1880, S. 52f.; L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 90. 29 Zu Leben und archäologischem Wirken Eltesters zusammenfassend L. Schott, Kurzer Abriß... (wie Anm. 2), S. 93; ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 12 f.

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tätig, seit 1739 Hofrat und Pronotar, später Sekretär am Kammergericht, galt sein ganzes Interesse dem heydnischen Alterthum. Bereits 1733 beteiligte er sich an Ausgrabungen auf einem Urnengräberfeld beim Dorfe Lützow (auch Lietzow, Lützen, Lietzen genannt) östlich von Schloß Charlottenburg. 30 In der Folgezeit führte er weitere Ausgrabungen durch, erwanderte beobachtend und aufklärend das Berliner Umland, so daß ihm Altertumsfunde in immer größerer Zahl gebracht und zum Kaufe angeboten wurden. Im Verlaufe von vierzig Jahren trug er neben einer bedeutenden Bibliothek und einem Naturalienkabinett eine Altertümersammlung zusammen, die zu den größten ihrer Zeit gehörte. Durch ihr Studium gelangte er zu bedeutenden Einsichten in den Ablauf der Urgeschichte, beispielsweise gewann er — wie vor und neben ihm andere Forscher — eine Vorstellung von der Abfolge Stein-, Bronze- und Eisenzeit, die er 1768 in einem Briefe mitteilte. 31 Damit gehört er zu den Vorentdeckern des archäologischen Dreiperiodensystems, das erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Anerkennung in der Forschung fand. Ein von ihm geplantes Werk über „die heidnische Mark auf Grund der Totenmale und -urnen" 32 ist nicht ausgeführt worden. Eltester, der sich zehn Jahre nach Beckmanns Tode an der Universität Viadrina zu Frankfurt immatrikuliert hatte, machte später seine Sammlung Beckmanns Großneffen zugänglich, 33 so daß sie die „Historische Beschreibung der Chur- und Mark Brandenburg" 34 bereicherte. König Friedrich II. zeigte Interesse an Eltesters Kabinett und bot dafür noch zu Lebzeiten des Besitzers 1000 Taler. Nach Eltesters Tode wurden seine Sammlungen zerstreut. Die Altertümer fanden keine Abnehmer. Die Akademie konnte den Ankauf nicht realisieren.35 Zur Beförderung des Verkaufs legte Johann Carl Conrad Oelrichs 1783 einen gedruckten Katalog vor, 36 der zugleich viel Wissenswertes über

30

E. Friedel, Vorgeschichtliche Funde... (wie Anm. 28), S. 53. Ernst Petersen, Ein Beitrag zur Geschichte des Dreiperiodensystems, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 8 (1932), S. 167—169. 32 Marchia gentilis in monumentis et urnis sepulchralihus. 33 R. Schulz, Die Universität Frankfurt... (wie Anm. 2), S. 634. 34 Vgl. Anm. 12. 35 H . Kirchner, Des churbrandenburgischen... (wie Anm. 8), S. 14. 36 Johann Carl Conrad Oelrichs, Marchia Brandenburgica gentilis. Beschreibung des von ... Christian Gottfried Eltester nachgelassenen sehr wichtigen Antiquitäten-Cabinets aus heydnischen Grabmälern, vorzüglich der Mark Brandenburg..., Berlin 1783,2. Aufl. 1785. 31

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die Altertümer der Mark und über Grundlagen des Ausgrabens enthält. Bevor 1785 eine zweite um Käufer werbende Auflage erschien, ging die Sammlung für den Schleuderpreis von 100 Talern in den Besitz der Freimaurer-Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln" über, die sie in einem Gartenhaus nahe der heutigen Weidendammer Brücke der Öffentlichkeit zugänglich machte. Das Wirken Eltesters und die Aufstellung seiner Sammlung hoben das allgemeine Interesse an Altertümern und vergrößerten die Zahl bekanntgewordener Funde. Unter anderem wurden in der Zeit nach Eltester ein Grundstück in der Alexanderstraße 9 (1780), die Bötzowschen Äcker nahe dem heutigen Bahnhof Gesundbrunnen (um 1798) und der „Düstere Keller" vor dem Halleschen T o r (1803/04) als Fundplätze bekannt. 3 7 Die militärische Niederlage Preußens im Jahre 1806, die nachfolgende Besetzung des Landes durch französische Truppen und schließlich das Erlebnis der Befreiungskriege führten zu einer Besinnung auf das nationale historische und kulturelle Erbe, in das die Wertschätzung der Altertümer einbezogen war. Der preußische General Heinrich Freiherr Menu von Minutoli (1772—1846), ein begeisterter Altertumsfreund und -forscher, appellierte 1827 an die historisch und antiquarisch Interessierten, auftretende Bodenfunde den Sammlungen zuzuleiten, um sie als historische Zeugnisse auswerten zu können. 3 8 Eine derartige Auffassung hatte 1825 bereits der Berliner Geschichtsprofessor und Mitverwalter des Königlichen Kunstkabinetts Konrad Levezow (1770—1835) in einer Schrift über die Bedeutung der archäologischen Funde als „vaterländische Monumente" vertreten. Darin forderte er ihre Ubergabe an sachkundig geleitete Sammlungen und wollte ihre Ausgrabung wissenschaftlich geschulten, sorgfältig arbeitenden Personen vorbehalten. Ihnen vermittelt er Erfahrungen zur Hebung der Funde und plädiert für die Anlegung von Fundkarten. Dabei ging es ihm um die Verbreitung der vormals in den Fundgebieten lebenden Völker, ihre Handelsplätze und -Straßen, ihre Sitten und Gebräuche. Gleichzeitig aber warnte er vor voreiligen und leichtfertigen Deutungen und Erklärungen. 39 Einer Bronzestatuette, die 1825 bei Sandgruben37 Vgl. L. von Ledebur, Die heidnischen Alterthümer... (wie Anm. 28); E. Friedel, Vorgeschichtliche Funde... (wie Anm. 28) u. a. 38 L. Schott, Kurzer Abrifi... (wie Anm. 2), S. 95; ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 13 f.

Konrad Levezow, Andeutungen über die wissenschaftliche Bedeutung der allmählig zu Tage geförderten Alterthümer Germanischen, Slavischen und anderweitigen Ursprungs 39

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arbeiten bei Lichtenberg (Friedrichsfelde?), östlich von Berlin, mit oder bei Gefäßscherben aus den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung gefunden und der Königlichen Sammlung zugeführt wurde, widmete er eine monographische Untersuchung. 40 Mit dem in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts erreichten Stande war auch in Berlin die prähistorische Archäologie an die Schwelle der Formierung zur wissenschaftlichen Disziplin getreten, und die Zeit war reif, daß eine öffentliche Sammlung zu ihrem Zentrum wurde. Im Komplex der preußischen Reformen waren unter Beteiligung von Staatskanzler Hardenberg, der Gebrüder Humboldt, Schinkel, Rauch und anderen Pläne zur Errichtung öffentlicher Museen entwickelt und die Königlichen Sammlungen im Schloß zu wissenschaftlichen und belehrenden Zwecken geöffnet worden. 1825 erfolgte die Grundsteinlegung des von Schinkel projektierten Museumszweckbaus am Lustgarten, der 1830 eingeweiht wurde und später den Namen „Altes Museum" erhielt. Da dieses Gebäude nur Teile der Kunstsammlung aufnehmen konnte, wurden von 1828 an die vaterländischen Alterthümer separiert und von 1829 an als selbständiges Museum im Schlosse Monbijou aufgestellt. 41 Zu ihrem Direktor wurde Leopold Freiherr von Ledebur (1799—1877) berufen, der 1838 einen noch heute bedeutenden Katalog dieser Sammlung vorlegte. 42 Ihm gelang es, die Bestände zu mehren und 1839 endlich auch die Sammlung Eltester dem Museum einzuverleiben, 43 so daß dieses schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts die reichste öffentliche Sammlung dieser Art in Deutschland'14 war und sich zur angesehenen Stätte der Forschung entwickelte. Ausgehend von der Erkenntnis ihrer Bedeutung als Urkunden anderer A rt als der archivalischen, erarbeitete von Ledebur eine Dokumentation

der zwischen Elbe und Weichsel gelegenen Länder, und zwar in nächster Beziehung auf ihre Geschichte, Stettin 1825; dazu L. Schott, Kurzer Ahriß... (wie Anm. 2), S. 95; ders., Berliner Urgeschichtsforschung... (wie Anm. 2), S. 13. 40 Konrad Levezow, Jupiter Imperator in einer antiken Bronze des Koeniglichen Museums der Alterthuemer zu Berlin. Eine archaeologische Vermuthung, Berlin 1826; dazu L. Schott, Kurzer Ahriß... (wie Anm. 2), S. 95 £. 41 L. von Ledebur, Das Königliche Museum... (wie Anm. 21), Vorrede; W. Unverzagt, Zur Hundertjahrfeier... (wie Anm. 26), S. 147; Gertrud Dorka, Museum für Vor- und Frühgeschichte, in: Die Berliner Museen, Berlin 1953, S. 119. 42 L. von Ledebur, Das Königliche Museum... (wie Anm. 21). 43 A. a. O., S. 59; ders., Die heidnischen Alterthümer... (wie Anm. 28), S. Vf. 44 Gustav Friedrich Klemm, Handbuch der germanischen Alterthumskunde, Dresden 1836, S. 414.

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der archäologischen Funde des Regierungsbezirkes Potsdam, die als eines der ersten archäologischen Regionalinventare Deutschlands Vorbildwirkung erlangte. 45 Sie verzeichnet 19 Fundorte aus dem heutigen Territorium Groß-Berlins; außer den bereits genannten unter anderen solche aus der Hasenheide, vom Louisenstädtischen Kirchhof und aus den Gemarkungen Köpenick und Britz. Als das „Neue Museum" als zweiter Bau des Ensembles der heutigen Museumsinsel seiner Eröffnung entgegensah, erhielt die vorgeschichtliche Sammlung 1849 dort ihre Heimstatt und 1852 ihre Aufstellung. Zur Abgrenzung von den Sammlungen der klassischen Archäologie aus südlichen Ländern und mit Blick auf den fortgeschrittenen Forschungsstand in Skandinavien führte sie nun die Bezeichnung „Sammlung der nordischen Alterthümer". Ihre Aufstellung erfolgte im Anschluß an die ethnographischen Sammlungen. Damit begann die sieben Jahrzehnte währende Periode der musealen Gemeinsamkeit von prähistorischer Archäologie und Ethnologie in Berlin. Durch die Erwerbung von teilweise umfangreichen Privatsammlungen, durch Schenkungen, Stiftungen und eigene Ausgrabungstätigkeit verzeichnete das Museum einen anhaltenden Zuwachs. 46 II In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin und weit darüber hinaus durch die Persönlichkeit Rudolf Virchows (1821—1902) 4 7 geprägt. Der gebürtige Pommer, der seit 1856 an der Berliner Universität die pathologische Anatomie vertrat und seit 1873 ordentliches Mitglied der Preußischen Akademie war, errang als Arzt und Pathologe, vornehmlich als Begründer der Zellularpathologie, Weltgeltung und avancierte darüber hinaus zum prominenten deutschen Prähistoriker dieser Epoche von europäischem 45

L. von Ledebur, Die heidnischen Alterthümer...

(wie Anm. 28).

A. a. O., Vorrede; W. Unverzagt, Zur Hundertjahrfeier... (wie Anm. 26), S. 147; G. Dorka, Museum für Vor- und Frühgeschichte... (wie Anm. 41), S. 119. 47 Zu Virchow als Prähistoriker grundlegend: Christian Andree, Rudolf Virchow als Prähistoriker, 2 Bde., Köln 1976, vor allem Bd. 1,S. 165—169; ferner Carl Schuchhardt, Rudolf Virchow als Prähistoriker, in: Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Festsitzung zum Gedächtnis des hundertjährigen Geburtstages Rudolf Virchows am Ii. Oktober 1921, Berlin o. J . [1922], S. 14—23; Marion Bertram, Rudolf Virchow als Prähistoriker. Sein Wirken in Berlin (Sonderausstellung des Museums für Ur- und Frühgeschichte), Berlin 1987. 46

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Rang. Außerdem engagierte er sich als Mitbegründer der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei" (1861) in der Kommunalpolitik Berlins (seit 1859 als Stadtverordneter), wo er die Einleitung entscheidender sozialhygienischer Maßnahmen bewirkte, sowie landespolitisch in Opposition zu Bismarck als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses (seit 1862) und des Deutschen Reichstags (1880—1893). Archäologisch betätigte sich Virchow seit 1865 aktiv. Er widmete allen urgeschichtlichen Perioden sein Interesse, konzentrierte sich aber besonders auf die bronzezeitliche Lausitzer Kultur, die slawische Archäologie und die Erforschung der Burgwälle.48 Mit dem Ziel, die Urgeschichtsforschung im interdisziplinären Rahmen mit besonderer Betonung der Ethnographie und naturwissenschaftlicher Nachbarwissenschaften, insonderheit der Anthropologie, als Lehre vom Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und zur Geschichte49 zu betreiben, drängte er zur Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte", die 1870 erfolgte und deren Jahrestagungen er maßgeblich mitbestimmte. Entscheidenden Einfluß hatte er deshalb auch bei der Konstituierung ihres stärksten, angesehensten und stets aktivsten Lokalvereins, der „Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" (BGAEU), 50 am 17. November 1869. In den monatlichen Sitzungen dieser Gesellschaft wurden wissenschaftliche Ergebnisse ausgetauscht, archäologische Neufunde vorgestellt und über sie sowie über eingesandte Fundmeldungen diskutiert. Die Ergebnisse ihrer Sitzungen und ausführlichere Forschungen ihrer Mitglieder verbreitete die Gesellschaft in eigenen Periodika: der „Zeitschrift für Ethnologie" (seit 1870 51 ), den angebundenen „Verhandlungen der B G A E U " (bis 1902) und den „Nachrichten über deutsche Alterthumsfunde" (1890—1904), die sämtlich von Virchow überwiegend selbst redigiert wurden, der sich daneben aber auch medizinischen 48 Ch. Andree, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), Bd. 1, S. 66—77; M. Bertram, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), S. 12—18.

Titelbestandteil von Band 1 der Zeitschrift für Ethnologie und ihrer Hülfswissenschaften als Lehre vom Menschen in seinen Beziehungen zur Natur und zur Geschichte. 50 Christian Andree, Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1869—1969, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1869—1969, T . 1, Berlin 1969, S. 9—139. 49

51 Die 1869 von Adolf Bastian und Robert Hartmann begründete Zeitschrift Ethnologie wurde 1870 von der B G A E U übernommen.

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Periodika, vor allem dem „Archiv für pathologische Anatomie", widmete. Unter den fast 2000 Veröffentlichungen Virchows gelten über 500 der prähistorischen Archäologie. Mit ihnen hat er nicht nur zahlreiche Einzelerkenntnisse vorgelegt, unter anderen die Definition des von ihm herausgearbeiteten „Lausitzer Typus" zur allgemeinen Geltung gebracht, sondern entscheidend dazu beigetragen, methodische Grundprinzipien der Urgeschichtsforschung, wie die komparative Typologie, die kartographische Chorologie und andere, zu präzisieren und damit die Anerkennung der prähistorischen Archäologie als wissenschaftliche Einzeldisziplin in Deutschland durchzusetzen. Unter Verweis auf Virchows fehlerhafte Einschätzung der Skelettreste des Neandertalers ist wiederholt geschlossen worden, er habe die Abstammungslehre vorwiegend aus politisch und weltanschaulich konservativer Einstellung prinzipiell abgelehnt. Diese Auffassung bedarf der Relativierung. 52 Virchow war kein absoluter Gegner der Deszendenztheorie, wenn er sie auch noch nicht für zweifelsfrei bewiesen, vielmehr für veränderungs- und verbesserungswürdig, mit zunehmendem Alter aber eher skeptisch betrachtete. 1877 veranlaßte er die BGAEU, Darwin zum Korrespondierenden Mitglied zu ernennen, 53 und er hat sich wiederholt auch positiv zu Darwins Theorie geäußert. Seine Kritik mit stellenweise unverkennbar politischer Stoßrichtung gegen die Ziele der Sozialdemokratie 54 richtete sich weniger gegen Darwin, sondern mehr gegen die Popularisierung und damit verbundene Vulgarisierung der Abstammungslehre durch Ernst Haeckel. Gestützt auf die Stärke der von ihm dominierten BGAEU und ihr Ansehen setzte sich Virchow erfolgreich ein für den Schutz und die Erhaltung von Bodendenkmalen und — besonders in Berlin — für die Verbesserung von Struktur, materieller und personeller Ausstattung der Ur- und Frühgeschichtsforschung. 1874 wurde in Berlin das Märkische Museum als Provinzialmuseum für Brandenburg gegründet, des-

52

Zum folgenden: Ch. Andree, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), Bd. 1, S. 151— 164, bes. 158—160; Lothar Schott, Der Skelettfund aus dem Neandertal im Urteil Rudolf Virchows, in: Biologische Rundschau 19 (1981), S. 304—309. 53 Ch. Andree, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), Bd. 1, S. 21; ders., Geschichte der BGAEU... (wie Anm. 50), S. 159. 54 Besonders prononciert und deshalb häufig herangezogen in Virchows Rede auf der 50. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte in München am 22. September 1877; vgl. Rudolf Virchow, Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat, Berlin 1877, S. 12.

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sen Direktionskollegium auch Virchow angehörte. 55 T r o t z lange beengter Raumverhältnisse und wiederholter Umzüge 5 6 nahm sich der Schöpfer und vielseitig interessierte Leiter dieses Museums, Ernst Friedel (1837—1918), 5 7 der Bodendenkmalpflege in Berlin und seiner Umgebung an, wo infolge des „Gründerbooms" von 1871 an rege gebaut wurde und dabei archäologische Fundplätze in bisher nicht bekanntem Umfange angeschnitten, vielfach aber auch unerkannt zerstört wurden. Schon zehn Jahre nach der Gründung zählte der Katalog der urgeschichtlichen Abteilung mehr als 14 500 Eintragungen, und die 1880 von Friedel 58 und 1890 von Buchholz 5 9 herausgegebenen Fundinventare weisen gegenüber der Zusammenstellung Ledeburs von 1852 60 den erzielten Fund- und Kenntniszuwachs eindrucksvoll aus. Viele Bodenaltertümer verdanken ihre Rettung der aktiven Arbeit der von Friedel 1887 ins Leben gerufenen „Pflegschaft des Märkischen Provinzial-Museums", einer Vereinigung historisch interessierter Laienforscher, und der seit 1892 wirkenden heimatkundlichen Gesellschaft „Brandenburgia". Einen Höhepunkt in Friedeis Tätigkeit bildete die Bergung und Sicherung des sogenannten Königsgrabes von Seddin, Kreis Perleberg, im Jahre 1899. 61 Schon um 1900 besaß das 55 U.a. Das Märkische Provinzial-Museum der Stadtgemeinde Berlin von 1874 bis 1899, Berlin 1901 ; Herbert Hampe, A us der Geschichte des Märkischen Museums, in: Das Märkische Museum und seine Sammlungen, Berlin 1974, S. 8; Herbert Hampe/Wolfgang Gottschalk, Das Märkische Museum, Berlin 1979, S. 28; Heinz Seyer, Zur Geschichte der Bodendenkmalpflege in Berlin, in: Ausgrabungen und Funde 11 (1966), S. 115; ders., Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung, in: Das Märkische Museum und seine Sammlungen, Berlin 1974, S. 15; ders., Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung und die Bodendenkmalpflege in Berlin, in: Jahrbuch des Märkischen Museums 9 (1983), S. 132. 5 6 Eröffnung 1874 in der Rotunde unterhalb des Turmes des Roten Rathauses, von 1875 an im Podewilsschen Palais, Klosterstr. 68, von 1880 an im Köllnischen Rathaus, Breite Str. 20 a, von 1899 an im Gebäude der Städtischen Sparkasse, Zimmerstr. 90/91, von 1908 an im heutigen Gebäude. 57 Michael Hofmann, Ernst Friedeis Wirken für die Ur- und Frühgeschichtsforschungin der ehemaligen Provinz Brandenburg, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 28 (1987), S. 393—404. 58

E. Friedel, Vorgeschichtliche Funde...

(wie Anm. 28).

Rudolf Buchholz, Verzeichniss der im Märkischen Provinzial-Museum der Stadtgemeinde Berlin befindlichen Berlinischen Alterthümer..., Berlin 1890. 59

L. von Ledebur, Die heidnischen Alterthümer... (wie Anm. 28). Ernst Friedel, Das Königsgrab von Seddin, Kreis West-Prignitz, in: Das Märkische Provinzial-Museum... (wie Anm. 55), S. 33—38; Alfred Kiekebusch, Das Königsgrab von Seddin (= Führer zur Urgeschichte 1), Augsburg 1928; M. Hofmann, Ernst Friedeis Wirken... (wie Anm. 57). 60

61

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Märkische Museum eine der großen urgeschichtlichen Sammlungen in Deutschland. Friedel bereicherte mit insgesamt über 110 Artikeln und fünf Büchern die Erforschung der märkischen Ur- und Frühgeschichte. Er war ein aktives Mitglied der BGAEU, und diese, die bereits die Gründung des Museums unterstützt hatte, förderte auch weiter dessen Arbeit in Berlin und Brandenburg. Der wichtigste Partner der BGAEU aber blieb die Sammlung nordischer Altertümer der Königlichen Museen im Verbund mit der ethnographischen Sammlung, die seit 1868 von Adolf Bastian (1826— 1905) betreut wurde — einem Mitbegründer der BGAEU und einem ihrer führenden Köpfe. Nachdem von Ledebur sich seit Beginn der siebziger Jahre von seinen Dienstgeschäften als Leiter mehrerer Sammlungen der Königlichen Museen zurückgezogen hatte und 1875 endgültig aus dem Dienst geschieden war, bemühte sich Virchow, einen engagierten Betreuer der prähistorischen Altertümer zu finden. Er gewann dafür Albert Voß (1837—1906)62 — Pommer und Arzt, wie Virchow selbst, und diesem als seinem akademischen Lehrer seit 1868 durch gemeinsame prähistorische Forschungen sowie als Mitbegründer der BGAEU verbunden. Voß gab seine ärztliche Praxis auf und trat 1874 in den Museumsdienst. Er widmete sich der Ordnung, Mehrung und wissenschaftlichen Auswertung dieser Sammlung. Bereits in seinen ersten sechs Dienstjahren wuchs der Bestand von 12000 auf 18000 Nummern. 6 3 1 878 legte Voß eine Untersuchung über die Bronzeschwerter vor, 64 und 1887 veröffentlichte er gemeinsam mit dem Sammler Gustav Stimming eine Monographie über „Vorgeschichtliche Alterthümer aus der Mark Brandenburg". 65 Als die BGAEU die 11. Allgemeine Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte vom 5.—11. August 1880 in Berlin ausrichtete, zu der die Fachinstitutionen mit Ehrengaben für den Kongreß auftraten, 66 fiel der prähistorischen 62

Zu V o ß u. a. Nachruf, in: Jahrbuch der Königlich Preußischen Kunstsammlungen 28 (1907), S. I—IV; H. Gummel, Forschungsgeschichte... (wie Anm. 7), S. 465f.; Ch. Andree, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), Bd. 1, S. 140—142. 63 W. Unverzagt, Zur Hundertjahrfeier... (wie Anm. 26), S. 148. — Auf S. 147 irrtümliche Angabe des Dienstantritts von Voß mit 1876. 64 Adolf Bastian/Albert Voß, Die Bronzeschwerter des Königlichen Museums zu Berlin, Berlin 1878. 65 Albert Voß/Gustav Stimming, Vorgeschichtliche Alterthiimer aus der Mark Brandenburg, Berlin 1887, 2. Aufl. 1890. 66 Das Märkische Museum präsentierte E. Friedeis Katalog, Vorgeschichtliche Funde aus Berlin und Umgegend... (wie Anm. 28).

Ur- und Frübgeschichtsforschung

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Sammlung die von Virchow angeregte Aufgabe zu, eine große Ausstellung prähistorischer und anthropologischer Funde Deutschlands zu organisieren. 67 Durch die Autorität Virchows bewegt, hatten mit Ausnahme weniger nichtpreußischer Länder viele Museen und Privatsammler repräsentative Funde bereitgestellt, so daß die Ausstellung zum ersten und zugleich bisher letzten Male einen Uberblick über den prähistorischen Formenbestand Zentraleuropas bot und komparative Studien an einem O r t ermöglichte. Diese wurden dank des von Voß herausgegebenen subtilen Katalogs und des begleitenden photographischen Albums 68 erleichtert. Katalog und Album sind bis heute wertvolle Arbeitsmittel der Urgeschichtsforschung geblieben. Den zweiten Höhepunkt des Jahres 1880 für die Ur- und Frühgeschichtsforschung Berlins brachte die großzügige Verfügung Heinrich Schliemanns (1822—1890), einen großen Teil seiner Sammlung trojanischer Altertümer dem Deutschen Volke zu ewigem Besitze und ungetrennter Aufoewahrung in der Reichshauptstadt als Geschenk zu übereignen, 69 was durch Kaiserlichen Erlaß vom 24. Januar 1881 angenommen wurde. 70 Dieser bedeutende Zuwachs des Berliner Museumsschatzes ist wiederum zu einem guten Teil Virchow zu verdanken. Schliemann und Virchow waren seit 1875 persönlich bekannt. 71 In der Folgezeit entwickelte sich eine wegen Schliemanns Empfindlichkeit zwar nicht störungsfreie, dennoch dauerhafte Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Persönlichkeiten, 72 die nach Carl Schuchhardts 67

Die Ausstellung mit Exponaten aus 206 öffentlichen und privaten Sammlungen war vom 5. bis 23. August im Preußischen Abgeordnetenhaus zu sehen; vgl. u. a. Ch. Andree, Geschichte der BGAEU... (wie A'nrn. 50), S. 42—44; ders. Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), Bd. 1, S. 71 und 141; M. Bertram, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), S. 10 f. 68 Katalog der Ausstellung Prähistorischer und Anthropologischer Funde Deutschlands. .., hrsg. von Albert Voß, Berlin 1880; dazu Photographisches Album der Ausstellung Prähistorischer und Anthropologischer Funde Deutschlands, Berlin 1880. 69 Hubert Schmidt, Heinrich Schliemann's Sammlung trojanischer Altertümer, Berlin 1902, S. III. 70 Gedruckt im Staatsanzeiger vom 7. Februar 1881. 71 Zum Verhältnis von Virchow und Schliemann u. a. Ernst Meyer, Schliemann und Virchow, in: Gymnasium 62 (1955), S. 435—454; Joachim Herrmann, Heinrich Schliemann. Weghereiter einer neuen Wissenschaft, erweiterte Neubearbeitung, Berlin 1990, S. 59—73; ders., Der Briefwechsel zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow 1876 bis 1890, in: Die Korrespondenz... (wie Anm. 72), S. 11—74. 72 Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schliemann und Rudolf Virchow 1876—1890, bearb. und hrsg. von Joachim Herrmann und Evelin Maaß in Zusammenarbeit mit Christian Andree und Luise Hallof, Berlin 1990.

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trefflichem Wort wie zwei große Pylonen... am Eingang in die Deutsche Vorgeschichtsforschung stehen.7i Virchow gelang es, das Vertrauen des besonders von den philologisch orientierten Altertumswissenschaftlern Deutschlands zurückgestoßenen Autodidakten zu gewinnen und die Wissenschaftlichkeit seiner Tätigkeit in Fragestellung, Vorgehen und Interpretation zu erhöhen. Bereits 1877 hatte Virchow für Schliemann die Ehrenmitgliedschaft in der „Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" erwirkt. Von März bis Mai 1879 beteiligte er sich ratend und helfend an Schliemanns Ausgrabungen auf dem Hügel Hissarlik, und bei einer gemeinsamen Exkursion in die Troas vermochte es Virchow, Schliemann mit Deutschland auszusöhnen. 74 Im Dezember 1880 baute Schliemann seine Troja-Funde im Londoner South-Kensington-Museum ab, wo sie als Leihgabe ausgestellt waren, und überführte sie nach Berlin. 1881 stellte er sie in zwei Sälen des neuerrichteten Kunstgewerbemuseums, dem Martin-Gropius-Bau in der Prinz-Albrecht-Straße, auf, wo sie im Februar 1882 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Noch im gleichen Jahr führte Schliemann der Sammlung weitere Funde zu. 1885 übersiedelte sie in die prähistorische Abteilung des Museums für Völkerkunde. Ihren Bestand bereicherte Schliemann 1886 durch den Rückkauf der vertragsgemäß an die Türkei gefallenen Fundanteile aus Troja, die er wiederum selbst aufstellte, und 1887 durch die Schenkung ägyptischer Altertümer. Kraft testamentarischer Verfügung Schliemanns überwies seine Witwe 1891 noch in ihrem Hause in Athen befindliche Bestände, und 1893/94 wurden von der Direktion des Ottomanischen Museums Funde zugeführt, mit denen die Berliner Schliemann-Sammlung ihren endgültigen Umfang erhielt. Bis 1895 war sie in der Aufstellungsordnung des Ausgräbers zu sehen. 1896—1900 wurde sie von Hubert Schmidt (1864—1933),75 der 1893/94 bei abschließenden Grabungen in Troja unter Leitung von Wilhelm Dörpfeld mitgewirkt hatte, katalogisiert und neu aufgestellt. 76 73

Carl Schuchhardt, Rudolf Virchow... (wie Anm. 47), S. 14. Schliemann an Virchow am 9. September 1879: . . . Sie haben mich wieder mit Deutschland ausgesöhnt... Außer Virchow wäre niemand dazu imstande gewesen, in: Die Korrespondenz... (wie Anm. 72), S. 139 (Nr. 59). 75 Zu Schmidt u.a. die Nachrufe von Hans Seger, in: Praehistorische Zeitschrift 23 (1932), S. 375—377, und in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 9 (1933), S. 17. 76 H . Schmidt, Heinrich Schliemann's Sammlung... (wie Anm. 69) mit einer Darstellung der Geschichte der Sammlung auf S. III f. 74

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Eine offizielle akademische Ehrung für Schliemann konnte Virchow in Berlin nicht erwirken, doch die BGAEU ernannte den Ausgräber am 16. April 1881 zu ihrem Ehrenmitglied, und die Stadt Berlin verlieh ihm die hochangesehene Ehrenbürgerschaft. Auf dem Festakt der Verleihung am 7. Juli 1881 hielt der Stadtverordnete Virchow die Laudatio. 77 Er schrieb die Vorrede zum Ilios-Buch Schliemanns, und dieser anerkannte Virchows Verdienste mit der warmherzigen Widmung dieses Werkes: Meinem verehrten Freund und eifrigen Mitarbeiter in den Trümmern Trojas, Rudolf Virchow, widme ich dieses Werk in dankbarer Anerkennung der mir von ihm gewährten Hülfe und Aufmunterung in meinen Forschungen, und in froher Erinnerung der mit ihm in Ilion verlebten glücklichen Tage.™ Nach seiner Ohrenoperation in Halle verlängerte der schwerkranke Schliemann seine Heimreise durch mehrere Abstecher, unter anderem nach Berlin, 79 wo er zwölf Tage vor seinem Tod in Neapel noch einmal mit Virchow zusammentraf 80 und mit diesem seine Sammlung besuchte. Virchow hielt dem Ehrenbürger Berlins eine würdige Gedächtnisrede. 81 Die Bemühungen der BGAEU um den Schutz der Bodenaltertümer führten 1886 zum Erlaß einer Verordnung zum Bodendenkmalschutz in Preußen. Zu ihrer Popularisierung und möglichst sachkundigen Anwendung verfaßte Albert Voß 1888 ein „Merkbuch, Alterthümer aufzugraben und aufzubewahren", 82 das den damaligen Kenntnisstand und die zeitgenössischen Problemstellungen anschaulich darlegt. Es wurde an zahlreiche Dienststellen des Preußischen Staates verteilt, erschien 1894 in einer erweiterten Auflage und 1898 in russischer Ubersetzung. Auch die Anregung, Typenkarten für besondere Funde zu

77

Rudolf Virchow, Rede zur Bewillkommnung Schliemann's als Ehrenbürger Berlins, in: Zeitschrift für Ethnologie 23 (1891), S. 63—65. 78 Heinrich Schliemann, Ilios. Stadt und Land der Trojaner, Leipzig 1881, Vorschaltblatt. 79 Schriftliche Ankündigung dieses Besuches, in: Die Korrespondenz... (wie Anm. 72), S. 570—572. 80 Das Treffen fand am Sonntag, dem 14. Dezember 1890, statt; irrtümlich auf den 15. Dezember datiert von E. Meyer, Schliemann und Virchow... (wie Anm. 71),S. 453. 81 Rudolf Virchow, Gedächtnisrede, in: Zeitschrift für Ethnologie 23 (1891), S. 41—62. 82 Albert Voß, Merkbuch, Alterthümer aufzugraben und aufzubewahren. Eine Anleitungfür das Verfahren bei Aufgrabungen, sowie zum Konserviren vor- und frühgeschichtlicher Alterthümer, Berlin 1888, 2., wesentlich erw. Aufl. 1894; vgl. dazu Werner Coblenz, 100Jahre „Merkbuch, Alterthümer aufzugraben und aufzubewahren", in: Veröffentlichungen des Museums für Ur- und Frühgeschichte Potsdam 23 (1989), S. 7—11.

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erarbeiten, ging von der B G A E U aus und wurde von ihr nach Kräften befördert. Großzügig überwies die B G A E U dem Königlichen Museum Sammlungen und wertvolle Einzelexponate, und sie vermittelte und unterstützte Ankäufe und Schenkungen. Virchow allein schenkte Tausende von Altertümern und förderte die Ausgrabungs- und Forschungstätigkeit im Ausland, namentlich im Kaukasusgebiet, wodurch das Museum in den Besitz einer der größten Sammlungen kaukasischer Altertümer außerhalb der heutigen U d S S R kam. Als dadurch die Raumnot immer größer wurde, setzte sich die B G A E U , aus deren Mitgliedern die Sachverständigenkommission sowohl der ethnologischen als auch der prähistorischen Abteilung gebildet war, energisch für einen Museumsneubau ein. Er entstand neben dem Kunstgewerbemuseum an der Königgrätzer (jetzt Stresemann-) Straße, wo auch die B G A E U ihre Geschäftsräume fand und ihre Bibliothek aufstellte. 1885 wurde das Gebäude bezogen und am 18. Dezember 1886 offiziell eröffnet. 8 3 Mit der Ernennung von Albert V o ß zum Direktor der nun „Sammlung vaterländischer und anderer vorgeschichtlicher Altertümer" genannten Abteilung wurde deren gleichberechtigte Stellung und weitgehende Selbständigkeit innerhalb des Museums für Völkerkunde betont und respektiert. Weiterreichende Pläne Virchows zur Errichtung eines Deutschen Nationalmuseums in Berlin, das prähistorische Forschung in ganz Deutschland betreiben und im ganzen Reichsgebiet sammeln sollte, 84 scheiterten. Auch seinen Bemühungen um die Schaffung einer Professur für prähistorische Archäologie an der Berliner Universität blieb zunächst der Erfolg versagt. 85

83 1 889 als Jahr des Einzugs genannt bei W. Unverzagt, Zur Hundertjahrfeier... Anm. 26), S. 148, und G. Dorka, Museum für Vor- und Frühgeschichte... Anm. 41), S. 120.

(wie (wie

84 Denkschriften von 1891 und 1893; vgl. Werner Krämer, Fünfundsiebzig Jahre Römisch-Germanische Kommission, in: Festschrift zum 75jährigen Bestehen der RömischGermanischen Kommission (= Beiheft zum 58. Bericht der Römisch-Germanischen Kommission 1977), Mainz 1979, S. 13 ff.; Mechthilde Unverzagt, Wilhelm Unverzagt und die Pläne zur Gründung eines Instituts für die Vorgeschichte Ostdeutschlands (= Das Deutsche Archäologische Institut. Geschichte und Dokumente, Bd. 8), Mainz 1985, S. 3.

Gertrud Dorka, Die Wiedereröffnung des Berliner Museums für Vor- und Frühgeschichte, in: Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte 3 (1954), S. 92. 85

Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin

111

III Das Jahr 1902 markiert mit dem Tode Virchows und der Berufung Kossinnas an die Friedrich-Wilhelms-Universität einen Einschnitt in der Berliner Urgeschichtsforschung, auf die auch die Gründung der Römisch-Germanischen Kommission im gleichen Jahre nicht ohne Einfluß blieb. Die BGAEU wahrte nach dem Tode von Virchow, dem Bastian (1905), Voß (1906), Lissauer (1908) und viele andere Gründungsmitglieder in kurzer Zeit folgten, ihren Platz als ein aktives geistiges Zentrum der Hauptstadt. 8 6 Sie erlebte den Höhepunkt ihrer Arbeit und Mitgliederstärke im Jahrfünft vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, das einen Aufschwung für die gesamte prähistorische Forschung in Berlin brachte. Das Erscheinungsbild der Gesellschaft veränderte sich insofern, als in ihren Plenarsitzungen die Völkerkunde in den Vordergrund trat. Diese Tendenz verstärkte sich, als 1902 die „Verhandlungen der BGAEU" als bibliographisch selbständiges Organ aufgegeben und in die „Zeitschrift für Ethnologie. Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte" integriert wurden. Damit verlor die BGAEU ihr aktuelles Mitteilungs-, Diskussions- und Dokumentationsforum. 1904 wurden infolge der Streichung ministerieller Zuschüsse auch die „Nachrichten über deutsche Altertumsfunde" eingestellt. Die anthropologische und urgeschichtliche Forschungsarbeit der BGAEU vollzog sich vor allem in Kommissionen und Arbeitsgruppen, wie denen zur Erarbeitung prähistorischer Typenkarten, und fand von 1909 an in einer neuen Gesellschaft und in neubegründeten Fachzeitschriften zusätzliche Grundlagen. Die „Rudolf-Virchow-Stiftung" bei der BGAEU, die mit Spenden zum 60. Geburtstag Virchows angelegt und durch weitere Zuwendungen, besonders zu seinem 80. Geburtstage, vermehrt worden war, förderte weiterhin auch archäologische Projekte. Darunter befanden sich Forschungen zur Suche nach Rethra sowie Ausgrabungen in Haithabu und in Rumänien, wo Hubert Schmidt — seit 1901 Mitarbeiter und seit 1909 Kustos an der Vorgeschichtlichen Abteilung des Museums — von 1909 bis 1910 in Cucuteni erfolgreich tätig war und der Sammlung wertvolles Fundmaterial zuführte.

86

Zur Geschichte der BGAEU auch in dieser Periode Ch. Andree, Geschichte der BGAEU... (wie Anm. 50), bes. S. 98—111.

112

Heinz Grünert

In seinem letzten Lebensjahrzehnt hatte sich Virchow, nachdem seine Bemühungen um die Zusammenführung der deutschen prähistorischen Forschung und ein zum Deutschen Nationalmuseum erhobenes Berliner Museum für Vor- und Frühgeschichte gescheitert waren, anderen Plänen zur Zentralisierung der Ur- und Frühgeschichtsforschung, vor allem ihrer Einbindung in die archäologische Forschungsorganisation im weiten Sinne, skeptisch und ablehnend entgegengestellt. 87 Derartige Wünsche waren von den Erfahrungen ausgegangen, die bei der archäologischen Erforschung des Römisch-Germanischen Limes gewonnen worden waren, besonders durch die koordinierende Tätigkeit der auf Veranlassung des Berliner Althistorikers Theodor Mommsen gegründeten, von 1892—1902 wirkenden Reichs-LimesKommission. 8 8 Das „Deutsche Archäologische Institut" (DAI), das 1874 als Reichsanstalt aus einer 1829 in Rom gegründeten, ursprünglich privaten internationalen Vereinigung für archäologische Korrespondenz hervorgegangen war und seine Zentraldirektion schon seit etwa 1832 in Berlin unterhielt, 8 9 entschloß sich um die Jahrhundertwende, seine sich im Statut selbst gesetzte Beschränkung auf das griechische und römische Altertum bei ausdrücklichem Ausschluß der prähistorischen und der mittelalterlichen Archäologie aufzugeben und sich archäologischen Forschungen auch in Deutschland zuzuwenden. Der Widerstand Virchows und vieler, besonders ost- und mitteldeutscher Prähistoriker gegen diese Absichten hatte mehrere Ursachen. Er erwuchs aus der Erfahrung, daß sich bei der archäologischen Ur- und Frühgeschichtsforschung in Regionen, die stets außerhalb klassischer antiker Siedlungsgebiete und sogar außerhalb ihrer unmittelbaren Kontakt- und Einflußzonen gelegen hatten, die Zusammenarbeit mit Ethnologie, Regionalgeschichte und verschiedenen Naturwissenschaften bewährt hatte, während eine solche mit der klassischen Archäologie nur in geringem Maße bestand. Es wirkten aber auch Ressentiments mit, da die Entwicklung der prähistorischen ArchäoloM. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 3. Carl Schuchhardt, Ausgrabungen und Funde auf deutschem Boden, in: Neue deutsche Ausgrabungen, Münster i. W. 1930, S. 86 f. " Zur Geschichte des DAI vgl. vor allem Adolf Michaelis, Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts 1829—1879, in: Festschrift zum einundzwanzigsten April 1879, hrsg. von der Centraldirection des Archäologischen Instituts, Berlin 1879; Gerhart Rodenwaldt, Archäologisches Institut des Deutschen Reiches 1829—1929, Berlin 1929; ferner die 1979 begründete Schriftenreihe: „Das Deutsche Archäologische Institut. Geschichte und Dokumente", bes. mit den Bänden 2, 3 und 9. 87

88

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in

Berlin

113

gie zur Einzelwissenschaft stellenweise gegen den Widerstand der klassischen Archäologie und unter ungleich schlechteren materiellen und personellen Bedingungen erfolgt und noch keineswegs abgeschlossen war. Und schließlich rief die für die Forschung im Ausland zweckmäßige Zuordnung des DAI zum Auswärtigen Amt des Reiches Bedenken hervor, die auch Mommsen teilte. Als neben den bestehenden Zweigstellen in Rom und Athen die „Römisch-Germanische Kommission" (RGK) als dritte Einrichtung des DAI mit dem Amtsantritt ihres Direktors Hans Dragendorff am 1. Oktober 1902 ihre Tätigkeit in Frankfurt am Main aufnahm,90 geschah es mit dem in der Satzung festgeschriebenen Kompromiß, die Forschung auf die deutschen Gebiete zu begrenzen, die einst dauernd unter römischer Herrschaft gestanden hatten.91 Eine Ausdehnung wurde von den Anforderungen der Praxis erzwungen. Sie erfolgte zunächst auf die Perioden, die der Römerherrschaft unmittelbar vorausgegangen waren beziehungsweise auf sie folgten, später auf die gesamte Ur- und Frühgeschichte, vor allem in den westdeutschen Territorien. Obgleich die R G K wissenschaftlich befruchtend weit über ihr Tätigkeitsgebiet hinaus wirkte, blieb ihr Einfluß auf Ostdeutschland — verstärkt durch die politische Entwicklung — gering. Hier und namentlich in Berlin vertiefte die Gründung der R G K vielmehr schon vorhandene Ansätze einer Polarisierung zwischen Prähistorikern, die Kontakte und Zusammenarbeit mit der klassischen Archäologie pflegten und zu festigen suchten, und solchen, die engere Verbindungen ablehnten. Die Fraktion der Opponenten gegen Zusammenarbeit mit der klassischen Archäologie und ihrer Forschungsorganisation wurde wesentlich stärker, als im Jahre des Hervortretens der R G K und des Todes von Rudolf Virchow Gustav Kossinna seine Lehrtätigkeit in Berlin aufnahm. Gustaf Kossinna (1858—1931) 92 hatte klassische und deutsche Philologie sowie Geschichte in Göttingen, Bonn, Berlin und Straßburg 90 Zur Geschichte der RGK vor allem W. Krämer, Fünfundsiebzig Jahre RGK ... (wie Anm. 84). Die Gründung wurde offiziell vollzogen durch kaiserliche Unterschrift am 20. Juli 1901 und Veröffentlichung der Satzung im Reichsanzeiger am 21. August 1901. Die konstituierende Sitzung der Kommission in Frankfurt a. M. erfolgte am 4. Januar 1904. 91

G. Rodenwaldt, Archäologisches

Institut...

(wie Anm. 89), S. 43.

Zu Kossinna u.a. Wilhelm Unverzagt, Gustaf Kossinnaf, in: Forschungen und Fortschritte 8 (1932), S. 63 f.; Rudolf Stampfuß, Gustaf Kossinna, ein Lehen für die Deutsche Vorgeschichte, Leipzig 1935 (in nationalsozialistischer Sicht verherrlichend); 92

114

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Grünert

studiert. In Berlin war er 1878—1880 von Karl Miillenhoff mit der auf philologischer Grundlage betriebenen germanischen und der indogermanischen Altertumskunde vertraut gemacht worden. Nach der Promotion mit einem Thema der philologischen Germanistik 1881 in Straßburg hatte er die Bibliothekslaufbahn eingeschlagen, die ihn 1892 wieder nach Berlin führte, wo er als wissenschaftlicher Bibliothekar 1900 zum Professor ernannt wurde. Von etwa 188793 an wandte sich Kossinna dem Studium der Sachaltertümer zu. In der Folgezeit entwickelte er seine sogenannte siedlungsarchäologische Methode. Sie geht davon aus, die Nachrichten der frühesten Schriftquellen über germanische und indogermanische Völker sowie ihre Siedlungsgebiete mit der zeitgleichen archäologischen Fundverbreitung zu verbinden. Die mit schriftlich bezeugten Ethnien vermeintlich identifizierten archäologischen Fundareale („Kulturprovinzen") verfolgte Kossinna dann in ihren räumlichen Veränderungen so weit nach rückwärts, wie es die Kontinuität der Formengenese erlaubt. Damit glaubte er, die Geschichte der am Beginn der retrospektiven Betrachtung stehenden Völker in die Tiefe der Urgeschichte verlängert zu haben. Als unumstößliche Axiome galten ihm zwei methodische Leitsätze, wonach scharf umgrenzte archäologische Kulturprovinzen ... sich zu allen Zeiten mit ganz bestimmten Völkern oder Volksstämmen gedeckt hätten 94 und die von Süden nach Norden eilenHans Jürgen Eggers, Einführung S. Klejn, Kossinna Vorgeschichte berichteaus Nachruf,

in die Vorgeschichte,

im Abstand

München 1959, S. 199—254; Leo in: Jahresschrift

von vierzig Jahren,

für

mitteldeutsche

58 (1974), S. 7—55; Günter Smolla, Das Kossinna-Syndrom, Hessen 1 9 / 2 0 ( 1 9 7 9 / 8 0 ) , S. 1—9; ders., Gustaf Kossinna

in: Acta Praehistorica

et Archaeologica

Gräfin Schwerin von Krosigk, Gustaf

Kossinna.

in:

Fund-

nach SO Jahren.

Kein

1 6 / 1 7 (1984/85), S. 9—14; Hildegard Der Nachlaß

— Versuch

einer

Ana-

lyse (= Offa-Ergänzungsreihe, Bd. 6), Neumünster 1982. Herangezogen wurden ferner aus den 1986 an der Fachrichtung Ur- und Frühgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin unter Anleitung des Verfassers erarbeiteten studentischen Jahresarbeiten zum Thema „Beiträge zur Geschichte der Ur- und Frühgeschichtsforschung an der Berliner Universität 1 8 1 0 — 1 9 8 5 " die unveröffentlichten Abhandlungen von Sven Ostritz („Kossinna vor 1902"), Ralf Mulsow ( „ 1 9 0 2 — 1 9 1 8 " ) , Dirk Westendorf ( „ 1 9 1 8 — 1 9 2 6 " ) und Kerstin Kirsch ( „ 1 9 2 6 — 1 9 3 1 " ) . Die Arbeiten erschließen bisher ungenutztes Material des Archivs der Humboldt-Universität zu Berlin, tragen als studentische Belegarbeiten jedoch Manuskriptcharakter und sind entsprechend nur eingeschränkt nutzbar. 93

Zu diesem Zeitansatz R . Stampfuß, Gustaf

G. Smolla, Das Kossinna-Syndrom...

Kossinna

...

(wie Anm. 92), S. 22;

(wie Anm. 92), S. 2; S. Ostritz, Kossina

...

(wie

Anm. 92), S. 3 f., mit neuem archivalischem Beleg. 94

gie,

Gustaf Kossinna, Die Herkunft Würzburg

der Germanen.

Zur Methode

der

Siedlungsarchäolo-

1911, S. 3. (2. Aufl., Neudruck, vermehrt durch Nachträge und

Ur- und Frühgeschichtsforschung

in Berlin

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den Ausbreitungswellen einer Cultur im allgemeinen nur für Culturwellen, dagegen die umgekehrt von Norden nach Süden gerichteten Verpflanzungen zusammenhängender Culturen oder charakteristischer Theile derselben für Ergebnisse von Völkerbewegungen zu halten sind.95 Mit dem programmatischen Vortrag über „Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland" auf der 26. Hauptversammlung der „Deutschen Anthropologischen Gesellschaft" am 9. August 1895 in Kassel stellte er seine Konzeption vor, 96 die er 1902 in einer selbstbewußt betitelten Abhandlung „die indogermanische Frage archäologisch beantwortet" 9 7 vertiefte. Aber erst in einer Schrift, die er der dritten Hauptversammlung seiner „Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte" 1911 in Koblenz vorlegte, 98 umriß er sie erstmals zusammenfassend. Niemals jedoch hat er sie ausführlich und beweiskräftig ausgearbeitet, noch gegen die an ihr schon seit ihrer Begründung geübten Zweifel überzeugend verteidigt, wohl aber seine Kritiker militant bekämpft. Seine methodische Konzeption verband Kossinna frühzeitig mit zeitgenössischen Strömungen von Nationalismus und Rassismus zu einem theoretischen Gebäude, das gelegentlich als „Kossinnaismus" bezeichnet, aber nicht präzise definiert worden ist. Für ihn und seine Anhänger wurde jedenfalls die Urgeschichtsforschung zu einem Mittel übertriebener und deshalb überheblicher Verherrlichung der Germanen und der rezenten Völker germanischen Blutes, vor allem der Deutschen. Die damit befaßte Disziplin, die „deutsche Vorgeschichte", galt ihm deshalb als hervorragend nationale Wissenschaft,99 auf deren NutKarten [= Mannus-Bibliothek 6], Leipzig 1920; Neuausgabe: Mannus-Bibliothek N. F. 4, Hückeswagen 1979.) 95 In: Zeitschrift für Ethnologie 34 (1902), S. 162. 96 Der Vortrag war wegen zu großer Ausdehnung nicht zu Ende geführt worden; vgl. Verhandlungen der BGAEU 1895, S. 636. Er fand daher erst nach seiner Veröffentlichung große Beachtung: Gustav Kossinna, Die vorgeschichtliche Ausbreitung der Germanen in Deutschland, in: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde 6 (1896), S. 1—14. 97 Gustaf Kossinna, Die indogermanische Frage archäologisch beantwortet, in: Zeitschrift für Ethnologie 34 (1902), S. 161—222. 98 G. Kossinna, Die Herkunft der Germanen... (wie Anm. 94). 99 Die deutsche Vorgeschichte eine hervorragend nationale Wissenschaft: Titel des Festvortrages von Gustaf Kossinna auf der 3. Hauptversammlung der Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte am 4. August 1911 in Coblenz (vgl. Mannus 4 [1912], S. 17— 19), monographisch veröffentlicht als Band 9 der Mannus-Bibliothek 1912. Drei folgende Auflagen wurden von Kossinna jeweils ergänzt und bearbeitet ( 1 9 1 4 , 1 9 2 1 , 1 9 2 5 ) . Unmittelbar nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung" wurden postum die

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zen als Herrschaftswissenschaft hinzuweisen, er nicht müde wurde, und deren politischer Mißbrauch in Deutschland damit seinen Anfang nahm. Mit ihr trugen Kossinna und seine Anhänger objektiv dazu bei, den in Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg vorhandenen Chauvinismus anzufachen. 100 Seine seit 1896 mit Museumsreisen verbundenen zeitaufwendigen prähistorischen Studien fanden nicht den Beifall seiner bibliothekarischen Vorgesetzten, und ihm selbst wurde der Bibliothekarsberuf bald lästig, weshalb er seit 1890 eine Museumstätigkeit oder ein akademisches Lehramt anstrebte. Von Persönlichkeiten, die die seit Müllenhoffs T o d e (1884) in Berlin verwaiste germanische Altertumskunde 101 reaktivieren wollten, war er schließlich ins Gespräch gebracht und am 19. Juli 1902 als außerordentlicher Professor für Deutsche Archäologie an die Universität berufen worden. Seine Erwartungen wurden damit nicht erfüllt. Der Status des Extraordinarius ohne Sitz in der Fakultät, 102 die geringe Besoldung in Höhe seiner Bibliothekarspension und die schlechte materielle Ausstattung eines „Prähistorischen Apparates" in einem abgelegenen Flur 103 im Germanischen Seminar (damals Dorotheenstraße 95/96) betrachtete er als Mißachtung der heimischen gegenüber der weit besser ausgestatteten klassischen Archäologie und als persönlichen Affront. Anerkennung fand Kossinna bei einer kleinen, aber engagierten Schar von Studenten, vor allem aus Mittel- und Ostdeutschland, aber auch aus Polen, Schweden, Spanien, Rumänien und Bulgarien. 104 Aus ihnen 5. und 6. Auflage (1933,1934) unverändert veröffentlicht, denen die von Werner Hülle im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie politisch akzentuierte 7. und die unveränderte 8. Auflage (1936, 1941) folgten. Die Gesamtauflage der acht Ausgaben betrug 35 000 Exemplare und war bis dahin von keiner Arbeit auf dem Gebiete der Urgeschichte erreicht worden. 100 Das Nachschlagewerk „Wer ist's", Ausgabe 1909, verzeichnet Kossinna als Mitglied vieler völkischer Vereine zu Berlin. 101 Miillenhoffs Berufungsgebiet „für deutsche Sprache, Literatur und Alterthumskunde" war nach seinem Tode auf „deutsche Sprache und Literatur" reduziert worden. 102 Erst 1912 erhielt Kossinna mit sechs weiteren Extraordinarii in der Fakultät Sitz und beschließende Stimme in Angelegenheiten seines Faches. Seit 1912 (Promotionsverfahren Walter Schulz) gab es Schwierigkeiten bei der Wahl von Vorgeschichte als Hauptfach, was zum Universitätswechsel einiger Doktoranden führte. Dagegen sind die Promotionen von Kiekebusch (1907), Blume (1910) und Jahn (1913) mit Vorgeschichte als Hauptfach erfolgt; vgl. dazu R. Mulsows ungedruckte Belegarbeit (wie Anm. 92), S. 10—12 und 17—20. 103 104

R. Stampfuß, Gustaf Kossinna... (wie Anm. 92), S. 27. Zusammenstellung der Studenten und Doktoranden Kossinnas bis 1918 bei

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gingen namhafte Prähistoriker hervor. Auch im Kreise von Bodendenkmalpflegern und Laienforschern fand Kossinna begeisterte Zustimmung. Nach seiner Habilitation im Jahre 1907 bereicherte Hubert Schmidt, Kustos an der Prähistorischen Abteilung der Königlichen Museen, als Privatdozent das Lehrangebot. 1913 wurde ihm der Professorentitel verliehen. Er öffnete Kossinnas auf die deutsche Vorgeschichte eingeengte Sicht, die die Behandlung der nicht in dieser Traditionslinie stehenden Kulturen weitgehend ausschloß, durch die Betonung beziehungsgeschichtlicher Verbindungen der mittel- mit den südosteuropäischen und vorderasiatischen Kulturen. Eine Festigung seiner Position in Berlin erwartete Kossinna nach dem Ausscheiden der verdienstvollen Leiter der prähistorischen Sammlungen, Albert Voß, der 1906 verstarb, und Ernst Friedel, dessen Pensionierung 1908 erfolgte. Kossinna, um Rat für eine fachgerechte Betreuung der prähistorischen Sammlung des Märkischen Museums gefragt, empfahl seinen ersten Doktoranden, Albert Kiekebusch (1870—1935), 1 0 5 der nach Ausbildung und Tätigkeit als Lehrer bei Kossinna studiert hatte. Unmittelbar nach seiner Promotion wurde Kiekebusch 1907 am Märkischen Museum angestellt. Er vollzog den Umzug der reichen ur- und frühgeschichtlichen Sammlung in das neue Gebäude am Köllnischen Park, das am 10. Juni 1908 eröffnet wurde. Obwohl es museumstechnisch seinen Anforderungen nicht voll genügte, 106 wurde es ein Zentrum des Berliner Kulturlebens. Die von Kiekebusch aufgebaute Ausstellung zur „Ur- und Frühgeschichte der Mark Brandenburg", die erstmals in Berlin auf der Basis archäologischer Kulturen nach dem historisch-chronologischen Prinzip erfolgt war, setzte Maßstäbe für belehrende und zugleich ästhetische Ausstellungsgestaltung. 107 Besondere Verdienste erwarb sich Kiekebusch bei der R. Mulsows ungedruckter Belegarbeit (wie Anm. 92), S. 17—20; von 1918 bis zu Kossinnas Emeritierung bei D. Westendorf, ungedruckte Belegarbeit (wie Anm. 92), S. 5— 7 und 15. 105 Zu Leben und Werk Kiekebuschs vgl. die Geburtstagswürdigungen und Nachrufe von Hermann Kügler, in: Brandenburgia 19 (1930), S. 1—7; Karl Hohmann, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 11 (1935), S. 97—100; Friedrich Solger, in: Brandenburgia 44 (1935), S. 34—38, und Carl Umbreit, in: Mannus 27 (1935), S. 247—249; ferner K. Kirschs ungedruckte Belegarbeit (wie Anm. 92), S. 36—41. 106 U. a. Herbert Hampe, Das Märkische Museum, 2., erw. Aufl., Berlin o. J. [1965], S. 15 f. 107 Brief von Kiekebusch an Kossinna vom 19. April 1909 in: H. Schwerin von Krosigk, Gustaf Kossinna... (wie Anm. 92), S. 155 und 189 f.

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Organisation der archäologischen Bodendenkmalpflege im Berliner Raum. Aus seinen archäologischen Untersuchungen ragt die von 1910—1914 betriebene Ausgrabung eines jungbronzezeitlichen Dorfes heraus, das beim Bau eines Krankenhauskomplexes in Buch, nördlich von Berlin, angeschnitten worden war.108 Kiekebusch blieb Kossinna verbunden, achtete aber darauf, in der sich zuspitzenden Parteiung der Archäologen in Berlin seine Unabhängigkeit und die des Märkischen Museums zu wahren. Kossinnas Hoffnungen, als Nachfolger von Albert Voß zum Direktor der „Vorgeschichtlichen Abteilung der Königlichen Museen" ernannt 109 und in Verbindung mit seinem Universitätsamt zum Oberhaupt der Urgeschichtsforschung in Berlin zu werden, wurden bitter enttäuscht, als 1908 Carl Schuchhardt (1859—1943)110 in dieses Amt berufen wurde. Schuchhardt war ein erfahrener Archäologe mit klassisch altertumswissenschaftlicher Ausbildung und prähistorischer Forschungspraxis, der als Gründungsdirektor zwei Jahrzehnte das Kestner-Museum in Hannover geleitet, dabei Museumserfahrung und seit seiner Praktikantenzeit Ausgrabungserfahrung erworben hatte, die ihn zum Begründer der prähistorischen Burgenarchäologie in Mitteleuropa hatten werden lassen. Er war mit der RGK und dem DAI verbunden, als dessen Reisestipendiat er 1886/87 entscheidende Impulse für seine wissenschaftliche Laufbahn empfangen hatte. Schuchhardt widmete sich der Berliner Museumsarbeit, der weiteren Ordnung und — trotz überquellender Magazine — der Erweiterung der reichen Sammlung, die unter seiner Leitung mit Alfred Götze und Hubert Schmidt als Kustoden ihre Geltung als Museum von internationalem Rang mit vielfältigen Auslandskontakten festigte. Mit seinen Ausgrabungen auf dem Burgwall „Römerschanze" bei Potsdam 1908 bis 1911 brachte er die Methoden der Burgenarchäologie nach Ostdeutschland. Ausgedehnte Studien- und Erwerbungsreisen führten ihn in zahlreiche Länder. Sein weiter Horizont befähigte ihn zu großen Synthesen 108 Albert Kiekebusch, Die Ausgrabungen des bronzezeitlichen Dorfes Buch bei Berlin, Berlin 1923. 109 Carl Schuchhardt, Aus Leben und Arbeit, Berlin 1944, S. 288. 110 Zu Schuchhardts Leben und Werk vgl. u. a. seine Autobiographie (wie Anm. 109), den Nachruf von Gerhart Rodenwaldt, in: Jahrbuch der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1950—1951, Berlin 1951, S. 161—167, und die biographische Skizze von Heinz Grünert, Von Pergamon bis Garz. Carl Schuchhardt — Begründer der prähistorischen Burgenarchäologie in Mitteleuropa, in: Das Altertum 33 (1987), S. 104— 113.

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über die urgeschichtliche Entwicklung Europas und der angrenzenden Mittelmeerregionen. Sie gipfelten in seiner 1919 vorgelegten und in folgenden Auflagen auf der Höhe des jeweiligen Forschungsstandes aktualisierten Studie über „Alteuropa". 111 Auch Erfahrungen der archäologischen Denkmalpflege übertrug er in sein neues Arbeitsgebiet. Seine „Denkschrift über die Notwendigkeit eines gesetzlichen Schutzes der Bodenaltertümer in Preußen" förderte den Erlaß des Preußischen Ausgrabungsgesetzes vom 26. März 1914, 112 dessen Einführung durch den Ausbruch des Krieges aber verzögert wurde. In Verbindung mit der B G A E U begründete Carl Schuchhardt in Zusammenarbeit mit anderen Fachwissenschaftlern die „Prähistorische Zeitschrift", die als zweites Organ der Gesellschaft seit 1909 erschien und der Urgeschichtsforschung wieder einen festen Platz in ihren Publikationen gab. 113 Kossinna, mit dem ein kollegiales Verhältnis herzustellen Schuchhardt nicht gelang, beantwortete dessen Berufung zum Museumsdirektor und zum Herausgeber einer großen Fachzeitschrift umgehend mit der Organisierung seiner Anhänger in der „Deutschen Gesellschaft für Vorgeschichte". Sie wurde in Beschleunigung seit 1905 verfolgter Pläne am 3. Januar 1909 im Märkischen Museum zu Berlin gegründet 114 und zur Verdeutlichung ihrer völkischen Zielsetzung 1913 in „Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte" umbenannt. Sie gewann in ganz Deutschland Anhänger, die Kossinna zu begeistern und im Sinne seiner nationalen Urgeschichtsauffassung zu beeinflussen vermochte und die ihm die offiziell versagte Anerkennung und Verehrung entgegenbrachten. Als Organ dieser Gesellschaft erschien von 1909 an die Zeitschrift „Mannus" und von 1910 an die ergänzende Monographien-Reihe „Mannus-Bibliothek", die für ihren Herausgeber Kossinna zum Sprachrohr in der sich verschärfenden Polarisierung der Urgeschichtsforschung wurde.

1,1 Carl Schuchhardt, Alteuropa in seiner Kultur- und Stilentwicklung, Berlin 1919; danach mit wechselnden Untertiteln 2. Aufl. 1926; 3. Aufl. 1935; 4. Aufl. 1941 und unverändert postum 5. Aufl. 1944. ' 12 Dieter Kaufmann, Einige Bemerkungen zur Bedeutung und Wirksamkeit des Ausgrabungsgesetzes von 1914 (= Quellen zur Entstehung des Preußischen Ausgrabungsgesetzes von 1914), in: Jahresschrift für mitteldeutsche Vorgeschichte 70 (1987), S. 219—250. 113 C. Schuchhardt, Aus Lehen und Arbeit... (wie Anm. 109), S. 287; Ch. Andree, Geschichte der BGAEU... (wie Anm. 50),S. 110; M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 6. 114 Bericht über die Gründung in: Mannus 1 (1909), S. 5—13.

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Ein tiefer Graben trennte nun die Vertreter einer deutschen Urgeschichtsforschung und ihre Anhänger, vor allem unter den Bodendenkmalpflegern, und die mit dem Königlichen Museum, dem DAI und der R G K verbundenen Archäologen, die die mitteleuropäische Urgeschichte im Gefüge der gesamten altweltlichen Entwicklung zu sehen bemüht waren. Die Exponenten dieser Lager — Kossinna und Schuchhardt — waren auch die Wortführer in den Auseinandersetzungen, für die ihre Fachorgane das Schlachtfeld bildeten. Dabei mangelte es nicht an Verbalinjurien, vor allem von seiten Kossinnas, der die Widersacher als Dilettanten in Sachen der heimischen Urgeschichte oder „Römlinge" zu disqualifizieren suchte. Schuchhardt war im Ton moderater, in der Sache nicht weniger konsequent. Das Verhältnis zwischen den Repräsentanten der Berliner Ur- und Frühgeschichtsforschung geriet zur Feindschaft. Diese spitzte sich noch zu, als Kossinnas wiederholt geforderte, zuletzt in seinem programmatischen Vortrag von 1911115 angemahnte Schaffung einer Vertretung für die heimische Archäologie in der „Preußischen Akademie der Wissenschaften" 1912 verwirklicht wurde, doch ganz und gar nicht in seinem Sinne. Das Plenum der Akademie wählte Carl Schuchhardt zum Ordentlichen Mitglied, der die Arbeit der Gelehrtengesellschaft von seinem ersten Vortrag am 30. Januar 1913 über „Westeuropa als alter Kulturkreis" 116 bis zu seinem Lebensende bereicherte. Endgültig unüberbrückbar wurden die Gegensätze zwischen Kossinna und Schuchardt bei der Rivalität um die Publikation des spätbronzezeitlichen Goldschatzes von Eberswalde. Dieser bemerkenswerte Fund des Jahres 1913 war vom Besitzer dem Kaiser dediziert worden, der ihn der prähistorischen Sammlung als Leihgabe überwies und Schuchhardt mit der Publikation beauftragte. 117 Kossinna kam ihm mit einer eigenen Veröffentlichung zuvor, 118 in der er erneut in beleidigenden Äußerungen Schuchhardt der Inkompetenz bezichtigte, damit aber auch die Sympathien zahlreicher Fachkollegen verlor, die ihm noch gegolten hatten. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges, sein Verlauf und die mit seinem Ausgang verbundenen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen ließen den Streit zwischen den archäologischen Parteien 1,5

Vgl. Anm. 99; zitiert nach 8. Aufl. 1941, S. 266 f. C. Schuchhardt, Aus Leben und Arbeit... (wie Anm. 109), S. 310. 117 Carl Schuchhardt, Der Goldfund vom Messingwerk bei Eberswalde, Berlin 1914. 118 Gustaf Kossinna, Der Goldfund von Messingwerk bei Eberswalde und die goldenen Kultgefäße der Germanen (= Mannus-Bibliothek, Bd. 12), Würzburg 1913. 116

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zeitweilig zurücktreten. Die tiefen Gräben aber wurden nicht zugeschüttet. Es herrschte Waffenstillstand, nicht Frieden. IV Der Ausgang des Krieges trieb Kossinna, mit geradezu missionarischem Eifer die Potenz der Urgeschichtsforschung als einer hervorragend nationalen Wissenschaft in das Arsenal der Tagespolitik einzubringen. 119 Auf Bitten deutscher nationaler Kampfbünde in Oberschlesien und Westpreußen verfaßte er Streitschriften mit den Titeln „Die deutsche Ostmark ein Urheimatboden der Germanen" 120 und „Das Weichselland ein uralter Heimatboden der Germanen". 121 Er richtete diese Schriften als Argumentationshilfen über die staatliche Zuordnung der Ostgebiete des Deutschen Reiches an die Friedenskonferenz zu Versailles und erhielt dafür den Dank des Auswärtigen Amtes. 122 Sie erfüllten Kossinnas Absicht nicht, beförderten aber das Zerwürfnis mit den polnischen Urgeschichtsforschern, an deren Spitze Jozef Kostrzewski stand, einer der begabtesten Schüler Kossinnas. Dieser machte mit der Methode seines Lehrers nun die polnische Urgeschichtsforschung zur „hervorragend nationalen Wissenschaft" im polnischen Sinne, wobei im gegenseitigen Schlagabtausch der Argumente die ethnische Interpretation archäologischer Funde in dieser Form ad absurdum geführt wurde. Die „Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte" setzte einerseits ihr Engagement in der Bodendenkmalpflege, andererseits die nationalistische Ausdeutung der Forschungsziele und -ergebnisse fort. Kossinna selbst betrachtete 1921 die dritte Auflage seiner „Deutschen Vorgeschichte" als würdige Weihegabe an das deutsche Volk als Baustein zur Wiederaufrichtung des außen gleicherweise wie innen zusammengebrochenen Vaterlandes. Für die archäologische Bodendenkmalpflege wurde die Arbeit an dem durch den Krieg unterbrochenen Gesetzeswerk wieder aufgenommen. Ausführungsbestimmungen vom 30. Juli 1920 konkretisierten das 1914 erlassene Ausgrabungsgesetz, und eine ergänzende Verfügung des Preußischen Ministeriums für Wissenschaft, Kunst und

119

H . J . Eggers, Einführung...

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In: Oberschlesien (1919), Heft 3.

(wie Anm. 92), S. 236.

121

Danzig 1919, kurz darauf 2. Aufl. Eine 3. und 4. Auflage besorgte während des

Zweiten Weltkrieges Hans Reinerth in Leipzig 1940 und 1943. 122

Gustaf Kossinna, in: M annus 1 1 / 1 2 (1919/20), S. 416.

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Volksbildung vom 6. April 1922 berief zwei Berliner Prähistoriker in die neu geschaffenen Ämter von Vertrauensmännern für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer: Alfred Götze, Kustos an der Vorgeschichtlichen Abteilung des Museums für Völkerkunde, der für die Provinz Brandenburg dieses Amt bis 1932 versah, und Albert Kiekebusch, seit 1919 Vorstand (seit 1922 Direktor) der vor- und frühgeschichtlichen Abteilung des Märkischen Museums, der diese Aufgabe für das Territorium des am 1. Oktober 1920 gebildeten Groß-Berlin übernahm und bis zu seiner Pensionierung 1935 ausübte. 123 Mit Kiekebusch war der am besten für dieses Amt Vorbereitete zum Landesarchäologen der deutschen Hauptstadt bestellt worden, da er die damit verbundenen Aufgaben schon seit mehr als einem Jahrzehnt wahrgenommen hatte. Mit dem 1915 gegründeten „Vorgeschichtlichen Seminar" am Märkischen Museum 124 hatte er die Tradition von Friedeis „Pflegschaft" auf eine höhere Ebene gehoben. Damit schuf er sich einen in der Praxis erfahrenen und in der Theorie geschulten Mitarbeiterstamm ehrenamtlicher Helfer, der auch jüngere Interessenten anzog, aus denen nach einem Fachstudium namhafte Prähistoriker hervorgingen. Der „Kiekebusch-Kreis" wurde zu einer angesehenen Einrichtung, die ihren Schöpfer überlebte. Ein besonderes Anliegen war dem ehemaligen Lehrer die obligatorische Einbindung der heimischen Urgeschichte in den Lehrplan der Berliner Volksschulen, die er 1915 erreichte. 125 Zur Ausgestaltung dieser Verfügung realisierte er zahlreiche Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung der Lehrer und zur Veranschaulichung des Schulunterrichts, unter anderem durch Wanderausstellungen in den Berliner Verwaltungsbezirken. Um die Erwachsenenbildung machte er sich seit 1910 als Dozent Berliner Volkshochschulen für das Lehrgebiet „Märkische Vorgeschichte" und als Autor anspruchsvoller populärer Literatur verdient. Die aus den Königlichen Sammlungen hervorgegangenen Staatlichen Museen wurden in den Nachkriegs jähren neu geordnet. Das ihnen zugewiesene Schloß nahm 1921 das Kunstgewerbemuseum auf, und

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H. Seyer, Zur Geschichte... (wie Anm. 55), S. 116. Albert Kiekebusch, Die Verbreitung vorgeschichtlicher Kenntnisse durch die vorgeschichtliche Abteilung des Märkischen Museums, in: Festschrift zur SO-Jahrfeier des Märkischen Museums, Berlin 1924; ders., in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 9 (1933), S. 3; Gertrud Dorka, 40 Jahre siedlungskundliche Übungen und Studien in Berlin, in: Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte 4 (1955), S. 73—80. 125 G. Dorka, 40Jahre... (wie Anm. 124), S. 76. 124

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dessen frei gewordenes Gebäude, der Martin-Gropius-Bau in der PrinzAlbrecht-Straße 7, in dem Heinrich Schliemann 1881 seine Trojanische Sammlung erstmals aufgestellt hatte, wurde der Vorgeschichtlichen Abteilung zugewiesen. 126 Ihre Eigenständigkeit wurde damit betont, obwohl sie formal noch immer dem Museum für Völkerkunde angehörte. 1922 begann Carl Schuchhardt unter schwierigsten materiellen Bedingungen 127 die Neuaufstellung. Sie erfolgte in historisch-chronologischer Ordnung in 19 (später 21) Sälen und gab vom Oktober 1923 an der Öffentlichkeit trotz bescheidener Ausstattung einen eindrucksvollen Uberblick über die europäische Kulturentwicklung von der Eiszeit bis zum Mittelalter. 128 Die BGAEU 1 2 9 hatte während des Ersten Weltkrieges ihre wissenschaftlichen Sitzungen voll aufrechterhalten und ihr internationales Ansehen behauptet, wenn sie auch ihre Forschungstätigkeit im Ausland nahezu einstellen und den Umfang ihrer Publikationen verringern mußte. Am 29. November 1919 beging sie während der revolutionären Auseinandersetzungen in Berlin den 50. Jahrestag ihrer Gründung. Den Festvortrag hielt Carl Schuchhardt, zu dieser Zeit Vorsitzender und auch in den Jahren davor und danach in den Leitungsgremien der Gesellschaft aktiv. In der Inflation verlor die Gesellschaft weitgehend ihr Vermögen und Stiftungskapital. 130 Die Mitte der zwanziger Jahre bilden für die Berliner Ur- und Frühgeschichtsforschung wiederum eine Zäsur: 1925 wurde Carl Schuchhardt, 1926 Gustaf Kossinna in den Ruhestand versetzt. Die Nachfolge Schuchhardts trat am 1. Oktober 1926 Wilhelm Unverzagt (1892 bis 1971)131 an, ein noch junger, damals weitgehend unbekannter Archäologe. Aus Wiesbaden stammend und schon als Schüler mit den Zeug-

126 Wilhelm Unverzagt, Die Prähistorische Abteilung des Museums für Völkerkunde in Berlin, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 3 (1927), S. 49—51; ders., Zur Hundertjahrfeier. .. (wie Anm. 26). 127 Vgl. dazu W. Unverzagt, Die Prähistorische Abteilung... (wie Anm. 126), S. 50. 128 Führer durch die Staatlichen Museen zu Berlin. Vorgeschichtliche Abteilung, BerlinLeipzig 1922. ,2 ' Ch. Andree, Geschichte der BGAEU... (wie Anm. 50), S. 112—115. 130 A. a. O., S. 122. 131 Zu Leben und Werk Unverzagte u. a. M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), sowie Geburtstagswürdigungen und Nachrufe von Ν. N., in: Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte 2 (1952), S. 25—27; Herbert Jankuhn, in: Praehistorische Zeitschrift 46 (1971), 8 S. Vorschalttext; Karl-Heinz Marschalleck, in: A. a. O., S. 1—3; Joachim Herrmann, in: Zeitschrift für Archäologie 5 (1971), S. 141 f.

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nissen des römischen Altertums vertraut, hatte er in Bonn, München und Berlin klassische Altertumswissenschaften und Geographie studiert, nach Kriegsverwundung unter anderem im Landesmuseum Wiesbaden und bei der R G K in Frankfurt am Main gearbeitet. Eine mehrjährige Tätigkeit in der deutschen Reparations- und Rücklieferungskommission unterbrach zwar seine fachliche Berufstätigkeit, doch sein Dienstsitz in Berlin erlaubte ihm Museumsstudien und die freiwillige Mitarbeit bei der Neuaufstellung der prähistorischen Sammlung, 1 3 2 wobei er Schuchhardts Wohlwollen gewann. Dieser stellte Unverzagt 1925 als Assistenten an, der im gleichen J a h r in Tübingen mit seinen bis heute anerkannten Studien über „Terra sigillata mit Rädchenverzierung" promovierte. Neben dem Direktorat wurde ihm 1927 die Herausgabe der „Praehistorischen Zeitschrift" und 1932 auch das A m t des Vertrauensmannes für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer in der Provinz Brandenburg übertragen. Gegen die Berufung Unverzagts und damit wieder eines „Nichtfachmannes" richtete sich erwartungsgemäß der U n m u t Kossinnas, 133 doch vermochte er nicht viel zu bewirken. Kossinna konnte sich nur noch auf seine Gesellschaft stützen. An die Berliner Universität wurde aus zahlreichen vorgeschlagenen Kandidaten 1 3 4 im Jahre 1927 Max Ebert (1879—1929) 1 3 5 im Status eines Extraordinarius berufen, doch mit dem deutlich erweiterten Berufungsgebiet der europäischen Vorgeschichte. Seine Lehrstätte wurde zum Vorgeschichtlichen Seminar erhoben, das im Westflügel des Universitätsgebäudes (Eingang D o r o theenstraße, R a u m 149) seinen Sitz erhielt, und Vor- und Frühgeschichte wurde durch Fakultätsbeschluß vom 12. Mai 1927 als Haupt- und Nebenfach zugelassen. Ebert war als Nachfolger weder im Sinne noch im Geiste Kossinnas. Zwar hatte auch Ebert germanische Philologie und Geschichte studiert, doch bereits 1 9 0 6 — 1 9 1 4 als Assistent in Carl Schuchhardts

M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 9. Berliner Deutsche Zeitung vom 26. März 1925; zitiert nach Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 1 (1925), S. 5. 134 Vgl. D. Westendorfs ungedruckte Belegarbeit (wie Anm. 92) nach Materialien im Archiv der Humboldt-Universität. Danach hatte Kossinna Aberg, mit Abstand dahinter Hahne, Jahn und Schulz genannt und sich gegen Ebert und Bremer ausgesprochen. 135 Zu Ebert vgl. u. a. die Nachrufe von Hans Seger, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 5 (1929), S. 177f.; Albert Kiekebusch, in: Praehistorische Zeitschrift 20 (1929), S. 341 f.; Gustaf Kossinna, in: M annus 22 (1930), S. 177—179; ferner Κ. Kirschs ungedruckte Belegarbeit (vgl. Anm. 92), S. 30—35. 132 133

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Museum den Blick auf gesamteuropäische Zusammenhänge geweitet, von 1922 an als Professor in Riga, von 1923 an in Königsberg sich mit der Urgeschichte des Baltikums und Südrußlands befaßt, vor allem aber als Herausgeber des vierzehnbändigen „Reallexikon der Vorgeschichte" — ehrenvoll bis heute als „Eberts Reallexikon" oder kurz als „Der E b e r t " bezeichnet — die Urgeschichte in weiter Dimension betrachtet und damit hohes internationales Ansehen erworben. Seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität kam leider nicht zum Tragen. Sie wurde mehrmals durch Krankheit unterbrochen und bereits am 15. November 1929 durch seinen frühen T o d abrupt beendet. An der Prähistorischen Staatssammlung entfaltete der neue Direktor, Wilhelm Unverzagt, eine vielgestaltige Tätigkeit, mit der er das Ansehen der Berliner Ur- und Frühgeschichtsforschung festigte und ausbaute. Am Museum richtete er von 1926 an eine zu Lehr- und Forschungszwecken viel in Anspruch genommene topographisch geordnete Studiensammlung ein, die nach ihrem Ausbau 22 Räume einnahm. Er erreichte, daß die größte deutsche und international bedeutsame Sammlung ur- und frühgeschichtlicher Altertümer endlich auch offiziell vom Museum für Völkerkunde getrennt und am 1. Februar 1931 als eigenständiges Museum für Vor- und Frühgeschichte im Verband der Staatlichen Museen zu Berlin bestätigt wurde. Der Fundzugang aus dem Ausland hatte stark abgenommen, er stammte jetzt aus der Denkmalpflege und Ausgrabungstätigkeit in Brandenburg sowie von fiskalischem Grund in Preußen und schließlich auch von Grundbesitz des Reiches in anderen deutschen Ländern. Durch diese Ausdehnung des Sammelgebietes erfüllte das Museum gewisse Funktionen eines Nationalmuseums. In seiner archäologischen Forschungstätigkeit konzentrierte sich Unverzagt in der Tradition Schuchhardts auf die ostdeutschen Burgwälle. Grabungen im Ausland führte er 1930/31 im bulgarischen Mazedonien und 1942/43 auf der Festung Belgrad durch. Besonderes Augenmerk widmete er der Verbesserung und Vertiefung der Zusammenarbeit in der archäologischen Forschung. 136 Dabei stand er im Lager derer, die eine umfassende Ur- und Frühgeschichtsforschung im Verband der archäologischen und altertumswissenschaftlichen Disziplinen zu betreiben suchten. Bereits 1924 war Unverzagt zum Korrespondierenden, 1927 zum Ordentlichen Mitglied des D A I gewählt worden, dessen Zentraldirektion seit 1919 bereits Schuchhardt ange136

Zum Folgenden M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt...

(wie Anm. 84).

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hörte. Unverzagt wurde 1930 beauftragt, ein Referat für prähistorische Forschung in Nord- und Ostdeutschland zur Information der Zentraldirektion aufzubauen, das Forschungskoordinierungen vorbereiten sowie fachliche Beziehungen zu Institutionen in nord- und osteuropäischen Staaten pflegen helfen sollte.137 Der RGK gehörte Unverzagt seit 1929 an, 1932 wurde er offizielles preußisches Mitglied. 138 1927 hatte Unverzagt maßgeblich bei der Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord- und ostdeutschen vor- und frühgeschichtlichen Wall- und Wehranlagen" mitgewirkt, die 1932 durch Umbildung zur „Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Vor- und Frühgeschichte des deutschen Ostens" 139 ihr Aufgabengebiet erweiterte. In diese Gremien bezog er westdeutsche Fachkollegen ein, darunter Gerhard Bersu, den damaligen Direktor der RGK, mit dem er seit jungen Jahren freundschaftlich verbunden war und lebenslang auch fachlich verbunden blieb. Beiden Arbeitsgemeinschaften präsidierte Carl Schuchhardt. Die Geschäftsführung lag in den Händen Unverzagte, der auch an der Gründung des „Ostdeutschen Verbandes für Altertumsforschung" im Jahre 1928 führend beteiligt war. Alle diese Gremien wollten die Ur- und Frühgeschichtsforschung koordinieren und damit stärken. Sie wollten nationalistischen Auffassungen polnischer Prähistoriker mit sachlichen Argumenten begegnen, hielten aber gleichzeitig Abstand zu Kossinnas Gesellschaft, die gerade in Ostdeutschland viele Mitglieder, auch unter den in den neuen Gremien vereinten Fachvertretern hatte. Gesucht und praktiziert wurden enge inhaltliche und personelle Kontakte zum DAI und zur RGK; ein zeitweilig gehegter Wunsch und Plan, eine Kommission beziehungsweise Institution für Deutsche Vor- und Frühgeschichte beim DAI zu schaffen, ließ sich jedoch nicht verwirklichen. Kossinna widmete sich nach seiner Emeritierung voll der von ihm gegründeten Gesellschaft. Verbittert durch vermeintliche und tatsächliche, vielfach selbst verschuldete Zurücksetzungen und Benachteiligungen verhärtete sich seine nationalistische Einstellung. Seine unbe-

137

Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 7 (1931), S. 80. Die Ernennung durch das Auswärtige Amt erfolgte am 10. April 1931. 138 Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 8 (1932), S. 176; 22. Bericht der RömischGermanischen Kommission (1932), S. 1. 13 ' Wilhelm Unverzagt, Gründung einer Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Vor- und Frühgeschichte des deutschen Ostens, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 8 (1932), S. 129—131.

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streitbaren Verdienste um die Organisierung der heimischen Archäologie, die Präzisierung der archäologischen Kultur als methodischer Kategorie der Ur- und Frühgeschichtsforschung und weitere methodische und theoretische Ansätze zur prähistorischen Archäologie wurden durch ihre Verkettung mit Nationalismus, Chauvinismus und Rassismus belastet und relativiert. Zu Ende seines Lebens trat Kossinna noch als einer der ersten dem von Alfred Rosenberg gegründeten „Kampfbund für Deutsche Kultur" bei. 140 Als er am 20. Dezember 1931 verstarb, hinterließ er ein nationalistisches Bild der deutschen Ur- und Frühgeschichte, das die Weltanschauung der Nazipartei fundierte, und darauf eingeschworene Anhänger. Nach der Errichtung der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland wurde Kossinna zu einem der Erzväter ihrer Ideologie erhoben. An der Friedrich-Wilhelms-Universität blieb die prähistorische Fachvertretung nach dem Tode Eberts fünf Jahre lang unbesetzt. Neben finanziellen Schwierigkeiten in diesen krisenbelasteten Jahren standen vor allem das Ringen der sich seit dem Beginn des Jahrhunderts in Berlin nach wie vor entgegenstehenden Auffassungen um Aufgaben und Standort der prähistorischen Archäologie und die Suche nach einem der jeweiligen Partei genehmen Kandidaten einer Lösung entgegen. Das Fach wurde nebenamtlich vertreten durch Hubert Schmidt, der am 1. März 1933 verstarb, sowie seit 1929 durch Wilhelm Unverzagt und Albert Kiekebusch als Lehrbeauftragte für die gesamte beziehungsweise die märkische Vorgeschichte. Beide wurden 1932 zu Honorarprofessoren ernannt. Für die Neubesetzung wurden von Fachvertretern, die dem DAI nahestanden, unter anderem von Merhart, Obermaier, Menghin und Sprockhoff ins Gespräch gebracht, von den Kreisen um die Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte im Laufe der Zeit 16 Kandidaten benannt, darunter Jahn, Reinerth, von Richthofen. 141 Als Hugo Obermaier den 1932 an ihn ergangenen Ruf ablehnte, 142 wurden neue Diskussionen nötig. Ein letzter Kommissionsvorschlag vom 30. Juni 1933 nennt von Richthofen und Sprockhoff. Die Entscheidung fiel erst fast eineinhalb Jahre später unter eindeutig politischer Motivation. 140 Hans Reinerth, Nachruf auf Gustaf Kossinna, in: Nationalsozialistische Monatshefte 3 (1932), H. 27, S. 259—261. 141 M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 29. Verarbeitung der Materialien des Archivs der Humboldt-Universität zu diesem Vorgang in den unveröffentlichten Belegarbeiten von D. Westendorf und K. Kirsch (wie Anm. 92). 142 Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 8 (1932), S. 79 und 192.

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Das nationalsozialistische Regime bemühte sich seit seiner Installierung zielstrebig, die von Kossinna propagierten Potenzen der Ur- und Frühgeschichtsforschung als hervorragend nationaler Wissenschaft auszuschöpfen. In ganz Deutschland wurde die materielle und personelle Ausstattung dieses Faches wesentlich verbessert und besonders ihre Vertretung an den Hochschulen verstärkt. In Berlin wurde die Vakanz beendet, ein planmäßiger Lehrstuhl für Vorgeschichte und germanische Frühgeschichte — gebunden an ein gleichnamiges Institut — geschaffen und mit Wirkung vom 1. November 1934143 mit Hans Reinerth (1900—1990) 144 besetzt. Reinerth stammte aus Siebenbürgen. Er hatte in Tübingen studiert, promoviert, habilitiert und war dort seit 1925 Privatdozent. Bereits bei der Diskussion um die Nachfolge Kossinnas war sein Name genannt, für das Wintersemester 1928/29 war er von Ebert als sein Krankenvertreter empfohlen und nach dessen Tode wiederum von Kossinna vorgeschlagen worden. Von anderen wurden gewichtige Einwände unter Hinweis auf charakterliche Mängel Reinerths vorgebracht.145 Die Lehrtätigkeit nahm Reinerth 1935 auf. Er kündigte für jedes Semester ein umfangreiches Programm von durchschnittlich acht Wochenstunden an, doch wurde wiederholt kritisiert, daß er seine Universitätsverpflichtungen zugunsten der Tätigkeit für die NSDAP vernachlässige. Von den Honorarprofessoren schied Kiekebusch durch den Tod aus, Unverzagt, der bereits 1933 aus der Umgebung Reinerths wegen demokratischer Gesinnung, Liberalismus und Juden-

143 Rückwirkende Berufung laut der am 2. Mai 1935 ausgefertigten Urkunde: Archiv der Humboldt-Universität, vgl. Th. Hucks ungedruckte Belegarbeit (wie Anm. 144), Anlage 2. 144 Zu Reinerth u.a. Reinhard Bollmus, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970; Michael H. Kater, Das Ahnenerbe der SS 1935—1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, Stuttgart 1974. Verwendet wurden außerdem aus den unveröffentlichten „Beiträge(n) zur Geschichte der Ur- und Frühgeschichtsforschung an der Berliner Universität..(wie Anm. 92) die Arbeiten von Thomas Huck (vor 1934), Konstanze Jurzok (1933—1939), Mathias Becker (1939—1945) und Konstantin Leinhos (nach 1945). 145 Archiv der Humboldt-Universität, ausgewertet und nachgewiesen in den ungedruckten Belegarbeiten von K. Kirsch (wie Anm. 92), Th. Huck und K. Jurzok (wie Anm. 144).

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in Berlin

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freundlichkeit denunziert worden war,146 zog sich mit materialkundlichen und museumsmethodischen Übungen in sein eigenes Haus zurück. In der Folgezeit unterstützten Franz Klinghardt und Friedrich Solger mit diluvialer Paläontologie beziehungsweise Geologie die Lehre. Außerdem bereicherten zeitweilig auch Fritz Wiegers für Vorgeschichte der Diluvialzeit (von 1937 an), Peter Paulsen (1938/39) und Adolf Mahr (1941/42) das Lehrangebot. 147 Trotz Indoktrinierungen erfolgte eine vielseitige, auf Praxis hin orientierte Lehrtätigkeit. Das Institut war seit 1936 in einem Hause der Deutschen Forschungsgemeinschaft am Matthäikirchplatz 8, nahe dem Potsdamer Bahnhof, angemessen untergebracht. Reinerth leitete eine Reihe von Ausgrabungen, unter anderem 1938—1941 auf neolithischen Siedlungsplätzen am Dümmersee, Kreis Diepholz (Niedersachsen). Seinen populären Vorveröffentlichungen blieb im Ergebnis von Nachuntersuchungen 148 der Vorwurf nicht erspart, im Interesse des Nachweises urgermanischer Kulturhöhe geschönt worden zu sein. Unter Reinerths Publikationen ragt das von ihm 1940 im Auftrage des Reichsbundes sowie des Amtes Rosenberg herausgegebene und mitverfaßte dreibändige Werk über die „Vorgeschichte der deutschen Stämme" heraus, das vorrangig propagandistische Ziele verfolgte. Reinerth verstand sich als Erbe und Fortsetzer Kossinnas im Kampf um die nationale Bedeutung der Ur- und Frühgeschichte, radikalisierte dessen Auffassungen noch und verband sie kompromißlos mit den politischen Zielsetzungen der nationalsozialistischen Bewegung,149 auf die er seit 1931 uneingeschränkt setzte. In diesem Jahre war er Alfred Rosenbergs „Kampfbund für Deutsche Kultur" beigetreten, 1932 wurde er Leiter seiner Abteilung für deutsche Vorgeschichte und 1934 Leiter der Abteilung (seit 1937 des Amtes) für Vor- und Frühgeschichte in der neu errichteten Dienststelle des „Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP", dem nach seinem Leiter benannten

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Archiv der Humboldt-Universität, vgl. K. Jurzok, ungedruckte Belegarbeit (wie Anm. 144), S. 41 und 50. 147 Johannes Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, Bd. 1, 1810—1945, Leipzig 1955. 148 Jürgen Deichmüller, Die neolithische Moorsiedlung Hunte I am Dümmer, in: Neue Ausgrabungen und Forschungen in Niedersachsen 4 (1969), S. 28—36. 149 Bettina Arnold, The Past as Propaganda: Totalitarian Archaeology in Nazi Germany, in: Antiquity 64 (1990), S. 464—478.

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„Amt Rosenberg", 150 womit er sich für die Berufung an die Berliner Universität bestens empfahl. War auch die Bedeutung dieser Dienststelle im öffentlichen Leben gering, so konnte Reinerth doch mit der ihm verliehenen politischen Macht störend in die deutsche Ur- und Frühgeschichtsforschung eingreifen und das Gewicht im Ringen um eine germanozentrische oder weite vorderasiatisch-europäische Urund Frühgeschichtsforschung auf die nationale Seite verlagern. Dennoch scheiterte sein Auftrag und eigenes Bestreben, ein mit Weisungsbefugnis für die gesamte Forschungs- und Lehrtätigkeit der Disziplin ausgestattetes „Reichsinstitut für Vorgeschichte und germanische Frühgeschichte" zu schaffen, 151 um damit zugleich die R G K und das DAI zu beschränken, wenn nicht zu beseitigen. Begrenzten Erfolg hatte er dagegen bei der in Rosenbergs Auftrag betriebenen Gleichschaltung ur- und frühgeschichtlicher Fachverbände. Er setzte sich an die Spitze der von Kossinna gegründeten Gesellschaft, die nach dessen Tode von Alfred Götze geleitet worden war, und begann bereits 1933 ihre Umwandlung in den nach dem Führerprinzip organisierten „Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte", die durch Mitgliederbeschluß am 9. Mai 1934 offiziell vollzogen wurde. Die Organe des Reichsbundes waren neben „Mannus" und der — nun fremdwortbereinigt — „Mannus-Bücherei" die 1936 gegründete, auf Massenwirksamkeit orientierte Monatszeitschrift „Germanen-Erbe". Die Selbstbestimmung des Reichsbundes besagt: Im Sinne Gustav Kossinnas, des Vorkämpfers der artgebundenen deutschen Vorgeschichtsforschung, dient der Reichsbund für Deutsche Vorgeschichte dem nordischen Gedanken, lehnt den Romanismus in allen seinen Erscheinungen ab und kämpft für die restlose A usmerzung der Lüge von der Unkultur unserer germanischen Vorfahren,152 Den machtbesessenen Bestrebungen Reinerths entgegen standen einerseits die sich zunehmend enger um R G K und DAI scharenden Archäologen, in Berlin vor allem Schuchhardt und Unverzagt, andererseits aber kurioserweise die in den Machtkämpfen innerhalb der NS-

R. Bollmus, Das Amt Rosenberg... (wie Anm. 144), bes. S. 153—235. Im jahrelangen Tauziehen um die Errichtung des Reichsinstituts änderte sich mehrfach dessen vorgesehene Bezeichnung. Die hier verwendete Benennung nach Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 10 (1934), S. 192, wo auch bereits die vollzogene Berufung Reinerths zu dessen Direktor mitgeteilt wurde. 150 151

Präambel des Mitgliederverzeichnisses 1939; zitiert nach M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 47. 152

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Berlin

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Hierarchie latenten Spannungen und Differenzen zwischen Rosenberg und dem mächtigeren Reichsführer SS, Heinrich Himmler, der ebenfalls Interesse am Einfluß auf die Ur- und Frühgeschichtsforschung bekundete. Die SS begann, Ausgrabungen durchzuführen („SSAusgrabungswesen") und Ausstellungen sowie Publikationen zu fördern. Von 1938 an fand die Ur- und Frühgeschichtsforschung einen festen Platz in dem von Himmler 1935 gegründeten, seit 1937 straffer organisierten und mit einer Stiftung verbundenen Verein „Ahnenerbe". 1 5 3 Eine Anzahl Prähistoriker entzog sich Reinerths penetranten Bevormundungen und anmaßenden Ansprüchen und lehnte sich an das „Ahnenerbe" an, das ihnen relativ gute Arbeitsbedingungen gewährleistete. 1 5 4 Reinerths Einfluß, den er bei der Mehrzahl der Fachvertreter ohnehin nie besessen hatte, schwand seit 1937 zunehmend, nicht zuletzt infolge mehrerer Vorgänge unehrenhaften Verhaltens und charakterlicher Defizite, die auch ehemalige Anhänger, darunter Parteigenossen, veranlaßten, von ihm abzurücken und zur Einleitung von Disziplinar- und Ehrengerichtsverfahren gegen ihn führten. 1 5 5 Den Repräsentanten der Berliner Ur- und Frühgeschichtsforschung blieben Konzessionen an die herrschende Ideologie und Anpassungsstrategien nicht erspart. Insgesamt aber haben sich Carl Schuchhardt und Wilhelm Unverzagt nicht zu chauvinistischen, rassistischen oder antihumanen Konzeptionen bekannt. Vor allem hielten sie zu Reinerth und seinen Zielen nicht nur Distanz, sondern wirkten ihnen entgegen. Die von Unverzagt 1932 gegründete Arbeitsgemeinschaft stellte 1934 ihre Tätigkeit ein. Der Ostdeutsche Verband für Altertumsforschung, in dem Anhänger Kossinnas starkes Gewicht hatten, Schloß sich dem Reichsbund an. Das Staatliche Museum für Vor- und Frühgeschichte aber, das als korporatives Mitglied der Gesellschaft für Deutsche Vorgeschichte angehört hatte, trat nach deren Umwandlung in den „Reichsbund" 1935 aus. 156 1938 wurde Unverzagt als Vertrauensmann für die Bodendenkmalpflege Brandenburgs, für die ein eigenes Amt geschaffen wurde, entpflichtet. Dabei spielte der Vorwurf mit, sich zu stark mit der slawi-

153

M. H . Kater, Das „ Ahnenerbe"

154

A.a.O.,

. . . (wie Anm. 144).

bes. S. 114—116 und 139—142; R. Bollmus, Das Amt Rosenberg...

(wie

Anm. 144), bes. S. 221—235. 155

R. Bollmus, Das Amt

Rosenberg...

(wie Anm. 144); K. Jurzoks ungedruckte

Belegarbeit (wie Anm. 144). 156

M. Unverzagt, Wilhelm

Unverzagt...

(wie Anm. 84), S. 37f.

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sehen Archäologie und Frühgeschichte befaßt zu haben. 157 Die Berliner Bodendenkmalpflege blieb beim Märkischen Museum und wurde seit 1936 von Otto-Friedrich Gandert (1898—1983) 1 5 8 wahrgenommen, der nach erfolgreicher Tätigkeit am Museum Kaisertrutz in Görlitz als Nachfolger Kiekebuschs zum Leiter der vorgeschichtlichen und zugleich der naturwissenschaftlichen Abteilung des Museums bestellt worden war. Unter seiner Leitung betrieb das Märkische Museum größere Ausgrabungen auf slawischen Siedlungen in Berlin-Kaulsdorf und Berlin-Mahlsdorf sowie einer germanischen Ansiedlung in Kablow, Kreis Königs Wusterhausen. 159 Die B G A E U suchte ihre Arbeit in den bewährten Bahnen fortzusetzen. Zugeständnisse mußte sie in ihrem Statut, bei der Wahl ihrer Vortragsthemen und — besonders beschämend — bei der „Arisierung" ihrer Mitgliederliste machen, doch bot sie andererseits diskriminierten, vor allem „nichtarischen" Wissenschaftlern so weit wie möglich Arbeitsmöglichkeiten in ihrer Bibliothek. 160 Am 22. Juni 1939 wählte das Plenum der Akademie mit überzeugender Mehrheit Unverzagt zu ihrem Mitglied. Die beantragte Bestätigung beim zuständigen Reichsministerium wurde jedoch versagt, da die Akademie das daran geknüpfte Junktim, gleichzeitig Reinerth zum Mitglied zu wählen und zur Bestätigung einzureichen, nicht einzugehen bereit war. 161 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges am 1. September 1939 schränkte mit dem gesamten geistigen und kulturellen Leben auch die Ur- und Frühgeschichtsforschung ein. Die Ausgrabungen kamen zum Erliegen. Die Museen wurden geschlossen, ihre Bestände verpackt und während der ersten Kriegsjahre an bombensicheren Orten deponiert, 162 157 A. a. O., S. 47; Mechthilde Unverzagt, Materialien zur Geschichte des Staatlichen Museums für Vor- und Frühgeschichte zu Berlin während des Zweiten Weltkrieges — zu seinen Bergungsaktionen und seinen Verlusten, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz 25 (1988), S. 315—384. 158 Zu Gandert vgl. u. a. die Nachrufe von Adriaan von Müller, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 16/17 (1984/85), S. 7f., und in: Ausgrabungen in Berlin 7 (1986), S. 5f. 159 Zusammenfassend H. Seyer, Zur Geschichte... (wie Anm. 55), S. 116; ders., Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung und die Bodendenkmalpflege... (wie Anm. 55), S. 133. 160 Ch. Andree, Geschichte der BGAEU... (wie Anm. 50), S. 125—131. 161 Joachim Herrmann, Wilhelm Unverzagt und die Berliner Akademie der Wissenschaften, in: Ausgrabungen und Funde 27 (1982), S. 266—272; M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 49. 162 Zur Geschichte der Sicherungs- und Bergungsmaßnahmen für die Berliner

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darunter im sogenannten Flakturm am Zoo. Das Museum für Vor- und Frühgeschichte brachte weitere Teile seiner umfangreichen Sammlung in seine 1937 eingerichtete Außenstelle im Gutshaus von Lebus nördlich Frankfurt an der Oder, wo bereits die Materialien von Unverzagts Burgengrabungen im Oder-Warthe-Gebiet lagerten. Andere Bestände und Teile der Bibliothek wurden nach Schlesien, in das Schloß Peruschen, Kreis Wohlau, verlagert. Angesichts der rasch heranrückenden Front und unter dem Eindruck der an Stärke zunehmenden Luftangriffe wurden noch im Frühjahr 1945 auf Binnenwasserstraßen Museumsbestände in Stollen der Kalibergwerke von Schönebeck bei Magdeburg, Grasleben bei Helmstedt und Kaiseroda-Merkers bei Bad Salzungen eingelagert. Nachdem das Universitätsinstitut bereits im November 1943 ausgebrannt war, zerstörte ein schwerer Luftangriff auf Berlin am 3. Februar 1945 das schon bei früheren Angriffen in Mitleidenschaft gezogene Gebäude des Museums für Vor- und Frühgeschichte. 163 Schloß und Märkisches Museum wurden schwer beschädigt. Im Museum für Vor- und Frühgeschichte verbliebene Kisten mit Exponaten sowie Magazinbestände und unbearbeitete Neufunde wurden verschüttet und teilweise vernichtet.

VI Unmittelbar nach dem Waffenstillstand setzte Wilhelm Unverzagt in der schwer zerstörten Stadt seine Anstrengungen fort, Museumsgut zu sichern und der durch politischen Mißbrauch im nationalsozialistischen Regime belasteten Disziplin 164 eine neue Basis zu schaffen. Zunächst blieb ihm der Erfolg versagt. Noch in Berlin befindliche Bestände von großer kulturhistorischer und wissenschaftlicher Bedeu-

Museumsschätze: Irene Kiihnel-Kunze, Bergung — Evakuierung — Rückführung. Die Berliner Museen in den Jahren 1939—1959 (= Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz, Sonderband 2), Berlin 1984; M. Unverzagt, Materialien... (wie Anm. 157). 163 Wilhelm Unverzagt, 15 Jahre Vor- und Frühgeschichtsforschung bei der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Ausgrabungen und Funde 7 (1962), S. 255— 259. 164 U. a. Wilhelm Unverzagt, Die Vor- und Frühgeschichtsforschung am 10. Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik, in: Ausgrabungen und Funde 4 (1959), S. 163; M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 84), S. 49; vgl. auch R. Bollmus, Das Amt Rosenberg... (wie Anm. 144), und M . H . K a t e r , Das „Ahnenerbe"... (wie Anm. 144).

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tung, darunter im Schloß sowie im Flakturm am Zoo verbliebene Kisten des Museums für Vor- und Frühgeschichte, wurden von sowjetischen Kunstschutzeinheiten sichergestellt und in die Sowjetunion verbracht. Unverzagt wurde am 18. Juli 1945 als Museumsdirektor entlassen,165 und der Antrag, ihn mit dem Wiederaufbau einer Fachvertretung an der Universität zu beauftragen, wurde vom Berliner Magistrat nicht genehmigt. Als einzige der Berliner ur- und frühgeschichtlichen Sammlungen hatte die des Märkischen Museums mit nur geringen Verlusten den Krieg in ihrem Auslagerungsdepot überstanden. Sie wurde unter dem Vorwand mangelnder Unterbringungsmöglichkeit jedoch von der Direktion abgegeben 166 und fand schließlich Aufnahme im Magazin der seit Juni 1945 unter provisorischer Verwaltung des Berliner Magistrats stehenden ehemals Staatlichen Museen in Berlin-Dahlem. Im Zentrum der Stadt war das Gebäude der Preußischen Akademie benutzbar geblieben. Es wurde zum Sitz der künftig als „Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin" wirkenden Gelehrtengesellschaft, die nach dem Vorbild der „Sowjetischen Akademie der Wissenschaften" zum Forschungszentrum entwickelt wurde und Fachinstitute aufzubauen begann. Ihre Leitung beauftragte Unverzagt schon im Februar 1946, Vorschläge zur Wiedererrichtung der Ur- und Frühgeschichtsforschung zu erarbeiten. Er erfüllte diese Aufgabe in intensiven Konsultationen mit namhaften deutschen Fachvertretern und -Institutionen, vor allem der R G K und der Zentraldirektion des DAI. Von dieser waren bereits im August 1945 Pläne über die Perspektiven der archäologischen Forschung, darunter der Ur- und Frühgeschichtsforschung in Deutschland, vorgelegt worden. 167 Im Juni 1947 wurde bei der Deutschen Akademie eine Kommission für Vor- und Frühgeschichte gegründet, die unter Leitung Wilhelm Unverzagts zum Koordinierungszentrum der Ur- und Frühgeschichtsforschung im ostdeutschen Raum wurde. Zu ihren Mitgliedern zählten zahlreiche Persön165

M. Unverzagt, Materialien... (wie Anm. 157), S. 350. U.a. G. Dorka, Die Wiedereröffnung... (wie Anm. 85), S. 93; Otto-Friedrich Gandert, Museum für Vor- und Frühgeschichte, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1 (1962), S. 240; H. Hampe, Das Märkische Museum... (wie Anm. 106), S. 28; H. Seyer, Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung... (wie Anm. 106), S. 28; H. Seyer, Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung... (wie Anm. 55), S. 17; ders., Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung und die Bodendenkmalpflege... (wie Anm. 55), S. 133. 166

147

M. Unverzagt, Wilhelm Unverzagt...

(wie Anm. 84), S. 50 f.

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in

Berlin

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lichkeiten, die Unverzagt bereits 1932 in der „Arbeitsgemeinschaft für die Erforschung der Vor- und Frühgeschichte des deutschen Ostens" zusammengeführt hatte. Nachdem Mitarbeiter und Freunde des Museums für Vor- und Frühgeschichte sich schon bald nach Kriegsende gesammelt und begonnen hatten, die Arbeit wieder in Gang zu setzen, konnte 1947 in noch nutzbaren Räumen des benachbarten, nach Dahlem umgezogenen Museums für Völkerkunde (Stresemannstraße 110) in bescheidenem Umfang wieder ein regulärer Dienstbetrieb aufgenommen werden. Das Haus gehörte, wie das zerstörte Stammgebäude des Museums für Vorund Frühgeschichte, zu den wenigen Einrichtungen der Staatlichen Museen, die sich in den Sektoren der westlichen Alliierten befanden. Zur Leiterin wurde Gertrud Dorka (1893—1976) 1 6 8 bestellt, eine aus dem Kiekebusch-Seminar hervorgegangene Lehrerin, die 1930—1936 Anthropologie, historische Geographie sowie Vor- und Frühgeschichte studiert und in diesem Fach 1936 in Kiel bei Gustav Schwantes promoviert hatte. Sie begann ihre Museumstätigkeit damit, in selbstloser, harter und gefährlicher Arbeit mit wenigen Helfern aus den Trümmern des Gropius-Baus verschüttete und in verschiedenen Stockwerken der Ruine erhaltene Reste der Sammlung zu bergen. Um diese nicht Plünderern zu überlassen, lehnte sie den angebotenen Umzug in geeignetere, aber entferntere Gebäude ab. 1948 widmete sie sich in nicht minder aufopferungsvollem Einsatz der Rettung von Museumsgut aus der Ruine des Gutshauses von Lebus, 1 6 9 das in noch nutzbaren Räumen des Berliner Schlosses untergebracht wurde. 170 Die Sammlung des Märkischen Museums wurde vom Museum für Vor- und Frühgeschichte zur treuhänderischen Pflege und Nutzung übernommen. 171 Die Zuspitzung der politischen Differenzen zwischen den ehemaligen Alliierten der Anti-Hitler-Koalition kulminierten in Berlin und 168 Biographisches zu Gertrud Dorka in Geburtstagswürdigungen und Nachrufen von Otto-Friedrich Gandert, in: Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte 6 (1957), S. 49—51; Karl Hohmann, in: A. a. O., 10 (1963), S. 1—4; Adriaan von Müller, in: Ausgrabungen in Berlin 3 (1972), S. 5, und in: A. a. O., 5 (1980), S. 175f. G. Dorka, Museum für Vor- und Frühgeschichte... (wie Anm. 41), S. 122; dies., Die Wiedereröffnung... (wie Anm. 85), S. 93; M. Unverzagt, Materialien... (wie Anm. 157), S. 361—365. 170 O.-F. Gandert, Museum für Vor- und Frühgeschichte... (wie Anm. 166), S. 240.

G. Dorka, Die Wiedereröffnung... (wie Anm. 85), S. 93; O.-F. Gandert, Museum für Vor- und Frühgeschichte... (wie Anm. 166), S. 239; H. Seyer, Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung und die Bodendenkmalpflege... (wie Anm. 55), S. 133. 171

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führten 1948 zur Spaltung der Stadt, die mit dem Mauerbau am 13. August 1961 betoniert wurde. Seit 1948 nahm deshalb auch die Ur- und Frühgeschichtsforschung in Berlin eine getrennte Entwicklung. Ihre durch die Interessen der Großmächte und der von ihnen beherrschten, in Berlin aufeinanderprallenden Systeme und Blöcke politisch determinierten Strukturen, Aufgaben- und Frontstellungen konnten durch persönliche kollegiale Konakte stellenweise gemildert, aber weder aufgehoben noch verändert werden. 172

Im Ostteil der Stadt 1 7 3 entwickelte sich an der Deutschen Akademie der Wissenschaften ein Zentrum der Ur- und Frühgeschichtsforschung. Das Plenum der Akademie erneuerte seine 1939 vollzogene Wahl Unverzagts, der mit Datum vom 25. März 1949 als Ordentliches Mitglied bestätigt wurde. 174 Unter seiner Leitung war die 1947 gegründete Kommission mit einer Arbeitsstelle für Vor- und Frühgeschichte verbunden worden, die in der Etage eines Mietshauses (Chausseestraße 13) untergebracht war. Reste der Bibliotheken und andere Arbeitsmaterialien des Museums für Vor- und Frühgeschichte sowie des ehemaligen Universitätsinstituts wurden ihr als Erstausstattung zugewiesen. 175 Aus der Kommission ging im April 1952 die bei der Gesellschaftswissenschaftlichen Klasse der Akademie gebildete Sektion für Vor- und Frühgeschichte hervor. Aus der Arbeitsstelle entstand am 14. Oktober 1953 das „Institut für Vor- und Frühgeschichte der Deutschen Akademie", das 1957 ausreichende Arbeitsräume im ehemaligen Preußischen Herrenhause, Leipziger Straße 3—4, erhielt: in Sichtver-

172 Bei der Darstellung der noch nicht ausreichend aufgearbeiteten Ereignisse seit 1948 begnügt sich Vf. mit einem skizzenhaften Abriß der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung unter Hervorhebung der chronologischen Abläufe. 173 Zur Dokumentation der Fakten zur Ur- und Frühgeschichtsforschung in OstBerlin vgl. den Mitteilungsteil der Zeitschrift Ausgrabungen und Funde, dazu seit 1974 die Mitteilungen zur Alten Geschichte und Archäologie in der DDR. Einige Daten sind auch den kritischen, unter dem Aspekt der Ost-West-Konfrontation aber nicht emotionslos geschriebenen und stellenweise betont polemisch gehaltenen Uberblicken von Ulrich Hansen, Ur- und Frühgeschichte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Bonn-Berlin 1964, und Hermann Behrens, Die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft in der DDR von 1945—1980, Frankfurt a. M. 1984, zu entnehmen. 174 J . Herrmann, Wilhelm Unverzagt... (wie Anm. 161). 175 W. Unverzagt, Die Vor- und Frühgeschichtsforschung... (wie Anm. 164), S. 163; I. Kühnel-Kunze, Bergung — Evakuierung — Rückführung... (wie Anm. 162), S. 109.

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bindung mit dem früheren Museum für Vor- und Frühgeschichte, aber durch Sektorengrenze und schließlich durch die Mauer unerreichbar von ihm getrennt. Die Sektion stellte sich die Aufgabe, eine Koordinierung der Forschung und eine reibungslose Zusammenarbeit aller beteiligten Stellen und Personen im Gebiet der DDR herbeizuführen.176 Zur Wahrung innerdeutscher Wissenschaftsbeziehungen wurden Kontakte zu wichtigen Fachinstitutionen gepflegt und bis 1961 Repräsentanten der westdeutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung zu Mitgliedern gewählt. Eine von der Sektion erarbeitete „Verordnung zum Schutze und zur Erhaltung der ur- und frühgeschichtlichen Bodenaltertümer" wurde am 28. Mai 1954 in Kraft gesetzt 177 und gab der Bodendenkmalpflege in der D D R eine einheitliche rechtliche Grundlage. Die Sektion begründete 1953 die Monographienreihe „Schriften der Sektion für Vor- und Frühgeschichte" und 1956 das Nachrichtenblatt „Ausgrabungen und Funde". Sie förderte zahlreiche Ausgrabungen und verband die Ur- und Frühgeschichtsforschung der D D R mit der internationalen Forschungsorganisation. Das gleichfalls von Wilhelm Unverzagt geleitete „Institut für Vorund Frühgeschichte" widmete sich in Wiederaufnahme der Arbeitsschwerpunkte seines Direktors der archäologischen Burgenforschung und realisierte mit der Veröffentlichung regionaler Burgwallinventare ein Anliegen, das die 1927 gegründete „Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der nord- und ostdeutschen vor- und frühgeschichtlichen Wallund Wehranlagen" in Gang gesetzt hatte. Auf der Grundlage der erlassenen Verordnung übernahm das Institut auch die Wahrnehmung der Bodendenkmalpflege in Ost-Berlin und führte Ausgrabungen, unter anderem im Stadtzentrum und auf der Köpenicker Schloßinsel, durch. 178 Erst am 5. Januar 1966 wurde die Bodendenkmalpflegeverordnung vom Ost-Berliner Magistrat offiziell übernommen 179 und 176

W. Unverzagt, 15 Jahre Vor- und Frühgeschichtsforschung... (wie Anm. 163), S. 256; vgl. auch ders., Die Vor- und Frühgeschichtsforschung... (wie Anm. 164), S. 163 f. 177 Gesetzblatt der DDR, Nr. 54 vom 10. Juni 1954; abgedruckt auch in: Ausgrabungen und Funde 1 (1956), S. 3—7. 178 Zusammenfassend H . Seyer, Zur Geschichte... (wie Anm. 55), S. 116; ders., Die ur- und frühgeschichtliche Sammlung und die Bodendenkmalpflege... (wie Anm. 55), S. 134. 179 Verordnungsblatt für Groß-Berlin, 22. Jg., Teil I, Nr. 5 vom 20. Januar 1966, S. 85—88.

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seit 1965 einer am Märkischen Museum aufgebauten Arbeitsstelle übertragen, die seitdem von H e i n z Seyer geleitet wird. Das AkademieInstitut behielt jedoch die treuhänderische Verwahrung von Beständen des Museums für V o r - und Frühgeschichte, die 1948 aus dem Gutshaus Lebus geborgen und nach der Sprengung des Berliner Schlosses übergeben worden waren, von Resten der in Peruschen deponierten Materialien sowie von 592 seit 1958 aus der Sowjetunion zurückgebrachten Kisten mit Exponaten, Katalogen und Karteien. A m 31. Dezember 1963 trat Unverzagt in den Ruhestand. Sein Nachfolger wurde Karl-Heinz O t t o (1915—1989). 1 8 0 Das Institut erhielt die Disziplinbezeichnung „Ur- und Frühgeschichte" und gab seit 1966 als zusätzliches Fachorgan die „Zeitschrift für Archäologie" heraus. Unverzagt blieb bis zu seinem T o d e am 17. März 1971 dem Institut als Mitarbeiter verbunden. E r war die Integrationspersönlichkeit der Ur- und Frühgeschichtsforschung in der geteilten Stadt und im gespaltenen Deutschland. Die museale Darbietung der Ur- und Frühgeschichte wurde in O s t Berlin zuerst i n d e m a u f B e s c h l u ß d e s Z K d e r S E D v o m 18. Januar 1952 gegründeten Museum für Deutsche Geschichte wieder aufgenommen. Seiner Darstellung der deutschen Geschichte auf der Grundlage der historisch-materialistischen Geschichtsauffassung wurde gemäß ihrer Konzeption von der Einheit der Menschheitsgeschichte eine über den geographischen Rahmen Deutschlands hinausgreifende Ubersicht über die Ur- und Frühgeschichte vorangestellt. V o n Karl-Heinz O t t o aufgebaut, wurde sie im Sommer 1952 in der Clara-Zetkin-Straße 26 eröffnet und beim Einzug des Museums in das rekonstruierte Barockgebäude des Preußischen Zeughauses, U n t e r den Linden 2, übernommen. Mehrmals, zuletzt 1981 durchgängig, neu gestaltet und ständig überarbeitet, existierte sie als Ausstellungsbestandteil bis zur Auflösung des Museums im Jahre 1990. Die Abteilung U r - und Frühgeschichte dieses Hauses gestaltete außerdem eine Reihe von Sonderausstellungen mit Funden aus Museen der D D R und des Auslandes, wo sie im Gegenzug ihre Ausstellungen zeigte. Die letzte Sonderausstellung zur Urgeschichte galt 1990 der bedeutenden mittelpaläolithischen Fund-

180

Biographisches zu Karl-Heinz O t t o in Geburtstagswürdigungen und Nachrufen,

u. a. von Bruno Krüger, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 21 (1980), S. 4 8 5 — 487, und in: Zeitschrift für Archäologie 23 (1989), S. 257f.; Heinz Grünert, in: Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift 30 (1989), S. 715—718; Joachim Herrmann, in: Ausgrabungen und Funde 34 (1989), S. 253f.

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stelle von Bilzingsleben, Kreis Artern. Der archäologische Fundus des Museums für Deutsche Geschichte war zunächst aus Schenkungen, Leihgaben und Nachbildungen zusammengebracht worden. E r wurde im Laufe der Zeit durch Ankäufe und weitere Schenkungen, darunter die Übernahme ganzer Sammlungen, die auch wertvolle außerdeutsche Funde umfaßten, bereichert und erhielt ein eigenes Profil. Das Märkische Museum, dessen Sammlung sich im Westteil der Stadt befand, baute nach der Übernahme der Bodendenkmalpflege mit dem Fundgut ergebnisreicher Ausgrabungen im Stadtkern von Berlin (unter anderem Nikolai- und Petrikirche), in den Ost-Berliner Neubaugebieten von Buch, Marzahn, Hellersdorf und auf zahlreichen weiteren Fundplätzen aller östlichen Stadtbezirke einen neuen Bestand auf. Er wurde durch die Zuführung der vom Institut für Vor- und Frühgeschichte der Akademie bei seinen Ausgrabungen und denkmalpflegerischen Aktivitäten in Berlin gewonnenen Altertümer qualitativ und quantitativ bereichert. Damit wurde es möglich, eine neue Ausstellung über die Ur- und Frühgeschichte des Berliner Raumes zu gestalten. Im Jahre 1962 überwies das Institut für Vor- und Frühgeschichte der Akademie die aus östlichen Verlagerungsorten zurückgeführten, bei ihm verwahrten Bestände des Museums für Vor- und Frühgeschichte an die Generaldirektion der seit 1951 als Staatliche Museen der Regierung der D D R unterstehenden Sammlungen. Da eine Übergabe an das im Westteil der Stadt gelegene Stammhaus aus politischen Gründen nicht möglich war, wurde 1963 im Ensemble der Staatlichen Museen ein eigenständiges Museum für Ur- und Frühgeschichte eingerichtet, das seinen Dienstsitz im Alten Museum erhielt. Seine Mitarbeiter widmeten sich vor allem der Neuinventarisierung und Pflege des ihnen zugefallenen Bestandes. Da sie mangels eigener Schauräume keine ständige Ausstellung gestalten konnten, traten sie mit einer Reihe Sonderausstellungen hervor. Diese zeigten sie teilweise auch in Museen der D D R und im Ausland, von denen sie Austauschausstellungen wertvoller Fundmaterialien erhielten. Mehreren Museen wurden Leihgaben zu eigenen Ausstellungen überlassen, wie dem Heinrich-SchliemannMuseum in Ankershagen, Mecklenburg. Den Höhe- und Schlußpunkt seiner Ausstellungstätigkeit setzte das Museum für Ur- und Frühgeschichte anläßlich des 100. Todestages von Heinrich Schliemann mit einer unter dem Patronat der Kultur- und Außenministerien Griechenlands und der D D R von den Museen beider Länder gestalteten Exposition von Funden aus Troja, Mykenä, Tiryns und Orchomennos. Sie

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war nicht allein durch Reichtum und Schönheit ihrer Funde, deren wirkungsvolle Präsentation und die Qualität des Ausstellungskataloges, sondern auch durch die Tatsache bemerkenswert, daß sie mit einem würdigen Festakt am 2. Oktober 1990 eröffnet wurde, dem letzten Tag der Existenz der D D R und als deren letztes kulturelles Ereignis. An der ehemaligen Friedrich-Wilhelms-Universität, die seit 1949 den Namen der Gebrüder Humboldt trägt, wurden erst seit 1951 durch Karl-Heinz O t t o wieder Fachvorlesungen angeboten. Am 1. April 1954 wurde das „Institut für Ur- und Frühgeschichte" begründet, das unter materiell bescheidenen Bedingungen in Mietshäusern, seit 1958 in Berlin-Friedrichshain, Friedenstraße 3, seinen Studien- und Forschungsbetrieb durchführt. Es betrachtete sich dezidiert nicht als Nachfolger der 1945 untergegangenen Einrichtung. In bewußter Abkehr von ihr bemühten sich die Mitarbeiter vielmehr um Anwendung und Weiterentwicklung der historisch-materialistischen (marxistischen) Methode in der Ur- und Frühgeschichtsforschung. Eine Reihe an der Lehre beteiligter Honorar- und Gastprofessoren, darunter Paul Grimm für mittelalterliche Archäologie, Hans Grimm für Anthropologie, Friedrich Solger für Quartärgeologie, sorgten für Pluralismus im Lehrangebot. Seit 1953 erschienen in Kooperation mit dem Institut für Völkerkunde der Humboldt-Universität die „Ethnographisch-Archäologischen Forschungen", aus denen 1960 die „Ethnographisch-Archäologische Zeitschrift" hervorging, die sich im Virchowschen Sinne um die interdisziplinäre Zusammenarbeit der archäologisch-altertumswissenschaftlichen Disziplinen mit Ethnologie, Anthropologie und weiteren Naturwissenschaften bemüht. Mitarbeiter des Instituts führten Ausgrabungen in Brandenburg, besonders auf der germanischen Siedlung in Wüste Kunersdorf, Kreis Seelow, sowie in Sachsen-Anhalt durch und beteiligten sich an den von Fritz Hintze geleiteten archäologischen Expeditionen der Humboldt-Universität in Ägypten (1959) und im Sudan (1960—1966). In den Jahren 1968 und 1969 wurden in der D D R Hochschul- und Wissenschaftsreformen durchgeführt, die auch die Ost-Berliner Einrichtungen betrafen. Sie verfolgten neben der Effektivierung wissenschaftlicher Prozesse vor allem das Ziel, die Wissenschaft noch stärker in das Herrschaftssystem der D D R einzubinden. Das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Humboldt-Universität wurde 1968 — seitdem unter der Leitung des Verfassers — als Wissenschaftsbereich in die Sektion Geschichte eingegliedert. Es bildete in der D D R die wichtigste Ausbildungsstätte für diese Disziplin, die seit 1968

Ur- und Frühgeschichtsforschung

in Berlin

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sonst nur noch in Halle als Hauptfach betrieben wurde. Die sich daraus ergebenden Lehrbelastungen und die sich in der D D R verstärkende Aufgabenteilung zwischen den hauptsächlich lehrenden Hochschulen und den vorrangig forschenden Einrichtungen der Akademie, den archäologischen Landes-Forschungsstellen sowie den Fachmuseen erlaubten der Universitätseinrichtung nur begrenzte Ausgrabungstätigkeit, die meistens in Kooperation mit den Institutionen der Forschungspraxis vorgenommen wurde. Auch die Forschung wurde überwiegend in der kleinen Form der Abhandlung realisiert. Neben den Arbeitsschwerpunkten der Mitarbeiter, die besonders die Archäologie der Germanen, in den letzten Jahren auch die paläolithische und die mittelalterliche Archäologie umfaßten, standen forschungsgeschichtliche Untersuchungen und Studien zur Wirtschaft, Gesellschaft und Theorie der Urgeschichte im Vordergrund, mit denen auch Beiträge zur Legitimation des Gesellschafts- und Herrschaftssystems in der D D R geliefert worden sind. 181 An der seit 1972 „Akademie der Wissenschaften der D D R " genannten Forschungseinrichtung war im Prozeß der Wissenschaftsreform am 1. Mai 1969 das „Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie" gegründet worden. Unter dem Direktorat von Joachim Herrmann, der 1972 zum Korrespondierenden, 1974 zum Ordentlichen Mitglied der Akademie gewählt wurde, vereinigte das Zentralinstitut mehr als 20 philologische, historische und archäologische Altertumswissenschaften im Bereich der Akademie. Dieser materiell und personell relativ gut ausgestatteten Institution war die Aufgabe gestellt, die Tätigkeit der von ihr vertretenen Disziplinen in der gesamten D D R zu koordinieren. Daraus ergaben sich teilweise zentralistische Strukturen, Leitungsformen sowie Entscheidungen, die gelegentlich Interessen einzelner Disziplinen, Institutionen und Personen verletzten. Zur Verwaltung der wissenschaftlich, wissenschaftspolitisch und wissenschaftsstrategisch für die vertretenen Disziplinen vorgesehenen Aufgaben und Projekte, aber nicht weniger zur Vertretung ihrer gemeinsamen und einzelnen Interessen wurde 1969 ein „Problemrat für Alte

Ζ. B. das Hochschullehrbuch Geschichte der Urgesellschaft, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Heinz Grünert, Berlin [Ost] 1982, 2. Aufl. 1989, und dessen kritische Einschätzung durch Hermann Behrens, Die Darstellung der Ur- und Frühgeschichte in der archäologischen Geschichtsschreibung der DDR am Beispiel des Lehrbuchs „ Geschichte der Urgesellschaft", in: Geschichtswissenschaft in der DDR, Bd. 2, Berlin 1990, S. 3—33. 181

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Geschichte und Archäologie" im Rahmen des „Wissenschaftlichen Rates f ü r Geschichtswissenschaft" gebildet, dem ebenfalls Joachim Herrmann vorsaß. Dieses Gremium wurde 1978 als selbständiger „Wissenschaftlicher Rat für Archäologie und Alte Geschichte" bei der Akademie neu konstituiert und sein Mitgliederkreis erweitert, dem nun die meisten Leiter der einschlägigen Institutionen in der D D R und zahlreiche Emeriti angehörten. Seit 1974 gab der Rat die „Mitteilungen zur Alten Geschichte und Archäologie" heraus, die mit 1973 beginnenden Jahresberichten die Arbeit dieses Gremiums und der in ihm vertretenen Einrichtungen dokumentierten. Die seit den fünfziger Jahren bei der Akademie bestehenden Fachsektionen, darunter die für Vor- und Frühgeschichte, waren im Prozeß dieser Umstrukturierungen stillschweigend aufgelöst worden. 182 In das Zentralinstitut wurde das Akademie-Institut für Ur- und Frühgeschichte als Wissenschaftsbereich eingegliedert, den bis 1976 Karl-Heinz O t t o , von 1977 bis 1990 Bruno Krüger leitete. Archäologische Ausgrabungen größeren Ausmaßes wurden in Fortsetzung der von Unverzagt begründeten Linie in Abstimmung und Kooperation mit den jeweils regional zuständigen Institutionen im Inland und im begrenzten Umfange im Ausland betrieben. 183 Die Publikation der Ausgrabungen und anderer Forschungen des Zentralinstituts erfolgte überwiegend in seinen bestehenden sowie neu begründeten Periodika. Handbücher, darunter „Die Slawen in Deutschland" und „Die Germanen", Nachschlagewerke, darunter „Lexikon früher Kulturen", und Quelleneditionen, wie „Griechische und lateinische Quellen zur Frühgeschichte Mitteleuropas", entstanden unter Heranziehung der gesamten Forschungskapazität des Zentralinstituts und vieler anderer Fachinstitutionen der D D R . Sie fanden Anerkennung und weite Verbreitung. Darüber hinaus veranstaltete das Zentralinstitut zahlreiche nationale und internationale Fachtagungen, darunter solche zu ideologierelevanten Themen, deren Ergebnisse überwiegend in Protokoll- und Studienbänden vorgelegt wurden. Die letzte große Tagung war im

182

H.Behrens, Die Ur- und Frühgeschichtswissenschaft in der DDR... (wie Anm. 173), S. 17. 183 Vgl. die Dokumentation der Forschungstätigkeit in den Mitteilungen zur Alten Geschichte und Archäologie in der DDR, ferner: Joachim Herrmann, Archäologische Feldforschungen und Ausgrabungen des Zentralinstituts für Alte Geschichte und Archäologie in der Mitte und zweiten Hälfte der 80er Jahre, in: Ausgrabungen und Funde 33 (1986), S. 265—276.

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in Berlin

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Dezember 1990 dem 100. Todestag Heinrich Schliemanns und seinem Erbe gewidmet. Dabei wurde erstmals die von der zu dieser Zeit als „Akademie der Wissenschaften zu Berlin" zeichnenden Einrichtung gestiftete Schliemann-Medaille verliehen.

Im Westteil der Stadt ging der Wiederaufbau der Ur- und Frühgeschichtsforschung vom Museum für Vor- und Frühgeschichte unter seiner unermüdlichen Leiterin Gertrud Dorka aus. Das Museum wurde 1955 offiziell wieder eröffnet 184 und zeigte zuerst in acht Souterrainräumen des provisorisch wiederhergestellten Hauses in der Stresemannstraße eine Ausstellung zur heimischen Ur- und Frühgeschichte unter Einbeziehung der Sammlung des Märkischen Museums. 185 Ende der fünfziger Jahre wurde das Museum in die „Stiftung Preußischer Kulturbesitz" eingegliedert, die durch eine Verwaltungsvereinbarung der Preußischen Nachfolgeländer vom 7. Juli 1955 gebildet und durch Bundesgesetz vom 5. August 1957 bestätigt worden war.186 Die in Kalibergwerken der von britischen und amerikanischen Truppen besetzten Gebiete deponierten Sammlungsbestände, die zwischenzeitlich in den Kunstgutlagern von Celle und Wiesbaden betreut worden waren, wurden 1956/57 nach Berlin zurückgebracht. 187 1 958 begann der sich bis 1960 erstreckende sechste Umzug in der. Geschichte des Museums in den rekonstruierten Langhans-Bau des Schlosses Charlottenburg. Am 31. März 1958 trat Gertrud Dorka in den verdienten Ruhestand, und Otto-Friedrich Gandert, der frühere Abteilungsdirektor am Märkischen Museum, der dem Museum für Vor- und Frühgeschichte seit 1951 als Kustos angehörte, übernahm bis 1963 die Leitung des Hauses. Im neuen Domizil begründete er mit der am 12. September 1958 eröffneten Ausstellung über die Archäologie von „Kaukasus und Luristan" 188 eine seitdem erfolgreiche Ausstellungstradition. Ihm folgte — offiziell berufen 1967 — Adriaan von Müller, unter dessen

184 185

G. Dorka, Die Wiedereröffnung... (wie Anm. 85). Ebda.; O.-F. Gandert, in: Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte 6 (1957),

S. 51. 186

I. Kühnel-Kunze, Bergung — Evakuierung — Rückführung... (wie Anm. 162), S. 247—260 und 320—324. 187 A.a.O., S. 94—102. 188 A.a.O., S. 261—314, bes. 281. Zum nachfolgenden Absatz vgl. Adriaan von Müller, Museumsdorf Düppel, 4., Überarb. Aufl., Berlin 1986.

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langem Direktorat das Museum wieder seine internationale Geltung erreichte. Seit dem 1. April 1990 steht es unter Leitung von Wilfried Menghin. Zur Berliner Museumslandschaft gehört auch das Museumsdorf Düppel (Bezirk Zehlendorf), wo auf Adriaan von Müllers Initiative seit 1970 ein Dorf aus der Zeit um 1200 nach den Ergebnissen der archäologischen Ausgrabung detailgetreu rekonstruiert wurde. Darin demonstrieren seitdem Mitglieder eines Fördererkreises dörfliches Leben des Mittelalters. Das Museum für Vor- und Frühgeschichte war von 1953—1962 an der Edition der „Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte" beteiligt, die der aus dem Kiekebusch-Seminar hervorgegangene Berliner Bodendenkmalpfleger Herbert Lehmann (1896—1971) 1 8 9 begründet und in 12 Bänden (1952—1967/72) bis zu seinem Tode herausgegeben, verlegt, gedruckt und — teilweise mit Unterstützung Ganderts — auch selbst redigiert hat. An der Begründung der Monographienreihe „Berliner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte" hatte Lehmann ebenfalls Anteil. Die Reihe erschien — von Band 3 an als Periodikum des Museums — in 13 Bänden von 1957 bis 1969 und erscheint in „Neuer Folge" seit 1979. 1961 bis 1968 edierte das Museum das „Berliner Jahrbuch für Vor- und Frühgeschichte", und seit 1970 ist unter Mitwirkung anderer Berliner Institutionen, darunter der B G A E U , das Jahrbuch „Acta Praehistorica et Archaeologica" sein Publikationsorgan. Nachdem Gertrud Dorka seit 1947 die Bodendenkmalpfleger im Museum für Vor- und Frühgeschichte gesammelt 190 und an die Tradition des Kiekebusch-Seminars angeknüpft hatte, dem sie selbst seit 1918 angehörte, wurde das im Frühjahr 1948 bei der Stadt Berlin gebildete „Referat für Bodendenkmalpflege" 191 an das Museum gebunden. Infolge der Spaltung der Stadt konnte es bald nur noch für ihren Westteil tätig sein. 1955 wurde die seit 1922 bewährte Institution des „Vertrauensmannes für kulturgeschichtliche Bodenaltertümer in Berlin" wieder eingerichtet. 192 Das am 1. Januar 1978 in Kraft getretene „Gesetz zum Schutz von Denkmalen in Berlin (Denkmalschutzgesetz

189 Ungezeichnete Erinnerungen an Herbert Lehmann in: Berliner Blätter für Vorund Frühgeschichte 12 (1967/72), H. 3/4, unpaginierte Vorschaltseiten. 190 G. Dorka, 40Jahre... (wie Anm. 124), S. 74f. 191 Verordnungsblatt für Groß-Berlin, 4. Jg., Nr. 25 vom 23. Juli 1948, S. 341. 192 Amtsblatt für Berlin, 5. Jg., Nr. 20 vom 16. April 1955, S. 447.

Ur- und Frühgeschichtsforschung

in Berlin

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Berlin)" 193 regelte die Belange der Bodendenkmalpflege neu und begründete das „Archäologische Landesamt Berlin", in das die seit 1960 im Gebäude des Museums für die Bodendenkmalpflege wirkende Dienststelle unter Leitung von Alfred Kernd'l 194 umgewandelt wurde. Trotz der wechselnden Dienstbezeichnungen und Ausstattung war die oberste Instanz der Bodendenkmalpflege in West-Berlin immer in Personalunion mit dem Direktorat des Museums für Vor- und Frühgeschichte verbunden. Lediglich Otto-Friedrich Gandert übte das Amt des Vertrauensmannes noch fünf Jahre über seine Pensionierung als Direktor hinaus bis 1968 aus. Die in allen Verwaltungsbezirken West-Berlins betriebenen archäologischen Untersuchungen bereicherten neben Ankäufen und Schenkungen den Fundus des Museums und den Kenntnisstand in bezug auf die Ur- und Frühgeschichte über Berlin hinaus. Die Ergebnisse wurden in der Zeitschrift „Berliner Blätter für Vor- und Frühgeschichte" und seit 1970 in der Schriftenreihe „Ausgrabungen in Berlin" sowie in anderen Periodika und in Monographien vorgelegt. Besondere Bedeutung erlangten die von Adriaan von Müller in Spandau betriebenen Ausgrabungen und die daraus erwachsenen Publikationen, die die Besiedlungsgeschichte dieses frühen Zentrums im Berliner Raum von der ältesten slawischen Burg des 8. Jahrhunderts bis zu der im 12. Jahrhundert gegründeten askanischen Burg und der bei ihr entstehenden Stadt klärten. An der nach der Spaltung der Stadt 1948 gegründeten Freien Universität Berlin wurde 1959 ein „Institut für Ur- und Frühgeschichte" eingerichtet 195 und Horst Kirchner (1913—1990),196 Schüler Ernst Wahles und dessen Nachfolger in Heidelberg, zum Ordinarius berufen. Er betrieb vornehmlich methodische, methodengeschichtliche und fachrelevante forschungs- und geistesgeschichtliche Untersuchungen. Neben ihm forschten und lehrten als Professoren Clara Redlich, danach Hermann Ament, die gemeinsam mit ihm ein voll funktionsfähiges Institut mit einer bedeutenden Bibliothek aufbauten. Seit der WestBerliner Universitätsreform von 1969 bildet es als „Seminar für Ur- und

Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin vom 30. Dezember 1977. Ausgrabungen in Berlin 1 (1970), Einleitung. 195 Für Daten zur Ur- und Frühgeschichtsforschung an der Freien Universität dankt Vf. Herrn Prof. Dr. Bernhard Hansel, Berlin. 196 Bernhard Hansel, Zum Tode von Horst Kirchner, in: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 11 (1990), S. 11 f. 193 194

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Frühgeschichte" eine selbständige Einheit im „Institut für Archäologie des Fachbereiches Altertumswissenschaften". Nach der Emeritierung Kirchners im Jahre 1979 wurde 1981 der damalige Inhaber des Lehrstuhls an der Universität Kiel, Bernhard Hansel, an die Spitze des Seminars berufen, neben dem als Professor zunächst Ludwig Reisch wirkte und seit 1989 Biba Terian tätig ist. Das Seminar — seit 1987 in Berlin-Dahlem, Altensteinstraße 15 — entwickelte sich zu einer angesehenen Forschungs- und Lehrstätte, die eine ständig steigende Zahl von Studenten, seit 1990 auch aus den neuen Bundesländern, anzieht. Mit dem von Hänsel begründeten Forschungsschwerpunkt der Ur- und Frühgeschichte Südosteuropas, namentlich in den bronze- und eisenzeitlichen Perioden, und den dazu in Jugoslawien und Griechenland betriebenen Ausgrabungen erwarb das Fach internationale Anerkennung. Im Seminar für Ur- und Frühgeschichte wird die traditionsreiche „Praehistorische Zeitschrift" redigiert, deren Mitherausgeber Bernhard Hänsel seit 1979 ist, und werden weitere Periodika und Hochschulschriften herausgegeben. Die Wiederbegründung der BGAEU 197 wurde bereits seit 1946 betrieben. Die Zulassung erfolgte 1950 im Westteil der Stadt. Am 2. April 1951 nahm die Gesellschaft mit einer Mitgliederversammlung ihre Arbeit wieder auf. 1969 konnte sie ihr hundertjähriges Jubiläum begehen, zu dem eine zweiteilige Festschrift als würdige Ehrengabe vorgelegt wurde, 198 deren Hauptteil die von Christian Andree erarbeitete Geschichte der Gesellschaft bildet. Ihre Geschäftsstelle hat die Gesellschaft jetzt im Museum für Vor- und Frühgeschichte, ihr reges Vortragsprogramm veranstaltet sie im Lehrgebäude des Seminars für Ur- und Frühgeschichte. Vom Neuaufbau der durch Auslagerung in Pommern weitgehend verlorenen Bibliothek wurde abgesehen. An der Herausgabe ihrer alten Organe, der „Zeitschrift für Ethnologie" und der „Praehistorischen Zeitschrift", sowie neuer Periodika ist die Gesellschaft beteiligt, ohne sie selbst zu edieren. Ergebnisse ihrer Arbeit, die in den ersten Jahren in den „Berliner Blättern für Vor- und Frühgeschichte" annotiert wurden, sind seit 1965 in den zunächst unregelmäßig, seit 1985 regelmäßig erscheinenden „Mitteilungen der

1,7 Zur Nachkriegsgeschichte der BGAEU bis 1969 Ch. Andree, Geschichte der BGAEU... (wie Anm. 50), S. 131—139. 198 Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 2 Teile, Berlin 1969.

Ur- und Frühgeschichtsforschung

Berliner Gesellschaft für Anthropologie, schichte" dokumentiert. 199

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Ethnologie und

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Urge-

VII Die 1990 vollzogene Wiedervereinigung der Stadt und des Landes bildet auch für die Ur- und Frühgeschichtsforschung in der Zusammenführung willkürlich getrennter und der Neustrukturierung unabhängig voneinander entstandener Einrichtungen eine mit großen Perspektiven verbundene Herausforderung, deren Meisterung Berlin wieder zu einem Zentrum der Ur- und Frühgeschichtsforschung von internationalem Rang werden lassen kann. Die Berliner Bodendenkmalpflege wird wieder in einheitlichem Vorgehen das gesamte Territorium der Hauptstadt betreuen und das in drei Jahrhunderten erarbeitete Bild von der Ur- und Frühgeschichte des Berliner Raumes 200 erweitern und vertiefen. Vor allem aber kann durch die Regelung der Eigentumsverhältnisse der Berliner archäologischen Museumsbestände eine der letzten reparablen Folgen des Krieges beseitigt werden. Die Ur- und Frühgeschichtliche Sammlung des Märkischen Museums kehrt in ihr Stammhaus am Köllnischen Park zurück. Das Museum für Vor- und Frühgeschichte der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das seinen Sitz im Verband der archäologischen Sammlungen auf der Museumsinsel erhalten soll, wo es im Neuen Museum bereits zwischen den fünfziger und achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ansässig war, führt seinen trotz der Kriegsverluste noch immer reichen Fundus zusammen und nimmt den ur- und frühgeschichtlichen Bestand des ehemaligen Museums für Deutsche Geschichte auf. Noch aber fehlen die Prunkstücke der Sammlung, darunter die Goldschätze von T r o j a („Schatz des Priamos") und Eberswalde, die 1945 von sowje-

1,9 Bernhard Zepernick, Die „Mitteilungen" der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, in: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 6 (1985), S. 9—17. 200 Zusammenfassungen der Ergebnisse mit detaillierten und weiterführenden Literaturangaben u. a. von Adriaan von Müller, Berlin vor 800Jahren. Städte, Dörfer, Wüstungen von der Gründung his zum 14. Jahrhundert, Berlin 1968; ders., Berlins Urgeschichte. 55 000Jahre Mensch und Kultur im Berliner Raum, 2. Aufl., Berlin 1971; ders., Jahrtausende unter dem Pflaster von Berlin, München 1973; ders., Die Archäologie Berlins. Von der Eiszeit his zur mittelalterlichen Stadt, Berlin 1986; Fritz Horst/Joachim Herrmann, Ur- und frühgeschichtliche Besiedlung sowie Stadtentstehung, in: Berlin (= Werte unserer Heimat, Bd. 49/50), Berlin 1987, S. 21—43 und 391 f.

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tischen Kunstschutzeinheiten aus dem Flakturm am Z o o übernommen worden sind. 201 Es besteht begründete Hoffnung, daß auch sie zurückkehren und Schliemanns Vermächtnis erfüllt wird, daß seine Sammlung — zusammen mit dem gewachsenen Bestand des Museums für V o r und Frühgeschichte — als dauernder Besitz des deutschen Volkes ungetrennt in der Hauptstadt Berlin aufbewahrt wird, um als Erbe der Weltkultur der Menschheit erhalten und zugänglich gemacht zu werden.

G. Dorka, Museum für Vor- und Frühgeschichte... (wieAnm. 41), S. 122;M. Unverzagt, Materialien... (wie Anm. 157), S. 356 nach Tagebuchnotizen Wilhelm Unverzagts. 201

Alte Geschichte in Berlin 1810—1960 ALEXANDER DEMANDT

Scriptum est enim in lege Mosi: non alligabis os bovi trituranti (I Cor. 9,9). So darf auch der Historiker, der gewöhnlich die Geschichte anderer aufarbeitet, einmal etwas für die eigene tun. Diese Einsicht greift um sich. In jüngster Zeit gewinnt die Wissenschaftsgeschichte in der Geschichtswissenschaft an Bedeutung. Das hat einen forschungsökonomischen und einen forschungskritischen Grund. Die Zahl der ergiebigen Quellen ist begrenzt. Um neue Einsichten aus ihnen zu gewinnen, wird der Aufwand immer größer und der Ertrag immer geringer. Ob der bevorstehende Großeinsatz des Computers außer neuem Material auch neue Erkenntnis bringen wird, bleibt abzuwarten. Im Zuge der fortschreitenden Auswertung schrumpft der Berg des ergiebigen Primärmaterials. Gleichzeitig wächst der Berg der Sekundärliteratur. So liegt es nahe, irgendwann die Sekundärliteratur zu Primärmaterial zu erklären und eine Tertiärliteratur zu eröffnen. Wenn es nichts mehr zu erforschen gibt, erforscht man die Forschung. Und wenn auch die Forschung erforscht ist, bleibt immer noch die Erforschung der Forschung zu erforschen. Nach der Wissenschaft kommen Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftstheorie, gefolgt von der Geschichte der Wissenschaftsgeschichte, der Theorie der Wissenschaftstheorie und kreuzweise vice versa. Die reflektierende Historisierung ist potenzierbar, und weil sie sich stets selbst zum Gegenstand machen kann, wird sie niemals gegenstandslos. Der Althistoriker kennt das aus der Schlußphase der platonischen Akademie in der Spätantike. Die letzten Philosophen schrieben Kommentare zu ihren Klassikern und Biographien über ihre Vorgänger. Hegel hat gesagt, die Eule der Minerva beginnt ihren Flug in der Dämmerung. Dem ist hinzuzufügen: Die Vampire der Wissenschaftswissenschaften bezeugen, daß es Nacht geworden ist. Da die Tageszeiten sich nicht ändern lassen, empfiehlt es sich — welaganu! —, mitzuflattern, mitzufleddern.

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Der Zweck der Wissenschaftshistorie muß freilich nicht bloß forschungsökonomisch sein, er kann auch forschungskritisch auf die Vertiefung von Erkenntnis abzielen. In diesem Falle wird die Wissenschaftshistorie zum Forschungsinstrument, das uns die Perspektivität von Urteilen deutlich machen und uns davor bewahren kann, selbst ohne Rücksicht auf unsere wissenschaftshistorische Situation Urteile zu übernehmen oder zu fällen. Werfen wir zunächst einen Blick zurück auf die Geschichte der Wissenschaftsgeschichte, so stand am Anfang die Grabrede auf den verdienstvollen Forscher. Der biographische Ansatz in der Wissenschaftsgeschichte birgt zwar die Gefahr, daß er die Rolle des Individuums überschätzt und die Bedeutung von Institutionen und Organisationen abwertet. Dennoch sind in den Geisteswissenschaften die Leistungen einzelner wichtiger als gelehrte Gesellschaften, Akademien und Universitäten. Die Totenrede beachtet die Regel des weisen Spartaners Chilon (Diog. Laert. I 70): De mortuis nihil nisi bene. Das Motiv hierfür war anfangs die Angst vor Wiedergängern. Man fürchtete die Rache des Toten. Heute dagegen reden wir im Gegenteil deswegen von den Toten, weil wir sie im Geiste lebendig halten wollen. Wer seine eigenen Leistungen richtig einschätzen will, muß sie mit denen seiner Vorgänger vergleichen. Um die Großen herauszufinden, müssen wir alle betrachten. Gegenstand der folgenden Ausführungen1 sind die Repräsentanten der Alten Geschichte, die der Berliner Universität angehörten, insbesondere ihre Tätigkeit in Forschung und Lehre.2 Das Wirken der Der folgende Text ist die umgearbeitete und erweiterte Fassung meines Aufsatzes: Alte Geschichte an der Berliner Universität 1810—1960, in: Willmuth Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die Antike. Architektur, Kunstgewerbe, Malerei, Skulptur, Theater und Wissenschaft vom 16. Jahrhundert bis heute, Bd. 1 u. 2, Berlin 1979, Bd. 2, S. 69—97. 2 Eine Geschichte der Alten Geschichte ist bisher nicht geschrieben, sie wird entweder im Rahmen der allgemeinen Historie oder aber ausschnittweise behandelt. In dem Buch von James Thomson Shotwell, The Story of Ancient History, New York 1961, geht es um die Darstellung von Geschichte im Altertum. Wissenschaftsgeschichte zur Archäologie liefert Friedrich Koepp, Geschichte der Archäologie mit Beiträgen von Oswald Menghin und Alexander Scharff, in: Handbuch der Archäologie im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft, hrsg. von Walter Otto (= Handbuch der Altertumswissenschaft 6,1), Bd. 1, München 1939, S. 11—66; neubearbeitet von Wolfgang Schiering, Zur Geschichte der Archäologie, in: Ulrich Hausmann (Hrsg.), Allgemeine Grundlagen der Archäologie. Begriff und Methode, Geschichte, Problem der Form, Schriftzeugnisse. Mit Beiträgen von . . . (= Handbuch der Archäologie. Im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaft), München 1969, S. 11—161; dazu Adolf H. Borbein in: Gnomom 44 (1972), S. 280—300. Die Urgeschichte hat ihre, wenn auch 1

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betroffenen Gelehrten vor und nach ihrer Berliner Zeit sowie die Arbeiten der Akademie und der Gymnasien werden nur am Rande berührt; althi stori sehe Leistungen von Wissenschaftlern, die nicht zur engeren Zunft gehören, sind jedoch mehrfach berücksichtigt, obschon ein Strestark persönlich gefärbte Darstellung durch Herbert Kühn, Geschichte der Vorgeschichtsforschung, Berlin 1976, gefunden; die Klassische Philologie ist seit Conrad Bursian, Geschichte der classischen Philologie in Deutschland von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, Neuere Zeit 19), H. 1 u. 2, München-Leipzig 1883, so oft wissenschaftsgeschichtlich behandelt worden, daß man bereits eine Geschichte ihrer Historiographie verfassen könnte. Zuletzt Ada Hentschke/Ulrich Muhlack, Einführung in die Geschichte der klassischen Philologie (= Die Altertumswissenschaft), Darmstadt 1972. Den Anfang mit der althistorischen Wissenschaftsgeschichte macht Karl Johannes Neumann, Entwicklung und Aufgaben der alten Geschichte (= Rektoratsreden der Universität Straßburg), Straßburg 1910; einen Ausschnitt behandelt Arnaldo Momigliano, La formazione della moderna storiografia sull'impero romano, in: Arnaldo Momigliano, Contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico (= Storia e letteratura 1 ff.), Roma 1955 ff., S. 107—164. Die späteren Beiträge gehören eher der Biographie oder aber der Forschungsgeschichte an, die das Zustandekommen des gegenwärtigen Wissensstandes beschreibt, während die Wissenschaftsgeschichte den Wandlungen der Auffassungen und ihren inneren und äußeren Einflüssen nachgeht. Uber erstere informiert Karl Christ, Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit, Darmstadt 1972, S. 353 ff., sowie Karl Christ, Zur Entwicklung der Alten Geschichte in Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 22 (1971), S. 577—593. Die deutschen Forschungen zur römischen Geschichte behandelt Karl Christ, Römische Geschichte und deutsche Geschichtswissenschaft, München 1982. Aus der Schule Christs stammen Grete Freitag, Leopold von Ranke und die Römische Geschichte, Marburg 1966; Gisela Wirth, Die Entwicklung der Alten Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Eine Untersuchung zu Entstehung, Inhalten und Funktion einer historischen Disziplin (= Akademia Marburgensis 2), Marburg 1977, und Volker Losemann, Nationalsozialismus und Antike. Studien zur Entwicklung des Faches Alte Geschichte 1933—1945, Hamburg 1977. Zur Einordnung der im folgenden behandelten Gelehrten in die Geschichte der Historiographie sei generell verwiesen auf die repräsentativen Darstellungen von Karl Lamprecht, Über die Entwicklungsstufen der deutschen Geschichtswissenschaft (1897), in: Karl Lamprecht, Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissenschaft. Mit Vorwort und literarischen Bemerkungen von Herbert Schönebaum, Aalen 1974, S. 397—475; sowie Karl Lamprecht, Die Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft, vornehmlich seit Herder (1898), in: A. a. O., S. 477— 499. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, hrsg. und eingeh von Carl Hinrichs (= Friedrich Meinecke, Werke, Bd. 3), München 1959. Fritz Wagner, Geschichtswissenschaft (= Orbis academicus), Freiburg/Br.-München 1951. Georg G. Iggers, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, München 1971. Wolfhart Unte, Berliner Klassische Philologen im 19. Jahrhundert, in: W. Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die Antike... (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 9—67.

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ben nach Vollständigkeit hier weder erfolgreich n o c h sinnvoll ist. Einzelne althistorische Lehrveranstaltungen oder Forschungen finden sich auch bei Juristen, T h e o l o g e n , Philosophen und denjenigen Philologen und Archäologen, die ich nicht einbeziehe. 3 Das N e u e an der Universität Wilhelm von H u m b o l d t s war der V o r r a n g der bildungsbezogenen Disziplinen gegenüber den praxisorientierten Brotwissenschaften, das U b e r g e w i c h t der philosophischen F a k u l t ä t , in der nicht Geistliche, R i c h t e r und A r z t e ausgebildet werden, sondern Bürger und Menschen sich heranbilden sollten. Diesem Z w e c k dienten z u m einen die Philosophie, zum anderen die Philologie. 4 E s ist gewiß kein Zufall, wenn im ersten, n o c h lateinisch gehaltenen Vorlesungsverzeichnis der Berliner Universität (für 1 8 1 0 — 1 8 1 1 ) die Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät eröffnet werden mit d e m L e h r a n g e b o t von F i c h t e und Boeckh. A u g u s t Boeckh ( 1 7 8 5 — 1867) 5 war 1 8 1 0 als Professor der Beredsamkeit und der klassischen L i t e r a t u r von Heidelberg nach Berlin berufen worden und behandelte hier in F o r s c h u n g und Lehre auch T h e m e n der griechischen G e -

3 Literarische Grundlage sind: Johannes Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers der Universität Berlin, Bd. 1, 1810—1945. Friedrich-Wilhelms-Universität, der Tierärztlichen Hochschule, der Landwirtschaftlichen Hochschule, der Forstlichen Hochschule, Leipzig 1955; die in der Universitätsbibliothek Berlin gesammelte Reihe der Vorlesungsverzeichnisse seit 1810; Max Lenz, Geschichte der Königlichen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin, Bd. 1—4, Halle 1910—1918. Adolf [von] Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 1—3, Berlin 1900 und Nachdruck Hildesheim-New York 1970. Ein nützliches Repertorium ist das von Andreas Thierfelder bearbeitete Gesamtverzeichnis der Nekrologe des,Bursian' 1877—1943, in: Lustrum 3 (1958), S. 251—259. Wo keine eigenen Schriftenverzeichnisse vorliegen, sei generell auf Richard Kukula (Hrsg.), Bibliographisches Jahrbuch der deutschen Hochschulen, vollst, umgearb. Neuaufl. des „Allg. deutschen Hochschulen-Almanachs" (Wien 1888), 1. Ergänzungsheft 1893, Innsbruck 1892—1893, und Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender, 1. Jg. ff., Berlin 1925 ff., verwiesen. 4 Peter Bruno Stadler, Wilhelm von Humboldts Bild der Antike, Zürich-Stuttgart 1959. 5 Stark, Böckh, August, in: Allgemeine Deutsche Biographie. Auf Veranlassung und mit Unterstützung seiner Majestät des Königs von Bayern Maximilian II. hrsg. durch die Historische Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften (im folgenden zitiert: ADB), Bd. 1—56, Leipzig 1875—1912, und Nachdruck Berlin 1967—1971, Bd. 2, S. 770—783. Max Hoffmann, August Böckh. Lebensbeschreibung und Auswahl aus seinem wissenschaftlichen Briefwechsel, Leipzig 1901. August Boeckh. Altertumsforscher, Universitätslehrer und Wissenschaftsorganisator im Berlin des 19. Jahrhunderts, Ausstellung zum 200. Geburtstag, 22. Nov. 1985 — 18. Jan. 1986 (= Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge 26), Berlin 1985.

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schichte. Boeckh begriff die Philologie als Kulturgeschichte im weitesten Sinne und widmete sich allen Seiten der griechischen Welt. Seine größten Leistungen sind einerseits die Begründung des „Corpus Inscriptionum Graecarum",6 das seit 1873 durch die „Inscriptiones Graecae" ersetzt wird, und seine „Staatshaushaltung der Athener" von 1817, ein nicht nur für die antike Wirtschaftsgeschichte grundlegendes Werk. Boeckhs Ethos als Historiker spricht aus seiner 1818 erschienenen Kritik von Hüllmanns Urgeschichte des Staats, in der Boeckh unterscheidet zwischen dem politisch Wünschenswerten und dem historisch Richtigen, ja überhaupt die Berufung auf Geschichte als Argument politischer Legitimation verwirft. Den Gesellschaftsvertrag hielt er als geschichtlichen Ursprung des Staates für unerweisbar, als dessen moralischen Grund jedoch für evident. Zwar sei Unterjochung so alt als die Welt, aber deswegen nicht rechtmäßiger, als wenn sie von gestern her wäre. Die Selbstbefreiung der Völker schien ihm eine Notwendigkeit, die Staatsmänner hätten die Pflicht, sie zu fördern.7 Eine solche Haltung wird an Boeckhs Lehrerfolg nicht unbeteiligt gewesen sein, und stolz bemerkte er an seinem Lebensende, 120 Semester ohne Unterbrechung gelesen zu haben.8 Das erwähnte erste Lektionenverzeichnis der Berliner Universität nennt unter den lehrenden Akademiemitgliedern Barthold Georg Niebuhr ( 1776—1831). 9 Er kündigte „Römische Geschichte" in zwei Wochenstunden an. Niebuhr war 1806 durch den Freiherrn vom Stein in die preußische Finanzverwaltung berufen worden, hatte jedoch nach einer Auseinandersetzung mit Hardenberg 1810 die Aufnahme in die Akademie gefunden und wurde von der philosophischen Fakultät der 6 Zur griechischen Epigraphik an der Akademie vgl. A. von Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie... (wie Anm. 3), Bd. 1 u. 2, S. 668—674. 7 August Boeckh, Kritik von Hüllmanns Urgeschichte des Staates (1818), in: August Boeckh, Gesammelte kleine Schriften, Bd. 1—7, Leipzig 1858—1871, Bd. 7,S. 220—237, bes. S. 236. 8 Stark, Böckh, August... (wie Anm. 5), S. 782. 9 Zu Niebuhr: Heinrich Nissen, Niebuhr, Barthold Georg, in: ADB, Bd. 23, S. 646— 661. K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 26—49. K. Christ, Römische Geschichte ... (wie Anm. 2), S. 35 ff. Seppo Rytkönen, Barthold Georg Niebuhr als Politiker und Historiker. Zeitgeschehen und Zeitgeist in den geschichtlichen Beurteilungen von B. G. Niebuhr (= Annales academiae scientiarum Fennicae, Serie B, T. 156), Helsinki 1968. Johannes Straub, Barthold Georg Niebuhr, 1776—1831, in: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Geschichtswissenschaften (= 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818—1968), Bonn 1968, S. 49— 78.

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Universität zu ihrem ersten Doktor erhoben. Trotz seines Engagements in den Freiheitskriegen finden wir Niebuhr in den Vorlesungsverzeichnissen bis 1815, dann übernahm er eine Gesandtschaft nach Rom, und 1825 begann er seine Lehrtätigkeit in Bonn. In Berlin entstanden unter anderem die beiden ersten Bände seiner „Römischen Geschichte", deren Ziel es war, die Vorgeschichte zum Werk Gibbons zu liefern. Die Wahl des Gegenstandes läßt sich aus der Zeit begreifen: Niebuhr hat als entschiedener Gegner Napoleons den politischen Zustand Deutschlands beklagt und im frühen Rom ein Staatswesen gefunden, dessen innere Geschlossenheit ihm vorbildlich erschien. Das bemerkenswert Neue war aber Niebuhrs historisches Bewußtsein. Er warnte vor dem Paralogismus der Homonymie, dem Trug des Gleichklangs. Begriffe, die in den meisten Fällen den historischen Nachrichten vorausgesetzt, nur einzeln und äußerst selten für sich entwickelt werden, sind von den unsrigen nicht weniger verschieden als der Römer Wohnung, Kleidung, und Speise.10 Ein solches begriffsgeschichtliches Bewußtsein gehört seitdem ebenso zum kleinen Einmaleins der Historie wie Niebuhrs Einsicht, daß man die Geschichte der Tatsachen nicht erfassen könne, wenn man nicht die Geschichte ihrer Uberlieferung verstanden habe. Niebuhrs Quellenkritik, insbesondere gegenüber den frühen Büchern des Livius, hat ihm den Ruhm eingetragen, die moderne Geschichtswissenschaft begründet zu haben,11 vermutlich wegen Mommsens Äußerungen von 1879.12 Die Berechtigung eines solchen Urteils ist schwer zu prüfen, jedenfalls bezeugt es das korporative Selbstbewußtsein derer, die es aussprechen, und ihren daher begreiflichen Wunsch nach einem Gründungsheros. Niebuhr hat einen solchen Anspruch selbst nicht erhoben. Anders als manchem seiner Bewunderer waren ihm die kritischen Leistungen seiner Vorgänger bewußt, 13

10 Barthold Georg Niebuhr, Einleitung zu den Vorlesungen über die Römische Geschichte. Oktober 1810, in: Barthold Georg Niebuhr, Kleine historische und philologische Schriften, Bd. 1 u. 2, Bonn 1828—1843, und Neudruck Osnabrück 1969, Bd. 1, S. 83— 101, bes. S. 92 f.

K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 26. Theodor Mommsen, Antwort an Nitzsch, 3. Juli 1879, in: Theodor Mommsen, Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 199 f.: Niebuhr sei es gewesen, der zuerst es gewagt hat, die Geschichtswissenschaft an der Logik der Tatsachen zu prüfen, gemeint ist: die Geschichtsüberlieferung an der Plausibilität der Quellen zu messen. Mommsens Meinung ist seit K. J. Neumann, Entwicklung und Aufgaben... (wie Anm. 2),S. 8,vielfach wiederholt worden. 11

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Barthold Georg Niebuhr, Römische Geschichte, T. 1—3, Berlin 1827, T. 1,S. VIII.

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eines Louis de Beaufort oder eines Perizonius. 14 Beide haben Wesentliches an Methode und Resultaten Niebuhrs vorweggenommen, nur haben sie nicht dasselbe Echo erzielt wie dieser. Sie schrieben zu früh. Niebuhr hat die Alte Geschichte so sehr in den Mittelpunkt seiner Bemühungen gestellt, daß man ihn als Althistoriker bezeichnen darf. Dennoch war die Alte Geschichte zunächst nur ein Teil der Universalgeschichte und wurde von Historikern gelehrt. Der erste Inhaber des Lehrstuhls für Geschichtswissenschaft war Christian Friedrich Rühs (1781—1820).15 Er hat Römische Geschichte und Antike Geographie gelesen, seine Domäne war jedoch die Nordische Geschichte, die er über die „Germania" des Tacitus mit dem Altertum verband. Ihm wurde ein exaltiertes Deutschtum vorgehalten, 16 das für seine Geschichtsauffassung indessen keinesfalls kennzeichnend ist. In seiner historischen Propädeutik von 1811 lesen wir: Jeder, der die Geschichte in allgemeiner Hinsicht studiert, lege sich hauptsächlich auf die alte Geschichte, weil sie gewissermaßen als ein Ganzes in abgeschlossener Vollendung erscheint, und sich durch höhern, idealen Geist unterscheidet. Sein Nachfolger wurde Friedrich von Raumer (1781—1873).17 So wie Niebuhr, doch oft im Gegensatz zu ihm, preußischer Finanzexperte in der Umgebung Hardenbergs, übernahm er 1819 die Professur für Staatswissenschaften und Geschichte. Er lehrte Alte Geschichte sowohl separat als auch im Rahmen der Universalgeschichte. Raumers Name knüpft sich an seine sechsbändige „Geschichte der Hohenstaufen" (1823—1825). Unter seinen zahlreichen, weitgestreuten Publikationen

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Louis de Beaufort, Dissertation sur l'incertitude des cinq premiers siècles de l'histoire romaine, Utrecht 1738; nouvelle éd., rev., cor., et considérablement augm., La Haie 1750. Jacob Perizonius (Voorbroeck), Animadversiones historicae, in quibus quam plurima in priscis romanarum rerum, sed utriusque linguae autoribus notantur, Amstelaedami 1685. Zu Niebuhrs Liedertheorie vgl. Arnaldo Momigliano, Perizonius, Niebuhr and the Character of Early Roman Tradition, in: A. Momigliano, Secondo contributo... (wie Anm. 2), S. 69—87. 15 Pyl, Rühs, Christian Friedrich, in: A DB, Bd. 29, S. 624—626. Theoriegeschichtlich interessant ist sein Entwurf einer Propädeutik des historischen Studiums, Berlin 1811. 16 [Friedrich Koppen,] Die Berliner Historiker, in: Hallesche Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 4 (1841), H b . 1, S. 421 f., 425—427,429—439, bes. S. 422. Zur Autorschaft der anonymen Artikelserie vgl. Alfred Stern, Wer war der Verfasser des Aufsatzes „Berliner Historiker" in den Halle'schen Jahrbüchern 1841 f , in: Historische Zeitschrift 143 (1931), S. 512—517. 17 Franz Xaver von Wegele, Raumer, Friedrich von, in: ADB, Bd. 27, S. 403—414. Werner Friedrich, Friedrich von Raumer als Historiker undPolitiker, Phil. Diss., Leipzig 1929.

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sind mehrere der Alten Geschichte gewidmet. 18 Im allgemeinen stellen sie eher eine Zusammenfassung von Bekanntem als neue Forschungsresultate dar, dennoch verraten sie eine persönliche Anteilnahme am Stoff, die namentlich aus den (mit Fußnoten versehenen) „Antiquarischen Briefen" spricht. In ihnen verbinden sich einzelne Probleme der Quelleninterpretation und der Kulturgeschichte mit grundsätzlichen Überlegungen über den Sinn der Klassiker im allgemeinen, über die antiken Geschichtsschreiber im besonderen, über die Vereinbarkeit von Demokratie und Sklaverei, über das Ende der römischen Republik, das Fortschrittsproblem und das Verhältnis zwischen Griechen und Römern. Im Geiste des Klassizismus galt Raumers Sympathie vor allem den Griechen und unter diesen den Athenern (Seite 134), während er den Spartanern ihre Kulturlosigkeit (Seite 19) und den Römern ihre Schlangenklugheit (Seite 139) und Barbarei (Seite 170) entgegenhielt. Ahnlich wie Niebuhr sah er eine Parallele zwischen dem Verhältnis von Deutschland zu Frankreich und demjenigen von Griechenland zu Rom (Seite 135—140). Um weiteren Kreisen das historische Bildungsgut zu erschließen, wandte sich Raumer gegen das Latein als Gelehrtensprache (Seite 192), setzte sich für die Einrichtung von Volksbibliotheken ein (Seite 196) und hielt selbst seit 1849 Vorlesungen für Frauen. 19 1853 wurde er emeritiert, doch las er noch bis kurz vor seinen Tod. So wie die Ordinarien haben auch die Privatdozenten und außerordentlichen Professoren der Geschichtswissenschaft Alte Geschichte gelehrt. Zu den ersteren zählt seit 1820 Peter Feddersen Stuhr (1787— 1851).20 Sein Forschungsschwerpunkt lag auf der Nordischen Geschichte und Mythologie. Er hatte 1812 Briefe über Niebuhrs „Römi-

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Friedrich von Raumer, Perikles und Aspasia. Eine Vorlesung, Berlin 1810. Friedrich von Raumer, Aeschines und Demosthenes Reden, über die Krone, oder für und wider den Ktesiphon, übers, und mit einer historischen Einleitung, Berlin 1811. Friedrich von Raumer, Vorlesungen über die alte Geschichte, T. 1 u. 2, Leipzig 1821 und 2., umgearb. Aufl., Leipzig 1847; 3. Aufl., Leipzig 1861; die Vorlesungen enden bei den Nachfolgern Alexanders. Friedrich von Raumer, Über die römische Staatsverfassung, in: Historisches Taschenbuch, N. F. 9 (1848), S. 97—218. Friedrich von Raumer (Hrsg.), Antiquarische Briefe, Leipzig 1831. " Hierzu die Beilage Friedrich von Raumer, Zur Geschichte des weiblichen Geschlechts bei den alten Völkern, in: F. von Raumer, Vorlesungen... (wie Anm. 18), 2. Aufl., T. 2, S. 546—573. Bereits Ch. F. Rühs, Entwurf... (wie Anm. 15), S. 18, forderte 1811 einen verbesserten Unterricht des weiblichen Geschlechts in der Geschichte. 20 Zu Stuhr vgl. das amüsante Lebensbild: Friedrich Meyer von Waldeck, Stuhr, Peter Feddersen, in: A DB, Bd. 36, S. 738—741 (mit Schriftenverzeichnis).

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sehe Geschichte" vorgelegt und schrieb in der Folgezeit mehrere Werke über antike Staatskunde und Religionsgeschichte. Nur kurzfristig, 1825/26, erscheint Heinrich Leo (1799—1878) 21 unter den Lehrern der Alten Geschichte, seine Domäne war die Geschichte Italiens. Er ist als konservativer Romantiker bekannt, der sich für die Beibehaltung der amerikanischen Negersklaverei ausgesprochen hat. Von 1827 bis 1851 lehrte als Privatdozent Ernst Alexander Schmidt (1801—1857), 22 von 1840 bis ebenfalls 1851 sein Namensvetter Adolf Schmidt (1812—1887). 23 Letzterer hatte 1834 über die Quellen zu den Kelteneinfällen nach Griechenland promoviert, setzte sich dann mit Droysens Hellenismus auseinander, und nach seiner Schrift über die Quellen des Zonaras gelang ihm, gefördert von Boeckh und Raumer, der Sprung von der Schule an die Universität. Hier führte er seine epigraphischen und papyrologischen Untersuchungen fort, lehrte neben der Alten auch Deutsche und Universal-Geschichte und gründete 1843 gemeinsam mit Boeckh, Pertz, Ranke und den Grimms die „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft". Ihre Aufgabe sah Schmidt darin, dem Mißbrauch der Parteiliteratur entgegenzutreten (Vorwort, Seite VII). Es sei zu zeigen, daß es wenigstens in der Geschichtswissenschaft Deutschlands keine tiefgehende Spaltung, keine wesentliche Trennung giebt, daß die Bestrebungen von Ost und West oder von Süd und Nord keine feindseligen, unversöhnlichen Gegensätze bilden.2* Schmidt Franz Xaver von Wegele, Leo, Heinrich, in: ADB, Bd. 18, S. 288—294 (mit Literatur). Heinrich Leo, Zu einer Naturlehre des Staates, eingel. und mit einer Bibliographie versehen von Kurt Mautz, Frankfurt a. M. 1948. 21

22 E. A. Schmidt war Mediävist. Seine Dissertation hieß: De fontibus historiae Conradi Salici eiusque temporis indole, Berlin 1824; 1828 erschien seine Geschichte Aragonien's im Mittelalter; 1835—1848 seine vierbändige Geschichte von Frankreich (481— 1774 n. Chr.). Am erfolgreichsten wurde sein Grundriß der Weltgeschichte für Gymnasien und andere höhere Lehranstalten und zum Selbstunterricht für Gebildete (1835); 1864 in der achten Auflage.

G. Löwenfeld, Schmidt, Adolf, in: ADB, Bd. 31, S. 703—713 (mit Literatur); sowie H . Landwehr, Adolf Schmidt, geb. den 12. September 1812, gest. den 10. April 1887, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 10. Jg. (= Jahresbericht über die Fortschritte der classischen Altertumswissenschaft, 15. Jg.), Bd. 53 (1887), S. 1—34 (mit Schriftenverzeichnis). Zusammenfassend: Adolf Schmidt, Abhandlungen zur Alten Geschichte, gesammelt und hrsg. von F. Rühl, Leipzig 1888. 23

24 Adolf Schmidt, Vorwort, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1844), S. I — XII, bes. S. IV. Die Zeitschrift hieß von Bd. 5 (1846) an Allgemeine Zeitschrift für Geschichte und stellte im August 1848 ihr Erscheinen ein, da der preußische Staat die Subventionen strich. Als 1953 wiederum eine Zeitschrift für Geschichtswissenschaft begründet wurde, diesmal im Geiste von Stalin und Ulbricht, bekannten die Herausgeber,

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hat im ersten Band mehrere althistorische Artikel vorgelegt, darunter den über den „Verfall der Volksrechte in Rom unter den ersten Kaisern" und den über das „Staatszeitungswesen der Römer". Solche Themen lassen das zeitgeschichtliche Interesse Schmidts erkennen, und dieses stand auch hinter seiner „Geschichte der Denk- und Glaubensfreiheit im ersten Jahrhundert der Kaiserherrschaft und des Christentums" (1847). Schmidt befaßte sich mit der „Zukunft der arbeitenden Classen", deren Association und Assecuranz er forderte. Im Frankfurter Parlament gehörte er der politischen Mitte an, 1874/75 war er Reichstagsabgeordneter. Seine zeitgeschichtlichen Vorlesungen fanden 1849 solchen Anklang, daß er in Berlin keine Beförderung erwarten konnte. 1851 wurde er Ordinarius für Geschichte in Zürich, 1860 Nachfolger Droysens in Jena. Wie dieser hat Schmidt in späteren Jahren überwiegend in der Neuzeit gearbeitet, doch erschien 1874 sein „Perikles und sein Zeitalter". In seiner Geschichtsauffassung war Adolf Schmidt ein Vorläufer von Buckle, er gehört zu jenen Köpfen, die auf ihre Wiederentdeckung warten. Neben den Historikern haben die klassischen Philologen sich um die Alte Geschichte gekümmert. So wie Boeckh verstanden die Philologen seiner Zeit allgemein ihre Aufgabe im Sinne einer umfassenden, nicht auf die Literatur oder gar die Sprache beschränkten Altertumskunde. Zwischen 1825 und 1827 lehrte Karl Ludwig Blum (1796—1869) 25 Alte Geschichte, über deren beide Teile er auch publiziert hat. Gleichzeitig las Eduard Reinhold Lange (1799—1850), 26 seine Schriften behandelten griechische Literatur und Mythologie. Blum war später Professor in Dorpat, Lange Professor am Werderschen Gymnasium. Besonders umfangreich war die althistorische Lehrtätigkeit von Karl Gottlob Zumpt (1792—1849). 27 Nach seiner Tätigkeit als Gymnasiallehrer wurde er Professor der Geschichte an der Kriegsschule und 1836 Professor der es müsse die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands unsere zentrale Aufgabe sein (Vorwort, S. 5). Die Grundsätze der beiden Vorworte stehen sich sehr nahe. 1953 wurde betont, der Mitarbeiterkreis solle sich nicht auf Wissenschaftler beschränken, die sich zum Marxismus bekennen (S. 3), moniert wird die durchaus unbefriedigende Verbindung zwischen den deutschen Historikern in Ost und West (S. 4). Ein Hinweis auf die gleichnamige Zeitschrift Schmidts fehlt seltsamerweise. Ist es denkbar, daß man sie nicht kannte? Schmidt war doch ein „Progressiver"! Siehe Vorwort, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 1 (1953), S. 3—6. 25 26 27

Zu Blum: v. L„ Blum, Karl Ludwig, in: ADB, Bd. 2, S. 738 f. Zu Lange: Conrad Bursian, Lange, Eduard Reinhold, in: ADB, Bd. 17, S. 650f. Zu Zumpt: Lothholz, Zumpt, Karl Gottlieb, in: ADB, Bd. 44, S. 481—483.

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Römischen Literatur an der Universität. Zumpts historische Forschungen galten der Chronologie und der Demographie im Altertum, dem römischen Ritterstand und verschiedenen Aspekten der Kulturgeschichte Roms. Gleichzeitig mit Zumpt trat Karl Eduard Geppert (1811— 1881),28 ein Schüler Boeckhs, als Privatdozent in die Universität ein. Seine historischen Arbeitsgebiete waren Religions- und Theatergeschichte, in Berlin kennt man ihn wegen seiner dreibändigen „Chronik von Berlin" 1837—1842. Schließlich ist noch Karl Albert Agathon Benary (1807—1860)29 zu nennen, der 1839 Privatdozent wurde, in seinen Schriften aber überwiegend philologische Themen abhandelte. Unter den Hilfswissenschaften zur Alten Geschichte nahmen im frühen 19. Jahrhundert Chronologie und Geographie führende Stellungen ein. Die Chronologie hat in Christian Ludwig Ideler (1766— 1846)30 ihren ersten namhaften Berliner Vertreter gefunden. Ideler, der selbst auch Neuphilologe und Orientalistik traktiert hat, las seit 1815 in Berlin und wurde 1821 Ordinarius. Sein „ Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie" (2 Bände, 1825/1826) ist erst durch das „Handbuch der mathematischen und technischen Chronologie" (2 Bände, 1906/1914) von F. K. Ginzel übertroffen worden. Die Verbindung zwischen Geschichte und Geographie kommt darin zum Ausdruck, daß die Veranstaltungen beider Fächer im Vorlesungsverzeichnis seit 1816 zusammengefaßt waren. Seit 1820 lehrte Carl Ritter (1779—1859)31 in Berlin als Professor der Geschichte Wissenschaftliche Erdkunde und diese auch für die antike Welt. Seine „Vorhalle europäischer Völkergeschichten vor Herodot" (1820) greift herüber in die Alte Geschichte, deren geographische Voraussetzungen Ritter teleologisch deutete. Rein althistorische Veranstaltungen finden wir unter dem Namen von Ferdinand Heinrich Müller (1805—1886)32 angezeigt. Er wurde 1831 Privatdozent, 1845 außerordentlicher Professor. Die Beschäftigung mit der Alten Geschichte erschöpft sich nicht mit den Disziplinen, deren Vertreter genannt wurden. Unser Fach zeigt ein 28 Zu Geppert: Carl Eduard Geppert, geb. 29. Mai 1811, gest. 31. August 1881, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 7. Jg. (= Jahresbericht..., 11. Jg.), Bd. 37 Β (1884), S. 134—136. 29 Zu Benary: Leskien, Benary, Karl Albert Agathon, in: ADB, Bd. 2, S. 314. 30 Zu Ideler: Bruhns, Ideler, Christian Ludwig, in: ADB, Bd. 13, S. 743—745. " Zu Bitter: Friedrich Ratzel, Ritter, Karl, in: ADB, Bd. 28, S. 679—697 (mit älterer Literatur). 52 Zu Müller: Johannes Asen, Gesamtverzeichnis des Lehrkörpers, sub nomine.

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ungemein breites Spektrum an beteiligten Wissenschaftlern. Der Archäologie wird Ernst Heinrich Toelken (1785—1869) 33 zugerechnet. Er lehrte zwischen 1815 und 1823. Seine Schriften behandelten zunächst philologische, dann mythologische und archäologische Themen. Als er 1823 vom Privatdozenten zum Ordinarius für Kunstgeschichte und Mythologie aufgestiegen war, verlagerte er seine Lehre ganz auf diese Gebiete. Seine bekanntesten Arbeiten gelten der Plastik und der Numismatik. Der Kameralwissenschaft gehört Johann Friedrich Gottfried Eiselen an (1785—1865). 34 Er las von 1815 bis 1821, bis zu seinem Weggang nach Breslau, ähnlich wie Raumer, Alte Geschichte, Deutsche Geschichte und Weltgeschichte. In den zwanziger Jahren hielt der Römischrechtler Clemens August Karl Klenze (1795—1838), 35 ein Bruder des klassizistischen Architekten, althistorische Vorlesungen, vorübergehend auch Friedrich Wilhelm Schubert (1799—1868), 36 Professor für Statistik und Geschichte später in Königsberg. Von der Orientalistik her kam Friedrich Wilken (1777—1840). 37 Er wurde 1816 von Heidelberg als Professorder Iranistik nach Berlin berufen und hier zum Direktor der Königlichen Bibliothek ernannt. Seine althistorischen Lehrveranstaltungen erstreckten sich über die Jahre 1818 bis 1839, seine Forschungen berührten dieses Gebiet in der Arbeit über die byzantinischen Zirkusparteien. Den Mittelpunkt seiner Studien bildeten indessen die Kreuzzüge. Wenn bei allen genannten Männern die Alte Geschichte nur ein Teilbereich ihrer Studien war, so kann man doch niemals behaupten, das Altertum sei bloß am Rande behandelt worden. Die betreffenden Gelehrten kannten die althistorische Literatur ihrer Zeit, verfügten über blendende Sprach- und Quellenkenntnisse und betrachteten die antike Welt unter kosmopolitischen und universalen Perspektiven, die wenig mit jener antiquarischen Käfersammelei gemein hat, die dem 19. Jahrhundert zuweilen vorgehalten wird. Nach Raumer gilt dies 53 Zu Toelken: Ernst Curtius, Toelken, Ernst Heinrich, in: ADB, Bd. 38, S. 415; und Adolf Heinrich Borbein, Klassische Archäologie in Berlin vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, in: W. Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die Antike... (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 99— 150, bes. S. 115ff. 34 Zu Eiselen (auch Eißelen): Inama, Eiselen, Johann Friedrich Gottfried, in: ADB, Bd. 5, S. 764 f. 35 Zu Klenze: Teichmann, Klenze, Clemens August Karl, in: ADB, Bd. 16, S. 162. 36 Zu Schubert: B. von Simson, Schubert, Friedrich Wilhelm, in: ADB, Bd. 54, S. 227—231. 37 Zu Wilken: A. Stoll, Wilken, Friedrich, in: ADB, Bd. 43, S. 236—241.

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wieder für Leopold von Ranke (1795—1886).38 Auch er hat die Alte Geschichte als Teil der Universalgeschichte gesehen. 1825 bis 1871 Mitglied des Lehrkörpers, hat er bereits im Winter 1825/26 „Allgemeine Weltgeschichte, erste Hälfte bis auf den Untergang der Hohenstaufen" gelesen. Im Winter darauf eröffnete Ranke die Reihe seiner Übungen. Das Schwergewicht der akademischen Lehre lag zwar bis in unser Jahrhundert auf den Vorlesungen, doch kündigten im Gefolge Rankes auch die übrigen Historiker bald Übungen an, in der Regel ohne Angabe eines Themas. Aus den Übungen wurden dann die Seminare, die „Pflanzschulen" des Nachwuchses. Ranke hat wie kein anderer Schule gebildet. 1848, als, wie Ranke meinte, 39 die Unruhe der Gegenwart das Bild der jüngeren Vergangenheit zu trüben drohte, lehrte Ranke — anders als Adolf Schmidt — antike Geschichte, wiederholte dies, insbesondere den römischen Teil, auch später noch; 1854 hat er König Maximilian von Bayern darüber vorgetragen. 40 Trotzdem blieb Rankes Domäne in Lehre und Forschung die europäische Geschichte in Mittelalter und Neuzeit, deren Quellen er zum ersten Male den von Niebuhr übernommenen Grundsätzen der Kritik unterwarf. Als 85jähriger hat Ranke seine Vorlesungen über die Weltgeschichte veröffentlicht, die ersten vier Bände umfassen das Altertum. Die Kritik daran ist merkwürdig uneinheitlich. Getadelt wird Rankes Darstellungsweise von Gegnern, die Ranke einen diplomatischen Pragmatismus vorhalten und ihm ankreiden, er ahme wie ein Vogelfänger die Stimmen der betreffenden Personen und Begebenheiten künstlich nach, sein Werk sei voller Richtigkeit, aber ohne Wahrheit, in dem das Gesagte zwar

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Zu Ranke: Hans F. Helmolt, Ranke-Bibliographie, Leipzig 1910; Hans F. Helmolt, Leopold von Rankes Leben und Wirken. Nach den Quellen dargestellt, Leipzig 1921. Alfred Dove, Ranke, Leopold von, in: ADB, Bd. 27, S. 242—269. Carl Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 19), Göttingen-Frankfurt a. M.-Berlin 1954; Carl Hinrichs, Leopold von Ranke, 1795—1886, in: Genius der Deutschen. Die großen Dichter, Philosophen, Historiker, Berlin 1968, S. 190—216. Helmut Berding, Leopold von Ranke, in: HansUlrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 7—25. Leonard Krieger, Ranke. The Meaning of History, Chicago 1977. 39 Leopold von Ranke, Vorlesungseinleitungen, hrsg. von Volker Dotterweich und Walther Peter Fuchs (= Leopold von Ranke, Aus Werk und Nachlaß, Bd. 4), MünchenWien 1975, S. 198. 40 Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte. 19 Vorträge, München 1917, S. 21—34. Vgl. auch G. Freitag, Ranke und die Römische Geschichte... (wie Anm. 2).

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stimme, aber nicht gesagt werde, was gesagt gehöre.41 Getadelt wird weiter Rankes Unwissenschaftlichkeit, da er an der Forschung vorbeisehe und das Altertum als eine bloße Vorhalle zur Geschichte der christlichen Zeit hinstelle.42 Getadelt wird schließlich Rankes konservative Grundhaltung, die im Gewände sachlicher Unparteilichkeit restaurative Interessen präsentierte. Mir scheint, der Rang eines Werkes wird weniger durch Ablehnung oder Zustimmung als durch die bloße Lautstärke der (positiven oder negativen) Kritik angezeigt. Schon sie rechtfertigt gemeinhin, ein Buch in die Hand zu nehmen; und wer dies tut, wird die Leistung Rankes als Erzähler auch der politischen Geschichte des Altertums anerkennen. Trotz einer hegelianischen Grundstimmung fehlen hier die harten Konturen, wie Droysen sie Alexander, Mommsen sie Caesar und Burckhardt sie Constantin verliehen hat; das Urteil ist ausgewogener und zeigt eine intellektuelle Disziplin, die noch immer vorbildlich ist. Der zweite große Kopf unter den eigentlichen Althistorikern nach Niebuhr war Johann Gustav Droysen (1808—1884). 43 Während er, seit 1826, in Berlin bei Boeckh und Hegel studierte, war er Hauslehrer des beinahe gleichaltrigen Felix Mendelssohn-Bartholdy, 1831 wurde er Lehrer am Grauen Kloster. Droysens erste Schrift galt den Berliner Papyri, sie brachten ihn an seine Dissertation über das Lagidenreich unter Ptolemaeus VI. Philometor (1831).44 Den Druck finanzierte er

[F. Koppen,] Die Berliner Historiker... (wie Anm. 16), S. 431, 434. So Eduard Meyer, Geschichte des Altertums, Bd. 1—5, Stuttgart 1884—1902 u. ö., Bd. 3, 4. Aufl., S. 229. Ausgewogener ist das Urteil von A. Momigliano, La formazione. .. (wie Anm. 2), S. 160f. 41

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43 Zu Droysen: Otto Hintze, Droysen, Johann Gustav, in: ADB, Bd. 48, S. 82—114. Johann Gustav Droysen, Briefwechsel, hrsg. von Rudolf Hübner, Bd. 1 u. 2, StuttgartBerlin-Leipzig 1929. Theodor Schieder, Droysen, Johann Gustav, in: Neue Deutsche Biographie, hrsg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1 ff., Berlin 1953 ff., Bd. 4, S. 135—137. K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 50—67; weitere Literatur bei K. J. Neumann, Entwicklung und Aufgaben... (wie Anm. 2), S. 60 f. Ein tief gegründet Herz. Der Briefwechsel Felix Mendelssohn-Bartholdys mit Johann Gustav Droysen, hrsg. von Carl Wehner, Heidelberg 1954. Werner Obermann, Der junge Johann Gustav Droysen. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Historismus, Phil. Diss., Bonn 1977. 44 Johann Gustav Droysen, Die griechischen Beischriften von fünf ägyptischen Papyren zu Berlin (1929) und De Lagidarum regno Ptolemaeo VI Philometore rege (1831). Beide in: Johann Gustav Droysen, Kleine Schriften zur Alten Geschichte, Bd. 1 u. 2, Leipzig 1893—1894, Bd. 1, S. 1—41 und Bd. 2, S. 351—432. Ulrich Wilcken hat ihnen ergänzende und berichtigende Anmerkungen beigegeben.

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durch seine Aischylos-Übersetzung (2 Bände, 1832). Sie wurde von zeitgenössischen Philologen (Krüger) zwar als mangelhaft befunden, erlebte aber trotzdem vier Auflagen zu Droysens Lebzeiten. Später übertrug er auch Aristophanes. Blickt schon in den Zwischentexten der Aischylos-Dramen Droysens Patriotismus durch, so wird dieser vollends klar in der 1833 erschienenen Alexander-Biographie. D e r Makedone ist hier nicht mehr, wie bei Niebuhr, der Typus Napoleons, sondern derjenige eines vorweggenommenen Bismarck: Alexander zerschlägt nicht die klassische Poliskultur, er besiegelt die griechische Einheit. 4 5 Hegels Idee von den „Geschäftsführern des Weltgeistes" ist hier in Historiographie umgesetzt: Alexander vereinheitlicht die W e l t zur Vorbereitung des Christentums. Wegen dieses Gedankens und einer schwungvollen Darstellung ist das Buch immer wieder aufgelegt worden und lesenswert geblieben. 1836 und 1843 erschienen die Bände über die Diadochen und die Epigonen, alle drei wurden 1877/78 von Droysen zur „Geschichte des Hellenismus" zusammengefaßt. H a t t e man diesen Terminus zuvor auf die Sprachenmischung beschränkt, so brauchte Droysen ihn für jene Geschichtsepoche, in der die griechische Kultur „weltläufig" wurde. 46 Neben seiner literarischen Produktion lehrte Droysen 20 Stunden am Gymnasium, sechs Stunden an der Gewerbeschule, führte ein Familienleben und las seit seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor zusätzlich bis zu zehn Wochenstunden an der Universität über die verschiedensten Aspekte der Altertumswissenschaft. Daß er musiziert, gemalt und gedichtet hat und die Geselligkeit schätzte, erfahren wir außerdem. 1840 trat er seine Professur in Kiel an und las sofort über die ganze Geschichte neben der griechischen Literatur. Nach den politischen Turbulenzen um 1848, an denen Droysen sich lebhaft beteiligte, folgte die Berufung nach Jena 1851. Hier erweiterte er seinen Lehrstoff um die „ H i s t o r i k " , woraus die Wissenschaftslehre des Historismus, alias des historischen Idealismus im Geiste Hegels wurde, scharf abgesetzt sowohl gegen Schopenhauers antikisierende Abwertung der Geschichte als auch gegen Buckles positivistische Modernisierung der

45 Alexander Demandt, Politische Aspekte im Alexanderbild der Neuzeit. Ein Beitrag zur historischen Methodenkritik, in: Archiv für Kulturgeschichte 54 (1972), S. 325—363, bes. S. 327 ff. 46 Zum Hellenismus-Begriff vgl. Arnaldo Momigliano, Genesi storica e funzione attuale del concetto di ellenismo, in: A. Momigliano, Contributo alla storia... (wie Anm. 2), S. 165—194.

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H i s t o r i e . 4 7 V o r b i l d D r o y s e n s war B o e c k h s „ E n z y k l o p ä d i e und M e t h o dologie der philologischen W i s s e n s c h a f t e n " . Seit J e n a stand im V o r dergrund v o n D r o y s e n s F o r s c h u n g e n die preußische G e s c h i c h t e . 4 8 1 8 5 9 wurde er N a c h f o l g e r R a u m e r s in Berlin. G e w ö h n l i c h hielt er zwei vierstündige V o r l e s u n g e n und die Ü b u n g e n der H i s t o r i s c h e n Gesellschaft, samstagsabends in seinem H a u s e . W i r b e s i t z e n v o n D r o y s e n eine R e i h e v o n U n t e r s u c h u n g e n z u r griechischen G e s c h i c h t e , 4 9 die eingeflossen sind in den S t r o m der F o r s c h u n g . Die r ö m i s c h e G e s c h i c h t e fand ihren b e d e u t e n d s t e n V e r t r e t e r in T h e o d o r M o m m s e n ( 1 8 1 7 — 1 9 0 3 ) . 5 0 In Schleswig-Holstein geboren, 47 Droysen las das Kolleg auch später in Berlin oft, insgesamt 18 Mal, es trug meist den Namen „Methodologie und Enzyklopädie der Geschichte". Deren Grundriß gab er in 9 Auflagen heraus, der ganze Text erschien erst 1937, ediert unter dem Titel Historik durch Droysens Enkel Rudolf Hübner. Es erfreut sich unter den Interpreten der Geschichtsdenker einer begreiflichen Beliebtheit; vgl. dazu: Friedrich Meinecke, Jobann Gustav Droysen. Sein Briefwechsel und seine Geschichtsschreibung, in: Historische Zeitschrift 141 (1930), S. 249—287. Jörn Rüsen, Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie ]. G. Droysens, Paderborn 1969 (nebst Literatur). Karl Heinz Spieler, Untersuchungen zu Johann Gustav Droysen „Historik" (— Historische Forschungen 3), Berlin 1970 (mit Literatur). 48 Th. Schieder, Droysen... (wie Anm. 43), S. 136, findet in ihnen Verirrung und Verarmung, die von Droysen angenommene Kontinuität der Hohenzollernpolitik in Deutschland wird nicht mehr vertreten. 49 Abgedruckt großenteils in den genannten Kleinen Schriften... (wie Anm. 44), Bd. 2, S. 444—448 findet sich auch ein Verzeichnis von Joh. Gust. Droysens Schriften zur alten Geschichte und zur griechischen und römischen Literatur. 50 Zu Mommsen: Ludo Moritz Hartmann, Theodor Mommsen, eine biographische Skizze. Mit einem Anhang: Ausgewählte politische Aufsätze Mommsens, Gotha 1908. Alfred Heuß, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert (= Veröffentlichungen der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft, N. F. 19), Kiel 1956, dazu Arnaldo Momigliano in: Gnomon 30 (1958), S. 1—6. Albert Wucher, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik (1956) (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 26), 2., neubearb. Aufl., Göttingen usw. 1968, mit ausführlicher Liste von Arbeiten über Theodor Mommsen. Zu ergänzen wären: Santi Muratori, Teodoro Mommsen e Guglielmo Henzen a Ravenna, in: // Ravennate 46 (1908), Nr. 127,Nr. 128undNr. 129 vom 3., 4. und 5. Juni. Richard Schöne, Erinnerungen an Theodor Mommsen zum 30. November 1917, hrsg. von Hermann Schöne, Münster 1923. Franco Sartori, Di Teodoro Mommsen, in: Paideia 18 (1963), S. 81—92. Ders., Theodor Mommsen. Radiato dalla Société des Antiquaires de France, in: Xenia. Scritti in onore di Piero Treves, 1985, S. 183 ff. Hans-Erich Teitge (Hrsg.), Theodor Storms Briefwechsel mit Theodor Mommsen. Mit einem Anhang: Theodor Storms Korrespondenzen für die Schleswig-Holsteinische Zeitung 1848 (= Schätze aus der Deutschen Staatsbibliothek), Weimar 1966. K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 84—118. Albert Wucher, Theodor Mommsen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, S. 7—24.

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stammt er wie so viele Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts aus einem protestantischen Pfarrhaus — ebenso wie Droysen (* 1808), Burckhardt (* 1818) und Nietzsche (* 1844). Mommsen hat zwar mit seinem Christentum den Protestantismus aufgegeben, die protestierende Grundhaltung aber immer beibehalten. Mit 25 Jahren promovierte er in Kiel über römisches Recht und ging dann mit einem dänischen Forschungsstipendium nach Frankreich und Italien. 51 Das Mäzenatentum des dänischen Königs haben ja zahlreiche deutsche Gelehrte und Künstler erfahren, die bekanntesten sind Klopstock, Schiller und Hebbel. 1848 arbeitete Mommsen gleichwohl als Journalist in Rendsburg bei der „Schleswig-Holsteinischen Zeitung" gegen den dänischen Anspruch. Seine Leipziger Professur verlor er 1851 wegen seiner Angriffe auf die sächsische Regierung. 52 Das Gesetz, aufgrund dessen Mommsen damals verurteilt wurde, stammte aus dem Jahre 1580. Es folgten die Rufe 1852 nach Zürich, 1854 nach Breslau, 1858 an die Berliner Akademie. 53 Hier bekleidete er eine Forschungsprofessur für das von ihm begonnene „Corpus Inscriptionum Latinarum". 5 4 1 861 übernahm er einen Lehrstuhl für Römische Altertumskunde an der Universität. 1885

Theodor Mommsen, Tagebuch der französisch-italienischen Reise 1844/1845. Nach dem Manuskript hrsg. von Gerold und Brigitte Walser, Bern-Frankfurt a. M. 1976. Ein Verzeichnis der Druckschriften Mommsens (1513 Nummern) liefert Karl Zangemeister, Theodor Mommsen als Schriftsteller. Ein Verzeichnis seiner Schriften. Im Auftrage der königl. Bibliothek bearb. und fortges. von Emil Jacobs, Berlin 1905. Karl Christ, Theodor Mommsen und die „ Römische Geschichtein: Karl Christ, Römische Geschichte und Wissenschaftsgeschichte, Bd. 1—3, Darmstadt 1982—1983, Bd. 3, S. 26—73. K. Christ, Römische Geschichte... (wie Anm. 2), S. 58 ff. Alexander Demandt, Mommsen in Berlin, in: Wolfgang Treue/Karlfried Gründer (Hrsg.), Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeher (= Berlinische Lebensbilder 3), Berlin 1987, S. 149— 173. 51 Dazu G. und B. Walser in Th. Mommsen, Tagebuch... (wie Anm. 50). 52 R. Schöne, Erinnerungen an Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 11. 53 Bis hierhin reicht das Werk von Lothar Wickert, Theodor Mommsen. Eine Biographie, Bd. 1—4, Frankfurta. M. 1959—1980. Band 4 enthält Materialien zur Berliner Zeit. 54 Vorgeschlagen wurde dieses Unternehmen 1836 von Kellermann, der bereits Autopsie forderte, ihn unterstützten Gerhard und Jahn, durchgesetzt hat es Mommsen. Zu seiner Geschichte vgl. A. von Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie ... (wie Anm. 3),Bd. l u . 2 , S . 772—774,S. 1027 f. Im Anschluß behandelt Harnack die übrigen altertumswissenschaftlichen Unternehmen der Akademie. Als Nachfolger von Raumer betrachtet Mommsen Josef Engel, Die deutschen Universitäten und die Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift 189 (1959), S. 223—379, bes. S. 341.

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wurde er von der Lehrverpflichtung entbunden und erscheint seitdem nur noch sporadisch im Vorlesungsverzeichnis. Mommsens Lehrtätigkeit an der Universität, deren Rektor er 1874/75 war, bestand normalerweise aus einer vierstündigen Vorlesung und einer zweistündigen Übung. Während das Thema der letzteren in der Regel nicht angekündigt wurde, behandelten die Vorlesungen Mommsens seine eigentliche Domäne, die römische Republik, überhaupt nicht, die römische Rechtsgeschichte nur ausnahmsweise. Am häufigsten las er römische Kaiserzeit, und dies zwanzigmal hintereinander. Die Hälfte dieser Lektionen galt der Zeit nach Diocletian. Abgesehen davon, daß eine derartige Spezialisierung in der Lehre überhaupt ungewöhnlich war und auch nach Mommsen nicht zur Regel wurde, verwundert die Wahl der Thematik deswegen, weil Mommsen die Kaiserzeit in seiner „Römischen Geschichte" ausgespart hat und eine ansehnliche Literatur über die Frage vorliegt, weswegen der vierte Band, der die Kaiserzeit behandeln sollte, nicht erschienen ist. 55 Mommsen war wohl an der Erforschung, nicht aber an der Darstellung der Kaiserzeit interessiert, 56 und nach dem Eindruck der erhaltenen Vorlesungsnachschriften konnte das von Mommsen gezeichnete Bild auch seinen eigenen Ansprüchen nicht genügen. 57 Die akademische Lehre hat Mommsen nur nebenbei beschäftigt, seine rhetorischen Fähigkeiten werden von den Zeitgenossen sehr widersprüchlich eingestuft. Anklang fand stets, wenn er über einen Sünder wie Constantin Gericht hielt und ihn vor den Augen seiner Hörer zerfetzte. Immerhin hat Mommsen die bedeutendste althistorische Schule begründet. Zu ihr zählen Gelehrte wie Hirschfeld, Dessau, Domaszewski, Seeck, Ludo Hartmann, Hülsen, De Ruggiero, Bormann und Ulrich Wilcken. Bis zum Jahre von Mommsens Berufung nach Berlin verzeichnet Zangemeister 262 Publikationen. Unter ihnen ist die „Römische Geschichte" (Band 1 , 1 8 5 4 , Band 2 , 1 8 5 5 , Band 3 , 1 8 5 6 , bis zum Jahre 46 55 Etwa A. Heuß, Theodor Mommsen...(wie Anm. 50), S. 94—98, S. 253—256. A. Wucher, Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 126—146. 56 A.a.O., S. 130f. 57 Victor Ehrenberg, Theodor Mommsens Kolleg über römische Kaisergeschichte, in: Heidelberger Jahrbücher 4 (1960), S. 94—107. Zutreffend scheint mir Ehrenbergs Fazit: Mommsens A uffassung des Herrschers Caesar ließ nur Epigonen zu als Kaiser. Neben dem Staatsrecht des Prinzipats und der Provinzialgeschichte gab es für ihn keinen darstellenswerten Stoff, in: A.a.O., S. 105. Alexander Demandt, Die Hensel-Nachschriften zu Mommsens Kaiserzeit-Vorlesung, in: Gymnasium 93 (1986), S. 497—519.

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v. Chr.) die wichtigste. Sie hat in der literarischen Welt zunächst verbreiteten Unwillen ausgelöst, so bei D. F. Strauß, C. Jullian, F. Gregorovius, F. Ritsehl und anderen.58 Mommsens Sprache wurde als schlechtester Zeitungsstil empfunden, seine Aussagen erfuhren ausführliche Kritik. 59 Dennoch hat Mommsens Werk inzwischen 16 Auflagen erlebt, ist in mehrere Sprachen übersetzt worden und hat ihrem Verfasser 1902 als erstem Deutschen den Nobelpreis für Literatur eingebracht. Mommsen sah die römische Geschichte als den letzten Akt jenes großen weltgeschichtlichen Schauspiels, den uns die Entwicklung der antiken Kultur bietet. Sie stellt für ihn einen in sich geschlossenen Kulturkreis dar, dessen Einheit durch die Metaphern von Jugend, Mannesalter und Vergreisung, von Morgen, Mittag und Abend, von Frühling, Sommer und Herbst zum Ausdruck gebracht wird. Die neuere Geschichte erscheint ihm als ein ebensolcher Zyklus, der zwar an den vergangenen anschließt, vermutlich aber ebenso enden werde durch das Versiegen der schaffenden Kraft in der satten Befriedigung des erreichten Zieles („Römische Geschichte", Band 1, Seite 4). Aber auch damit werde die Geschichte nicht enden, denn jedes Ziel sei vorläufig und weise auf ein neues, höheres hin. Im weiten kulturgeschichtlichen Zusammenhang schildert Mommsen die Einwanderung der Indogermanen nach Italien, die Landnahme der Latiner und die Anfänge der Stadt Rom. Die Sagen von Romulus und Remus werden, wie billig, dem Mythos zugerechnet, wie überhaupt die livianische Tradition der Frühzeit, die Niebuhr bereits als legendär erkannt hatte. Seinen Landsmann Niebuhr hat Mommsen hochgeschätzt, er sah in ihm den Begründer der kritischen Geschichtswissenschaft (siehe oben). Ein besonderes Gewicht legt Mommsen auf das Staatsrecht. Es wird bisweilen allzustark nach den rationalen Kategorien des 19. Jahrhunderts geschildert, beispielshalber durch die Annahme, von Anbeginn sei die römische Bürgergemeinde eben wie die deutsche und vermutlich die älteste indogermanische überhaupt die eigentliche und letzte Trägerin der Idee des souveränen Staats („Römische Geschichte", Band 1, Seite 72). Die römische Gemeinde ist für Mommsen ein Ideal: ein freies Volk, das zu gehorchen verstand, in klarer Absage von allem mystischen Priesterschwindel, in unbedingter Gleichheit vor

58

Einen Auszug aus den Rezensionen bietet A. Wucher, Theodor

Mommsen...

(wie

Anm. 50), S. 215 ff. 59

Zur Sprache: K. J. Neumann, Entwicklung

zur Sachkritik Nitzschs vgl. Anm. 86.

und Aufgaben...

(wie Anm. 2), S. 65,

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dem Gesetz und untersteh, in scharfer Ausprägung der eigenen Nationalität („Römische Geschichte", Band 1, Seite 80). Mommsens demonstrative Sympathie für Rom steht im Gegensatz zur herrschenden Strömung der humanistischen Tradition in Deutschland. Seit dem 16. Jahrhundert gibt es ein Gefühl der Wahlverwandtschaft mit den alten Griechen. Schon Melanchthon läßt das erkennen. Die Abkehr vom päpstlichen Rom war zugleich eine Abkehr vom antiken Rom. Bei Winckelmann, Schiller, Hegel, Hölderlin und Humboldt dominiert die Liebe zum Hellenentum, während man die Berufung auf die Römer den „Welschen", das heißt den Italienern und den Franzosen überläßt. Ludwig XIV., Robespierre und Napoleon haben je auf ihre Weise davon Gebrauch gemacht. Mommsens Stimmungswechsel bezeugt ein verändertes Nationalgefühl. Deutschland ist nicht mehr bloß die Kulturnation der Moderne, so wie die Griechen die Kulturnation der Antike waren, sondern begreift sich zugleich als Machtstaat, so wie Rom einer war. Vorausgesetzt ist die nationale Einheit, die Griechenland nie fand. Mommsen beschreibt die Unterwerfung Italiens durch Rom unter dem Blick der nationalen Einigung, ganz so, wie man sich ein durch Piémont geeintes Italien oder ein durch Preußen geeintes Deutschland vorstellte. Mit Recht hat Eduard Meyer später diesen Punkt kritisiert, denn eine italienische Nation hat es im Altertum nicht gegeben. Einverstanden war Meyer hingegen mit Mommsens Urteil über die folgende Entwicklung. Roms Ausgreifen über Italiens Grenzen hinaus erschien beiden Autoren als Verrat am nationalen Prinzip. Sie vertraten die romantische Idee, daß jedem Volk sein souveräner Staat zukäme und die Erde aus einem Völkergarten bestehe. Jede hegemoniale oder gar imperialistische Politik wird von Mommsen verdammt, und zwar nicht nur im Hinblick auf die beschützten und gehorchenden Völker, sondern ebenso im Hinblick auf das beschützende, herrschende Volk. Der Ubergang zum Imperialismus habe für Rom innenpolitisch verheerend gewirkt. An die Stelle eines gesunden Bauerntums sei eine kapitalistische Wirtschaft getreten. Geldsystem und Handelsinteressen hätten eine am Profit orientierte Oberschicht erzeugt, es kam zu sozialen Spannungen, in denen die republikanische Verfassung zerbrach. Obschon Mommsen Monarchist war, erblickte er im augusteischen Principat den Anfang vom Ende der antiken Kultur. Er sympathisierte im Konflikt zwischen Optimaten und Popularen im letzten Jahrhundert der Republik mit der Volkspartei. Caesars Gegner Pompeius, Cicero und Cato Minor werden verächtlich gemacht, Caesar selbst

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erscheint als Weltgeist zu Fuß. In einer Zeit allgemeiner Verderbnis erhebt sich Caesar als Volksgeneral und Demokratenkönig gegen die Arroganz der Junkerklasse (das sind die Senatoren) und gegen die Plutokratie der Kapitalistenklasse (das sind die Ritter) und verleiht dem innerlich abgestorbenen Gemeinwesen jene Gestalt, in der es noch Jahrhunderte dauert. Mommsen hat seine „Römische Geschichte" nie vollendet. 1885 erschien der 5. Band, der den Provinzen der Kaiserzeit gewidmet war. Er ist sachlicher, kühler geschrieben, ohne das Feuer der ersten drei Bände und hat beim Publikum nur einen Achtungserfolg erzielt. Gleichwohl hat die „Römische Geschichte" Mommsens Ruhm begründet. 1895 wurde er Mitglied der Pariser Akademie, 1896 Ehrenbürger Roms, 1902 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. In die Berliner Zeit fällt das „Römische Staatsrecht" (Band 1—3, 1871—1888), worin Mommsen die Institution des Imperiums in systematischer Form behandelt. Als Ganzes ist es nicht überholt, die spätere Kritik 60 richtet sich — wie das bei grundlegenden Werken zu gehen pflegt — gegen die Konzeption. Bestimmt durch die romantische Idee Herders von vorgegebenen Volks-Charakteren faßte Mommsen den römischen Staat von der Königszeit bis in die Spätantike als systematische Einheit. Er deutete auch den Kaiser als Magistrat und setzte sich damit zu den Quellen in Widerspruch, in denen der Kaiser niemals als Magistrat bezeichnet wird, weil er in den Augen der Öffentlichkeit durch den Willen der Götter legitimiert war, der sich im Gesetz der Erbfolge, in der Approbation durch den Senat und der Akklamation des Heeres aussprach. Mommsen wußte, daß jede Monarchie letzten Endes ein Gottesgnadentum ist, wich den daraus für R o m zu ziehenden Folgerungen aber aus, indem er den Principat als Dyarchie, als Zweiherrschaft von Kaiser und Senat verstand. Diese These ist von der Forschung mit Grund verworfen worden, ebenso wird heute Mommsens Annahme abgelehnt, der römische Staat habe stets auf dem Gedanken der Volks-Souveränität beruht. 61 Selbst für die Republik ist das anfechtbar. Von diesen Einwänden abgesehen, liefert das „Staatsrecht" Zur neueren Auseinandersetzung mit Mommsens Staatsrecht vgl. Alfred Heuß, Theodor Mommsen und die revolutionäre Struktur des römischen Kaisertums, in: A ujstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, hrsg. von Hildegard Temporini u.a., Bd. Iff., Berlin-New York 1972ff., Bd. 2,1, S. 77—90, und Jochen Bleicken, Z.ex Publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin 1975, S. 13—51. 60

61 Theodor Mommsen, Römisches Staatsrecht, Bd. 1—3, Leipzig 1887—1888, Bd. 2,2, 3. Aufl., S. 749.

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aber eirfen solchen Reichtum an Informationen, daß es ein unentbehrliches Arbeitsinstrument geblieben ist. Grundlegend für die weitere Forschung wurden weiterhin Mommsens Arbeiten über Chronologie, Numismatik und Strafrecht der Römer sowie seine gehaltvollen Aufsätze zur Spätantike, 62 die nach wie vor den besten Einstieg in die Quellenlage darstellen. Für die Erforschung Spätroms hat Mommsen als Herausgeber Bleibendes geschaffen, so mit den „Auetores Antiquissimi" in den „Monumenta Germaniae", mit den „Digesten" und dem „Codex Theodosianus". Da Mommsen praktisch die gesamte ältere Forschung zur römischen Geschichte berücksichtigt und überholt hat, genügt es in der Regel, die seitdem erschienenen Beiträge aufzuarbeiten. Man geht gewöhnlich nicht hinter Mommsen zurück. Indem er die Bücher, aus denen er gelernt hat, selten zitiert, bildet er in der Forschungsgeschichte eine Barriere, die sich gleichwohl bisweilen zu überspringen lohnt. Forschung und Organisation verband Mommsen in den von ihm begründeten oder beratenen historischen Großunternehmen, im „Corpus Inscriptionum Latinarum" (CIL), bei den „Monumenta Germaniae Histórica", in der Zeitschrift „Hermes", in der „Prosopographia Imperii Romani", im „Corpus N u m m o r u m " , bei den Ausgrabungen in Pergamon und in der Reichs-Limes-Kommission, die 1892 auf seine Veranlassung zum ersten Mal zusammentrat. Neben Curtius, H a u p t und Lepsius gehörte er zu den leitenden Männern der Zentraldirektion des Deutschen Archäologischen Instituts. An dessen Umwandlung aus einer preußischen in eine deutsche Einrichtung 1874 war er entscheidend beteiligt. 63 Trotzdem hatte er zur Archäologie ein distanzierteres Verhältnis als zu den übrigen Nachbardisziplinen der Althistorie. Sei es doch ein Grundsatz der Archäologen, vorzugsweise nach dem zu forschen, was weder wißbar noch wissenswert ist.64 Mittelpunkt von Mommsens organisatorischem Wir62

Mommsens kürzere Schriften finden sich gesammelt in folgenden Werken: Th. Mommsen, Reden... (wie Anm. 12), Theodor Mommsen, Römische Forschungen, Bd. 1 u. 2, Berlin 1864—1879; Theodor Mommsen, Gesammelte Schriften, Bd. 1—8, Berlin 1905—1913. 63 R. Schöne, Erinnerungen an Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 29. Zur Sache vgl. Adolph Michaelis, Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts 1829— 1879. Festschrift zum 21. April 1879, hrsg. von der Centraidirektion des Archäologischen Instituts, Berlin 1879, S. 158—167. 64 Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. 1—3 und 5, Berlin 1854—1885, Bd. 1, 7. Aufl., S. 120. Gemeint ist die Suche nach dem Ursprung der Etrusker.

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ken war seine Stellung an der Preußischen Akademie. 1874 bis 1895 war er Sekretär ihrer philosophisch-historischen Klasse. Der Rücktritt als Sekretär hängt zusammen mit Mommsens politischen Aktivitäten, die bald nach seiner Ubersiedlung nach Berlin wieder einsetzten. 1863 bis 1866 war er Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, in welchem er sich nach seiner Wahl durch die Stadt Halle und den Saalekreis den Liberalen anschloß. Mommsen wandte sich gegen eine Lösung der deutschen Frage auf dem Wege preußischer Annexionen und trat für die Schaffung eines Deutschen Parlaments ein, in Anlehnung an die Paulskirche. Dafür schien ihm auch Gewalt legitim.65 Im Kriege 1870/71 exponierte er sich, aber er tat es zögernd, angesichts der Zerstörung wissenschaftlicher Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg, und später empfahl er die Abschaffung des Sedanstages.66 Das unterscheidet ihn wohltuend von dem aufgeregten Patriotismus eines Eduard Meyer im Ersten oder gar der kalten Linientreue eines Wilhelm Weber im Zweiten Weltkrieg. 1873 bis 1879 war Mommsen nationalliberaler Abgeordneter im Landtage für Cottbus-Spremberg-Calau und 1881 bis 1884 in Coburg gewähltes Mitglied des Reichstages. Die Einheit Deutschlands schien ihm durch Bismarck höchst unzureichend verwirklicht, Mommsen war ein entschiedener Gegner des Föderalismus und trat für den Einheitsstaat ein. Die Herrschaft der Hohenzollern war für ihn selbstverständlich, sein Verhältnis zu Wilhelm II. war gut. Der Kaiser stiftete Mommsen ein Denkmal aus eigener Tasche. Immer wieder aber wetterte Mommsen gegen Kapitalismus, Junkertum und Kaplanokratie. Den Sozialdemokraten bezeugte er Achtung. Dreimal hat Mommsen Schlagzeilen gemacht. Das erstemal war es seine Stellungnahme im Antisemitismus-Streit gegen Treitschke 1880, in dem er sich für unser Judentum einsetzte.67 Hier handelte Mommsen schon aus seiner Verpflichtung gegenüber Salomon Hirzel heraus, der die Abfassung der „ Römischen Geschichte" und des „ Staatsrechts" 65 Theodor Mommsen, Die Annexion Schleswig-Holsteins. Ein Sendschreiben an die Wahlmänner der Stadt Halle und des Saalkreises (1865), in: Th. Mommsen, Reden...

(wie Anm. 12), S. 373—401, bes. S. 375, 381. 66 L. M. Hartmann, Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 115, 128. Carl Bardt,

Theodor Mommsen (1817—1903), Berlin 1903, S. 21; A. Wucher, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung... (wie Anm. 50), S. 198; R. Schöne, Erinnerungen an Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 11. 67 Theodor Mommsen, Auch ein Wort über unser Judentum (1880), in: Th. Mommsen, Reden...

(wie Anm. 12), S. 410—426. Zum Ganzen vgl. Walter Boehlich (Hrsg.),

Der Berliner Antisemitismusstreit,

Frankfurt a. M. 1965.

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angeregt hatte. 68 Das zweite war Mommsens Konflikt mit dem größten aller Opportunisten, mit Bismarck,69 den ihm noch Eduard Meyer im Nachruf in der „Gartenlaube" 70 verübelte, in dem er meinte, Mommsen habe einem überholten Ideal angehangen. Freilich, 1910 konnte das so aussehen.71 Den von Bismarck angestrengten Beleidigungsprozeß hat Mommsen allerdings nur mit einem unglaubwürdigen Dementi gewonnen. Er behauptete, mit der „Politik des Schwindels" nicht Bismarck und die (angeblich nicht zu finanzierende) Sozialgesetzgebung gemeint zu haben, sondern die Kathedersozialisten. Als diese protestierten, dementierte Mommsen abermals. Das dritte war der Fall Spahn 1901, als Mommsen dagegen protestierte, daß Althoff bei der Besetzung einer Straßburger Geschichtsprofessur einen Kandidaten wegen seiner katholischen Konfession bevorzugte. Mommsens politische Haltung ist durch einen oppositionellen Rigorismus gekennzeichnet, der in die Verbitterung führte. In seinem Testament erklärte er, in Deutschland käme der Einzelne, auch der Beste, über den Dienst im Gliede und den politischen Fetischismus nicht hinaus.72 Mommsen monierte die blinde Disziplin auf der einen, das blinde Wunschdenken auf der anderen Seite, er endete in einer Haltung, wie sie Jacob Burckhardt immer eingenommen hat. Eine Eisentafel auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Kreuzberg bezeichnet seine Grabstätte. Gegenüber liegen Schleiermacher und Menzel. Nachfolger Mommsens wurde Otto Hirschfeld (1843—1922).73 Nach einer philologischen Dissertation über den antiken Liebeszauber 1863 ging er nach Italien, wo ihn Henzen in die Epigraphik, Heibig in R. Schöne, Erinnerungen an Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 13. " Theodor Mommsen, Ludwig Bamberger (1893), in: Th. Mommsen, Reden... Anm. 12), S. 468—475, bes. S. 472. 68

(wie

70 Eduard Meyer, Theodor Mommsen, in: Die Gartenlaube, (1903), S. 868—871, und in: Eduard Meyer, Kleine Schriften. Zur Geschichtstheorie und zur wirtschaftlichen und politischen Geschichte des Altertums, Halle 1910, S. 538—549.

E. Meyer, Kleine Schriften... (wie Anm. 70), S. 548, Anm. 1. Abgedruckt etwa bei A. Heuß, Theodor Mommsen... (wie Anm. 50), S. 282. 73 Zu Hirschfeld vgl. Ulrich Wilcken, Gedächtnisrede auf Otto Hirschfeld (1922), in: Ulrich Wilcken, Berliner Akademie-Schriften zur Alten Geschichte und Papyruskunde (1883—1942) (= Opuscula 2), Bd. 1 u. 2, Leipzig 1970, S. 119—125, und den Nachruf von Ernst Kornemann, Otto Hirschfeld. Geb. 16. März 1843, gest. 27. März 1922, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 44. Jg. ( = J a h r e s b e r i c h t . . 5 0 . Jg.), Bd. 202 Β (1924), S. 104—116. Dort sind auch ältere Schriften über Otto Hirschfeld verzeichnet. Zur Einrichtung des Instituts für Altertumskunde vgl. M. Lenz, Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität... (wie Anm. 3), Bd. 3, S. 216—219. 71

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die Archäologie einführte. 74 1869 habilitierte er sich in Göttingen, wahrscheinlich mit der Schrift über die „Getraideverwaltung in der römischen Kaiserzeit" („Philologus" 29 [1870], Seite 1—95), 1872 wurde er Ordinarius in Prag, 1876 in Wien, 1883 trat er in die Berliner Akademie ein, und 1885 erreichte ihn der Ruf auf den Lehrstuhl seines Lehrers Mommsen, den er bis 1917 innehatte. Analog zu seinem Wiener „Archäologisch-epigraphischen Seminar" hat Hirschfeld in Berlin die Einrichtung des „Instituts für Altertumskunde" durchgesetzt und wurde dessen erster Direktor. Diese Einrichtung kam vor allem der Ausbildung der Studenten zugute. Im Unterschied zu Mommsen, für den die Lehre bloß Abfallprodukt seiner Forschung war, hat Hirschfeld sein Themenangebot weit gefächert und namentlich durch seine Übungen gewirkt. Hirschfelds Forschungen sind gekennzeichnet durch den Anschluß an Mommsen. Wie dieser konzentrierte er sich auf die römische Geschichte, namentlich auf die Kaiserzeit. Hirschfelds „Kleine Schriften" enthalten eine Fülle fundamentaler Untersuchungen zu den Staatseinrichtungen des Principats. 75 Sie sind erwachsen aus Hirschfelds Herausgabe der gallischen und germanischen Inschriften im C I L . Eine systematische Darstellung gelang ihm mit den „Kaiserlichen Verwaltungsbeamten bis auf Diocletian", 2. Aufl. 1905. Hirschfeld machte die Wandlungen unter Claudius, Hadrian und Septimius sichtbar und trug damit der in Mommsens „Staatsrecht" vernachlässigten chronologischen Dimension Rechnung. Schließlich verdanken wir Hirschfeld die Edition von Mommsens Schriften, zu denen die seinen eine wertvolle Ergänzung bilden. Im Jahre von Hirschfelds Berufung, 1866, übernahm Ulrich Köhler (1838—1903) 76 den Lehrstuhl Droysens für Geschichte. Nach

In Erinnerung daran verfaßte er 1879 mit Otto Benndorf die Festschrift zur SOjährigen Gründungsfeier des Archäologischen Instituts in Rom, Wien 1879. 75 Otto Hirschfeld, Kleine Schriften, Bd. 1 u. 2, Berlin 1913. Sie sind gegenüber den Erstpublikationen revidiert. Eine Liste der nicht aufgenommenen Aufsätze findet sich a. a. O., S. V. 76 Zu Köhler vgl. den Nachruf in: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts. Athenische Abteilung 29 (1904), S. I—VII; sowie R. Weil, Ulrich Köhler, in: Zeitschrift für Numismatik 24 (1904), S. 377f., und R. Weil, Köhler, Ulrich Leopold, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 8 (1905), S. 315—324 (mit Schriftenverzeichnis). Friedrich Koepp, Ulrich Köhler, geb. am 5. November 1838, gest. am 21. Oktober 1905, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde, 29. Jg. (= Jahresbericht...,34. Jg.), Bd. 132 Β (1906), S. 12—29 (mit weiterführender Literatur und Schriftenverzeichnis Köhlers). 74

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einer philologischen Dissertation (1860) arbeitete er am Römischen Institut und publizierte 1863 die „Augustus-Statue von Prima Porta". 1865 wurde er Dolmetscher bei der preußischen Gesandtschaft in Athen und schrieb dort seine „Urkunden und Untersuchungen zur Geschichte des delisch-attischen Bundes" (erschienen 1870). 1872 erhielt er den Lehrstuhl für Altertumswissenschaft in Straßburg und wurde 1875 erster Leiter des neugegründeten Athener Instituts. Er schuf 1876 die „Athener Mitteilungen", im übrigen scheint die Art, wie er seine Funktion wahrgenommen hat, ein Sonderfall in der Institutsgeschichte zu sein.77 In Berlin ist Köhler neben Hirschfeld Direktor am Institut für Altertumskunde gewesen. Im Winter 1891/92 behandelte er den neugefundenen Papyrus mit dem „Staat der Athener" des Aristoteles, im allgemeinen scheinen seine regelmäßig den Griechen gewidmeten Lehrveranstaltungen im Schatten derer von Hirschfeld, Mommsen, Dessau, Hans Droysen, Klebs, Fabricius, Wilcken, Curtius, Kiepert, Koepp, Toepffer, Lehmann-Haupt, Delbrück, Wilamowitz, Kübler, P. M. Meyer und Sieglin gestanden zu haben, von den Orientalisten zu schweigen. Eine solche Anzahl von Lehrern der Alten Geschichte wie im späten 19. Jahrhundert hat die Berliner Universität sonst nicht aufzuweisen. Köhlers Schriftenverzeichnis umfaßt 63 Nummern, am bedeutendsten sind seine attischen Inschriften in den „Inscriptiones Graecae". Köhler hat es noch erlebt, wie seine Ausgaben veraltet sind. Für das griechische Münzwesen ist Köhlers Entdeckung des peloponnesischen Eisengeldes epochal geworden (1882), auch sonst hat er über Numismatik gearbeitet. Zur geplanten Geschichte Makedoniens hat er nur Vorstudien abschließen können. Köhlers Schriften werden in einschlägigen neueren Werken nicht mehr aufgeführt, in der Bibliothek des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom stehen sie im Magazin. In der Ära Hirschfeld-Köhler lehrten als Privatdozenten für Alte Geschichte in Berlin Klebs, Toepffer und Lehmann-Haupt. Elimar Klebs (1852—1918)78 war Schüler Mommsens, promovierte 1876

77

Nach F. Koepp, Ulrich Köhler... (wie Anm. 76), S. 18, scheint er erst eben vor dem Abschied nach mehr als zehnjährigem Dienst Interesse am griechischen Lande außerhalb Athens gezeigt zu haben. 78 Zu Klebs: Franz Gundlach (Hrsg.), Catalogas professorum academicae Marburgensis. Die akademischen Lehrer der Philipps-Universität in Marburg von 1527 bis 1910 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 15), Marburg 1927, S. 349 (mit Verweis auf Schriftenverzeichnis).

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Alte Geschichte in Berlin

„De scriptoribus aetatis Sullanae" und befaßte sich später mit Petron und dem Anonymus Valesianus. 1883 wurde er Privatdozent in Berlin, 1906 Ordinarius für Alte Geschichte in Marburg. Johannes Toepffer (1860—1895) 7 9 hatte sich in seiner Dissertation „Quaestiones Pisistrateae" (1886) mit der Chronologie der Tyrannis in Athen befaßt und errang mit seiner „Attischen Genealogie" 1889 hohes Ansehen. Im folgenden Jahre habilitierte er sich in Berlin, lehrte aber nur kurz, weil ihn das Reisestipendium des archäologischen Instituts in den Süden führte. Ende 1893 erhielt er eine außerordentliche Professur in Basel, starb aber zwei Jahre darauf in Italien. Er liegt neben der CestiusPyramide. Karl-Friedrich Lehmann-Haupt (1861—1938) 8 0 wurde 1893 Privatdozent, 1901 außerordentlicher Professor und begründete in diesem Jahre die Zeitschrift „Klio", die er bis 1936 herausgab. Lehmanns Arbeitsgebiet war die Geschichte des Alten Orient und des östlichen Mittelmeerraums im Altertum. 1911 wurde er Ordinarius in Liverpool. Die Ära Mommsens ist gekennzeichnet durch eine wachsende Bedeutung und eine zunehmende Verselbständigung der althistorischen Hilfswissenschaften. Dies läßt sich zeigen an der Geographie, der Epigraphik und der Papyrologie. Im Anschluß an Ritter und Müller hat sich Heinrich Kiepert (1818—1899) 8 1 um die antike Geographie verdient gemacht. Er studierte in Berlin bei Zumpt, Boeckh, Toelken und Ritter. Kieperts Lebenswerk sind die Karten von Palästina und Kleinasien, entworfen aufgrund intensiver Reisestudien. 1853 trat er als Professor in die Akademie ein, zeichnete auf Mommsens Anregung die Karten für das C I L und lehrte ohne Habilitation an der Universität Länder- und Völkerkunde der Alten Welt. Große Verbreitung fanden seine historischen Schulatlanten: seine „Formae orbis antiquae" wur79

Zu Toepffer: O t t o Kern, Toepffer,

Johannes

Alexander

Ferdinand,

Bd. 54, S. 7 0 6 — 7 0 8 . Postum erschienen seine Beiträge zur griechischen

in:

ADB,

Altertumswissen-

schaft, Berlin 1897. 80

Zu Lehmann (seit 1906 Lehmann-Haupt) vgl. seine Vita in Karl Friedrich

Lehmann-Haupt, De inscriptionihus

cuneatis quae pertinent ad Samas-sum-ukm

regis

Bahyloniae regni initia, Phil. Diss., Berlin 1886; sowie den Nachruf Ernst F. Weidners, Carl Friedrich Lehmann-Haupt,

in: Archiv für Orientforschung

12 (1937—1939), S. 310

(mit Verweis auf sein Publikationsverzeichnis). Am dauerhaftesten dürfte sein Corpus Inscriptionum

Chaldicarum,

1928—1935, neben Armenien

sein. Johannes Renger, Die Geschichte der Altorientalistik Archäologie Antike... 81

einst und jetzt, 1910—1931, und der

vorderasiatischen

in Berlin von 1875 his 1945, in: W . Arenhövel (Hrsg.), Berlin und die (wie Anm. 1), S. 151—192, bes. S. 173 f.

Zu Kiepert: Viktor Hantzsch, Kiepert, Johann Samuel Heinrich, in: ADB, Bd. 51,

S. 133—145. K. J. Neumann, Entwicklung

und Aufgaben...

(wie Anm. 2), S. 70f.

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den von seinem Sohn Richard herausgegeben. Nach Kiepert hat sich Wilhelm Sieglin (1855—1935) 8 2 um die antike Geographie bemüht. Seine Arbeiten waren teilweise rein althistorisch, ebenso manche seiner Lehrgegenstände. E r las als ordentlicher Professor der Historischen Geographie von 1899 bis 1914. V o n der Epigraphik her erschloß sich Hermann Dessau ( 1 8 5 6 — 1931) 8 3 den Zugang zur Alten Geschichte. E r promovierte 1877 in Straßburg „De sodalibus et flaminibus Augustalibus" und ging als Schüler Mommsens auf dessen Empfehlung nach R o m und Algier, um Nordafrika für das C I L zu bearbeiten. 1884 wurde er im Hinblick auf seine epigraphischen Publikationen in Berlin habilitiert, eine eigene Habilitationsschrift erübrigte sich. 1896 erhielt er den T i t e l eines Professors, 1917 den eines ordentlichen Honorarprofessors. Familiärer Wohlstand erlaubte es ihm, erst 1900 eine Beamtenstellung am CorpusUnternehmen der Akademie anzutreten. An der Universität las Dessau römische Geschichte, in den Übungen behandelte er geographische, ökonomische, chronologische und epigraphische T h e m e n , letztere regelmäßig. Als Grundlage für diese Übungen publizierte er 1892—1916 die „Inscriptiones Latinae Selectae", eine systematisch geordnete, kurz kommentierte, durch ausführliche Register zugängliche Sammlung der wichtigsten römischen Inschriften. Dieses W e r k , im Nachdruck verfügbar, ist ein unschätzbares Arbeitsinstrument geblieben. Neben der Mitarbeit an der „ Ephemeris Epigraphica", der „ Prosopographia Imperii R o m a n i " und dem „ Pauly-Wissowa" ist Dessau 1889 der bahnbrechende Nachweis gelungen, daß die „Scriptores Historiae Augustae" eine spätantike Fälschung darstellen. 84 Geteilte Aufnahme fand seine

82 Wilhelm Sieglin publizierte die Bücher: Chronologie der Belagerung von Sagunt, Diss., Leipzig 1878; Fragmente des L. Coelius Antipater, Leipzig 1879; Karte der Entwicklung des Römischen Reichs, Leipzig 1885; sowie mehrere Geschichtsatlanten zum Altertum. 1901 begründete er die Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie. Sein letzter Beitrag zum Fortschritt der althistorischen Wissenschaft ist sein Buch von 1935: Die blonden Haare der indogermanischen Völker des Altertums. Sammlung der antiken Zeugnisse als Beitrag zur Indogermanenfrage, München 1935. 83 Zu Dessau vgl. die Nachrufe von Salomon Frankfurter, Hermann Dessau. Geboren 6. April 1856, gestorben 12. April 1931, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde (= Jahresbericht . . . , 59. Jg.), Bd. 241Β (1933), S. 80—107 (mit Schriftenverzeichnis), dazu auch Karl Münscher, Erklärung, in: Biographisches Jahrbuch für Alterstumskunde (= Jahresbericht . . . , 60. Jg.), Bd. 245Β (1934), S. If., und Arthur Stein, Hermann Dessau, in: Klio 25 (1932), S. 226—244. 84 Hermann Dessau, Uber Zeit und Persönlichkeit der Scriptores Historiae Augustae, in: Hermes 24 (1889), S. 337—392. Auf diese Schrift baut das von J. Straub in Bonn

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unvollendet gebliebene Geschichte der römischen Kaiserzeit (2 Bände, 1924/1930). Der Papyrologie gehören die wichtigsten Arbeiten von Paul Martin Meyer (1866—1935) 8 5 an. Seiner philosophischen Promotion 1891 über die Maecenasrede bei Cassius Dio folgte 1895 eine juristische Promotion über das römische Konkubinat. Mit den Papyri befaßte er sich zuerst bei seiner Habilitation über das griechisch-römische Heerwesen in Ägypten (1900). 1916 wurde Meyer außerordentlicher Professor, 1917 Honorarprofessor für Alte Geschichte und Papyruskunde. Entpflichtet wurde er 1931. Während dieser Zeit hat er namentlich als Herausgeber und Kommentator von Berliner, Hamburger und Gießener Papyri gearbeitet, darunter sind die Libelli aus der Decianischen Christenverfolgung (1910). Für die Geschichte der Spätantike bietet seine Ausgabe der Novellen zum „ C o d e x Theodosianus" in der von Mommsen und ihm gezeichneten Edition ein Standardwerk. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hat den Ubergang der Alten Geschichte vom Teil der Universalhistorie zum Spezialfach gebracht, Mommsen bezeichnet in diesem Sinne eine Epoche. T r o t z d e m hat sich dieser Wandel langsam vollzogen, und zunächst wurde unser Fach auch weiterhin von den angrenzenden Disziplinen her betrieben. Aus dem Bereich der allgemeinen Geschichte sind hier Nitzsch und Delbrück zu nennen. Karl Wilhelm N i t z s c h (1818—1880) 8 6 promovierte 1842 über Polybios und bereiste dann Italien. Hier entwarf er sein 1846 erschienenes Buch „ D i e Gracchen und ihre nächsten Vorgänger", in dem er konsequent versuchte, die politische Bewegung aus wirtschaftlichen Gründen herzuleiten. Mit der „Römischen Geschichte" seines Jugendfreundes Mommsen hat er sich intensiv auseinandergesetzt 8 7 und ihr entgegengehalten, daß sie die Institutionen durch die Brille von Cicero und Varrò sehe und allzu stark auf die Figur Caesars hin gestaltet sei. Während seiner Kieler Zeit 1844—1862 wandte sich Nitzsch der mitgeleitete Großunternehmen der Historia Augusta-Forschung mit seinen zahlreichen Publikationen. Dessaus These findet auch heute noch einzelne Gegner; sie setzt sich durch, wie das bei tiefergreifenden Erkenntnissen zu gehen pflegt, indem die Anhänger der älteren Ansicht aussterben. 85 Zu Meyer: Wolfgang Kunkel, Paul Martin Meyer, in: Zeitschrift Stiftungfür Rechtsgeschichte. Römische Abteilung 56 (1936), S. 428f.

der

Savigny-

Zu Nitzsch: Ignaz Jastrow, Nitzsch, Karl Wilhelm, in: A DB, Bd. 23, S. 730—742. Karl Wilhelm Nitzsch, Römische Geschichte von Theodor Mommsen, in: Neue Jahrbücherfür Philologie und Pädagogik,2b. J g . , B d . 73(1856),S. 716—745, und 28. Jg., Bd. 77 (1858), S. 409—438, S. 593—627. 86

87

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telalterlichen Ministerialitat zu, anschließend in Königsberg auch der Neuhistorie. 1872 erhielt er als Mediävist ein Ordinariat für Geschichte in Berlin und las hier bis 1880. Seine althistorischen Publikationen, namentlich die „Römische Annalistik" (1873), und seine Vorlesungen, so die „Römische Geschichte" (postum erschienen 2 Bände 1884/85), waren an Niebuhr orientiert und richteten sich gegen Mommsen, dem er als Antisemit entgegentrat. 8 8 Immerhin erkannte Mommsen bei der Aufnahme von Nitzsch in die Akademie 1879 an, daß Letzterer noch nicht zum Spezialisten verkümmert sei. Ebensowenig wie Nitzsch läßt sich Hans Delbrück (1848—1929) als Althistoriker ansprechen. 8 9 Nach dem Studium war er Prinzenerzieher am preußischen H o f , zeigte aber früh Sympathien für die Sozialdemokratie 9 0 und gehörte während des Ersten Weltkriegs zu den Gegnern der Annexionisten. 9 1 Insofern lag er nicht auf der Linie Treitschkes, dessen Lehrstuhl er 1896 übernahm. Delbrücks Arbeitsgebiete waren preußische Geschichte, Kriegsgeschichte und Weltgeschichte. Seine „Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte" (Band 1—4, 1900 ff.) lieferte für das Altertum zum ersten Male eine fundierte Sachkritik der überlieferten Heeresgrößen. Delbrück unterschied Formen und Ziele der Kriegführung im Hinblick auf soziale, politische und ethnische Gegebenheiten und leistete damit wichtige Vorarbeiten für Kromayers Studien zum antiken Kriegswesen. Im Unterschied zu diesem behandelte Delbrück auch die Germanen und die Spätantike. Delbrücks „Weltgeschichte" (Band 1—5, 1924 ff.) erwuchs aus einem viersemestrigen Vorlesungsturnus, der in vier W o chenstunden seit 1896 gehalten wurde. Delbrück lehnte sich darin an Ranke an und stellte sich in dem römischen Abschnitt gegen M o m m sens Annahme eines vorgegebenen Volkscharakters, gegen dessen

W. Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit... (wie Anm. 67), S, 245. Zu Delbrück vgl. K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 159—200 (mit früherer Literatur), S. 367 f. K. Christ, Römische Geschichte... (wie Anm. 2), S. 89 ff. Andreas Hillgruber, Hans Delbrück, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, S. 40—53 (mit Literatur). Charles E. McClelland, Berlin Historians and German Politics, in: Journal of Contemporary History 8 (1973), No. 3, S. 3—33. 88

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90 Die Grenze zog Delbrück in seinem Buch Die Marx'sche Geschichtsphilosophie, Berlin 1921. Es ist eine Polemik, die jedoch einzelne treffende Gedanken enthält, so eine Kritik des Klassen-Begriffs. 91 Klaus Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral. die politischen Grundfragen des Ersten Weltkriegs, 1969, S. 59 ff.

Die deutschen Hochschullehrer und Göttingen-Zürich-Frankfurt a. M.

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Dyarchie-These und gegen Eduard Meyers Heraushebung des Pompeius (siehe unten). T r o t z der oft ermüdenden Breite in der Darstellung des Kriegsgeschehens wird man Delbrück darin zustimmen, daß aus dem Kriegswesen für das Verständnis von Staat und Gesellschaft im Altertum mehr zu gewinnen ist als aus der Wirtschaft. Daß die militärische Leistungsfähigkeit politisch stärker ins Gewicht fällt als die ökonomische Produktivität, haben die Perser an den Griechen, die Griechen an den Römern und die Römer an den Germanen erfahren. Delbrücks Satz: der spätrömische Staat hatte kein Ziel, keine Aufgabe mehr, weil er alles erreicht hatte,92 kennzeichnet den Unterschied der römischen gegenüber der germanischen Perspektive treffend, und das, was Delbrück zum Verständnis der Kräfteverschiebung zwischen den beiden Mächten fehlte, war nur die Kenntnis der kriegstechnischen Fortschritte bei den Germanen, die uns die Archäologie immer deutlicher vor Augen stellt. Neben den Historikern haben auch die Archäologen und Philologen im späten 19. Jahrhundert noch Bedeutendes für die Alte Geschichte geleistet. Unter den Archäologen steht an erster Stelle Ernst Curtius (1814—1896).93 Er hatte als Philologe begonnen, nach einer Griechenlandreise sich jedoch der Archäologie zugewandt und promovierte 1841 in Berlin über die Häfen Athens. Seit 1843 Privatdozent, brachte ihm seine Vorlesung über die Akropolis die Stelle eines Erziehers bei dem späteren Kaiser Friedrich III. ein. Sie endete 1850, als Curtius seine Vorlesungstätigkeit wieder aufnahm. Seine Forschungen galten der Topographie der Peloponnes und den attischen Inschriften, bis ihn der Auftrag der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung erreichte, als Gegenstück zu Mommsens Römischer eine Griechische Geschichte zu schreiben. Das dreibändige Werk erschien 1857—1867, während Curtius auf dem vermutlich ersten speziell für Alte Geschichte definierten Lehrstuhl in Göttingen lehrte. Curtius vertrat einen humanistischen Klassizismus, er fand das griechische Ideal im 92

Hans Delbrück, Weltgeschichte. Vorlesungen, gehalten an der Universität Berlin 1896—1920, Bd. 1—5, Berlin 1923—1928, Bd. 1, 2. Aufl., S. 654. 93 Zu Curtius: Otto Kern, Curtius, Ernst, in: ADB, Bd. 47, S. 580—597 (mit Literatur). Ludwig Gurlitt, Erinnerungen an Emst Curtius, geb. 2. 9.1814, gest. 11. 7.1896, Berlin 1902. Friedrich Curtius, Ernst Curtius. Ein Lebensbild in Briefen, Berlin 1903. K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 68—83. Gerald Heres, Ernst Curtius als Archäologe, in: Staatliche Museen zu Berlin. Forschungen und Berichte 16 (1974), S. 129— 148. Einen Eindruck von der Denkwelt des Autors vermittelt Ernst Curtius, Alterthum und Gegenwart. Gesammelte Reden und Vorträge, Bd. 1 u. 2, Berlin 1875—1882.

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fünften Jahrhundert und brach seine Darstellung mit der Schlacht bei Chaironeia ab. Anders als Droysen sah er in den Makedonen die Zerstörer der griechischen Kultur, doch hat er diese Ansicht unter dem Eindruck der Ereignisse von 1870/71 geändert. 9 4 1868 übernahm er die archäologische Professur in Berlin, 1881/82 war er R e k t o r . Curtius hat in Berlin vielfach althistorische Lehrveranstaltungen gehalten, seine größte Leistung liegt jedoch in der Eröffnung der Olympia-Grabung 1874. Zwei Jahre zuvor versuchte er im Auftrage des Ministeriums, J a c o b Burckhardt zur Übernahme der Nachfolge Rankes zu bewegen. Dies mißlang, und so fehlt dieser Name in der Berliner AlthistorikerGalerie. Er hätte mit seinem Griechenbild den notwendigen Kontrast zu Curtius gebildet. N u r kurze Zeit wirkten in Berlin als Privatdozenten die Archäologen Fabricius und Koepp. Sie vertraten eines neues Teilgebiet der Archäologie, das der Alten Geschichte besonders nahesteht: die Limesforschung. Ernst Fabricius (1857—1942) 9 5 k o m m t von der Philologie, er promovierte 1881 in Straßburg über die Fachausdrücke der griechischen Architektur und wurde dann Stipendiat des Archäologischen Instituts. Als solcher hat er den Eupalinos-Kanal in Samos erforscht und in Kreta die Inschrift von G o r t y n aufgenommen, die Z e u s - G r o t t e am Ida entdeckt und als erster den Palast von Knossos topographisch festgestellt. 1886 wurde er in Berlin Privatdozent, ging aber 1888 als erster Professor der Alten Geschichte nach Freiburg, von wo aus er die Reichskommission für den obergermanisch-raetischen Limes leitete. Friedrich Koepp (1860—1944) 9 6 erhielt nach seiner Promotion 1883 über die Gigantomachie in der Poesie gleichfalls das archäologische Reisestipendium, habilitierte sich über die griechisch-persischen Beziehungen vor Alexander und war von 1892—1896, seinem Weggang nach Münster, als Privatdozent für Archäologie und Alte Geschichte in Berlin tätig. Koepp widmete sich seit 1899 wie Fabricius vorwiegend der provinzialrömischen Archäologie. 1916 wurde er Direktor der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt. Sein Buch „Die R ö m e r in Deutschland" faßt das Wissen seiner Zeit zusammen.

A. Demandt, Politische Aspekte im Alexanderbild... (wie Anm. 45), S. 334. Zu Fabricius vgl. Walther Kolbe, Ernst Fabricius, in: Historische Zeitschrift 167 (1943), S. 666f., und Peter Goeßler, Ernst Fabricius, in: Nachrichtenblatt für deutsche Vorzeit 18 (1942), S. 121—127. 96 Zu Koepp: Peter Goeßler, Friedrich Koepp, in: Gnomon 21 (1949), S. 90—92. 94

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Der bedeutendste Philologe Berlins seiner Generation war Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848—1931). 97 Er hat sich unter dem Eindruck seines Schwiegervaters Mommsen aus dem klassizistischen Denken gelöst und aus den Heroen oder Schäfern oder posierenden Maskenträgern Menschen gemacht. Schwerpunkt seiner Arbeiten waren die Tragiker und Piaton, doch griff er zunehmend nach der hellenistischen, ja der christlichen Literatur. Als Ordinarius für Klassische Philologie in Berlin seit 1896 erneuerte er Boeckhs Gedanken einer sämtliche Einzeldisziplinen umschließenden Altertumswissenschaft, deren institutioneller Mittelpunkt 1887 das von Hirschfeld geschaffene, später ausgebaute Institut für Altertumskunde wurde. Es diente der Forschung wie der Lehre, deren Themen nicht nur häufig historisch formuliert waren, sondern auch innerhalb des Faches Geschichte angekündigt wurden. Unter den Schriften von Wilamowitz sind hier zu nennen „Aristoteles und Athen" (2 Bände, 1893), eine verfassungsgeschichtliche Interpretation des neugefundenen Papyrus über den Staat der Athener, weiterhin „Staat und Gesellschaft der Griechen" (1910, 2. Aufl. 1923), eine leicht verständliche Darstellung von der dorischen Einwanderung bis zur römischen Zeit, sowie „Der Glaube der Hellenen" (2 Bände, 1931/32), in dem die griechische Religion in ihrer Geschichte und ihrer Verflechtung in die verschiedensten Lebensbereiche vorgeführt wird. In allen Schriften zeigt sich Wilamowitz von zwei Seiten: als Historiker, dem es um das Verstehen, als Humanist, dem es um die Bewahrung des Wertvollen geht. Wegen seiner überwiegend historischen Forschungsinteressen verdient neben Wilamowitz auch

97 Zu Wilamowitz vgl. seine Autobiographie: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848—1914, Leipzig 1928, 2. Aufl. 1929. Werner Jaeger, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1932), in: Werner Jaeger, Humanistische Reden und Vorträge, 2., erw. Aufl., Berlin 1960, S. 215—221. Friedrich Hiller von Gaertringen/Günther Klaffenbach, Wilamowitz-Bihliographie. 1868—1929, Berlin 1929; Nachträge in: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Kleine Schriften, hrsg. mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften, T. 1—6, Berlin 1935—1972, und Nachdruck Amsterdam 1971—1972, T. 6. Karl Reinhardt, Ulrich von WilamowitzMoellendorff 1848—1931, in: Die großen Deutschen. Deutsche Biographien, hrsg. von Hermann Heimpel, Theodor Heuss, Benno Reifenberg, 2. Ausg., Bd. 1—5, BerlinFrankfurt a. M.-Wien 1960, Bd. 5, S. 415—421. Die wichtigsten Beiträge zur Alten Geschichte finden sich in U. von Wilamowitz, Kleine Schriften ... (wie oben), T. 5. William M. Calder III./Hellmut Flashaar/Theodor Lindken (Hrsg.), Wilamowitz nach SO Jahren, Darmstadt 1985. Walther Abel, Studium Berolinense 1924—1931: 1. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (f 25. 9. 1931), in: Gymnasium 88 (1981), S. 389—408.

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der Philologe Hans Droysen (1851—1918?) Erwähnung. 98 Seine Arbeiten galten der griechischen Epigraphik und der Geschichte Athens. Wie sein Vater hat er sich mit Alexander befaßt. Den Spätantike-Forschern ist er als Herausgeber des Eutrop in den „Auetores Antiquissimi" der „Monumenta Germaniae" bekannt, 1877 bis 1898 war er Privatdozent, dann ging er in den Schuldienst. Die nächste überragende Persönlichkeit unter den Althistorikern nach Mommsen war Eduard Meyer (1855—1930)." Sein Lebenslauf zeigt mehr Abwechslung als der von Mommsen. So wie dieser stammte Meyer aus dem protestantischen Norddeutschland, sein Vater war ein bekannter Gymnasiallehrer am Johanneum in Hamburg. Er brachte dem Sohne die Sprachen und die Geschichte auf der Schule bei. Meyers Habilitationsschrift entstand bereits auf dem Gymnasium. 100 So wenig wie Mommsen hat Meyer Alte Geschichte studiert, was jenem die Jurisprudenz, waren diesem die orientalischen Sprachen. Meyer studierte Hebräisch, Arabisch, Persisch, Türkisch, Ägyptisch und Sanskrit. Er promovierte mit 20 Jahren in Ägyptologie. Danach war er Hauslehrer des britischen Gesandten bei der Hohen Pforte in Konstantinopel und England. Es folgte ein Jahr Wehrdienst und die Habilitation im Alter von 24 Jahren 1879 in Leipzig. Meyer bekleidete anschließend Professuren für Alte Geschichte in Breslau, Halle und seit 1902 in Berlin, als Nachfolger von Ulrich Köhler. Meyer unternahm mehrere Mittelmeer-Reisen, einige mit seinem Freund Julius Beloch. 1904 lehrte Meyer als Gastprofessor in Chicago, 1909/10 als Austauschprofessor in Harvard. Der zweite Amerika-Aufenthalt glich einem Triumphzug. Meyer ist in einer Weise gefeiert worden wie kaum ein anderer deutscher Gelehrter. Die amerikanische Presse nannte ihn den größten lebenden Historiker, Kaiser Wilhelm und Teddy Roosevelt schickten Telegramme, Woodrow Wilson lud Meyer zu Gast. Dieses Austauschprogramm stellt den Höhepunkt der deutsch-amerikanischen Zusammenarbeit vor 1914 dar. 98

Zu Hans Droysen: Kürschners Deutscher Literatur-Kalender 38 (1916), Sp. 333 f. Zu Eduard Meyer: Heinrich Marohl, Eduard Meyer. Bibliographie mit einer autobiographischen Skizze Eduard Meyers und der Gedächtnisrede (Eduard Meyer zum Gedächtnis) von Ulrich Wilcken, Stuttgart 1941. K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 286—333; K. Christ, Römische Geschichte... (wie Anm. 2), S. 93ff. Walter Otto, Eduard Meyer und sein Werk, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 85 (1931), S. 1—24. Victor Ehrenberg, Eduard Meyer, in: Historische Zeitschrift 143 (1930), S. 501—511. Siehe auch demnächst William M. Calder/Alexander Demandt (Hrsg.), Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Universalhistorikers, Leiden 1989. 100 H . Marohl, Eduard Meyer... (wie Anm. 99), S. 9. 99

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Meyer hat in mehreren wichtigen Körperschaften mitgewirkt. So in der Akademie der Wissenschaften, der Deutschen Orientgesellschaft und in der Zentraldirektion des Deutschen Archäologischen Instituts. 1919/20 war Meyer Rektor der Berliner Universität, damals entstanden für uns selbstverständliche Einrichtungen: die Mensa, eine Unterstützungskasse für arme Studenten und die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft als Vorläuferin der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Meyers Lehr- und Forschungstätigkeit ist gekennzeichnet durch sein Interesse für Asien. Die bis zu Niebuhr zurückreichende, wenn auch nicht kontinuierliche Verbindung zwischen Althistorie und Orientalistik hat in ihm ihren bedeutendsten Vertreter gefunden. Uberhaupt wurde altorientalische Geschichte weder vorher noch nachher so breit angeboten wie in seiner Zeit. Außer Eduard Meyer las Lehmann-Haupt (siehe oben) regelmäßig darüber, weiterhin die Orientalisten Schräder, Winckler und Delitzsch (seit 1904 mit Lichtbildern) 101 sowie die Agyptologen Erman, Steindorff und Sethe. Das Schriftenverzeichnis Meyers umfaßt 570 Nummern, ein gutes Drittel der Produktion Mommsens. Meyers Hauptwerk ist seine achtbändige „Geschichte des Altertums", erschienen 1884 bis 1902. So wie Mommsens „Römische Geschichte" geht sie auf die Anregung eines Verlegers zurück, so wie jene blieb sie ein Torso, denn in seiner Berliner Zeit hat Meyer nur noch überarbeitet, nicht mehr weitergeschrieben. Wer dieses umfassende Opus mit der vorausgegangenen Geschichte des Altertums des Berliner Archivdirektors Max Duncker (1811—1886) vergleicht (5. Aufl. 1882), versteht den Eindruck auf die Zeitgenossen. Die erzählenden Texte der „Geschichte des Altertums" zeigen einen nüchternen, getragenen Stil. Er erinnert eher an Ranke als an Mommsen, es fehlen die krassen Wertungen und die Seitenhiebe auf die Gegenwart, die das Publikum an Mommsen so schätzte. So wie Ranke orientiert sich Meyer jeweils an der Chronologie der Politik. Meyer hielt zwar für das höchste Erzeugnis der geschichtlichen Entwicklung... das, was wir Kultur nennen („Vossische Zeitung" vom 19. September 1915), glaubte aber, daß sich alle höhere Kultur auf dem Boden und in dem Rahmen des jeweiligen Staatswesens entwickele. Als letztes Ziel der Geschichtswissenschaft bestimmt Meyer die Beschreibung des geschichtlichen Lebens in seiner Totalität, und er versuchte dies zu realisieren, indem er einerseits jeden Staat, jedes Volk, jede Kultur als 101

Zu ihnen vgl. J. Renger, Die Geschichte der Altorientalistik...

(wie Anm. 80).

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Fragment der Universalgeschichte auffaßte und andererseits neben der Politik auch Recht und Kunst, Gesellschaft und Wirtschaft, Literatur und Religion berücksichtigte. Der historische Teil von Meyers „Geschichte des Altertums" beginnt mit den altorientalischen Kulturen Ägyptens und Mesopotamiens von etwa 4000 bis etwa 1500, während in Europa noch urgeschichtliche Zustände herrschten. Mit den indogermanischen Einwanderungen ins Mittelmeergebiet während des 2. Jahrtausends entsteht — so Meyer — eine okzidentale, zunächst von den Griechen getragene Kultur. Nach vielfältigen Berührungen und Befruchtungen kommt es dann zu Spannungen zwischen Ost und West, als deren Höhepunkt die Perserkriege dastehen. Ihre Beschreibung (Band 4,1) ist vielleicht der lesenswerteste Teil des großen Werkes. Meyer sieht den Orient keinesfalls bloß als Vorstufe oder Gegenbild der okzidentalen Kultur. Gleichwohl war er überzeugt, daß es bei Marathon und Salamis um die Zukunft des Abendlandes ging, daß damals das rationale, freiheitliche Menschenbild des Westens gegen den hierokratisch-absolutistischen Stil des Orients verteidigt und gerettet wurde. Die unmittelbare Frucht der Abwehr war die Klassik der perikleischen Zeit, die Gestalt des Sokrates genoß Meyers besondere Sympathie. Meyer hat programmatisch versucht, das humanistische Griechenbild von der klassizistischen Verklärung zu befreien, wie sie im Geiste von Winckelmann und Wilhelm von Humboldt zuletzt Georg Grote und Ernst Curtius über die Hellenen verbreitet hatten. Meyers Programm hieß Historisierung statt Heroisierung, und darin traf er sich mit Mommsen, Beloch und Wilamowitz. Historisierung heißt Relativierung. Die Griechen bilden nicht das uns unerreichbare Ideal, haben aber im Prozeß der Humanisierung mehr geleistet als andere Völker. Als Ziel der Humanisierung betrachtete Meyer die gebildete Einzelpersönlichkeit. Um die Mitte des 4. Jahrhunderts verstrickten sich die Griechen, wie Meyer zeigt, hoffnungslos in inner- und außerstädtische Konflikte und gaben damit die führende Rolle an die Makedonen ab. Um 350 endet Meyer seine „Geschichte", die stets geplante Fortführung unterblieb. Meyer bekam für sie zwar keinen Nobelpreis, aber wenigstens den Geheimratstitel und den Pour-le-merite der Friedensklasse. Meyers Vorstellung vom weiteren Verlauf der antiken Geschichte läßt sich aus seinen späteren Schriften rekonstruieren. So wie die orientalische Geschichte ins Großreich der Achämeniden, mündete die griechische Geschichte ins Großreich Alexanders, die römische Geschichte

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ins Großreich der Caesaren. Jeweils folgt auf eine intensive eine extensive Phase, auf eine ländlich-bäuerliche eine großstädtische Gesellschaft, die auf Handel und Geldwirtschaft beruht. Am Ende steht ein „öder Weltfriede", ein imperialistisches, kapitalistisches Finale, das über den Luxus der Reichen und das Elend der Armen zum Zusammenbruch führt. Die Pax Romana war für Meyer in erster Linie eine propagandistische Verbrämung der römischen Herrschaft, wie Mommsen glaubte Meyer an den Völkergarten. Meyers Geschichtsbild ist zyklisch. Die Modernisierungsprozesse wiederholen sich, die Kulturkreise lösen einander ab. Meyer hat sich schon in seiner Studentenzeit vom hegelianischen Fortschrittsoptimismus gelöst und in der Geschichte eine Abfolge von Kulturen erkannt, die sich bloß in ihren Ausmaßen unterscheiden. Diese auch bei Mommsen im Kern erkennbare Idee ist im Ersten Weltkrieg zum Durchbruch gekommen. Bis 1914 meinte Meyer, die Parallelität der griechisch-römischen Geschichte mit der romanisch-germanischen ende mit der jeweiligen Klassik. Das Altertum sei dann in eine Universalmonarchie ausgemündet, deren Ansätze in Europa sämtlich gescheitert seien, zuletzt in Napoleon. Die neuere Geschichte habe in das Nebeneinander mehrerer Großmächte geführt, deren bald friedliche, bald kriegerische Rivalität der Motor einer gedeihlichen Entwicklung gewesen sei. Nun aber brach der Kampf um die Universalherrschaft ebenso in Europa aus, wobei Meyer Deutschland in der Defensive gegenüber englischem Hegemonialanspruch sah. In seinen Berliner Jahren hat Meyer zahlreiche Einzelthemen behandelt. Unter ihnen verdient Erwähnung sein Buch von 1918, „Caesars Monarchie und das Principat des Pompeius" (3. Aufl. 1922, Nachdruck 1978), in dem Meyer Pompeius aus der republikanischen Geschichte begreift und zum eigentlichen Vorläufer des Augustus macht. Die These ist, wohl zu Recht, von der Forschung verworfen worden, 102 sie basiert auf Meyers überzogenem Widerspruch gegen Mommsen und auf seiner Unterschätzung der monarchischen Komponente im Staatskonzept des Augustus. Trotzdem zählt dieses Werk wegen des Niveaus der Gedankenführung neben Syme's „Roman Revolution" (1939) zu den Grundbüchern für diese Epoche.

102 V. Ehrenberg, Eduard Meyer... (wie Anm. 99), S. 505. K. Christ, Römische Geschichte... (wie Anm. 2), S. 134. Abgewogen ist die Darstellung des Pompeius bei Matthias Geizer, Pompeius, 2. Aufl., München 1959.

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Meyers lebenslange Beschäftigung mit Religionsgeschichte fand ihre Krönung in dem dreibändigen Werk „Ursprung und Anfänge des Christentums" von 1921/23. Zum erstenmal hat hier ein Historiker das Thema behandelt und einen bleibenden Maßstab gesetzt, wie eine althistorische Bearbeitung dieses Gegenstandes auszusehen hat. In einer von keiner Dogmatik vernebelten (und daher ihm von manchem Dogmatiker verübelten) Rationalität hat Meyer die Quellenlage analysiert, Geschichte und Mythos säuberlich getrennt und das historisch begründbare Geschehen herausgeschält. Die jüdisch-persischen Voraussetzungen werden ebenso eingehend behandelt wie die Bildung der Urgemeinde bis in die trajanische Zeit, so daß dieses Werk, zumal es über die Darstellung der Resultate hinausgehend die Beweisführung dazuliefert, als klassische Einführung in den Problemkreis gelten darf. Daß Meyer daraufhin von der Evangelisch-Theologischen Fakultät Berlins den Ehrendoktor erhalten hat, stellt dieser ein hohes Zeugnis aus. In seinem Verhältnis zur Religion stimmt Meyer durchaus mit Mommsens Rationalismus überein, die Religionsgeschichte war für Meyer der interessanteste Teil der Geschichte der Illusionen (20. August 1874 an Pietschmann). Meyers Devise war der bei Polybios (XVIII 40,4) überlieferte Spruch des Epicharm: Nüchternheit und Mißtrauen sind die Sehnen des Denkens. Abgesehen von den religionshistorischen Partien in der „Geschichte des Altertums" hat Meyer später noch Bücher über die Entstehung des Judentums und der Mormonen verfaßt. Wie an seiner Stelle vor ihm Droysen, so hat auch Eduard Meyer geschichtstheoretische Schriften vorgelegt. Das erste Buch seiner „Geschichte des Altertums" (5. Aufl. 1925, Nachdruck 1965) enthält eine historische Anthropologie, in der die sozialen und kulturellen Faktoren systematisch beschrieben werden, sowie eine elementare Historik (S. 184—252), die Gegenstand und Vorgehen der Geschichtswissenschaft darlegt. Meyer sprach sich entschieden gegen die Rede von Geschichtsgesetzen aus, den historischen Verlauf betrachtete er überwiegend unter dem Aspekt seines Auf- und Absteigens und meinte: der Glaube an ein stetiges Fortschreiten der menschlichen Kultur ist ein Postulat des Gemütslehens, nicht eine Lehre der Geschichte.103 Mit seinen Ausführungen „Zur Theorie und Methodik der Geschichte" 104 hat sich 103

E. Meyer, Geschichte des Altertums... (wie Anm. 42),Bd. 1,1,5. Aufl.,S. 174und S. 182 (1925). Meyer vertrat diese Ansicht bereits vor dem Weltkrieg. 104 Geschrieben 1902, endgültige Fassung in E.Meyer, Kleine Schriften... (wie Anm. 70), S. 1—78. (Der Anhang gehört dazu!)

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Max Weber weiterführend auseinandergesetzt. 105 Meyers Kulturzyklik — seit 1895 publizistisch vertreten — hat das Geschichtsdenken von Wilamowitz, Rostovtzeff, Toynbee und Spengler beeinflußt. Für letzteren war Meyer ein väterlicher Freund. Meyer selbst hat Oswald Spengler eine eigene Schrift gewidmet, 106 in welcher er bei grundsätzlicher Zustimmung Widerspruch in Einzelheiten erhob. Was ihn von Spenglers Position trennte, war der Nationalstaatsgedanke. Im Unterschied zu Spengler war er der Ansicht, die Idee der Nationalität sei das feinste und komplizierteste Gebilde, welches die geschichtliche Entwicklung zu schaffen vermag,107 bedeutsamer als die Kulturen. Meyers politische Einstellung ist gekennzeichnet durch einen monarchistischen Nationalismus, wie er in der Zeit des Ersten Weltkrieges die Mehrzahl der deutschen Intellektuellen beherrscht hat. Zusätzlich verbittert durch den Heldentod seines Sohnes Herbert schrieb Meyer böse Pamphlete gegen England und Amerika, 108 denen er die Rolle Roms am Ende der Antike zudachte, während das preußisch beherrschte Deutschland das Schicksal des makedonisch beherrschten Griechenland erlitt. Meyers Abkehr vom Westen, wo die deutsche Wissenschaft boykottiert wurde, macht seine Sympathien für den 105 Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2., durchges. und erg. Aufl., besorgt von Johannes Winckelmann, Tübingen 1951, S. 215—290. Auch Friedrich Meinecke hat zu Eduard Meyers Grundsätzen Stellung genommen und dessen These, historisch sei, was wirksam sei, um den Gedanken erweitert, historisch sei außerdem, was wertvoll sei. Friedrich Meinecke, Kausalitäten und Werte in der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 137 (1928), S. 1—27, S. 6. Dies erübrigt sich, denn der Wert einer Sache ist eine Weise ihrer Wirkung. 106 Eduard Meyer, Spenglers Untergang des Abendlandes, in: Deutsche Literaturzeitung 45 (1924), Sp. 1759—1780; im folgenden Jahr als Einzelschrift unter dem gleichen Titel in Berlin erschienen. 107 E. Meyer, Geschichte des Altertums... (wie Anm. 42), Bd. 1 , 1 , 5 . Aufl., S. 79; vgl. E. Meyer, Spenglers Untergang... (wie Anm. 106), Sp. 1770 und Sp. 1777. 108 Eduard Meyer, Deutschland und der Är/eg/Friedrich Meinecke, Um welche Güter kämpfen wirf (= Unterm Eisernen Kreuz 1914, H. 3), Berlin 1914. Eduard Meyer, England. Seine staatliche und politische Entwicklung und der Krieg gegen Deutschland, Stuttgart-Berlin 1915. Eduard Meyer, Nordamerika und Deutschland. Nebst 3 amerik. und englischen Abhandlungen über den Krieg und die Stellung Irlands, übers, von Antonie Meyer, Berlin 1915. Eduard Meyer, Weltgeschichte und Weltkrieg. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart-Berlin 1916. Weiteres bei H. Marohl, Eduard Meyer... (wie Anm. 99), unter den Kriegsjahren und K. Christ, Von Gibbon... (wie Anm. 2), S. 327—333. Zum gesamten Komplex K. Schwabe, Wissenschaft und Kriegsmoral... (wie Anm. 91), S. 98 ff.

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Osten begreiflich. 1925 war er einer der Staatsgäste, die von der Sowjetregierung zur 200-Jahr-Feier der Russischen Akademie nach Leningrad und Moskau geladen wurden. In seinem Bericht erklärte er Lenin zum größten Staatsmann seit Bismarck, das Zarenregime sei hoffnungslos korrupt gewesen und habe notwendig in die Revolution geführt. T r o t z sozialistischer Jugendträume war Meyer natürlich kein Marxist, teilte jedoch mit dem Marxismus die Ablehnung des Kapitalismus und Parlamentarismus. Meyer glaubte, daß der russische Kriegskommunismus die dogmatisch-dirigistische Phase bald überwinden und zur bürgerlichen Normalität zurückkehren würde. Außenpolitisch empfahl er eine Anlehnung Deutschlands an die Sowjetunion. Er ging allerdings nicht so weit wie sein Freund Oswald Spengler, der in Rußland geradezu die führende Kultur des kommenden Jahrtausends erblickte. 1928 bekundete Meyer nochmals seine Verbundenheit mit den sowjetischen Historikern und reiste ein zweites Mal nach Rußland, 1930 ist er gestorben. Er liegt wie auch Robert Koldewey und General von Schleicher auf dem Parkfriedhof am Thuner Platz in Steglitz. Meyers Lehrstuhl wurde nicht wieder besetzt. Während der Ära Eduard Meyers erweiterte sich der Kreis derer, die über Alte Geschichte und ihre Nachbardisziplinen lasen, zunächst um Gustaf Kossinna (1858—1931).109 1902 wurde ihm der erste, außerordentliche Lehrstuhl für Deutsche Archäologie übertragen und damit die Basis für die Entwicklung der Urgeschichte zum eigenen Fach geschaffen. Kossinna hat stets in entschiedenem Gegensatz zu den klassischen Archäologen, den „Römlingen", gestanden und seine Disziplin als „hervorragend nationale Wissenschaft" (1912) begriffen. Seine Lehrveranstaltungen gehen seit 1909 den althistorischen im Vorlesungsverzeichnis voran und waren häufig der germanischen Kultur und den germanisch-römischen Auseinandersetzungen gewidmet. 1926 trat er in den Ruhestand. Die Numismatik, die, schon von Toelken betrieben, seit Mommsen ihren festen Platz unter den althistorischen Hilfswissenschaften besaß, gewann 1907 wieder einen Vertreter an der Universität, als sich Kurt

109 Zu Kossinna: Wilhelm Unverzagt, Gustaf Kossinna, in: Forschungen und Fortschritte 8 (1932), S. 63 f. (abgewogen). Rudolf Stampfuß, Gustaf Kossinna, ein Leben für die Deutsche Vorgeschichte, Leipzig 1935 (panegyrisch). H . Kühn, Geschichte der Vorgeschichtsforschung. .. (wie Anm. 2), S. 337 ff. Zu Kossinnas nationalem Fanatismus bemerkt Kühn, daß Kossinnas Name litauisch sei und Böckchen bedeute.

Alte Geschichte in Berlin

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Regling (1876—1935) 1 1 0 habilitierte. 1899 hatte er eine Stellung am Berliner Münzkabinett gefunden, 1921 wurde er dessen Direktor. Neben seinen Publikationen, unter denen hier seine „Münzkunde" bei Gercke und Norden (3. Aufl. 1912) und die Fertigstellung von H . Dressel, „Die römischen Medaillone des Münzkabinetts der staatlichen Museen zu Berlin" (erschienen 1973!), erwähnt seien, hat er sich der Universitätslehre intensiv gewidmet und alle Aspekte der antiken Numismatik bedacht. Seit 1920 war er Honorarprofessor. Die Orientalistik war bis zu Eduard Meyer überwiegend philologisch ausgerichtet. Ihre archäologische Seite wurde von Ernst Herzfeld (1880—1948) 1 1 1 zur Geltung gebracht. 1909 habilitierte er sich, 1917bis 1935 bekleidete er eine Professur für Orientalische Archäologie beziehungsweise Landes- und Altertumskunde, um dann nach Princeton zu gehen. Herzfeld taucht zwar 1910 mit einer Vorlesung über Alexander im Lektionsverzeichnis auf, hat sich aber ganz überwiegend seinen Reisen und Ausgrabungen im Irak und im Iran gewidmet. Als Sammler genießt er einen unbestrittenen R u f , seine Theorien haben Widerspruch erfahren. Stärker in der Lehre betätigte sich Emil Forrer ( 1 8 9 4 — 1986). E r arbeitete über assyrische und hethitische Geschichte und äußerte 1924 die ansprechende Vermutung, die auf den Boghazköj-Texten genannten „ Achijawa" seien die griechischen Achäer. Forrer wirkte 1 9 2 5 — 1 9 2 9 als Privatdozent für Geschichte des Alten Orients in Berlin und ging dann nach Baltimore. 1 1 2 Griechische Epigraphik lehrte

110

Zu Regling: Philipp Lederer, Kurt

Regling,

in: Deutsche

Münzblätter

54/55,

N . F . 11 (1934/35), S. 4 0 5 — 4 0 8 . 111

Zu Herzfeld: Ernst Weidner, Ernst Herrfeld,

in: Archiv für Orientforschung

(1945—1951), S. 185. George C . Miles (Hrsg.), Archaelogica Ernst Herzfeld,

orientalia in

15

memoriam

Locust V a l l e y / N . Y . 1952 (mit Hinweis auf die Bibliographie und Er-

gänzungen zu dieser). Seine wichtigsten Schriften: Friedrich Sarre/Ernst Herzfeld, Iranische Felsreliefs, Berlin 1910. Ernst Herzfeld, Am Tor von Asien. Felsdenkmale

aus

Irans Heldenzeit,

von

Berlin 1920. Und (gemeinsam mit Friedrich Sarre) Ausgrabungen

Samarra ( = Forschungen zur islamischen Kunst 2), Bd. 1—6, Hamburg-Berlin 1 9 2 3 — 1948. In seiner Zeitschrift Archäologische Mitteilungen aus Iran, 1929—1938, veröffentlichte Herzfeld nur eigene Beiträge. 1935 wurde ihm als Juden seine Berliner Professur entzogen. Zu Herzfeld auch J . Renger, Die Geschichte der Altorientalistik...

(wie

Anm. 80), S. 185 f. 1,2

Z u Forrer: H . G. Güterbock, Emil O. Forrer (19 February

1986), in: Archiv für Orientforschung der Altorientalistik...

1894 — 10

January

33 (1986), S. 3 0 9 — 3 1 1 . J . Renger, Die Geschichte

(wie Anm. 80), passim. Zur Ahhijawa-Kontroverse vgl. Gerd

Steiner, Die Ahhijawa-Frage

heute, in: Saeculum

15 (1964), S. 365—392. Steiner selbst

lehnt die Gleichsetzung ab, aber gegen ihn stehen u. a. Bittel, Schachermeyr und Güter-

Alexander Demandi

190

in den zwanziger Jahren Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen (1864—1947), 1 1 3 ein Schwiegersohn von Wilamowitz. Er verkörperte den seltenen Typus des Privatgelehrten. Promoviert 1886, gewann ihn Mommsen für das griechische Inschriftenwerk der Akademie, bei der er 1904 eine formelle Stellung übernahm. Hiller bearbeitete Rhodos und einige weitere Inseln sowie das voreuklidische Attika. Auf eigene Kosten grub er 1890/91 in Magnesia am Mäander, 1896—1902 auf Thera, 1917 wurde er Honorar-Professor und lehrte bis 1933. Die dominierende Figur unter den Berliner Althistorikern nach Meyer war Ulrich Wilcken (1862—1944). 1 1 4 Durch Mommsen wurde sein Interesse für die Berliner Papyri geweckt, ihnen galt seine Dissertation 1885. Drei Jahre später habilitierte er sich, 1889 erhielt er in Breslau eine außerordentliche, 1891 eine ordentliche Professur. 1900 ging er nach Würzburg, 1903 nach Halle, 1906 nach Leipzig, 1912 nach Bonn, 1915 nach München und 1917 nach Berlin, wo er Nachfolger Hirschfelds wurde. 1921 trat er indie Akademie ein, 1931 wurde er emeritiert. Auch Wilcken ist gleichsam von außen in die Alte Geschichte hereingewachsen, von der Papyrologie. E r hat sie nie als eigene Disziplin gelten lassen, sondern stets als Hilfswissenschaft zur Althistorie verstanden. 1 1 5 Abgesehen von seiner gelegentlichen Teilnahme an Ausgrabungen (Herakleopolis 1898/99) hat er sich um die Herausgabe und bock. Steiner übersah, daß sich die Zeugnisse für Verbindungen zwischen Hethitern und Mykenäern vermehren. Das ist ja auch nicht anders zu erwarten. 113

Zu ihm vgl. Friedrich Hiller von Gaertringen, Erinnerungen

eines alten Epigraphikers,

in: Neue Jahrbücher

und

Betrachtungen

für Antike und deutsche Bildung 5 (1942),

S. 1 0 8 — 1 1 2 ; und die W o r t e von Günther Klaffenbach über ihn in: Forschungen Fortschritte 20 (1944), S. 1 8 7 f „ und in: Gnomon 114

und

21 (1949), S. 2 7 4 — 2 7 7 (Nachruf).

Zu Wilcken vgl. die Geburtsadressen von Wilhelm Schubart in: Forschungen

Fortschritte 8 (1932), S. 4 5 9 f., und von Leopold Wenger in: Forschungen und

und

Fortschritte

18 (1942), S. 358 f., weiterhin die Nachrufe von Wilhelm Schubart, Ulrich Wilcken, in: Gnomon

21 (1949), S. 8 8 — 9 0 , und Friedrich Zucker, Nachruf

Archiv für Papyrusforschung Geizer, Gedächtnisrede Wissenschaften

auf Ulrich Wilcken,

zu Berlin

auf Ulrich Wilcken,

1946—1949

in: Jahrbuch

der Deutschen Akademie

des 19. und 20. Jahrhunderts.

quiums zu Ehren des 100. Geburtstages schrift der Karl-Marx-Universität

und Fortschritt in der Materialien eines Kollo-

von Ulrich Wilcken (= Wissenschaftliche

Leipzig 12, Gesellschafts- und

gen..

Zeit-

sprachwissenschaftliche

Reihe, H . 2), Berlin [Ost] 1963. Friedrich Oertel, Ulrich Wilcken, 115

der

(1950), S. 2 4 4 — 2 5 1 ; die Beiträge von Schrot,

Irmscher, Zucker, Klaffenbach, Günther, Müller in: Tradition deutschen Altertumswissenschaft

Bonner Gelehrte...

in:

15 (1953), S. 1—3; die gehaltvolle Rede von Matthias

1862—1944,

in:

(wie Anm. 9), S. 332—339.

M. Geizer, Gedächtnisrede... . (wie Anm. 114), S. 359.

(wie Anm. 114), S. 246; L. Wenger, in:

Forschun-

191

Alte Geschichte in Berlin

Kommentierung jener für die antike Sozial- und Wirtschaftsgeschichte fundamentalen Dokumente verdient gemacht. Von Breslau aus hatte er 1899 das „Archiv für Papyrusforschung" begründet, zu dem er regelmäßig das Urkundenreferat beisteuerte; in Leipzig entstanden die gemeinsam mit Ludwig Mitteis verfaßten „Grundzüge und Chrestomathie der Papyruskunde" (1912), eine systematische Darstellung von Verwaltung und Recht im griechisch-römischen Ägypten neben einer Auswahl knapp kommentierter Papyri. In Berlin schrieb Wilcken seine „Urkunden der Ptolemaeerzeit" (Band 1, 1927, Band 2, 1957), bereits 1899 hatte er in den „Griechischen Ostraka aus Ägypten und Nubien" eine verwandte Zeugnisgruppe der antiken Wirtschaftsgeschichte vorgelegt. Von Wilckens im engeren Sinne historischen Arbeiten ist seine „Griechische Geschichte im Rahmen der Altertumsgeschichte" am bekanntesten geworden. Sie erschien 1924 in erster, 1973 in zehnter Auflage. In sachlicher, übersichtlicher Form werden die Ereignisse nacherzählt, von der intuitiv-genialischen Manier der zwanziger Jahre ist nichts zu spüren, und abgesehen von der Frühzeit, die sich uns inzwischen anders darstellt, ist Wilckens Werk eine vorzügliche Einführung geblieben. Bedeutsam sind seine Arbeiten zu Alexander d. Gr. geworden. 116 Sie gipfeln in der 1931 erschienenen Biographie, die mit der treffenden Bemerkung beginnt, daß niemand das echte, nur jeder sein eigenes Alexanderbild besitze. 1 1 7 Schließlich hat Wilcken auch zur Geschichte von Caesar und Augustus Einsichten beigesteuert, denen die kompetente Zustimmung Matthias Geizers zuteil wurde. 118 Neben Wilcken, der sich selbst politisch nicht mehrere Privatdozenten Alte Geschichte. Vier des Nationalsozialismus geworden: Rosenberg, und Stein. Sie alle waren Juden und fielen damit

116

exponiert hat, lehrten von ihnen sind Opfer Täubler, Bickermann unter das „Gesetz zur

Wilckens Alexander-Studien sind neugedruckt in: U . Wilcken, Berliner

mieschriften.

Akade-

.. (wie Anm. 73), und zusammengefaßt in seiner Alexander-Biographie.

Ulrich Wilcken, Alexander

der Grosse ( = Das wissenschaftliche Weltbild), Leipzig 1931.

Sie werden kritisch referiert von Seibert in seinem Forschungsbericht: Jakob Seibert, Alexander 117

der Grosse ( = Erträge der Forschung 10), Darmstadt 1972.

W a r u m dies so sei, beantwortet Wilcken mit dem Hinweis auf die lückenhafte

Quellenlage, die widerstreitenden Urteile der Alten und die Genialität Alexanders. Den entscheidenden Grund sah er nicht: die Abhängigkeit des synthetischen Urteils von den Maßstäben des Urteilenden, die aus dessen Person und Zeit resultieren. Vgl. A. Demandt, Politische Aspekte im Alexanderbild... 1,8

M. Geizer, Gedächtnisrede...

(wie Anm. 45), passim.

(wie Anm. 114), S. 251.

192

Alexander Demandi

Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 7. April 1933. 119 A r t h u r Rosenberg (1889—1943) stammt aus Berlin. 120 1911 erschien seine von Hirschfeld und Eduard Meyer geförderte Dissertation über die römische Zenturienverfassung, 1913 sein „Staat der alten Italiker", der ihm die Privatdozentur brachte. Seit 1914 hielt er regelmäßig Lehrveranstaltungen über ein ungewöhnlich breites Themenspektrum des griechisch-römischen Altertums. 1919 wurde von ihm zum ersten Male „antike Demokratie" angekündigt, während zugleich Täubler über „Tyrannis" las. Bisher hießen die Leitbegriffe Athen, Griechent u m , Klassik — nun erscheinen die Staatsformen in den Uberschriften. Daß hier die November-Revolution die Aspekte verschoben hat, ist evident und bei Rosenberg durch seinen politischen Stellungswechsel motiviert. Rosenberg ist der einzige deutsche Althistoriker, der unter den Bedingungen einer freien Gesellschaft Kommunist geworden ist. Ähnlich wie andere damals Geschichte lehrende Marxisten, so der Ethnologe Heinrich C u n o w und der Neuhistoriker Gustav Mayer, vertrat Rosenberg einen selbständig verarbeiteten Marxismus. Abgesehen von einer streng wissenschaftlichen und sehr materialreichen „Einleitung und Quellenkunde zur römischen Geschichte" (1921), acht „Hermes"-Aufsätzen, sowie „RE"-Artikeln über so zentrale Begriffe wie Imperator

u n d Imperium,

res publica u n d rex, „ R a v e n n a " u n d „ R o -

mulus" publizierte Rosenberg f ü r eine breitere Öffentlichkeit gedachte Bücher, eine kurze „Geschichte der römischen Republik" und „Demokratie und Klassenkampf im A l t e r t u m " (beides 1921). Im Gefolge Mommsens übertrug Rosenberg moderne Begriffe auf die Antike; dadurch wird dem Gegenstand jene Fremdheit genommen, die eine quellennahe Terminologie mit sich bringt, erfordert aber erläuternde Differenzierung im Begriffsinhalt, die Rosenberg leistet. Rosenberg wird ge-

119

Die Namen der Opfer sind zusammengefaßt in der List of Displaced German Scholars, London 1936, und in: Herbert A. Strauss/Tilmann Buddensieg/Kurt Düwell (Hrsg.), Emigration. Deutsche Wissenschaftler nach 1933. Entlassung und Vertreibung, Berlin 1987, S. 1—125. 120 Zu ihm vgl. Helmut Schachenmayer, Arthur Rosenberg als Vertreter des Historischen Materialismus (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München 20), Wiesbaden 1964, mit ausführlichem Verzeichnis der wissenschaftlichen und politischen Schriften und der Rezensionen über Rosenbergs Bücher. Helmut Berding, Arthur Rosenberg, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, S. 81—96. Francis L. Carsten, Arthur Rosenberg: Ancient Historian into Leading Communist, in: Journal of Contemporary History 8 (1978), No. 1, S. 63—75. K. Christ, Römische Geschichte... (wie Anm. 2), S. 177ff.

Alte Geschichte in Berlin

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wohnlich wegen seiner Idealisierung Catilinas zitiert, 1 2 1 und zwar ablehnend. Die W a h r h e i t dürfte hier ausnahmsweise einmal in der M i t t e liegen. 1 9 2 4 bis 1 9 2 7 war R o s e n b e r g kommunistischer Reichstagsabgeordneter, t r a t dann jedoch aus der Partei aus, offenbar weil er weder mit den Ultralinken noch mit den Moskauhörigen

zusammenstimmte.

Seitdem gehörte er keiner Organisation mehr an. 1 2 2 N e b e n seiner althistorischen Lehrtätigkeit publizierte er in der Folge Schriften zur griechischen Staatstheorie und zur Zeitgeschichte. 1 2 3 1 9 3 3 wurde ihm die Lehrbefugnis e n t z o g e n . 1 2 4 Rosenberg ging nach Liverpool und starb 1 9 4 3 in N e w Y o r k . Eugen T ä u b l e r ( 1 8 7 9 — 1 9 5 3 ) kam aus der Provinz Posen. 1 2 5 E r hat im U m k r e i s von M o m m s e n gearbeitet, 1 2 6 unter seinen Lehrern hebt er Hirschfeld heraus. Bei ihm promovierte er 1 9 0 4 über „Die Parthernachrichten bei J o s e p h u s " . Danach befaßte er sich mit der Geschichte des deutschen J u d e n t u m s und dozierte über jüdische Geschichte in der Antike an der Berliner „Lehranstalt für die Wissenschaft des J u d e n t u m s " , die Religionslehrer und Rabbiner ausbildete. 1 9 1 8 wurde er

121 Hermann Bengtson, Grundriß der römischen Geschichte. Mit Quellenkunde (= Handbuch der Altertumswissenschaft, Abt. 3, T. 5), 2., durchges. Aufl., München 1970, S. 208. 122 H. Schachenmayer, Arthur Rosenberg... (wie Anm. 120), S. 28f. 123 Arthur Rosenberg, Aristoteles über Diktatur und Demokratie (Politik Buch III), in: Rheinisches Museum für Philologie 82 (1933), S. 339—361. Arthur Rosenberg, Die Entstehung der Deutschen Republik. 1871—1918, Berlin 1928. Arthur Rosenberg, Geschichte des Bolschewismus. Von Marx bis zur Gegenwart, Berlin 1932. 124 V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike... (wie Anm. 2), S. 28 und S. 30 ff. In der Spätphase lassen Rosenbergs Lehrthemen seine Ausrichtung erkennen. Winter 1930/31: „Geschichte des Sozialismus und der sozialen Frage im Altertum"; Sommer 1931: „Die materialistische Geschichtsauffassung, erläutert an der griechischrömischen Geschichte", ähnlich weiterhin bis Sommer 1933. 125 Zu ihm vgl. das Vorwort von Hans-Jürgen Zobel in: Eugen Täubler, Biblische Studien. Die Epoche der Richter, hrsg. von Hans-Jürgen Zobel, Tübingen 1958, S. V— VII, dazu das Schriftenverzeichnis S. IX—XII; den Nekrolog von Salo W. Baron/Ralph Marcus, Eugen Täubler, in: Proceedings of the A merican Academy for Jewish Research 22 (1953), S. XXXI—XXXIV. Weiteres zur Person bei Eugen Täubler, Aufsätze zur Problematik jüdischer Geschichtsschreibung 1908—1950, hrsg. und eingeh von Selma Stern-Täubler (= Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 36), Tübingen 1977. K. Christ, Römische Gechichte... (wie Anm. 2), S. 168ff. Eugen Täubler, Ausgewählte Schriften zur Alten Geschichte (= Heidelberger althistoriche Beiträge und epigraphische Studien 3), Stuttgart 1987 (mit biographischer Einführung). 126 V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike... (wie Anm. 2), S. 199.

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Alexander

Demandi

Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität, 1922 übernahm er eine Professur in Zürich und 1925 erhielt er die Nachfolge Domaszewskis in Heidelberg. 1933 mußte er Professur und Mitgliedschaft in der Akademie aufgeben, kehrte aber 1938 bis 1942 an die „Lehranstalt" in Berlin zurück und emigrierte dann nach Cincinnati. Täublers althistorische Arbeiten fallen in die Zeit zwischen 1904 und 1935 und betreffen vornehmlich die römische Republik. 1913 erschien sein Buch „Imperium Romanum. Studien zur Entwicklungsgeschichte des römischen Reiches", Band 1: „Die Staats vertrage und Vertragsverhältnisse". Hier wurde die Systematik Mommsens formal und historisch aufgedröselt und wesentliche Vorarbeit geleistet für ein genetisches Verständnis der frühen römischen Außenpolitik. 127 Täublers Habilitationsschrift galt der „Vorgeschichte des zweiten punischen Krieges" (1921),128 gleichzeitig erschienen seine „Untersuchungen zur Geschichte des Decemvirats und der Zwölftafeln". In dem Sammelband „Tyche" (1926) legte Täübler Aufsätze zu verschiedenen antiken Themen vor, 1927 interpretierte er die „Archäologie des Thukydides", und 1935 erschien sein Artikel „Der römische Staat" bei Gercke und Norden (III 4). Momigliano verwies darauf, daß Täublers Beiträge zur römischen Verfassungsgeschichte nicht gebührend zur Kenntnis genommen worden seien,129 es scheint, daß Täublers letztgenannter Artikel nicht ordnungsgemäß ausgeliefert worden ist.130 Elias Bickermann (1897—1981) stammt aus Rußland, 131 studierte bei Rostovtzeff in Petersburg, diente 1916 bis 1921 im russischen Heer und 127

Alfred Heuß, Die völkerrechtlichen Grundlagen der römischen Außenpolitik in republikanischer Zeit (= Klio, Beiheft 31, N . F. 18), Leipzig 1933; und Werner Dahlheim, Struktur und Entwicklung des römischen Völkerrechts im dritten und zweiten Jahrhundert vor Christus (= Vestigia 8), München 1968; bauen auf Täubler auf. 128

Sie ist im Weltkrieg entstanden und läßt im M o t t o (Tirpitz) einen zeitgeschichtlichen Bezug erkennen, wie ihn Eduard Meyer offen dargelegt hat; vgl. Franz Hampl, Zur Vorgeschichte des ersten und zweiten Punischen Krieges, in: Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt... (wie Anm. 60), Bd. 1, 1, S. 412—441, bes. S. 432ff. 129 Arnaldo Momigliano, Ernst Meyer, Römischer Staat und Staatsgedanke (1949), in: A. Momigliano, Contributo alla storia... (wie Anm. 2), S. 395—399, bes. S. 396. 130

Er war nach V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike... (wie Anm. 2), S. 199 f., 1940 nur in zwei österreichischen Universitätsbibliotheken vorhanden, fehlt in der Bibliothek des D A I R o m sowie in den öffentlichen Bibliotheken Berlins; jetzt aber zugänglich: Eugen Täubler, Der römische Staat, Anhang: Grundfragen der römischen Verfassungsgeschichte. Mit einer Einleitung von Jürgen von Ungern-Sternberg, Stuttgart 1985. 131

Zu Bickermann vgl. den Lebenslauf am Schluß seiner Dissertation, weiterhin

Alte Geschichte in Berlin

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emigrierte dann nach Berlin. Hier promovierte er 1926 zum zweiten Male bei Wilcken und Norden über „Das Edikt des Kaisers Caracalla in P. Giss. 40" und versuchte nachzuweisen, daß dieser Papyrus nicht den T e x t der „ C o n s t i a m o Antoniniana", sondern bloß einen Nachtrag zu dieser von 213 enthalte. Bickermanns Ausführungen sind von G. deSanctis, Heichelheim und Rostovtzeff wohlwollend aufgenommen, im übrigen aber verworfen worden, doch haben sie jüngst durch H . Wolff eine grundsätzliche Bestätigung erfahren. 132 Bickermann wandte sich anschließend den ptolemäischen Urkunden zu, behandelte die Makkabäer und die Institutionen der Seleukiden. 1933 publizierte er die „Chronologie" für Gercke und Norden, die mehrfache Ausgaben erlebt hat. 133 1 929 bis 1933 lehrte Bickermann als Privatdozent in Berlin, mit ihm verbinden sich einige Neuerungen im Vorlesungsverzeichnis: 1930/31 begegnet bei ihm zum erstenmal neben den „Übungen" der Lehrtypus der „Arbeitsgemeinschaft", was wir heute Colloquium nennen; 1931 wurde zum erstenmal eine althistorische Veranstaltung mit zwei Dozenten angezeigt (Bickermann und Solmsen), 1932/33 finden wir das erste althistorische Proseminar („Unterstufe des Seminars") sowie die erste „mit Lichtbildern" angekündigte althistorische Vorlesung. Im September 1933 wurde ihm die Lehrbefugnis entzogen, er emigrierte nach Frankreich und 1942 nach Amerika, wo er von 1952 bis 1967 Professor für Alte Geschichte an der Columbia-University in New York war.

V. Losemann, Nationalsozialismus und Antike... (wie Anm. 2), sub indice. Directory of American Scholars, 6thed., vol. 1—4, New York-London 1974, vol. 1,S. 48. K. Christ, Römische Geschichte... (wie Anm. 2), S. 191 ff.; Morton Smith, EliasJ. Bickermann, in: Gnomon 54 (1982), S. 223 f. 152 Christoph Sasse, Literaturübersicht zur Constitutio Antoniniana, in: Journal of Juristic Papyrology 14 (1962), S. 109—149, bes. S. 124f., und 15 (1965), S. 329—366. Hartmut Wolff, Die Constitutio Antoniniana und der Papyrus Gissensis 40 /., Bd. 1 u. 2, Phil. Diss., Köln 1976. 133 Elias Bickermann, Beiträge zur antiken Urkundengeschichte, in: Archiv für Papyrusforschung 8 (1927), S. 216—239; 9 (1930), S. 24—46 und S. 155—182. Elias Bickermann, Die Makkahäer. Eine Darstellung ihrer Geschichte von den Anfängen his zum Untergang des Hasmonäerhauses, Berlin 1935. Elias Bickermann, Der Gott der Makkahäer. Untersuchung über Sinn und Ursprung der Makkabäischen Erhebung, Berlin 1937. Elias Bikerman, Institutions des Séleucides (= Bibliothèque archélogique et historique 26), Paris 1938. Elias Bickerman, Chronology of the Ancient World (= Aspects of Greek and Roman life), London 1968. Die verschiedenen Schreibweisen seines Namens spiegeln sein Schicksal. Bickermann hat russisch, deutsch, französisch und englisch publiziert.

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Als viertes Opfer der Rassegesetze ist Ernst Stein (1891—1945) zu nennen. 1 3 4 Er ist im österreichischen Galizien geboren und war der Neffe von Sir Aurel Stein, dem Asienforscher. 1914 promovierte er in Wien bei dem Mommsenschiiler Ludo Moritz Hartmann über das spätantike Ravenna, 1 3 5 habilitierte sich 1919 mit seinen „Studien zur Geschichte des byzantinischen Reiches", arbeitete seit 1927 bei der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt und übernahm 1928 den Auftrag der Preußischen Akademie und des Deutschen Archäologischen Instituts, den Nachlaß von Ritterling herauszugeben. 1 3 6 Steins Schriften, stets reich an Substanz und scharf im Profil, umfassen die römische Geschichte von ihren Anfängen bis zum Ende des byzantinischen Reiches, berühren die Geschichte der Kirche und des Sassanidenstaats. 1 3 7 Neben seinen epigraphischen und prosopographischen Studien, unter denen seine Lieferungen für den Pauly-Wissowa erwähnt werden müssen, hat Stein insbesondere Institutionen zu charakterisieren verstanden. Seine Beiträge zum Staatsrecht der Spätantike sind nach wie vor grundlegend. 1928 erschien der erste Band von Steins Hauptwerk, „Geschichte des spätrömischen Reichs": „ V o m römischen zum byzantinischen Staate" ( 2 8 4 — 4 7 6 n. Chr.). Das Buch wurde anerkennend begrüßt 1 3 8 und ist die beste Einleitung in die Spätantike

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