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German Pages 390 [392] Year 2006
Judith S. Ulmer Geschichte des Georg-Büchner-Preises
Judith S. Ulmer
Geschichte des Georg-Büchner-Preises Soziologie eines Rituals
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York
Diese Publikation wurde gefördert durch den Sonderforschungsbereich 619 „Ritualdynamik", den die Deutsche Forschungsgemeinschaft 2002 an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg eingerichtet hat.
® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN-13: 978-3-11-019069-4 ISBN-10: 3-11-019069-9 Bibliografische Information der Deutschen
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Meiner Familie und Toni
Inhalt
Einleitung
1
1. Kapitel Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
6
Vorbemerkungen
6
Der Fall Fallbeschreibung Fallanalyse
7 7 10
Der Handlungstyp — Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung Die Gabentauschlogik Gabe und Ehre Preisverleihungen als öffentliche Ehrungen Wert- und Zweckrationalität Öffentlichkeit Performativität und Inszenierung Literaturpreisverleihungen Geschichte und Funktion Literaturpreise als öffentliche Gaben Vergabemodalitäten
14 14 17 20 20 23 25 27 27 31 35
Der Handlungsmodus — das Ritual Ritualskepsis und Ritualpraxis in der Moderne Die ritualtheoretischen Ansätze von Tambiah und von Humphrey und Laidlaw Die Büchnerpreisverleihung - ein Ritual? Versuch eines ritualtheoretischen Vorstellungsmodells
40 41 43 49 54
2. Kapitel Die Gründungsgeschichten des Georg-Büchner-Preises
57
1923—1932: Die erste Gründungsphase Der Antrag Die Stiftung des Georg-Büchner-Preises Die Kontexte Politik und Kultur
57 57 60 61 61
VIII
Inhalt
Kultur- und Literaturpreispraxis der frühen Weimarer Republik Die Büchnerrezeption Die Benennungsdebatte Die Verleihungspraxis
66 69 73 79
1945—1950: Die zweite Gründungsphase Kontexte Deutschland 1945 Darmstadt 1945 Preise und Büchnerrezeption Die Verleihungspraxis 1945-1947 1948-1949 Kontexte Verleihungspraxis 1950: der Übergang Kontext
88 88 88 91 96 99 99 110 110 112 122 122
Exkurs: Die Gründung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung Die Verleihung
124 133
1951: Die dritte Gründungsphase Institutionelle Voraussetzungen Die Entscheidungsfindung Ein programmatischer Auftakt Politische und kulturelle Kontexte Die Verleihung Die Büchnerpreisrede Gottfried Benns
140 140 143 145 145 148 153
3. Kapitel Kunst, Kultur und Gesellschaft: Der Georg-Büchner-Preis zwischen 1951 und 2004
167
Vorüberlegungen Die praktische Logik von Gabe und Störung Die spezifischen Voraussetzungen des Georg-Büchner-Preises
168 168 174
Geschichte und Kontext 1952-1956: Restauration 1957-1968: Rebellion
178 178 184
Inhalt
IX
Der Fall Heißenbüttel 1969 Performanzbeschreibung Hintergründe Der »Fall Lüdde« Ankündigung, Verwirrung und Streit um Verantwortlichkeit Flugblatt und Resolution Analyse Die Störung Der Laureat Vorfeld und Preisverleihung Die Rede Folgen Der Magistrat Die Akademie
209 209 215 215 220 222 224 224 228 230 235 239 239 241
Geschichte und Kontext Die neue Innerlichkeit: die 70er Jahre Unübersichtlichkeit und Engagement: die 80er Jahre
243 243 259
Der Fall Fried 1987 Das Jubiläumsjahr und sein Laureat 1987 Der Preisträger Der 17. Oktober 1987 Die Verleihung Der Empfang Das Nachfeld Analyse Vergleich der Fallbeispiele
268 268 268 272 277 277 285 288 291 296
Geschichte und Kontext Der gescheiterte Anti-Preis — der Alternative Büchnerpreis Die Büchnerpreisreden 1988-2004
297 297 306
4. Kapitel Die Aktionsmerkmale von Literaturpreisverleihungen am Beispiel des Georg-Büchner-Preises
316
Das Aktionsmerkmal »soziale Magie« »Soziale Magie« als Handlungsqualität Die »soziale Magie« von Literaturpreis Verleihungen
316 316 319
χ
Inhalt
Das Verhältnis von Handlungstyp, Handlungsmodus und Handlungsqualität
322
Conclusio: Die Aktionsmerkmale von Literaturpreisverleihungen am Beispiel des Georg-Büchner-Preises 325 Die Weimarer Phase: 1923-1933 326 Die Nachkriegsphase: 1945-1950 332 Die Akademiephase: 1951-2004 338 Allgemeine Befunde 338 Die Abschnitte der Akademiephase 342 Der Preis als Etablierungsinstrument der Deutschen Akademie im kulturellen Feld der jungen Bundesrepublik (1951-1956) 343 Der Preis als literaturpolitisches Mittel zur Durchsetzung der Gruppe 47 als ästhetischer Standard (1957-1969) 344 Die Preisvergabe an Nicht-Deutsche als institutionelle Ausweichstrategie und Stabilisierung gegenüber Kritik (1970-1976) 348 Der Preis als Medium der Sozialkritik und der kulturpolitischen Annäherung von Ost und West (1977-1988) 350 Der Preis als Mittel der deutsch-deutschen Auseinandersetzung und Neupositionierung (1989—1994) 354 Der Preis als Forum ästhetischer Besinnung im Zeitalter der Globalisierung und als kulturkritischer Impuls (1995-2004) 355 Quellen- und Literaturverzeichnis
358
Primärliteratur
358
Gedruckte Quellen und Sekundärliteratur
359
Ungedruckte Quellen
363
Zeitungen
367
Medien Film Elektronische Quellen
371 371 372
Inhalt
XI
Liste der Georg-Büchner-Preisträger I. Die Weimarer-Phase II. Die Nachkriegsphase III. Die Akademiephase
373 373 373 374
Personenregister
375
Dank
380
Einleitung »Denn es ist, ist immer, möge des Volkes Redeweise auch lauten: Es war. So spricht der Mythus, der nur das Kleid des Geheimnisses ist; aber des Geheimnisses Feierkleid ist das Fest, das wiederkehrende, das die Zeitfälle überspannt und das Gewesene und Zukünftige seiend macht für die Sinne des l rolks. Was Wunder, daß im Feste immer das Menschliche aufgärte und unter Zustimmung der Sitte untüchtig ausartete, da darin Tod und lieben einander erkennen? - Fest der Erzählung, du bist des Eebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des l rolkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart!«
Thomas Mann: Vorspiel: Höllenfahrt, Joseph und seine Brüder, Der erste Roman: Die Geschichten Jaakobs Preisverleihungen gehören zum etablierten Handlungsrepertoire moderner Gesellschaften. Die hohe Zahl von Auszeichnungen in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport oder Medien lässt auf ihre Attraktivität für alle Beteiligten schließen. Doch die Verleihung von Preisen scheint nicht allein für Auszeichnende und Laureaten, sondern auch für ein breiteres Publikum interessant zu sein. In den Zeitungen wird fast täglich von ihnen berichtet und Fernsehsender widmen oft mehrere Stunden ihrer teuren Sendezeit Liveübertragungen von Veranstaltungen wie etwa der Verleihung des Aachener Karlspreises. Auch im Bereich der Kultur werden von Seiten des Staates oder der Industrie, durch öffentliche Institutionen oder private Stifter im Rahmen nicht selten aufwändiger Feiern zahlreiche Laureaten mit Auszeichnungen, Förderpreisen, Stipendien, Stadtschreiberämtern oder Ehrengaben ausgezeichnet. Im Jahr 2004 wurden in der Bundesrepublik Deutschland allein über siebenhundert Literaturpreise gezählt.1 Die vorliegende Arbeit möchte dazu beitragen, das sozial verbreitete Handlungsphänomen der Preisvergabe näher zu bestimmen. Im Zentrum der Untersuchung soll dabei speziell die Verleihung von Literaturpreisen stehen. Es ist jedoch nicht allein die große Zahl der aktuell in Deutschland existenten Literaturpreise, die eine solche Fokussierung rechtfertigen würde. Vielmehr haben die im Kulturbetrieb angesiedelten Handlungen bzw. Handlungskomplexe bisher selten im Mittelpunkt wissenschaftlicher Analysen gestanden. Zwar existieren etwa speziell im Bereich der Literatur zahlreiche anwendungsorientierte Verzeichnisse, mit Hilfe derer sich Autoren über die Anforderungen und Bedingungen einer Bewerbung um einen Preis informieren können. Abgesehen von wenigen historisch an1
Vgl. Uwe Wittstock: »Ganz wie der Booker-Price«, Die Welt 2.10.2004.
2
Einleitung
gelegten Überblicksdarstellungen 2 ist die Vergabe von Literaturpreisen an sich jedoch von Seiten der Wissenschaft noch nicht eingehender untersucht worden. Die vorliegende Analyse soll dazu beitragen, im Zusammenhang mit Literatur stehende soziale Handlungen bzw. Handlungskomplexe zu erhellen. Bezugsgröße dieser Analyse ist die bedeutendste Auszeichnung für deutschsprachige Literatur, der Georg-Büchner-Preis: 1923 vom Volksstaat Hessen als Staatspreis für Kunst gestiftet und seit 1951 von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt jährlich an einen Autor bzw. an eine Autorin vergeben. 3 Die Analyse beschäftigt sich einerseits mit zentralen Aktionsmerkmalen der Preisvergabe im Allgemeinen wie auch der Vergabe von Literaturpreisen im Speziellen. Dabei sollen handlungswie auch ergebnisbezogene Aspekte berücksichtigt werden: es wird nach dem Handlungstyp, dem Handlungsmodus und der Handlungsqualität von Preis- bzw. Literaturpreisvergaben gefragt, d. h. nach der ihnen zugrundeliegenden Logik, der Art und Weise ihrer praktischen Umsetzung und nach ihrer Wirkung auf das soziale Gefüge. Die allgemeinen Befunde werden schließlich für die Darstellung der spezifischen historischen Entwicklung des Büchnerpreises und seiner Einbettung in die deutsche und internationale Geschichte zwischen 1923 und 2004 richtungsweisend sein. Die wissenschaftliche Untersuchung von Literaturpreisverleihungen stellt den klassischen Methodenkanon der Germanistik vor eine große Herausforderung. Ohne eine Ergänzung des etablierten Analyserepertoires ist die Bearbeitung einer solchen Problemstellung nicht erfolgversprechend. Gehörten doch bisher soziale Handlungen bzw. Handlungskomplexe selten zum Gegenstandsbereich germanistischer Untersuchungen. Es war also bislang nicht notwendig, ein handlungsbezogenes Analyseinstrumentarium zu entwickeln. Grundlage einer Arbeit über die Verleihung von Literaturpreisen sollte ein erweiteter germanistischer Methodenkanon sein, der auch kulturwissenschaftliche Interpretationsansätze miteinbezieht. Das kultursoziologische Konzept von Pierre Bourdieu bietet sich für eine solche Ergänzung an, da es das Wirken gesellschaftlicher Mechanismen in den Mittelpunkt rückt. Bourdieu interpretiert moderne Gesellschaften als Komplexe
2
3
Vgl. etwa im Falle von Literaturpreisen die Abhandlung von Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor: städtische Literaturpreise und Kulturpolitik in Deutschland 1926—1971, Berlin 1999. Der Georg-Büchner-Preis wird seit 1951 von einer Jury vergeben, die sich aus dem erweiterten Präsidium der Deutschen Akademie, einem stimmberechtigten Vertreter der Stadt Darmstadt — meistens dem Oberbürgermeister — und einem stimmberechtigten Vertreter des Darmstädter Regierungspräsidiums zusammensetzt. Die Preissumme wird zu je einem Drittel von Bund, Land Hessen und Stadt Darmstadt getragen. Eventuell noch ausstehende Beträge werden durch eine gewidmete private Erbschaft gedeckt. Die Kosten für Verleihungsfeier und Urkunde bringt die Stadt Darmstadt auf; vgl. mündliche Auskunft Verwaltung Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung.
Einleitung
3
antagonistisch angelegter Felder, deren Akteure um möglichst vorteilhafte Positionen ringen. Dabei widmet er den im Kulturbereich wirkenden Kräften besondere Aufmerksamkeit. Bourdieus kultursoziologisch-objektivierende Analyse erleichtert die Interpretation sozialer Handlungen im kulturellen bzw. literarischen Feld und bildet somit auch eine vielversprechende Basis für die wissenschaftliche Analyse von Literaturpreisverleihungen. Für sie sind vor allem drei Aspekte seines Ansatzes von Bedeutung: die antagonistische Grundstruktur moderner Gesellschaften im Kampf um möglichst vorteilhafte Positionen, die Einteilung des sozialen Gefüges in ihrerseits rivalisierende Felder mit jeweils unterschiedlichem Merkmalprofil und die Unterscheidung zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital, d.h. zwischen materiellen Werten und Prestige, als gesellschaftsdynamisierenden Elementen. Auf der Grundlage dieser Befunde lassen sich die Vergaben von Literaturpreisen als innerhalb eines spezifischen gesellschaftlichen Feldes angesiedelte soziale Handlungen auffassen, die in der Auseinandersetzung konfligierender Interessen zur Mobilisierung von materiellen Werten und von Prestige beitragen. Die Berücksichtigung des kultursoziologischen Ansatzes von Pierre Bourdieu kann die etablierte Perspektive insofern bereichern, als sie den bisher maßgeblich auf die Analyse von Text, Autor und Leser festgelegten Fokus der Literaturwissenschaft gewinnbringend erweitert. Auf diese Weise ist es möglich, auch den sogenannten Literaturbetrieb in die Analyse miteinzubeziehen, d. h. soziale Handlungen und handlungsgetragene Mechanismen im Umfeld von Texten, Autoren und Rezipienten zu berücksichtigen und dadurch neue Erkenntnisebenen zu erschließen. Die Bourdieusche Kultursoziologie eröffnet den Zugang zur wissenschaftlichen Analyse sozialer Handlungen im kulturellen Feld. Sie bedarf jedoch ihrerseits der Ergänzung, wenn die Aktionsmerkmale von Preis- bzw. Literaturpreisvergaben intensiver herausgearbeitet werden sollen. Beschäftigt sich Bourdieu doch maßgeblich mit den übergeordneten Eigenschaften sozialer Strukturen und geht nur auf wenige Einzelphänomene ein. In der vorliegenden Arbeit wird seine Beschreibung der Instituierung oder Einsetzung als distinktes Aktionsmuster zur Analyse des Handlungstyps von Preis- bzw. Literaturpreisverleihungen herangezogen. Darüber hinaus kann auch sein Konzept der »sozialen Magie«, mit dem er die Wirkung von Instituierungen im sozialen Gefüge beschreibt, die Qualität des in Frage stehenden Handlungsphänomens erhellen. Entkräftet doch Bourdieu die Kritik an seinen oft als mechanistisch bezeichneten Gesellschaftsvorstellungen, indem er die Bedeutung der Vorstellungsweit für sozialen Wandel betont und die auf Symbolizität beruhende Beeinflussung von Wirklichkeit hervorhebt. Die vorliegende Analyse berücksichtigt jedoch auch weitere interdisziplinäre Ansätze. So greift sie bei der Bestimmung des Handlungstyps von Preis- bzw. Literaturpreisvergaben auch auf ethnologische Befunde zurück. Die Ergebnisse von Marcel Mauss zur Gabe bzw. zum Gabentausch
4
Einleitung
eignen sich dabei in besonderem Maße. Geht doch auch der Ethnologe von einer antagonistisch ausgerichteten Motivation sozialer Interaktion aus. Er fasst die Gabe sowohl als individuelle wie auch als in einen gesellschaftlichen Kontext eingebundene Handlung auf und geht mit dieser Prämisse intensiv auf die ihr zugrundeliegende Logik ein. Auf diese Weise lässt sich die Vergabe von Preisen und von Literaturpreisen im Speziellen sowohl als Individualhandlung untersuchen wie auch als ein Kollektive berührender Akt. Darüber hinaus ist die Einordnung in einen kulturübergreifenden Zusammenhang möglich. Bei der Untersuchung des Handlungsmodus von Preis- bzw. Literaturpreisverleihungen widmet die Analyse einem weiteren Themenfeld besondere Aufmerksamkeit: dem Ritual und seiner Einbindung in soziale Systeme. Nicht umsonst sind Rituale nicht nur in indigenen, sondern auch in modernen Gesellschaften häufig anzutreffen: von der Inauguration des amerikanischen Präsidenten über die Eröffnung der Olympischen Spiele bis hin zur Börseneinführung sind Rituale auch in verschiedenen hochzivilisierten Lebenszusammenhängen präsent. Eine Konzentration auf ritualwissenschaftliche Aspekte liegt im vorliegenden Zusammenhang insofern nah, als der Ritualbegriff in Verbindung mit der Verleihung von Auszeichnungen und so auch mit der Verleihung von Literaturpreisen im populären Sprachgebrauch häufig Verwendung findet. So wurde und wird etwa in den Medien auch die Verleihung des Georg-Büchner-Preises oft als Ritual bezeichnet, während sich die Verantwortlichen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung von dieser Bezeichnung eher distanzieren. 4 Begriffs· wie Handlungsebenen des Rituals scheinen nicht unproblematisch zu sein. Dennoch birgt die Berücksichtigung ritualbezogener Perspektiven für die Untersuchung von Literaturpreisvergaben offensichtliche Vorteile. Indem sie nicht nur die praktische Umsetzung von Ritualen zu klären versucht, sondern auch ihre gesellschaftliche Dimension hinterfragt, ist die Ritualwissenschaft in vielerlei Hinsicht vielversprechend für die vorliegende Untersuchung: mit ihrer Hilfe ist es möglich, den pragmatischen Aspekt von Preisvergaben im Allgemeinen wie von Literaturpreisverleihungen im Speziellen zu beleuchten und darüber hinaus Aufschluss über ihre soziale Dimension zu gewinnen. Zum Begriff des Rituals, zu seinen allgemeinen Merkmalen wie auch zu einzelnen Beispielen bzw. Beispielkomplexen ist innerhalb vieler Fachbereiche ausführlich gearbeitet worden. Die zahlreichen Analysen zu Ritualen in unterschiedlichen historischen Epochen und kulturellen Kontexten wie auch die nicht selten divergierenden theoretischen Ansätze machen die Ritualwissenschaft jedoch zu einem vielfältigen Untersuchungsfeld. Die
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Vgl. vor allem die Kapitel 2 und 3.
Einleitung
3
Analyse muss sich daher konzentrieren. Für eine solche Fokussierung bieten sich die Befunde der Ritualtheoretiker Stanley Tambiah, Caroline Humphrey und James Laidlaw an, deren unterschiedliche Ritualkonzepte eine spezifische Offenheit auszeichnet. Sie ist eine notwendige Voraussetzung für die Gewinnung allgemeingültiger Befunde. Die Synthese ihrer typologischen Ritualbestimmungen bildet hier die Grundlage für ein abstrahierbares, aus der Untersuchung von Literaturpreisverleihungen abgeleitetes Phasenmodell zur Beschreibung ritualisierter Handlungen im Allgemeinen. In diesem Sinne kann die vorliegende Analyse auch einen Beitrag zum ritualwissenschaftlichen Theoriediskurs liefern. Das kultursoziologische Konzept Pierre Bourdieus bietet eine methodische Voraussetzung für die Untersuchung von Literaturpreisverleihungen. Durch die zusätzliche Einbeziehung ethnologischer sowie ritualwissenschaftlicher Perspektiven wird der klassische Gegenstandsbereich der Literaturwissenschaft zusätzlich erweitert.
1. KAPITEL
Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus Vorbemerkungen Soll das Phänomen der Literaturpreisverleihung betrachtet werden, gilt es eingangs das Interesse auf allgemeine Fragen bezüglich der Vergabe von Preisen im Allgemeinen zu lenken. Was passiert eigentlich, wenn eine Auszeichnung vergeben wird? Warum ordnen wir zwei soziale Handlungen mit einem jeweils unterschiedlichen, individuellen Erscheinungsbild derselben Kategorie zu? Was hat die jährlich mit Spannung erwartete Academy Award Ceremony in Los Angeles samt dem vom Blitzlichtgewitter erhellten Gang über den roten Teppich und den tränenerstickten Danksagungen der Laureaten mit der Verleihung des Christian-Wagner-Preises in der historischen Turnhalle von Warmbronn mit anschließendem Imbiss gemeinsam, dass wir beide Veranstaltungen unmissverständlich als Preisverleihungen erkennen? Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass es ein Set spezifischer Charakteristika gibt, welches die Vergabe eines Preises von anderen sozialen Phänomenen unterscheidet. Die Preisverleihung wäre als eigenständige, mit spezifischen Aktionsmerkmalen ausgestattete Handlungskategorie aufzufassen. Dieser Annahme wird im Folgenden nachzugehen sein. Anhand eines konkreten Beispiels soll zunächst versucht werden, die Standardform einer Preisverleihung zu ermitteln. Dies geschieht in mehreren Untersuchungsabschnitten. Ausgangspunkt der Analyse bildet die Beschreibung eines konkreten Ereignisses. Ausschlaggebend ist der Anspruch, die Subjektivität des Beobachters auf ein Mindestmaß reduzieren zu wollen; eingedenk der Tatsache, dass eine objektive Haltung angesichts themenbezogener Forschungsinteressen oder des gegenüber einer vollzogenen Handlung immer defizitär bleibenden begrifflichen Beschreibungsmediums niemals vollständig erreicht werden kann. Außerdem erleichtert die Übernahme einer distanzierten Beobachterperspektive den Blick auf einen gegenwärtigen Kulturraum, der dem Betrachter denkbar nahe steht. Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises des Jahres 2002 an Wolfgang Hilbig wird möglichst unvoreingenommen beschrieben. Nur wenige Details werden vorausgesetzt. Handlungen, Gegenstände oder Funktionen beteiligter Personen ergeben sich ausschließlich aus dem Zusammenhang des Ereignisses. Die Beschreibung dient anschließend dazu, die Details der Szene, des Ablaufs und der Struktur herauszuarbeiten. Wie gliedert sich die Verleihungsfeier und welche Einzelhandlungen umfasst sie? Welche Merkmale charakterisieren die verschiedenen Phasen?
Der Fall
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Auf der Grundlage dieser exemplarisch durchgeführten Performanzanalyse wird dann nach zentralen Aktionsmerkmalen von Preis- bzw. Literaturpreisverleihungen zu fragen sein. Zuerst steht die logische Struktur, d. h. der Handlungstyp der angenommenen Handlungskategorie Preisverleihung im Zentrum der Analyse. Auf welches Grundmuster menschlicher Interaktion lässt sich die Vergabe von Preisen zurückführen? Desweiteren wird in diesem induktiv angelegten Abschnitt der Art und Weise, wie Auszeichnungen verliehen werden, d. h. dem Handlungsmodus, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wie agieren Menschen genau, wenn sie Preise vergeben, annehmen oder einer solchen Verleihung beiwohnen? Ist es vielleicht auch möglich, abstrahierbare Befunde einen allgemeinen Handlungsmodus betreffend zu gewinnen, der mit dem postulierten Handlungstyp Preisverleihung korrespondiert? Diese Aspekte sollen jeweils erst allgemein erarbeitet und anschließend auf das Beispiel von Literaturpreisen im Speziellen angewendet werden.
Der Fall Fallbeschreibung An einem Samstagnachmittag im Oktober 2002 finden sich zu einem wohl im Vorhinein festgelegten Zeitpunkt zahlreiche Personen im Darmstädter Staatstheater ein. Formal, doch nicht evident festlich gekleidete Damen und Herren im Alter von 55 bis 65 Jahren bestimmen das Bild. Es fällt auf, dass sich die meisten der oft in Gruppen eintreffenden Personen bereits zu kennen scheinen, was gestenreiche Begrüßungen und spontan einsetzende, vertrauliche Gespräche auf dem Vorplatz und im Foyer des Theaters vermuten lassen. Von einigen Ausnahmen abgesehen, trifft sich hier eine mehr oder weniger geschlossene Gesellschaft, die auf das Kommende vorbereitet ist. Der gemeinsame Habitus, den die Mehrzahl der Personen in diesem Moment offensichtlich pflegt, verleiht der Versammlung den Anschein von Exklusivität einer sich separierenden Elite. Manche Gruppen bleiben in der Sonne auf dem Theatervorplatz stehen, der von einem künstlichen Wasserbecken mit einer mannshohen bronzefarbenen Skulptur in Form eines aufrechtstehenden Diskus geschmückt wird. Einer Inschrift vor dem Becken ist zu entnehmen, dass dieses Denkmal namens »Grande Disco« zu Ehren Georg Büchners vom Land Hessen, von der Stadt Darmstadt und von Darmstadts Bürgern gestiftet wurde. Der Platz, auf dem sich die Gruppen befinden, heißt »Georg-Büchner-Platz«. Mit fortschreitender Zeit betreten immer mehr der Besucher den schmucklosen Vorraum und begeben sich über breite Stufen und Treppenabsätze hi-
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
nauf zu einem der Theatersäle. Rechts der Saaltür liegen zahlreiche Bücher auf Tischen, die von vielen Anwesenden betrachtet, durchgeblättert und eingekauft werden. 1 Links versammeln sich zahlreiche Personen um einen mit dem Hinweis »Presse« gekennzeichneten Tisch, wo sie von formell gekleideten Personen mit identisch gestalteten Mappen ausgestattet werden.2 Auf einem Nebentisch häufen sich zunehmend computergedruckte Karten, die von Besuchern dort abgegeben wurden. Die zurückbehaltenen Karten der Anwesenden dagegen werden beim Eintritt in den Saal von uniformiertem Theaterpersonal kontrolliert. Der Saal ist mit amphitheatralisch aufsteigenden, gepolsterten Sitzreihen ausgestattet und teilt sich in ebenerdiges Parkett und den erhöhten 1. Rang gegenüber der Bühne. Die halbrund sich in den Zuschauerraum hineinwölbende Bühnenfläche nimmt etwa 1/3 des Saales ein. Ihren Hintergrund bildet eine braune Holzvertäfelung aus großflächigen rechteckigen Elementen mit eingebauten Türen und schwarzen Lautsprecherboxen auf halber Höhe. Rechts und links zieht sich jeweils eine schmale, metallisch spiegelnde Bahn halbrunder Wandelemente bis zur Decke. Der Bühnenboden ist schwarz-weiß meliert. Auf der Bühne links befindet sich ein hellbraunes metallisch-hölzernes Rednerpult mit einem blauen geschwungenen Logo des Staatstheaters und drei anmontierten Mikrophonen: die beiden äußeren sind Raummikros, das mittlere ist als ein Gerät des Hessischen Rundfunks zu erkennen. Rechts von der Mitte und leicht nach hinten versetzt, steht ein langer schmaler Tisch, der vollständig von einem schwarzen Tuch verdeckt wird. Darauf liegen drei parallel angeordnete, aufgeschlagene Urkundenmappen. Als einzige Dekorelemente befinden sich zwei Blumengestecke auf der Bühne. Ein niedriges Arrangement aus halbhohen orange-weißen Blüten steht rechts neben dem Rednerpult auf dem Boden. Ein artifizielleres Gesteck befindet sich rechts neben dem Urkundentisch. Es hat etwa doppelte Tischhöhe und trägt auf weißem Hochstamm gelbe, herabhängende Blüten. Zwei auf Stativen befestigte Kameras stehen auf dem Gang, der rechts an der Bühne am Zuschauerraum entlangführt. Die Anwesenden nehmen nach und nach ihre nummerierten Plätze ein. Von den beiden Gängen aus beobachtet eine große Zahl gleichmäßig im Raum verteilter Personen mit Funkgeräten und formalem Erscheinungsbild 1 2
Autoren dieser Bücher sind die Laureaten, maßgeblich der Büchnerpreisträger. Diese Pressemappen, die nur angemeldeten Journalisten ausgehändigt werden, beinhalten: eine Teilnehmerliste der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung; ein Programm, das den Ablauf der folgenden Preisverleihung skizziert und die Namen der Akteure sowie die jeweiligen Redezeiten nennt; Kurzbiographien der drei Preisträger und ihrer Laudatoren; Vorstellungen neuer Mitglieder der Akademie; ein Lebenslauf des neu gewählten Präsidenten der Akademie mit einer Aufstellung seiner Vorgänger in diesem Amt sowie alle Skripte der Laudationes und der Dankreden in Kopie mit einem handschriftlichen Vermerk zur Sperrfrist, die auf den Tag der Veranstaltung um 18 Uhr festgelegt ist.
Der Fall
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ernst und aufmerksam den Zuschauerraum. Als ein Mann im dunklen Anzug, begleitet von mehreren Personen, den Saal betritt und zügig zu seinem Platz in der ersten Reihe eskortiert wird, applaudiert das Publikum diffusspontan wie auch kurze Zeit später beim Sichtbarwerden eines älteren Mannes, der sich durch seinen informellen Kleidungsstil — dunkle Hose, graues Jacket und Pullover — von den meisten anderen Anwesenden abhebt. Bevor er ebenfalls in der ersten Reihe Platz nimmt, wird er von vielen Personen mit Handschlag respektvoll begrüßt. Zahlreiche Medienvertreter drängen sich daraufhin auf dem Bühnenrand und in der ersten Reihe mit tragbaren Film- und Photokameras, während ein formal gekleideter Mann die Bühne betritt. Er geht zum Rednerpult und hält in Rücksicht auf die Journalisten inne. Nach wenigen Augenblicken beginnt er zu sprechen, begrüßt den Bundespräsidenten, und da sich die Traube der Photographen nicht auflöst, winkt er diesem umständlich und spaßhaft zu. Der Bundespräsident erwidert die Geste lächelnd. Das Publikum lacht, applaudiert und die Journalisten ziehen sich zurück. Sofort stellt sich eine konzentrierte Atmosphäre ein, die während der ganzen Veranstaltung anhalten wird. Der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung begrüßt die Anwesenden zur letzten Veranstaltung und zum Höhepunkt ihrer dreitägigen Herbsttagung: zur Verleihung der Akademiepreise. Anschließend spricht der Bundespräsident ein Grußwort. Keine der während der Veranstaltung gehaltenen Reden dauert länger als zehn Minuten. Nach jedem Redner wird von einer uniformierten Theaterangestellten das am Pult aufgestellte Wasserglas ausgetauscht. Zu keinem Zeitpunkt befinden sich mehr als zwei Personen auf der Bühne, die auch für Momente vollständig leer sein kann, so etwa zwischen den Reden. Eine Pause oder musikalische Einlagen bzw. Untermalungen fehlen genauso wie Symbole oder Embleme. Das Bühnenlicht wie auch die gedämpfte Beleuchtung des Zuschauerraums wird während der etwa zweistündigen Veranstaltung nicht moduliert. Nun wiederholt sich dreimal ein festes Ablaufschema mit jeweils unterschiedlichen Akteuren. Ein Redner hält eine Ansprache und verlässt anschließend die Bühne. Das Publikum applaudiert, während der Akademiepräsident, gefolgt von jeweils einem anderen Anwesenden aus der ersten Reihe, die Bühne betritt. Beide stellen sich vor dem Tisch mit den Urkundenmappen einander gegenüber auf. Körperhaltung, Mimik und Gestik beider Personen gestalten sich nun erkennbar reduzierter und formelhafter. Der Präsident nimmt die am weitesten links liegende Mappe vom Tisch auf und liest den Urkundentext vor. Daraufhin gratuliert er dem ihm Gegenüberstehenden mit Handschlag und angedeuteten Verbeugungen, die der Beglückwünschte auffallend ausgeprägt erwidert, und übergibt ihm schließlich die Urkunde. Während Gestik und Körperhaltung reduziert bleiben, drückt die Mimik die individuelle Freude des Beglückwünschten bzw. des Präsidenten aus. Das Publikum applaudiert und der Laureat wendet sich mit der
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
Urkunde dem Zuschauerraum zu. Anschließend verlässt der Präsident das Podium und der Ausgezeichnete hält eine Rede, steigt anschließend von der Bühne und nimmt, unter Glückwünschen der Umsitzenden, seinen Platz im Zuschauerraum wieder ein. Die Verleihungssequenzen der drei Akademiepreise unterscheiden sich nur geringfügig voneinander. Während die Laudatoren und das Publikum formale Kleidung tragen, passt sich nur ein Preisträger diesem Erscheinungsbild an. Die beiden anderen, darunter auch der Büchnerpreisträger, treten dagegen individueller und legerer auf. Durch ein Missverständnis will einer der Laureaten zu seinem Platz zurückkehren, nachdem er dem Akademiepräsidenten auf die Bühne gefolgt war, und muss von diesem auf halbem Weg zurückgebeten werden. Als dem Büchnerpreisträger die Urkunde überreicht wird, betreten Journalisten die Bühne, umringen Präsident und Laureat und nehmen dem Publikum teilweise die Sicht auf Handschlag, Verbeugungen und Übergabe. Der Büchnerpreisträger erhält dennoch besonders ausgiebigen Applaus, als er sich dem Publikum mit der Urkunde zeigt. Die Journalisten folgen ihm bis zu seinem Platz, wo sie die Gratulationen aufnehmen. Nach der dritten Wiederholung endet die Veranstaltung ohne festen Schlusspunkt mit dem Applaus für die letzte Rede. Alle Anwesenden bleiben jedoch unaufgefordert solange sitzen, bis der Bundespräsident dem letzen Preisträger gratuliert und mit seiner Eskorte den Theatersaal verlassen hat. Anschließend bewegen sich Präsident, Laudatoren, Preisträger und Zuschauer ohne feste Reihenfolge aus dem Raum ins Foyer zurück. Während die übrigen Laureaten und Laudatoren sich unter die Zuschauer mischen, Unterhaltungen führen und Glückwünsche entgegennehmen, begibt sich der Büchnerpreisträger zum Büchertisch im Foyer. Dort hat sich bereits eine größere Gruppe gebildet. Er signiert die ihm von den Anstehenden hingehaltenen Bücher und spricht wenige Worte mit den Wartenden. Immer mehr Besucher verlassen unterdessen das Theatergebäude. Fallanalyse Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2002 an Wolfgang Hilbig durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt stellte ein von der regionalen wie überregionalen Öffentlichkeit beachtetes Ereignis dar. Seit die Akademie im Mai 2002 den Namen des diesjährigen Preisträgers offiziell verkündet hatte, stieg die Zahl der Medienberichte über Hilbig sprunghaft an. Noch am selben Abend wurde in der Tagesschau mit einem kurzen Filmbeitrag über die Vergabe berichtet und zahlreiche Artikel widmeten sich auch im Nachhinein der Büchnerpreisverleihung. Doch um was für ein Ereignis handelt es sich hier eigentlich genau? Inwiefern hebt sich
Der Fall
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diese Preisverleihung von anderen, dem Alltag enthobenen gesellschaftlichen Phänomenen ab? Welche spezifischen Merkmale prägen sie? Es ist davon auszugehen, dass es sich um ein kulturell signifikantes, in soziale Zusammenhänge eingebettes Ereignis handelt. Diese Zusammenhänge werden im Folgenden als Kontext bezeichnet. Da es sich im vorliegenden Fall um einen der bedeutendsten deutschen Literaturpreise geht und dieser von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt vergeben wird, bilden maßgeblich die darmstädtisch-hessische und die bundesrepublikanische Gesellschaft diese sozialen Verortungssysteme. Die jährlich wiederkehrende Verleihung des Georg-Büchner-Preises hat ihren festen Platz innerhalb des regionalen und nationalen Kontextes. Betrachten wir zunächst die Handlungsstruktur und die Rollen der Beteiligten. 3 An der feierlichen Vergabe sind verschiedene Personen bzw. Personengruppen beteiligt. Der Akademiepräsident tritt am häufigsten in Erscheinung. Er eröffnet die Verleihung mit seiner Ansprache und übergibt die drei Akademiepreise. Jeder der Preisträger nimmt erst seine Auszeichnung entgegen und hält anschließend eine Dankrede. Die Laudatoren und der Bundespräsident treten mit ihren Reden jeweils nur einmal auf. Aufgrund ihrer exponierten und aktiven Beteiligung am Handlungsgeschehen seien diese Personen als Akteure bezeichnet. Sie betreten die Bühne, wobei sich Akademiepräsident und Preisträger im Zuge der Ubergabe weiter über die Bühnenfläche bewegen als die ausschließlich am Rednerpult rhetorisch wirkenden Akteure. Es kann also von Primär- und Sekundärakteuren gesprochen werden. Für alle Akteure sind Plätze in der ersten Reihe des Zuschauerraums reserviert. Den übrigen Anwesenden kommt dagegen eine mehr oder weniger passive Rolle mit einem eingeschränkten Handlungsspielraum zu. Durch die medialen Bedürfnisse der Berichterstattung verlangsamen die Journalisten eher die Verleihungsfeier, indem sie bestimmte Sequenzen besonders auszudehnen suchen; so etwa den Handschlag bei der Ubergabe der Urkunden. Auch betreten sie anlässlich dieser Sequenzen kurzzeitig die Bühne. Den Anwesenden im Zuschauerraum fällt einerseits die Beobachterrolle zu. Andererseits bestätigen sie auch mit ihrem Applaus die vollzogene Ehrung. Sie verlassen ihre Plätze nicht. Das auf den Gängen verteilt stehende Sicherheitspersonal des Bundespräsidenten nimmt an keiner der Aktivitäten teil, sondern erfüllt seine aus dem Ereignis resultierende Funktion. Die Vergabe gliedert sich in zwei Teile: die Ansprachen des Akademieund des Bundespräsidenten (Phase I) sowie die Überreichung der Preise (Phase II). Phase II besteht aus drei Sequenzen, die ein identisches Ab-
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Terminologisch sei hier das Dramenmodell als Bezugssystem herangezogen. Begriffe wie Rolle, Akteur, Auftritt oder Bühne tragen zur Systematisierung der Fallanalyse bei.
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1. Die Aktionsmerkmale Ilandlungstyp und Handlungsmodus
laufschema aufweisen. Dieses umfasst jeweils die Rede des Laudators, die Übergabe des Preises und die Dankrede des Laureaten. Die gesamte Verleihungsfeier, zusammengesetzt aus den Phasen I und II, sei Mikrohandlung genannt. 4 Die Übergabesituation, d.h. das Aufstellen von Präsident und Preisträger vor dem Urkundentisch, das Verlesen der Urkunde mit Handschlag und angedeuteter gegenseitiger Verbeugung sowie die anschließende Präsentation des Laureaten vor dem Publikum sei als obligatorisches Zentrum und Höhepunkt des Handlungskomplexes bezeichnet. Diejenige Handlungsphase, die zwar der Mikrohandlung angehört, aber nicht ihrem Zentrum zuzurechnen ist, sei Peripherie genannt. Die Verleihungsfeier ist also ein aus zwei jeweils binnenstrukturierten Abschnitten zusammengesetzter, d. h. sequenzierter Handlungskomplex mit Peripherie und drei Zentren. Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises ist die dritte und letzte Zentrumsphase der Mikrohandlung. Aus dieser exponierten Stellung im Gesamtgefüge wie auch im zweiten Teilabschnitt ist abzuleiten, dass ihr als End- bzw. Zielsequenz eine besondere Bedeutung zukommt. Bezüglich des Sprechens und Handelns zeichnen sich beide Teile der Verleihungsfeier durch spezifische Merkmale aus. Phase I besteht mit den Ansprachen des Akademie- und des Bundespräsidenten ausschließlich aus rhetorischen Bestandteilen. Beide Reden werden vom Pult aus gehalten, d. h. dass nur das linke Drittel der zur Verfügung stehenden Bühnenfläche in Anspruch genommen wird. Gestik und Mimik sind — der geltenden Konvendon entsprechend — eingeschränkt. Die Redezeit wurde von den Veranstaltern im Vorhinein auf höchstens zehn Minuten begrenzt, was von den meisten Akteuren eingehalten und von manchen im Rahmen ihres Beitrages sogar explizit erwähnt wird.'1 Im ersten Abschnitt befindet sich nie mehr als eine Person auf der Bühne. Während der vorhergehende Sprecher die Bühne verlässt und der nächste zum Rednerpult geht, bleibt das Podium für wenige Augenblicke leer. Phase I zeigt sich dementsprechend wort- bzw. sprachzentriert, gestisch gesehen aber handlungsarm.
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Der Begriff der Makrohandlung umfasst dagegen die Mikrohandlung und alle auf diese bezogenen Akte im Vor- und Nachfeld einer Preisverleihung, etwa von der Jurysitzung bis zum Bankett oder Empfang, der Diskussionsveranstaltung oder der Lesung. Im Falle des Georg-Büchner-Preises gehören der Makrohandlung folgende Handlungselemente an: die Jurysitzung mit der Verkündung der Entscheidung durch Pressemitteilung, die Lesung des Büchnerpreisträgers am Vorabend der Preisvergabe und der Empfang des Oberbürgermeisters für geladene Gäste im Anschluss an die Verleihung. Es ist ferner üblich, dass der Oberbürgermeister am Tag der Verleihung einen kleinen Kreis zusammen mit dem Büchnerpreisträger zum Mittagessen einlädt, wobei der Laureat Wünsche bezüglich der Gästeliste äußern darf; vgl. Kapitel 2 und 3. Die Begriffe Mikro- bzw. Makrohandlung bezeichnen sowohl obligate als auch fakultative Handlungselemente.
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Vgl. Videomitschnitt der Büchnerpreisverleihung 2003.
Der Fall
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Phase II gliedert sich in zwei Teile. Laudatio und Dankrede gestalten sich die Verortung am Rednerpult, die Dauer der Beiträge und die reduzierte Mimik und Gestik betreffend vergleichbar mit den Ansprachen im ersten Abschnitt. Die Ubergabe dagegen umfasst fünf Teilsequenzen: das Verlesen des Urkundentextes, den Handschlag, die gegenseitige, mehr oder weniger deutlich ausgeführte Verbeugung, die Aushändigung der Urkunde und die Präsentation des Preisträgers vor dem applaudierenden Publikum. Allein zu diesem Zeitpunkt befinden sich zwei Akteure auf der Bühne. Dieser Zentrumskomplex findet vor dem Urkundentisch in der Bühnenmitte statt und dauert nur wenige Minuten. Bis zur Präsentation vor dem Publikum, bei der sich Mimik und Haltung der Akteure lockern, ist eine eingeschränktere und formalisiertere Mimik und Gestik zu erkennen als im ersten Abschnitt und anlässlich Laudatio und Dankrede. Der Preisträger verhält sich während dieses Handlungskomplexes maßgeblich reagierend. Er hört der Verlesung des Urkundentextes zu, erwidert Handschlag und Verbeugung und wendet sich dem Publikum zu. Er spricht nicht. Das Sprechen und Handeln des Präsidenten dagegen gestaltet sich in besonderer Weise. Er verliest den vollständigen Urkundentext: »Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung verleiht den Georg-Büchner-Preis 2002 Wolfgang Hilbig, der in der ungeheuren leeren Halle des Schweigens seine Stimme wagte, um der Wertlosigkeit zu entkommen; der in seiner Dichtung sich behauptete und einer Macht trotzte, indem er ihre Abgründe ausleuchtete; der auf schrecklichwundervolle Weise der ganzen Verzweiflung Wort gab, die den befällt, der sich nicht darüber täuschen kann, daß ihm der Grund abhanden gekommen ist; der überbeansprucht, aber unverdrossen unsere Sprache immer neu zu faszinierendem Leben weckt. Darmstadt, am 26. Oktober 2002. Das Präsidium Christian Meier, Ilma Rakusa, Peter Hamm, Klaus Reichert.«6 Mit der Rezitation dieses Textes durch eine autorisierte Person vollzieht sich die Preisverleihung — ein offenkundig performativer Akt. Der anschließende Handschlag und die Überreichung der Urkunde besiegeln die Identität von Sprechen und Handeln und machen sie gleichzeitig für die Beteiligten sichtbar.7 Phase II zeichnet sich dementsprechend neben seinen wortzentrierten und handlungsarmen Redeteilen vor allem durch drei handlungsreichere Zentrumskomplexe aus. Hier fallen Sprechen und Handeln auf performati-
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Urkundentext in Pressemappe zur Verleihung der Akademiepreise der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 2002. Austin definiert solche Formen des Sprechens als illokutionäre Sprechakte. Äußerungen kommt demnach neben ihrer zur Lokution gehörigen Bedeutung eine spezifische Kraft zu: Diese Handlungsqualität kann explizit gemacht werden, indem ein Sprecher spezielle Verben verwendet wie »Hiermit verspreche ich Dir, dass ...«, »Ich taufe Dich ...« oder aber durch andere sprachliche Mittel wie etwa Modus oder Partikeln; vgl. Konrad Ehlich: Artikel »Illokution, illokutiver Akt, illokutionärcr Akt«, in: Helmut Glück (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache, Stuttgart 1993, 256.
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und I landlungsmodus
ve Weise zusammen. Anschlusshandlungen machen die Konsequenzen des gesprochenen Wortes erfahrbar. Die Ubergabe des gesprochenen Textes in Form der Urkunde symbolisiert den Ubergang der Auszeichnung in das Eigentum des Laureaten. Mit dem Handschlag gratuliert der Repräsentant der Institution dem Preisträger zu seinem Erfolg. Handlungen verkörpern das vorausgegangene Sprechen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Verleihungsfeier ein aus jeweils binnenstrukturierten Phasen I und II zusammengesetzter, daher sequenzierter Handlungskomplex mit Peripherie und drei Zentren ist. Beide Abschnitte weisen ein jeweils spezifisches Profil an sprach- und handlungsbezogenen Merkmalen auf. Doch welche Handlungslogik steht im Mittelpunkt dieses Ereignisses? Auskunft über den Gegenstand der Verleihung gibt die Zentrumshandlung, die dreimal in identischer Form wiederkehrt und auf diese Weise das Geschehen besonders prägt. Eingerahmt von Laudatio und Dankrede handelt es sich um die Vergabe eines Preises, der vom Akademiepräsidenten im Beisein einer heterogenen Gruppe — nämlich der übrigen Akteure, der Berichterstatter, der Zuschauer und des Sicherheitspersonals — an eine Person in Form einer Urkunde mit beigefügtem Scheck überreicht wird. Es ist also eine vor Zeugen vollzogene Schenkungshandlung, die im Mittelpunkt des Ereignisses steht.
Der Handlungstyp Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung Im Zentrum des ersten Kapitels zu zentralen Aktionsmerkmalen von Preisbzw. Literaturpreisverleihungen steht auch die Suche nach einem allgemeinen Handlungstyp, unter den sich Preisverleihungen und so auch das oben beschriebene Ereignis subsummieren lassen. Es soll also nach der logischen Struktur solcher Handlungen gefragt werden. Nach der Schilderung des exemplarischen Ereignisses und einer ersten Strukturanalyse wird nun dementsprechend ein Abstraktionsversuch folgen. Es ist festgestellt worden, dass es sich bei der Veranstaltung im Darmstädter Staatstheater um eine Schenkung handelt. Welche Merkmale zeichnen solche Handlungen aus? Gibt es verallgemeinerbare, feste Strukturen, die Schenkungen zugrundeliegen?
Die Gabentauschlogik Die Anthropologie ordnet Schenkungen der allgemeinen Handlungskategorie der Gabe zu. Gaben werden hier als soziale Interaktionsmuster aufgefasst, die zum Basisrepertoire menschlicher Gemeinschaften gehören. Mit
Der Handlungstyp — Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung
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ihnen meint der Soziologe Marcel Mauss »Felsen gefunden zu haben, auf denen unsere Gesellschaften ruhen« 8 , unabhängig von ihrem Zivilisationsgrad und von ihrer historischen bzw. geographischen Verortung. Zentrale Eigenschaft von Gabehandlungen ist die Synthese von Altruismus und Eigennutz. Hinter der Fassade eines freiwilligen, selbstlosen und spontanen Geschenks muss immer sein zwanghafter und eigennütziger Charakter mitgedacht werden. 9 Wenn ein Geber (G) einen Adressaten (A) mit einem Argument (c) versieht, so verbinden sich mit dieser Transaktion immer auch egoistische Interessen der an der Gabe beteiligten Personen oder Gruppen. Gaben sind niemals zweckfrei. Jede auf den ersten Blick ausschließlich altruistische Geste entpuppt sich als Fiktion und soziale Lüge, denn Gaben sind immer Tauschbeziehungen. Die grundsätzliche Wechselseitigkeit dieser Gabentauschlogik impliziert, dass der Geber vom Adressaten eine Erwiderung seines Geschenks erwartet: »do ut des«. Reagiert der Adressat auf die Aktion des Gebers adäquat, d. h. kommt er seiner Pflicht zur Gegengabe nach, so glückt die Transaktion. Revanchiert sich der Adressat nicht, muss er mit Sanktionen rechnen. Gaben sind reziprok. Zu unterscheiden ist dabei zwischen der positiven Reziprozität, dem »pure gift« nach Malinowski, der negativen und der balancierten Reziprozität.1" Im Kontinuum reziproker Leistungen bilden Heirats- und Verwandschaftsverpflichtungen, Hilfeleistungen oder alle informellen Aspekte der Höflichkeit den positiven Pol. Hier entsteht Gegenseitigkeit. Einseitige Austauschbeziehungen werden auch über längere Zeit toleriert, eine Gegenleistung erst in unbestimmter Zukunft erwartet. Den gegenüberliegenden Pol negativer Reziprozität bildet dagegen die meist sanktionierte Form des Nehmens ohne etwas zu geben, des Etwas gegen Nichts. Auch die balancierte Wechselseitigkeit, die Form des »do ut des«, beruht selbstverständlich auf Gegenseitigkeit. Der reziproke Charakter der Gabentauschlogik geht für Mauss aus dem Geist der gegebenen Sachen, d. h. aus der Vorstellung magischen Eigentums hervor: dem sogenannten »hau«.11 Das Argument ist eng mit dem Geber verknüpft. Dieser überlässt dem Adressaten mit dem Geschenk einen Teil von sich selbst. Die gegebene Sache bindet Schenkende wie Beschenkte magisch, religiös, moralisch und juridisch. »Selbst eine Macht, verschafft sie Macht über den, der sie nimmt.«12 Indem der Geber den Adressaten mit einem Argument ausstattet, wird also eine gegenseitig angelegte Beziehung zwischen beiden Akteuren, zwischen G und A, gestiftet. Ihr Verhältnis ist
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Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austausche in archaischen Gesellschaften, Frankfurt/M. 1990, 19. Vgl. ebd., 18ff. Vgl. Helmut Berking: Schenken. Zur Anthropologie des Gebens, Frankfurt/M. 1996. Vgl. Mauss: Gabe, 31 f. Vgl. Berking: Schenken, 65.66.
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
nach der Gabe nicht mehr dasselbe wie vorher. Dabei ist nicht ausschlaggebend, ob der Adressat das Argument annimmt oder nicht, denn auch wenn Α auf die Gabe nicht eingeht, bezieht er automatisch Stellung zu G. Die Gabe bedeutet also immer Beziehungs Stiftung bzw -bestätigung: gleichzeitig Beziehungsangebot durch den Geber und Beziehungsdefinition durch den Adressaten, unabhängig davon, ob diese freundlich oder feindlich ausfällt. Gaben besiegeln zukünftige Verhältnisse. So verpflichten sich etwa zwei Familien oder Volksgruppen durch eine geschlossene Ehe. Gaben schaffen und stärken freundschaftliche Beziehungen und verleihen Identität.13 Zurückgewiesene oder nicht erwiderte Geschenke geben Anlass zu Entfremdung, Konflikten und Kriegen. Mauss konstatiert, dass es hierbei grundsätzlich um kollektive Handlungen geht, dass mit Gabe und Gegengabe immer eine Gruppenmoral angesprochen wird. Der Gabentausch ist gleichzeitig symbolische Form und »materielles Substrat gesellschaftlicher Synthesis« 14 . Als »modus operandi sozialer Differenzierung« 15 spielt sich die Gabe immer vor dem Hintergrund einer Gemeinschaft, der familia, der Verwandtschaft, des Dorfes, des Stammes oder eines intertribalen Kontextes ab. Gaben sind dementsprechend als interessengeleitete, reziproke Handlungen aufzufassen, aus denen sich eine Beziehungsveränderung bzw. Beziehungsbestätigung sowohl für Geber und Adressat sowie für den die Gabe einbettenden Kontext ergibt (vgl. Schema 1).
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V·:
Argument
Schema 1: Gabentauschlogik
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Vgl. Mauss: Gabe, 51. Bcrking: Schenken, 63. Ebd., 76.
Der Handlungstyp — Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung
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Gabe und Ehre Im Argument sieht Mauss den Träger des sogenannten »mana«, der Ehre oder des Prestiges, das durch einen Verstoß gegen die Gabentauschlogik aufs Spiel gesetzt wird. Geht doch anlässlich einer Gabe nicht nur eine Sache von einem Geber auf einen Adressaten über. Vielmehr sind mit dieser Änderung der Eigentumsverhältnisse auch symbolische Implikationen verbunden. Diese sind nach der archaischen Vorstellung vom magischen Charakter der Dinge nicht von dem materiellen Geschenk zu trennen. Das Argument transportiert nicht nur die Ehre; das »mana« ist mit dem Geschenk identisch. Schlägt der Adressat eine ihm als Geschenk dargebotene Sache aus oder erwidert die ihm dargebrachte Gabe nicht, so beschädigt er das Prestige des Gebers und kann damit auch je nach Kontext seinem eigenen Ansehen schaden. Er handelt ehrabschneiderisch. Im Zuge der Schenkung wird Ehre verpfändet. Durch eine geglückte Gabe erweisen sich die Beteiligten Respekt. Auch der Kultursoziologe Pierre Bourdieu verknüpft in seinen Studien zur modernen Gesellschaft die Gabe eng mit dem Begriff der Ehre. Er fasst den Gabentausch als Ehrverhalten auf.16 Die Gleichheit der Ehre bezeichnet Bourdieu als Grundprinzip solcher Handlungen. Das Ehrengleichgewicht wird zwar nie als Axiom aller ethischen Operationen genannt, scheint aber nichtsdestoweniger solche Praktiken zu beeinflussen. Auch Bourdieu geht von der Wechselseitigkeit von Gabehandlungen aus, die sich etwa vom einseitig geführten Angriff abheben. Dennoch zieht er eindeutige Analogien zur Interaktion des Konflikts. Der Geber konfrontiert sein Gegenüber mit einer Herausforderung, auf die der Adressat zu reagieren hat. Bereits diese Herausforderung ist als Ehrerweis zu bewerten: das Beziehungsangebot an sich signalisiert, dass G den Adressaten als ehr-würdigen Partner wahrnimmt. Erwidert der Beschenkte die Gabe nicht oder schlägt er das ihm Dargebotene aus, versagt er dem Geber seinen Respekt und handelt ihm gegenüber unehrenhaft. Es ist gezeigt worden, dass der Gabentausch sowohl materielle als auch symbolische Aspekte beinhaltet. Kommt es im Idealfall zu einem immerwährenden Austausch und somit zu einer stabilen Beziehung zwischen den beteiligten Parteien, wechseln einerseits Sachen den Besitzer. Andererseits ist mit diesem materiellen Tausch auch immer ein immaterielles Moment verbunden. Die Akteure erweisen sich durch die Gabe als ehr-würdige Partner, die sich dem anderen gegenüber verpflichtet fühlen und sich gegenseitig Respekt erweisen. Wie Kampf und Spiel fasst Bourdieu die Gabe als ein Medium der Ehrdistribution in modernen Gesellschaften auf. Vermittels Gabentausch
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Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M. 1999, 183 f.
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1. Die Aktionsmerkmale I Iandlungstyp und I landlungsmodus
werden Ehre und Prestige mobilisiert, d. h. von Personen oder Gruppen auf andere Mitglieder der Gemeinschaft übertragen und bestenfalls auch wieder reflektiert. Von dieser dynamischen Ehrstruktur versprechen sich alle Beteiligten Vorteile. Um diese These zu vertiefen und für die Analyse fruchtbar zu machen, ist eine kurze Auseinandersetzung mit dem kultursoziologischen Ansatz Pierre Bourdieus vonnöten. Nach Bourdieu teilt sich die Gesellschaft auf in einzelne Felder wie etwa das religiöse, das künsderische, das wissenschaftliche, das ökonomische Feld usw. Innerhalb dieser wie auch zwischen diesen dynamischen Bereichen herrschen antagonistische Strukturen. »Die sozialen Felder bilden Kraftfelder, aber auch Kampffelder, auf denen um die Wahrung oder Veränderung der Kräfteverhältnisse gerungen wird«. 1 ' Die Feldertheorie fußt auf einer »allgemeinen Theorie der Ökonomie der Handlungen«, indem »das ökonomische Kalkül unterschiedlos auf alle, sowohl materielle wie symbolische Güter« ausgedehnt wird.18 Seine Feldtheorie zielt darauf ab, einen globalen Gesellschaftsbegriff differenziert zu beschreiben und gleichzeitig der Autonomisierung der einzelnen Bereiche gerecht zu werden. 19 Medium der Rivalität ist die Akkumulation von Kapital, wobei Bourdieu zwischen symbolischem und ökonomischem Kapital unterscheidet. Das symbolische Kapital — als Medium, über das sich gesellschaftliche Anerkennungsprozesse vollziehen 20 — äußert sich in Form von Ansehen und Prestige. Das ökonomische Kapital drückt sich in Form wirtschaftlicher Mittel aus. Das symbolische Kapital behält seinen Wert nur innerhalb eines Feldes, ist für dieses spezifisch und nicht in das eines anderen konvertierbar. Jedes Feld wird durch eine spezielle Kapitalsorte charakterisiert.21 Die Felder zeichnen sich durch die antagonistische Beziehung zwischen Häretikern und Orthodoxen aus. Die Orthodoxen, »die in einem bestimmten Zustand des Kräfteverhältnisses (mehr oder weniger vollständig) das spezifische Kapital, das für ein Feld charakteristisch ist, monopolisieren«, sind zu Strategien der Bewahrung geneigt. Diejenigen, die mit geringerem symbolischen Kapital ausgestattet sind, zielen auf »Strategien der Subversion, der Häresie« ab.22 Allen Akteuren ist jedoch gemein, das Spiel mitsamt seinen Regeln zu akzeptieren, was Bourdieu als kollektives Festhalten an der illusio bezeichnet.23 Er fasst das Feld als »ein Netz
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Ders.: Sozialer Raum und >KlassenSystems< und des Ausbalancierens der organisiert angemeldeten Interessen weitgehend unter Ausschluss der eigentlichen Öffentlichkeit kompromisshaft einigen.«3'' In einer solchen refeudalisierten Öffentlichkeit der medial dominierten Moderne droht sich die Meinungsäußerung zum diffusen Ausdruck von Zustimmung, zur Akklamation zurückzuentwickeln. Die öffentliche Meinung, genuin der »Ausdruck der Ansichten, Werturteile oder Willensneigungen des allgemeinen oder eines speziellen Publikums« 40 , wird vor allem durch Nutzung der Medien an den privilegierten Interessen einzelner ausgerichtet, an um vorteilhafte Positionen im jeweiligen Feld bemühten Personen oder Gruppen. Die faktische Normativität des öffentlichen Bereichs wird nicht durch das Allgemeininteresse, sondern »durch die stärksten und am besten organisierten Privatinteressen definiert.«41 Die Problematik von Öffentlichkeit in der modernen Gesellschaft zeigt sich auch im Falle von Ehrungen bzw. Preis Verleihungen. Vergibt eine Person oder eine Gruppe eine Auszeichnung, fällt sie ein öffentlich wahrnehmbares Werturteil, das eventuell auf die Normenstruktur der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. eines Ausschnitts oder Feldes Einfluss nimmt. Die Entscheidung darüber, wer den Preis erhalten soll, unterliegt jedoch selten dem öffentlichen Diskurs, sondern wird häufig im Vorhinein arkan von einer elitären Gruppe oder Institution gefällt. Ist die Auszeichnung mit einem Preisgeld verbunden, leitet diese Elite ihren Entscheidungsanspruch oft aus ihrer Rolle als Geldgeber ab. Dennoch tritt sie auch dann nicht selten als Stellvertreter oder Sprachrohr der gesellschaftlichen Gesamtheit auf, wenn ihre privaten Interessen weniger verschleiert zutage treten. Sie agiert jedoch in den meisten Fällen ohne direktes öffentliches Mandat. Hinter dem von diesen Akteuren häufig postulierten allgemeinen Nutzen, der solche Handlungen angeblich motiviert, steht ein Geflecht von Interessen des Gebers und des Adressaten. Darüber hinaus legitimieren diese Eliten durch die Vergabe von Preisen ihren Autoritätsanspruch, auch in Zukunft konsekrativ wirksam werden zu dürfen. Der HandlungsSpielraum des bei der Verleihungsfeier anwesenden Publikums beschränkt sich nicht selten auf die Affirmation bzw. Akklamation vollendeter Tatsachen bzw. Entscheidungen. Die Zuschauer nehmen nicht mehr als primäre Akteure Einfluss auf die Handlung, sondern fungieren als Zeugen der ihnen vorgeführten Inszenierung. Im Zuge fortschreitender Institutionalisierung und Parzellierung der Öffentlichkeit in der Moderne tritt der öffentliche Normdiskurs zugunsten der Durchsetzung wohlorganisierter Einzelinteressen in den Hintergrund.
39 40 41
Hartfiel: Artikel »Öffentlichkeit«, in: ders.: Wörterbuch der Soziologie, 494. Ders.: Artikel »öffentliche Meinung«, in: ebd., 492. Hohendahl: Öffentlichkeit, 97.
Der Handlungstyp — Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung
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Auch wenn das Publikum bei der Verleihung von Auszeichnungen auf seine Kosten kommen mag — dienen solche meist aufwändig in Szene gesetzten Veranstaltungen nicht zuletzt auch der außeralltäglichen Unterhaltung — so basieren viele Preisverleihungen doch auf einer Scheinöffentlichkeit. Hier fungiert die Öffentlichkeit nicht mehr als primärer Meinungs- und Handlungsträger, sondern als akklamierender Beobachter vorgefertigter Entscheidungen.
Performativität und Inszenierung Preisverleihungen sind öffentliche Inszenierungen. Zahlreiche Abschnitte der Makrohandlung wie etwa das Verfahren zur Findung des Preisträgers, die Bekanntgabe der Juryentscheidung oder vor allem die feierliche Verleihung werden öffentlich in Szene gesetzt und auf diese Weise sinnlich erfahrbar gemacht. Preise geben Namen und verleihen Gesichter. Sie machen Individuen zu Preisträgern mit einem unverwechselbaren Antlitz, und wenn auch nur für die Kürze des Augenblicks bzw. für die Dauer einer Verleihungsveranstaltung. Die feierliche Überreichung macht diese Aufwertung sinnlich wahrnehmbar. Die Art des Ablaufs und der Ausstattung einer solchen Überreichung ist ein Symptom der Rolle, die ein Preis in einer Gesellschaft spielt oder spielen soll. Die Beteiligten verkörpern (embodiment) hier den Veränderungsmoment eines sozialen Beziehungsgefüges. Ehrungen inszenieren ökonomisches und symbolisches Kapital. Sie haben Auffuhrungscharakter. Die Zuhörer sind zugleich auch Zuschauer.42 Preisverleihungen sind öffentliche performative Akte. Im Rahmen von Preisvergaben werden »Weltzustände (...) nicht nur repräsentiert, vielmehr konstituiert und verändert.« Dies geschieht »keineswegs nur in und durch Sprache, sondern im Medium jedweden symbolischen Handelns«. 43 Im Gegensatz zu konstatierenden Äußerungen fallen hier sprachlich beschriebene Handlung und faktischer Vollzug zusammen. Preisverleihungen sind ebenso verbreitete wie vielfältige gesellschaftliche Phänomene, die sich von gewohnten Ereignissen abheben. Sie sind besondere Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens und nicht selten auch
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Vgl. Sybille Krämer/Marco Stahlhut: Das »Performative« als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hrsg.): »Theorien des Performativen«, Paragrana, Band 10, Heft 1 (2001), 35-64, 54ff. Beide Zitate ebd., 55.56. Krämer und Stahlhut fassen Performativität als »Attribut symbolischer Handlungen« auf, deren »Eigenart darin besteht, das, was sie bezeichnen, zugleich zu vollziehen. Es geht um eine besondere Form von Konstituierungsleistung, bei der ein symbolisches Tun die Grenzlinie zwischen Zeichen/Nicht-Zeichen überschreitet und dadurch weltverändernde Kraft bekommt«; ebd., 57.
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Höhepunkte seiner medialen Vervielfältigung. Bei der systematischen Analyse solcher Phänomene ist daher zu beachten, dass die Vergabe von Auszeichnungen als ein vielstufiger Komplex unterschiedlicher Phasen bzw. Handlungen zu beschreiben ist. Die konkrete Überreichung des Preises bzw. der Ehrung — etwa in Form einer Urkunde oder eines spezifisch gestalteten Gebildes mit oder ohne finanzielle Prämie - und die mit ihr verbundene Veranstaltung sind dabei nur ein Abschnitt des Gesamtkomplexes. Auch der Findungsprozess des Preisträgers, die Vorschlags- und Sitzungsphasen der Jury, die Verkündung der Entscheidung, die mediale Berichterstattung über das Ereignis, die Vorbereitung der Verleihungsfeier, die Verpflichtungen des oder der Nominierten gegenüber der Öffentlichkeit in Form von Banketten, Empfängen, Photoshootings, Vorträgen, Signierstunden, Interviews, Lesungen oder Auftritten im Vor- und Nachfeld der Verleihung gehören in vielen Fällen zum Erscheinungsbild einer Preisverleihung und müssen in der Analyse berücksichtigt werden.44 Das jeweilige Profil einer Preisverleihung, d.h. Zahl, Struktur, Zusammensetzung und Ausstattung der verschiedenen Phasen innerhalb der Makrohandlung, gestaltet sich dabei denkbar unterschiedlich: je nachdem, wer welche Auszeichnung für welche Leistung in welchem Gesellschaftsbereich an wen vor welchem Publikum vergibt. Wenn jährlich die zahlreichen Nominees für den Oscar nach Los Angeles anreisen, wird über einen langen Zeitraum hinweg ein medienwirksames Panoptikum des gegenwärtig populären Kinos inszeniert und Spannung erzeugt, indem man die im Vorhinein gefällten Entscheidungen der Academy of Motion Picture Arts and Sciences erst im Rahmen einer glamourösen Veranstaltung durch andere Größen des Showgeschäfts verkünden lässt. Diese Vergabepraxis erregt internationale Aufmerksamkeit und erhöht den wirtschaftlichen Gewinn vieler Beteiligter. Die sportliche Qualität des Wimbledon-Siegers ist für die Zuschauer dagegen über mehrere Runden objektiv nachvollziehbar. Der Centre Court, der gerade noch Schauplatz des entscheidenden Finales war, wird innerhalb weniger Minuten unaufwändig zum Ort der Siegerehrung umgerüstet. Die Spieler treten schließlich authentisch, d.h. abgekämpft und im verschwitzten Tennisdress, der Herzogin von Kent entgegen und kommen ungeachtet ihrer Herkunft mit Knicks bzw. Verbeugung und angemessenem Smalltalk ihren Verpflichtungen nach. Auch im Rahmen des Eurovision Songeontest findet vor den Augen des Publikums ein pompöser Wettbewerb statt. Jedoch geben seit kurzem nicht mehr fachkundige nationale Jurymitglieder ihre Voten ab, sondern alle Zuschauer können per TED über den Sieger 44
Es ist dabei auch von besonderem Interesse, welche dieser Elemente für eine Preisverleihung unverzichtbar sind und welche wegfallen können, ohne den Ilandlungstyp zu dekonstruieren. Es muss also zwischen obligaten und fakultativen Komponenten unterschieden werden.
Der Handlungstyp — Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung
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entscheiden. Doch wenn sich bei der live ausgestrahlten Endauswertung grundsätzlich Deutschland und Österreich gegenseitig ignorieren und der türkische Titel bei den Griechen immer gut abschneidet, dann lassen diese Regelmäßigkeiten die Vermutung zu, dass bei der Entscheidungsfindung nicht nur qualitative Kriterien ausschlaggebend sind. Längst ist die Ausrichtung des Grand-Prix-Abends zur Visitenkarte vor allem kleinerer europäischer Staaten geworden, die auf diese Weise kurzfristig die Aufmerksamkeit einer internationalen Öffentlichkeit erregen und sich von einer guten Show etwa zukünftige wirtschaftliche Impulse versprechen können. Bei der Vergabe von Preisen und Auszeichnungen spielt die Angemessenheit von Form und Gehalt eine zentrale Rolle. Wird der Aachener Karlspreis verliehen, würde den Beteiligten wohl eine multimedial inszenierte Verleihungsshow der Würde des Preises, der Stadt und des Laureaten nicht angemessen erscheinen. Dagegen träfe eine bescheidene Veranstaltung aus Anlass der Verleihung der MTV-Awards mit fachkundigen Festvorträgen von Musikkritikern etwa zur Problematik von Piratenkopien aus dem Internet und anschließender Diskussion kaum die Erwartungen des jugendlichen Publikums. Erschiene ein für das Bundesverdienstkreuz Nominierter mit Verweis auf die eigene Bequemlichkeit gar in Schlafanzug und Pantoffeln, griffe sich dankend Schatulle und Urkunde vom Tisch und ließe den anwesenden Bürgermeister kurzerhand stehen, würde eine solche Eigenmächtigkeit wohl nicht nur als Affront gegenüber den Honoratioren, sondern auch gegenüber den bundesrepublikanisch-demokratischen Werten im Allgemeinen aufgefasst. Ein angemessenes Verhältnis von Struktur und Inhalt scheint zum Gelingen von Preisverleihungen beizutragen. Literaturpreisverleihungen Geschichte und Funktion Diese Befunde seien nun anhand einer Gruppe von Preisen exemplarisch erläutert, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen und zu der auch das Darmstädter Ereignis gehört: die Verleihung von Literaturpreisen. Die Praxis, besonders vollendete literarische Werke auszuzeichnen bzw. deren Urheber zu ehren, lässt sich bis in die Antike, d. h. bis zur Dichterkrönung 43 zurückverfolgen, die in der italienischen Renaissance 46 wieder aufgegriffen 45 46
Vgl. Richard Newald: Artikel »Dichterkrönung«, in: Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 1, Berlin 1958, 261.262. Bis heute wird der bedeutendste zeitgenössische literaturpreis in Italien, der Premio Strega, explizit auf die Tradition des italienischen Renaissance-Humanismus bezogen; vgl. Marion Steinickes Beitrag über den Premio Strega in: Burckhard Dücker, Dietrich Harth, Marion
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wurde. 47 Seit dem 15. Jahrhundert gehörte die Verleihung der Würde eines poeta laureatus in Deutschland zum gesellschaftlichen Repertoire, verlor jedoch durch die inflationäre Handhabung auch durch den niederen Adel und Universitätsangehörige an Aussagewert. Die ursprünglich kaiserliche bzw. aristokratische Auszeichnung wandelte sich zu einer verbreiteten akademischen Sitte, die in Deutschland bis 1804 gepflegt wurde. Das gedankliche und praktische Heraustreten der Schriftsteller aus dem unmittelbaren Einflussbereich feudal-mäzenatischer Strukturen veranlasste im 19. Jahrhundert das Bürgertum, sich zunehmend auch der Auszeichnung von Schriftstellern zu widmen: zahlreiche Literaturpreise in Konkurrenz zu staatlichen Auszeichnungen wurden gestiftet und damit das finanzielle Vakuum gefüllt, mit dem sich die freien Autoren konfrontiert sahen. Nach der Vereinnahmung und Umstrukturierung des deutschen Literaturbetriebs durch die Nationalsozialisten kam es in der Bundesrepublik schließlich zu einer bis heute anhaltenden Diversifizierung des Preiswesens. Heute stehen Literaturpreise privater Stiftungen neben denen der Wirtschaft, der Politik oder kultureller Institutionen. Die Auszeichnung von Autoren ist für Laureaten, Geber und Publikum seit der Antike attraktiv gewesen. Sie hat sich bis heute unabhängig von politischen Systemen oder ideengeschichtlichen Entwicklungen erhalten. Welche Vorteile haben also die Beteiligten davon, Literaturpreise zu vergeben, sie anzunehmen oder Zeuge einer solchen Verleihungsszene zu sein? Für den prämierten Autor bedeutet eine Auszeichnung einen Zugewinn an Prestige und Ansehen, d. h. an symbolischem Kapital innerhalb des literarischen Feldes48. Der Preis hebt ihn gegenüber anderen, nicht ausgezeichne-
Steinicke, Judith Ulmer: Literaturpreisverleihungen: ritualisierte Konsekrationspraktiken im kulturellen Feld, Forum Ritualdynamik Nr. 11, Heidelberg 2005, 1-63, 29^10; 28.8.2005. Der Premio Strega wurde 1947 in Rom von der Schriftstellerin und Übersetzerin Maria Bellonci und ihrem Ehemann Goffredo ins Leben gerufen. Er ist heute Ausdruck einer geistigen Wiedergeburt Italiens und wird als Zeichen einer literarischen Renaissance nach den barbarischen Kriegszeiten verklärt. In ihm verbinden sich nationaler Impetus und elitäres Kulturbewusstsein mit einem ausgeprägten Interesse an bildungspolitischcn Aufgaben. Darüberhinaus trägt das aufwändig gestaltete, vierphasige und sich über sechs Wochen erstreckende Auswahlverfahren dazu bei, den intellektuellen Führungsanspruch der Juroren, der amici della domenica, zu untermauern. Seinen Namen erhielt der Preis von dem italienischen Kräuterlikör Strega, dessen Herstellerfirma in Benvenuto die Auszeichnung von Beginn an finanziert. Bis heute gehört eine Fabrikführung zum Rahmenprogramm des Auswahlverfahrens. Die Überreichung einer Strega-Flasche mit beigefügtem Scheck stellt die offizille Preisvergabe dar. 47 48
Ausführlicher der prägnante historische Abriss zur Geschichte der Literaturpreise von Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor, 10—54. Der Bourdieuschen Kultursoziologie bzw. deren Terminologie folgend, sind Literaturpreisverleihungen Handlungskomplexe im literarischen Feld. Dieses folgt einer eigenen internen Logik. »Die literarische Ordnung hat sich im Verlauf eines langen und langsamen Autonomisierungsprozesses zum spiegelverkehrten Gegenbild der ökonomischen Welt (...) her-
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ten Autoren ab. Er macht ihn konkurrenzfähiger in der Auseinandersetzung um eine vorteilhaftere Position, indem er ihm etwa größeres Ansehen bei den Kollegen, höhere Auflagen oder gesteigertes Öffentlichkeitsinteresse beschert. Er ordnet den Laureaten einer Elite von Preisträgern zu. Durch ihn erfolgt eine »Kooptation in eine genau abgegrenzte, durch Schließungsprozesse distinguierte Gruppe«. 49 Literaturpreise konnten auch rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Im Falle der Dichterkrönung etwa erfuhr der Laureat eine Aufwertung seiner politischen Position. Die mit der Auszeichnung verbundenen Privilegien bedeuteten für ihn nicht nur einen Zuwachs an Autorität, d. h. an symbolischem Kapital, sondern auch an praktisch umsetzbaren Rechten. Die Dichterkrönung ist dementsprechend als Konstituierungshandlung aufzufassen, während alle anderen Literaturpreisvergaben keine politisch-rechtlichen Konsequenzen nach sich ziehen und als Konsekrationen zu bezeichnen sind.30 Darüber hinaus spielen bis heute die eventuell mit einer Auszeichnung einhergehenden Preissummen für das finanzielle Auskommen eines Autors eine wichtige Rolle. Das Zurücktreten des aristokratisch getragenen Mäzenats und die Etablierung vom Markt unabhängiger Künsderexistenzen im 19. Jahrhundert machte diesen materiellen Aspekt besonders virulent. Durch einen Literaturpreis wird der Laureat in der Regel sowohl mit symbolischem wie auch mit ökonomischem Kapital ausgestattet. Für ihn bedeutet dies einen Positionierungsvorteil gegenüber nicht ausgezeichneten Autoren. ausgebildet«, Bourdieu: Regeln der Kunst, 342. Gegenüber dem Feld der Macht definiert sich das literarische Feld durch den Grad seiner Autonomie. »Die in den sie einschließenden Feldern unerbittlich waltende Logik, die des ökonomischen oder politischen Profits, ist auch hier anzutreffen. Daher sind die Felder der Kulturproduktion fortwährend Schauplatz einer Auseinandersetzung zwischen zwei Hierarchisierungsprinzipien: dem heteronomen Prinzip, das diejenigen begünstigt, die das Feld ökonomisch und politisch beherrschen (...) und dem autonomen Prinzip (...), das seine radikalen Verfechter dazu treibt, irdisches Scheitern als Zeichen der Erwähltheit anzusehen und den Erfolg als Mal der Auslieferung an den Zeitgeschmack«, ebd., 344. Bourdieu bezeichet das literarische Feld als einen der unsichersten Orte des sozialen Raums, weil es äußerst wenig festgelegt und an wenig Voraussetzungen gebunden, dafür aber auch höchst ungewisse und außerordentlich schwankende Zukunftsaussichten bietet; vgl. ebd., 358. Die Struktur des literarischen Feldes ist einerseits durch die Beziehungen zu externen dominanten (politischen und ökonomischen) Instanzen, d.h. durch Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, geprägt. Andererseits wird es intern durch das »System der Positionen (als Positionen symbolischer Macht) und das System der Stellungnahmen (mittels Werken oder theoretischer Aussagen)« strukturiert, »das seinerseits bedingt ist durch das Feld der möglichen Optionen«, Jurt: Das literarische Feld, 93. 49 50
Vogt: Logik der Ehre, 230. Für Bourdieu ist das Feld der Kulturproduktion Schauplatz von Kämpfen, »die über die Durchsetzung der gültigen Definition des Schriftstellers auf die Begrenzung der Population derer zielen, die berechtigt sind, am Kampf um die Definition des Schriftstellers teilzunehmen«, Bourdieu: Regeln der Kunst, 355. Im Mittelpunkt literarischer Konkurrenzkämpfe steht für ihn immer auch das Monopol literarischer Legitimation bzw. das Monopol bzgl. der Konsekration von Produzenten oder Produkten.
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1. Die Aktionsmerkmale Ilandlungstyp und Handlungsmodus
Doch auch die Geber profitieren von der Verleihung von Literaturpreisen. Anhand der historischen Entwicklung lässt sich dieser zweckrationale Aspekt von Literaturpreisen nachvollziehen. Indem sich Petrarca 1341 statt für den Lorbeerkranz der Universität von Paris für den der Stadt Rom und damit auch für die mit ihm verbundenen akademischen und politischen Privilegien entschied, legte er ein politisches Bekenntnis ab. Indem Karl IV in Pisa 1355 als erster römischer Kaiser deutscher Nation die Tradition der Dichterkrönung übernahm, trat er demonstrativ die Nachfolge der italienischen Stadtstaaten an und stellte auf diese Weise deren politischen Machtanspruch in Frage.51 In der Stiftung des Volks schillerpreis es 1902 artikulierten sich die Autonomiebestrebungen des Bürgertums gegenüber monarchischer Bevormundung. Das freiheitliche Konzept des 1912 vom Schutzverband deutscher Schriftsteller gegründeten Kleist-Preises — erster literarischer Förderpreises und zugleich Verkörperung einer alternativen, nicht an ökonomischem Erfolg orientierten Literaturauffassung — widersprach der nationalsozialistischen Doktrin und wurde eingestellt/2 Literaturpreise bieten die vielversprechende Gelegenheit, Benennungsmacht auszuüben, d. h. durch die gefällten Werturteile in die Struktur des literarischen Feldes einzugreifen bzw. kultur- und literaturpolitische Standards zu definieren, zu setzen und aufrechtzuerhalten. Literaturpreise haben eine wertrationale Dimension. Die Auszeichnung eines Autors ist ein konsekrativer Akt. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt etwa sieht es als ihre Aufgabe an, »die deutsche Literatur und Sprache zu pflegen und, wo es sein muß, zu vertreten, nicht zuletzt neue Ansätze aufmerksam und kritisch zu verfolgen, nach Möglichkeit auch zu ermutigen und zu fördern«.''3 Sie formuliert ihr Ziel, ihre Auffassung von literarischer Qualität allgemeingültig definieren, d. h. als konsekrative Macht im literarischen Feld der Bundesrepublik wirksam sein zu wollen. Um diesen Anspruch praktisch umzusetzen, stehen ihr verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung. Neben Arbeitssitzungen, Symposien, Preisfragen, Veröffentlichungen und Editionen bedient sie sich auch der Akademiepreise, unter anderem des Georg-Büchner-Preises.''4 »Durch die Preise, die sie ver-
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Vgl. Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor, 13. V g l , ebd., 25ff. Repräsentationsheft der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt 2000, 4. Neben dem Georg-Büchner-Preis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik sowie dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa vergibt die Deutsche Akademie auch den Johann-Heinrich-Voß-Preis für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Ubersetzung (gestiftet 1958) und den Friedrich-Gundolf-Preis für die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland (gestiftet 1964). Die beiden letztgenannten Preise werden anlässlich der jährlichen Frühjahrstagung verliehen; vgl. Michael Assmann/Herbert Heckmann (Hrsg.): Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Göttingen 1999, 431 ff.
Der I Iandlungstyp - Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung
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gibt, sucht die Akademie nicht nur die bedeutendsten Dichter, Übersetzer sowie Gelehrte, Essayisten und Persönlichkeiten, die sich um die Vermittlung deutscher Kultur im Ausland verdient gemacht haben, auszuzeichnen, sondern auch Maßstäbe zu setzen.«13 Diese Maßstäbe implizieren, dass die Akademie einem bestimmten literarisch-ästhetischen Ideal folgt. Das Ansehen des Georg-Büchner-Preises, »der zum angesehensten deutschen Literaturpreis geworden« 36 ist, trug dazu bei, dass dieses Ideal im literarischen Feld der Bundesrepublik geradezu paradigmatische Bedeutung erhalten hat, die Deutsche Akademie als bedeutende Konsekrationsinstanz auftritt. Schließlich profitiert auch das Publikum von der Vergabe von Literaturpreisen. Die Verleihung der Nobelpreise in Stockholm etwa erfreut sich bei den Schweden großer Beliebtheit. Jährlich müssen die wenigen Teilnahmeberechtigungen an Feier und Bankett unter hunderten von schwedischen Studenten verlost werden, die dann besondere Aufgaben wie die Eskortage der Laureaten übernehmen dürfen. Doch auch die studentischen Gewinner haben genauso wie die übrigen Gäste einen hohen finanziellen Betrag zu entrichten. Eine Einladung zur Nobelpreisverleihung gilt als besondere Auszeichnung, die nur einer kleinen sozialen Elite zuteil wird. Auch die jährlich live ausgestrahlte Fernsehübertragung der Nobelpreisverleihung am 10. Dezember im Stockholmer Konzerthaus erzielt regelmäßig hohe Einschaltquoten. Dieser Tag wird in Schweden als »Alfred-Nobel-Tag« geführt, an dem zwar gearbeitet, aber dennoch besondere Rücksicht auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer genommen wird, die zu großen Teilen die mehrstündige Berichtertattung verfolgen. Es ist anzunehmen, dass nicht nur die Persönlichkeit der Laureaten oder die aufwändige Feier die Attraktion der Verleihung erklärt. Sie leitet sich auch aus der Anwesenheit der Königsfamilie bei Bankett und Tanz ab. Für die schwedische Monarchie ist die Verleihung der Nobelpreise ein wichtiges Ereignis von hohem repräsentativem Wert. In diesem Sinne stellt die Nobelpreisvergabe — sei sie nun vor Ort erlebt oder medial vermittelt — eine identitätsstiftende Handlung dar, deren nationale Bedeutung über den konkreten Anlass hinausweist.
Uteraturpreise
als öffentliche Gaben
Literaturpreisverleihungen sind Gabehandlungen. Am Beispiel des Darmstädter Ereignisses lässt sich feststellen, dass es hier um eine Schenkungshandlung geht. Den Kern der vorliegenden Mikrohandlung bildet eine Gabe. Durch die Verkündung des Büchnerpreisträgers im Vorfeld der
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Ebd. Ebd., 5.
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
Verleihungsfeier sieht sich der Autor mit einem Beziehungsangebot und mit der Notwendigkeit einer Βeziehungsdefinition konfrontiert. Indem der Autor Urkunde und Scheck entgegennimmt, beantwortet er ostentativ das an ihn herangetragene Beziehungsangebot. Der Laureat tritt dadurch in ein reziprokes Verhältnis zum Geber der Auszeichnung ein. Mit der Annahme eines Literaturpreises gehen Verpflichtungen für die Laureaten einher. Als Adressaten einer Gabehandlung unterliegen sie der Pflicht zur Gegengabe. Diese kann sich jeweils unterschiedlich gestalten. Seine Pflicht zur Erwiderung erfüllt der Laureat, indem er sich gegenüber dem Geber loyal verhält — und wenn auch nur für die Dauer der Verleihungsfeier. Darüber hinaus können ebenso praktische Handlungen als Gegengabe üblich sein, die der Adressat ableisten muss, will er das Gelingen der Preisverleihung und der Verwirklichung der mit ihr verbundenen Interessen nicht aufs Spiel setzen. Vom Literaturnobelpreisträger etwa wird wenige Tage vor der Verleihung vor geladenen Gästen in den Räumen der Schwedischen Akademie in Stockholm die traditionelle Rede, die nobel lecture, erwartet. In Darmstadt ist es dagegen üblich, dass der Büchnerpreisträger am Vorabend der Verleihung für eine öffentliche Lesung in der Orangerie bereitsteht und nach der Ubergabe des Preises die jährlich mit Spannung erwartete Büchnerpreisrede hält. Wird ein Autor zum Stadtschreiber ernannt, sieht es die jeweilige Gemeinde natürlich auch gern, wenn der Laureat für ein ganzes Jahr die eigens dafür vorgesehene Wohnung bezieht oder sich wenigstens phasenweise dort aufhält und auch lokalen Veranstaltungen beiwohnt. Der Geber der Sylter Inselschreiberschaft, ein örtlicher Getränkehersteller, hat genaue Vorstellungen davon, wie das Stipendium räumlich und zeitlich gestaltet werden soll.37 Gemeinsam sind diesen Ansprüchen, dass es sich vor allem um moralische Verpflichtungen handelt. Ein Geber kann zwar das von diesen Erwartungen abweichende Verhalten eines Preisträgers sanktionieren und die Zusprechung des Preises zurückziehen. Er muss dabei aber auch die Konsequenzen eines eventuell entstehenden Eklats bedenken; genauso wie der Nominierte, der einen Preis nicht annimmt, d. h. die Gabe ablehnt und durch seine ostentative Abwehrhaltung unweigerlich auch seine Einstellung gegenüber Geber und Auszeichnung äußert.38
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Die Sylter Inselschreiberschaft stellt ein internationales Stipendium dar. Es umfasst einen Zeitraum von 12 Wochen, davon 8 Wochen auf Sylt und 4 Wochen in Südafrika. Kostenfreies Wohnen in einem 2-Zimmer-Apartment auf dem Gelände des Gebers sowie kostenfreies Wohnen in Apartments in Kapstadt und Johannesburg sind Bestandteil des Stipendiums, ebenso eine einmalige Zuwendung von 6000 Euro und der Flug von Deutschland nach Südafrika und zurück; vgl. www.kunstraum-syltquelle.de/inselschreiber/de/index. html; 11.2.05 Jean Paul Sartre lehnte 1964 den Literaturnobelpreis ab, da er sich nicht von einer Institution vereinnahmen lassen und nicht selbst zu einer Institution gemacht werden wolle; vgl. www. nobelpreis. org/literatur/sartre. htm, 11.2.05.
Der Handlungstyp - Gabe, öffentliche Ehrung, Institutierung
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Es ist festgestellt worden, dass Geber und Adressat eine reziprok angelegte Beziehung eingehen. Da von der Gabe als von einer sozialen Handlung ausgegangen werden kann, d. h. von einem in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebetteten Ereignis, muss an dieser Stelle über die Individualhandlung hinaus nach dem überpersönlichen Gehalt der Gabe gefragt werden. Es handelt sich im Falle von Preisverleihungen um eine wechselseitige Transaktion zwischen zwei Personen oder Gruppen, die in Anwesenheit von Publikum, d. h. öffentlich vollzogen wird. An der Büchnerpreisverleihung sind der Akademiepräsident, der auszuzeichnende Autor sowie das Publikum beteiligt. Der Präsident fungiert kraft seines Amtes als Repräsentant der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Geber des GeorgBüchner-Preises und Stifter des Beziehungsangebots an den Adressaten ist also nicht der Präsident selbst, sondern die Deutsche Akademie, die er im Rahmen der Zentrumshandlung als legitimer Stellvertreter verkörpert. 39 Geber ist im vorliegenden Fall das Kollektiv der Akademiemitglieder. Ihm tritt als Adressat einerseits ein Individuum entgegen. Der anwesende Laureat wird für seine individuelle Leistung geehrt. Andererseits kann auch der Adressat gleichzeitig als Repräsentant eines Kollektivs angesehen werden. Er verkörpert ein Exemplar der Gruppe aller Büchnerpreisträger. Der Laureat repräsentiert so über seine individuelle Persönlichkeit hinaus auch das Kollektiv seiner Vorgänger und Nachfolger Auf diese Weise gehen nicht nur die Akademie, vertreten durch den Präsidenten, und der Autor ein wechselseitig angelegtes Verhältnis ein, das sich in Form des Arguments, d. h. in Urkunde und Scheck, materialisiert. Durch die Gabe bestätigt das Geberkollektiv seine Beziehung zu dem einzelnen Laureaten wie auch zur Gruppe aller Büchnerpreisträger. Das Publikum im Darmstädter Staatstheater ist Zeuge dieser Ehrung und äußert seine Zustimmung durch Akklamation, durch Applaus. Diejenigen Zuschauer, die nicht unmittelbar anwesend sind und denen das Ereignis ausschließlich medial vermittelt wird, fällt die Rolle der passiven Beobachter zu. Die Vergabe eines Literaturpreises ist eine im literarischen Feld angesiedelte Konsekrationshandlung. Durch sie werden ästhetische Werturteile in die Öffentlichkeit getragen, die die Struktur des literarischen Feldes beeinflussen.60 Für Habermas war der bürgerliche Diskurs über Literatur der Aus-
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Fußend auf den Austinschen Theorien zur Sprechhandlung äußert sich Pierre Bourdieu zur »Macht der Wörter«: »Der autorisierte Sprecher kann nur deshalb mit Worten auf andere Akteure und vermittels ihrer Arbeit auf Dinge selber einwirken, weil in seinem Wort das symbolische Kapital konzentriert ist, das von der Gruppe akkumuliert wurde, die ihm Vollmacht gegeben hat und deren Bevollmächtigter er ist«, Bourdieu: Was heisst Sprechen?, 75. Im Falle des Georg-Büchner-Preises handelt es sich auch um eine genuin im literarischen Feld angesiedelte Auszeichnung. Durch die Beteiligung von Bund, Land und Stadt, d. h. von Seiten des politischen Feldes, an der Entscheidungsfindung und an der Finanzierung des
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1. Die Akrionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
gangspunkt für die Entwicklung der politischen Emanzipation des Bürgertums im 17. und 18. Jahrhundert. 61 Er fasst die literarische Öffentlichkeit in Clubs oder in der Presse als »Übungsfeld eines öffentlichen Räsonnements«, als eine unpolitische »Vorform der politisch fungierenden Öffentlichkeit« auf/'2 »Die politische Öffentlichkeit geht aus der literarischen hervor; sie vermittelt, durch öffentliche Meinung, den Staat mit Bedürfnissen der Gesellschaft.«63 In der modernen Massengesellschaft jedoch hat die öffentliche Meinung in allen Feldern Eigenständigkeit und kritisches Potential eingebüßt. Vielmehr ist von einer Vielzahl politischer und literarischer Öffentlichkeiten64 auszugehen. Diese Öffentlichkeitsparzellen werden jeweils von den Einzelinteressen bestimmter Gruppen oder Institutionen beherrscht, die um eine möglichst vorteilhafte Position im Feld konkurrieren. Die Verleihung von Literaturpreisen ist ein solches Positionsierungsinstrument im literarischen Feld. Wenn also etwa die Deutsche Akademie, vertreten durch ihren Präsidenten, einem Autor vor Publikum den Georg-Büchner-Preis verleiht, setzt sie ein von ihr arkan gefälltes ästhetisches Werturteil öffentlich in Szene. Die im Darmstädter Staatstheater anwesenden Zuschauer wurden bei der Entscheidungsfindung nicht miteinbezogen, sondern fungieren als akklamierende Zeugen der vor ihnen aufgeführten Handlung. Die Deutsche Akademie handelt hier jedoch ohne direktes öffentliches Mandat, sondern als eine von ihren Einzelinteressen geleitete Institution neben vielen im literarischen Feld. Durch die Büchnerpreisverleihung schafft sie ihre eigene literarische Öffentlichkeit. Das Publikum ist heterogen. Neben geladenen Gästen aus unterschiedlichen und nicht notwendig dem literarischen bzw. kulturellen Feld zuzuordnenden Gesellschaftsbereichen wie etwa Kirchenvertretern oder Politikern sind Akademiemitglieder anwesend, eingeladene Schüler und Schülerinnen Darmstädter Gymnasien 63 , Journalisten und schließlich alle an der Verlei-
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Preisgeldes bzw. der Veranstaltungskosten sowie durch das spezifische Persönlichkeitsprofil des Namenspatrons Georg Büchner als Dichter und Revolutionär ist der Preis jedoch prädestiniert für eine Vermischung und Überlappung des politischen und des literarischen Feldes. Auf diese Problematik wird im 3. Kapitel noch ausführlich eingegangen. An dieser Stelle seien die spezifischen Gegebenheiten des Büchnerpreises jedoch zugunsten der abstrahierenden Darstellung zurückgestellt. Vgl. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, 40ff. Beide Zitate ebd., 42. Ebd., 43. Im Falle des Georg-Büchner-Preises kommt diesem Befund besondere Bedeutung zu. Im Zuge seiner heterogenen Struktur gehen von dieser genuin im literarischen Feld angesiedelten Auszeichnung nicht selten auch politische Impulse aus und der politische Kontext wirkt auf den Preis und seine Verleihungspraxis ein. Dieses Phänomen wird im Rahmen des 2. und 3. Kapitels anhand der Gründungsgeschichten und zweier Fallbeispiele aufgezeigt. Vgl. Wolfgang Albrecht: Literaturkritik, Stuttgart 2001, 7. Die Tradition, Darmstädter Schülerinnen und Schüler zur Büchnerpreisverleihung etnzuladen, wird seit dem Jahr 1948 gepflegt; vgl. Kapitel 2.
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hung Interessierten, die bei der Akademieverwaltung eine der kostenlosen und an keine Auflagen gebundenen, in ihrer Zahl jedoch limitierten Eintrittskarten erlangen konnten. Darüber hinaus setzt sich das Publikum in jedem Jahr unterschiedlich zusammen. Die applaudierenden Zuschauer bilden also keinesfalls den repräsentativen Ausschnitt einer geschlossenen und mündigen literarischen Öffentlichkeit. Es trifft sich vielmehr eine gemischte Gemeinschaft von Personen, die jeweils eine punktuelle Öffentlichkeit für die von der Deutschen Akademie vollzogene Ehrung bilden, d. h. für die demonstrative Ausübung der Benennungsmacht durch eine einzelne Institution innerhalb des literarischen Feldes.
Die Modalitäten einer Preisvergabe spielen eine wichtige Rolle für die Wertund Zweckrationalität von Literaturpreisen wie auch für die Funktionen, die eine Auszeichnung für Laureat, Geber und Öffentlichkeit erfüllt. Sie fallen jeweils unterschiedlich aus, sind aber nichtsdestoweniger für die Profilierung eines Preises in Konkurrenz mit seinen Mitbewerbern von zentraler Bedeutung. Im Gegensatz zu vielen anderen jährlich vergebenen Literaturpreisen wird etwa der Warmbronner Christian-Wagner-Preis nur alle zwei Jahre verliehen. Ein solch ausgedehnter Turnus muss nicht allein auf finanzielle Rücksichten zurückgeführt werden, sondern kann auch dem mittlerweile inflationären Literaturpreismarkt geschuldet sein. Ein langer Turnus beinhaltet jedoch ein paradoxes Risiko: Macht sich ein Preis gegenüber anderen rar, entgeht er möglicherweise seiner Marginalisierung. Gleichzeitig droht er jedoch im Bewusstsein der Akteure im literarischen Feld — Autoren, Kritikern, Verlegern, Buchhändlern, Lesern — weniger präsent zu sein und auf diese Weise an Bedeutung zu verlieren. Ferner kann das Image eines Preises auch mit seiner Dotierung zusammenhängen. Dabei muss ein hohes ökonomisches Kapital nicht notwendigerweise auch ein dementsprechend ausgeprägtes symbolisches Kapital gewährleisten. Genauso wie eine geringe Dotierung nicht unbedingt ein Hindernis für das Image des Preises bedeuten muss. Dies beweist etwa das Beispiel des französischen Prix Goncourt, der großes Ansehen genießt, obwohl er mit einem bloß symbolischen Preisgeld verbunden ist. Gleichzeitig ist jedoch in vielen Fällen die dynamische Anpassung von Dotierungen an das aktuelle Kaufkraftniveau zu beobachten. Ein weiterer signifikanter Aspekt ist auch die Art und Weise, wie ein Preisträger ermittelt wird. Die Entscheidung über den Träger des Literaturnobelpreises wird von den Mitgliedern der Schwedischen Akademie gefällt, die in exklusiver Runde die eigenen Vorschläge und diejenigen von zugelassenen fachkundigen Personen aus aller Welt prüfen. Eigenbewerbungen
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1. Die Aktionsmerkmale I Iandlungstyp und Handlungsmodus
werden nicht berücksichtigt. Nominierte und Diskussionsverlauf unterliegen strikter Geheimhaltung. Die Verkündung des Votums geschieht alljährlich zu einem festgelegten Datum und Zeitpunkt, der von den Medien dankbar aufgegriffen und wirkungsvoll in Szene gesetzt wird. Diese Verfahrensweise trägt ausgeprägt elitäre Züge, da eine kleine Gruppe für besonders befähigt gehaltener Personen unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Entscheidung über einen hochdotierten und zugleich überaus angesehenen Preis fällt. Die vergleichsweise spektakuläre Bekanntgabe des Laureaten zeugt von einem ausgeprägten Sendungsbewusstsein der Geberinstitution. Geber zahlreicher Literaturpreise bedienen sich einer ähnlichen auktorialen Entscheidungspraxis. Nur der Clemens Brentano Preis für Literatur weist hier eine Besonderheit auf. Uber den Träger des Literaturförderpreises der Stadt Heidelberg, der jährlich wechselnd an junge Essayisten, Lyriker und Verfasser von Erzählungen bzw. Romanen vergeben wird, entscheidet eine Jury, die sich aus professionellen Kritikern und aus Studenten des Germanistischen Seminars der Universität Heidelberg zusammensetzt/'6 Diese Studierenden werden von ihren Kommilitonen als Vertreter einer Lehrveranstaltung gewählt, die sich über ein Semester hinweg mit den Neuerscheinungen der jeweils zur Entscheidung stehenden Sparte beschäftigt hat. Bei der Juryabstimmung werden alle Stimmen gleichwertig behandelt. Weniger auktorial gestaltet sich die Findungspraxis derjenigen Auszeichnungen, die Bewerbungen von Autoren zulassen oder den Entscheidungsprozess der Jury transparent gestalten. Dies kann zu einer Wettbewerbssituation fuhren, deren sportlich-kämpferische Tendenz die Rivalitäten der Kulturakteure offenlegt und bewusst in Szene setzt. Im Falle des Darmstädter Leonce-und-Lena-Preises etwa tritt eine Gruppe junger Lyriker gegeneinander an, die vorher durch eine Expertenjury aus einer großen Zahl von Eigenbewerbungen ausgewählt worden sind. Im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung lesen sie jeweils nacheinander eine Auswahl ihrer Gedichte vor und hören anschließend die Kritik der Jurymitglieder. Der Sieger wird nach den Lesungen von der Jury im Rahmen einer nicht-öffentlichen Sitzung bestimmt. Solche Preise, die an mittelalterliche Sängerwettstreite erinnern, sind für die mediale Präsentation besonders attraktiv, was ihren Bekanntheitsgrad dementsprechend steigert. Der jährlich geäußerte Populismusvorwurf prallt regelmäßig an den Organisatoren des Klagenfurter Ingeborg-Bachmann-Preises ab, der seit 1983 im Klagenfurter ORF-Studio stattfindet und dessen Verlauf nicht nur in voller Länge im Fernsehen übertragen, sondern zusätzlich noch mit Interviews und Hintergrundberichten angereichert wird. Dabei lesen die zugelassenen Kandidaten vor Jury und
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Vgl. Satzung des Clemens Brentano Preises, www. Heidelberg, de/rathaus/ortsrecht/4— 10. pdf, 11.2.05.
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Publikum einen unveröffentlichten Prosatext, der unmittelbar im Anschluss von den Juroren öffentlich kritisiert wird. Welcher der Probanden schließlich die Auszeichnung erhält, wird dagegen arkan bestimmt. Auch das Publikum darf einen eigenen Preis vergeben. Die »Tage der deutschsprachigen Literatur«, die dreitägige Veranstaltung rund um den Ingeborg-Bachmann-Preis, werden nicht selten Schauplatz von Selbstinszenierungen der Kandidaten und Jurymitglieder. Dies gipfelte in der Selbstverstümmelung von Rainald Goetz 1983, der sich während seiner Lesung die Stirn mit einer Rasierklinge aufschnitt.67 Im Gegensatz zur auktorial und wettbewerblich ausgerichteten Findungspraxis steht das personale Entscheidungsmuster: die Bestimmung eines Preisträgers durch seinen Vorgänger. Hier tritt die verleihende Person oder Institution hinter die Laureaten zurück und verzichtet wohl am deutlichsten auf die mit der Vergabe verbundenen Positionierungsvorteile. Dass diese Zurücknahme allerdings von den Gebern viel Toleranz und Bescheidenheit erfordert, zeigt das Beispiel des Alternativen Büchnerpreises, der 1989 von einem Darmstädter Unternehmer gegründet wurde.' 8 Der private Stifter Walter Steinmetz legte fest, dass die Preisträger »von ihrem jeweiligen Vorgänger in Abstimmung mit dem Stifter nominiert« 69 werden sollten. Darüber hinaus waren auch Vorschläge von jedermann und Eigenbewerbungen möglich. Doch Steinmetz meinte schon die Entscheidung des zweiten Preisträgers nicht mehr mit seinem eigenen Sozialrevolutionären Gründungimpetus vereinbaren zu können. Dieter Hildebrandt, Träger des Alternativen Büchnerpreises 1990, hatte den Journalisten Horst Stern als seinen Nachfolger vorgesehen. Der Stifter jedoch verstieß gegen den von ihm selbst aufgestellten Vergabemodus und bestimmte eigenmächtig den Autor Gerhard Zwerenz als dritten Laureaten. 70 Die eigenwillige Persönlichkeit des Walter Steinmetz war es denn schließlich auch, die das Projekt scheitern ließ. Verschiedene andere Querelen und das durch sie ausgelöste sinkende Interesse der Öffentlichkeit führten schließlich dazu, dass der Alternative Büchnerpreis 1993, nur fünf Jahre nach seiner Gründung, zum letzten Mal vergeben wurde. Besonders auffällige und zugleich charakteristische Unterschiede zeigen die Veranstaltungen, in deren Rahmen der jeweilige Preis verliehen wird. In Ablauf und Ausstattung einer Preisverleihung kann der Geber seine Interessen gestalterisch umsetzen. Das Sendungsbewusstsein, das sich bereits im
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Vgl. www.bachmannpreis.orf.at; 24.2.05. Vgl. Memorandum anläßlich der Gründung des Alternativen Büchnerpreises von Walter Steinmetz, Darmstadt 1989. Auf den Alternativen Büchnerpreis wird in Kapitel 3 ausführlicher eingegangen. Ebd. Vgl. etwa (job): »Der Stifter greift ein«, DE 31.3.1991.
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Findungsverfahren des Literaturnobelpreises gezeigt hat, schlägt sich auch in der Yerleihungsfeier im Stockholmer Konzerthaus nieder. Typische und jährlich wiederkehrende Elemente wie der fanfarenbegleitete Einzug der Preisträger im obligaten Frack, die Ubergabe von Urkunde und Medaille aus der Hand des schwedischen Königs, die zahlreichen, teilweise eigens für diesen Anlass komponierten Zwischenmusiken oder der opulente Blumenschmuck verleihen der Veranstaltung eine besondere Festlichkeit. Darüber hinaus weist die Feier eine ausgeprägte symbolische Struktur auf. Eine von Blumen eingefasste Büste Alfred Nobels steht im Zentrum des Bühnenhintergrundes, eine Medaille mit dem Profil des Stifters ziert das Rednerpult und ein in den Teppichboden eingelassenes »N« in einem Kreis markiert genau den Ort, an dem die Preise zu überreichen sind. Es werden zwar Laudationes vorgetragen, die Laureaten halten jedoch keine Dankreden. Ihnen wird die Rolle der passiven Empfänger zugewiesen. Die Verleihung der Nobelpreise ist eine Inszenierung des Stifters, seines testamentarisch niedergelegten Impetus, das Ideale fördern zu wollen, und gleichzeitig auch der Institution, die diesen letzen Willen bis heute verwaltet. Die Anwesenheit der Königsfamilie unterstreicht das herrschaftlich anmutende Wesen der Veranstaltung, die anschließend in einem großen Bankett in der Blue Hall des Stockholmer Stadthauses fortgesetzt wird. Auch dieses folgt einem minutiös ausgearbeiteten Plan, der den Einmarsch der Gäste, die Sitzordnung wie auch die Abstimmung von Menue, Showeinlagen und Reden von König und Laureaten regelt. Erst beim anschließenden Tanz fallen die protokollarischen Zwänge von den Anwesenden ab.71 Im Gegensatz zu dieser festlich-opulenten Veranstaltung steht die oben geschilderte Verleihung des Georg-Büchner-Preises zusammen mit den anderen Akademiepreisen, die anlässlich der Herbsttagung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung stattfindet. Zugunsten der zahlreichen Wortbeiträge von Gästen, Laudatoren und Laureaten wird auf symbolische Elemente wie auch auf musikalische Einlagen verzichtet. Die Geberinstitution betont mit dieser bescheidenen Feier einerseits die Rolle der Akademiemitglieder und andererseits die Aufgabe, der sie sich verschrieben hat: »das deutsche Schrifttum vor dem In- und Ausland zu vertreten und auf die pflegliche Behandlung der deutschen Sprache in Kunst und Wissenschaft, im öffentlichen und privaten Gebrauch hinzuwirken.« 72 Der Georg-Büchner-Preis wird nicht besonders hervorgehoben, was sich in der Gestalt der Verleihungsfeier niederschlägt. Georg Büchner spielt hier symbolisch keine Rolle und die Übergabe des Büchnerpreises gestaltet sich nicht anders als die
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Vgl. www. nobelpreis. org; 11.2.05. Aus § 2 der aktuellen Satzung der Deutschen Akademie vom 27.6.1966, in: Assmann/I Ieckmann (Hrsg.): Kritik und Zuversicht, 472.
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der übrigen Akademiepreise. Doch auch die Verleihungsfeiern von weniger bedeutenden Literaturpreisen können bescheiden und weniger individuell sein. So folgt im Falle des Clemens Brentano Preises für Literatur der Stadt Heidelberg bei der öffentlichen Feier im dezent geschmückten Spiegelsaal des Prinz Carl, dem städtischen Repräsentationsbau, auf die Ansprachen der städtischen Vertreter meist eine Rede der studentischen Jurymitglieder. Es folgt die obligate Laudatio auf den Laureaten. Anschließend empfängt dieser den Preis in Form einer Urkunde und eines Schecks über 10.000 Euro aus den Händen der Oberbürgermeisterin und hält seine Dankrede. Symbolische Bezüge zum Preispatron gibt es nicht. Nach der Veranstaltung wird ein Imbiss angeboten. Am Abend zuvor hat der Preisträger in der Heidelberger Stadtbücherei öffentlich gelesen. '3 »Mehr TV-Glamour für internationale Autorinnen und Autoren im deutschen Fernsehen, die attraktive Präsentation ihrer Werke für das Lesepublikum und eine besondere Unterstützung des Buchhandel-Marketings« verspricht sich dagegen der Bayerische Landesverband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels von der Stiftung des Internationalen Buchpreises »Corine«, der unter anderem von einem Fernsehsender, einer Bank und einem Verlagshaus gesponsored wird. Die Verleihungsveranstaltung gestaltet sich dementsprechend wirkungs- bzw. medienorientiert. Im Rahmen einer aufwändigen Fernsehgala, die der Bayerische Rundfunk und 3sat zu verschiedenen Zeiten in voller Länge ausstrahlen, werden die Preise in Form pittoresker Porzellanfiguren aus den Händen international bekannter Mediengrößen an die Preisträger übergeben. Mittels unregelmäßig eingestreuter Filmsequenzen, im Zuschauerraum auf einer ausgreifenden Videowand abgespielt, wird entweder der Preisträger vorgestellt oder sein Werk eingeführt. Dies geschieht etwa durch kurze filmische Umsetzungen von zentralen Kapiteln oder Schlüsselsequenzen seines Werks. Darüber hinaus dienen auch in das Programm eingestreute Musik- und Showeinlagen zur Unterhaltung des Publikums. 74 Zu einem wichtigen Medienereignis hat sich auch die Verleihung des bedeutendsten zeitgenössischen Literaturpreises in Italien, des Premio Strega75, entwickelt, die seit 1959 im öffentlich-rechtlichen italienischen Fernsehen live übetragen wird. Massenmediale Formen wie bestimmte Varianten der VIP- und Polit-Talk-Show und die Einbeziehung professioneller Medienexperten haben das ursprüngliche Verleihungsverfahren überlagert und zu einer zunehmenden Spannung zwischen »traditionellen und trendorientierten Elementen« 76 geführt. So ist die aufwändige
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Vgl. Programme der jeweiligen Verleihungsfeiern. Vgl. www.intemationaler-buchpreis.de, 31.12.03. Vgl. Steinicke: Premio Strega, in: Dücker/Harth/Steinicke/Ulmer: Literaturpreisverleihungen, 29-40. Ebd., 36.
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Veranstaltung im festlich-mondän geschmückten Garten der Villa Giulia in Rom längst ein prestigeträchtiges Forum der Medienprominenz, von Politikern, Schauspielern oder Models geworden, in deren Kreis der ausgezeichnete Autor als »Initiand« erscheint, »der nunmehr seinerseits medienspezifische Kompetenzen unter Beweis stellen muß«.77 Ganz im Gegensatz zum deutschen Pendant ist die Verleihung des bedeutendsten italienischen Literaturpreises ein multimediales Kulturevent mit Showbizqualitäten. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Vergabe eines Literaturpreises eine paradigmatische Erscheinungsweise moderner Ehre darstellt. Sie ist eine öffentlich vollzogene Ehrung, die auf dem Grundmuster von Gabe und Gegengabe fußt. Literaturpreisverleihungen sind innerhalb des literarischen Feldes angesiedelte, kommunikative soziale Akte mit wertund zweckrationaler Dimension. Sie sind symbolische Konsekrationsakte, die auf der Basis performativer Darstellungstechniken der Positionierung, d. h. etwa der materiellen Absicherung und sozialen Aufwertung, der Repräsentation, dem Machterhalt bzw. der Machtexpansion oder der Festsetzung bzw. der Aufrechterhaltung literarischer Standards im Zuge von Benennungsmacht dienen. Literaturpreisvergaben sind Instituierungshandlungen. Anzahl, Struktur und Ausstattung der einzelnen Handlungssequenzen gestalten sich zwar von Fall zu Fall unterschiedlich. Turnus, Preissumme, Entscheidungsfindung, Verkündungsmodus, Verpflichtungen der Laureaten vor und nach der Vergabe, Ablauf der Verleihungsveranstaltung und gesellschaftliches Rahmenprogramm sind aber für die Profilierung eines Preises in Konkurrenz mit seinen Mitbewerbern von zentraler Bedeutung.
Der Handlungsmodus — das Ritual Die Analyse zentraler Aktionsmerkmale von Literaturpreisverleihungen hat sich bisher mit der Hypothese von einer allgemeinen Handlungskategorie Preisverleihung und deren logischer Grundstruktur beschäftigt, d.h. mit deren Handlungstyp. Als Bezugsgrößen dienten Gabe und öffentliche Ehrung. Nun wird zu fragen sein, ob es darüber hinaus möglich ist, abstrahierbare Befunde bezüglich eines allgemeinen Handlungsmodus zu gewinnen, der mit dem herausgearbeiteten Handlungstyp korrespondiert. Wie agieren Gruppen und Individuen, wenn sie Literaturpreise vergeben, annehmen oder einer solchen Verleihung beiwohnen? Es ist gezeigt worden, dass im Rahmen des gegebenen Fallbeispiels das Gabeschema in einer durch bestimmte Charakteristika gekennzeichneten Art und Weise ausgestaltet wird. Zentrale Merkmale sind Geregeltheit, Formalisierung, Konventiona77
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lisierung, Sequenzialität, Wiederholung, Stereotypie, Reduktion, Dekor, Öffentlichkeit, Kollektivität und theatrale Strukturen. Doch hätte das Ereignis nicht auch ganz anders ablaufen können? Sind die genannten Merkmale zufällig und austauschbar oder doch von größerer Bedeutung für das Gelingen der Darmstädter Schenkungshandlung, möglicherweise von Gaben und öffentlichen Ehrungen überhaupt? Marcel Mauss weist in seiner Analyse zu Gabentauschen in unterschiedlichen kulturellen Kontexten immer wieder auf den Formalismus hin, der diese Handlungen auszeichnet. 78 Er interpretiert die geregelten und mehr oder weniger stereotyp wiederkehrenden Abläufe als Hinweis auf die Bedeutung, die die jeweilige Gesellschaft diesen Akten beimisst. Auch Pierre Bourdieu stellt ein komplexes System von Herausforderungsregeln fest, an dem sich Geber und Adressaten orientieren. Diese Regeln tragen sozialen Sinn und machen aus einer bloßen Interaktion ein komplexes symbolisches Zeichen.79 Für diesen symbolischen Zeichenkomplex benutzt Bourdieu an vielen Stellen den Begriff des Rituals. Berking spricht im Zusammenhang mit Gaben als symbolischen und zugleich materiellen Verkörperungen gesellschaftlicher Zusammengehörigkeit sowie der Art und Weise ihrer Durchführung sogar von einem »Zwang zur rituellen Form« 80 . Gaben als »modus operandi sozialer Differenzierung« 81 erfordern in seinen Augen notwendigerweise eine rituelle Umsetzung. Für ihn sind Schenkungshandlungen »Interaktionsrituale«, die den Tausch »als Beziehungsformel um- und in Szene setzen«82. Gaben wären demnach immer in Rituale gekleidet. Da das Darmstädter Ereignis eine Gabehandlung ist, wäre auch sie nach Berking zwangsläufig in ritueller Art und Weise ausgeführt. Die Merkmale der hier skizzierten Handlung könnten dementsprechend mit den Merkmalen eines Rituals übereinstimmen.
Ritualskepsis und Ritualpraxis in der Moderne Ist die Verleihung der Akademiepreise durch den Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, ist die Verleihung des Georg-Büchner-Preises ein Ritual? Man ist wohl versucht, dies spontan zu verneinen. Der Reflex, Ritualen entweder indifferent oder kritisch gegenüberzustehen, ist in der westlichen Moderne sehr verbreitet. Im öffentlichen Sprachgebrauch deutscher Presseerzeugnisse etwa wird der Begriff Ritual nicht nur verschwommen und vieldeutig verwendet, sondern ist auch überwiegend 78 79 80 81 82
Vgl. etwa Mauss: Gabe, 124. Vgl. Vogt: Logik der Ehre, 106. Berking: Schenken, 75. Ebd., 76. Ebd., 75.
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und Handlungsmodus
negativ konnotiert. 83 Während in Kultur und Wissenschaft das Ritual neutral als statischer, eine frühere Handlung wiederholender Akt wahrgenommen wird, markiert im religiösen Kontext das Ritual eine Situation, »die von außen als veränderungsbedürftig eingeschätzt wird.«84 Im politischen Bereich fällt schließlich eine durchgehend negative Einschätzung des Rituals auf, das mit »Reduktion von Vielfalt auf den stets gleichen Ablauf, auf Wiederholung, Vorhersagbarkeit, Wiedererkennbarkeit und sprachliche Formelhaftigkeit« verbunden wird. »Ritual ist Signalwort für folgenlosen Automatismus und Desinteresse.« 81 Rituale werden meist mit sogenannten zivilisatorisch zurückgebliebenen Gemeinschaften in Verbindung gebracht. Halten bestimmte Personengruppen moderner Gesellschaften an der Durchführung von hergebrachten Ritualen fest, so etwa praktizierende Christen am sonntäglichen Kirchgang, an Taufe, Kommunion oder Konfirmation, werden nicht nur die jeweiligen rituellen Strukturen, sondern auch ihre Akteure gern als unzeitgemäß und veränderungsbedürftig, d. h. als defizitär beurteilt. Angesichts dieser verbreiteten Ritualskepsis könnte angenommen werden, dass moderne Gesellschaften auf die Durchführung von Ritualen in zunehmendem Maße verzichten. Diese Vermutung trifft jedoch nicht zu. Rituelle Strukturen in vielfältiger Ausprägung spielen für das gemeinschaftliche Zusammenleben in der Moderne immer noch eine große Rolle. Dabei stehen traditionelle Rituale, etwa die kirchliche Trauung oder die Vereidigung des bundesdeutschen Regierungskabinetts, neben wiederbelebten oder umgedeuteten Ritualen, wie Sonnenwendfeiern an historischen Kultorten oder der Jugendweihe, deren Bezug zur realsozialistischen Doktrin nach der Wende in eine ideologisch neutrale Initiation in das Jugendalter umgeformt wurde. 86 Darüber hinaus führt auch die zunehmende Abkehr von amtskirchlich vermittelten Glaubenslehren zu Ritualinventionen, die rituelle Synkretismen dort entstehen lassen, wo ehemals kirchliche Handlungen zum Zuge kamen. Kommerzielle Anbieter designen Rituale zu Geburt, Hochzeit oder Trauer. Schließlich prägt rituelles Handeln auch viele Freizeitbereiche wie die Sport- und Medienwelt. Die obligate »Welle« oder das Absingen von Triumph- und Anfeuerungsliedern in Fußballstadien wie auch die zahlreichen Castingshows der Privatsender auf der Suche nach den jeweiligen Superstars weisen rituelle Strukturen auf.
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Vgl. Burckhard Dücker: Ritus und Ritual im öffentlichen Sprachgebrauch der Gegenwart, in: Dietrich Harth/GerritJ. Schenk (Hrsg.): Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004, 219-257. Ebd., 232. Ebd., 234. Vgl. auch Inga Pinhard: Jugendweihe - Funktion und Perspektiven eines Übergangsrituals im Prozeß des Aufwachsens, in: Harth/Schenk (Hrsg.): Ritualdynamik, 197-217.
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Allerdings hat sich die Funktion von rituellen Handlungen in der postmodernen Gesellschaft gegenüber der Vor- und Frühmoderne geändert. Anthony Giddens führt diesen Funktionswandel auf die fortschreitende Globalisierung und die mit ihr einhergehende Zerschlagung lokaler Strukturen zurück. Diese lokalen Strukturen fasst er als Hauptträger der Tradition und also auch des Rituals als eines ihrer Bestandteile auf. Innerhalb der vormodernen Gesellschaft diente das Ritual als »Medium für die Organisation kollektiven Gedächtnisses« 87 dazu, das Vergangene sowohl zu reproduzieren und zu erhalten als auch der Erfahrung Kontinuität zu verleihen. Rituale als identitätsstiftende bzw. identitätsbewahrende Phänomene waren vergangenheits- und gegenwartsorientierte soziale Handlungen. 88 In der posttraditionalen Gesellschaft haben sie, laut Giddens, diese Ausrichtung wie auch ihre normative Bedeutung verloren. Innerhalb der modernen »Alltagsexperimente« 89 mit offenem Ausgang fasst er Rituale als oft sogar zwanghaft 90 ausgeführte Spielformen gesellschaftlichen Zusammenlebens auf, die ausschließlich in die Zukunft gerichtet sind und den Akteuren keine Orientierung mehr bieten. Dementsprechend sind nicht nur vor- und frühmoderne Gemeinschaften, sondern ebenso Gesellschaften des posttraditionalen Zeitalters als ritualreiche Sozialgefüge zu bezeichnen, wenn sich auch die Funktion ritueller Handlungen im Laufe der historischen Entwicklung gewandelt hat.91
Die ritualtheoretischen Ansätze von Tambiah und von Humphrey und Laidlaw Mit Grundlagenwerken wie Arnold van Genneps Rites de passage zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den Arbeiten Victor Turners aus den 60er Jahren hat die konsequente wissenschaftliche Beschäftigung mit Ritualphänomenen in den 70er und 80er Jahren eingesetzt. Dies geschah maßgeblich in
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Anthony Giddens: Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: Ulrich Beck, Anthony Giddens, Scott Lash: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt/M. 1996, 113-194, 125. Ebd., 174. Ebd., 118. Giddens diagnostiziert in der Moderne einen immensen Vertrauensverlust, der aus der Zerschlagung lokaler, ehemals traditionsgetragener Lebenszusammenhänge hervorgeht. Dieses fehlende Vertrauen führe dazu, dass zwanghaft Traditionshülsen wiederholt würden, deren Inhalte jedoch ihre Bedeutung wie auch ihre identitätsstützende Funktion verloren hätten; vgl. ebd., 165ff. Im Zusammenhang mit der integrierenden Funktion von Ehrerweisungen stellt Vogt fest, dass Ehrungen in modernen Gesellschaften an Bedeutung gewinnen, da sie die »F-hrdistribution im Zeitalter der Anonymität« steuern; Vogt: Logik der Ehre, 122.
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1. Die Aktionsmerkmale Handlungstyp und I landlungsmodus
den Religions-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Mittlerweile ist das Ritual zum Gegenstand zahlreicher Disziplinen wie der Ethnologie, Theologie, Religionswissenschaft, Geschichte, Soziologie, Indologie oder der Altertumswissenschaften wie der Ägyptologie oder Assyriologie geworden. Der interdisziplinäre Diskurs hat bis heute zu einer Fülle von Definitionsversuchen des Ritualbegriffs gefuhrt. Diese scheinen aus ihrer jeweiligen Fachperspektive oft berechtigt, sind aber zu großen Teilen kaum mit anderen Ansätzen synthetisierbar oder wenigstens vereinbar.52 Eine abschließende Bestimmung des Rituals als eines anthropogenen Grundmusters kann von den Bemühungen der verschiedenen Wissenschaften vielleicht nicht erwartet werden, wohl aber eine möglichst detaillierte Beschreibung distinkter Ereignisse, die Herausarbeitung abstrahierbarer Grundstrukturen und deren Vergleich auf interkultureller Ebene. An dieser Stelle sollen zwei Positionen erörtert werden, deren begriffliche und methodische Unterscheidungen hilfreich sind, um den rituellen Charakter von Preisvergaben und speziell von Literaturpreisverleihungen zu erläutern. An dieser Stelle werden die Ansätze dreier Ritualwissenschaftler herangezogen, deren Synthese eine gewinnbringende Arbeitsgrundlage verspricht. Im Rahmen seiner Ritualtheorie berücksichtigt Stanley Tambiah vor allem den performativen Aspekt ritueller Handlungen. Diese Perspektive erweist sich im vorliegenden Falle als besonders hilfreich, da den zahlreichen performativen Abschnitten der Makrohandlung und dabei vor allem der Verleihungsperformanz herausragende Bedeutung zukommt. Die Ritualtheorie von Caroline Humphrey und James Laidlaw bietet ebenso gute Voraussetzungen für die Erarbeitung einer anwendbaren Synthese. Ein entscheidender Vorteil beider Ansätze ist ihr typologisierendes Vorgehen. Tambiah wie auch Humphrey und Laidlaw erheben nicht den Anspruch, eine geschlossene Theorie des Rituals entwickeln zu können, die dann allgemein auf alle in Frage kommenden konkreten Phänomene unabhängig von ihrer historischen oder lokalen Verortung anwendbar wäre. Vielmehr tragen sie wichtige Merkmale von Ritualen zusammen, die als Grundlage einer angenommenen Handlungskategorie dienen. Beide Ansätze konstatieren nicht, dass ein Ereignis alle Merkmale aufweisen muss, um als Ritual bezeichnet werden zu können. Ferner legen sie auch nicht fest, in welcher Intensität die jeweiligen Charakteristika ausgeprägt sein müssen. Diese Offenheit ist eine Stärke der beiden theoretischen Annäherungen, da sie der Vielfältigkeit von Ritualen Rechnung trägt. Stanley Tambiah geht in seinem Definitionsversuch von der Prämisse aus, Rituale seien soziale Handlungen, die nicht nur in distinkten Bereichen
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Vgl. etwa die Untersuchung von Cathrine Bell: Ritual Theory, Ritual Practice, Oxford 1992.
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einer Gesellschaft beobachtet werden können.93 Eine trennscharfe Abgrenzung gegenüber Nicht-Ritualphänomenen schließt er aus.94 Seine Ritualdefinition basiert auf typologischen Überlegungen. Er trägt eine Summe von Merkmalen zusammen, die Rituale - im Rahmen einer gewissen Variationsspanne — auszeichnen und von anderen gesellschaftlichen Aktivitäten abheben. Nach Tambiah sind Rituale durch ein charakteristisches Eigenschaftsprofil gekennzeichnete soziale Handlungen. Im Rahmen seiner Annäherung an den Ritualbegriff legt er einerseits besonderen Wert auf den Formaspekt von Ritualen: »Ritual is a culturally constructed system of symbolic communication. It is constituted of patterned and ordered sequences of words and acts, often expressed in multiple media, whose content and arrangement are characterized in varying degree by formality (conventionality), stereotypy (rigidity), condensation (fusion) and redundancy (repetition).«93 Andererseits misst Tambiah dem Durchfuhrungsaspekt von Ritualen herausragende Bedeutung zu: »Ritual action in its constitutive features is performative in these three senses: In the Austinian sense of performative wherein saying something is also doing something as a conventional act; in the quite different sense of a staged performance that uses multiple media by which the participants experience the event intensively; and in the third sense of indexical values — I derive this concept from Peirce — being attached to and inferred by actors during the performance.« 96 Rituale stellen laut Tambiah keine Summe distinkter Handlungen eines definierten Personenkreises innerhalb einer Gemeinschaft dar. Es sind die Merkmale des Handelns, die Rituale konstituieren, nicht die Kontexte, aus denen sie hervorgehen, und auch nicht die Akteure, die sie tragen. Rituale fasst Tambiah als kulturell fundierte, symbolische und sequenzialisierte Kommunikationsakte auf, die sich gegenüber Alltagshandlungen durch einen jeweils variablen Grad an Formalität (Konventionalität), Stereotypie (Rigidität), Verdichtung (Verschmelzung) und Redundanz (Wiederholung) auszeichnen. Darüber hinaus sind für ihn Rituale performativ im Sinne von Sprechakten, von multimedialen Inszenierungen und von über das Ritualgeschehen hinausweisenden Indexen bzw. Markern, die Rückschlüsse etwa auf Interessen von Personen oder Institutionen im Kontext des Rituals zu-
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»Although neither linguistically nor ostensively can we demarcate a bounded domain of ritual (separated off from other domains) in any society, yet every society has named and marked out enactments, performances and festivities which we can identify as typical or focal examples of >ritual< events.« Stanley J. Tambiah: A performative approach to ritual, Radcliffe-Brown Lecture 1979, Oxford 1979, 116. »Let me at the outset state firmly that we cannot in any absolute way separate ritual from non-ritual (...). But relatively contrastive distinctions (rather than absolute distinctions) help us to distinguish between certain kinds of social activity.« Ebd. Ebd., 118. Ebd., 119.
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1· Die Aktionsmerkmalc Handlungstyp und Handlungsmodus
lassen. Rituale sind spezifisch in Szene gesetzte Bedeutung. Humphrey und Laidlaw dagegen haben im Rahmen ihrer Ritualtheorie den Kommunikationsaspekt als konstitutives Merkmal rituellen Handelns relativiert. Auf der Basis der Searleschen Symboltheorie stellen sie fest, dass nicht jedem Ritual die Absicht zu kommunizieren zugrunde liegen müsse.97 Zwar sprechen auch sie Ritualen Bedeutung zu. Diese zu kommunizieren gehöre jedoch nicht zum Repertoire notwendiger Ritualmerkmale. 98 Doch auch wenn Humphrey und Laidlaw zu Recht die dominante Rolle kritisieren, die der Ethnologe Tambiah der Kommunikationsbzw. Informationstheorie einräumt, so liefern die von ihm erarbeiteten Hauptmerkmale doch wichtige Grundlagen für die Analyse von Ritualphänomenen. Rituale sind symbolische Handlungen und weisen über ihre sinnlich wahrnehmbare Gestalt hinaus. Sie sind bedeutungstragende Handlungen. Diese Gehalte werden in Strukturen des jeweiligen Kulturrepertoires ihres Kontextes umgesetzt. Sie sind konventionelle, stereotype Handlungen, insofern sie nicht an die Intentionen, Gefühle und Geisteshaltungen von Individuen anknüpfen und diese direkt und spontan zum Ausdruck bringen. »But ritualized, conventionalized, stereotyped behaviour is constructed in order to express and communicate, and is publicly construed as expressing and communicating, certain attitudes congenial to an ongoing institutionalized intercourse (...) they code not intentions but simulations of intentions.« 99 Rituale sind entindividualisierte Handlungen, die an ein beschränktes Set übergeordneter Größen anknüpfen und als »discliplined rehearsal of >right attitudesritual