Gesamtausgabe (TG). Band 23/Teilband 2 Nachgelassene Schriften: 1919-1936 9783110910216, 9783110186888

This second part-volume of Ferdinand Tönnies' Posthumous Writings contains mainly unpublished texts from the period

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German Pages 763 [768] Year 2006

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Gesamtausgabe (TG). Band 23/Teilband 2 Nachgelassene Schriften: 1919-1936
 9783110910216, 9783110186888

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Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23, 2



Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe TG Im Auftrag der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen · Alexander Deichsel Cornelius Bickel · Rolf Fechner Carsten Schlüter - Knauer

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2005

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 23 Teilband 2 1919⫺1936 Nachgelassene Schriften herausgegeben von Brigitte Zander - Lüllwitz und Jürgen Zander

Walter de Gruyter · Berlin · New York 2005

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-018688-8 ISBN-10: 3-11-018688-8 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2005 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: Readymade, Berlin Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin Tönnies-Portrait von Käte Lassen, 1926 쑕 Professor Dr. Peter Hansen, Hannover 2005; Manuskriptseiten aus dem Nachlass (Cb 54), 쑕 SchleswigHolsteinische Landesbibliothek in Kiel 2005.

Ferdinand Tönnies Bleistiftzeichnung von Käte Lassen, 1926 (Tönnies-Nachlass, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel)

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen . . . . . . . . . . . . . . Inhalt nach Sachgebieten . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . .

VII XI XV

Vorwort Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander

. . . . . .

XIX

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

Neue Botschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Tatbestand Gewissen . . . . . . . . . . . . . Ein anderer Brief an Herrn Dr. Brüning . . . . . . . .

3 77 113

I. Monographien

II. Schriften

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Der Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . [Über die Reform der Staatswissenschaften. Protokoll eines Rede- und Diskussionsbeitrages] . Die öffentliche Meinung und die Wahrheit . . . . . [Zusammenkunft der pädagogischen Abteilung der Liga für Völkerbund] . . . . . . . . . . Wunderglaube und Wissenschaft in der sozialen Frage [Über Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland] . [Die Gotteslästerung] . . . . . . . . . . . . . [Formen der Öffentlichen Meinung] Vortrag D. G. 1914 Die Krise der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . Erklärung [Erwiderung auf Robert Michels] . . . . Solidarität? . . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Parallelität der Gegensatzpaare Egoismus – Altruismus, Gesellschaft – Gemeinschaft, Kapitalwirtschaft – Genossenschaft] . . . . . . [Staatsrechtliche Probleme Englands] Vortrag Aachen März 1925 . . . . . . . . .

147

. .

149

. . . .

159 165

. . . .

. . . . . . . . . . .

177 183 189 199 203 215 221 223

. .

227

. .

235

VIII

Inhalt nach Abteilungen

[Reformation] . . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen über den Begriff der Revolution . . . . . . . [Gotthold Ephraim Lessing] . . . . . . . . . . . [Werturteilsfreiheit] . . . . . . . . . . . . . . . [Republikanisches und monarchistisches Staatsbewußtsein] [Hobbes’ Religionsphilosophie] . . . . . . . . . . [Über Eigentum und Enteignung] . . . . . . . . . [Hobbes] Rundfunk-Vortrag 1929 . . . . . . . . . Tartuffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hobbes und Spinoza . . . . . . . . . . . . . . Die Besudelung Prof. Baumgarten’s . . . . . . . . Das Spiel der Gegenrevolution . . . . . . . . . . Die nationale Opposition . . . . . . . . . . . . Vorwort [zur geplanten Neuausgabe der Schrift: „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung“] [Der Begriff der Gesellschaft] . . . . . . . . . . . Die Bewegung der Bevölkerung . . . . . . . . . . [Brünings Rede in Genf] . . . . . . . . . . . . . [Marxismus und Christentum] [Thesen zum Vortrag von Herrn Professor D. Emil Fuchs, Kiel] . [Die Reichspräsidentenwahlen 1932] . . . . . . . . An die „Intellektuellen“ . . . . . . . . . . . . . [Erinnerungen an Altona] . . . . . . . . . . . . Siegesgewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . Rechtfertigung? . . . . . . . . . . . . . . . . [Die Harzburger Front] . . . . . . . . . . . . . [Die Lehr- und Redefreiheit] . . . . . . . . . . . Der Liberalismus als politische Idee . . . . . . . . Erklärung [Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 27. Dezember 1933] . . . . . . . . Zum 8. Soziologentage, 1933 . . . . . . . . . . . [Die Verteilung der Geburten nach Monaten] . . . . . Im Oktober 1934 [Bericht über die „Gründe“ meiner Entlassung aus dem Amte am 29. Septbr 1933] . . An den Vorbereitungsausschuss des 8. Internationalen Philosophenkongresses in Prag [Grußwort] . . . . Soziologie und Volkskunde . . . . . . . . . . . . [Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft] Für Earle Eubank . . . . . . .

. . . . . . . . . . . .

251 269 275 291 295 301 345 347 355 359 373 379 383

. . . .

387 389 397 403

. . . . . . . . .

407 413 417 419 423 427 431 435 449

. . .

459 461 467

.

475

. .

479 481

.

487

IX

Inhalt nach Abteilungen

[Meine Beziehung zu Harald Höffding] . . . . . . . . Vorrede zur achten Auflage [„Gemeinschaft und Gesellschaft“] [Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1935 an Kindheit, Schulzeit, Studium und erste Dozententätigkeit (1855−1894)] . [Geburtenüberschuss und Rassenfrage] . . . . . . . . III. Rezensionen

. . . . . . . . . . . . . . . . . .

Das Elend des Deutschen Reiches [Statistisches Reichsamt (Hg.), Deutschlands Wirtschaftslage unter den Nachwirkungen des Weltkrieges] . . . . . Arbeiter-Probleme in norwegischer Beleuchtung (Norwegische Arbeitslehre) [Bosse, Ewald, Det ökonomiske Arbeide. En genetisk Analyse] . . . . . . . . . . . . . . Soziale Spielregeln [Pieper, Josef, Grundformen sozialer Spielregeln – Eine soziologisch-ethische Grundlegung der Sozialpädagogik] . . . . . . . . . . . . . . Apparat

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . (nur darin: An die löbl. Schriftleitung der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung“) Bibliographie . . . . . . . . . . . . Register der Publikationsorgane . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . Plan der Tönnies-Gesamtausgabe . . . .

495 499 507 551 555

557

569

583 589

. . . . . .

591

. . . . . .

636 661 689 691 715 740

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

. . . . . .

Inhalt nach Sachgebieten Der Wissenschaftler Der Philosoph Neue Botschaft . . . . . . . . . . . . . . Der Tatbestand Gewissen . . . . . . . . . . [Hobbes’ Religionsphilosophie] . . . . . . . . Hobbes und Spinoza . . . . . . . . . . . . An den Vorbereitungsausschuß des 8. Internationalen Philosophengresses in Prag [Grußwort] . . .

. . . .

. . . .

3 77 301 359

. .

479

Der Soziologe Der Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . Die öffentliche Meinung und die Wahrheit . . . . . [Formen der Öffentlichen Meinung] Vortrag D. G. 1914 Die Krise der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . Erklärung [Erwiderung auf Robert Michels] . . . . . [Die Parallelität der Gegensatzpaare Egoismus – Altruismus, Gesellschaft – Gemeinschaft, Kapitalwirtschaft – Genossenschaft] . . . . . . . . . . . . . . [Staatsrechtliche Probleme Englands] Vortrag Aachen März 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . Thesen über den Begriff der Revolution . . . . . . [Werturteilsfreiheit] . . . . . . . . . . . . . . Vorwort [zur geplanten Neuausgabe der Schrift: „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung“] [Der Begriff der Gesellschaft] . . . . . . . . . . . Die Bewegung der Bevölkerung . . . . . . . . . . Erklärung [Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 27. Dezember 1933] . . . . . . . Zum 8. Soziologentage, 1933 . . . . . . . . . . [Die Verteilung der Geburten nach Monaten] . . . . Soziologie und Volkskunde . . . . . . . . . . . [Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft] Für Earle Eubank . . . . . . .

149 165 203 215 221

227 235 269 291 387 389 397 459 461 467 481 487

XII

Inhalt nach Sachgebieten

Vorrede zur achten Auflage [„Gemeinschaft und Gesellschaft“] 499 [Geburtenüberschuss und Rassenfrage] . . . . . . . 551 Soziale Spielregeln [Pieper, Josef, Grundformen sozialer Spielregeln – Eine soziologisch-ethische Grundlegung der Sozialpädagogik] . . . . . . . . . . . . . . 583 Der Ökonom und Statistiker [Über die Reform der Staatswissenschaften. Protokoll eines Rede- und Diskussionsbeitrages] [Die Verteilung der Geburten nach Monaten] . . Das Elend des Deutschen Reiches [Statistisches Reichsamt (Hg.), Deutschlands Wirtschaftslage unter den Nachwirkungen des Weltkrieges] . . Arbeiter-Probleme in norwegischer Beleuchtung (Norwegische Arbeitslehre). [Bosse, Ewald, Det ökonomiske Arbeide. En genetisk Analyse] . . Der Kulturhistoriker [Die Gotteslästerung] . . . . . . . . . . [Reformation] . . . . . . . . . . . . [Gotthold Ephraim Lessing] . . . . . . . Tartuffe . . . . . . . . . . . . . . . [Marxismus und Christentum] [Thesen zum Vortrag von Herrn Professor D. Emil Fuchs, Der Liberalismus als politische Idee . . . . Der Politiker Der politische Kämpfer [Brünings Rede in Genf] . . . . . [Republikanisches und monarchistisches Die Besudelung Prof. Baumgartens’ . Das Spiel der Gegenrevolution . . . Die nationale Opposition . . . . . Ein anderer Brief an Herrn Dr. Brüning [Die Reichspräsidentenwahlen 1932] . An die ‚Intellektuellen‘ . . . . . . Siegesgewissheit . . . . . . . . . Rechtfertigung? . . . . . . . . . [Die Harzburger Front] . . . . . . [Die Lehr- und Redefreiheit] . . . .

. . . .

159 467

. .

557

. .

569

. . . .

. . . .

199 251 275 355

Kiel] . . . . .

407 449

. . . .

. . . .

. . . . . . . Staatsbewusstsein] . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 295 373 379 383 403 413 417 423 427 431 435

XIII

Inhalt nach Sachgebieten

Der Sozialpolitiker Wunderglaube und Wissenschaft in der sozialen Frage . [Über Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland] . Die Krise der Sozialpolitik . . . . . . . . . . . . Solidarität? . . . . . . . . . . . . . . . . . . [Über Eigentum und Enteignung] . . . . . . . . . Das Elend des Deutschen Reiches [Statistisches Reichsamt (Hg.), Deutschlands Wirtschaftslage unter den Nachwirkungen des Weltkrieges] . . . . . . Arbeiter-Probleme in norwegischer Beleuchtung (Norwegische Arbeitslehre) [Bosse, Ewald, Det ökonomiske Arbeide. En genetisk Analyse] . . . . An die löbl. Schriftleitung der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung“ . . . . . . . . . . . . . . . Der Biograph [Gotthold Ephraim Lessing] . . . . . . . . . [Hobbes] Rundfunk-Vortrag 1929 . . . . . . . Hobbes und Spinoza . . . . . . . . . . . . [Erinnerungen an Altona] . . . . . . . . . . Im Oktober 1934 [Bericht über die ‚Gründe‘ meiner Entlassung aus dem Amte am 29. Septbr 1933] [Meine Beziehung zu Harald Höffding] . . . . . [Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1935 an Kindheit, Schulzeit, Studium und erste Dozententätigkeit (1855−94)] . . . . . . .

. . . .

183 189 215 223 345

557

569 636

. . . .

275 347 359 419

. . . .

475 495

. .

507

Abkürzungen und Siglen Aufgenommen sind die in Text oder Anmerkungen vorkommenden Abkürzungen und Siglen, bis auf die häufig abgekürzten Vornamen, denn diese erscheinen in Tönnies’ Text selbst oder in den Anmerkungen dazu, sonst im Personenregister (s. S. 691 ff.). Individuelle, im Moment der Niederschrift eines Textes entstandene Abkürzungen von Tönnies oder einer Schreiberhand, der er diktierte, sind, wenn sie sich nicht selbstverständlich aus der Textumgebung ergeben, überwiegend im Anmerkungsapparat aufgelöst. Nicht aufgelöst werden auch die von Tönnies abgekürzten bibliographischen Angaben, siehe dazu die Bibliographie (S. 661−688). Kursiviertes in den Erläuterungen zeigt nichtdeutsche Wörter an (fehlt ein Hinweis, so entstammt es dem Englischen). Kursive Abkürzungen bezeichnen Siglen der Werke Tönnies’. Abkürzungen zu Satzbeginn beginnen mit einer Majuskel, diese Form wird hier, wie auch flexivische Varianten, nicht aufgeführt.

[...] [..] [.]

falls nichts anderes vermerkt: unleserliche Wörter; unleserliches Wort; fehlende Zeichen § Paragraph → siehe 1x einmal 2°; 4°; 8°; 12° Formatangaben 19t neunzehntes (Jahrhundert) A. A. a. a. O. Abt. a. d. a. D. A.d.B. a. M. Abschn. akad. allg. amerik., amerikan.

Auswärtiges Amt am angegebenen Ort Abteilung an der außer Diensten Allgemeine deutsche Bibliographie am Main Abschnitt(es) akademisch(e) allgemein amerikanisch

Ang. d. Vfs. v. Angabe des Verfassers vom apl. außerplanmäßig(er) Art. Artikel AT Altes Testament Aufl. Auflage Aug. August B.G.B., BGB Bd., Bde. bearb. belg. BGB bl. brit. bzw. ca. cap. Cb 54

chap.

Bürgerliches Gesetzbuch Band, Bände bearbeitet belgisch Bürgerliche Gesetzbuch blühte [hist.-fachsprachlich svw. „wirkte“] britisch beziehungsweise cirka (ungefähr) capitulum [lat.: Kapitel] [= Signatur des TönniesNachlasses in der SHLB; vgl. Zander 1980] chapter

XVI

Abkürzungen und Siglen

christl.

christlich

d. D. d. Ae. dän. DDP

dt., dtsch. Dtschld. DVP

das, der, die Doktor der Theologie der Ältere dänisch Deutsche Demokratische Partei dergleichen derselbe Dezember Deutsche Forschungsgemeinschaft dergleichen, desgleichen mehr Deutsche Gesellschaft für Soziologie das heißt das ist dieselbe Deutsch-Nationale Volkspartei Doctor philosophiae [lat.: Doktor der Philosophie] Doktor Deutsches Reich Doctor juris [lat.: Doktor des Rechts] deutsch Deutschland Deutsche Volkspartei

e. ebd., ebda. ed. eigenh. eigentl. eingel. engl. entspr. et al. ev. e. V.

eine ebenda ediert eigenhändig(e) eigentlich eingeleitet englisch Entspricht, entsprechender et altera [lat.: und andere] evangelisch eingetragenerVerein

f. Fasc. Feb. federf. ff. Fn

nur [eine] folgende [Seite] Fascikel (Schriftenbündel) Februar federführend(er) [mehrere] folgende [Seiten] Fußnote

dergl. ders. Dez. DFG dgl. m. DGS d. h. d. i. dies. DNVP Dr. phil. Dr. D. R., D R Dr. jur.

franz. Frfr. Frhr. frz. Fs FTG Fußn. GB GdN geb. Geb. Geh. Ges. gest. Gf ggf. Gm. GO. goth. gr., griech. Gr. Herz. Gs.

französisch Freifrau Freiherr französisch Fürst Ferdinand-TönniesGesellschaft Fußnote Gesetzbuch Geist der Neuzeit (Tönnies 1935) geboren Gebrüder Geheimer Gesellschaft gestorben Graf gegebenenfalls Gemeinschaft Gewerbeordnung gothisch griechisch Großherzogtum Gesellschaft

handschriftl. Herz. Hg., Hgg.

handschriftlich Herzogtum Herausgeber, herausgegeben Hlg., hlg. Heiliger, heilig holl., holländ. holländisch Hr. Herr HwSt. Handwörterbuch der Staatswissenschaften i. A., i. a. ib. i. g. i. J. insb. internat. i. O. ir. ital., italien. i. W.

im allgemeinen ibidem [lat.: ebendort] im Ganzen im Jahr insbesondere international(es) im Original irisch italienisch in Westfalen

J. Jhdt. Jg.

Jahr Jahrhundert Jahrgang

XVII

Abkürzungen und Siglen Jhdt(s).

Jahrhundert(s)

kath. kl.

katholisch klein

lat. lib. löbl. luth.

lateinisch liberal, liber [lat.: Buch, Schrift] löblich(e) lutherisch

M. A. m. a. W. MdR mexik. Ms., M.S. m. W.

Magister artium ( mit anderen Worten Mitglied des Reichstages mexikanisch Manuskript meines Wissens

n. Chr. nationalsoz. Nat.ök. ndl. ndt. Neudr. NF niederdt. nl. no. norweg. Nov. Nr. NS NSDAP N.S.D.St.B NT o., od. o. D. öffentl. öff. Meinung o. J. Okt. ö. M. (oe. M.) Ö. M. (Oe. M, Öff. M.) o. O. o. ö. Prof.

österr. o. V.

österreichisch ohne Verfasser[angabe]

p. Pfd. p. m.

pagina [lat.: Seite] Pfund pro mille [lat.: von Tausend, ‰] politisch polnisch portugiesisch preußisch Professor propositio [lat.: Lehrsatz] Preußisches Strafgesetzbuch

polit. poln. port. pr., preuß. Prof. prop. PRStGB

Quart.

Quarta

nach Christi Geburt nationalsozialistisch Nationalökonomie niederländisch niederdeutsch Neudruck Neue Folge niederdeutsch niederländisch number, Nummer norwegisch November Nummer Nationalsozialismus nationalsozialistische Partei Deutschlands Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Neues Testament

Rb. reg. Reichsfrhr Rel. repr. resp.

Regierungsbezirk regierte Reichsfreiherr Religion reprint respective (beziehungsweise) revidiert(e) Die Religion in Geschichte und Gegenwart (Schiele/ Zscharnak 1910 −1913) Reichsmark römisch Reichsstrafgesetzbuch russisch

oder ohne Datum öffentlich öffentliche Meinung ohne Jahresangabe Oktober öffentliche Meinung

sc. Sch.-H., Schl.-H. Schleswig-Holstein schleswig-holst. schleswig-holsteinisch scho. Scholion [gr.: Auslegung, erklärende Randbemerkung] schott. schottisch schwed. schwedisch schweiz. schweizerisch serb. serbisch S-H Schleswig-Holstein

Öffentliche Meinung ohne Ortsangabe ordentlicher öffentlicher Professor

rev. RGG

RM röm. RStrGB russ. s. S. s. a.

siehe Seite siehe auch; sine anno [lat.: ohne Jahr(esangabe)] scilicet [lat.: nämlich]

XVIII SHLB s. o. sog., sogen. Sp. span. SPD SS St. s. T. St. d. dt. R. Str. Str.GB s. u., s. v. svw. T. Test. TG

Abkürzungen und Siglen Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek zu Kiel siehe oben sogenannt Spalte spanisch Sozialdemokratische Partei Deutschland Sommersemester Sankt sub titulo [lat.: unter dem Titel] Statistik des Deutschen Reiches Straße Strafgesetzbuch siehe unten, siehe unter soviel wie

TN

Tausend; Teil Testament Tönnies-Gesamtausgabe, s. Tönnies 1998, 2000a, 2000b, 2002 Tönnies-Nachlass

u. u. a. u. a. m. übers. u. dgl. m.

und unter anderem und andere(s) mehr übersetzt und dergleichen mehr

u. d. N. u. d. T. Univ. unters. u. ö. urspr. USA u. s. f. u. s. w. u. v. a. m. v. v. Chr. Verf. vergl. Ver. Staaten vgl. v. H. vmtl. vol. vols. Voss. V. St.

unter dem Namen unter dem Titel Universität untersucht und öfter ursprünglich United States of America und so fort und so weiter und vielen anderen mehr von vor Christi Geburt Verfasser vergleiche Vereinigte Staaten vergleiche von Hundert, % vermutlich volume [Band] volumes [Bände] Vossische Zeitung Vereinigte Staaten

weibl. Wis. WS

weiblich Wisconsin Wintersemester

z. B., z. Beispiel z. T. zw. z. Zt.

zum Beispiel zum Teil zwischen zur Zeit

Vorwort Der zweite Halbband der nachgelassenen Schriften von Ferdinand Tönnies enthält die Texte, die zwischen den Jahren 1919 bis 1936 entstanden sind. 1936 war das Todesjahr von Tönnies, 1919 markierte eine Zäsur in der jüngeren deutschen Geschichte: der Erste Weltkrieg war in der militärischen Niederlage zu Ende gegangen. Zu Ende gegangen war in der Novemberrevolution von 1918 auch die Monarchie als Staatsform. Die Demokratie als neue Staatsform begann in Gestalt der Weimarer Republik. Die nachgelassenen Schriften – nicht anders als die publizierten Werke von Tönnies – lassen thematisch diesen Umbruch und die neue Zeit mit ihren charakteristischen Problemen erkennen. Revolution und Wirtschaftselend, Demokratieverständnis und öffentliche Meinung fanden Tönnies’ erhöhte Aufmerksamkeit. Zunehmend schärfte sich sein Blick für die Gefahren, die die Weimarer Republik bedrohten, insbesondere die im deutschen Nationalismus lauernde Gefahr, die schließlich durch Hitler und den Nationalsozialismus zum Untergang der Weimarer Republik führen sollte. Obgleich nun, ausgelöst durch die politische Neuordnung nach 1918, neue Themen in den nachgelassenen Texten ebenso wie im publizierten Werk in den Vordergrund traten, blieben doch Tönnies’ alte Interessen hier wie dort die festen Anker seines Werkes: Hobbes und Marx, die soziologische Theorie über die Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft, Sozialpolitik und Soziographie und hierin die alten Forschungsschwerpunkte wie Moralstatistik oder Bevölkerungsbewegungen. Selbst die von Tönnies seit jeher bevorzugten literarischen Textformen wie Monographie, Rezension, Nachruf, Vortrag, Preisschrift, Aufsatz usw. blieben in den Proportionen erhalten, die sein Werk von Anfang an bestimmt haben. In thematischer oder formaler Hinsicht also zeigen Tönnies’ nachgelassene Schriften gegenüber seinen publizierten Werken das gleiche Profil. Von einer Ausnahme abgesehen, auf die noch einzugehen sein wird, gibt es keine Überraschung. Man könnte annehmen, dass mit dem Jahr 1933 eine merkliche Divergenz zwischen den publizierten und den nachgelassenen Schriften eingetreten wäre. Immerhin gehörte Tönnies zu den Verfolgten des NS-Regimes und

XX

Vorwort

wurde sofort das Opfer drakonischer Maßnahmen. Es gibt aber keine großen Überraschungen in den nach 1933 von Tönnies verfassten Schriften; auch ist in diesen Jahren keine Divergenz zwischen den publizierten und den im Nachlass verbliebenen unveröffentlichten Schriften erkennbar. Unter letzteren hätte man vielleicht politische Abrechnungen mit Hitler und dem Nationalsozialismus erwartet: Texte, für den Nachlass verfasst als geheime Auseinandersetzung mit dem gehassten Führer-Regime und als Vermächtnis für spätere, freiere Zeiten. Solche Auseinandersetzungen führte Tönnies in erbitterter Weise vor dem Machtantritt Hitlers, und auch der Nachlass enthält solche polemischen Texte, deren Veröffentlichung von den Medien gegen Ende der Weimarer Zeit abgelehnt worden war. Nach 1933 aber verstummt Tönnies’ schriftliche Auseinandersetzung mit dem neuen Regime, und auch der Nachlass enthält solche Texte nicht. Stattdessen wendete sich seine schriftstellerische Arbeit den Feldern zu, auf denen er von Anfang an geackert hatte (über Hintergründe, die Tönnies’ Situation nach 1933 bestimmten, vgl. Zander 2001). Eine Ausnahme und Überraschung stellt Tönnies’ nachgelassene Schrift „Neue Botschaft“ dar. Sie steht am Anfang des 2. Halbbandes und war als Preisschrift verfasst, die indessen von den Juroren keinen Preis erhielt. Die außerordentliche Stellung dieses Textes innerhalb des gesamten Werkschaffens von Tönnies wird im Editorischen Bericht (S. 614−628) näher beleuchtet. Aufbau des Bandes Da der Umfang der für die Publikation bestimmten Nachlasstexte den Band 23, der vom Editionsplan der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe (TG) ursprünglich vorgesehen war, bei weitem gesprengt hätte, wurde eine Teilung des Nachlassbandes in zwei Halbbände erforderlich (23/I und 23/II). Dem vorliegende Halbband mit den ab 1919 verfassten Texten wird später der Halbband 23/1 mit den nachgelassenen Schriften zwischen 1880 bis 1918 folgen. Der Nachlassband folgt in seiner formalen Gestaltung den Editorischen Richtlinien der TG, die auf alle Bände der Gesamtausgabe angewendet werden. Ihre Elemente werden nachfolgend nur kurz vorgestellt, des näheren aber im Apparat am Ende des Bandes erläutert („Editorischer Bericht: Allgemeiner Teil“). Dort werden auch die besonderen Regeln dargestellt, nach denen das autographe Material des Nachlasses (die „Manuskripte“) transkribiert und zum Drucktext transformiert wurde.

Vorwort

XXI

(1) Wie in allen übrigen Bänden der TG, lassen sich auch die zwischen 1919 und 1936 im Nachlass überlieferten Texte unschwer nach folgenden Textsorten gliedern: Monographien; Schriften; Rezensionen. Selbstverständlich kann die Zuordnung von Nachlassschriften zu solchen Formkategorien, wie sie den bibliographischen Standards veröffentlichter Werke zu Grunde liegen, nur cum grano salis vorgenommen werden. Denn die nachgelassenen Schriften konnten vom Autor zu Lebzeiten nicht zum Druck befördert werden und entbehren also dieser durch die Veröffentlichung zustande gekommenen Merkmale. Gleichwohl ist die Zuordnung zu solchen Textsorten möglich, wenn man auf die Intention des Autors sieht. Selbst wenn Nachlasstexte – was ja häufig der Fall ist – sich nur fragmentarisch erhalten haben, kann man ihnen meist die Veröffentlichungsform anmerken, die der Verfasser im Auge hatte. In diesem Sinn kann man Nachlasstexte, die durch Beteiligung an Preisaufgaben entstanden sind, als Monographien ansehen: denn vermutlich wären sie als selbständige Schrift publiziert worden, wenn sie den Preis gewonnen hätten. Ähnliches gilt für Schriften, die als Besprechung der Werke anderer Autoren intendiert waren (Rezensionen). Sie hätten – wenn sie zu Lebzeiten des Autors als Rezensionen veröffentlicht worden wären – die für diese Textart standardisierte Form erhalten (meist statt einer eigenen Überschrift nur die bibliographische Angabe des rezensierten Werkes). Die drei im vorliegenden Band als Rezensionen eingeordneten Texte haben diese Form nicht, lassen aber gleichwohl Tönnies’ Absicht erkennen, das Werk eines anderen Verfassers zu besprechen. Alle anderen Arbeiten, die im vorliegenden Band veröffentlicht und nicht als Monographie oder Rezension einsortiert sind, werden – gemäß den „Richtlinien der TG“ – als „Schriften“ eingeordnet. Im übrigen weisen die Formen der Veröffentlichung, die ja nicht frei von Verlegern und Buchhandel erfunden wurden, auf literarische Formen zurück und damit auf die Intention der Schriftsteller und Verfasser. Die Aufeinanderfolge mehrerer Texte einer Textsorte erfolgt chronologisch nach ihrem Entstehungsdatum. (2) Um den Originaltext von herausgeberischen Zeichen freizuhalten (Ausnahmen siehe Transkriptionsregeln, S. 598−604), werden die zu erläuternden Textstellen über ein Lemma (sinnvolles Textbruchstück) und die Zeilenzählung am Innenrand des Originaltextes mit dem Anmerkungsapparat am Fuß jeder Seite verbunden. Anmerkungsapparat und Originaltext sind durch einen Halbstrich getrennt, das Lemma ist kursiv gesetzt.

XXII

Vorwort

Fußnotenzeichen innerhalb des Originaltextes (hochgestellte Zahlen) weisen auf Originalfußnoten von Tönnies selbst hin, die unterhalb des Originaltextes (über dem Halbstrich) stehen. Alle von Tönnies selbst hervorgehobenen Textstellen werden stets in Kursivschrift dargestellt. Besonderheiten der Rechtschreibung und Zeichensetzung werden im Editorischen Bericht (Erster Teil: Allgemeines) erläutert. (3) Die Anfangsanmerkung jedes Textes stellt seine Grundmerkmale vor: Fundort und Signatur des Manu- bzw. Typoskripts; seine Beschreibung nach Umfang, Format, Ordnungszustand, Vollständigkeit und Besonderheiten zum Befund und zur Überlieferung; sodann Angaben zur Entstehung des Textes und Entstehungsdatum; ggf. weiterführende Hinweise. (4) Komplizierte und umfängliche weitere Angaben zu einem Nachlasstext finden sich im Editorischen Bericht (Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten). (5) Des weiteren werden die Originaltexte erschlossen durch das Personenund Sachregister, das Literatur- und andere Verzeichnisse im Apparat am Ende des Bandes. Inhaltsverzeichnisse nach Abteilungen und Sachgebieten (am Anfang des vorliegenden Bandes) geben eine erste Orientierung über Tönnies’ nachgelassene Schriften 1919−1936. Zu den Einzelheiten der Register und ihre Verbindung zu den Originaltexten s. Editorischer Bericht (Erster Teil: Allgemeines).

Wem Dank gebührt Dank gebührt drei Institutionen und den in ihnen arbeitenden Menschen, ohne deren jahrzehntelange Unterstützung der vorliegende Band nicht hätte erarbeitet werden können: dem Land Schleswig-Holstein und seinen Landesregierungen; der SchleswigHolsteinischen Landesbibliothek; der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e. V. in Kiel. Das Land Schleswig-Holstein hat seit langen Jahren die ehrenvolle Pflicht erkannt und tatkräftig wahrgenommen, seinem großen Sohn Ferdinand Tönnies in der öffentlichen Wahrnehmung die Stellung zu verschaffen, die ihm als bedeutenden Gelehrten, Mitbegründer der Soziologie, Streiter gegen soziale Ungerechtigkeiten im Wilhelminischen Reich und tapferen Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gebührt.

Vorwort

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Die Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek verwaltet mit großem Engagement den schriftlichen Nachlass von Tönnies und das dazugehörige umfangreiche Archiv von Büchern und Materialien, denen auch die dem vorliegenden Band beigefügten Abbildungen entnommen sind (die urheberrechtliche Genehmigung zur Publikation des feinsinnigen Tönnies-Porträts von Käte Lassen ist Herrn Prof. Dr. Peter Hansen in Hannover geschuldet). Herrn Professor Dr. Dieter Lohmeier, dem Direktor des Hauses, gebührt Dank dafür, dass er nie versäumt hat, den an ihn gerichteten Bitten zur Förderung der Nachlassbearbeitung und der Edition der Gesamtausgabe bereitwillig nachzukommen. Die Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft ist seit Jahrzehnten durch Veranstaltungen und publizistische Arbeiten ein Fundament kontinuierlicher Beschäftigung mit ihrem Namenspatron. Sie leistet zudem die formalen und juristischen Voraussetzungen für Projekte, die Tönnies gelten, so auch die Trägerschaft der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe. Der stets einsatzbereite Geschäftsführer der Gesellschaft, Uwe Carstens, in dieser seiner Arbeit selten hervorgehoben, verdient namentlich genannt zu werden. Außer diesen drei Institutionen gebührt Dank auch der Alpen-AdriaUniversität in Klagenfurt, die durch die Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle an der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung (IFF) die Lektoratsarbeit an der TG unterstützt. Ferner sei namentlich gedankt: dem die Bände der TG lektorierenden Rolf Fechner, da er die undankbarste Arbeit bei der Entstehung der Tönnies-Edition übernommen hat, nämlich als ‚Merker‘ über die Einhaltung der editorischen Richtlinien zu wachen. Nicht leicht ist es, sich aus dem ‚Gemerk‘ heraus die Freundschaft der Bandherausgeber zu erhalten; und doch ist diese Arbeit wichtiger Bestandteil einer kritischen Edition; dem federführenden Gesamtherausgeber Lars Clausen, der mit Wärme und Noblesse das schwere Fahrwasser, in das ein größeres Editionsunternehmen notgedrungen geraten muss, zu meistern weiß; den durch Zuspruch, Wohlwollen und Interesse an unserer Arbeit Anteil nehmenden Freunden und Kollegen, die auf diese Weise das eigentlich ja ziemlich solitäre Geschäft des Herausgebens fremder Texte gemeinschaftlich durchwärmt haben. Namentlich hervorgehoben seien: Alexander Deichsel, dessen ansteckendem Optimismus und Glauben an Tönnies sich kaum einer zu entziehen weiß; Arno Mohr, dem offenen und aufrechten Mitstreiter aus Heidelberg, der seine überaus verdienstvollen umfangreichen wissenschaftlichen Arbeiten in bewunderungswürdiger Weise

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Vorwort

neben seinem schweren täglichen Beruf als Pfleger in der Rehabilitationsarbeit von Unfallopfern leistet; Rainer Waßner, dem getreuen Compagnon aus Hamburg und wackeren Wegbegleiter über lange Jahre, der so viel für die Wissenschaft und insbesondere für Ferdinand Tönnies geleistet hat, aber nicht seinen Verdiensten entsprechende Würdigung fand. Gedankt sei ebenfalls all jenen, die hier ungenannt, nicht aber unerinnert sind als Helfer in so mancher Frage zu den Texten, bei der wir ratlos blieben. Auch sie haben zum Entstehen des Bandes beigetragen. Gettorf bei Kiel, den 27. Januar 2005

Brigitte Zander-Lüllwitz und Jürgen Zander

I. Monographien

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Einleitung

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Ein ungeheures Erlebnis drängt den denkenden Europäer zur Besinnung über sich selbst, über seine Vergangenheit und Zukunft. Die Mahnung des Orakels „Erkenne dich selbst“ tönt erschütternd an sein Ohr. Er weiß längst, daß er in einer äußeren Umgebung lebt, die von derjenigen seiner Vorfahren sehr verschieden ist. Alle Gesittung, die mehr als 100 Jahre alt ist, ruhte auf anderen Grundlagen. Daß die neuen Grundlagen für eine ebenso echte und starke Gesittung tragfähig sind, haben sie noch nicht bewährt. Bisher ist ihr Aufbau nur durch Zerstörungen, Sprengungen, Auflösungen der festesten Quader des geistigen, sittlichen Lebens geschehen. Die Technik, der Stolz dieser Jahrhunderte, wurde zumeist nur betrachtet als Technik der Herstellung von Gütern. Niemals hatte man sich vergegenwärtigt, in welchem Umfange sie auch Technik der Vernichtung von Gütern ist. Und wie sie Güter spielend vernichtet, so Menschen und andere organische Wesen, die sie nicht herzustellen vermag. Und nicht nur Güter, die sie wiederherzustellen vermag, sondern auch solche, denen sie wie Gebilden der Natur ohnmächtig gegenübersteht, erliegen leicht der planmäßigen, massenhaften, vollkommenen Zerstörung. Aber auch die produktive Technik hat ihre Kehr- und Schatten-Seite, indem sie Landschaften, Gebäude, Geräte verhäßlicht und mannigfache Disharmonien ins Leben trägt. Sie enthält in ihrer überwältigenden Größe viele Elemente, die dem gesunden Zusammenleben der Menschen feindlich oder doch höchst

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Einleitung: Textnachweis: TN, Cb 54.34:34. – Das Manuskript (in groß 4°, Bogen I−XVII, S. 1−68) enthält die Ursprungsfassung des Textes, dessen Entstehung 1919/1920 durch eine Preisaufgabe des Walker-Trustes an der Universität St. Andrews in Schottland veranlasst wurde. Dem Manuskript fehlen die Schlussseiten. Vollständig erhalten ist jedoch eine unmittelbar nach dem Manuskript entstandene Maschinenabschrift. Das Typoskript trägt die Signatur Cb 54.34:38 und besteht aus Blatt 1−54. – Die vorliegende Fassung gibt Tönnies’ spätere Bearbeitung der Ursprungsfassung zwischen den Jahren 1920−1925 wieder. Alles Weitere zur Textsituation, Textgeschichte und Entwicklung der verschiedenen Kopftitel des Textes im Editorischen Bericht S. 614−628. „Erkenne dich selbst“: Inschrift am Apollontempel in Delphi, die von einem der sieben Weisen des Altertums stammen soll (gr. Gnîϑi seautÒn, gnóthi seautón).

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gefährlich sind. Sie ballt die Arbeiter in Massen zusammen, macht die Arbeit zur Dienstleistung am Gerät und mechanisiert sie vollends durch Berechnung der für jede Handbewegung erforderlichen Zeit, um die aller naturgemäßeren Arbeit naturgemäß entsprießende Schaffensfreude zu töten. An die Stelle der Erholung im Familienleben und im heiteren Gespräch mit Freunden tritt die Erschlaffung nach quälender Anspannung und das Bedürfnis starker physischer und psychischer Reizmittel, um dieser Erschlaffung zu wehren. Der für Lebenszeit Unselbständige fühlt sich als Proletarier gedrückt. Vielfach droht ihm überdies die Gefahr, im reiferen Mannesalter schon als ungeeignet zu gelten und abgestoßen zu werden; im höheren Alter [2] winkt ihm günstigen Falles eine dürftige Rente, ungünstigen Falles das Werkhaus. Wohl bedeutet die staatliche Versicherung oder die Alterspension ohne Versicherung eine große Verbesserung, aber was sind die Renten wert, nachdem durch langen schweren Krieg das Geldwesen zerrüttet, der Wert des Geldes tief gesunken ist? Der dumpfe Groll, der eine große Menge der Arbeiter seit hundert Jahren mehr und mehr in ihrem Wünschen und Wollen verbündet, war durch den Anteil, den sie am mächtig wachsenden Reichtum der Nationen gewonnen und durch ihnen günstige Gesetzgebung gemildert worden; aber schon vor dem Weltkriege hatte er, bei erschwerter Lebenslage, häufigerer Arbeitslosigkeit, verschärftem Widerstand der Unternehmer, wiederum sich verdichtet. Die furchtbaren Erfahrungen der letzten Jahre haben Erbitterung und Verzweiflung genährt, und an allen Enden des sozialen Welthorizontes ziehen schwere Gewitter auf. Die Hoffnung auf eine verbesserte, ja ideale Gestaltung des sozialen Lebens, durch Theorien und Lehren mannigfach gestärkt, ergreift um so weitere Kreise, je näher ihre mögliche Erfüllung zu rücken scheint. Die politische Macht der großen Menge, überall durch allgemeines Wahlrecht gesteigert, durch den harten Kriegsdienst „für das Vaterland“ in helleres Bewußtsein erhoben – in besiegten Staaten überdies durch Umwälzung der Verfassungen betätigt und ermutigt – meint, durch entschlossenes Wollen zur endlichen Befreiung des Proletariates, zur Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise zu gelangen. Schwere Enttäuschungen können um so weniger ausbleiben, da ein zerrütteter blutleerer Wirtschaftskörper gewaltsame Operationen, „heroische Kuren“ unmöglich verträgt, denen ein normaler und kraftvoller vielleicht gewachsen wäre. Das Empfinden und Verhalten der höheren sozialen Schichten ist höchst mannigfach. Teils leiden sie unter denselben Uebeln und Lasten, von denen die Arbeiterklasse sich bedrückt fühlt; sogar in den siegreichen Ländern

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bleibt die düstere Sorge hinter dem triumphierenden Reiter sitzen. Manche aber, die denken und erkennen, blicken mit dem Schauder in die Zukunft, den die Gefahren des Unterganges jener Gesittung, die wir von unseren Vorfahren überkommen haben, erregen müssen. [3]

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triumphierenden Reiter: Anspielung auf die „vier apokalyptischen Reiter“ (NT, Apokalypse 6, 1−8): „Der erste hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone, und er zog aus sieghaft, und daß er siegte. Dem zweiten ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde. Der dritte hatte eine Wage in der Hand. Und ich hörte eine Stimme unter den vier Tieren sagen: Ein Maß Weizen um einen Groschen und drei Maß Gerste um einen Groschen. Der vierte: des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach“.

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Denn in Wahrheit handelt es sich um eine große Kulturkrise, die schon längst sich vorbereitet hatte, von Einzelnen erkannt und vorausgesagt, durch die Katastrophe der 5 Jahre ihr Medusenhaupt enthüllt hat. Sie liegt begründet im Fortschritt selber: in der Entwicklung von einfachen zu verwickelten und mannigfachen Zuständen des Zusammenlebens; in Vermehrung und Verdichtung der Volksmengen; im Ueberwuchertwerden der Hauswirtschaft, des Ackerbaus, der Viehzucht und aller Urproduktion durch Gewerbefleiß und Handel, der ländlichen durch städtische, vollends durch großstädtische Lebens- und Arbeitsweisen; in der Ausdehnung des Handwerks und fabrizierenden Kleinbetriebes zur Heimindustrie und großen Manufaktur, endlich zur mechanischen Fabrik, die von der Werkzeugmaschine beherrscht wird; in der zunehmenden Macht des Geldes, das als Kapital, im Handel, im Bankwesen, endlich und hauptsächlich in Produktion und Verkehr die Volkswirtschaft seinem Interesse gemäß lenkt, und unter Umständen – wenn auch die Absicht nicht klar bewußt werden mag – um eines solchen Interesses willen sogar den Krieg und die Vernichtung befördert. Der „Kapitalismus“ ist nur der neueste und schärfste Ausdruck für die alte Tatsache, daß der Vermögenslosigkeit der großen Menge ein massenhafter Reichtum Weniger gegenübersteht, und daß dieser Reichtum, zwar vielfach durch Erbteilungen und Krisen vermindert und verschoben, doch überwiegende Chancen hat, seinem Streben gemäß sich immer stärker in dem Sinne zu vermehren, daß ein größerer Anteil des gesamten Jahresproduktes von Boden und Arbeit den Arten des Einkommens zufällt, die aus dem Eigentum an Land und Kapital, nicht aus eigener Mühe und Tätigkeit stammen. Am meisten gemeinschädlich macht sich der „Kapitalismus“ geltend durch den Einfluß, den er auf die innere Politik auszuüben beflissen ist und wirklich in weitem Umfange ausübt; und durch üble Wirkungen auf Geist und Sittlichkeit.[4] So hat diese ökonomische Entwicklung eine politische Entwicklung in ihrem Gefolge, die durch das Wort „Plutokratie“ bezeichnet wird. Sie wird um so mehr als Uebel empfunden, da sie keine wirkliche Staatsform ist, so daß die „Herrschenden“ keine Verantwortung tragen; vielmehr wirkt sie

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am liebsten unter der Hülle der „Demokratie“, die ihren Formen nach den entschiedendsten Gegensatz bedeutet. Es entspringt daraus eine durchgehende Unwahrhaftigkeit, die das Staatsleben vergiftet; Bestechlichkeit und Fälschung werden anscheinend unausrottbare Erscheinungen. Der Beruf des Gesetzgebers wird von ehrenhaften Staatsbürgern gescheut, wenn nicht verabscheut. Parallel mit diesen Entwicklungen und unter ihrem Einfluß vollzieht sich die Umgestaltung der sittlichen Seite des Zusammenlebens. Sie wird bezeichnet durch die immer mehr verschärfte Ausbildung des Privateigentums und des daran hängenden Privatinteresses auf der einen; durch das Ringen der Einzelnen in der großen Menge um ein erträgliches und verbessertes Leben auf der anderen Seite. Die Klassenscheidung wird um so schärfer, je größer und weniger überbrückbar die Abstände, je mehr die verbindenden Lebenszustände und Gefühle sich vermindern, je rücksichtsloser jeder durch den Wettbewerb derer, die sich um ihn nicht bekümmern, nur an sich selber zu denken genötigt wird. Der Klassen-Kampf gehörte schon vor dem Weltkriege zur Signatur des Zeitalters, gehemmt und durchbrochen nur durch den oft nicht minder heftigen Konkurrenz-Kampf innerhalb jeder Klasse. Verbindend wirkte ehemals das einträchtige Zusammenwirken in engen Kreisen, wie oft es auch in Zwietracht entarten mochte; verbindend wirkte die Sitte des Volkes, in der sich das uralte Bewußtsein gemeinschaftlichen Seins, gemeinschaftlicher Habe und Tätigkeit, hie und da auch heute noch erhalten hat; verbindend wirkte die Religion als gemeinschaftlicher Glaube, gemeinsame Verehrung höherer Mächte, gemeinsamer Genuß heiliger Güter in Andacht und Demut. In den höchst entwickelten Ländern stehen die Menschen am ausgesprochensten als Individuen einander gegenüber. Sie stehen in zahlreichen Verhältnissen und Verbindungen miteinander, aber das vorwaltende Band ist das gemeinsame Interesse, d. i. der Nutzen eines [5] jeden, der zufällig auch der Nutzen eines anderen (oder vieler anderer) ist; so kommen von jeher auch die einander fremden und innerlich feindseligen Individuen zusammen. Es ist das Band, welches Carlyle das der Barzahlung – das cash payment – nannte, ein Band so mächtig und stark, wie der den Erdball umspannende, wie den geringsten Dorf-Jahrmarkt beherrschende Handel und Verkehr mächtig und stark ist. Aber ein Band, das sehr verschieden

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cash payment: Vgl. Carlyle 1840.

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ist von dem Bande der Harmonie, das die verwandten Seelen zusammenklingen läßt, sehr verschieden von der naturwüchsigen, durch Kultur veredelten Gemeinschaft des Lebens, die als überlegene Einheit empfunden und gedacht wird. So wird mitten in den glänzendsten Fortschritten der Zivilisation das Morschwerden ihrer Fundamente erkennbar. Seine tragische Gestalt gewinnt dies Morschwerden am augenfälligsten in der überall beobachteten Zerrüttung der Ehe und also der Familie. Gedanken, Mühen, Kosten werden nicht gescheut, um die Schul-Erziehung und -Bildung der Jugend vollkommener zu machen, und es gelingt in hohem Maße. Aber die häusliche Erziehung, die Erziehung des Herzens und Gemütes, worin die Bildung des Willens und Charakters beruht, leidet durch die zunehmende Entfremdung zwischen Mann und Weib, die in verschärfter Bewußtheit beider, insbesondere der Frau, ihren Grund hat; die Entfremdung geht all zu leicht in Feindseligkeit über. Schuld und böses Gewissen machen diese unheilbar, Ehescheidung wird als Erlösung begrüßt. Die in solcher Ehe oder zwischen den Trümmern solcher Ehe erwachsenden Kinder werden des wärmenden und nährenden Schoßes der Sittlichkeit beraubt, dessen sie für ihr geistiges Leben so sehr bedürfen, wie die keimende Pflanze des umhüllenden Kernes, wie der animalische Embryo des schützenden Mutterleibes. Kinder, deren Eltern nicht sympathisch-einmütig auf sie wirken, oder die sogar getrennt leben, vollends wenn sie gerichtlich geschieden sind und etwa gar ein Ehebrecher, eine Ehebrecherin als Ersatz-Vater oder Ersatz-Mutter in die leere Stelle tritt, sind in moralischem Sinne oft übler daran, als verwaiste Kinder; und doch weiß jeder Beobachter, was statistische Figuren bestätigen, daß Kinder, die den Vater oder die Mutter oder gar beide früh verloren haben, den Gefahren der Verwahrlosung, der Kriminalität, der Prostitution anheim zu fallen, weit öfter erliegen als solche, die im Schoße einer vollständigen Familie aufwuchsen. Und doch [6] leiden auch diese in ihrer sittlichen Entwicklung vielfachen Schaden durch den veräußerlichten „Geist der Zeit“, also durch die wirtschaftlichen Uebel und Nöte, die ihm zu Grunde liegen.

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zu Grunde liegen: Die hier wiedergegebene Ergänzung aus der Bearbeitung („also durch die wirtschaftlichen Übel und Nöte, die ihm zu Grunde liegen“) ersetzt eine frühere handschriftliche Ergänzung in der Ursprungsfassung, die dort jedoch ungestrichen ist: „durch die Einflüsse der Strasse und des Marktes“.

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Klagen über den Verfall der Sitten und der Religion sind freilich von altersher laut geworden und sind selten ohne Grund gewesen. Der Alternde ist immer geneigt, die Tage seiner Jugend in hellem Lichte zu sehen und das Vergangene für besser zu halten als das Gegenwärtige; es ist aber auch immer wahrscheinlich, daß unter dem, was er schwinden sieht, Wertvolles sowohl als Geringes sich findet. Aehnlich verhalten sich immer die Stimmungen des „platten Landes“ und seiner altangesessenen Bewohner zu den beweglichen Elementen der Stadt: sie blicken oft mit Mißfallen und Bedenken darauf, sie bemerken, daß die Städter von den strengen Anschauungen und Sitten sich lösen, von deren Bindungen sich befreien, den religiösen Ernst des stilleren Lebens durch laute Vergnügungen zersetzen. Darum rühmt sich der Ackerbau seiner Frömmigkeit: in Wechselwirkungen mit der Natur und in Demut vor ihren erhabenen Erscheinungen ist der Landmann mehr zur Ergebung und weniger zur Kritik geneigt als der Städter, der des menschlichen Könnens, des eigenen Vermögens bewußter wird, daher auch sein individuelles Denken freier ausbildet. Dies Verhältnis wiederholt und reproduziert sich im Verhältnis, das mehr oder minder alle anderen Bewohner eines Landes zur Großstadt und den Großstädtern gewinnen: hier, zumal in den Städten des Seehandels und den Hauptstädten, in den ungeheuren Menschenansammlungen, die sich zu Weltstädten entwickeln, glauben sie das Verderben des Volkes klar zu erkennen: da ist jeder fast allen anderen fremd, jeder strebt nach Erringung von Vorteilen im Wettlauf, wenn Gelegenheit sich bietet, nach leichtem Gewinn und Reichtum, jeder nach mannigfachen Genüssen, jeder nach dem Neuen und Neuesten, Viele nach Ansehen und Ehre, wenn auch nur als nach Mitteln, Reichtum und Genüsse zu erwerben; jeder verdrängt rücksichtslos den Anderen, der ihm im Wege zu stehen scheint, ja mancher schreitet gleichgültig „über Leichen“ hinweg. Das sind hier die Früchte der höchsten Bildung, der Herrschaft über die Naturkräfte, der Anhäufung aller Schätze der Erde, der Vereinigung von Künsten und Wissenschaften, der Mechanisierung der Arbeit – das der Gipfel der Zivilisation! [7] Aehnlich hat sich auch immer die große Menge des ärmeren und armen, oft schwer gedrückten Volkes zu seinen herrschenden Schichten verhalten,

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die als solche, auch wenn sie auf dem Lande wohnen, immer auch die städtische, oft die großstädtische Bildung und Denkungsart in sich darstellen. Das Volk ist seiner Natur nach beharrender, gemeinschaftlicher, also weniger individualistisch, mehr gebunden in Herkommen und hergebrachter Denkungsart als die Vornehmen und Reichen. So hat immer der Bürgerliche (commoner) dem Adel und seinem Glanze gegenübergestanden, ganz besonders auch der städtische Bürger, wenn er selber zu ehrbarem Wohlstande gelangt, dem in stolzen Herrenhäusern und Jagdschlössern auf dem Lande residierenden „Junker“ – so daß hier das Verhältnis von Stadt und Land durch das Verhältnis der Stände sich umkehrt. Wenn aber in Fürstenhöfen der Landesadel sich versammelt und der Fürst oder König, der an der Spitze thront, das Beispiel ausschweifender Pracht und Schwelgerei gibt, so steht wohl das ganze Land, wenn auch zunächst nur in sittlicher Empörung, dawider auf und wirft die Ehrfurcht, welche sonst den höheren Ständen, zumal den in geweihter Majestät hervorragenden, gezollt wurde, von sich. Auch der geistliche Herrenstand verfällt leicht der gleichen Verdammnis; wenigstens seine hohen Ränge, die oft in ihrer Lebenshaltung mit den anderen Großen des Landes wetteifern. Sind sie Priester einer Religion, die Armut und Entsagung verlangt und verherrlicht, so fällt diese „Verweltlichung der Kirche“ um so beleidigender in die Augen; haben sie besondere Gelübde abgelegt und sich zu gemeinsamem Leben in Abkehr von den Freuden und Versuchungen der Welt verbunden, so wird das Wohlleben, vollends die Lasterhaftigkeit solcher Mönche zugleich verhaßt und lächerlich. Wenn gerade diese Gegensätze durch Jahrhunderte hindurch mächtige Bewegungen ausgelöst haben, so bleibt (oder wird wieder) im ganzen doch der geistliche Herrenstand volkstümlicher und in weitem Umfange auch volksfreundlicher als sein weltlicher Gefährte; möge jener nun durch ehelose, zumeist in dürftiger Lebenslage befindliche Weltgeistliche und Kapläne, oder auch durch verheiratete, oft kinderreiche Pfarrer vertreten sein – jene, weil selber familienlos, um so mehr in der Lage und bereit, an den Familien aller tätigen und [8] hilfreichen Anteil zu nehmen; diese in ihrem Familienleben oft Vorbilder edlerer Gesittung – als soziale Erscheinung muß diese Bedeutung des geistlichen Berufes in ihrer Ganzheit erkannt und gewürdigt werden, wie oft auch die Wirklichkeit hinter der Idee zurückbleibe; die vorwaltende Tatsache wird kein unbefangener Beobachter in Abrede stellen dürfen. Auch die Geistlichkeit, wenigstens die der unteren Stufen, nimmt oft daran teil, wenn die Kleinen gegen die Großen sich ereifern oder gar empören. Wenn sogar das Evangelium die Reichen anklagt, so sind immer

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die wahrhaft frommen Christen von der Neigung beseelt, in ihrem bescheidenen Kreise die Tugend und Ehrsamkeit zu finden, dagegen bei den Ueppigen, Prunkenden die Herzenshärtigkeit, den leichten Sinn, der mehr an das Vergnügen des Tages als an die ewige Seligkeit denkt; oder sogar die schamlose Gleichgültigkeit gegen Gottes Gebot, das freche Niedertreten aller göttlichen und menschlichen Rechte. Wie die Gottseligkeit Trost verleiht in gedrückter Lebenslage, so erhöht sie auch das Selbstbewußtsein, weil sie die Gemeinschaft und das Zusammenleben stärkt. Aehnlich wie ein religiöses kann aber auch ein politisches Bekenntnis, eine mit Begeisterung empfangene und geglaubte Lehre wirken, die das Recht der Armen gegen die Reichen verficht und den Triumph jener vorauskündet. Je mehr der Reichtum als solcher die – sozial unmittelbar, politisch mittelbar – herrschende Macht wird, um so entschlossener kehrt sich Unwille und Kritik gegen ihn und gegen die Korruption, die seine Herrschaft im Gefolge hat. Rasch und leicht geht dann der Gedanke über auf Betrachtung eines früheren Zeitalters, worin man diese Uebel nicht oder wenigstens nicht in gleichem Umfange gekannt habe: in einfachen Zuständen lebte man glücklicher – „kein Bürger so reich, daß er die anderen kaufen könnte, und keiner so arm, daß er sich selbst verkaufen müßte“ (Rousseau) –; der Mittelstand als der gesunde Schoß des Volkstums überwog, das Volk bestand in seiner großen Menge aus Bauern (mochten diese auch von einem Grundherrn abhängig sein) und Handwerkern, nicht aus Proletariern, die von wenigen Kapitalbesitzern, von deren Spekulationen und Launen, Heil und Unheil empfangen müssen. Gegen den erbitterten Kampf ums Dasein, den die Gegenwart zeitigt, erscheint die Vergangenheit als ein Idyll. Diese [9] Betrachtung läßt sich durch nachgewiesene historische Tatsachen der Greuel und Nöte, an denen alle Zeitalter reich sind, nicht wesentlich stören. Wie die Schichten des Volkes, so stehen aber auch ganze Zeitalter und deren geistige Vertreter einander gegenüber. Das „Mittelalter“ blickt mit Mißfallen und Besorgnis auf die Neuzeit und ihren neuen Geist. Lebendig geblieben ist das Mittelalter in den Ständen, deren Wurzeln in ihm festliegen, und in beharrenden Institutionen, vorzüglich in der römisch-katholischen Kirche. Ihre Anhänger können in der Neuzeit nur den verderblichen Abfall erkennen. So stehen sie auch allen Errungenschaften der Technik, des Verkehrs, der kapitalistischen Produktion mit Zweifeln oder sogar mit entschiedener Ablehnung (als „Teufelswerken“) gegenüber, wenn

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(Rousseau): Vgl. Rousseaus „Gesellschaftsvertrag“ (2. Buch, 11. Kapitel; 1885: 59).

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auch manche das Gute anerkennen, das auch für die Zwecke und die Ausbreitung des Reiches Gottes daraus geflossen sei. Naturgemäß stehen die Protestanten insgesamt auf Seite der Neuzeit; aber, wie im Mittelalter schon selber der Gedanke, daß der Weltuntergang und das Herannahen des jüngsten Gerichts in den Lastern der Zeitgenossen sich ankündige, lebendig blieb; so meinte auch der erste protestantische Geschichtsschreiber der deutschen Reformation, Sleidanus, daß das 4. und letzte der vom Propheten Daniel geweissagten Weltreiche nunmehr seinem Ende entgegengehe. Viel lebendiger gedieh diese Anschauung in den täuferischen Sekten und hat sich bis heute vielfach erhalten; bald – in der ursprünglichen Gestalt – daß, infolge der Vermehrung der Sünden und Greuel der Welt die Wiederkunft des Herrn nahe sei und mit ihr das Kommen des 1000jährigen Reiches, an dessen Ende der schließliche Kampf wider den Antichrist und das jüngste Gericht – bald aber so, daß der Antichrist schon da sei (oft, wie von Luther mit dem Papste identifiziert), und daß Christus kommen werde, ihn zu besiegen. Ohne gerade die Vergangenheit, insbesondere das Mittelalter, zu verherrlichen, beruft sich doch auch diese Denkungsart auf die sichtbaren Zeichen zunehmender Verderbnis der Welt. Neben ihr hat längst die Romantik auch in der protestantischen Welt Boden gewonnen. Sie [10] wendet mit Vorliebe den Blick zurück auf das „age of chivalry, of ideal heroism, of picturesque castles and glorious churches and pageants, camps and tournaments, lovely charity and gallant self-sacrifice“1, und verklagt dagegen die Häßlichkeit, die nüchterne Prosa, die Banalität der neueren Kunst und des gesamten Lebens, die Zerstörung der Schönheiten der Natur, die Geistlosigkeit wechselnder Moden. Es braucht hier nur angedeutet zu werden, wie die Neuzeit – ursprünglich die angreifende Partei – sich als die bessere Zeit gegen alle Apologien des Mittelalters behauptet, dem seine Finsternis (dark ages) immer wieder zum Vorwurf gemacht wird; wie ebenso die herrschenden Schichten, insbesondere die des Kapitals, den Glanz des modernen Fortschrittes, „wie wir es herrlich weit gebracht“ in Genüssen, Verkehrsmitteln, Erkenntnissen, – geltend 1

Stubbs, W., The constitutional history of England. Vol. III 614. 6

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erste protestantische Geschichtsschreiber: Vgl. Sleidanus 1669. Im Anschluss an Daniel (2, 36 ff.) wurde das christliche gewordene Imperium Romanum als letztes der vier Weltreiche vor dem bevorstehenden Gottesstaat begriffen. „… herrlich weit gebracht“: Vgl. Goethe 1998: 3. Bd., 26 (Faust, Der Tragödie erster Teil: Nacht). Vol. III 614: Das Zitat konnte a. a. O. nicht nachgewiesen werden.

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machen gegen die Liebhaber älterer Zustände; wie die Reichen und Gebildeten mitleidig oder gar mit Verachtung auf das arme unwissende und „zurückgebliebene“ Volk hinabsieht; wie die Städter, insbesondere die Großstädter, ebenso zum Landvolk sich verhalten, dessen „primitive“ Zustände und Einfalt ihnen oft lächerlich sind, zuweilen Aergernis erregen; wie endlich in jeder Generation, zumal in einer so „raschlebenden“ Zeit wie der unseren, die Jungen sich fortgeschritten vorkommen im Vergleich mit den Alten, wie sie deren Anschauungen als „rückständig“ bemängeln, nicht selten verspotten, ihre eigenen Meinungen als die „modernen“, als gesichert durch die neuesten Ergebnisse der Wissenschaft verkünden! –

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So stehen sich überall, im Handeln und Reden, in Praxis und Theorie, die 2 Parteien gegenüber: die Partei des Hergebrachten, [11] Ueberlieferten, durch Erfahrung Bewährten (des Alten) und die Partei des Erkannten, Erfundenen, durch Vernunft-Erkenntnis Gedeckten (des Neuen). Die Parteien wollen und wünschen nicht nur Verschiedenes (in der Regel Entgegengesetztes); eben wegen ihres Wollens urteilen sie auch verschieden. Den entgegengesetzten subjektiven Urteilen gegenüber gilt es für den Denkenden, ein objektives Urteil zu gewinnen; er muß sich zu diesem Behuf über die Parteien erheben. Dies wird nur vermögen, wer seine Aufmerksamkeit und Absicht besonders darauf eingestellt und in der Kunst solchen Denkens Uebung gewonnen hat, auch der Grundsätze bewußt ist, nach denen es sich richten muß. Der historische Denker und Soziologe, indem er nicht nur festzustellen sich bemüht (nach Ranke’s Vorschrift) „wie es eigentlich gewesen“, sondern vor dem und vor allem, „wie es eigentlich ist“. Das Studium der uns umgebenden Wirklichkeit, des sozialen Lebens, an dem wir teilhaben, ist die Voraussetzung jeder reinen und ernsten Erkenntnis der Geschichte; wie nach Lyell, die „causes now at work“ erforscht werden müssen, um die Entwicklung des Erdkörpers zu verstehen; wie der Psychologe von der Beobachtung seines ihm gegenwärtigen Selbst ausgehen muß, um in die Seelen der anderen Menschen, ja auch in die der Tiere und Pflanzen sich „einzufühlen“. Mit allen Fortschritten der Wissenschaft ist auch die Wissenschaft des sozialen Lebens im 19ten Jahrhundert entwickelt worden; sie hat ihre Grundlagen gefunden. Sie müssen wir befragen, um die Natur des gegenwärtigen Zeitalters, daher auch um das, was ihm nottut, richtig zu erkennen. Sie steht durchaus innerhalb des gegenwärtigen Zeitalters und beurteilt es nicht von außen, 15

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wie es eigentlich gewesen: Vgl. Ranke 1874: VII: „Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: so hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: er will blos zeigen, wie es eigentlich gewesen“. causes now at work: Vgl. Lyell 1832−1833.

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nicht mit Vorurteilen; aber sie erhebt sich zugleich über das gegenwärtige Zeitalter, weil sie eben nicht parteiisch für es eingenommen ist, sondern durch die Methoden der Beobachtung und Vergleichung seinen Charakter und seine Tendenzen zu erforschen beflissen ist. Epoche machend ist, unter der Nachwirkung Rousseau’s und [12] Condorcet’s unter dem mächtigen Atmosphärendruck der französischen Revolution, das Auftreten Saint-Simons gewesen. Seine Schule traf die wichtige Unterscheidung organischer und kritischer Perioden der Geschichte. Sie behauptete, daß wir mit allen unseren Fortschritten, in einer kritischen Periode leben und stellte die Aufgabe, eine neue organische Periode vorzubereiten. Dazu sollte die religion Saint-Simonienne, das „neue Christentum“ dienen. In Saint-Simons Spuren wandelte, wenn auch mit eigensinniger Selbstbehauptung, Auguste Comte. Sein vorherrschender Gedanke ist die loi des trois êtats. Er will (in seiner ersten und wertvollsten Phase) eine einzige Entwicklung der Menschheit darstellen, angeknüpft an den Fortschritt des Denkens. Die soziale und politische Entwicklung hängt an dem Fortgang von einer theologischen „Schule“ durch eine metaphysische zur positiven „Schule“ der politischen Philosophie oder Sociologie. Diese meint Comte selber durch seine Theorie zu begründen. Sie bedeutet praktisch eine Synthese des Prinzips der Ordnung, das die erste Schule vertritt, mit dem Prinzip der Freiheit, dem Banner der zweiten. „Die Ordnung in der Freiheit und die Freiheit in der Ordnung“ das ist die Formel der positiven Politik. Da sie in der Entwicklung sich anschließt an die metaphysische, so ist ihre Hauptaufgabe, diese zu überwinden. Die metaphysische Politik ist ihrem Wesen nach „revolutionär“, sie wirkt desorganisierend, sie kann daher nur eine Periode des Ueberganges begründen. Die Desorganisation tritt am frühesten und entscheidendsten im geistigen Leben zu Tage, sie begründet eine intellektuelle Anarchie, durch das Prinzip der freien Prüfung, das Prinzip des Protestantismus. Der Katholizismus hat die Fähigkeit, seine soziale Bestimmung zu erfüllen, verloren, er ist unfähig, den Fortschritt des Denkens zu leiten. Aber er enthält das richtige Motiv der Unterordnung des materiellen Regiments unter das geistige. Die Regeneration der Gesellschaft

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loi des trois êtats: Im Folgenden bezieht Tönnies sich auf die Hauptwerke Comtes: Cours des philosophie positive (1830/1842), Système de politique positive ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité (1851/1854), Catéchisme positiviste ou sommaire exposition de la religion universelle en treize entretiens systématiques entre une femme et un prêtre de l’humanité (1852).

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verlangt, daß dies Motiv wiederhergestellt werde. Denn der intellektuellen Auflösung folgt die soziale Auflösung, der Ursache die Wirkung. Der Esprit de détail wird über den Esprit d’ensemble Herr. Es gilt, das Verhältnis umzukehren. Der einzelne Mensch ist nur eine Abstraktion. Wirklich ist nur die [13] „Menschheit“, zumal in der intellektuellen und moralischen Ordnung. Nur die theologische Philosophie ist dieser Wahrheit bisher gerecht geworden. Die kritische und revolutionäre mit ihrem mathematisch-mechanischen Geist vermag es nicht. Die positive Philosophie ist berufen, durch die Methode der Beobachtung und das Prinzip des logischen Zusammenhanges und der Harmonie, die Gesamtheit der geistigen Aktivität zu beherrschen, nicht nur alle Wissenschaften, sondern auch alle Künste in sich schließend. Sie begründet den universellen Grundsatz der Moral, den Altruismus, und die Unterordnung der Politik unter die Moral; daher stellt sie die katholische Einheit der fortgeschrittensten Völker Europas wieder her. Die geistliche Macht wird die 5 Nationen, aus denen die europäische Republik sich konstituiert, die Elite der Menschheit, in einem europäischen Patriotismus vereinigen. Sie wird herrschen im Zukunftsstaat, der organisch ist ohne reaktionär, fortschrittlich ohne revolutionär zu sein; Friede, Harmonie und Solidarität aller Tätigkeiten werden das Ergebnis sein. – In seiner späteren Phase erhebt Comte den Positivismus zur Religion; sie wird ein Kultus des „großen Wesens“, der Menschheit, indem sie das Denken dem Gefühl, den Geist dem Herzen unterordnet und eine Auferstehung des Katholicismus im Geiste der Wissenschaft begründet. Die Erhabenheit des Comte’schen Denkens prägt sich darin aus, daß er 1. den Gedanken der organischen Entwicklung des sozialen Lebens der Menschheit sich zu eigen gemacht hat, 2. erfüllt ist von der Notwendigkeit einer Wiederherstellung und Wiedergeburt, der die wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis dienen soll. Herbert Spencer ist in manchen Stücken Comte überlegen, besonders durch seine mächtige Conception einer allgemeinen Theorie der positiven und negativen Entwicklung (Evolution and Dissolution) Aber seine Schwäche ist darin gelegen, daß er den negativen Charakter des gesamten Denkens und Geschehens der Neuzeit nicht gewahrt: in ihm ist unser Zeitalter nicht zur Selbsterkenntnis vorgedrungen. Daher bleibt er auch in dem Gegensatz des militärischen und des industriellen Wesens stecken, sieht dort, d. h. im Mittelalter, nichts als Schatten, hier, in der Neuzeit, nichts als Licht, wenngleich [14] die jüngsten Wandlungen der inneren Politik seines 31

(Evolution and Dissolution): Vgl. Spencers „Principles of Sociology“ (1893).

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Landes und anderer Länder, die er erlebte, ihn irre machten, so daß seine Lehre in sich selber zusammenbrach. Die größten Gedanken des 19ten Jahrhunderts gehen alle in der Richtung auf Synthese, auf Erhebung über die Verneinung, die in der „Aufklärung“ zutage trat, eine Wiederbejahung, die diese Verneinung als „Moment“ in sich aufnehmen will. Darin trifft Comte mit Hegel, dem er sonst so fern steht, zusammen. Hegel hat dieser Trichotomie ihren logischen Ausdruck verliehen. Ihre Anwendung auf die Frage der zukünftigen Kultur wäre vielleicht John Stuart Mill gelungen, wenn nicht seine Logik all zu verstandesmäßig geworden wäre. Er hatte starke Sympathie mit Comte und wuchs noch in seiner letzten Zeit über Bentham hinaus, wie seine Wendung zum Sozialismus beweist. – Diese Wendung – vor 50 Jahren Staunen erregend – ist heute alltäglich geworden.

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seine Logik: Vgl. Mills „A System of Logic“ (1874).

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Denn auf dem ökonomischen Gebiet ist dies der tiefste Sinn der Bewegung zum Sozialismus hin, die seit mehr als 2 Menschenaltern zunehmend die Länder und Völker erfüllt. Der Fortschritt vom Mittelalter zur Neuzeit ist die Entwicklung von Herrschaft des Gebrauchtwertes (value in use) zur Herrschaft des Tauschwertes (value in exchange); die Ueberwindung dieses Kommerzialismus mit den Mitteln, die er selber geschaffen hat, die Wiederherstellung der Gebrauchswert-Produktion auf unendlich erhöhter Stufenleiter wäre recht eigentlich eine Synthese, die man auch als Vermählung von Natur und Geist begreifen kann – diese wird einerseits durch die kollektiven Körperschaften Staat und Gemeinde – State socialism und Municipal socialism – angebahnt, indem sie ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen; andererseits wirkt dahin aus dem Volke selber die genossenschaftliche Bewegung (cooperative movement), die dem genialen Robert Owen ihre stärksten Impulse verdankt. – In Hegels Geiste hat Marx der Arbeiterbewegung ihre Weltformel geprägt. Er gibt der Synthese ihren dialektischen Ausdruck als „Negation der Negation“, und zwar (überwiegender Weise) in bezug auf das durch eigene Arbeit erworbene Privateigentum. Das zersplitterte Privateigentum sei in kapitalistisches, auf fremde Arbeit gegründetes Privateigentum [15] verwandelt oder durch solches verdrängt worden; ein Prozeß, der etwa um die Wende des 15. und 16. Jahrhunderts beginnend, noch unabgeschlossen sei. Indem aber das zwerghafte Eigentum vieler in das massenhafte Eigentum einiger übergeführt wird, verwandeln sich zugleich die individuellen und zersplitterten Produktionsmittel, der Gegenstand dieses Eigentums, in gesellschaftlich konzentrierte Produktionsmittel; dieser Prozeß schreitet fort, durch die Zentralisation der Kapitale: der größere Kapitalist enteignet viele kleinere, der gesellschaftliche Arbeitsprozeß entwickelt sich auf stets wachsender Stufenleiter, alle Völker werden in das Netz des Weltmarktes verschlungen, der internationale Charakter des Kapitalismus nimmt immer größere Dimensionen an. Gleichzeitig wachsen aber auch die Gegentendenzen, wächst der Sozialismus als Streben nach den Rechtsformen, die dem tatsächlich immer mehr sozial werdenden Produktionswesen angemessen (adaequat) sein und es beherrschen sollen. Die Zentralisation der

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Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit werden auf einem gewissen Punkte der Entwicklung „unverträglich“ mit ihrer kapitalistischen „Hülle“ – beide drängen dahin, diese Fesseln zu sprengen; die Widersprüche der ökonomischen Bedürfnisse im allgemeinen, und der Widerspruch und Widerstand der „durch den Mechanismus des kapitalistischen Arbeitsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“ wirken zusammen. Das Ergebnis: „die Expropriateurs werden expropriiert“, das individuelle Eigentum wird auf neuer Grundlage wiederhergestellt. Die neue Grundlage wird durch die Errungenschaften der kapitalistischen Aera gebildet: 1. das planmäßige Zusammenarbeiten, 2. die wissenschaftliche Herrschaft über die Natur, 3. die Vermehrung und Verbesserung aller Produktionsmittel. Dies Gemeineigentum ist selber „Negation der Negation“ jenes „Urkommunismus“, der seit Beginn der Zivilisation einer fortwährenden Zersetzung, auch durch das „individuelle, auf eigene Arbeit gegründete“ Privateigentum unterworfen gewesen ist, so daß, von hier aus gesehen, auch das kapitalistische Privateigentum und der große Grundbesitz nur die besonders ausgeprägten, höchst entwickelten Formen einer Sache darstellen, die als Institutionen längst vorher jene ursprüngliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der alten Clans und Dorfgemeinden untergraben hatte, [16] deren Wiederbelebung auch der amerikanische Forscher Lewis H. Morgan als Vision verkündete – nachdem er ihre Wirklichkeit noch unter den Iroquois beobachtet hatte.

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Arbeiterklasse: Vgl. Marx 1890: 728. Im Original statt „kapitalistischen Arbeitsprozesses“: kapitalistischen Produktionsprozesses. Das folgende Zitat ebd. Lewis H. Morgan: Vgl. Morgan 1851: 877.

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Marx hat (mit seinem Freunde Friedrich Engels), außer durch diese Lehren, auch dadurch einen mächtigen Einfluß auf die europäische Gedankenwelt gewonnen, daß er die ökonomische (von Engels „materialistisch“ genannte) Ansicht der geschichtlichen Entwicklung vertreten hat. Diese Ansicht will nicht die Bedeutung des Geistes – des Denkens, der Wissenschaft – leugnen; im Gegenteil. Sie behauptet aber, daß die Veränderungen des geistigen Lebens gleichsam – in mathematischem Verstande – die „Function“ von Veränderungen des materiellen, des wirtschaftlichen Lebens sind; daß also die der Gesamtkultur zugrunde liegenden Zustände des Erwerbs- und Arbeitslebens, des Handels und Verkehrs, verhältnismäßig unabhängig vom „Geiste“, also von Zuständen des politischen und moralisch-intellektuellen Lebens variieren; daß also diese stärker durch jene bedingt, mehr von ihnen abhängig sind als umgekehrt. Diese Lehre enthält den gesunden Kern, den die Frucht der alten und sich sonst von selbst verstehenden Anschauungen in sich birgt, nach welchen wir das Stein-, das Bronze- und das Eisenzeitalter in der Vorgeschichte der Menschheit unterscheiden; ebenso anerkennt jeder die Einteilung der Völker der Erde in Jäger, Nomaden und Ackerbauer, und die entscheidende Bedeutung des Ackerbaus und der Seßhaftigkeit, die er mit sich bringt, für alle höhere Gesittung; ferner wird die Bedeutung der städtischen Bildung von niemandem geleugnet, ebenso wenig, die alle Zustände und Verhältnisse umwälzende und aufwühlende Wirkung der neueren Technik und der kapitalistischen Verfügung über Produktion und Technik. Unrichtig aber sind mehrere Folgerungen, die, wenn nicht von Marx und Engels, so doch von manchen Marxisten sowohl als von deren Gegnern aus den richtigen Voraussetzungen der ökonomischen [17] Geschichtstheorie gezogen werden. Unrichtig vor allem die Folgerung: die Entwicklung des geistigen und sittlichen Lebens erfolge „von selbst“, wenn die „ökonomische Grundlage“ verändert sei; ohne diese Veränderung könne man auf jene Folgeerscheinungen nicht wirken, sie also auch nicht verbessern. Dies wird nicht nur durch die Erfahrung widerlegt, es ist auch der Theorie gemäß falsch. Das Leben überhaupt, also auch das soziale Leben, ist ein organisches Ganzes, dessen Teile in beständiger Wechselwirkung miteinander

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stehen, und zwar so, daß diese Gegenseitigkeit von Moment zu Moment sich geltend macht; nicht so, daß die eine Wirkung sich vollendet und dann die Gegenwirkung eintritt, sondern Wirkung und Gegenwirkung sind in Wirklichkeit eins, und können nur im Denken getrennt werden. Darum darf wohl anerkannt werden, daß die offenbaren demoralisierenden Wirkungen des Kapitalismus allmählich aufhören werden, wenn der Kapitalismus allmählich überwunden wird; aber darum ist doch zu gleicher Zeit wahr, daß diese Ueberwindung nur möglich ist mit Hilfe der Erneuerung des Geistes und der Sittlichkeit, und daß diese Erneuerung möglich ist aus dem Eigenleben des Geistes und der Sittlichkeit, nicht nur aus dessen von dem „Zeitgeiste“ unberührt gebliebenen Schätzen der Ueberlieferung, sondern auch aus Bestandteilen des Zeitgeistes, die der Kapitalismus selber gefördert hat; diesem lauter üble Wirkungen zuschreiben, entspricht auch in dieser Hinsicht nicht dem Denken eines unbefangenen Richters. Eben das sachliche, strenge und scharfe wissenschaftliche Denken ist ein solcher Bestandteil des Zeitgeistes, woraus dem Volksleben in allen Ländern fortwährend heilsame Elemente zuströmen; an den Naturwissenschaften und der Technik gestählt, kann es, auf das soziale Leben angewandt, nur nützliche, auch moralisch förderliche Wirkungen üben, wie schon in vielen großen Erscheinungen zu Tage tritt.

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Diese Wirkungen sind einer fast unendlichen Steigerung fähig. Je tiefer die Erkenntnis in das Wesen des sozialen Lebens eindringt, um so mehr muß die Ueberzeugung sich befestigen, daß die ungeheuren Umwälzungen des äußeren Lebens eine geistige und sittliche [18] Wiedergeburt notwendig machen, und daß diese Wiedergeburt geschehen kann durch Ausbreitung und Verstärkung der Erkenntnis selber, durch ihre Aneignung mit der ganzen Seele der Menschen, woraus jene Begeisterung, die allein große historische Wirkungen auszulösen vermag, entspringen muß: Begeisterung für das Wahre und Gute des Ideales. Diese Begeisterung hat schon in sich eine religiöse Weihe. Denn sie ist nur möglich durch gläubige Hingebung an ein Gedachtes, Vorgestelltes, Gehofftes, Gewolltes. Sie erhebt die menschliche Seele über das „was uns alle bändigt, das Gemeine“. Sie mag durch andere religiöse Vorstellungen gefördert, sie kann aber auch durch religiösen Wahn gehemmt werden. Sie ist mit jeder religiösen oder philosophischen Weltanschauung verträglich, außer mit der ganz und gar beschränkten, die im Menschen nur ein wildes oder zahmes Tier zu erkennen vermag und gegen das Ewige stumpf und gleichgültig sich verhält. Diese ist es, die oft als „Materialismus“ angeklagt und den religiös Ungläubigen sonderlich zur Last gelegt wird. Sie ist aber bei Gläubigen ebensowohl als bei Ungläubigen anzutreffen. Aber die einzelnen „Idealisten“ vermögen keine Wiedergeburt des Zusammenlebens, keine Wiederherstellung menschlicher Gemeinschaft, geschweige denn ihre Ausbreitung über die Erde hin zu bewirken. Auch dann nicht, wenn ihre Begeisterung wie Stimmung und Wort in die Tat übergeht, wenn sie die Aufopferung leisten, deren sittlicher Wert in dem schönen Worte ausgesprochen ist „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde“; man möchte hinzufügen: „und größere Treue, als daß er sich opfert für seinen Glauben, für seine Liebe, für seine Hoffnung“.

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„… das Gemeine“: Vgl. Goethe 1998: Bd. 1, 257 („Epilog zu Schillers ‚Glocke‘“): „Und hinter ihm, in wesenlosem Scheine, | Lag, was uns alle bändigt, das Gemeine“. „… sein Leben lässet für seine Freunde“: Vgl. NT, Johannes 15,13.

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Das Zusammenleben selber, das tägliche Leben, muß mit einem stilleren Idealismus, mit der brüderlichen, geschwisterlichen Gesinnung erfüllt werden, die es zugleich vertieft und erneuert. Eine Veredlung aller menschlichen Verhältnisse müßte daraus folgen, von der intimsten, der Ehe und Familie, bis zu den weitesten, allgemeinsten, die der Humanität sich eröffnen. Wenn auch nur eine allmähliche Annäherung an ein nie zu vollendendes Ziel angebahnt wird, so wird der gute Wille seine [19] Befriedigung finden, der sich nicht betäuben und ertöten läßt durch die Verzweiflung, daß Hader und Habsucht immer geherrscht haben, daß sie niemals sich werden ausrotten lassen. Er will an dem Tempel der Menschheit bauen, auch wenn er ihn immer wieder in Trümmer verfallend sieht; oder – in einem anderen Gleichnis zu reden – er will „der Gottheit lebendiges Kleid weben“, wenn auch in jeder Nacht die Nähte wieder aufgetrennt werden, wie die des Gewandes der Penelope. Die christliche Religion hat diesen Gedanken als den Gedanken des „Reiches Gottes“ gedacht und gepflegt. Sie denkt und pflegt ihn noch heute. Die Kirche will selbst das Reich Gottes sein (Ecclesia jam nunc regnum Dei, nach dem Worte des Augustinus) – ein Anspruch tiefen Sinnes, wenn die „unsichtbare“ – d. h. die nur in unendlicher Entfernung zu verwirklichende – Kirche gemeint ist, aber eine Herabwürdigung dieses Sinnes, wenn die wirkliche Anstalt mit Priestern als Zauberern, und äußeren Gnadenmitteln, die Gewißheit des ewigen Heiles verbürgen soll, das allzu gern nach dem Bilde der zeitlichen Behaglichkeit vorgestellt wird. Ob die christliche Religion die absolute Religion ist, wie Hegel und die meisten christlichen Religionsphilosophen behaupten, kann hier nicht gefragt werden. Ihre gegenwärtige und beharrende Bedeutung verbürgt jedenfalls noch eine lange und große Zukunftsbedeutung. Aber es kann nicht verkannt werden, daß ihre gegenwärtige Bedeutung im Verhältnis zu den übrigen Kulturmächten in auffallender Weise sich verringert hat. Sie steht nicht mehr im Vordergrunde des Familienlebens der großen Mehrzahl derer die äußerlich zu ihr gehören; viel weniger noch steht sie

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„… Kleid weben“: Goethe 1998: 3. Bd., 24 (Faust, Der Tragödie erster Teil, Nacht): „So schaff’ ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid“. Penelope: Gemahlin des Odysseus, die sich – während seiner Irrfahrten – ihren Freiern entzog, indem sie vorgab, zuerst ein Leichengewand für Laertes, ihren Schwiegervater, weben zu müssen, das sie jedoch nachts immer wieder auftrennte. regnum dei: Vgl. Augustinus 1909−1918.

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im Vordergrund des öffentlichen Lebens der Staaten von weit überwiegend christlicher Bevölkerung. Der Einfluß der als christlich geltenden Ideen wird noch mehr als durch die Feindseligkeiten gegen ihre Dogmatik, durch Indifferentismus gehemmt. Nicht Christentum, sondern Wissenschaft ist die Losung. Auch was noch lebendig ist vom Christentum ist in mehrere große Kirchen, und in viele kleine Sekten gespalten: innerhalb der Kirchen und Sekten bekämpfen sich wieder die „Richtungen“ heftig; [20] die Skepsis nagt an allen. Der immer mehr zutage tretende Zustand wurde schon vor 50 Jahren von einem großen englischen Gelehrten dahin gekennzeichnet, dass die „Vernunft“ (durch ein Dogma wie das der Unfehlbarkeit des Papstes mit Füßen getreten) sich räche und selbst innerhalb der Religion immer mehr die Herrschaft über den ererbten Glauben gewinne, wie ein Hausminister, der einen Titularkönig verdrängt“. „In noch weiterer Entfernung von der Mitte wird die religiöse Autorität völlig abgesetzt und verbannt, und der Thron der reinen Vernunft aufgerichtet, ohne auch nur dem Namen nach einen Nebenbuhler zu finden; die Gefühle und Vorstellungen, welche in der religiösen Welt an den theologischen Glauben gebunden waren, knüpfen sich hier auf weltlichem Gebiete an eine positive Naturphilosophie und an eine positive Moralität, welche aus eigener Kraft die Handlungen der Menschen zu leiten hat. So geht die Meinungsverschiedenheit unter gebildeten Bürgen eines aufgeklärten Landes nach beiden Seiten bis ins Grenzenlose, zu einer Zeit, der kaum irgendeine frühere an wirklichen Wissen wie an eifrigem Streben nach Wahrheit, als dem leitenden Lebensprinzipe, gleichkommt“ (E. B. Tylor).

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(E. B. Tylor): Vgl. Tylor 1873: 453.

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Das gegenwärtige Zeitalter muß in seinem Fortschreiten immer mehr die Einigkeit der sittlichen Denkungsart zu einer Forderung des Tages erheben. An dem Wendepunkte, den die Erfahrungen der letzten Jahre ins allgemeine Bewußtsein gerückt haben, um so dringender. Die Katholizität der Kirche war ursprünglich für das Gebiet des römischen Reiches, das sich selber für den Erdkreis (Orbis Terrarum) ausgab, bestimmt. Mit diesem Reiche spaltete sie sich in eine östliche und westliche Kirche. Die westliche wurde weit überwiegend die der neuen christlich-romanischen und christlichgermanischen Gesittung. Ihre Katholizität war auf einen weitreichenden Verkehr eingestellt, der mit dem römischen Reiche abnahm, um sich mit zunehmender Städtegründung neu zu beleben. Aber ihre Zerspaltung in verschiedene Bekenntnisse entsprach in einigem Maße der Ausbildung neuer Reiche und Staaten: in Deutschland, dem [21] Gebiet des „heiligen“ römischen Reiches, dessen Auseinandergehen in viele Territorien. In Beharrung und Seßhaftigkeit konnten die zersplitterten Bekenntnisgebiete sich einheitlich erhalten; vielfach wurde die Einheitlichkeit durch die erstarkte Staatsgewalt erzwungen. Mit dem Zerfall des ständisch-aristokratischen Staates ist dieser Zwang unmöglich geworden. Der paritätisch-christliche Staat entwickelt sich zum rein-weltlichen Staat. Der Verkehr, zumal der Weltverkehr, wirft die Bekenntnisse, ja die Religionen durcheinander; jede Groß- und Weltstadt wird dem alten Rom ähnlich, von dem Seneca sagte: „Nullum non genus hominum concurrit in urbem et virtutibus et vitiis magna praemia ponentem.“ Und unter den Beweggründen, die er anführt, für dies Zusammenströmen, ist nicht die Religion; wenngleich sie nicht fehlte, so war doch die hauptsächliche Wirkung der Verschleiß und das Nivellement der Religionen, das dem Christentum den Boden bereitete. Wieder sind heute – am meisten in den Großstädten, deren Geist sich aber über die ganzen Länder hin ausbreitet – die Voraussetzungen für eine religiöse Erneuerung gegeben. Diese kann, wenn sie stark genug wird,

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„… praemia ponentem“: Vgl. Seneca (o. J.: 60): „Jederlei Art der Menschen strömt in die Hauptstadt zusammen, die sowohl den Tugenden wie den Lastern große Belohnungen aussetzt“.

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eine sozial-sittliche Wiedergeburt befördern, wie der christliche Glaube für die alte Welt es in einigem Maße vermocht hat. Das Christentum selber kann sich neu beleben; es kann wieder ein „einiges Christentum“ werden, nach dem seine denkenden Verehrer längst verlangen. Heilsam wird das Streben danach sein, heilsam auch der Wettbewerb der Konfessionen, ihrer Priester und Adepten, um Verbreitung und Vertiefung ihres sittlichen Einflusses. Keine Kraft, die sich dahin richtet, wird ganz verloren sein. Aber das Christentum kann sich auch über sich selbst hinaus entwickeln. Es kann Elemente anderer hochentwickelter Religionen an sich heranziehen, in sich aufnehmen, mit ihnen sich vermählen – das wäre ein Ereignis von höherer Art, ein Ereignis von so gewaltiger Bedeutung, wie die Größe der Elementarkräfte unserer Zeit sie fordert und in sich aufzunehmen vermag; ein Ereignis, worin sich das Denken und Wissen, nachdem es die Steigerung der äußeren Gesittung unmerklich gefördert hat, nunmehr auf die Stärkung der inneren Gesittung sich versammeln sollte – nachdem jene äußere eben durch den Mangel einer entsprechenden inneren Gesittung traurig gescheitert ist. [22] Allen den Menschen, die mit ganzer Seele in ihrer Religion, in ihrem Bekenntnis leben, die darin den wahren, den besten und schönsten Glauben pflegen und lieben, ist das Bedürfnis fremd, das über sie hinaus nach einem Excelsior strebt. Und doch muß auch jenen Genugtuung zu Teil werden! Sie müssen das Vertrauen gewinnen, daß dies Excelsior auch ihnen ein Heiligtum schafft, zu dem sie emporblicken können, ohne dem Tempel untreu zu werden, den sie sich gebaut haben, darin sie sich heimisch fühlen. Das Problem ist gestellt: eine allgemein-menschheitliche Religion möchte entstehen, die sich als eine neue Gestaltung aller der Ideenkräfte ansprechen lasse, die in den vorhandenen höchsten monotheistischen und ethischen Religionen wirksam geworden sind oder noch sind. Auch unter den günstigsten Umständen wird diese Schöpfung das Werk von Jahrhunderten sein, ja im letzten Grunde nur als zunehmende Annäherung an ein unendlich fernes Ziel sich verwirklichen lassen. Aber die Zeit ist reif für die Aufgabe, eine Formel zu finden, die des Anfanges, des Strebens, des Enthusiasmus würdig sei, womit die Denkenden aller Länder, aller Religionen und Bekenntnisse sich erfüllen müssen, die der gegenwärtige Zustand der Zerrissenheit und des Chaos der Weltanschauungen nicht befriedigt, die darin eine Ursache 14

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unmerklich: Im Manuskript: „unermeßlich“. – Im Typoskript von Tönnies jedoch nicht korrigiert. Excelsior: [lat.] das Höhere, Erhabenere.

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zunehmender Entsittlichung und steigende Gefahr der Weltzerrüttung erkennen. Mitwirken muß ganz besonders die Einsicht, daß alle Pläne, das innere Leben der Völker und das Zusammenstreben der Staaten zu verbessern, scheitern müssen, wenn nicht die soziale und humane Gesinnung ausgebildet und erzogen wird, die als solche eine religiöse Gesinnung ist und im menschlichen Gemüte ihre festen Wurzeln nur schlagen kann als Ewigkeits-Gedanke, d. i. als Religion. Längst ist dies anerkannt von den Vertretern eines so wertvollen ökonomischen Fortschrittes, wie ihn das Genossenschaftswesen – the Cooperative Movement – darstellt. Aber auch die neuesten Debatten über „Sozialisierung“ (in Deutschland) die auf Staatssozialismus und Gemeindesozialismus oder auf andere planmäßige Volkswirtschaft ausgehen, haben zum Durchdringen der Erkenntnis geführt, daß ohne Hebung des ethischen Bewußtseins alle solchen Neuerungen nur erbitterte neue Klassenkämpfe zur Folge haben werden, da es auch, wenn im Programm die „gerechte“ Verteilung [23] des Ertrages von Boden und Arbeit vorgeschrieben wird, keineswegs von selbst sich versteht, daß von Egoismus erfüllte Genossen sich friedlich-schiedlich darüber vertragen werden. Wenn nicht in einigem Maße die Denkungsart sich dahin veredelt, daß man jedem das Notwendige gönnt, aber auch den Wert höherer (differenzierter) Leistungen anerkennt, daß man ferner soviel als möglich am gemeinsamen Genuß geistiger Güter nicht nur sein Genügen, sondern schöneren Genuß findet – so wird man vielleicht das materielle Elend aus dem sozialen Gemeinwesen verbannen, aber die Steigerung der individuellen Bewußtheit, also des Egoismus wird trotzdem so scharf hervortreten, daß sie die psychologische und moralische Unseligkeit steigert anstatt sie zu dämpfen. Die Einigkeit der sittlichen Denkungsart hingegen bedeutet nicht nur Verkündung des Evangeliums der Arbeit, sondern des bewussten und freudigen Zusammenwirkens, also der Gemeinschaft.

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Diese höhere und edlere Denkungsart wird dem Menschen zuteil durch die Beziehung seines Lebens auf die Ewigkeit, durch die Geringschätzung aller „irdischen“ zeitlichen Güter im Vergleiche zu den Ewigkeitsgütern. Den Gedanken der Ewigkeit zu denken erfordert eine eigentümliche Anspannung des Geistes und eine besondere Uebung in Abkehr von der sinnlich gegebenen Wirklichkeit. Der Gedanke der Ewigkeit ist gleich dem Gedanken der Unendlichkeit. Die Versenkung in diesen Gedanken bringt eine Art der Erkenntnis hervor, die Spinoza „tertium cognitionis genus“ oder intuitive Wissenschaft, Schelling intellektuelle Anschauung genannt hat. Es ist die Betrachtung der Dinge „sub aeternitatis specie“ „Je geschickter der Geist ist, die Dinge so zu verstehen, um so mehr begehrt er, die Dinge so zu verstehen.“ „Aus dieser Art der Erkenntnis entsteht die höchste mögliche Beruhigung des Geistes“. „Insofern als unser Geist sich und seinen Körper sub aeternitatis specie erkennt, insofern hat er notwendig die Erkenntnis Gottes und weiß, daß er in Gott ist und durch Gott begriffen wird.“ „Alles was wir verstehen durch diese dritte Art des Erkennens, darüber freuen wir uns, und zwar mit der begleitenden Idee Gottes als der [24] Ursache.“ „Die intellektuale Liebe Gottes, die aus der dritten Art des Erkennens hervorgeht, ist ewig.“ (Spinoza, Eth. P. V Propp. 26. 27. 30. 32. 33). Spinoza leitet aus diesen Sätzen seine erhabene Lehre von der menschlichen Freiheit ab. „Weil wir der Glückseligkeit, die mit der Tugend identisch ist, uns erfreuen, darum können wir unsere Begierden in Schranken halten.“ (ib. 42, der Schlußsatz der Ethica).

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tertium cognitionis genus: D. i. die „dritte Erkenntnisart“; vgl. Spinoza 1677: 252 (Ethica, V, prop. 25): „Summus Mentis conatus, summáque virtus est res intelligere tertio cognitionis genere“. Zur Weiterbildung des Gedankens der „dritten Erkenntnisart“ in der Philosophie Kants und Schellings vgl. den Editorischen Bericht S. 624 f. sub aeternitatis specie: [lat.] unter dem Gesichtspunkt (ihrer) Ewigkeit. Vgl. ebd.: 254 (prop. 29): „Quicquid Mens sub specie aeternitatis intellegit, id ex eo non intellegit, quòd Corporis presentem actualem existentiam concipit; sed ex eo, quòd Corporis essentiam concipit sub specie aeternitatis.“ – Die folgenden Spinoza-Zitate ebd.: 253−263.

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Man nannte ehemals den Spinozismus „Atheismus“, wodurch die ihn mit diesem Namen Verurteilenden kundgaben, wie weit sie selber von der dritten Art des Erkennens entfernt waren. Neuerdings pflegen wir diese Denkungsart, die in den bedeutendsten metaphysischen Systemen des 19ten Jahrhunderts, wenn auch abgewandelt wiederkehrt, als „Pantheismus“ abzustempeln. Spinoza würde darauf antworten: „ihr wollt mit dieser wohlwollenden Charakteristik sagen, daß ich Gott und die Welt einander ‚gleichsetze‘; als ob ich vorher unterscheidend die beiden Begriffe gedacht hätte: 1, Gott als das unendliche und ewige Wesen, in dem alles besteht und beruht, ohne dessen Anschauung nichts begriffen werden kann 2, die Welt als die Gesamtheit dessen, was sinnlich wahrnehmbar ist und in der Zeit entsteht und nach einer gewissen Dauer vergeht. Als ob ich dann gefunden hätte, daß diese beiden Begriffe nicht voneinander verschieden sind, also einander gleichgesetzt werden müssen. Dies ist eine irrtümliche Auffassung. Es genügt mir und ist allein notwendig, den ersten Begriff zu denken. Er enthält den anderen in sich als etwas, was aus ihm abgeleitet werden kann und muß, als eine wesentliche und notwendige Folgerung. Der erste Begriff ist allerdings gleich dem zweiten, aber nur nachdem dieser zum ersten erhöht und erweitert worden, also ganz und gar verwandelt worden ist. Nachdrücklich habe ich im ersten Teil meiner Ethik (wenn auch vielleicht nicht in zureichender Ausführung) auf den Unterschied der Natura naturans von der Natura naturata hingewiesen: jene bedeute solche Attribute der einigen Substanz, die das ewige und unendliche Wesen ausdrücken, d. i. alles, was in sich ist und durch sich begriffen wird oder „Gott, sofern er als freie Ursache betrachtet wird.“ Natura naturata aber nenne ich alles, was aus der Notwendigkeit [25] der Natur Gottes oder eines jeden der Attribute Gottes folgt, d. h. alle Modi der Attribute Gottes, sofern sie betrachtet werden als Dinge, die in Gott – im Ewigen und Unendlichen – sind und ohne ihn weder sein noch begriffen werden können“ (I, 29 scho.). Diese endlichen Dinge sind es ja, die ihr die Welt, den Kosmos nennt, auch wenn euere Spekulationen auf die grenzenlosen Räume des Sideral-Systems sich erstrecken und Trillionen von Jahren berechnen, innerhalb derer dieses geworden sei, was es ist. Was sind Trillionen von Jahren im Vergleiche mit

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Spinozismus „Atheismus“: Vgl. die Auseinandersetzung zwischen Lessing, Jacobi und Mendelssohn in: Jacobi 1789. „… betrachtet wird“: Vgl. Spinoza 1677: 27 (Ethica, I, prop. 29, scho.: „Deus, quatenus, ut causa libera, consideratur“. Nachfolgend: fehlendes Anführungszeichen. (I, 29 scho.): Vgl. ebd.

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der Ewigkeit? was die größten Entfernungen der Fixsterne in unendlichen Raum? – Wenn ihr meine Lehre ehemals als Atheismus verworfen habt, jetzt als „Pantheismus“ mit Gunst oder mit Argwohn betrachtet – war nicht der früheste euerer christlichen Scholastiker, Scotus Erigena, dem gleichen Argwohn preisgegeben? ist er nicht, weil er Gott und die Welt einander gleichgesetzt habe, verdammt worden? Hat er nicht gleich mir das immanente Verhältnis Gottes zur Welt, das Gesetzt- und Begriffensein des endlichen Geistes im und mit dem absoluten Geiste behauptet? Ist nicht der ganze scholastische „Realismus“ dadurch merkwürdig, daß er die ewigen Formen der Dinge in Gottes Verstande ruhen läßt und somit ablehnt, die Schöpfung der Welt als die Tat eines Beliebens zu denken, das der Willkür und Laune eines Menschen vergleichbar wäre? – Hat nicht die deutsche Mystik (daran anknüpfend) Gott und das Sein für identisch erklärt? Hat nicht wenige Jahrzehnte vor mir Jakob Böhme die Formel verworfen, daß Gott die Welt aus Nichts geschaffen habe?“ – So etwa könnte Spinoza, der ¢posun£gwgoj, Theologen antworten. In der ersten Hälfte des 19ten Jahrhunderts sagte man, der Spinozismus, zu dem sich Lessing und Goethe bekannt hatten, sei die geheime Religion der Gebildeten in Deutschland. Es war nicht ohne Grund, denn die gesamte nachkantische Philosophie, soweit sie einen beherrschenden Einfluß auf das Geistesleben gewann, war von einer Spinoza verwandten Denkungsart erfüllt: Kant selber hatte ihr in der dritten seiner Kritiken, der „Kritik der Urteilskraft“ die Wege gewiesen, wenn er eingestand, daß einem un-

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Gott die Welt aus Nichts geschaffen: Jakob Böhme lehrte, dass Gott selber aus sieben Naturkräften besteht, und in diesen besteht er und die Welt von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die erste dieser sieben Naturkräfte Gottes ist die Schwerkraft, als deren eigentlicher Entdecker Böhme, nicht Newton (der Böhmes Werk kannte), angesehen werden kann. Die Ewigkeit dieser göttlichen Naturkräfte schließt einen Zustand ohne sie aus, so dass ein Nichts, aus dem heraus die Welt erst geschaffen werden muss, entfällt. Da Tönnies hier Spinoza über Böhme sprechen lässt, kann er die wichtige Einschränkung, die Böhme über die Schöpfung unserer historischen Menschenwelt allerdings doch gemacht hat, übergehen: Durch den Fall Luzifers und die Entstehung des Bösen wurde die Schaffung eines zeitlichen irdischen Zustandes notwendig, der aber am Ende der Zeiten durch Gott wieder aufgehoben wird. Gleichwohl gilt, dass auch die irdische Welt von Gott unter Anwendung der sieben ewigen Naturkräfte geschaffen wurde, also nicht aus dem Nichts. – Vgl. Böhme 1955 [1730]: 1. Bd. 1: 82−145 (Aurora, Cap. 8−11). An- u. Abführungszeichen in diesem Absatz fehlerhaft schon im Original.

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der ¢posun£gwgoj : [gr.] der Exkommunizierte. Kritik der Urteilskraft: Vgl. Kant 1963b, der statt des Ausdrucks „unendlicher Verstand“ eher „intuitiver“ bzw. „anschauender Verstand“ benutzte.

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endlichen Verstande alle Zweckverbindung zum Mechanismus werden könne – womit „als Ergänzung leicht die Spinozistische Behauptung sich [26] verbinden ließe, daß der philosophierende Geist als Teil eines solchen unendlichen Verstandes alles wie er betrachte“ (K. E. Erdmann, Grundriß der Geschichte der Philos. §301, 6). Und Leibniz, der durch die Wolffische Schule hindurch Kant so bedeutend vorangeleuchtet hatte? „Ich fürchte, der war im Herzen selbst Spinozist“, so sprach kurz vor seinem Tode (1783) Gotthold Ephraim Lessing, ein sehr gründlicher Kenner des Leibniz (Ueber die Lehre des Spinoza, in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn (von J. H. Jacobi) Breslau 1789, S. 32). „Es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie des Spinoza“ (das. S. 24). – Ja, der Spinozismus ist die – offene oder geheime – Denkweise aller der wissenschaftlich gebildeten Menschen, in Deutschland und in anderen Ländern2, die angesichts der Tatsache, daß das Wißbare nur eine kleine Felseninsel im Ozean des Unerforschlichen ist, mit ihren Gedanken dies Unerforschliche wenigstens zu berühren, mit ihrem Gemüt es andächtig zu verehren trachten und so in der Harmonie und Einheit des Denkens und Seins eine letzte Beruhigung suchen.

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so hat F. Pollock in seinem Werke über Spinoza die Parallele mit Herbert Spencer gezogen.

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§301: Vgl. Erdmann 1878: II, 350: „… als Ergänzung sich leicht die spinozistische Behauptung verbinden ließe, daß der philosophirende Geist, als Teil eines solchen unendlichen Verstandes, Alles wie er betrachte“. Über die Lehre des Spinoza: Vgl. Jacobi 1789. (von J. H. Jacobi): Korrekt: F(riedrich) H(einrich) Jacobi. F. Pollock: Vgl. Pollock 1880.

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Aber der Spinozismus ist eine Philosophie, er ist nicht eine Religion. Um eine Religion zu werden, muß er an die Vorstellung, an die Einbildungskraft, an die ganze Seele sich wenden, er muß eine Gestalt der Gottheit aus sich darstellen, die Gegenstand einer gemeinschaftlichen Pflege, eines Kultus, zu werden geeignet sei (A). Dieser Kultus sei der Sammelpunkt der Gemeinde! (B) Die Gemeinde strebe nach sittlichen Idealen, sie erziehe ihre Jugend, und soweit als ihr Einfluß reicht, das Volk zu diesen Idealen (C) Sie gebe ihrem Kultus und dadurch ihrer Erziehung eine ästhetisch befriedigende Form und wehre allem amoralischen und antimoralischen Kunstwesen (D) Sie bewähre sich überhaupt durch Reinheit und Strenge ihrer Sittlichkeit und die Zucht, die sie in diesem Sinne ausübt. (E). Sie vertrete und verbreite nach innen und nach Außen die Prinzipien der Liebe, der Humanität, der Versöhnung und des [27] Friedens, also der gemeinschaftlichen Arbeit! (F). Sie lerne aus der aufgehäuften Weisheit der Jahrtausende, besonders auch aus den Erfahrungen der Religionen, vor allen der christlichen Religion, der gegenüber die „neue“ Religion nicht sein möchte als ihre reife Frucht, an der man den Wert des Baumes erkennen soll (G). – Man kann nur mit Grund das Bedenken geltend machen: eben die christliche Religion hatte in ihren Kirchen wie in Sondergemeinden so viele Jahrhunderte hindurch ähnliche Grundsätze aufgestellt und manche davon auch befolgt; es sei ihr aber durchaus nicht gelungen, „die Welt zu überwinden“ – wie ihr Stifter von ihr sagte – ; sie habe weder im Privatleben und sozialen Leben Laster und Bosheit aller Art zu hemmen vermocht, noch habe sie verhindern können, daß Christen gegen Christen (geschweige Christen gegen Nichtchristen) mit Wut und Grausamkeit gekämpft und sich gewehrt haben; vielmehr sei sogar im Namen des Christengottes die furchtbarste Gewalt von je geübt worden, und noch heute glaube der gläubige Christ seinen Gott bitten zu sollen, daß er seine Feinde, ob diese selber Christen oder Heiden sind, mit Tod und Verderben heimsuche. Auf diese gerechten Bedenken möchte zu erwidern sein: Auch in Zukunft kann man weder vom Christentum noch von einem anderen religiösen Bewußtsein erwarten, daß sie die menschliche Natur umkehren und die Conflikte auflöse, die aus ihren Leidenschaften entspringen.

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Das Christentum hat aber doch inmitten einer ihm wenig zugänglichen Welt Heil und Labsal dadurch gespendet, daß es unablässig die Idee der Barmherzigkeit, die Idee der Entsagung, die Idee der Aufopferung gepredigt und als Vorbilder gestaltet hat; es tut seinem Wesen und Wert keinen Eintrag, daß es all zu wenige echte Anhänger, all zu wenige tätige Verehrer, und diese mehr unter Frauen als unter Männern gefunden hat. Schweren Schaden hat es freilich dadurch gelitten, daß es 1. zu mannigfach verstanden und ausgelegt wurde und wird, so daß eben der Eifer für seine Wahrheit die bittersten Feindseligkeiten und Kämpfe hervorrief, indem er andere Gegensätze verschärfte und sogar scheinbar veredelte 2. dadurch daß es – dank der mangelhaften geistigen und sittlichen Entwicklung [28] seiner Bekenner – immer wieder zu einer konventionellen Zeremonial-Religion und amtlichen Staatsreligion herabgewürdigt worden ist, die bald einem groben Zauber und äußerlichen Tröstungen dienen muß, bald lediglich den im Staate herrschenden Gewalten als Stütze und Beglaubigung willfahren soll, so daß die scheinbare Frömmigkeit als Gewähr des Gehorsams gegen die Obrigkeit geschätzt wird, obgleich die urchristliche Gemeinde im Gegensatz und Kampf gegen die Obrigkeit emporgekommen ist, und während das eigene Christentum der herrschenden Personen und Schichten all zu oft nur in Zeremonien und Formeln der Rede sich bewährt. Wie immer man aber über vergangene und gegenwärtige Einflüsse der Religionen urteilen möge: das Feld der Zukunft liegt offen vor uns. Es gilt, dies Feld zu bebauen; wir können nicht mehr tun, als es zur Aufnahme des guten Samens bereit machen und diesen Samen ausstreuen, wenn wir ihn haben oder zu haben glauben. Dies ist, was das Gewissen uns gebietet, und was unwillkürlich oder mit Willen jeder versucht, den das Sittengesetz „in ihm“ mit der gleichen Ehrfurcht erfüllt wie der gestirnte Himmel über ihm; der ferner klar erkannt hat, daß das Gute nur in menschlicher Gemeinschaft wachsen und gedeihen kann. Darum möge der Wert einer Lehre und einer Gemeinde daran gemessen werden, ob und inwieweit sie das innere Leben und die innere Erleuchtung der Seelen, die sie empfangen, befördern; ob sie den Mut stärken und heben, den aller Dienst am Ideale erfordert; ob sie sich fruchtbar erweisen in der Mitteilung an die Jugend und also eine mit Treue und Liebe gepflegte

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der gestirnte Himmel über ihm: Vgl. Kant 1963: 186: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, …: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.

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Ueberlieferung werden können; ob man erwarten dürfe, daß sie in Dauer ein Uebergewicht des inneren Lebens über die unermeßlichen Widerstände des äußeren und dadurch die Bildung heroischer Charaktere begünstigen werde, die für sie zu leben und zu sterben entschlossen sind? –

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(A) Die Religion des Heiligen Geistes fordert von den Menschen, die sich zu ihr bekennen wollen, kein Opfer des Verstandes, kein Gefangengeben der Vernunft, sondern vielmehr die vollkommene [29] Freiheit ihrer geistigen Kräfte, von der sie erwartet, daß sie den Allgeist – wenn auch nur aus unendlicher Entfernung – erkennen und ihm die innigste lebendig-tätige Verehrung widmen werden. Das ewige und unendliche Sein kommt unserem Gefühl und unserem Denken um so näher, je mehr wir es als Geist aufzufassen und in uns aufzunehmen uns entschliessen – so ist es das schaffende unbegreifbare, unergründlich tiefe Wesen aller Dinge, das Urlebendige, Allumfassende, Allerhaltende, das der menschlichen Seele sich offenbart in der Natur mit ihrer unerschöpflichen Fülle und Wahrheit; in der Menschheit, wie sie aus der Natur sich entwickelt, die Natur sich dienstbar macht, mit der Natur ringt und gegen sie frevelt, dennoch in ihrem dunklen Drange des Weges zur Menschlichkeit allmählich bewußter wird; endlich im einzelnen menschlichen Geiste, wenn und so oft er der Erkenntnis und Liebe teilhaftig wird, worin er sich selber als schattenhaften Abglanz des Heiligen Geistes ahnt. Den Heiligen Geist zu wahren, wird daher jeder Mensch willens sein, der zu denken und denkend zu genießen gelernt hat; er wird die Schönheit der Natur immer aufs neue dankbar in sich wirken lassen, er wird die Geschichte der Menschheit, deren Glied er selber ist, andächtig, wenn auch oft mit Scham und Schauder, betrachten; er wird im eigenen Gewissen die „Sonne seines Sittentags“ (nach Goethes Ausdruck) anerkennen, die ihn das Gute lieben und bewirken heißt, weil er das Heilige in Natur und Kultur erkannt hat, das Heilige des Naturgesetzes und das Heilige des Sittengesetzes, wo „heilig“ so viel heißt, als daß es das ist, was wir als unser Heil, als unsere Veredlung empfinden und fühlen: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein“ (Kant). Um wirksam zu werden für eine geistig-sittliche Wiedergeburt, wird die Verehrung des Heiligen Geistes das ganze menschliche Leben erfüllen, 23

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Sonne seines Sittentags: Vgl. Goethe 1998: 1. Bd., 370 („Vermächtnis“): „Wirst keine Regel da vermissen, / Denn das selbständige Gewissen / Ist Sonne deinem Sittentag“. „… muß ihm heilig sein“: Vgl. Kant 1963a: 102.

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des Einzelnen, wie der Gemeinde. Sie wird in Worten, Bildern, Tönen sich kundgeben, nach Art der christlichen Religion und ihrer Kirchen, aus denen sie entspringt. In Worten: sie werden Wiederholungen und Deutungen des Einen Wortes sein, des Logos, der in 1000 Strahlen leuchtet, der „empfangen worden ist vom Heiligen Geiste“, der von Ursprung her war, und der immer sein [30] wird, dessen Samenkörner (Logos spermatikos) überall sprießen und ihre Früchte tragen in den durch die Zeitalter wachsenden „Bäumen des Lebens“. – In Bildern: die bildende Kunst sei heilig, sei von Ehrfurcht erfüllt und Ehrfurcht gebietend. Sie muß wissend und wollend der Forderung gerecht werden, die Goethe als eine Tatsache von ihr aussagt in den Worten „Die Kunst ruht auf einer Art religiösen Sinns, auf einem tiefen unerschütterlichen Ernst; deswegen sie sich auch so gern mit der Religion vereinigt“. Die Religion des Geistes wird streben nach dieser Vereinigung, sie wird den tiefen unerschütterlichen Ernst, den die große Schar der heutigen Künstler all zu sehr vermissen läßt, wiederum erzeugen und pflegen. Wenn aber Goethe an anderer Stelle „die Kunst eine Vermittlerin des Unaussprechlichen“ nennt, so gilt dies in höchster und schönster Weise von der Tonkunst, deren Würde, wie er selber sagt, „das Heilige ganz gemäß ist“ („und hier hat sie die größte Wirkung auf das Leben, welche sich durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt“); denn was gibt es Unaussprechliches, wenn nicht das Heilige? – Darum, wer die gewaltigen Werke eines Palestrina, Bach, Händel, Beethoven oder auch die Majestät eines schlichten Kirchengesanges in tiefster Seele empfängt, der wird in Wahrheit von den Schauern des Heiligen Unaussprechlichen erfaßt, der Augenblick wird ihm Ewigkeit, er fühlt sich versinkend in den Harmonien und wieder emportauchend geläutert, als ein neuer, ein wiedergeborener Mensch. – Bemerkenswert scheint im Ausblick auf einen solchen „Gottesdienst“ – wenn man dies Wort auf den Kultus des Geistes anwenden darf – daß auch Herbert Spencer, der ehrlich-nüchterne Herold einer streng naturwissenschaftlichen Ansicht der Welt und des menschlichen Lebens, 13

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„… mit der Religion vereinigt“: Vgl. Goethe 1998: 12. Bd., 468 („Maximen und Reflexionen“): „Die Kunst ruht auf einer Art religiosem Sinn, …“. – Das Folgende korrekt zitiert. „… an anderer Stelle“: Vgl. Goethe 1881: 2. Bd., 586: „Die Kunst ist eine Vermittlerin des Unaussprechlichen; darum scheint es eine Torheit, sie wiederum durch Worte vermitteln zu wollen“. „… Epochen gleich bleibt“: Vgl. ebd.: 473: „Die Musik ist heilig oder profan. Das Heilige ist ihrer Würde ganz gemäß, und hier hat sie die größte Wirkung aufs Leben, welche sich durch alle Zeiten und Epochen gleich bleibt. Die profane sollte durchaus Leiter sein“.

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über den „Ecclesiastical Prospect“ sich dahin äußert: „… it does not follow that there will lapse all observances tending to keep alive a consciousness of the relation in which we stand to the Unknown Cause, and tending to give expression to the sentiment accompanying that consciousness. There will remain a need for qualifying that too prosaic and material form of life which tends to result from absorption in daily work, and there will ever be a sphere for those who are able to impress their hearers with a due [31] sense of the Mystery in which the origin and meaning of the Universe are shrouded. It may be anticipated, too, that musical expression to the sentiment accompanying this sense will not only survive but undergo further development. Already protestant cathedral music, more impersonal than any other, serves not unfitly to express feelings suggested by the thought of a transitory life, alike of the individual and of the race – a life which is but an infinitesimal product of a Power without any bounds we can find or imagine; and hereafter such music may still better express these feelings.“ – Aber nicht Musik allein: mit den tönenden und den bildenden Künsten verbinden sich die redenden – und nicht zum wenigsten die Poesie – um einen würdigen Kultus des Ewigen und Unendlichen Geistes zu weihen, den auch Spencer als „the Great Enigma“ (das große Rätsel), the Ultimate Reality (die letzte Wirklichkeit), the Inscrutable Existence (das unerforschlicheDasein), the Infinite and Eternal Energy (die unermeßliche und ewige Energie) verehrt.

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„… these feelings“: Vgl. Spencer 1885: § 655, 825 („Ecclesiastical Retrospect and Prospect“).

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(B) Daß durch und um die Verehrung eines Menschen, einer Idee oder einer Gottheit sich eine „Gemeinde“ bildet, ist ein natürlicher Vorgang, den man immer von neuem beobachten kann. Aber solche Gemeinden haben oft nur geringe Bedeutung und keine Dauer, sie sind flüchtige Gebilde des Tages – Ansammlungen von Menschen, die von gleichen Gefühlen beseelt sind, ohne daß diese Gefühle beständig sind, ohne daß sie Gemeinschaft zu bilden vermögen; mehr ein Publikum als eine Gemeinde zu nennen. Je tiefer und stärker die Gefühle sind, um so eher werden sie die Menschen innerlich und dauernd verbinden, um so leichter wird auch die innerliche Vereinigung sich eine äußerliche Organisation geben. An Stärke und Tiefe können keine anderen Gefühle mit den religiösen Gefühlen sich messen, zumal nachdem diese ihre rohen Bande, die der egoistischen Wünsche und beschränkten Vorstellungen, abgestreift haben. Wenn die Verehrung des Heiligen Geistes diese Stärke und Tiefe schon durch ihre Herkunft aus der Vermählung des philosophischen Gedankens mit der religiösen Stimmung besitzt, so wird sie auch in einer Gemeinde als bleibendem und des Wachstums fähigem Verein niederschlagen, wie der [32] Buddhismus und der christliche Glaube. Die typische Gemeinde des Buddhismus (Samgha) ist der Orden von Bettelmönchen, die „dem Erhabenen“ gleich zu werden trachten; die des Christentums die Gemeinde von Familien, die „in Jesu Namen“ beisammen sind; in seinen älteren Gestaltungen hat es daneben, wie bekannt, auch, und mit großer Bedeutung, Orden hervorgebracht, in denen Männer mit Männern oder Frauen mit Frauen zusammenleben, zusammenwirken in Gebet und Arbeit. – Die Religion des Heiligen Geistes die in wesentlichen Grundsätzen an die freieren protestantischen Formen des Christentums sich anschließen und als deren Sproß emporstreben wird, dürfte diesen auch in der Gemeindebildung und Pflege des Gemeindelebens folgen. Diese Gemeinden – als solche eines Ortes oder einer Landschaft – werden sich innerlich ganz selbständig konstituiren, aber sie werden Zusammenhang und Verständigung suchen, um einander gegenseitig zu fördern und die äußeren Angelegenheiten gemeinsam zu ordnen. Sie werden keine Heilige Kirche bilden, die als Heilsanstalt übernatürliche Gaben und Gnaden zu spenden und zu vermitteln in Anspruch nähme. Sie werden aber auch be-

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hutsam vor dem ausschließlichen und leicht „pharisäischen“ Sektengeist derer, die sich und sich allein für die Berufenen halten, sich wahren müssen. Der Einfluß der Frauen sollte in ihnen mächtig sein. Die Frauen müssen der Gemeinde ihre sittliche Richtung geben, ihren Charakter bestimmen. Heute leiden gebildete, tief empfindende Frauen am meisten unter dem Zwiespalt von „Wissen“ und „Glauben“, unter dem Riß, den er all zu oft in den Familien, auch zwischen Mann und Frau in der Ehe hervorruft, wo oft das Wissen des Mannes und der Glaube der Frau einander hart und schroff begegnen oder ohne gegenseitiges Verständnis nebeneinander leben. Ihren Ausgleich suchen wir in der Verehrung des Ewigen und Unendlichen Geistes. Es ist das ethische und das ästhetische Moment, was die Frauen an die überlieferten Formen der Religion fesselt. Je mehr wir von beiden nicht nur hinüberretten, sondern bewußt erneuernd pflegen, um so mehr werden wir die weibliche Treue für die Sache gewinnen und die weibliche Liebe in ihr fruchtbar machen. Die Frauen suchen überall, zum Teil im Sinn eines religiösen Glaubens, aber [33] nicht weniger lebhaft ohne solche Motivation, nach „sozialer“ Betätigung, „sozialem“ Dienste. Sie wollen an ihrem Teile wirken, die „soziale Frage“ zu lösen, d. i. die Spannung zwischen den Schichten des Volkes zu mildern, insbesondere das Los der Frauen und Kinder der Arbeiterklasse zu erleichtern, die Durchführung der sozialen Gesetzgebung zu überwachen, das Studium der Tatsachen und Probleme auf sich zu nehmen und zu befördern, die Volksbildung zu heben – alles das aus dem Gefühle und der Ueberzeugung, daß eine Schuld der oberen gegen die unteren Schichten gutzumachen ist, daß die bessere äußere Lage Pflichten auferlegt, daß gerade sie, die Frauen, sühnend und versöhnend, also heilend und hebend, ihren Einfluß geltend zu machen vermögen. In diesem Sinne und Geiste heißt es in Schillers schönem Gedicht „Würde der Frauen“: „Aber mit sanft überredender Bitte führen die Frauen das Scepter der Sitte Löschen die Zwietracht, die tobend entglüht. Lehren die Kräfte, die feindlich sich hassen, Sich in der lieblichen Form zu umfassen, Und vereinen, was ewig sich flieht“.

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„Würde der Frauen“: Vgl. Schiller 1853a: 1. Bd., 345.; dort statt „das Scepter“: „den Scepter“. Hervorhebung der 3. Zeile von Tönnies. Möglicherweise benutzte Tönnies eine Ausgabe, die seiner Zitierweise entspricht.

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Aber die Frauen erkennen oft nicht klar und scharf genug, daß ihre Aufgabe nicht darin besteht, den Männern so sehr als möglich ähnlich zu werden, es ihnen gleich zu tun, gleiche Rechte als gleiche Individuen zu gewinnen und den Kampf der Klassen im Innern des Volkes durch den Kampf der Geschlechter zu vermehren und zu beschweren – daß sie vielmehr das, was ihnen eigentümlich ist, die „Anmut“, wie Schiller in einem anderen Gedicht sagt, walten lassen müssen, um auf ihre Art zu „herrschen“ – daß daher das Haus immer ihr eigenstes Heiligtum bleibt, und daß sie mit der Flamme des Herdes das heilige Feuer des Familiengeistes innerhalb der Gemeinde zu hüten berufen sind, das immer gefährdet ist, teils durch die natürliche Rohheit der Selbstsucht, teils – und heute viel mehr – gerade durch die schärfere Ausbildung des individuellen bewußten Strebens und Denkens; [34] und der Gesellschaft, die daraus hervorgeht.

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„Anmut“: Vgl. ebd.: 359: „Aber durch Anmuth allein herrschet und herrsche das Weib“.

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(C) Die Gemeinde wird sich die sittlichen Ideale, welche sie zu den ihrigen macht, als die Zwecke ihres Lebens unablässig angelegen sein lassen, und zwar so sehr als möglich in wissenschaftlichem Sinne: sie wird die psychologischen und soziologischen Bedingungen und Ursachen des Guten, also der menschlichen Veredlung erforschen, insbesondere die Zusammenhänge leiblicher und geistiger Gesundheit, normaler Lebensverhältnisse des sozialen Körpers und normaler Beschaffenheit des Individuums – des „gerechten Zustandes“ der „Polis“ mit dem gerechten Zustande der einzelnen Seele, wie Plato diesen Zusammenhang mit unübertroffener Genialität geschildert hat. Wie überall die physiologische Erkenntnis durch die pathologische Erfahrung und Einsicht gewinnt, so wird es auch hier der Fall sein. Und es ist durch die sozialwissenschaftliche Arbeit des letzten halben Jahrhunderts nicht wenig gewonnen worden; für den Fortgang dieser Studien hat bisher ein so intensives Interesse der Mitwelt gefehlt, wie es den Naturwissenschaften immer durch die materiellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten, an denen auch Fürsten und Staatsmänner verständnisvoller als an den moralischen teilzunehmen pflegten, zugefallen ist. Gleichwohl sind wichtige Erkenntnisse und Gesichtspunkte durch die Methoden der Beobachtung und Zählung bestätigt worden und zum Teil schon ins allgemeine Bewußtsein übergegangen. So der Wert eines anständigen und behaglichen Wohnens nicht nur für die Gesundheit, sondern auch für die Sittlichkeit, die Gefahren mancher Kategorien von Eheschließungen (weite Verschiedenheit der Rasse, der Religion, des Lebensalters, der Herkunft) für das Gedeihen der Ehe wie der Nachkommenschaft; die verhängnisvolle Rache, die oft das außerehelich geborene Kind an der Gesellschaft nimmt, die ihm sein trauriges Los bereitet hat, u. a. Zugleich aber wird uralte Weisheit bewahrt und erneuert werden, wie sie in dem Worte sich ausprägt: „Wer die Jugend hat, dem gehört die Zukunft.“ [35] Darum ist die sittliche Erziehung der Jugend noch viel wichtiger als die intellektuelle Bildung, in deren Schätzung unser Zeitalter, einseitig auf äußere Vorteile

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Plato: Vgl. Platons Politeia (1959c).

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erpicht, sich nicht genugzutun weiß. Es muß anerkannt werden, daß die bloße Verstandesförderung, auf einen rohen und unedlen Willen gepfropft, mehr Unheil als Heil bringt; die meisten Unredlichkeiten des modernen Geschäftslebens – sie sind so häufig wie raffinirt – sind nur möglich durch den relativ hohen Stand des Wissens und Könnens seiner Träger, durch Gewandtheit in Rede und Schrift, und diese verdanken sie zum guten Teile den Schulen, durch die man sie, oft mit Hilfe von Staat und Gemeinde, hindurchgehen ließ. Ueberall macht die Gestalt sich bemerkt, die man auf Englisch den cunning rascal nennt. Die öffentlichen Unterrichtsanstalten können allerdings für die sittliche Entwicklung der ihnen anvertrauten Jugend unmittelbar wenig tun; diese bleibt in erster Linie Aufgabe der häuslichen Erziehung; wenn diese mangelhaft oder sogar schlecht ist, so vermag die Schule den Schaden nicht zu heilen oder den Mangel zu ersetzen; schon weil der Lehrer dem einzelnen Kinde zu wenig seine Aufmerksamkeit zu widmen vermag. Wohl aber kann eine Gemeinde dahin wirken – sie kann gleichsam als Ersatzgewebe die Funktionen des schwachen oder kranken Organs übernehmen. Wie auch jetzt in manchen Städten ein „Waisenrat“ verpflichtet wird, sich vaterloser, vollends ganz-verwaister Kinder anzunehmen, so wird die (hier vorgestellte religiöse) Gemeinde nicht nur mit allem Ernste sich angelegen sein lassen, der Verwahrlosung und Entsittlichung vorzubeugen, sondern sie wird auch – zunächst innerhalb, wenn aber die Bedingungen dafür gegeben sind, auch außerhalb ihres Kreises – direkte Wirkungen durch Herstellung der Umstände erzielen, die sie für unerläßlich notwendig hält, um Kinder zu gesunden Gliedern menschlicher Gemeinschaft heranzubilden. Das ist eine höchst bedeutende und tiefe Aufgabe, die schon dadurch, daß sie bewußt wird, das Gesamtbewußtsein der Gemeinde zu heben und zu erfüllen geeignet ist, und ihrem Wesen nach ganz besonders den Frauen am Herzen liegen muß. „Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Auch die Erzeugung leiblich und seelisch gesunder Kinder – die Eugenik – ist eine sittliche [36] Aufgabe von höchstem Range. – Die Aufgabe erweitert sich aber aus sich selber zu der größeren, für die Volkserziehung zu arbeiten. Auch in dieser Hinsicht sind schon während des jüngsten Menschenalters die früheren flacheren Bestrebungen erheblich vertieft worden. Nach einer Beobachtung der in England damals gepflegten University Extension schrieb vor 25 Jahren ein deutscher Schriftsteller, der Kern dieser merkwürdigen Bewegung

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„… ihrer ist das Himmelreich“: Vgl. Bibel (1912), NT, Matthäus 19, 14.

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sei in der Entstehung eines „weltlichen Klerus“ zu finden. Der Verfasser eines angesehenen Werkes über „Sozialpädagogik“, das die Theorie der Willenserziehung auf der Grundlage der Gemeinschaft entwickeln will, schrieb, indem er sich jenen Gedanken zu eigen machte: „Was anders hat der alte Klerus denn darstellen wollen als eine schlechthin universale Organisation der Fürsorge für das geistige Bedürfniss aller, so wie man dies Bedürfen und diese Fürsorge auf der damaligen Stufe sozialer Entwicklung verstand und vielleicht nur verstehen konnte? Das unterscheidende Kennzeichen eines „weltlichen“ Klerus aber läge in der Ueberwindung des Autoritäts-Charakters der geistigen Fürsorge. Dieser folgt keineswegs aus der Voraussetzung des Uebersinnlichen an und für sich, sondern aus dem Anspruch einer bevorrechteten Klasse, „Geistlicher“, im Besitze der allein wahren Erkenntnis des Uebersinnlichen und der nächsten, unmittelbarsten Beziehung zu ihm zu sein … Genau das ist es nun aber, was die moderne Entwicklung schlechterdings ablehnt; was sie ablehnen muß, sogar vom religiösen Standpunkt selbst; denn gerade das Göttliche für den Menschen gestattet sie nicht mehr zu denken als Offenbarung an eine selbst bei der Gottheit privilegirte Klasse, sondern allein an ‚den‘ Menschen oder an die ‚Menschheit‘.“ Die religiöse Gemeinde der Zukunft wird keinen geistlichen Stand aus sich hervorbringen. Sie wird in dieser Hinsicht auf dem Boden des ursprünglichen reformatorischen Christentums stehen, der wohl am folgerichtigsten durch die „Society of Friends“ vertreten wird; deren Organisation kann als eine Leuchte auf ihrem Wege dienen. Um so mehr wird die Gemeinde den Beruf des Lehrers und der Lehrerin, als der Träger ihrer Weisheit, pflegen, zu fruchtbarer Wirkung auf Jugend und Volk. In Deutschland ist eine Bewegung für die Einrichtung von „Volks-Hochschulen“ mehr und mehr lebhaft [37] geworden, die ihren heimatlichen Sitz in Skandinavien hat. In Dänemark und in Schweden blühen diese Schulen als Internate (boarding schools) auf dem Lande; sie stammen von der mächtigen Anregung, die der dänische Geistliche Grundtvig dafür gegeben hat. Er legt die Erziehung, die dem erwachsenen Menschen, in der Regel vor der Verehelichung, zuteil werden soll, dahin aus, daß sie Anleitung zur Selbsterziehung sein

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„Sozialpädagogik“: Vgl. Natorp 1909, dort auch das folgende Zitat (S. 242). Die hierbei von Tönnies ausgelassene Stelle lautet: „… was ja freilich, sofern man damit Glauben findet, die unüberwindlichste Autorität schaffen muß.“ – „Menschheit“ dort nicht in Anführungsstrichen. Society of Friends: Das sind die Quäker.

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solle. Er hat dem dänischen Volkshochschulwesen einen ausgeprägt nationalen Charakter verliehen. In Deutschland sammelt sich alles, was an stillem Idealismus vorhanden ist, um diesen Zukunftsgedanken und seine Verheißung. Das Schicksal und die schwere Not der Zeit, die auch eine Seelennot ist, steht dahinter. Ausgesprochen nationale und ausgesprochen kosmopolitische Gesinnungen streiten in dieser Bewegung. Die Religion des Heiligen Geistes wird sie in sich zu vereinen und zu versöhnen bemüht sein müssen. Sie wird das heimatliche Wesen ehren und pflegen, wird in der heimatlichen Sprache, Sitte, Literatur und Kunst die Quellen aufweisen, die „sich tausendfach öffnen für den Dürstenden in der Wüste (Goethe, „Harzreise im Winter“). Aber sie wird zugleich das gemeinsame Gut, nicht nur der Nation, sondern der Menschheit, insbesondere der europäischen Menschheit, womit jene Güter unauflöslich verwoben sind, dem Volke zugänglich machen und ihre Genugtuung darin finden, wenn sie dadurch den Beweggründen des Hasses und Zornes, der Verachtung und der Rache entgegenwirken kann. Die sittliche Erziehung muß außerhalb der politischen Kämpfe stehen. Der staatsbürgerliche Unterricht, eine wichtige Aufgabe der Volkshochschule, muß in hohem Grade wissenschaftliche Objektivität sich angelegen sein lassen, wenn er durch das Verständnis für die Verfassung und die Gesetze des eigenen Landes die Neigung dazu mehr fördern als hemmen mag. In Beurteilung der Partei, die seiner eigenen entgegengerichtet ist, muß ebenso wie in Beurteilung fremder und entgegengerichteter Staaten der Takt des Erziehers als Weisheit sich bewähren. Niemals darf er das Ideal der Humanität aus den Augen verlieren! Niemals daher blindlings seinen persönlichen Gefühlen, parteilichen oder nationalen, vertrauen und folgen, sondern durch das Streben nach Gerechtigkeit sie ebenso beherrschen, wie der Richter sein Mißfallen an einem Angeklagten [38] oder sein Wohlgefallen an ihm unterdrückt, um seinem Beruf und seiner Pflicht gemäß ein streng sachliches Urteil zu fällen. Solches pflichtmäßige Verhalten muß auch der Lehrer, zumal der Lehrer für erwachsene Menschen, in seiner Seele hegen und pflegen. Sittliche Ideale und pädagogische Ideale sind untrennbar voneinander.

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Harzreise im Winter: Vgl. Goethe 1998: 1. Bd., 51: „Öffne den umwölkten Blick | Über die tausend Quellen | Neben dem Durstenden | In der Wüste!“.

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(D) Der Erziehung wie dem Kultus dient die Pflege der schönen und edlen Kunst: der bildenden wie der musischen Künste. Die vollkommene Kunst ist Dienst am Ewigen und Unendlichen Geiste. Sie stimmt zur Andacht. Sie vermag die Seele zu erheben wie zu vertiefen, zu trösten wie zu läutern: besser als es Worte vermögen, wenngleich auch die Kunst der guten Rede solche Wirkungen auslöst. Je reiner Kunst dem Ideal der Schönheit sich hingibt, um so eher verschönt und erleuchtet sie den Geist dessen, der sie ausübt, wie dessen, der sie empfängt. In beiden verbinden sich Phantasie und Gefühl, aber im Schaffenden muß Phantasie überwiegen, deren gestaltende, zeugende Kraft wir „Genie“ nennen; im Empfangenden das Gefühl – ein Gefühl, das in seinen höchsten Momenten Beseligung von sich aussagt. Alle Kunst vollendet sich in Harmonie, darum vermag sie auf die harmonische Ausbildung der physischen, geistigen und sittlichen Fähigkeiten innerlichen Einfluß zu üben. Diese ist das Schöne und Gute, dem die antike Weisheit nachstrebte, wir fügen den beiden das „Wahre“ hinzu, „um im Wahren, Guten, Schönen Resolut zu leben“ – und setzen in diese Dreifaltigkeit das Wesen des Erhabenen, das nach Kant „durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne gefällt“, weil es im Unterschied vom Schönen mit Reizen unvereinbar sei; darum sei das Wohlgefallen am Erhabenen nicht sowohl positive Lust als vielmehr Bewunderung oder Achtung. Die Anschauung selber steigt zum Erhabenen auf, indem sie von dem Erddurchmesser zu dem uns bekannten Planetensystem, von da zum System der Milchstraße übergeht: „und die unermeßliche Menge solcher Milchstraßensysteme, unter dem Namen der Nebelsterne, welche vermutlich wiederum ein dergleichen System unter [39] sich ausmachen, läßt uns hier keine Grenzen erwarten“ (Kritik der Urteilskraft ed. Vorländer S. 107). Einen erhabenen Abschluß findet diese Anschauung im pythagoräischen Gedanken der das All erfüllenden „Weltseele“, den in neuerer Zeit Fechner schön verjüngt hat. „Wie

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„… gegen das Interesse der Sinne gefällt“: Vgl. Kant 1963b: 114: „Erhaben ist das, was durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefällt“. ed. Vorländer S. 107: Vgl. Kant 1902, zweites Buch, § 26.

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alle Gestirne nach materieller Seite der Natur als dem Inbegriff alles Körperlichen angehören, so alle Geister der Gestirne dem Geiste, welcher der ganzen Natur zugehört“, Fechner fügt hinzu: d. i. dem göttlichen Geiste, aber die Natur an welche unsere Denkkraft heranreicht, ist nicht gleich dem Ewigen und Unendlichen selber (Fechner, Zend-Avesta II, 390). Mit Fechners Worten (Das. I, 386), wo er das Zusammenwirken der Künste in Kirchen schildert, mögen auch wir sagen: „Und das alles stimmt zusammen, das Denken, Wollen, Fühlen Aller in Einer Richtung zu erheben, der Richtung dessen, was ewig einig über Allen schwebt.“ Einen poetischen Ausdruck gab die Schule des Pythagoras ihrer Spekulation durch die Lehre von der Harmonie der Sphären. Die Philosophie wird der Kunst wesensgleich als erhabene Lehre. Oft ist von dem Widerstreit zwischen Kunst und Sittlichkeit die Rede gewesen. Die, die in der Geschichte der christlichen Kirche so bedeutend auftreten, geben dem Unwillen des frommen Sinnes gegen die Neigung der Menge, Bilder anzubeten, Ausdruck, aber auch der Abneigung gegen die weltliche Pracht und die buhlerische Schönheit. Die ganze calvinische und puritanische Reformation verbannt die bildenden Künste. Aber auch sie verschmäht das Erhabene nicht, ja sie liebt es im Kirchenbau, auch in Orgelspiel und Glockenklang; wenngleich die radikale täuferische Richtung auch diese Reize verwirft. In Wahrheit kann ein Zwiespalt zwischen Kunst und Sittlichkeit nur bestehen, sofern der schönen Kunst das Element des Erhabenen mangelt; aber so lange, als sie die sittliche Vernunft nicht kränkt, muß diese wenigstens duldend und wohlwollend sich zu ihr verhalten, ja sie darf ihr mit Ehrfurcht begegnen. Sie sollte die Anmut nicht vertreiben, deren Pflege ihrer Würde keinen Eintrag tut. Anmut ist (nach Schiller) der Ausdruck einer schönen Seele, wie Würde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. [40] Um so mehr muß die würdelose, der rohen Sinnlichkeit und Genußsucht fröhnende Kunst, die immer ein unechtes Gepräge hat, bekämpft und ferngehalten werden. Sie darf den geweihten Tempel nicht betreten, der dem Wahren, Schönen, Guten erbaut wird. Die Schönheit, mit der sie den Geist betört, ruht nicht auf Wirklichkeit, sondern auf Schein. Sie beleidigt den edleren Sinn, wie die Schönheit eines menschlichen Körpers, aus dessen Antlitz die Gedankenleere oder sogar das Laster uns entgegenstarrt. 3 9 11

d. i. dem göttlichen Geiste: Vgl. Fechner 1851: 2. Theil, 390. über Allen schwebt: Vgl. ebd.: 1. Theil, 386. Harmonie der Sphären: D. i. der gesetzmäßige Kreislauf der Planeten um das Zentralfeuer (hestia), den ein musikalischer Heptachord begleitet.

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(E) Beispiele wirken mehr als Lehren. Die Gemeinde des Geistes muß ein Vorbild edler und strenger Sitte sein, um im Sinne einer geistig-sittlichen Wiedergeburt mit Erfolg zu wirken. Sie muß diesen Gedanken nicht nur durch Worte, sondern mehr durch Taten vertreten. Freilich, die bewußte und nachhaltige Verkündigung eines großen und notwendigen Gedankens ist selber eine Tat. Ein Gedanke von dieser Art ist die Wiedergeburt, wenn sie so gedeutet wird, daß jeder Redliche dazu mitwirken kann. Die Gestalt des sittlichen Lebens, die jeden nahe angeht, ist das Familienleben. Erneuerung, Vertiefung, Veredlung des Familienlebens und Familiengeistes wollten wir der Gemeinde als Ziel ihres Strebens vorstellen. Alles was sie in diesem Sinne unternimmt und bewirkt, wird sich als segensreich erweisen. Den einzelnen Menschen, zumal jungen Männern, wird in den Kämpfen und Nöten ihres Lebens dies Bekenntnis stärkend, erhebend und trostreich sein. Besonders aber werden darin die Frauen ihre Quelle reiner Begeisterung finden und sich daran erquicken. Je mehr die Frauen in der Gemeinde sich ihres priesterlichen Berufes bewußt werden, um so mehr werden sie die neue Gemeinde volkstümlich und stark machen. Das Beharren in gewohnten Vorstellungen und Gebräuchen verhindert oft die Frauen, notwendige Aufgaben mit bewußter Tatkraft und mit klarem Verstande zu erfassen. Das ist es aber, was not tut. Von Männern müssen die Frauen lernen, die Ursachen der Uebel, die sie oft lebhafter empfinden, deutlicher und rücksichtsloser zu erkennen. Nur so können wir verbunden arbeiten, solche Ursachen zu bekämpfen, [41] zu dämpfen, zu ersticken. Wir werden zeigen müssen, daß wenigstens in engeren Bezirken die Herstellung besserer Zustände, die Hebung moralischer Gesinnungen, die Erziehung edler und starker Charaktere möglich ist, und daß solches nicht das Werk des Klagens, Scheltens, Wünschens, auch nicht des Glaubens und Betens ist, sondern allein entschlossener Arbeit und unseres eigenen Willens. Helfen mag dazu manchem das Glauben und Beten, wie es dem Verlangen seines Herzens entspricht; helfen wird auch die Weltanschauung, die unablässig auf den Heiligen Geist, auf das Ewige und Unendliche Sein, den eigenen Geist gerichtet hält. Helfen wird vor allem das Zusammenwirken, die Genossenschaft von wahlverwandten Familien, die sich gemeinsam zu solcher

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Religion bekennen und die Erneuerung des sozialen Lebens durch die Familie als gemeinsames Ziel sich setzen. Helfen muß endlich ein SittenAmt, das auch als Gerichtshof zu wirken befugt sei. Drei Gedanken muß dies Sitten-Amt pflegen und zu verwirklichen suchen: 1. die Lebensweise einfacher, natürlicher, gesunder zu machen 2. die Geselligkeit ernster, sinnvoller, wahrer zu machen 3. das Verständnis zwischen männlicher und weiblicher Denkungsart zu heben. Der erste Punkt ist von unmittelbarer sittlicher Bedeutung, weil er eine gleichmäßige Verteilung derjenigen Erzeugnisse volkswirtschaftlicher Arbeit begünstigt, die für Familienleben und Erziehung unbedingt notwendig sind. Was den zweiten Punkt betrifft, so wird gemeinsame Feier wieder mehr die sonst geschiedenen sozialen Schichten zusammenführen und das gegenseitige Verständnis fördern. Die führende Schicht wird ihrem Beruf, also ihrer Pflicht, entfremdet durch die unsinnige Zerstreuung eines auf Eitelkeit beruhenden und Eitelkeit reizenden geselligen Lebens; durch die Ruhelosigkeit und Oberflächlichkeit des Reisens, der Kunstgenüsse, der dilettantischen unnützen Beschäftigungen. Die große Menge strebt dem Vorbilde nach oder wird durch die spekulativ berechneten Reizungen an seichte, dem Gemüt verderbliche Lustbarkeiten gefesselt und gewöhnt. – Der dritte Punkt führt in den Kern des Familienwesens: die Ehe. Die Strenge der Ehesitten ist ein Prüfstein der gesamten Gesittung. Unser heutiges Kulturleben besteht diese Probe schlecht. Die Tatsachen, wenngleich sie nur zum geringen Teile bekannt werden, [42] zeigen die sittlichen Zustände in allen Schichten von ihrer schlimmsten Seite. Die Prostitution – in der englischen Sprache mit gutem Grunde als das „soziale Uebel“ schlechthin verstanden – nimmt einen immer breiteren Raum vorzüglich des großstädtischen Lebens und Treibens ein, wirkt verunedelnd auf Literatur und Kunst und drängt sich mit dem Ehebruch unmittelbar in den Schoß des Familienlebens hinein, als zersetzendes und tötliches Gift wirkend. Viele Schuld wird mit Grund dem Alkoholismus gegeben. Aber selbst das gesetzliche Verbot des Alkohols, wenn es als dauerndes sich durchführen ließe, würde diesem Unheil mehr in den Erscheinungen als im Wesen entgegenwirken. Die Eitelkeit und Vergnügungssucht der Frauen, Habsucht und Herrschsucht der Männer, werden auch ohne geistige Getränke sich ungehemmt geltend machen, wenn ihnen nicht eine Reform der Gesinnungen, eine verbesserte Schätzung der Güter des Lebens entgegenwirkt. Das Familienleben wird der Gefahr seiner Zerrüttung leicht erliegen, solange nicht sein Wert und seine Bedeutung mit dem innersten Herzen erkannt wird, solange nicht seine Pflege durch den kategorischen Imperativ beherrscht wird. Das Pflichtbewußtsein, von

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dem die Menschen heute sich viel lieber in ihrem Berufs- als in ihrem Familienleben leiten lassen, muß die Ehe in ihrem tiefsten Grunde, der nicht von sinnlicher Beschaffenheit ist, festigen und heiligen. Hier darf es keine Nachgiebigkeit, keine Empfindsamkeit und Schlaffheit geben. Die trefflichen Sätze Kants finden hier Anwendung: „Also muß die Sittlichkeit auf das menschliche Herz desto mehr Kraft haben, je reiner sie dargestellt wird. Woraus dann folgt, daß, wenn das Gesetz der Sitten, und das Bild der Heiligkeit und Tugend auf unsere Seele überall einigen Einfluß ausüben soll, sie diesen nur sofern ausüben könne, als sie rein, unvermengt von Absichten auf sein Wohlbefinden, als Triebfeder ans Herz gelegt wird, darum weil sie sich im Leiden am herrlichsten zeigt.“ Dienstbereitschaft darf als das allgemeine Wesen des Pflichtbewußtseins angesprochen werden. Sie enthält die Bereitschaft in sich für den Lebensgefährten, für die Brüder, für die Kinder, für die Volksgenossen, für die Menschheit, für eine gemeinsame Sache, für das Ideal zu leiden, und, wenn es geboten ist, zu sterben. [43] Von dieser Dienstbereitschaft und dem sie belebenden Pflicht-Gefühl gibt auch der Kriegsdienst, ungeachtet aller seiner Schrecken und Greuel, seiner Verneinung der Menschlichkeit, erhebende Vorbilder. Die Begeisterung des Willens, dem Vaterland zu dienen, für es zu leiden und zu sterben, ist an und für sich ein hoher und lauterer Beweggrund, der auch immer neu sich geltend machen wird, wenn es nach fester und einmütiger Ueberzeugung eines Volkes um Verteidigung seines Landes, seiner heiligsten Güter oder die Befreiung von Schmach und alles Leben ertötenden Lasten sich handelt. Die Ausrottung des Krieges setzt eine sehr viel höhere allgemeine Sittlichkeit voraus, als sie bisher, insbesondere in den Beziehungen der Staaten zueinander, sich bewährt hat. Die Unsittlichkeit ist hier um so tiefer, je mehr sie sich bemüht, durch den Schimmer eines sittlichen Gewandes unkenntlich zu werden. Nur in dem Maße als die Einzelnen in den einzelnen Völkern die Einsicht und den guten Willen gewinnen, um gegen den Strom des „Zeitgeistes“ zu schwimmen, getragen von einem höheren und gewisseren Geiste, nur in dem Maße wird eine brüderliche Gesinnung zwischen den Nationen sich ausbreiten und über die immer neuen Antriebe zur Feindseligkeit die Oberhand gewinnen. Dazu gehört die innerlichste Beschäftigung mit der „sozialen Frage“, deren ungelöster Zustand die Klassen innerhalb der Nationen und durch den Kampf um die Absatzmärkte auch die Nationen entzweit. Wir müssen die Entschlußkraft 11

am herrlichsten zeigt: Vgl. Kant 1922: 5. Bd., 168 f. Das Zitat ist bei Kant ohne Hervorhebungen.

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gewinnen, die kapitalistische Produktionsweise, soweit es möglich und, ohne größere Schädigungen als verminderte Genüsse entbehrlicher oder sogar schädlicher „Güter“ ersprießlich ist, durch die genossenschaftliche zu ersetzen. In der „Cooperation“ sehen wird den gangbarsten Weg dazu. Für sie gilt es, den genossenschaftlichen Geist zu züchten, ohne den sie nicht gedeihen kann; aber ihre Förderung kann auch zur Förderung des genossenschaftlichen Geistes wirken. Die Volkswirtschaft wird dadurch innerlicher, hauswirtschaftlicher, dem Familienleben günstiger; die Arbeit für gemeinschaftliche Zwecke weckt das Streben nach der Fülle des inneren Lebens, das durch die Erpichtheit auf Gewinn erstickt wird, unter der lästigen eintönigen Arbeit für Zwecke, die nicht als selbstbejahte [44] empfunden werden, verkümmert. Veredlung des Arbeitslebens ist Bedingung für Veredlung des Familienlebens und des geselligen Lebens überhaupt. Noch wertvoller in dieser Hinsicht als die genossenschaftliche Anschaffung und Herstellung der Mittel des täglichen Lebens kann die Anwendung dieser ökonomischen Methode auf Wohnungen werden. Die Lieferung von Familienwohnungen wie von irgendwelchen Fabrikwaren für den Markt, die Dürftigkeit und Geistlosigkeit dieser Wohnungen, die Abhängigkeiten der Mieter, sind die schwerwiegendsten Momente der geistigen und sittlichen Verkümmerung des Proletariats. Hier, wenn irgendwo, muß es sich wehren, hier bedarf seine Selbsthilfe der Unterstützung, von diesem Punkte aus kann das Heimwesen sich erneuern, die notwendige Bedingung für Erneuerung des Familiengeistes und also für eine geistig-sittliche Wiedergeburt dieser zahlreichsten Schicht in den Völkern von heute.

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(F) Die Religion des Geistes wird, gleich ihrer Mutter, eine allgemeinmenschliche, – „katholische“ – Religion sein wollen und müssen. Sie wird nicht Propaganda für sich machen, nicht einmal mit dafür bestimmten Worten, geschweige mit Gewalt. Sie wird vielmehr zu allem MenschlichEdlen sich wartend, beobachtend, pflegend verhalten, um das Unedle desto wirksamer zu bekämpfen und, wo es mit sittlichen Mitteln geschehen kann, auszurotten. Die Humanität ist ein Leitmotiv, das allem Menschlichen mit Vorsicht und Achtung zu begegnen sich gebietet, auch dem Geringen und Törichten, ja dem Schlechten und Bösen, so lange als es nicht das Gute schädigt oder gefährdet. Dann freilich ist die Duldung eine falsche Humanität; die wahre wird Festigkeit mit Milde vereinen in den Gegenwirkungen, die sie als unerläßlich anerkennt. Die Idee von einem Reiche der Humanität nennt Höffding die höchste Idee der sozialen Ethik; er beschreibt es als eine Gemeinschaft harmonisch und reich entwickelter Persönlichkeiten. Daß ein solches Reich allgemein werde, ist eine Erwartung von überschwänglicher Art, die wir nicht hegen können, auch wenn wir auf Jahrtausende vorausblicken. Hoffen aber darf man, [45] daß die Gemeinde – vollends die „Kirche“, wenn viele Gemeinden sich frei zu einer solchen vereinigen – solchen harmonisch und reich entwickelten Persönlichkeiten Raum zur Entfaltung ihrer Gaben und ihres Wirkens gewährt, und daß diese, wenn die Idee der geistig-sittlichen Wiedergeburt sie belebt, als einen Sauerteig sich bewähren in der „Welt“, die immer „die Welt“ bleibt – oder, daß sie als Landwirte arbeiten, die guten Samen auf ihren Acker säen, wäre es auch jenes Senfkorn, das kleinste unter allen Samen. Darum ist die echte Liebe und Güte niemals verloren, woher sie auch komme, wo sie auch erscheinen möge; und alles, was im Namen des Geistes von der Gemeinde, die sich ihm mit Andacht widmet, ausgeht, ist Pflege und Förderung der Liebe und Güte, die eherne Mauern bricht und das Polareis schmelzen macht. In Kirche und Schule hören wir von der allgemeinen Menschenliebe als christlicher Pflicht. Sie geht über unser Fassen 25

Senfkorn: Vgl. Bibel (1912) im NT die von Jesus Christus vorgetragenen und in den vier Evangelien in Variationen festgehaltenen Gleichnisse.

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und Vermögen. Sie kann nur wachsen und gedeihen, wenn ihr das Erdreich Nahrung gibt und der Boden bereitet ist. So ist die allgemeine Menschenliebe das Unmögliche, von dem der Dichter sagt: „nur allein der Mensch vermag das Unmögliche“. Was wir vermögen, wenn wir redlich wollen, ist dies: auch dem fremdesten, dem feindlichen Mitmenschen, und, was noch viel schwerer ist, dem abscheulichen, der „Bestie in Menschengestalt“, dem in Lüsten und Laster versunkenen Menschen, können wir uns dadurch innerlich nähern, daß wir ihn zu verstehen suchen, daß wir den Ursachen nachforschen, die aus einem unschuldigen, wenn auch wahrscheinlich mit schlimmen Anlagen belasteten Kinde das gemacht haben, was er wurde; wenn wir bei dieser Forschung 1, von Selbsterkenntnis 2, von Erkenntnis des Verhängnisses uns leiten lassen, das im sozialen Leben, im Leben der Familie, im Leben der Arbeit und des Vergnügens, in Einsamkeiten und Geselligkeiten, tausendfach waltet. Ein solches Studium ist, so gut wie das Studium der leiblichen Krankheiten, der einzige Weg, die notwendige Methode, um Heilmittel, Linderungsmittel, Stärkungsmittel zu finden, aber auch, um Operationen vorzunehmen, wo und wie sie geboten sind. Quod medicamenta non sanant, ferrum sanat. Das alles im Geiste der Liebe zum Heiligen Geiste, die in Wahrheit höher ist als die Vernunft, zu der die Vernunft emporschaut als zu ihrem Leitstern. [46] Sie ist etwas anderes als die allgemeine Menschenliebe, aber sie wirkt dahin, den Geist auch in seinem schlechtesten Abbilde zu ehren. – Ebenso ist aber der Weg, um den Abscheu und Haß zwischen ganzen Völkern, zwischen den Schichten eines Volkes zu heilen oder doch zu mäßigen, der, daß die Völker einander besser kennen und verstehen lernen. Es ist eine regelmäßig beobachtete Erscheinung: wer Jahre lange in einem fremden Lande gewohnt hat, der urteilt regelmäßig günstiger, ja oft mit ausgesprochener Vorliebe über das Volk, dessen Gast er (oder sie) gewesen ist, als diejenigen, die das Volk nur aus Zeitungen oder aus (zumeist unzulänglich begriffenen) politischen Tatsachen kennen gelernt haben. Wenn gleichwohl die jüngsten traurigen Erfahrungen lehren, daß

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das Unmögliche: Vgl. Goethe 1998: 1. Bd., 148 („Das Göttliche“): „So ist die allgemeine Menschenliebe das Unmögliche, von dem der Dichter sagt: ‚Nur allein der Mensch vermag das Unmögliche‘“. … ferrum sanat: [lat.] svw. was Heilmittel nicht heilen, heilt das Eisen. – Der Satz läßt sich auf die Aphorismen des Hippokrates zurückführen. Hier hatte ihn Friedrich Schiller (1853: 1) entlehnt und in lateinischer Übertragung seinen Drama „Die Räuber“ als Motto vorangestellt: „Quae medicamenta non sanat, ferrum sanat, quae ferrum non sanat, ignis sanat“.

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alles Reisen und die Vermischung der Nationen in Weltstädten und fernen Weltteilen, nicht der furchtbarsten Verbitterung und Verkennung wehren konnte, so darf uns dieser Kummer nicht irre machen. Es sind Erlebnisse, die unter dem Einfluß pathologischer Faktoren standen. Wir müssen mit normalen rechnen, wenngleich wir nie voraussagen können, wie lange sie dauern. Und nun wissen wir, daß die meisten Menschen – zumal unserer allzu hastigen, allzu betriebsamen Zeit – reisen, ohne sorgfältig zu beobachten, wie sie auch sonst durch ihre persönlichen Angelegenheiten befangen sind. Schon im eigenen Lande ist die Zahl der Gebildeten sehr gering, die das „Volk“ wirklich kennen und liebevoll erforscht haben, wenn auch nur mit der Liebe des Forschers, die auch der Naturforscher seinem Gegenstande entgegenbringt – so gibt es sicher solche, die ein fremdes Volk wirklich kennen und vor „hastigen Verallgemeinerungen“ auf der Hut sind, nur in verschwindender Anzahl. Ihre Vermehrung bedeutet einen Fortschritt der Humanität. [47] Carlyle’s Mahnwort: „Arbeiten und nicht verzweifeln“ hat in jüngster Zeit in Seelen, die sich zur Verzweiflung dämonisch hingezogen fühlten, lauten Widerhall gefunden; wenn es unmittelbar darauf hinweist, daß wir streben sollen, miteinander anstatt widereinander zu arbeiten, so gilt dies auch für die Bürger sonst feindlicher Nationen.3

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„Laßt Nationen wie Individuen sich nur einander kennen, und der gegenseitige Haß wird sich in gegenseitige Hülfeleistung verwandeln, und anstatt natürlicher Feinde, wie benachbarte Länder zuweilen genannt sind, werden wir alle natürliche Freunde sein“ Th. Carlyle an Goethe, 22. Dez. 1829.

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„Arbeiten und nicht verzweifeln“: D. i. der Titel einer deutschsprachigen Textauswahl aus Werken Carlyles, die in der Reihe Die Blauen Bücher im Verlag Karl Robert Langewiesche ab 1902 in vielen Auflagen erschien und 1916 das 200. Tausend erreichte. Der Verleger hob in seinem Vorwort hervor, dass dt. Soldaten „Carlyle lesen, während sie gegen eben das England kämpfen, welchem eben derselbe Thomas Carlyle die Notwendigkeit seines Anschlusses an deutsches Geistesleben so leidenschaftlich und so – vergeblich gepredigt hat“ (Langewiesche in: Thomas Carlyle 1916: Vorsatzblatt). an Goethe: Vgl. „Goethes und Carlyles Briefwechsel“ (Oldenberg 1887: 206): „… let nations, like individuals, but know one another as mutual hatred will give place to mutual helpfulness; and instead of natural enemies, as neighbouring countries are sometimes called, we shall all be natural friends“.

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(G) Als denjenigen Vorzug, worauf viele andere beruhen, bezeichnete Goethe in seinem Greisenalter die Pietät – „pietas, gravissimum et sanctissimum nomen fundamentum omnium virtutum“. Wie eine Erbsünde, so gebe es auch eine Erbtugend in der menschlichen Natur, „diesen Quellpunkt, wenn er im Menschen kultiviert, zur Tätigkeit ins Leben, zur Oeffentlichkeit gelangt, nennen wir Pietät wie die Alten“. Sie allein halte der Egoisterei das Gegengewicht, „sie würde, wenn sie durch ein Wunder augenblicklich in allen Menschen hervortrete, die Erde von allen den Uebeln heilen, an denen sie gegenwärtig und vielleicht unheilbar krank liegt.“ Das Wunder wird nicht erscheinen; aber mit natürlichen Mitteln, natürlichen Kräften die Pietät und die Ehrfurcht zu pflegen, müssen wir allerdings uns anheischig machen, wenn wir die geistig-sittliche Wiedergeburt mit Ernst erstreben. „Pietät“ hat allerdings eine weitreichende Bedeutung. Sie schließt nicht nur Rücksicht und Nachsicht gegen alles Menschliche, ja Schonung von Tieren und Pflanzen, Geduld und Barmherzigkeit in sich ein; nicht nur Liebe und Treue zwischen Mann und Weib; nicht nur Gehorsam der Kinder gegen Eltern und Lehrer; sondern sie hat, insbesondere den Sinn der Dankbarkeit, der Pflege des Greisenalters (der „Gerontotrophie“), der Ehrfurcht gegen Würde und Weisheit der Alten und Erfahrenen, der Meister und Wissenden, und den Sinn des Gedächtnisses und der Verehrung der Toten – „und indem ihr die Welt gehört, wendet sie ihr Letztes, Bestes dem Himmel zu“ (Goethe) – alles dies ist dem Menschen so natürlich, wie es als Kulturgut längst anerkannt wurde, bis die neuere Zeit auch auf dieses auflösend, gleichmachend, zersetzend gewirkt hat. – Aber so groß und heilsam die Pietät in diesen Bedeutungen ist, so denken wir doch vorzugsweise an eine andere, wenn wir ihr eine feierliche Aufgabe für die geistig-sittliche Wiedergeburt zuweisen. Sie hat nicht nur psychologischen, sondern auch soziologischen Wert. Das Zeitalter soll Pietät gegen die vergangenen Zeitalter hegen und bewähren, ja im tieferen Sinne erst lernen; die gegenwärtige und zukünftige Religion gegen die Religionen, die ihre 4

„… omnium virtutum:“ [lat.] Pietät, der gewichtigste und heiligste Name, Fundament aller Tugenden. Vgl. Goethe 1858: 26. Bd., 364 („Rezensionen zur auswärtigen Literatur – Don Alonzo ou l’Espagne“); die beiden folgenden Zitate ebd.

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Vorfahren sind. Sie soll [48] diese nicht nur ehren, sondern von ihnen empfangen und durch sie befruchtet werden. Bisher hat jede neue Bewegung, jede neue Meinung kritisch, verneinend, feindselig gegen alle früheren, am meisten gegen die Geistesmacht, aus der sie unmittelbar hervorgegangen war, sich verhalten. „Keimt ein Glaube neu, Schwinden Lieb’ und Treu“ heißt es in der „Braut von Korinth“ – Ist dies notwendig? Können nicht Geburtswehen abgekürzt, gemildert werden? Die intime Beschäftigung mit dem Wesen der Entwicklung, die so charakteristisch ist für alle neuere Wissenschaft, da sogar von Entwicklung des Universums und der Verhältnisse des Raumes die neueste Physik uns eine Ahnung gibt – diese Idee muß auch hier eine Leuchte werden. – Hegels dialektischer Begriff der Entwicklung: daß das Neu-erscheinende das über sich selbst hinausgeführte, hinaus wachsende Alte ist, daß es dieses als aufgehobenes Moment in sich enthält und es in der Verneinung zugleich bejaht – dieser Begriff gestaltet die Denkweise auch in moralischen Dingen um. Das Bewußtsein davon gibt eine höhere und freiere Stellung zum Vergangenen und Vergehenden, es entbindet die Stimmung der Pietät, die mehr ist als bloße Duldung. Dem Goetheschen Spruch „Wir leben alle vom Vergangenen und gehen am Vergangenen zu Grunde“ wollen wir dahin umwenden, daß er laute: „Wir sterben alle am Vergangenen und werden vom Vergangenen wiedergeboren.“ Das ganze neuere Zeitalter seit der „Renaissance“, die nur in der bildenden Kunst ein Totes wieder lebendig machen konnte, hat sich pietätlos zu seinem unmittelbaren Vorgänger, dem „Mittelalter“ verhalten. Pietätlos, das heißt verständnislos. Es sah dort nur Finsternis und Wahn, bei sich nur Licht und Wahrheit. Es erkannte sich nicht selbst. Nur allmählich, und noch in unvollkommener Weise ist es irre geworden an dem glatten Spiegel, der ihm seine Züge schmeichlerisch zurückstrahlte. Mehr und mehr sieht es ein, daß die Gewinne des Fortschritts fast immer mit Opfern erkauft werden; daß die Neuzeit viele und staunenswerte äußere Vorteile und Vorzüge erobert, daß sie aber auch viel innere Tugenden eingebüßt hat; daß der bestechende Glanz der Wissenschaft und Technik [49] seine furchtbaren Kehrseiten zeigt, daß die

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„Braut von Korinth“: Vgl. Goethe 1998: 1. Bd., 268. „Keimt ein Glaube neu, | Wird oft Lieb’ und Treu’ | Wie ein böses Unkraut ausgerauft“. – Tönnies hatte möglicherweise aus einer anderen Ausgabe zitiert, wahrscheinlicher jedoch ist, dass er eine sprichwörtliche Variante des Goethe-Satzes als Zitat einsetzte. Goetheschen Spruch: Vgl. Goethe 1998: 12. Bd., 377 (Maximen und Reflexionen: Gesellschaft und Geschichte).

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Anhäufung der Volksmengen in Großstädten und Fabrikdörfern Brutstätten des Lasters und des Elends schafft; und daß das Maschinenzeitalter seine wohlfeilen Waren zum großen Teile durch Raubbau an der Volkskraft erkauft, um sie zum Verkauf in alle Welt zu senden, oft zum Verderben einheimischer Kunst, hergebrachten Geschmacks und guter Familiensitte; daß es insbesondere die Frauen unlustig, oft unfähig zur Mutterschaft macht, daß es die Kindheit um ihren Frohsinn und ihre Spiele bringt. Auch die sonst so heilsame Bildung und Belehrung des Volkes durch Schrift und Rede verschüttet durch Schwächung und Zerstörung einfältigen Glaubens eine Quelle der Zufriedenheit und Ergebung, ohne gehörigen Ersatz dafür zu bieten. Wenn wir der Wiedergeburt eines gesunden Volkslebens dienen wollen, so müssen wir uns eng anschließen an das historische Bewußtsein; müssen anknüpfen an alles Edle und Echte der vergangenen Zeiten und insbesondere die Vermählung des Geistes der neuen mit dem der mittleren Zeit uns angelegen sein lassen, um die neueste daraus entspringen zu machen. Darum sollten wir, ebenso wie wir schon die bildenden und schönen Künste des Mittelalters – die das Zeitalter der Aufklärung als barbarische Gothik verachtete – andächtig verehren, so auch seine Art der Wissenschaft, wie mangelhaft sie uns erscheinen möge, würdigen lernen; und dabei auch in den Schatz der sozialpädagogischen Weisheit eindringen, die die Geistlichkeit der römischen Kirche angehäuft und in die Neuzeit hinübergerettet hat. Auch die protestantischen Geistlichkeiten haben in dieser Hinsicht durch Seelsorge, Homiletik und Katechetik, nicht wenig geleistet. Die katholische Kirche hat vor ihnen die viel längere Tradition und den tiefergehenden Einfluß voraus; gerade weil sie uns ferner steht, müssen wir ihr nicht nur gerecht zu werden uns bemühen, sondern auch von ihren Erfahrungen, wie ihren Verfehlungen, lernen wollen. – Wenn die Pietät als Grundtugend geehrt und gepflegt wird, so spendet sie auch Weisheit eigner Art. Sie heißt uns behutsam sein im Urteil, Frieden suchen anstatt des Streites, ungeachtet aller Würdigung des [50] Streites als des „Vaters der Dinge“ – und die wahre Freiheit erstreben, die in der Selbstbeherrschung gelegen ist. Denn je mehr man anerkennen muß, daß Kampf und Streit zur Weltordnung gehören, um so mehr muß man inne werden, daß auch gegen die Entzweiungen gestritten werden muß – der tiefe Sinn der Ecclesia militans, deren letztes 35

Ecclesia militans: [lat.] die streitende Kirche. In der katholischen Dogmatik die Glieder der Gemeinschaft der Heiligen, die noch auf Erden gegen die Sünde kämpfen, im Unterschied zur ecclesia triumphans, der triumphierenden, vollendeten Kirche des Jenseits.

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Wort doch immer sein wird: In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas. Man wird mit Grund sagen und anfechten: die Religion des Geistes sei eine Religion der Irreligiösen, der Skeptiker, der Agnostiker, der Freidenker. Wer aber die Religion als solche, und zwar als ethische Kraft, um so höher schätzt, je mehr sie vom Irrwahn sich entfernt, der wird einräumen müssen, daß es auch dann noch eine große Verbesserung bedeuten würde, allen diesen Elementen ein ihnen passendes Gewand der Religion anzuziehen, wenn dies Gewand nicht das beste und schönste aller möglichen Gewänder wäre: oder ihre Finger mit einem Ring zu bekleiden, wenn auch dieser Ring nicht der immer noch zu suchende echte Ring wäre. Diesen zu suchen waren auch in der Epoche des höchsten Glanzes der päpstlichen Kirche die „Ketzer“ beflissen, die so oft sich Spirituales nannten und als „Brüder und Schwestern des freien Geistes“ verkündeten, daß dem Geiste jeder folgen müsse, daß die echte Wahrheitserkenntnis nie dem Buchstaben, sondern nur dem Herzen entstamme; ein Leitgedanke, der freilich leicht in die Irre führte. In Wahrheit haben alle sittlich ernsten und tiefen Menschen, wie immer sie sich zu den Lehren der christlichen Kirche verhielten, immer die Religion des Geistes bekannt; die Ewigkeit und Unendlichkeit des Seins, die davon unlösbare des All-Geistes, kann niemand leugnen, der einmal diese Begriffe und die Identität von Materie und Geist erkannt und durchdacht hat. Eben durch dies Begreifen wird auch der Ungläubige wieder ein Gläubiger, sofern Glauben, Hingebung und Ergebung in das Allseiende bedeutet: an das große Wunderbare, Unerkennbare, mögen wir es Gott oder Natur oder Heiligen Geist oder Allwillen oder Allvernunft nennen. Dieser anschauende (intuitive) Gedanke wird seine Seele anstatt mit dem Stolz der Erkenntnis und Beherrschung der Naturkräfte, mit [51] vollkommener Demut und Pietät gegen den Urgrund der Welt erfüllen; er wird sich, wie Sokrates, seines Nichtwissens anstatt seines Wissens, bewußt

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… in omnibus caritas: [lat.] svw. in notwendigen Dingen Einheit, in zweifelhaften Freiheit, in allen aber werktätige Liebe. Das Wort, wohl fälschlich Augustinus zugeschrieben, fand durch Amos Comenius’ Schrift „Unum necessarium“ (1668) weite Verbreitung. echte Ring: Gemeint ist die ‚Ringparabel‘ (3. Akt, 7. Auftritt) in Lessings Drama „Nathan der Weise“ (1887: 90). Spirituales: D. i. der rigoristische Flügel im Franziskanerorden. Die Spiritualen standen seit Gründung des Ordens in ständiger Konfrontation zu den Laxen. Ein Höhepunkt dieser Spannung ergab sich Mitte des 13. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Lehre des Joachim von Fiore und ihrer Aufnahme durch die Spiritualen Johann von Parma und Gerard von Borgo San Donnino.

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werden. Von nun an wird er mehr Wert auf das innere Leben seines eigenen Geistes und der Geister, auf die er zu wirken fähig und berufen ist, als auf die äußere Macht des Menschen, die Vermehrung und Verfeinerung der Mittel zu mannigfachen Genüssen legen; mehr Wert auf Vornehmheit und Güte des Charakters als auf Fülle und Stärke der Intelligenz; und in der Intelligenz dem Tiefsinn der Synthese, der in Eins schauenden Andacht, neben dem Scharfsinn der Analyse und dem Auseinandersehen der spezialisierenden Wissenschaft einen würdigen Platz einräumen. Wer in dem Gedanken an den Ewigen und Heiligen Geist wie in der Heimstätte seines täglichen Lebens sich bewegt, der wird auch erkennen und die Erkenntnis fördern, daß es die ganze Aufgabe eines dauern wollenden Lebens ist, jenem „Großen Wesensgrund“ immer neuen, immer reineren Ausdruck zu geben. Das aber bedeutet eine Vertiefung des Menschheitbewußtseins und eine neue Offenbarung, möge man nun diese als eine neue Gestalt des Christentums oder als eine von der christlichen verschiedene Religion begreifen. Auch hier wird es verschiedenen Meinungen gegenüber heißen dürfen: „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen“.

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„… viele Wohnungen“: Bibel (1912), NT, Johannes 14, 2.

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„Et vidi alterum angelum volantem per medium caeli habentem Evangelium aeternum ut evangelizaret sedentibus super terram et super omnem gentem et tribum et linguam et populum.“ Gleich anderen Rätselstellen der geheimnisvollen Apokalypse hat auch diese (XIV, 6) ernstere Christen in tiefster Seele erregt und zur Auslegung begeistert. Wurde doch das seltsame Buch die Schatzkammer der Offenbarung für alle Ketzer und „Schwarmgeister“. Als mit dem Orden des Franciscus von Assisi die Ketzerei sich mitten in die Kirche hineinwagte und diese noch stark genug war, das ihr im Innersten entgegengerichtete Gebilde in sich aufzunehmen, da blieb doch immer gleichsam ein unverdauter Rest, immer neu regte sich der Widerstand gegen das verweltlichte Papsttum, die Kritik der Grundlagen seiner Macht. Es ist das Hauptstück in der Geschichte [52] der religiösen Aufklärung im Mittelalter. Und in hohem Grade merkwürdig ist die Art, wie durch diese Spiritualen des Ordens die Schriften des Abtes Joachim, der wie Franciscus einen neuen Orden gestiftet hatte, ausgegra4

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„… linguam et populum“: [lat.] Und ich sah einen Engel fliegen mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern“. – Vgl. Bibel (1912), NT, Apokalypse 14, 6. – Die Apokalypse (auch Offenbarung Johannis) ist das letzte Buch des Neuen Testaments und damit der Schluss des Kanons der Heiligen Schrift (Bibel) überhaupt. – Augenscheinlich hebt Tönnies das „Evangelium aeternum“ der Apokalypse als „Neue Botschaft“ (so der Titel vorliegender Schrift) von der „Guten (frohen) Botschaft“ (= Evangelium) Jesu Christi ab. Schriften des Abtes Joachim: Joachim von Fiore, ursprünglich Cisterziensermönch, gründete 1196 den Orden der Floriazenser. Seine visionäre Auslegung der Heiligen Schrift brachte ihn zur Überzeugung, dass der Geschichtsverlauf sich in drei Abschnitte, Zeitalter, Weltalter (status) gliedere: Das Zeitalter des Vaters (Altes Testament), darauf das des Sohnes, beginnend mit Christi Geburt (Neues Testament), schließlich das Dritte Weltalter des Heiligen Geistes (spiritus sanctus, spiritualis intellectus), in welchem das, was in der Schrift geschrieben steht, zu allgemeinem Verständnis gelangt und als solches das Leben beherrscht (Ewiges Evangelium, evangelium aeternum). Für Joachim (gestorben 1202) stand der Anbruch des Dritten Weltalters nahe bevor, einer seiner Nachfolger, der Franziskaner Ger(h)ard von Borgo San Donnino gab 1254 die drei Hauptschriften Joachims heraus (Joachim von Fiore, 1519; 1527), versehen mit einer eigenen Einleitung (Introductorius in evangelium aeternum), in welch letzterer er diese Schriften Joachims

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ben wurden. Seine Weissagungen, die den Untergang der heiligen Kirche und das Nahen einen neuen Reiches verkündeten, erregten unermeßliches Aufsehen. Ein neologisch-apokalyptischer Zweig der Franziskaner schloß an den gefeierten Propheten sich an. Gerard de Borgo verfaßte eine Einleitung in das „Ewige Evangelium“ (von der nur Bruchstücke erhalten sind), die Schriften Joachim’s, die seinen Verehrern als „Heilige Schrift“ galten, wurden als Evangelium aeternum zusammen begriffen. Dieses wollte und sollte an die Stelle des Evangeliums Christi, das eine bloße Vorbereitung und Weiterbildung der Wahrheit sei, treten, und bahnte das Zeitalter des Heiligen Geistes an, das nach Gerard mit Franciscus schon ausgebrochen sei (während Joachim den Anfang in das Jahr 1260 gesetzt hatte). „Die echten Spiritualen werden nicht mehr durch einen Spiegel in einem dunklen Worte sehen, sondern schauen von Angesicht zu Angesicht, um zu wissen“. Ein Franziskaner-General, Johann von Parma, war kühn genug, sich zur Lehre Joachim’s zu bekennen, und konnte nur vermöge seines persönlichen Ansehens im Rufe der Orthodoxie sich behaupten. Wie nahe lag es, die Verkündung des „Dritten Weltalters“ an die Verheißung des Parakletos anzuknüpfen, die im Logos-Evangelium mit erhabener Wirkung erschienen war. „Und ich will den Vater bitten, er wolle euch einen anderen Berufenen geben, daß er bei euch bleibe ewiglich – der Geist der Wahrheit, welchen die Welt nicht kann empfangen, denn sie siehet ihn nicht und kennet ihn nicht. Ihr aber kennet ihn, denn er bleibet bei euch und wird in euch sein.“ – Der enthusiastische Glaube an die Parusie und das 1000jährige Reich, der die

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als inspiriertes letztes und höchstes Buch im Kanon der biblischen Bücher, als evangelium aeternum, behauptete. Schon im darauffolgenden Jahr (1255) verdammte eine päpstliche Bulle diese Behauptung Gerards als ketzerisch, wovon aber die Schriften Joachims selber ausgenommen, also unbehelligt blieben. „… um zu wissen“: Der Ursprung des Zitats ist die biblische Textstelle aus den Briefen des Paulus an die Korinther (Bibel 1912: NT, 1. Korinther 13,12): „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht“. – Es ist fraglich, ob Tönnies die Variation des Zitats aus Joachims Schriften selbst, oder aus denen Gerards oder Johanns von Parma entnommen hat. Dem Sinn nach findet es sich im lat. Originaltext an verschiedenen Stellen; vgl. Joachim 1519: 81; 101; 103; 112. Parakletos: [gr.] der Helfer, der Beistand, der Tröster, der Paraklet. Im NT anderer Name für den Heiligen Geist, spiritus sanctus. Logos-Evangelium: D. i. das Evangelium des Johannes im NT. „… wird in euch sein“: Vgl. Bibel (1912), NT, Evangelium des Johannes 14; 16, 17. Parusie: D. i. die Wiederkunft Christi zur Abhaltung des Endgerichts und Aufrichtung der endgültigen Gottesherrschaft. Am Beginn dieses Dritten Weltalters steht nach urchristlicher Auffassung eine tausendjährige Gefangennahme und Knebelung des Satans, also Befreiung der Erde vom Bösen („Tausendjähriges Reich“, „Chiliasmus“, „Millenarismus“).

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ganze Reformationszeit hindurch die täuferischen Gemeinden und mystischen Prediger erfüllte, der in immer neuen Gestalten gegen das erstarrte oder im Staatsdienst erstarrende Kirchentum sich empört hat, hängt innig mit dieser Zuversicht des Dritten Weltalters zusammen. – Das Dogma der Trinität, das die Einheit des Gottwesens zugleich bejaht und verneint, legt solche Gedanken immer wieder nahe. [53] Sind nicht alle alten Religionen, die an die Ahnen-Verehrung anknüpfen, Religionen des „Vaters“? Haben sie nicht im Gotte des Alten Testamentes, der zum Einzigen Gott wurde, ihre Vollendung gefunden? Sind nicht alle Erlösungsreligionen Religionen des Sohnes? Ist nicht mit ihrer reifsten Gestalt, durch den Menschensohn, der als Sohn Gottes verklärt wurde, nachdem er sich selber als letztes Versöhnungs-Opfer dargebracht hatte, das zweite Weltalter erstanden? Ringt nicht überall in der Christenheit ein reines Streben danach, alle diese Bilder und Gleichnisse zu lösen, die Gottheit aller menschenhaften Leiden und Taten zu entkleiden, und sie, anstatt in Tempeln gemacht aus Holz oder Stein, im Geist und in der Wahrheit anzubeten? – Von solchen Eingebungen und Einsichten erfüllt, begab sich mitten aus dem Zeitalter der Aufklärung heraus, und ihm weit überlegen, der eichenstarke Verstand Lessing’s an die große Frage der „Erziehung des Menschengeschlechts“. Die Vergleichung der Erziehung des Einzelnen und der Offenbarung als Erziehung der Menschheit bestimmt den Charakter der merkwürdigen kleinen Schrift, die von Saint-Simon übersetzt wurde und auch sonst im In- und Auslande oft bewundert worden ist. Lessing gibt sein Werk, als ob es die Arbeit eines Anderen wäre. Der Verfasser habe sich darin auf einen Hügel gestellt, von welchem er etwas mehr als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu übersehen glaube. Er verlange aber nicht, daß die Aussicht, die ihn entzücke, auch jedes andere Auge entzücken müsse. Der große Gedanke führt ihn durch die Betrachtung der israelitischen Theokratie zu Christus als „dem ersten zuverlässigen, praktischen Lehrer der Unsterblichkeit der Seele“. „Eine innere Reinigkeit des Herzens in Hinsicht auf ein anderes Leben zu empfehlen, war ihm allein vorbehalten.“ Seine Jünger seien, weil sie diese Lehre fortgepflanzt, unter die Pfleger und

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Dritten Weltalters: Siehe oben, Anmerkung S. 71. „Religionen des „Vaters“?: Hier endet das eigenh. Manuskript mit den späteren Zusätzen und Korrekturen (Bearbeitung), dessen letzte Seiten verloren gegangen sind. Erziehung des Menschengeschlechts: Vgl. Lessing 1897. „… Unsterblichkeit der Seele“: Vgl. ebd: 1897: § 58, 428. „… ihm allein vorbehalten“: Vgl. ebd.: § 61, 428.

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Wohltäter des Menschengeschlechtes zu rechnen. Auch andere Lehren werden aus dem N. T. abgeleitet, die „wir als Offenbarungen solange anstaunen sollen, bis sie die Vernunft aus ihren anderen ausgemachten Wahrheiten herleiten und mit ihnen verbinden lerne.“ So die Lehre von der Dreieinigkeit, von der Erbsünde, von der Genugtuung des Sohnes – Spekulationen über diese Lehre seien die schicklichsten Uebungen des menschlichen Verstandes, so lange das menschliche Herz höchstens [54] nur vermögens sei, die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben. Der Verstand wolle schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt sein, wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelangen und diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen solle, die uns die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben fähig mache. Diese höchste Stufe, mit der das Menschengeschlecht ins Mannesalter trete, werde einmal erreicht werden, die Zeit der Vollendung müsse und werde kommen. „Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird.“ Das dreifache Alter der Welt, das „gewisse Schwärmer des 13ten und 14ten Jahrhunderts“ ankündigten, war vielleicht „keine so leere Grille“, vielleicht hatten sie einen Strahl des neuen ewigen Evangeliums aufgefangen und irrten nur darin, daß sie den Aufgang dieser Sonne für so nahe hielten? „Geh deinen unmerklichen Schritt, ewige Vorsehung! Nur laß mich dieser Unmerklichkeit wegen nicht an dir verzweifeln! Laß mich an dir nicht verzweifeln, wenn selbst deine Schritte mir scheinen sollten zurück zu gehen!“ Jeder einzelne Mensch müsse, wenn auch in mehreren Leben, die Bahn, auf welcher das Geschlecht zu seiner Vollkommenheit gelange, erst durchlaufen haben. „Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“ Ja, die ganze Ewigkeit ist unser, und in ihrem Lichte – „sub specie aeternitatis“ – müssen wir die gegenwärtige Feuersbrunst, die den Tempel der menschlichen Gemeinschaft ergriffen und beinahe zerstört hat, zu be-

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„… verbinden lerne“: Vgl. ebd.: § 72, S. 430. „… versprochen wird“: Vgl. ebd. § 86, 433. „… des 13ten und 14ten Jahrhunderts“: Vgl. ebd.: § 87, 433. „… leere Grille“: Vgl. ebd.: § 88, 434 „… zurück zu gehen: Vgl. ebd. § 91, 434. „Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“: Vgl. ebd.: § 100, 436. sub specie aeternitatis: [lat.] svw. angesichts der Ewigkeit; siehe auch Spinoza 1677: 254 f. (Ethica, V, propositio 29; 30; demonstratio zu 31). die gegenwärtige Feuersbrunst: Gemeint ist der Erste Weltkrieg und die nachfolgende Revolution.

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trachten versuchen; eben darum auch den Wiederaufbau auf dem Grunde einer geistig-sittlichen Wiedergeburt in dieses Licht stellen, das in die Jahrhunderte vorausleuchtet. In diesem Sinne mögen wir den Vers Jakob Böhme’s, eines Mannes aus dem Volke, wiederholen: Wem Zeit ist wie Ewigkeit Und Ewigkeit wie Zeit, Der ist befreit Von allem Streit.

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den Vers: Stammbuch-Eintragung Böhmes (1988: 10. Bd., 20), Beurkundung der Eintragung durch Abraham von Frankenberg, Böhmes ersten Biographen, Freund und Schüler: „In die Stamm-Bücher guter Freunde schrieb er gemeiniglich folgende Reimen: Weme Zeit ist wie Ewigkeit, | Und Ewigkeit wie die Zeit; | Der ist befreyt | Von allem Streit“.

Der Tatbestand Gewissen

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Der Tatbestand Gewissen: Textnachweis: Cb 54.34:55. – Typoskript in 4°, S. 1−39 (dazu S. A−D: „Exkurs“), mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Der Originaltitel ist eigenh. am Kopf des Anfangsblattes nachgetragen, rechts daneben (gleichfalls eigenh.) das Motto aus Kants „Kritik der praktischen Vernunft“; links davon (wieder eigenh., die Angabe für den Setzer: „~~~ = kursiv zu setzen“. Der Text ist etwa 1922 oder danach entstanden. Näheres s. Editor. Bericht S. 628−629.

„die Richtersprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns welches wir Gewissen nennen“

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„… wir Gewissen nennen“: Vgl. Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (1963a: 114. Erster Teil, I. Buch, 3. Hauptstück): „Hiermit stimmen auch die Richtersprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nennen, vollkommen überein“.

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1. Der gemeine Sinn eines bedeutenden Wortes lässt sich besser aus der Herkunft des Wortes – der Etymologie – als aus dem Gebrauche deuten. Die Vorsilbe ge- weist auf eine Vielheit ein Zusammen mehrerer hin. Kenner der deutschen Sprache nehmen an, dass sie dem lateinischen con- entlehnt, dass insbesondere Gewissen der conscientia nachgebildet sei. Der wahre Sinn des Wortes conscientia und des Wortes Gewissen selber ist nicht Bewusstsein (im Deutschen eine späte Bildung), sondern Mitwissen, Mitwisser, Mitwisserschaft, und will sagen, dass im individualen Bewusstsein selber eine Mitwisserschaft enthalten, dass der denkende Mensch sein eigener Mitwisser ist, dass also manches Wissen in unserer Seele ein mindestens zwiefaches ist: ein unmittelbares im Vordergrunde und ein mittelbares im Hintergrunde. Dieser Gedanke beruht in der allgemeineren Erkenntnis, dass – scheinbar gleichzeitig –, ebenso wie mehrere und verschiedene Empfindungen, auch mehrere und verschiedene Gefühle im oder unter dem Bewusstsein vorhanden sind, also auch Triebe, Neigungen und Abneigungen, Wünsche und Wollungen, die teils und zuweilen einmütig sind, teils und oft mehrmütig, so dass sie miteinander streiten und sich entzweien, ja sich gegeneinander empören und ein zwiespältiges (oder vielspältiges) Gemüt hervorbringen. Das sind alltägliche Erfahrungen, die als solche in jeder Seelenlehre zur Geltung kommen. Wenn nun durch diese Anerkenntnis wir der Vorsilbe gerecht werden, so muss die etymologische Erwägung auch dem „Wissen“ eine Betrachtung widmen. Es ist anerkannt als ein perfektisches Präsens, wie solche [2] der deutschen wie der griechischen Sprache eigentümlich sind und auch in anderen Sprachen nicht fehlen. Die Bedeutung ist also die eines Habens, und zwar wie leicht erkennbar eines Erfahren Habens, d. i. Gesehen Habens, Gehört Habens oder sonst Wahrgenommen Habens, aber auch einfach Gelernt, Empfangen, Behalten, Gedacht Habens. Der Natur der Dinge gemäss hat jeder einzelne Mensch seine eigenen Erfahrungen, alles Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen, also auch alles Denken, Lernen, kurz das psychische Leben schlechthin, ist individuell; mithin auch das Wissen und das Gewissen. 2. Die Vorsilbe Ge- bedeutet, weil das Zusammenwirken in der Zeit sich vollzieht, auch das Vergangene, also das Gewordene, Festgewurzelte und in Anwendung auf das Wissen, das sozusagen Geronnene oder sogar

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kristallisierte Wissen, wie es eben durch die Vielheit seiner miteinander verschmelzenden Elemente entsteht. So ist das Wissen, je mehr es ein dauerndes und festes geworden ist und dies hängt auch von der Stärke der Eindrücke ab, die ihm zugrunde liegen, um so mehr ein vertieftes, ein starkes und mächtiges Wissen. Alles Wissen ist, wie das psychische Dasein überhaupt, seinem Wesen nach geheim, es ist unmittelbar ein ausschliessliches Eigentum, obschon vieles Wissen vielen Menschen von Natur durch gemeinsame Erlebnisse und Erfahrungen gemein ist. So gibt es auch von Natur Mitwisser meiner Erlebnisse; einen solchen, mehrere, unbestimmt viele Mitwisser, die im gegebenen Falle zu bezeugen vermögen, was sie mit mir erlebt und erfahren haben. Ferner aber gibt es gemachte Mitwisser – dadurch, dass ein gewusstes von dem Wissenden Nicht-wissen[3]den mitgeteilt wird. Dies hat sehr grosse Ausdehnung – viele Menschen plaudern auch ihre Geheimnisse aus, d. h. Sachen, die für sich zu behalten sie ein starkes Interesse und wahrscheinlich einen starken Wunsch hatten, oder wovon zu schweigen ihnen geboten wurde, wo es denn oft auch ein eigenes Interesse des oder der Gebietenden berührt, ob geschwiegen wird oder nicht, ob einer sich bewährt als schweigen könnend oder nicht: schwatzhafte Personen machen sich leicht ungelitten und werden als unbrauchbar für wichtige Aufträge erkannt. Das Bedürfnis sich mitzuteilen, das auszusprechen was man weiss oder doch zu wissen meint, ist in den meisten Menschen, zumal weiblichen stark, und manchmal hält einer für ganz unbedenklich, wenigstens seinem Freunde oder was schon gefährlicher ist, seinen Freunden oder auch nur einer Freundin zu erzählen, was er weiss oder zu wissen meint, weil er über die möglichen Folgen für sich und andere keine deutliche Vorstellung gewonnen hat oder überhaupt der Einsicht entbehrt. Welche auch immer die Folgen sein mögen, sie haben oft, wenn es etwas wichtiges ist, worauf die Mitwisserschaft sich bezieht, selber eine schwere Bedeutung. Gerne gibt man seinen Verwandten und Freunden eigene Freuden und Leiden kund, wenn man ihre Teilnahme erwartet und diese wird, wenigstens in gewissen konventionellen Formen, zuweilen auch als aufrichtige, von Herzen gern gewährt. Auch erfreut die Teilnahme an Ehren, die jemand empfängt und empfangen hat manche andere, am ehesten solche die sich mitgeehrt fühlen. Dagegen wird man in der Regel schweigen von Unehren oder gar Schande; auch Verstorbene wünschen die Angehörigen vor dem Kundwerden dessen, was ihnen etwa zur Unehre gereicht oder zu gereichen scheint, zu schützen. Und jeder, auf irgendwelchen Wert seiner Person achtende Mensch ist mehr oder minder

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beflissen, sich in gutem Ansehen wenigstens bei denen, die ihn kennen, [4] seinen Namen in gutem Geruch und Ruf zu erhalten. Wie mannigfach auch die Art des Ansehens, des guten Rufes und Ruhmes, so ist doch immer das eine gemeinsam, dass irgendwelche Gefährten, irgendein Kreis, wenn nicht eine Samtschaft oder Körperschaft, das Tun und somit die Person die getan hat, anerkennen, schätzen, bewundern oder wenigstens nicht umgekehrt das Tun und die Person verachten, verabscheuen, verspotten. Das Leidgefühl der Scham beruht nicht in erster Linie auf der Furcht vor dem Mitwissen, wohl aber auf dem Wunsche, bei gewissen intimen Tätigkeiten, zumal bei solchen, die das Geschlecht angehen, und zumal wenn ein anderer Mensch wie im normalen Verkehr von Mann und Weib, dabei beteiligt ist, nicht gesehen zu werden: daher heisst die Scham bei den Griechen Aidós: das Wort enthält die Hinweisung auf den Wunsch des Nicht-gesehen-werdens. Die Abneigung dagegen ist bei Frauen, sofern sie gesittet sind, erheblich stärker als bei Männern, was nicht nur in der furchtsameren Natur begründet ist, sondern von grösserer aesthetischer Empfindlichkeit, die sonst in der Eitelkeit zutage tritt, herrührt. – Mit der Scham ist das Leidgefühl der Reue nahe verwandt, aber es bezieht sich ausschliesslich auf das Geschehene, und auf eigene gewesene Handlungen, hängt also unmittelbar mit der Erinnerung zusammen und setzt die Fähigkeit bewusster Erinnerung voraus. Sie ist der Gedanke des Leides, etwas getan zu haben, was man nachher mehr oder minder lebhaft, vielleicht leidenschaftlich wünscht, nicht getan zu haben, etwas unterlassen zu haben, was man ebenso mehr oder minder lebhaft vielleicht leidenschaftlich wünscht getan zu haben. Dies Wünschen kann ganz und gar selbstisch sein: man bereut irgend eine alltägliche Handlung, z. B. den entgeltlichen Erwerb eines Gegenstandes, weil man nachher erkannt hat, dass der Erwerb töricht war, dass der Gegenstand einen geringen Wert habe oder [5] dass dessen Wert doch in einem sehr ungünstigen Verhältnisse zum Preise stehe. So kann alles bereut werden aus Angst vor den Wirkungen für den eigenen Leib oder die eigene Seele, zumal wenn auch ausserirdische, jenseitige Vergeltung geglaubt und gescheut wird. Aber man bereut auch, was man getan oder unterlassen hat, wenn man erkennt oder erfährt, welche Folgen es für das Wohl oder Geschick anderer, zumal solcher die der eigenen Person nahestehen, ihr eng verbunden sind, denen man sich verpflichtet fühlt, gehabt hat oder vermutlich haben wird. Diese Folgen hatte man nicht gewünscht, vielleicht auch nicht erwartet, und selbst wer mit Lust getan hat, was er tat, selbst wenn er mit den Folgen, die es für ihn selber hat, zufrieden ist, so überwiegt doch nachher etwa das Leid, womit er die Folgen, die es für andere hat erfährt oder empfindet oder befürchtet. Auch diese Furcht kann

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auf vorgestellte irdische oder ausserirdische Übel, die mittelbar etwa auf den Handelnden zurückfliessen, sich erstrecken. – Ein drittes Gefühl, das in ähnlichem Sinne wirkt, ist der Ekel – seinem Wesen nach durchaus physisch und animalisch, aber als Gefühl ins moralische Gebiet sich übertragend. Am nächsten und ausgesprochensten gibt der Ekel sich kund in bezug auf Genüsse der Ernährung, also an sich notwendige: Speise und Trank: viele solche werden schon, wenn bloss gedacht, mit mehr oder minder starkem Widerwillen abgelehnt, zumeist mit einem solchen, der ein gesteigerter Ekel ist und mehr moralisch menschlich als physisch animalisch. Der physische animalische Ekel richtet beim Menschen sich vor allem gegen verweste und verwesende Stoffe, aber auch gegen blosse Beimengungen solcher, oder auch unorganischer Bestandteile, die [6] als Schmutz schon dem Auge widrig sind in dargebotenen Genussmitteln. Aber auch diesen gegenüber, wenn sie frisch, organisch, rein, Geruch und Geschmack anmutend sind, regt sich der Ekel als Übersättigung, die als physische wie als moralische sich geltend macht. Hier ist der Ekel, wenn auch in einem geringen Grade, pathologisch, obschon einem normalen Zwecke dienend, er ist ein Unwohlsein, das anzeigt, der Organismus habe seine normale Funktion erfüllt und bedürfe der Ruhe – also eine Warnung vor fernerer Tätigkeit gleichen Sinnes. Wenn der Ekel sehr stark ist, wie in der Seekrankheit, so bedarf es solcher Warnung nicht mehr. Wo mithin dies Gefühl auch in bezug auf Genüsse und ihnen dienende Tätigkeiten auftritt, die durch menschliches Denken vermittelt werden (moralisch-geistige), da kann es sowohl unmittelbar als infolge von Sättigung auch auf Dinge und Menschen, ja auf den denkenden Menschen, das Subjekt selber, sich beziehen, sein Gebrauch wird unbegrenzt, kann also auch auf das was der Denkende selber tut und getan hat, sich erstrecken. Der Mensch kann sich selber zum Ekel werden, was er getan hat kann ihm als abscheulich erscheinen: wie der König im Hamlet sagt, seine Tat sei faul „sie stinkt zum Himmel“. 3. Von diesen drei Gefühlen, die alle mit den elementaren Unlustgefühlen des Schmerzes oder Leides und der Furcht d. i. dem Vorgefühle von Schmerz oder Leid nahe zusammenhängen, ist nun durchaus verschieden, wenn auch in ihnen beruhend und fortwährend sich mit ihnen berührend, das Gewissen. Denn es ist kein Gefühl, sondern zunächst ein Wissen und überdies ein Wollen.[7] 29

„sie stinkt zum Himmel“: Vgl. Shakespeare (o. J.: Bd. 8, 55) „Hamlet“ (3. Aufzug, 3. Szene): „O meine Tat ist faul, sie stinkt zum Himmel, sie trägt den ersten, ältesten der Flüche, Mord eines Bruders“.

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Ich bestimme das Gewissen als Wesenwillen; d. h. im Unterschiede vom Kürwillen als den Willen, sofern in ihm das Denken enthalten ist – will sagen, dass Gedanken darin zusammengeflossen und geronnen sind: ein Gleichnis aus der Wirklichkeit abgezogen, dass Erfahrung in diesen Gedanken enthalten war und auf sie gewirkt hat, daher „beruht Wesenwille im Vergangenen und muss daraus erklärt werden“. Er gewinnt als Gedächtnis erst die besondere menschliche Gestalt, das Prinzip des mentalen Lebens, wodurch dieses der Eindrücke und Reize mächtig wird und ihnen überlegen begegnet. Dies ist freilich im animalischen Leben schon vorbereitet: der geprügelte Hund wird folgsamer, gebranntes Kind scheut Feuer. Aber nur der Mensch, und erst wenn er herangereift ist, kennt das Feuer und die unzähligen anderen Dinge seiner Umgebung, er weiss was sie wirken, erinnert sich ihrer Schädlichkeit oder Nützlichkeit für ihn und für andere, für Menschen überhaupt, für Sachen und Verhältnisse, er lernt urteilen kraft des Gedächtnisses. Denn dadurch wird es die Fähigkeit, zweckmässige Tätigkeiten zu wählen und zu wiederholen, sie müssen erlernt werden; Erlernung ist teils eigene Erfahrung und teils Nachahmung, besonders aber Empfang von Weisung und Lehre, wie etwas getan werden müsse, um richtig und gut zu sein und welche Dinge und Wesen heilsam und wertvoll oder das Gegenteil seien. Als allgemeinen Ausdruck des mentalen Lebens, mithin als das ursprüngliche natürliche Bereich des Gedächtnisses bestimmt sich die Rede, und der Rede gleicht alle andere durch Gedächtnis, Phantasie oder Vernunft wesentlich mitbedingte menschliche Arbeit, die als eine schaffende und kunsthafte [8] von denen der meisten und besonders der den Menschen verwandtesten Wesen deutlich sich abhebt. Wenn alsdann der mentale Schaffensdrang, oder die Lust das in Gedächtnis und Phantasie Lebendige zu ordnen, zu gestalten, mitzuteilen, als Genie bestimmt wird, wofür man auch schlechthin Geist sagen mag, so ist Gewissen eine besondere Art des Geistes und Willens, sofern es dem Menschen eigen ist sich selber zu beurteilen, d. h. im höchsten Sinne sich und seinen Wert an einem Massstabe zu messen, wie immer er diesen gewonnen haben mag. – Wir wissen: was der Mensch denkt, glaubt, weiss, will, ist in erster Linie bedingt durch seine Natur und diese durch seine Abstammung, also durch eine lange Folge von Generationen, in der seine geistigen, wie seine leiblichen Organe durch die Verschmelzung männlicher und weiblicher Chromosomen das 6

„… erklärt werden“: Vgl. Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (31920: 72; 81970: 87): „Aber Wesenwille beruhet im Vergangenen und muß daraus erklärt werden, wie das Werdende aus ihm“.

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geworden sind, was sie ihrer Anlage nach darstellen; durch ihre Anlage ist auch ihr Wachstum, ihr vollendetes Sein und Wirken am meisten, aber nicht ausschliesslich bedingt, sondern auch durch die mannigfachen Faktoren der Erlebnisse, also die Wirkungen dessen was um ihn ist (des Milieus). So wird auch eine gewisse Denkungsart, eine Gemütsart, eine Tendenz zu urteilen, also zu bejahen und zu verneinen, nach Analogie eines Organes oder Gewebes aufgefasst werden müssen, das in den väterlichen und mütterlichen ‚Genen‘ enthalten ist und mit ihnen übertragen wird. Mithin: die Fähigkeit und Neigung, woraus der Wesenwille entspringt, an gewissen Handlungsweisen, Denkweisen, Beweggründen Gefallen zu finden, sowohl als umgekehrt der Wille andere solche zu verneinen, sie mit Missfallen zu bedenken, also nicht zu wollen. Ein solches Wollen und Nichtwollen, Bejahen und Verneinen ist seiner Natur [9] nach ebenso auf und gegen das eigene wie auf und gegen fremdes Tun und Handeln, Wollen und Nichtwollen gerichtet, obschon der Mensch immer zur Selbstgefälligkeit neigt und das eigene eher entschuldigen und beschönigen, das fremde eher verwerfen und verdammen wird. Indessen ist dieser Unterschied mehr dem nach aussen gehenden Schein gemäss, und verleugnet oft geflissentlich die wirkliche Selbstbeurteilung, die einfach Anwendung einer einmal als gültig dem Denkenden feststehende Regel bedeutet, nicht selten aber auch mit grösserer Schärfe und Härte gegen das eigene als gegen ein fremdes Ich sich kehrt. Indem dies urteilende Denken von dem übrigen Inhalt des eigenen Bewusstseins sich trennt und wie man es bildlich bezeichnen kann, darüber sich erhebt, wird es scheinbar ein anderes Ich, ein urteilendes richtiges, das gleich dem Genius und Daimon antiker Mythologie, im Leibe des Menschen seinen Sitz zu haben scheint, in Wahrheit nur ein anderer und besonderer Ausdruck der „Seele“ ist, wie sie dem primitiven, dem magischen und religiösen Denken erscheint. Diesem Denken und der poetischen Sprache gemäss ist so der Genius oft für einen Gott erklärt worden: „Est deus in nobis“ (Ovid Fasti VI, 5). „Denn es waltet ein Gott in uns“ (Hölderlin). Und so macht sich, wenn auch schliesslich nur noch in der gehobenen Sprache, immer wieder geltend, dass der geniale Mensch, zumal der Dichter, aber auch sonst der Meister, sein hohes Werk 30

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„Est deus in nobis“: [lat.] svw. Gott ist in uns; vgl. Ovidius 1957: VI, 5: „Est deus in nobis, agitante calescimus illo“ – „In uns lebt Gott, und er selbst erregt uns, dass wir erglühen“. (Hölderlin): Vgl. Hölderlins „Der Abschied“ (o. J.: 1. Bd., 227): „Trennen wollten wir uns? Wähnten es gut und klug? | Da wirs taten, warum schreckte, wie Mord, die Tat? | Ach! Wir kennen uns wenig, | Denn es waltet ein Gott in uns“.

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zu schaffen vermag weil er „von Gottes Gnaden“ dazu begabt sei, dass zum mindesten ein Hauch von übernatürlicher Art in ihm walte. Ebenso wird das Gewissen von Dichtern, Theologen und dgl. Philosophen leicht als eine Art von Fremdkörper im Menschen aufgefasst, um dann als etwas Geheimnisvol[10]les als eine mystische Stimme, als Stimme Gottes oder gar als der Gott in höchst eigener Person erklärt zu werden. 4. Für die psychologische Erkenntnis ist nichts vorhanden als ein gewisses Denken und Wissen, Wollen und – Können, dessen Subjekt, der vernünftige Mensch, dies Denken von seinem Handeln und von den Gefühlen, Affekten, Leidenschaften, die solchem Handeln zugrundeliegen, scharf und deutlich unterscheidet – denkend unterscheidet, sodass er insofern mehr mit jenem Denken als mit jenen Motiven sich identifiziert und etwa beklagt, dass diese „plus fort que moi“ seien oder wie Medea bei Euripides kaˆ manϑ£nw m{n o†a tÕ m»sw kak£ ϑumÕj d{ kre…sswn tîn ™mîn boulhm£twn Was Ovidius gewandt, aber verblassend, übersetzt hat: Video meliora proboque, deteriora sequor 5. An jener Vorstellung von einer besonderen Kraft oder gar einem persönlichen Wesen gehalten, ist das Gewissen in Wirklichkeit nichts, und doch bleibt es richtig verstanden viel, nämlich sofern das Denken des Menschen über sich selber, vollends die Selbsterkenntnis, viel bedeutet. Diese starke Bedeutung, hat es aber nur, insofern als es in Widerspruch gerät mit den sonst natürlichen und wirksamen, oft so viel wirksameren Antrieben, als es diese verneint, wie auch jene Gefühle: die Scham, die Reue und der Ekel andere Gefühle und Antriebe verneinen. Verneinung im Denken heisst Verwerfung, Missbilligung, Verurteilung – so ist die Vorstellung von einem inneren Gericht (forum internum) aufgekommen, der auch Kant noch seine volle Anerkennung widmet, und sie ist allerdings nicht sinnlos, wenn Gleichnisse überhaupt Sinn haben. [11] Dann muss man dem Gewissen auch eine Freisprechung offenstellen, wozu allerdings eine bessere Erkenntniss 13 13

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„plus fort que moi“: [frz.] svw. stärker als ich. bei Euripides: Vgl. dessen „Medea“ (1992: 85): „Und ich erkenne das Grauenvolle, das ich zu tun gedenke. Doch mein Zorn ist stärker als meine vernünftigen Gedanken“. Video meliora proboque, deteriora sequor: [lat.] Ich sehe den besseren Weg und billige ihn, dem schlechteren aber folge ich. – Vgl. Tönnies 2002a: 130. (forum internum): Vgl. Kants (1913: 250) „Metaphysik der Sitten“ (1. Buch, 2. Hauptstück, § 13): „Von der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, als dem angeborenen Richter über sich selbst“.

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führen kann. Aber das wirkliche Gewissen ist das böse Gewissen, der Sturm, der durch den Kontrast zwischen dem Menschen wie er sich wirklich zeigt (vielmehr gezeigt hat), und seinem eigenen denkenden Urteil erregt wird: eben darum ist Gewissen einerseits nur der Komplex jener drei Gefühle (Scham, Reue, Ekel), die alle negativ sind, sofern sie in den Gedanken übersetzt werden, andererseits aber als Gedanke von ihnen verschieden, insofern als dieser weiss und behauptet: es ist böse oder schlecht, es war böse, abscheulich, ruchlos, schändlich, es ist ein schwarzer Fleck auf der eigenen Persönlichkeit, auf ihrer Ehre und Achtungswürdigkeit. 6. Diese Erwägung führt in die Bedeutung ein, die das soziale Leben für das Gewissen ebenso wie für jene negativen und autokritischen Gefühle hat. Es ist leicht erkennbar und oft erörtert worden, dass der Mensch, wie auch immer er über sich selbst denke und für oder wider sich fühlen mag, nicht leicht gleichgültig sein kann gegen das Urteil der anderen, seiner Freunde oder Feinde, des Publikums ganz besonders aber der Mächtigen, Herrschenden, Richtenden über ihn. Er muss immer wünschen, nicht zu missfallen, wenigstens nicht in einer Weise, die ihm offenbar schädlich sein wird; keinen Anstoss zu erregen, wenigstens keinen so heftigen, dass seine ganze Lebensstellung dadurch gefährdet würde. Und hinter dem Publikum steht der Staat mit seinen Strafandrohungen, deren Vollzug nach richtigem Urteil nicht nur etwanige Unehre über ihn verhängt, sondern wahrscheinlich seinen künftigen Lebensweg bitterlich erschweren und hemmen wird. Für manche kömmt noch etwa die Autorität einer Kirche hinzu, die vielleicht sein Gemüt und Gewissen zu erleichtern vermag, aber es auch durch auferlegte Busse [12] und durch die Strenge ihres Tadels ferner beschwert, wenn sie etwa sein künftiges Seelenheil, dessen vermeintliche Aussicht ihm sonst tröstlich wäre, fragwürdig erscheinen lässt. Übrigens aber kann er aus Vereinen, aus der Partei, der er angehörte und aus Geselligkeiten, die ihn erfreuten, ausgeschlossen, er kann geächtet werden. Das alles wenn es bekannt wird, was er getan hat, möge es kriminell sein oder nicht! Wird er ein öffentlich Angeklagter, und gar ein Verurteilter, so wird es im allgemeinen um so schlimmer um ihn und seine Ehre stehen; in besonderen Fällen aber gilt dies für seine Freunde, Anhänger, für seine (religiöse oder politische) Partei als eine Ehre die ihm zuteil wurde und er selber zuweilen als ein unschuldig Leidender, oder als zwar schuldig, aber um so mehr ehrwürdiger Märtyrer einer guten, vielleicht heiligen Sache. – Sogar in diesen Ausnahme-Fällen kann es nicht leicht fehlen, dass eine zwiefache Furcht den ergreift, der sich eines Tuns bewusst ist, von dem

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er zu erwarten Grund hat, dass es wenn bekannt, solche Wirkungen haben wird: 1. Die Furcht vor eben diesen Folgen überhaupt, 2. die Furcht vor dem Bekanntwerden, vor der Öffentlichkeit, vor dem Verrat, wenn es bisher des Täters Geheimniss war. Diese Furchtgefühle vermischen sich mit den unmittelbaren Widergefühlen, die in der Erinnerung an das Geschehene enthalten sind, und auch mit dem Gewissen, als dem sie zusammenfassenden, verneinenden, verdammenden Gedanken. So kann das wirkliche offenbare Bekanntwerden, ja es kann die Verhaftung als befreiend wirken, weil wenigstens die eine Furcht dadurch gelöst wird. Ebenso dann die Aburteilung, Verurteilung, die Bestrafung selber, weil auch die andere Furcht der Wirklichkeit weicht. Nur in jenen seltenen Ausnahmefällen war das Gewissen nicht belastet, und das eigene Denken bejahte wie das der Genossen, stark die eigene Handlungsweise. Die Furcht vor Leid, Schmerzen und Schmach, kann derart vorhanden und lebhaft sein: hier tritt die Verschiedenheit aller Furcht von der Tatsache des Gewissens hervor. 7. Sooft aber und so lange als die erste Furcht dauert, ist es zunächst und am meisten der Mitwisser – oder gar mehrere solche, auf den sie sich bezieht. Er ist die Gefahr; ist es nur einer, so ist vielleicht sich seiner zu entledigen verhältnismässig leicht. Dies dringende Bedürfnis kann zum Morde veranlassen: so ist es nicht ganz selten, dass der Notzüchter das Opfer seiner Untat nachher tötet, um den einzigen, um so mehr aber gefähr[13]lichen Zeugen zu beseitigen; weil der Mörder so oft keinen Mitwisser hat, nachdem der Ermordete stumm geworden ist, bleiben so viele Mordtaten unentdeckt und unbestraft. So kann der schlimmste Übeltäter, wenn er keinen Mitwisser hat und das Zeugnis von Nichtmitwissern nicht fürchten zu müssen meint, mit gehobener Stirn dreist einhergehen, und nicht nur von Polizei und Gericht unbehelligt bleiben, sondern auch vor der öffentlichen Meinung sich sicher fühlen, ja vielleicht sogar – z. B. durch Wohltätigkeit, oder durch politisches Verhalten, das den sozial Mächtigen gefällt und schmeichelt – einer besonderen Achtung und Schätzung als wahrer „Ehrenmann“ sich erfreuen. Immerhin darf man hoffen, dass ein so offenbares Ärgernis selten ist, weil der grobe Übeltäter nicht leicht bei einer Schuld es bewenden lässt, sondern meistens auch vorher oder nachher anderes getan hat oder tun wird, was den Gesetzen und anderen sozialen Normen zuwider ist, und die Wahrscheinlichkeit ist offenbar viel geringer, dass mehrere solche Taten verborgen bleiben als eine.

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Aber auch im günstigsten Falle oder wenn einer etwa ein König oder Imperator sein sollte, auf den das Strafgesetz nicht anwendbar ist und der die Meinungen seiner Untertanen nicht achtet oder Grund hat, zu vermuten, dass sie auch angesichts seiner Untaten in Ehrfurcht erschauern – auch dann bleibt möglicherweise das Gewissen, wenn er eines „hat“, eine Geissel auf seinem Rücken. 8. Ob nicht jeder Mensch ein Gewissen hat? Wenn man es auffasst als eine besondere Kraft oder gar als ein besonderes Wesen, so wird man immer geneigt sein, es jedem Menschen, der nicht blödsinnig ist, zuzu[14]schreiben, man wird aber immer zugeben, dass es sehr verschieden ist und wirkt, bei verschieden gearteten und verschieden bedingten Menschen. Einige nennt man gewissenhaft und ihr Gewissen zart, empfindlich, andere haben, so sagt man, ein weites Gewissen, einige nennt man schlechthin gewissenlos. Das Gleichnis vom weiten Gewissen bezieht sich darauf, dass man das Gewissen schon wirksam denkt bei Entschlüssen und Handlungen, und zwar wirksam als Hemmung: es sind Bedenken vorhanden, zum guten Teile Befürchtungen, aber auch Einreden des Missfallens an gewissen Handlungsweisen und dem Entschluss zu solchen, weil sie als fehlerhaft in dem besonderen Sinne der ein moralischer heisst, empfunden und gedacht werden, worauf immer diese Gefühle und Ansichten beruhen mögen: auf einem natürlichen (instinktiven) Abscheu, wie er ohne Zweifel bei der grossen Mehrzahl der Menschen und bei den meisten seit vielen Jahrtausenden z. B. gegen „Blutschande“ vorhanden ist; oder, wie bei viel wenigeren und zumeist weiblichen Wesen, gegen das Blutvergiessen, ja das Blutsehen – oder möge solche Abneigung etwa gegen den Gebrauch der Sprache, zu dem ihr widersprechenden Zwecke des Lügens, auf Gewohnheit oder auf tief eingeprägter Lehre beruhen. Es sind die Steine des Anstosses, die Skrupel, die am Wege dessen liegen in seinen Gedanken der einen Plan entwirft zu dessen Verfolgung er solche Bedenken überwinden, solche Skrupel an die Seite schieben müsste. In Wahrheit gehört auch dieser freilich bedeutsame Vorgang in das Gebiet jener negativen – hemmenden – Gefühle, mit denen das Gewissen zwar nahe verwandt ist, von denen es zu unterscheiden aber für die Theorie ebenso wichtig ist, wie es im seelischen Vorgang, den wir aus uns selber kennen und bei anderen erschliessen, [15] charakteristisch 28

am Wege dessen liegen: Lies: die am Wege dessen liegen, der in seinen Gedanken einen Plan entwirft, zu dessen Verfolgung er solche Bedenken überwinden, solche Skrupel an die Seite schieben müsste.

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für die Entstehung des Gewissens ist, dass eine solche Scheidung geschieht, im Vergleich mit dem Falle, dass nur jene Gefühle vorhanden sind. Denn die Gefühle sind unangenehm, der Gewissensbiss aber tut weh, und die Gewissensangst macht schlaflos und verwirrt das Denken. Es kann einer durch Gefühle, denen fast immer die Furcht gesellt ist, sich abhalten lassen etwas zu tun, was nach allgemein herrschender Ansicht und Lehre schlecht oder böse ist, und kann doch kein Gewissen haben. Es kann einer, kühn und verwegen, über alle Bedenken sich hinwegsetzend, rücksichtslos seinen Zweck verfolgen, möge er meinen, dass der Zweck die Mittel „heilige“ oder möge der Zweck noch abscheulicher sein oder dafür gelten als die Mittel – und doch ein Gewissen haben, das ihm nachher viel Plage macht, sei es aus seinem Schuldbewusstsein heraus – weil er eben grundsätzlich und allgemein das nicht will und nicht mag, was er getan hat (etwa einen Konkurrenten und dessen Familie an den Bettelstab gebracht) – sei es weil der Gedanke sich seiner bemächtigt, es könnte doch der üble Ruf, in den diese Handlungsweise ihn bringe, so schädlich für ihn wirken, dass bald all sein erzielter Gewinn wieder wie der Schnee vor der Sonne zusammenschmelzen werde. Ein echtes Gewissen wäre freilich dies nicht mehr. Das echte Gewissen ist der feste Besitz der Vernunft an dem was sie als gut und besonders was sie als böse zu wissen, zu kennen meint oder glaubt. Wegen dieser subjektiven Gewissheit und so lange als sie dauert, ist dieser Besitz unerschütterlich, und beim normalen Menschen nicht leicht ganz vertilgbar. In diesem Besitze fühlt und weiss das Denken sich frei, auch wenn der Denkende weiss dass das Geschehende so notwenig ist wie das Geschehene unabänderlich bleibt, so heiss auch der Wunsch im Gewissen glühen mag, es ungeschehen zu machen. Es ist die Selbsterkenntnis der Widerstandsfähigkeit jenes Besitzes, die den Ärger so scharf die Selbstvorwürfe so bitter, die Gewissensbisse so schmerzhaft macht.4[16] 9. Die Idee des richtenden Gewissens als einer Potenz in der menschlichen Seele, ist eines der Gleichnisse, die zu erhalten und zu pflegen nur heilsam sein kann, und immer natürlich sein wird, wo der zu erziehende oder zu belehrende Mensch in seinem Bewusstsein die Kenntnis solcher Tatsachen hat, wie sie zu jener Vorstellung veranlasst haben – denn es ist der einzige sichere oder wenigstens ganz und gar der sicherste Weg, um 4

Vgl. Exkurs.

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Vgl. Exkurs: Siehe hier S. 109−111.

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die Wirksamkeit des „Gewissens“ zu erhöhen, um also durch Erfahrung von Gewissensangst, Gewissensqualen, Gewissensbissen, Scham, Reue, Ekel wach zu erhalten, wirksamer zu machen und die Furcht vor solchem Leid auf Grund der Voraussicht, dass es folgen werde, zu einem Faktor des normalen, sittlichen Lebens zu machen. Wenn aber das Gewissen in der Regel gedacht wird – wenn nicht sogar als eine besondere Person, ja als Gottheit in unserem armen Hirne – als eine immer vorhandene, immer gleiche, notwendig in gleichem Sinne wirksame, wenn auch oft gegen andere Kräfte ohnmächtige oder doch zu schwache Kraft, so kömmt eine ebenso geläufige Auffassung den wirklichen Tatsachen näher, die ein sehr mannigfaches Gewissen zulässt, worauf schon hingedeutet wurde. Denn, auch wenn wir den hier vorgelegten Begriff festhalten und uns hüten, das Gewissen mit den hemmenden Gefühlen zu verwechseln, so muss anerkannt werden, dass neben der verschiedenen Anlage die verschiedene Entwicklung der Anlage zum prüfenden Denken, zur Selbsterkenntnis das ist, wodurch die Menschen sich mannigfach und dauernd unterscheiden. Jeder kennt nur sein eigenes Denken, also nur sein eigenes Gewissen. Und jeder, dessen Denkungsart wir kennenzulernen Gelegenheit haben, kennt das Gewissen in diesem Sinne, dass es die eigene Handlung und Handlungsweise be- und oft verurteilt, und zwar unter diesem besonderen Gesichtspunkte, dass der Massstab einer edlen, hohen, gefallenden, imponierenden, im Unterschiede von einer gemeinen, rohen, unsauberen und niedrigen Handlungsweise angelegt werde. Dieser Massstab muss bekannt, gewusst, anerkannt, muss daher erlernt und behalten, [17] dem Gedächtnis eingeprägt sein, je tiefer, desto besser für Selbsterkenntnis und Selbstbeurteilung. Wer diesen Massstab anlegt, hat oft genug Gelegenheit und Grund mit sich unzufrieden zu sein, aber nur bei ausserordentlich unedlen, niedrigen und gemeinen Handlungsweisen, oder solchen, die im eigenen Bewusstsein dafür gelten, werden jene strafenden unerbittlich quälenden Selbstvorwürfe entstehen, die von den phantasievollen Hellenen in eine besondere Art düstrer Nachtgöttinnen umgedichtet wurden: die Erinnyen: hier erscheint das Gewissen als rächendes und strafendes, mit fürchterlicher Gewalt gegen den Muttermörder – Äschylos aber lässt diese Dämonen zeitweilig schlafen, bis der Schatten einer getöteten Mutter 33

Äschylos: In Aischylos’ Trilogie „Die Orestie“ wird die Geschichte von der Ermordung des aus Troja heimkehrenden Agamemnon gestaltet. Dessen Gattin tötet gemeinsam mit ihrem Geliebten Aigisthos den Ehemann Agamemnon. Dessen Sohn Orestes rächt seinen Vater und bringt Mutter und Geliebten um, was ihn der Verfolgung durch die Fluch- und Rachegöttinnen, die Erynnien, aussetzt.

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sie weckt – so kann der von Gewissenbissen verfolgte wohl eine Zeitlang vergessen, stürzt etwa sich in den Strudel des Vergnügens, um zu vergessen, aber der Gedanke, das Bild des Ermordeten oder schnöde Verratenen, des elend gemachten Mädchens und etwa seiner Kinder, kehrt immer wieder und jagt den Mörder oder anderen Frevler von einer Stätte zur anderen, ja bewirkt zuweilen, dass er nach dem Offenbarwerden seiner Schuld sich sehnt und nach offenbarer Strafe zur Erleichterung seiner geheimen Plage, der grausam heimlichen Züchtigung durch seinen Mitwisser, das Gewissen, auch wenn die Furcht vor der Entdeckung nicht vorhanden ist. 10. Weil die gesamte Denkungsart eines Menschen – und mithin sein Gewissen – sich entwickelt mit seinem Organismus, bis er in Reife vollendet ist, so wirken auch unter vielen Elementen Unterricht, Lehre, Bildung darauf: sie können das Denken fördern, es verfeinern und erweitern, so werden sie auch das Gewissen schärfen und ausbilden, wenn ein empfänglicher Boden dafür vorhanden ist. Das ist der Sinn der moralischen Erziehung an der immer wieder, und nicht immer vergeblich, eine ältere Generation die jüngere emporzuleiten versucht. Aber schon, wenn es gilt, kleine Kinder, vollends wenn Schulkinder, in dieser Hinsicht zu unterweisen und von Verirrungen abzuhalten, hat man Grund über „Miterzieher“ (andere [18] Kinder, Bedienstete, die Strasse) zu klagen; und allgemein gilt es, dass die Denkungsart, vollends des erwachsenen Menschen, stärker durch seinesgleichen, seine Gefährten, Kameraden, Konkurrenten, als durch die an Alter und Erfahrung ihm überlegenen Väter, Schulmeister usw. bewirkt und gestaltet, nicht selten umgestaltet wird. „Sage mir, mit wem du umgehst …“. Das Leben bildet den Menschen im guten, d. h. veredelnden, wie im bösen, d. h. im Sinn der Verrohung und Verderbnis. Darum ist besonders für den Mann seine regelmässige Tätigkeit, also sein Beruf, oft von entscheidender Wichtigkeit für die Ausbildung seines Charakters, seiner Denkungsart. Wenn Diebstahl und Raub berufsmässig erlernt und von früher Jugend an geübt werden, so wird der Keim des Gewissens wenn er vorhanden war, bald abstumpfen oder zurückgebildet werden, vielleicht aber doch die Scheu vor gewissen Untaten sich erhalten, und wenn sie dennoch geschehen, werden sie das Gewissen mehr oder minder schwer bedrücken. Aber auch ehrliche oder doch dafür geltende Berufe, und die Übung in ihnen wirken naturgemäss sehr verschie24

„Sage mir, mit wem du umgehst …“: Sprichwörtlich: Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist. In abgewandelter Form bei Goethe in „Zahme Xenien“ (Goethe 1881, 2. Bd., 489).

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den auf Gemüt und Gewissen. Je mannigfacher, je gesellschaftlicher und fremder der Menschenverkehr wird, je mehr einer auf Kosten anderer, vieler, sich zu bereichern vermag und geneigt wird, desto mehr ist Gelegenheit und Versuchung zu lügen, zu täuschen und zu betrügen: es bildet sich jede Art von Falschheit und Fälschung als Mittel für Zwecke dar, die als solche keiner öffentlichen Missbilligung unterliegen. So ist von altersher der Handel, und sein stärkster Motor, die Hab- und Gewinnsucht, berufen, als Verderber einer schlichten und treuherzigen Denkungsart, der Wahrhaftigkeit und also mittelbar des Gewissens. Sprüchwörter wie diese: „Gewinn in der Kisten macht Schaden im Gewissen“, „Lügen sind Pflug und Wagen des Kaufmanns“ sind manche im Volksmunde. Die Volksmeinung ist dem Handel niemals günstig, ist immer misstrauisch gegen ihn gewesen, oft wohl auf Grund von Vorurteilen. Dass die kapitalistische Produktions- und Verkehrsweise eine besonders ausgestaltete, besonders mächtig gewordene [19] Art des Handels ist, hat sie freilich nicht eingesehen. Nicht als Kaufmann, sondern als Herr, der wie ein Sklavenhalter angeschaut wird, unterliegt der Fabrikant der Zensur des Arbeiters. Lange bleibt er in dessen Augen, was dieser selbst nicht leicht mehr werden kann: Handwerksmeister, der das hatte, was er nicht hat: Kapital, z. B. der Maurermeister, Zimmermeister und andere. Aber das Entscheidende ist, dass sie Unternehmer sind oder werden, der Unternehmer aber ist Kaufmann. Die unbedingte Zwecksetzung für allen selbständigen Handel und alle geschäftliche Unternehmung ist der Gewinn, und zwar möglichst großer. Das Streben danach bewirkt, nicht mit Notwendigkeit, aber mit großer Wahrscheinlichkeit, Gleichgültigkeit gegen Qualitäten der Mittel, insbesondere insofern als diese Handlungen sind, denn es ist eine Leidenschaft, die den Willen bestimmt und mit sich fortreisst, eine kämpferische Leidenschaft, zumal wenn angespornt durch den Wettbewerb und den Wetteifer. Im Kriege, sei es ein Krieg gegen auswärtige Feinde oder ein Bürgerkrieg, gilt ebenso nur ein Zweck, eine Absicht: die Schädigung, wenn möglich Vernichtung des Gegners, und – mit ganz schwachen, etwa auf Übereinkunft im gemeinsamen Interesse beruhenden Vorbehalten – mit beliebigen Mitteln. Das Gewissen kehrt sich hier um. Wenn als Schulbeispiel für die Relativität des Gewissens die Genugtuung angeführt zu werden pflegt, die der Mörder empfindet, wenn er eine Tat der Rache für seine Sippe vollbracht, also seine Pflicht erfüllt hat, so bedarf der Soldat in einem Kriege nicht einmal dieser Rechtfertigung, es sei denn, dass man meine, das Vaterland stehe ihm ebenso nahe wie dem Vollzieher der Blutrache sein Geschlecht. Der Soldat handelt auf Befehl, und unter dem Drucke schwerster Strafdrohung, er kann sich der Pflicht zu töten nicht entziehen,

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so wenig wie es etwa der Henker kann, der als Beamter im Auftrage seines Staates tötet. Der selbständige Händler handelt in niemandes Auftrage, aber er weiss was er will, und er will ebenso unbedingt wie der Krieger, [20] wie der Feldherr, aber er will etwas anderes: nicht in erster Linie andere schädigen, sondern in erster Linie sich nützen; sich nützen, wenn auch die Schädigung anderer notwendig damit verbunden ist, während jener in der Schädigung anderer unmittelbar seinen Nutzen sieht. Beide sind erst sie selbst, wenn sie offensiv vorgehen mit solchen Absichten, als Subjekte ihres Kürwillens, der seine Zwecke setzt und die Mittel wägt: so weit möglich mit ausschliesslicher Rücksicht auf die Zweckmässigkeit dieser Mittel, ohne Rücksicht auf ihre sonstige Beschaffenheit, also auch ungeachtet etwanigen, ausgesprochenen Widerwillens, folglich etwaniger Gewissensbedenken oder des moralischen Ekels dagegen dagegen. Diese „Skrupel“ müssen (so denkt wer „aufs Ganze geht“) überwunden werden, dürfen nicht Steine des Anstosses sein die mich feige machen und die echte Farbe der Entschliessung trüben, in der Regel nur schwach oder garnicht sich regen, wenn das Unternommene, Gewagte, gelingt, gelungen ist: die etwanigen Selbstvorwürfe verschwinden noch leichter als die Vorwürfe anderer vor dem Erfolg; vor dem Genuss, dem Glanz, vor der Schmeichelei und Herrlichkeit, die er mit sich bringt. Freilich: wir wissen niemals, wie es im Gewissen irgend eines Menschen aussieht, außer in unserm eigenen. Nur ungewisse Vermutungen können wir über den Gewissenszustand eines Menschen hegen, sogar dann nur, wenn er beichtet, seiner Angabe nach, um sein Gewissen zu erleichtern; denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der wirkliche Beweggrund seines Beichtens ein anderer ist als der scheinbare und vorgegebene. Sonst kennen wir nur die Handlungen des anderen Menschen und sie lassen selten eine nur leidlich sichere Schlussfolgerung zu, dass den Handelnden ein böses Gewissen drücke und bewege. Am ehesten lässt ein wildes Vergnügungsleben, ein Laster, wie die Trunksucht oder die geschlechtliche Ausschweifung und das Suchen schlechter Gesellschaft überhaupt, zuweilen die Mutmassung zu, der so etwa sich Verzehrende wolle die Stimme seines Gewissens betäuben, das Gewissen lasse ihm keine Ruhe: auch die Selbsttötung wird zuweilen mit Grund dahin gedeu[21]tet. „Menschenkenner“ meinen es aus der Physiognomie zu lesen. So verlautete jüngst von einer österreichischen Gräfin L., die eine verhängnisvolle Liebschaft gefördert haben soll, jemand habe sie gesehen „mit vom Griffel der Gewissensbisse zerfurchten Zügen“. Gewisser scheint es, dass ein rasch und mit unlauteren, vielleicht nichtswürdi34

So verlautete: Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden.

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gen Mitteln erworbener Reichtum oft das Missfallen des eigenen Gewissens nicht nur durch Liberalität, verschwenderische Gastlichkeit und auffallende Wohltätigkeit, sondern besonders durch „fromme“ Werke zum Schweigen zu bringen versucht wo denn mit dem bösen Gewissen leicht die Furcht vor schrecklichen und ewigen Strafen sich vermischt, die man etwa während man lebt durch solche gutscheinende Taten zu mildern oder abzukaufen meint. Offenbar gibt das Leben in einfachen und bescheidenen Verhältnissen, ein Arbeitsleben in alltäglicher Erfüllung der gegebenen Obliegenheiten, viel weniger Veranlassung und Gelegenheit zum Erwerben eines böses Gewissens als das Geschäft, die freie Betätigung des freien Kürwillens, in Verfolgung eigener oder als eigene vorgestellter Zwecke. 11. Denn dies ist der höchst bedeutsame Unterschied. Eine gewisse verhältnismässig nicht sehr grosse Menge von Individuen und Familienvätern- oder Müttern lebt und wirkt unter von aussen ihnen auferlegten Pflichten, für deren Erfüllung sie auch von aussen „verantwortlich“ gemacht werden. Zu ihrem etwanigen Pflichtgefühl kömmt die Sorge hinzu, durch gewissenhafte Leistung ihre Stellung zu behalten, vielleicht auch zu verbessern. Die grosse Mehrheit aber wirkt, nach aussen hin unabhängig, jeder in seinem Berufe: mit dem Bewusstsein, anderen Menschen dadurch Dienste zu leisten und zum Entgelt dafür von eben denselben die Mittel zu erhalten, die zusammen ein Einkommen ausmachen. Dies Verhältnis wird zumeist – und in neuerer Zeit um so mehr – rein gesellschaftlich aufgefasst: als ein Austausch von Diensten gegen Geld wie von Waren gegen Geld. Es bleibt aber doch in sehr vielen [..], gemäss der Natur ihrer Leistungen, der Rest eines gemeinschaftlichen Verhältnisses, der eine Befriedigung gewährt, vermöge der Art der Leistungen, sofern sie den Mitmenschen zum Nutzen oder zur Freude [22] (oder beides) gereichen, es kann die Ausübung des Berufes zugleich als Dienst an der Gemeinde, als Dienst am Volke empfunden und gedacht werden, wie etwa der Beruf des Geistlichen, des Lehrers, des Arztes. Dem reinen Geschäft und der Auffassung des Berufes als eines Geschäftes bleibt dies fern. Und zwar um so mehr, je mehr es ins Grosse geht und durch Grösse und Macht in eine herrschende Stellung gerät. Und so ist überhaupt das Herrenbewusstsein von anderer Art, insofern als es schlechthin auf sich selber reflektiert: es will nicht dienen, es will nur sich dienen lassen.

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sehr vielen [..]: zu ergänzen wohl: Diensten.

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12. An und für sich ist Herrschaft sowohl mit einem gemeinschaftlichen als mit einem gesellschaftlichen Verhältnis vereinbar. Dort der Patriarchalismus, wo Verbundenheit mit Wohlwollen und Liebe die normale Erscheinung ist; hier die Leistung herrschaftlicher Funktionen als des Regierens, Richtens, Verwaltens, kraft eines Mandatvertrages, also allerdings als bezahlter und gesellschaftlicher Funktionen. Aber die Herrschaft als Macht, zumal wenn sie, wie es ihrem Begriffe entspricht, mit der Fähigkeit des Zwingens ausgestattet ist, überwindet leicht alles gegenseitige Verhältnis, indem sie eben ihre Beherrschten nur noch als Objekte, als Mittel für ihre Zwecke, die Interessen des oder der Herren ansieht und demgemäss behandelt – seit dem Altertum als Tyrannis heute als „Faschismus“ berufen, ihrem Wesen nach antisozial oder Feindseligkeit, möge sie aus einem gemeinschaftlichen oder einem gesellschaftlichen Verhältnis entspringen, als Entartung und Verderbnis des einen wie des anderen. Hier ist kein Gefühl oder Gedanke der Pflicht mehr vorhanden, daher auch die Bezeichnung als Willkürherrscher geläufig ist. Der in gegenwärtiger Darstellung zugrunde gelegte Begriff des Gewissens hat das Pflichtgefühl und den Pflichtgedanken zur Voraussetzung, Gefühl und Gedanke der Verbundenheit oder des Sollens, sei es des Sollens schlechthin, des kategorischen Imperativs, hinter dem doch immer der Imperativ eines sozialen Willens verborgen ist, sei es des Sollens des [23] eigenen Wohles, des eigenen Kredites halber, wie es jeder Geschäftsmann anerkennt, der zahlungsfähig bleiben und als zahlungsfähig gelten will. Die Kenntnis des kategorischen Imperativs bedeutet den klassischen Ausdruck des Pflichtbewusstseins als Inhaltes der praktischen Vernunft, sofern sie als vor aller Erfahrung, also vor allem Nutzen gesetzgebend gedacht wird: ein Wissen, dessen Anlage im Zusammenhange der Struktur eines normalen menschlichen Denkorgans (oder Grosshirns) enthalten sein muss, damit es unter normalen Bedingungen sich entwickle. Dass es in der Regel bei einem Menschen, der an der Gesittung und also an einem sozialen Willen von langer Dauer teilhat, vorhanden ist, muss auf Grund mannigfacher Selbstkenntnis und Beobachtung als Tatsache gelten; und wer sich selber das Gesetz gegeben hat, will ihm auch gehorchen, sofern er sich frei fühlt und frei sein will. Wenn er es dennoch übertritt, so wirkt das Gesetz in dem Masse, wie es im Denken beharrt, sich wiederherstellt, es wird reagieren – das ist die Erscheinung des bösen 11 19

„Faschismus“: Hier auf die Herrschaft Mussolinis, den Fascismus bezogen. des kategorischen Imperativs: D. i. die ethische Hauptkategorie in Kants „Kritik der praktischen Vernunft“.

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Gewissens, d. h. des Gewissens schlechthin. Was im Sprachgebrauch als gutes oder ruhiges Gewissen ausgezeichnet wird, beruht in jener irrigen Meinung, dass das Gewissen ein besondres Ding sei, das seine verschiedenen Zustände habe wie der lebende Mensch selber, dem es „gehöre“. Mit sich zufrieden zu sein, sein eigenes Handeln zu billigen, nicht selten zu bewundern, etwa auch sich zu entschuldigen und frei zu sprechen, ist der Mensch immer geneigt, und wenn er seine Pflicht getan hat, so hat er das angenehme Gefühl der Genugtuung, das Gewissen regt sich nicht, es ist eben nichts ausser dem Denken und Gedachthaben, dem Wissen und Mitwissen als Besitz, dessen Dasein nur in die Erscheinung tritt, wenn es gereizt, angegriffen wird, sonst aber latent bleibt, wie das Sehen in vollkommener Finsternis, das Hören in vollkommener Stille. Die Wirklichkeiten sind hier die (sinnlichen) Tätigkeiten des Sehens und des Hörens, und die ausgebildeten Organe dafür, die den Menschen mit anderen Lebewesen [24] gemein sind. So ist die Wirklichkeit des Gewissens die (geistige) Tätigkeit einer bestimmten Art des Denkens und das ausgebildete Organ dafür – eben der „Geist“, – das der Mensch nicht mit anderen Lebewesen gemein hat. Dass man dem Denken in dieser besonderen Anwendung einen besonderen Namen: das Gewissen gibt, der z. B. bei den Griechen erst in später, stark reflektierender Zeit aufgekommen ist, darf als eine sinnreiche Erfindung des Sprachgeistes gewürdigt werden, der hingegen kein Motiv gehabt hat, dem Auge einen besonderen Namen für die Fälle zu geben, dass es unerfreuliche Dinge sieht oder dem Ohr für die Fälle, dass es von traurigen oder abscheulichen Tatsachen hört. Eine besondere Betrachtung muss dem Verhältnis von religiösem Glauben und Gewissen gewidmet werden. Für den religiösen Glauben, sofern er sich auf das moralische Gebiet erstreckt, ist die Ethik, nämlich das Sittengesetz heteronom. Für die philosophische Lehre vom Gewissen ist es autonom: das Gewissen wird gedacht als beruhend in der Kenntnis des Guten und Bösen – wenngleich es im einzelnen irren möge, so sei doch in der Regel eine Gewissheit vorhanden und diese sei in hohem Grade den Menschen gemeinsam, um so mehr je mehr sie ethisch denken gelernt, d. h. die Bedeutung und Bedeutsamkeit ihrer Handlungen und Handlungsweisen, also auch ihrer Denkweisen erkannt, kennen gelernt haben. Die Behauptung, dass die Autorität der Moral in der Gesetzgebung eines Gottes oder eines gottähnlich gedachten Menschen beruhe setzt einen Glauben an das Dasein oder Dagewesensein eines solchen Gesetzgebers und den Glauben an die Gültigkeit d. h. Verbindlichkeit seiner Gesetze voraus. Dieser zwiefache Glaube ist schon dadurch notleidend, dass viele und zwar sehr verschiedene

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Götter geglaubt werden; sogar wenn behauptet wird, dass es nur einen Gott gebe und geben könne [25] so stellt dieser Gott in sehr verschiedener Weise sich dar: das klassische Beispiel dafür ist der einzige Gott des Judentums, der ausser in die noch lebende mosaische Religion in zwei andere, die christliche und den Islam übergegangen ist und in jeder dieser drei Religionen und ihrer Theologien für den Urheber weit voneinander abweichender ethischer Grundsätze und Regeln gehalten wird. Sogar innerhalb einer dieser Religionen der christlichen ist der Unterschied der Bekenntnisse, ja innerhalb ihrer der verschiedenen Meinungen über ihren Gott und seine Autorität verhängnisvoll: der Zufall der Geburt bringt den Menschen in die unausweichliche Gelegenheit, ja die Notwendigkeit, in dem einen oder anderen Sinne belehrt und erzogen zu werden, und in der Regel auch zu meinen, die anderen ebenso begründeten Meinungen seien schlimme Irrtümer, und die damit verbundene angebliche Sittlichkeit keine wahre Sittlichkeit, sei wohl gar ein Wegweiser in ewiges Verderben. 13. Ein ausgezeichneter Kenner der Religionen und der volkstümlichen Arten des Glaubens an Götter und Dämonen im fernen Osten – in Indien, China, Japan – war Sir Alfred C. Lyall, der aus diesen seinen Kenntnissen heraus eine Sammlung von Aufsätzen unter dem Titel „Asiatic studies, religious and social (1882)“ herausgegeben hat. Im dritten seiner Kapitel (pag. 54−74) erörtert er den Einfluss einer Hebung der Moral auf die Religion. Der Gedankengang ist folgender. In Europa hält die grosse Mehrheit noch dafür, dass die Sittlichkeit nicht dauern könne ohne die Autorität der Religion, aber es pflegt doch zugegeben zu werden, dass ein Glaube, der nicht mehr für moralisch wertvoll gehalten werde, nicht mehr lange gelten könne, sondern von selber sich auflösen müsse. In Indien würden wenige Leute zugeben, dass ihre religiösen Glaubensvorstellungen in notwendigem Zusammenhang mit der Sittlichkeit stehen, und viele würden sogar sagen, dass die Sittlichkeit durch solche Verbindung nicht verbessert würde. In primitiven Zuständen muss die Sittlichkeit ebenso wie die Ansichten über das was nützlich und heilsam sei, Beglaubigung durch einen anerkannten religiösen Glauben suchen, um selber anerkannt zu werden. So [26] würden auch höchst barbarische Praktiken wie der Suttee in Indien, die ihren Ursprung oder wenigstens ihre Stütze in rohen materiellen Interessen – dem 16 19 33

13.: Im Original fälschlich: 11. – Auch die folgenden geändert. Sammlung von Aufsätzen: Vgl. Lyall 1882. Suttee: [sanskrit: Sati] d. i. die gattentreue indische Frau, die sich beim Tode ihres Ehemannes verbrennen lässt.

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Wunsch die etwanige Erbin auszuschalten – haben, religiös beglaubigt und zur Pflicht gemacht. In höheren Kulturzuständen – meint Lyall – kehre das Verhältnis sich um: ein religiöser Glaube bedürfe der Sanktion durch eine anerkannte Moral. Von einer Auflösung dieses Zusammenhanges hätte die Theologie grossen Schaden zu befürchten. Wenn die jüngeren Religionen um das geistige Wohl ihrer Bekenner vorzugsweise sich bemühen, so fassen die älteren fast ausschliesslich das materielle Wohl der Menschen ins Auge: die Verteilung von Segen und Fluch in diesem Leben; die Götter brauchen nicht moralisch zu sein, wenn sie nur das schwerste Unheil dem Lande und Volk fernhalten. Aber die Götter werden sozusagen genötigt, nützliche Ideen anzunehmen, und Reformen, die aus anderen Gründen populär sind zu heiligen, zumal nachdem sie in sogenannten Heiligen Schriften niedergelegt wurden. Dann aber spielt die Auslegung eine wichtige Rolle, jedoch finden immer, wenn auch langsam die Neuerungen an die geglaubt wird, ihren Weg, auch moralische, die aber einen besonders schweren Stand gegen die Gottheiten haben. Allzu schwer ist es, zumal in Ländern, wo die Natur oft grausam und verwüstend auftritt, eine moralische und wohlwollende Weltregierung glaubhaft zu machen. Wo Kriege, Hungersnöte, Epidemien, tyrannische Misshandlungen alltäglich sind, und zugleich doch alles auf die Gottheiten als Urheber zurückgeführt wird, muss der Widerstand, den die Naturreligion gegen eine fortschreitende Moralität leistet, konstant und mächtig sein. Der Reformer muss sich selbst und seine Gedanken theologisch abstempeln. Es wird ihm um so eher gelingen, je mehr die materiellen Lebensverhältnisse sich bessern, und dieser Prozess ist im günstigsten Falle langsam. Soll er die Götter entlasten von unmittelbarer Verantwortung? Oder die Rücksicht auf sie fallen lassen? Beides sehr gefährliche Manöver, solange als Gläubigkeit vorhanden ist und [27] und jedenfalls ruinös in Asien. Der einzige denkbare Weg ist das Kompromiss. Eher gelingt die Einführung von Reformen der Fremdherrschaft einer höheren Kultur wie der britischen Herrschaft in Indien, die stark genug ist, eine Verantwortung auf sich zu nehmen, die sonst den Göttern gebührte. Regeln des Verhaltens, die auf theologische Sanktion angewiesen waren, lassen nach und nach die Verbindung mit der Theologie fallen, wenn sie aufgenommen und erzwungen werden durch ein Strafgesetzbuch. Unter so abnormen Bedingungen können auch die religiösen Meinungen mit überraschender Geschwindigkeit reformiert werden. In Europa kann die Moral die Lage und die Verantwortlichkeit für die materiellen Interessen der Menschheit auf sich nehmen, nachdem die Theologie sie aufgegeben hat. In Indien ist das sogar mit der Hilfe englischer Strafgesetze sehr gefährlich.

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14. Lyall hat nur angedeutet, dass die Entwicklung des Verhältnisses von Moral und Religion in Europa nicht wesentlich anders gewesen ist, als sie in Indien jetzt beobachtet wird. Dies Verhältnis lässt sich sogar als notwendig deduzieren. Woher kommen die göttlichen Gebote? Sie können nichts anderes sein, als Erfindungen der Menschen oder vielmehr als Formulierungen dessen was zu einer bestimmten Zeit für richtig gehalten wird, und das ist immer, wie es der Dekalog klassisch verewigt, in erster Linie die Verehrung des Gottes, in dessen Mund auch die anderen Vorschriften, z. B. dass man nicht töten, nicht stehlen, nicht ehebrechen soll gelegt werden. Diese Vorschriften selber haben in Wirklichkeit einen anderen Ursprung: sie sind aus den Bedürfnissen eines geordneten und friedlichen Zusammenlebens hervorgegangen. Dass sie auf den Gott zurückgeführt werden, bedeutet eine energische Einschärfung und Befestigung: sie scheinen dann ihre Dauerhaftigkeit dieser göttlichen Beglaubigung zu verdanken. Auch erhalten sich manche solche Gebote, wie etwa die genannten, wenn auch mit sehr verschiedenem Gewichte, durch die Jahrtausende: der Dekalog, der nach der hebräi[28]schen Sage auf dem Berge Sinai dem Volke Israel gegeben wurde, wird heute noch als Gottes Wille in unsern Schulen gelehrt. Aber nicht alle solche Vorschriften sind so dauerhaft. Die Vorschriften des Kultus sind dadurch bedingt, dass man an das wirkliche Dasein des Gottes glaube und also auch an den Wert der Opfer und Gebete, die man ihm darbringen soll. Dieser Glaube erhält sich wohl solange als man überall in seinen Erlebnissen das Walten des Gottes oder des Teufels wahrzunehmen meint. Die Erkenntnis der wirklichen und natürlichen Zusammenhänge des Geschehens lockert diesen Glauben und lässt ihn zuletzt kindisch und lächerlich erscheinen. So entsteht, da es allzu frevelhaft erscheint, das Dasein eines so mächtigen Wesens zu verneinen, die Idee eines Gottes, der nach wie vor geehrt wird, aber nichts mehr zu sagen hat und etwa wie ein Monarch seines gleichgültigen Amtes waltet: wohlwissend, dass die Würde und die Stellung deren er sich erfreut nur dauern kann, wenn er jedes Eingriffes in die Regierung sich enthält. Die Ansichten über das was gut und böse, was im moralischen Sinne lobens- und tadelnswert ist, verändern sich. Ein gutes Beispiel dafür gewährt der Wucher in dem Sinne, den er tausend Jahre lang gehabt hat, des Verbotes, irgendwelchen Zins zu fordern. Er galt für eine Todsünde, der Beichtvater konnte also den Sünder 7

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Dekalog: [gr.] die zehn Gebote, die Moses (Bibel 1912: AT, 2. Mose 20) als göttlichen Willen dem Volk Israel auferlegte. dem Volke Israel: Vgl. Bibel 1912, AT, 2. Mose 19, 20.

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nicht absolvieren, er musste dem Schrecken der Hölle entgegensehen. Von dem Grundgedanken dieser moralischen Denkungsart, dass man Geld nur im Sinne der Gemeinschaft als brüderliche Hilfe ausleihen dürfe – wie es auch heute noch von etwanigen nachbarlichen Verleihungen irgendwelcher Gebrauchgegenstände und von anderen freundschaftlichen Darlehen gilt, ist [..] fast nichts übrig geblieben. Sie hat Jahrhunderte lang gegen die gesellschaftliche Entwicklung sich gewehrt, und zwar vergebens. Die römische Kirche hat endlich das Wucherverbot ausdrücklich fallen gelassen: dies ist ein offenbares Beispiel dafür, dass die Entwicklung der Moral unabhängig von der religiösen Entwicklung fortschreitet und diese oder ihre theo[29]logische Deutung nach sich zieht. Es ist dafür gleichgültig, ob man die neue Moral höher oder niedriger wertet als die alte. Die Wucherfrage hat unter den modernen wirtschaftlichen Verhältnissen fast keine Bedeutung mehr; andere Probleme liegen viel näher. Es ist besonders die geschlechtliche Moral, worin ein offenbarer Wandel sich vollzieht, indem manches was noch vor einem bis zwei Menschenaltern als verboten, ja als abscheulich erschien, heute mehr und mehr geübt und leicht genommen wird, ja auch ausdrückliche Rechtfertigung sogar von Theologen erfährt, die sonst sich für die berufenen Hüter der hergebrachten Moral halten.[30] 15. Es gibt eine Richtung der protestantisch-christlichen Theologie, die sich ernstlich bemüht hat, die Probleme des Christentums mit wahrem wissenschaftlichen Geiste zu erforschen und zu behandeln. In einer alphabetisch angelegten Enzyklopädie, die aus dieser Richtung hervorgegangen ist (Die Religion in Geschichte und Gegenwart Bd. II 1910) wird freilich empfohlen, die religiöse Ethik immer neu von der universalistischen Tendenz der philosophischen Ethik durchdringen zu lassen, um nicht eine blosse Ethik für Pastoren zu werden; und durch das „Evangelium“ nicht nur die individuelle, sondern auch die Sozialethik zu befruchten, insbesondere müsse sie in der Lehre von der Kirche die spezifische Gestaltung religiösen Gemeinschaftswillens würdigen. Die Unabhängigkeit der Sittlichkeit von der Religion und umgekehrt sei, obwohl in der geschichtlichen Entwicklung erst sehr spät hervorgetreten, nicht zu bezweifeln. Freilich wird zugleich diese Einsicht durch den Satz beschränkt, dass erst die Religion – jede? – die Sitte zur Sittlichkeit vertieft hat, „indem sie dem glaubenden Gemüte einen unbedingt gebietenden, die Herzen prüfenden Gesetzgeber und unbedingt 6 24

gilt, ist [..]: In unsicherer Lesart: ausserdem. Die Religion in Geschichte und Gegenwart: Vgl. RGG 1909/13; vgl. Titius 1910.

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wertvolle Aufgaben zeigte“. „Das Unvermögen der philosophischen Ethik, diesen wichtigen Charakterzug des sittlichen Lebens ohne auf die Religion zurückzugehen, verständlich zu machen und zu begründen, zeigt in der Tat, dass auch heute eine rein immanente Ethik dem vollen Verständnis des sittlichen Vorganges nicht gewachsen ist“. Der Verfasser verkennt nicht, dass die religiöse Ethik von ganz besonderen Schwierigkeiten bedrückt sei. Er weiss dass, auch wenn man von ausserchristlichen Religionen absehe, die erste und zumeist empfundene Schwierigkeit in der konfessionellen Spaltung des Christentums liege. Aber auch die protestantische Ethik sei offenbar anfechtbar: der christliche Glaube, indem er Gott als höchsten Gesetzgeber anerkenne, scheine uns auf eine fremde Gesetzgebung zu verpflichten; es lasse sich nicht leugnen, [31] dass, wo die göttliche Autorität in äusserlich menschlicher Form es sei der unfehlbaren Kirche oder einer unfehlbaren Schrift wirksam gedacht werde, diese Gefahr naheliege, weil hier die Autorität auch ohne ja gegen das Zeugnis des Gewissens sich durchsetzen könne. „Wo dagegen an der Forderung festgehalten wird, dass sich uns die wahrhaft göttliche Autorität in unserem eigenen Gewissen bezeuge, so dass wir uns ihr innerlich beugen und ihr zustimmen, da ist nicht nur die sittliche Autonomie aufrechterhalten, sondern diese wird zugleich als Wirkung der in uns wohnenden und uns durchwaltenden höchsten Autorität verstanden und so die dem sittlichen Urteil eignende Unbedingtheit der Gültigkeit befestigt.“ Diese Darstellung eines höchst achtungswerten Protestanten darf als ein letztes Ausharren auf einem verlorenen Posten bewertet werden. Es ist darin nicht in Betracht gezogen der von den Anfängen des Christentums her bis zu dessen heutigen Zuständen sich fortsetzende Streit zwischen einer ernst gemeinten ernstlich geglaubten Offenbarung des Evangeliums und ungeachtet der unsicheren und widerspruchvollen Urkunde, dessen angeblicher historischer Verkündigung auf der einen Seite, dem grossen, auch im Protestantismus sich fortsetzenden Phänomen der Kirche als einer vermeintlichen Heilsanstalt – in die man sogar die Menschen um ihres eigenen Seelenheils willen hineinzwingen solle – auf der anderen Seite. Seinen typischen und klassischen Ausdruck findet dieser Gegensatz in dem Unterschied und Kampf des Sakramentes der Taufe, das eine bewährte Gesinnung und Lebenshaltung

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„… Vorganges nicht gewachsen ist“: Vgl. Naumann 1910: 670. Beide Zitate stehen unmittelbar hintereinander. Die Sätze davor (seit Erwähnung der „Religion in Geschichte und Gegenwart“) sind ebenfalls nahezu wörtliche Übernahmen aus den S. 669 f. „… Gültigkeit befestigt“: Vgl. ebd.: 671.

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voraussetze auf der einen, der Kindertaufe auf der anderen Seite; Urgemeinde und in mannigfacher Gestalt immer wieder auftauchend Sektenfrömmigkeit gegen die Kirche, in der die moralische Haltung schon an Bedeutung zurücktritt durch die Lehre von guten Werken indem als solche zunächst Leistungen eben für die Kirche und die Priesterschaft im Vordergrunde stehen; oder aber die Rechtfertigung durch den Glauben allein behauptet wird. Dies hat [32] seinen Sinn nur in dem durchaus mythologisch primitiven Dogma der Versöhnungslehre gehabt. In der genannten Enzyklopädie gibt ein gründlicher Kenner, Prof. Scheel, eingehende Auskunft über die Geschichte dieses besonders für die lutherische Reformation charakteristischen Dogmas und die wunderlichen Schwierigkeiten, die dieser Mythologie aus ihr selber erwuchsen. Im Mittelpunkte steht das Verhältnis von freiem menschlichen Willen und göttlicher Gnade. Paulus und besonders Augustinus hatten vorgearbeitet. Die Kirche brauchte den freien Willen, den die Augustinische Lehre ausschloss. Es mußte erst ein übernatürlicher Habitus für den Empfang der Gnade konstruiert werden und die menschliche Seele eine Übernatur erhalten: daraus entspringen dann die freien verdienstlichen Werke. Im Nominalismus tritt diese Auffassung in den Vordergrund, es blieb nur die These, dass der Gott tatsächlich das Heil, also die Erlösung, an die Sakramente der Kirche und die Gnade zu binden aus seiner Willkür beschlossen habe. Daran konnte Luther sich anschliessen um die schlechthin freie Gnade zu lehren, die jener Gott in seinem heiligen Wort offenbare. Die Gnade gibt sich hauptsächlich darin kund, dass die Sünde nicht angerechnet wird, weil sie durch die Gerechtigkeit Christi aufgehoben wurde. Darum lebt die Satisfaktionstheorie wieder auf: dass der erzürnte Gott durch ein Verdienst, nämlich die überpflichtmässige Leistung, die Jesus Christus durch seinen Opfertod geleistet habe, versöhnt werde. Eines stellvertretenden Strafleidens bedarf also der richterliche Unwille dieses allgütigen Gottes. Es handelt sich also um einen Prozess, der sich im Himmel abspielt und wo die bösen Menschen von Ewigkeit her verurteil nur darum gut wegkommen, weil Christus anstatt ihrer gelitten hat und damit der Forderung seines Herrn Vaters genug getan ist. Der Glaube bedeutet also nichts weiter als die Hingebung an diesen angeblichen objektiven Sachverhalt und der Mensch kann ruhig weitersündigen, wenn er nur diesen ihn rechtfertigenden Sachverhalt anerkennt. Die Theologie der Calvinisten Zwinglianer und vollends der

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eingehende Auskunft: Vgl. Scheel 1913: 1657−1662.

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Sek[33]ten kommt mit der pietistischen Richtung auch innerhalb des Luthertums und mit der Aufklärung darin überein, dass man die strenge kirchliche Lehre auf sich beruhen läßt und sich auf die Ausbildung von Begriffen wie Heiligung, Bekehrung, Wiedergeburt, Busse, endlich die moralische Besserung im allgemeinen, mehr und mehr beschränkte und die barbarische Idee vom erboßten Weltenrichter der durch ein grossartiges Opfer beruhigt werden musste, in den Schornstein schrieb. Dennoch versucht sogar eine liberale Theologie dies Hauptstück der lutherischen Dogmatik zu retten. Eine Interpretation wie in demselben Sammelwerke ein geistreicher Theologe sie unternimmt, verdünnt die Idee der Gnade und ihrer Offenbarung so, dass die Versöhnung nicht mehr gedeutet wird als Umstimmung des Willens Gottes sondern in der Richtung auf den Menschen selber, folglich die Gnade als im persönlich geistigen Leben sich offenbarend. Der Glaube soll sich an die Gesinnung Jesu halten. Voraussetzung ist der grosse Notstand der als Sündenbewusstsein auf dem Menschen laste, dem auf Seiten Gottes der gnädige Wille zu erlösen begegne. – Paul de Lagarde meint feststellen zu können, dass in der Reformation Luthers die katholische Kirchenlehre im grossen und ganzen unangetastet geblieben sei, und es werde nur behauptet, „der Eintritt in das Haus habe durch eine andere Türe stattzufinden als durch die, welche man gewöhnlich, aber missbräuchlich, benutzt habe“: es handle sich bei diesen neuen Lehren um ein Prinzip der Polemik, nicht der Dogmatik; wenn der Protestantismus durch den Westfälischen Frieden seine endgültige Anerkennung erhalten habe, so habe er damit zugleich die letzte Spur innerer Kraft, die nur durch den Gegensatz zur herrschenden Kirche bis dahin sich erhalten hatte, verloren: „Dadurch dass ihm die feierliche Erlaubnis zu leben gegeben wurde ward ihm der letzte Vorwand zu leben genommen“. Die Befreiung des protestantischen Deutschlands von den im katholischen Systeme und dessen Teilen die der Protestantismus besetzt hielt aufgehäuften Hindernissen [34] seiner natürlichen Entwicklung beruhe nicht in der Vortrefflichkeit, sondern in der inneren Unhaltbarkeit und der durch sie bedingten Löslichkeit, im Zersetzungsprozess des Protestantismus.

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geistreicher Theologe: D. i. vmtl. entweder Bertholet oder Vicher, die beiden anderen Bearbeiter des Artikels „Versöhnung“ in RGG. „… benutzt habe“: Vgl. Lagarde 1878: 15. Westfälischen Frieden: Beendete 1648 den Dreißigjährigen Krieg und schuf die Grundlage für den Augsburger Religionsfrieden von 1655. „… Vorwand zu leben genommen“: Vgl. ebd.: 16.

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Wenn das katholische System eine gewisse Folgerichtigkeit in seinem Widerspruch gegen alle natürlichen und vernünftigen Ansichten der Natur und des Menschen für sich geltendmachen kann, indem der Glaube an die Kirche als seligmachende und zwar alleinseligmachende Anstalt, unmittelbar aus dem Glauben an den zornigen aber zur Gnade umgestimmten Gott abgeleitet wird, so ist dagegen aller Protestantismus als kirchlicher mit einer tiefen Unwahrhaftigkeit angetan. Er beruht in der Erkenntnis der logischen und moralischen Unsinnigkeit des ihm überlieferten Kirchentums und hat versucht ein Surrogat dafür herzustellen, das der vermeintlichen Heiligkeit der echten Kirche entbehrt und doch auch zum Heile notwendig sein und den Heiligen Geist die dritte Person des dreieinigen Gottes in sich verkörpern soll. Aus Gründen einer vernünftigen Ethik ist sogar von sehr bewussten Christen oft gegen diese sogenannten Theorien der alten Kirchen wie der neuen Kirchen Widerspruch erhoben worden: man nannte schon von Seiten der sogen. Wiedertäufer Luthers Gnadenpredigt moralisch leichtfertig, weil sie die Sünder in ihrem Sündigen nicht stören wollte, ja sie gelegentlich ermutigte, kräftig darauf loszusündigen, um dem „per solam fidem“ erst recht das Tor zu öffnen; die moralischen Gründe, die gegen die Vermutung des christlichen Gottes sprechen, liegen auf der Hand, so dass man in der Tat sagen kann: mit einem gehobenen und geläuterten ethischen Bewusstsein ist dieser Glaube unvereinbar; wäre er unvereinbar selbst wenn andere Gründe oder gar vermeintliche Beweise dafür sprächen, dass ein solches ungeheuerliches Wesen hinter der Welt und doch im Himmel wohne; während in Wirklichkeit alle vernünftige Erwägung je mehr sie im Dasein der Natur selber der Ewigkeit der Zeit und der Unendlichkeit des Raumes etwas erkennt, das in seiner Unerkennbarkeit [35] unermeßlich erhaben ist über das grundlos vermutete Dasein dieses Menschengottes oder Gottesmenschen, gegen diese Hypothese sprechen [..]. Das Gewissen muss sich gegen sämtliche Dogmatiken und gegen die innere Wahrhaftigkeit ihrer einander auf Schritt und Tritt widersprechenden Lehren wenden. Wer sie dennoch lehrt und sogar die Meinung dass sie wahr und richtig seien als eine Bedingung des sittlichen Lebens behauptet, müsste ein böses Gewissen haben: denn er behauptet etwas schlechthin Unwahres und Unmögliches, das er zu verteidigen nicht wagen kann, ohne sich unheilbar und unrettbar blosszustellen.[36]

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„per solam fidem“: [lat.] svw. allein durch den Glauben. gegen diese Hypothese sprechen [..]: zu ergänzen: würde.

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In Ländern, wo der Protestantismus und die Aufklärung vorgearbeitet haben und auch sonst überall, wo der überlieferte religiöse Glaube, also das Kirchenwesen mit seinen volkstümlichen Gebräuchen und Übungen im offenbaren Verfall sich befindet oder doch nach Verlust des ehemaligen Gehaltes nur noch seine mechanischen Funktionen fortsetzt – überall ist das Problem gegeben und wird nach der europäischen Katastrophe immer dringender laut: ob wirklich „die“ Moral des Volkes durch religiösen Glauben irgendwelcher Art so bedingt sei, dass es um jene geschehen wäre, wenn dieser aufhöre. Er wird aufhören, da nach und nach alle seine Voraussetzung die Voraussetzungen dieses Glaubens gefallen sind: die kindliche Meinung, dass die Erde der Mittelpunkt des Universums sei, dass das Küstenland Syrien der Ursprungsort des Heiles der Menschheit, weil der Judengott hier durch die Juden der übrigen Menschheit sich endgültig „offenbart“ habe, nebst der Hoffnung, dass er noch einmal wieder auf dieselbe Weise sich offenbaren werde; dass dieser Gott zuerst seinen Bund mit dem jüdischen Volke, nachher durch Vermittlung dieses Volkes einen neuen Bund mit allen, die an ihn als den einzigen wahren Gott glauben würden, geschlossen habe; der Wunderglaube, dass dieser Gott Israels selber in menschlicher Gestalt dort in Palästina weise Lehren gelehrt und eine ungerechte schmähliche Strafe erlitten habe, dass diese menschliche Gestalt nicht nur mit ihm identisch sei, sondern auch von ihm erzeugt und von einer jüdischen Jungfrau geboren sei; die Meinung, dass über diese merkwürdigen Vorgänge und Ereignisse, insbesondere über den Tod dieses Gottmenschen glaubwürdige historische Urkunden vorhanden seien; dass er durch diesen Tod für alle die daran glauben, sich geopfert habe und wie immer das weiter sagenhaft ausgeschmückt worden ist; die Meinung ferner, dass eine und in der Tat bedeutendste Gestaltung der von ihm gestifteten Religion seinen Geist und Willen noch bis in un[37]sere Tage erhalte, oder dass irgendwelche Kirche oder Gemeinde vom Heiligen Geist, einer dritten Person dieser geheimnisvollen Dreifaltigkeit erfüllt sei – alle diese unmöglichen Meinungen 6 9

europäischen Katastrophe: D. i. der Erste Weltkrieg Er wird aufhören: Vgl. zum vorliegenden Gedankengang die gleichfalls unveröffentlicht gebliebene Schrift „Neue Botschaft“ (hier S. 3−75) sowie den Editorischen Bericht zu diesem Text (S. 614−628). Die beiden Texte sind etwa zeitgleich entstanden, und die Ausführungen über das Verhältnis von Religion und Moral stimmen zwar überein, aber mit der markanten Modifikation, dass die Moral nach den Ausführungen der „Neuen Botschaft“ einem jetzt erst anbrechenden („dritten“) Zeitalter angehört, dem Zeitalter des „Geistes“, in welchem nach der Prophezeiung des Joachim von Fiore („Neues Evangelium“) die Moral zur Herrschaft gelange. Dieses Zeitalter löst nach Joachim das gegenwärtige Zeitalter des „Sohnes“ ab, welches christlich-religiös beherrscht war.

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werden zwar noch in Schulen und Hochschulen als ob sie etwas wirkliches enthielten gelehrt, aber sie führen nur noch ein Scheinleben, sie sind nicht mehr vorhanden, ausser als Gespenster, wie denn schon Hobbes gesagt hat, das Papsttum sei nichts anderes als das Gespenst des abgeschiedenen römischen Reiches, das gekrönt auf dessen Grabe sitzt. Der Glaube an das Dasein körperloser und doch unter Umständen sichtbarer Geister, also der Gespenster, ist von je ein wesentliches Element des christlichen Glaubens gewesen. Mit ihm hing der Wunderglaube notwendig zusammen, und mit ihm ist der Wunderglaube so gut wie verschwunden. Wenn also wirklich ein religiöser Glaube die notwendige Daseinsbedingung für das moralische Bewusstsein, für das Gewissen und für entsprechende Handlungsweisen wäre, so sehe es in der Tat schlimm und verhängnisvoll aus um die Moral in Europa und in den andern Weltteilen, wo das Christentum eine öffentliche Autorität geltend macht. Schlimm und verhängnisvoll wäre es, wenn die natürliche Wildheit der Menschen, wenn ihre unvernünftige Begierde und Leidenschaft nur durch Irrtümer und etwa gar nur durch die Furcht vor Höllenstrafen oder durch die Hoffnung auf Belohnung in einem „Himmel“, wo sie mit dem Gotte und seinem Sohne zusammen wohnen würden in Schranken gehalten werden könnten. In Wahrheit und im Ernste glaubt auch dies niemand mehr. Man weiss vielmehr längst, dass alle „Sünden“, die heute, wo diese Vorstellungen nicht mehr oder doch nur sehr schwach noch wirken, begangen werden, auch ehemals begangen wurden, als sie sehr stark wirken konnten oder gekonnt hätten; obschon manche weniger massenhaft und weniger arg zutage treten mögen, aus Ursachen, die mit dem Verfall des Glaubens wenig oder nichts zu tun haben; dass aber auch viele Sünden, die wir heute Greuel nennen, ehemals vermeintlich zu Ehren jenes Gottes, insbe[38]sondere von denen, die sich seine Diener und Knechte nannten begangen wurden, und dass die Frage aufgeworfen werden kann, ob die religiösen Vorstellungen mehr zum guten oder mehr zum bösen gewirkt haben, in dem Sinne, in dem wir heute nicht umhin können gut und böse zu verstehen. Denn dass der Teufels- und Hexenglaube nebst einem schwärmerischen und kindischen Wunderglauben zur Religion gehörte, wird auch der romantische Verehrer des Mittelalters oder gar des Protestantismus im 17. Jahrhundert nicht leugnen können. Auch nicht, dass die Menschen, die ihm huldigten und demgemäss handelten, in ihrer Unwissenheit und Torheit ihrem Wahn und Wahnsinn mit schwerer Schuld sich belastet haben; auch nicht, dass der Priester solchen Wahn und solche Missbräuche in 36

sich belastet haben: Im Original verstümmelt: sich belset haben.

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unbewusster oder bewusster Verteidigung seines Standes und Herrentums seiner Beherrschung der Gewissen zähe und hartnäckig und stumpf gegen alle Einreden der Vernunft verteidigt hat. In der Tat ist es nicht so, dass die Menschen schlechterdings auf den Glauben an übersinnliche Mächte auf deren Hilfe Lohn und Strafe angewiesen wären, um durch solche Vorstellungen von ihresgleichen gelenkt und gehemmt zu werden. Zu jeder Zeit haben sie vielmehr in den notwendigen Rücksichten aufeinander die alles Zusammenleben den Menschen auferlegt und die um so mehr erkannt und anerkannt werden, je mehr das Urteil reif; und ferner und ganz besonders in den Nötigungen, die jede Gesamtheit immer auf den einzelnen ausübt, die Zähmung empfangen, deren sie für das Zusammenleben bedurften – endlich dann die stärksten Hemmungen an ihrer eigenen Vernunft, also ihrem Gewissen, also in den natürlichen Antrieben und Abhaltungen, die immer mit Vernunft und Gewissen verbunden waren, gekannt, je nach dem Grade, worin das freie und selbstständige Denken entwickelt war. Die schwersten moralischen Übel, die kein religiöser Glaube zu verhüten oder einzudämmen vermocht, auch kaum ernstlich gewollt und versucht hat, hängen an der gesellschaftlichen Entwicklung, am [39] Fortschritt und seinem blendenden Glanze selber, aber auch an dem Kontraste dieses Glanzes und des Reichtums, der ihn erstrahlen lässt, mit einer trotzdem scheinbar festgehaltenen, ja fortgepflanzten und unablässig gelehrten, mit den härtesten und grausamsten Mitteln verteidigten Religion, die eine Religion der Armen, der Mühseligen und Beladenen, also der Entbehrung und Entsagung zu sein in Anspruch genommen hat; so dass endlich das groteske Schauspiel sich entwickelt, dass diese Religion selber gerade wenn sie das reine Wort Gottes zu hüten behauptet, von denen, die am meisten in den Genüssen schwelgen, deren Dasein das unablässige Streben nach Reichtum ins Leben rief, eben diese Religion als einen Talisman setzen, der die Heiligkeit ihres Eigentums zu sichern geeignet sei, während das ungläubige Volk dem „Materialismus“ sich schnöde ergebe. Es ist kaum möglich, diesen Zustand anders als mit Satire und Ironie zu behandeln. Dieser Ironie bediente sich auch der Theologe Kierkegaard, der gleichwohl das Christentum idealisierte und das neue Testament als die für den Christen unbedingt verbindliche Norm des Glaubens und Lebens hinstellte – er urteilt aber auch, dass in der bestehenden Christenheit das Christentum so gut wie abgeschafft sei; und folgerichtiger hätte er wohl gesagt, dass es niemals angeschafft wurde. Mit dieser tiefen inneren Unwahrhaftigkeit hängt alles zusammen, was an Kirchentum und vollends an der staatlichen und pädagogischen

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Pflege der Religion abstossend und unheilbar uns entgegentritt. Ihre innere Unwahrhaftigkeit und Unwahrheit wird durch die Unwahrheit der bürgerlichen Gesellschaft gesteigert. Unser moralisches Bewusstsein (also unser Gewissen) trägt in sich das stärkste Verlangen nach Wahrheit, wie unsere Haut und unser ganzer Körper täglich oder wenigstens oft nach Reinigung und nach Sauberkeit verlangt.[A]

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Warum und wie sind Gewissensbisse schmerzhaft? Sind es nur die mit ihnen verbundenen Furcht- und Angstgefühle die den Menschen jagen wie einen Verfolgten, Gehetzten und ihm keine Ruhe gönnen? Sind diese mit den Schmerzen identisch, die vom Gewissen herrühren? Das Gegenteil ergibt doch wohl sich daraus, dass Furcht und Angstgefühle auch bei gutem Gewissen m. a. W. ohne dass das Gewissen irgendwie beteiligt ist, sehr oft die Seele sprengen, mithin auch wenn man etwas getan hat, wofür man sich verantwortlich fühlt oder sich verantwortlich macht. Man zittert gar oft vor den Folgen oder trifft mit gerechter Besorgnis seine Vorkehrungen, um diesen Folgen zu begegnen, sie zu vermeiden, gerade wenn man glaubt und sogar zu wissen meint, nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt zu haben. Gewissensbisse sind mehr als blosse Selbstvorwürfe, die man auch wegen blosser „Dummheiten“ sich macht, ja sehr lebhaft wegen offenbar gewordener Irrtümer, z. B. über den Wert von Mitmenschen, wegen törichten Vertrauens, das man in sie gesetzt hat, auch wenn man selber findet, dass einem diese Vertrauensseligkeit nicht Unehre macht, vielmehr ein Zeichen eigener Harmlosigkeit und Gutmütigkeit ist, so dass man ziemlich oft, was man moralisch billigt, intellektuell missbilligen muss, ebenso wie man den moralisch verwerflichsten ja verabscheuten Taten zuweilen den Preis der Klugheit und Schlauheit nicht versagt – jenes bei sich und bei anderen, dies nur bei anderen, denn ihre etwanigen Gewissenbisse fühlt man nicht selber und bei dem „Hartgesottenen Sünder“ wird oft die vollkommene Gewissenlosigkeit vermutet. Warum? Man glaubt nicht an das Dasein seines Ehrgefühls.[B] Die Ehre, die der Mensch, wie sie im Volksmunde heisst im Leibe hat und kraft deren er hohen Wert darauf legt, ein ehrlicher Mensch zu sein und zu heissen, lässt sich einer vorgestellten moralischen Haut vergleichen, die den Organismus vor Verletzungen schützt, aber selber in hohem Grade verletzlich und empfindlich ist. Sie schützt: denn sie verleiht dem Menschen, der sie hat, eine höhere Würde als der Mensch schlechthin besitzt, erregt 1

Exkurs: Eigenh. nachträglich hinzu gefügt.

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also eine gewisse Scheu und Furcht, die als vollkommene Ehrfurcht heisst; man weiss, dass es gefährlich ist, sie anzutasten. Kränkung der Ehre kann den davon betroffenen Menschen in Raserei versetzen, zur Verzweiflung, zum Selbstmord oder zu gewaltsamem Angriff gegen andere treiben – z. B. Verletzung und Vergewaltigung der jungfräulichen und spezifisch weiblichen Geschlechtsehre, welche Verletzung auch ein nahe Angehöriger z. B. der Vater einer Jungfrau wie seine eigene empfinden kann; sie wird aber den Zorn des Mannes zur Abwehr und Rache reizen, die ihm angetane Schmach „kann nur mit Blut abgewaschen werden“. Die Vorstellung, die zugrunde liegt, beruht in Selbstgefühl, Selbstachtung, gerechtem Stolz aber auch oft in Eitelkeit und Dünkel – Gefühlen, die im Stolz ihren reinsten Ausdruck haben als einem erhebenden Wissen des eigenen Wertes, seines moralischen Gewichtes, wie einer seines physischen Gewichtes, seiner Körperlänge und anderer physischen Beschaffenheit, wohl auch seiner Schönheit und Kraft als objektiver Tatsachen bewusst ist und dies Bewusstsein pflegt. Es verstärkt und steigert sich durch Kenntnis der Reflexe in den Empfindungen und Gedanken anderer, der Umgebung schlechthin, vorzüglich derer, die dem im Spiegel sich Schauenden nahestehen und die er als seinesgleichen anerkennt, deren [C] Meinung und Urteil einen bestimmten und bekannten Wert gemäss eigener Schätzung hat. So hängt die Ehre auf das innigste mit dem Ruf zusammen. Das noch geltende Deutsche Strafgesetzbuch lässt es zweifelhaft, ob es nur den Ruf schützen will, oder (wenigstens auch) das Selbstgefühl des Individuums, wenn es vom allgemeinen Begriff der Beleidigung „die Behauptung oder Verbreitung einer Tatsache in Beziehung auf einen anderen“ unterscheidet, „welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist“ und sie mit Strafe bedroht „wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr“ ist. Die Ausleger sind darüber einig, dass es bei der strafbaren Beleidigung um den Angriff auf das unkörperliche „Rechtsgut der Ehre“ sich handle, jedoch keineswegs darüber einig, was als Ehre verstanden werden müsse. F. v. Liszt bezeichnet seine eigene Auffassung als die auch „heute“ herrschende. Danach sei „Ehre im Rechtssinne nicht der durch Handlungen nicht verletzbare innere Wert des Menschen, sondern seine Wertung durch andere, sie

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„… erweislich wahr“: Vgl. Strafgesetzbuch § 186 (1907: 175): „Wer in Beziehung auf einen Anderen eine Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Thatsache erweislich wahr ist, wegen Beleidigung mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Haft oder mit Gefängniß bis zu Einem Jahre […] bestraft“.

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Exkurs

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sei „die persönliche Geltung bei den Rechtsgenossen“. Olshausen verneint ausdrücklich, dass das Rechtsgut der Ehre mit dem inneren Wert oder der Würdigkeit des Menschen identisch sei, es bezeichnet vielmehr den Wert, den eine Person innerhalb der menschlichen Gesellschaft habe. – Ob und wiefern hier eine richtige Deutung der Meinung des Gesetzgebers vorliege, bleibe dahingestellt. Es gibt aber auch da eine Minderheit, die am besten durch v. Bar sich vertritt, der das Wesen der Beleidigung treffend in die absichtliche Seelenschmerzerregung setzt. Dem ist noch hinzuzufügen, dass die Beleidigung als Ehrenkränkung da vorliegt, wo sie eine „tötliche“ ist, d. h. den Versuch darstellt, das eigene Gefühl und Bewusstsein des eigenen [D] Wertes, der eigenen Ehre zu vernichten. Vulgär wird das oft ausgedrückt als ob einem der Vorwurf gemacht werden würde „silberne Löffel gestohlen zu haben“, dass man also für einen niederträchtigen Lump gehalten und als solcher beschimpft würde. Diese Ansicht führt uns auf die Gewissensbisse zurück. Gewissensbisse sind um so mehr, was der Ausdruck besagen will, sie sind m. a. W. um so schmerzhafter je mehr sie eine tötliche Beleidigung des Menschen durch sich selber enthalten. Das sittliche Bewusstsein als eigenes Ehrgefühl erhebt sich und klagt seinen eigenen Träger an wegen dessen, was er getan hat (oder warnt ihn vor dem was er zu tun gedenkt), indem es die Verachtung solcher Handlung vielleicht auch Denkweise ausdrückt und den der dies getan hat oder zu tun gedenkt auch wenn man es selbst ist, einen niederträchtigen und ehrlosen Lump nennt. Unerbittlich jagt so das böse Gewissen auch den Ödipus der „nichtsahnend und unwissentlich“ Greuel und Frevel beging, die er selber als solche empfindet und verabscheut, also dass er seine eigene Gestalt und das kostbare physische Gut seines eigenen Augenlichtes hassen und verachten muss. Wie denn überhaupt aus der antiken Tragödie unvergleichlich viel mehr als etwa aus dem Evangelium für die Erkenntnis der ethischen Denkungsart und also des Gewissens zu lernen ist.

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„… bei den Rechtsgenossen“: Vgl. Liszt 1903: 339. „nichtsahnend und unwissentlich“: Vgl. Sophokles’ „König Oidipus“. Der auch von anderen Dramatikern bearbeitete Mythos behandelt das Schicksal des Oidipus, der aufgrund eines Unheil drohenden Orakels von seinen Eltern ausgesetzt wurde und später nichtsahnend und unwissend seinen Vater erschlägt und seine Mutter heiratet.

Ein anderer Brief an Herrn Dr. Brüning

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der Offene Brief, den Herr Adolf Hitler an Sie gerichtet hat, veranlasst mich meinerseits Ihnen diesen Brief zu schreiben, der auf eine Prüfung des Hitlerischen Briefes ausgehen wird. Ich bin freilich Ihnen und dem Publikum gegenüber sehr im Nachteil gegen Herrn Hitler. Ich kann mich nicht als Führer einer Partei vorstellen, bin niemals Mitglied eines Parlamentes, nicht einmal eines städtischen gewesen, ich kann nicht von irgendeiner Bewegung als von „meiner“ Bewegung sprechen, ich verfüge nicht über eine Zeitung, in der ich mit ungeheuren dreimal fetten Lettern, mit gewaltigen oder gewaltig wirken sollenden Überschriften, mit mannigfachen Hervorhebungen durch Sperrdruck und Unterstreichungen meinen Meinungen den äusseren Schein einer grösseren Wichtigkeit zu geben versuchen könnte als sie ihrer Natur nach haben. Ich habe aber das Bedürfnis, als einfacher Reichs- und Staatsbürger, den Eindruck wiederzugeben, den auf mich das Schreiben dieses Mannes gemacht hat, der vor wenigen Jahren noch nur durch einen „Putsch“, den er veranstaltet hatte und durch die Zweifel, die in Verbindung damit an seiner Redlichkeit laut wurden, bekannt geworden war. Ich komme darauf nicht zurück und überlasse es grundsätzlich anderen Kritikern dieser Persönlichkeit, ihrem Wesen und ihrer Vergangenheit nachzuspüren. Mithin weiss ich nichts von diesem Herrn Adolf Hitler als was alle Welt weiss, und ich glaube, dass es genügt. Vor allem weiss ich, dass er als

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Sehr geehrter Herr Reichskanzler: Textnachweis: TN, Cb 54.34:01a. – Typoskript in 4°, 42 S., mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Kopftitel sowie Unterschrift (S. 25) eigenh., ab S. 26 „Nachwort an die Leser“. Abgefasst Okt./Nov. 1931. Der Text ist ein Antwortbrief auf „Offener Brief Adolf Hitlers an den Reichskanzler“ im „Völkischen Beobachter“ vom 16. Oktober 1931 (Hitler: 1931); siehe dazu und zur Quellenlage den Editorischen Bericht S. 629−631. an Sie gerichtet hat: Vgl. Hitler 1931. – Alle nachfolgenden Hitlerzitate von Tönnies entstammen diesem Text. über eine Zeitung: D. i. der „Völkische Beobachter“, das Parteiorgan der NSDAP. Putsch: In der Nacht zum 9. 11. 1923 misslang Hitler in München der Versuch, zusammen mit Erich Ludendorff die bayerische und die Reichsregierung zu stürzen. Er wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt, die aber schon 1924 aufgehoben wurde.

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Ein anderer Brief an Herrn Dr. Brüning

Gast – wenn auch aus dem stammverwandten Staate – alle Ursache hätte, der Mässigung und Bescheidenheit sich zu befleissigen. „Die politische und moralische Notwendigkeit unserer Opposition gegen das System“, so überschreibt sich sehr fett der erste Abschnitt des Hitlerbriefes. Darin steht: die nationalsozialistische Bewegung habe, vom ersten Tage ihrer Gründung an, den Mut zur Unpopularität als einen heiligen [2] Talismann in sich getragen, er und seine Leute seien von den erdrückenden geistigen „und brachialen“ Machtmitteln „des heutigen Systems“ vor aller Öffentlichkeit verfehmt und geschlagen worden, es sei populärer und vor allem leichter gewesen in diesen zwölf Jahren, in der geistigen Front der heutigen Regierung zu stehen als in der Front seiner, Hitlers Bewegung. Der Briefschreiber will offenbar durch diese Rede von vornherein die besondere Gunst für sich in Anspruch nehmen, die im allgemeinen derjenige gewinnt, der für seine Überzeugung und deren Kundgebung gelitten hat; wie mehr oder minder jeder darunter leiden muss, der ohne Trachten nach Gewinn oder nach Ehre, vollends wer ohne Aussicht auf irgendwelche klingende oder glänzende Vergeltung unerschrocken für etwas eintritt, was in seiner Umgebung keinen oder schwachen Widerhall findet, oder was sogar nur mit Widerwillen und Abscheu auch von denen vernommen wird, um deren Billigung, vielleicht um deren Mitwirkung, ihm zu tun ist. In diesem Sinne können die Herren Hitler, Göbbels, Frick und alle diese Unterführer, die von Herrn Hitler überstrahlt werden, keines Martyriums sich rühmen. Es war nichts leichter, nichts dankbarer als die Fahne (wenn auch durch ein gehässiges Kreuz entstellt) zu hissen, die 47 Jahre lang die Fahne des Deutschen Reiches gewesen ist; dies Reich war, wenn auch nur als ein kleindeutsches Reich, im Glanze der Erfolge dreier Kriege erstanden und bei seinem Erstehen dem Verlangen einer grossen Mehrzahl der Einwohner entgegengekommen, besonders aber unter den Gelehrten und Gebildeten der akatholischen Mehrheit von Protestanten, Juden, Dissidenten, die als die Haupt-Träger der neueren deutschen Bildung, ja auch der klassischen deutschen Literatur, nämlich der schönen Literatur, der philosophischen und der wissenschaftlichen sich fühlten, und diese Literatur hatte 1750 bis 1850 die Ehre der deutschen Nation mächtig gehoben und ihr den Namen des Volkes der Dichter und Denker verschafft. Freilich darf man der Würdigung dieser Tatsache ebenso wenig wie der Mitwirkung be1

Gast: Von Geburt Österreicher, seit 1914 durch Eintritt in das deutsche Heer Staatenloser, erhielt Hitler erst am 25. 2. 1932 mit seiner Ernennung zum Regierungsrat in Braunschweig die dt. Staatsbürgerschaft.

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deutender Katholiken, der[3]jenigen von Österreichern, Schweizern und anderen Kulturdeutschen ausserhalb der Reichsgrenzen vergessen. Ich sage: nichts war dankbarer und wohlfeiler als jene Fahne zu entfalten, die (wenn auch ohne Hakenkreuz) das Banner der grossen Mehrheit jener Kreise blieb, die als Vertreter von Besitz und Bildung sich fühlen. Eine kurze Frist vorher vereinigte eine gewaltige Aufwallung des Nationalgefühls und Nationalbewusstseins die deutschen politischen Parteien, und zwar in einer Weise, die eine Bewunderung und ein Staunen erregt hatte, wovon noch heute gar manche, die für die allein berufenen Erben dieser Schätze des patriotischen Bewusstseins sich halten, die Eindrücke in sich tragen, wenngleich sie nicht gern mehr davon sprechen.[4] Um die Haltung der Sozialdemokratischen Partei während des Krieges, der Mehrheit auch noch in dessen letzter Phase, richtig zu würdigen, muss man sich erinnern, dass diese Partei wirklich von den Machtmitteln des damals herrschenden Systemes „verfehmt und geschlagen“ worden ist, und zwar ohne Rücksicht auf die persönliche Freiheit und das persönliche Eigentum der Verfolgten. Ob es moralisch und politisch gerechtfertigt oder ob es gerade politisch unzweckmässig gewesen ist, diese Partei, die spontan aus der Lage des grössten Teils der immer mehr anwachsenden den Nationalreichtum mehrenden industriellen Arbeiterklasse hervorgewachsen war, so zu behandeln, wie sie behandelt wurde, untersuche ich hier nicht. Gewiss ist aber, dass jene Partei allerdings ebenso im nichtverhohlenen Gegensatz gegen die damaligen monarchischen Regierungen, insbesondere diejenige Wilhelms II., gestanden hat wie die heutige „nationale Opposition“ in schlechtverhehltem Gegensatz gegen die heutige verfassungsmässige Staatsform sich kundgibt. Ja, man kann sagen, der Name „Umsturzpartei“ musste damals gerechtfertigt scheinen, obgleich sie nie gegen die Staatsform etwas unternommen hat, und ihre ökonomischsozialen Ziele innerhalb des bestehenden Staates allmählich zu erreichen hoffte. Der grosse Unterschied ist aber der, dass die Sozialdemokratie nicht in Anspruch genommen hat, auf Grund der grossen und stark wachsenden Zahl ihrer Wähler und ihrer Vertreter auch an der Regierung teilzunehmen oder gar „die Macht“ sich ausliefern zu lassen; sie hat nie um die Gunst des Kaisers oder seiner verantwortlichen Ratgeber geworben, und nur widerwillig, als die Not auf höchste gestiegen und der Kaiser schon ohnmächtig war, sich dazu verstanden, in seinen Dienst zu treten. – Schon 20

den Nationalreichtum mehrenden industriellen Arbeiterklasse: Passage durchgestrichen, dann Korrektur rückgängig gemacht.

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während des Krieges, noch vor der Katastrophe, hub es an – wir müssen den Kaiser wie dem Reichskanzler Bethmann Hollweg es zur Ehre anrechnen, dass sie nicht daran teilgenommen, einigermassen sogar Widerstand dagegen geleistet haben – und es stand in allzunaher Ver[5]bindung mit dem Trachten nach Eroberungen als den vermeintlichen Früchten des vermeintlich schon siegreich durchgeführten Feldzuges, es fing an, dass man die Einmütigkeit durch die Anmassung bersten machte, allein die nationale Gesinnung zu repräsentieren, und durch schroffe Ablehnung aller vernünftigen Bemühungen, dem Kriege auf dem Grunde eines Kompromisses ein wenn auch nicht blendendes so doch leidlich befriedigendes und jedenfalls nicht katastrophales Ende zu bereiten, sich als die echten Patrioten zu bewähren. Gegen welche und wie beschaffene Widerstände diese Bemühungen rangen, deren Erfolg den ungeheuren Jammer (den das erzwungene Ende mit sich brachte) verhütet, ihn jedenfalls stark vermindert hätte, das kann man am besten aus den Aufzeichnungen jener Politiker erkennen, die an solchen Bestrebungen, einen leidlichen Frieden anzubahnen teilgenommen haben; ich nenne ehrenhalber als einen solchen Conrad Haussmann, den Freund und Gesinnungsgenossen Max Webers (vgl. „Schlaglichter, Reichstagsbriefe und Aufzeichnungen von C. H. 1924): er erwähnt einen „Schmutzartikel“ gegen Kühlmann, der zu den besonnenen Politikern gehörte und als Staatssekretär des auswärtigen Amtes auf Andringen der Obersten Heeresleitung seinen Abschied nehmen musste – warum? weil er eine grosse Entrüstung jener Kreise dadurch erregt hatte, dass er im Juni 1918 (!) aussprach, es werde schwerlich möglich sein, den Krieg militärisch zu unseren ausschliesslichen Gunsten zu entscheiden. Das galt als Kränkung des nationalen Bewusstseins: nur jene, denen es gelang, den Krieg bis zum Verderben weiterzuführen, behaupteten dies Bewusstsein zu haben, und an eine so ungeheuerliche Anmassung knüpfte zuerst die „Vaterlandspartei“, dann, nach dem Zusammenbruch, die „Deutschnationale Volkspartei“ an; am 4. Dezember 1918 forderte der weitere Vorstand des Hauptvereins der Deutsch-Konservativen Partei alle konservativen Organisationen und Parteimitglieder auf, der neuen Partei beizutreten; es gingen in ihr auch die übrigen rechtsstehenden Bildungen auf, die Christlich-Sozialen, Antisemiten und sonstigen Mittelparteien. Diese Gruppen also nahmen in Anspruch, die einzigen wirklichen nationalen Bürger der neu [6]en Republik zu sein, innerhalb deren sie allerdings bei den Wahlen zur Nationalversammlung

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1924: Darin auch der folgende „Schmutzartikel“ gegen Kühlmann.

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nach dem neuen Proportional-Wahlrecht am 19. Januar 1919 3,121 Millionen und damit etwas mehr als 10 v. H. der gültigen Stimmen auf ihre Kandidaten versammelten, denen also, sogar wenn man etwa die 2,317 Millionen Stimmen, die für die Unabhängige sozialdemokratische Partei abgegeben wurden als „nichtnationale“ abziehen will, immer noch etwa 25 Millionen also ca. 84 % der gültigen Stimmen gegenüberstanden. Demnach hatte die ungeheure Mehrzahl der Männer und Frauen, die im Kriege gekämpft oder sonst gelitten, die ihre Söhne, ihre Männer, Brüder, Freunde als Gefallene oder schwerbeschädigte Krieger beklagten nun kein nationales Gefühl? kein nationales Bewusstsein mehr? Herr Hitler, als Haupt einer populären Partei, in die sich die reaktionären Elemente mehrerer Parteien aufgelösten haben, wird dreist genug sein, das zu behaupten; aber, wenn man den ganzen Abgrund der Gesinnung, woraus diese Behauptung ihre Nahrung zieht, erkannt haben wird, so wird die „nationale“ Opposition in einem neuen Lichte erscheinen, in einem Lichte, das ihr Antlitz entstellt und manchen bisherigen Anhänger so durchbeben mag, dass er vor Scham nicht wagen wird, die Augen aufzuschlagen. – Um diesen nationalistischen Dünkel ganz zu erkennen, muss man überdies sich gegenwärtig halten, dass seine Kerntruppen, die in Ostpreussen, Pommern, Mecklenburg und überhaupt in Ostelbien ihre Sitze haben, die historischen Gegner der deutschen nationalen Einheitsbewegung gewesen sind, die ihnen als „demokratische“ ein Greuel war. Obgleich sie in Wahrheit nur liberal war und im Neuen Reich dann als nationalliberale (Grossbürger-) Partei sich konstituierte. So lange als es möglich war, haben jene den Liberalismus verfolgt und unterdrückt. Die nächste fette Überschrift heisst: „Die nationalsozialistische Bewegung wurde von der Verantwortung bewusst ausgeschaltet“, eine Klage und eine Anschuldigung. Um sie richtig zu würdigen muss man der Reden sich erinnern, die eben der selbe Hitler vor dem Reichsgericht führte; er hätte wohl gar verlangt – oder einen seiner Trabanten verlangen lassen – vor seinem Eintritt ins Kabinett, einige Minister-Kollegen-Köpfe zu seinen erlauchten Füssen rollen zu lassen! – [7] Ernster ist es zu nehmen, was unter dem nächsten fetten Titel steht: „Trotz zehnjährigen Bankrotts des Systems Fortsetzung der Erfüllungspolitik“. Dieser Abschnitt ist wie der ganze Brief von Behauptungen erfüllt, die den hinlänglich bekannten gegenrevolutionären Standpunkt des Schreibers von neuem charakterisieren, ohne ihn irgendwie besser zu begründen. „Die Parteien, die den November 18 verschuldeten, regieren heute noch“. Unwissend ist dieser Mann auf empörende Art. Unwissend ist er sogar (oder er stellt sich unwissend)

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über den Hergang der Staatsveränderung die er ungeschehen machen zu können wähnt. Es war allerdings Spuren einer Meuterei im Heere, eine wirkliche gab es in der Flotte, nachdem das Vertrauen in die Führung gewichen und der Zusammenbruch offenbar geworden war; davor floh der Oberbefehlshaber, der sonst auch deutscher Kaiser hiess, über die Grenze; er zog diesen Weg vor, nachdem er abzudanken sich geweigert hatte. Die bewusstesten rücksichtslosesten Führer des antimonarchischen Sturmes waren die Spartakisten: K. Liebknecht, R. Luxemburg und einige andere, denen Häupter der USP sich angeschlossen hatten. Meint Hitler, diese Parteien, die inzwischen unter dem Namen KPD sich vermehrt haben, die also im Reiche nie an einer Regierung teilhatten, als die, die heute noch regieren? Oder meint er die viel grössere, viel bedeutendere Partei, die noch immer die zahlreichste im Deutschen Reichstage ist? Mehr als Anteil an der Regierung hat auch sie nie gehabt und in der heutigen Regierung ist sie nicht vertreten. Dass diese Partei das Deutsche Reich als Einheit gerettet hat, davon weiss der unwissende Ausländer offenbar nichts. Und doch ist es eine einfache historische Tatsache. Prinz Max, der letzte Reichskanzler des Kaisers, wusste wohl, was er tat, als er die Abdankung des [8] Monarchen verkündete und Herrn Friedrich Ebert die Geschäfte übergab unter Zustimmung sämtlicher Staatssekretäre. Aber ohne Zweifel, Hitler hätte es besser gemacht?! Er hat die Dreistigkeit zu behaupten, dass seine Partei heute die Mehrheit der deutschen Nation repräsentiere (auch dies ist fettgedruckt) von fast 35 Millionen gültigen Stimmen hatte diese Partei noch nicht 6 ½ am 14. September 1930 auf sich vereinigt, das sind 18,3 %, weniger als 1 / 5 der Gesamtheit. Hitler hat offenbar das Talent zum Hasard-Spieler, zum Spekulanten grossen Stiles, insbesondere eines solchen, der es versteht, wie es solche immer verstanden haben eine Menge gewinnsüchtiger Leute zu betören, indem sie das vollkommene Gelingen ihrer Spekulation, die Riesengewinne, die daraus sich ergeben, den Toren vorzugaukeln wissen

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es war allerdings Spuren einer Meuterei im Heere: korrigiert von: es war allerdings eine nicht bedeutende Meuterei im Heere. floh der Oberbefehlshaber: Am 10. 11. 1918 flüchtete Wilhelm II. in die neutralen Niederlande; bereits zwei Tage zuvor hatte der Reichskanzler Max von Baden eigenmächtig die Abdankung des Kaisers verkündet, der dann selbst am 28. 11. 1918 abdankte. USP: D. i. die USPD, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die sich 1917 von der SPD abspaltete, 1920 sich teils mit der SPD teils mit der 1918 gegründeten KPD vereinigte. bedeutendere Partei: D. i. die SPD, die im fünften Reichstag 24,5% Stimmenanteil erhalten hatte.

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und diese dadurch bewegen, vertrauensvoll, und gegen gute Wechsel, ihre Ersparnisse einem solchen Spekulationsgenie anzuvertrauen. Wenn die Sache dann mit einem Krach endigt, so haben sie dies natürlich nur sich selber zuzuschreiben, vielleicht dem Umstande, dass sie dem verwegenen Unternehmer nicht genug vertraut haben; oder dieser schiebt die Schuld auf die höllischen Mächte, die im Spiele gewesen seien – die regelrechte Manier des Schwindlers. „Die Parteien, die den November 18 verschuldeten regieren heute noch“. F. Hartung, ein Historiker (ordentlicher Professor der Geschichte in Berlin) der ohne Zweifel kein Freund der Republik ist, verfasste den kurzen Artikel über die Novemberrevolution für das „Politische Handwörterbuch“ 1923. Er schreibt von den Spartakisten – so nannten sich bekanntlich damals die Anhänger des Bolschewismus –, ihre Bewegung habe sich in Putschen erschöpft und er zählt [9] diese auf, bis 1921 im ganzen 7. Der Verdienste die um die Unterdrückung dieser Bewegung die Sozialdemokratische Partei, deren „unabhängiger“ Flügel bald wieder mit der Mehrheit sich zusammenfand, unzweifelhaft sich erwarb, gedenkt dieser Historiker freilich nicht. In demselben Handwörterbuch aber anerkennt ein ungenannter (-r.), der erste Reichswehrminister der Republik, ein bekannter sozialdemokratischer Führer, habe „in erster Linie um den verhältnismässig massvollen Verlauf der Revolution sich verdient gemacht. Der unwissende Hitler – indessen, es widerstrebt mir, jenen Satz nochmals zu wiederholen. Herr Hitler nimmt für sich in Anspruch, dass er den Young-Plan bekämpft und immer die Überzeugung vertreten habe, dass ohne restlose Beseitigung der Reparationen an eine wirtschaftliche Sanierung überhaupt nicht zu denken sei. Wenn er wenigstens andeuten wollte, wie wir die restliche Beseitigung anstellen wollen – jede Andeutung würde beweisen dass er als Politiker nicht zurechnungsfähig ist. Kein Politiker von irgendwelcher Einsicht hat gewähnt und behauptet, dass der Young-Plan mehr bedeutete als eine leichte Verbesserung unseres Zustandes gegenüber den Bestimmungen jenes Dawes-Planes, dem auch die Deutschnationale Volkspartei mit einem grossen Teile ihrer Mitglieder zugestimmt hatte. Wir 10 18 18 20 28

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kurzen Artikel: Vgl. Hartung 1923: 216 f. (-r.): Dort nicht vorhanden. Reichswehrminister: D. i. Gustav Noske (Feb. 1919 bis zum Kapp-Putsch März). sich verdient gemacht: Abführungszeichen am Ende des Zitats fehlt im Original. Young-Plan: Nach dem amerikan. Wirtschaftspolitiker 1929 auf der Pariser Konferenz benannter Plan zur Regelung der dt. Reparationsleistungen. Dawes-Plan: Vertrag über die deutschen Reparationen, Vorläufer (1924) des Young-Plans (1929), benannt nach dem amerikan. Vizepräsident, der dafür den Friedensnobelpreis erhielt.

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alle wussten, dass es bei dem einen wie dem anderen um einen fürchterlichen Zwang sich handelte, gegen den kein Protest helfen konnte, sondern bei dem man einstweilen sich beruhigen musste, weil wirklich bessere Bedingungen, erträgliche zu erlangen politisch unmöglich war, durch neuen Krieg erlangen zu wollen Wahnsinn gewesen wäre. Aus diesen Gründen hat offenbar auch Herr Schacht, der vormalige Präsident der Reichsbank, und haben die meisten anderen Sachverständigen diesen Vertrag, der wenigstens in seiner äusseren Form ein freier Vertrag war, unterschrieben. Seine offenbare Undurchführbarkeit stellte auch den einzigen Trost dar, an den man sich halten konnte: [10] dies wurde im Kreise von Republikanern oft ausgesprochen, und die Erwartung daran geknüpft, dass die Häupter der Staaten, die von der Aussaugung des Deutschen Reiches den Vorteil haben wollten, dass insbesondere auch die Vereinigten Staaten von Amerika als die eigentlichen Nutzniesser eines grossen Teils der Zahlungen, die von uns aus ihren Weg über die Siegerstaaten nahmen, selber erkennen würden, dass das Verderben des Deutschen Reiches, seine finanzielle Verarmung, ihnen selber mehr schädlich als nützlich sein werde. Dass diese Erkenntnis, vermittelt durch eine ungeheure in diesem Umfange noch nicht dagewesene wirtschaftliche Krise, so bald heranreifen werde, wie wir es eben jetzt erleben, konnte man freilich nicht deutlich voraussehen. Wenn Herr Hitler vier Fragen an Sie Herr Reichskanzler richtet, denen gemäss „Versprechungen“ gemacht worden seien, in dem Sinn dass der Young-Plan die Wiederherstellung der Finanzen im Reich, in den Ländern und in den Kommunen garantiere, so dürften die Gewährsmänner dieser Versprechungen wohl dieselben sein wie diejenigen der Behauptung, dass die Parteien, die den November 18 „verschuldet“ haben heute noch „regieren“. Er frägt ferner: 1. „Wo ist die wirtschaftliche Sanierung oder Ankurbelung der Wirtschaft? 2. Wo blieb die dadurch herabgeminderte Zahl der Arbeitslosen? 3. Wo sind die Erfolge bei der „Rettung der Landwirtschaft“? 4. Und wann endlich, Herr Reichskanzler Brüning, hat der damals versprochene Steuerabbau begonnen? – Tatsache sei, dass alle die „Versprechungen und Versicherungen“ aus dem Lager der Parteiwelt „deren geistiges Erbe [11] Sie selbst, Herr Kanzler, verwalten, durch die Wirklichkeit glatt widerlegt worden sind“ Es kann nicht demagogischer und dreister gesprochen werden. Jeder, der den wirklichen Verlauf der Dinge kennt, weiss, dass solche Erwartungen und Hoffnungen an einigen unbedeutenden Stellen gehegt worden sind, nicht an vielen, vielleicht an zu wenigen. Denn die allgemeine Meinung

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ist während dieses Jahres und schon im vorigen vielmehr zur Verzweiflung geneigt gewesen als zur Hoffnung, eben diese verzweifelte Stimmung ist ja die lebendige und die einzige echte Nahrung der Hitlerbewegung. Ausserdem sind es nur grosse an dem Umsturz der Republik interessierte Geldgeber, die diese Bewegung unterstützen. Eine Umsturzpartei und nichts anderes ist diese NSDAP; eben darum verfolgt sie mit ganz besonderer Wut die harmlosen Pazifisten; denn sie wollen keinen Frieden, weder inneren Frieden noch äusseren Frieden. Ohne Zweifel gehören der Partei manche aufrichtige Vaterlandsfreunde und Enthusiasten für das Werk Bismarcks und das deutsche Kaisertum an, besonders junge Männer, junge Frauen, die leicht dahin zu bringen sind, bei den ungeheuren Schwierigkeiten denen ihr Dasein und ihre Zukunft schon vor der ungeheuren Krise ausgesetzt war, zu wähnen, dass die Wiederherstellung des ehemaligen Systems und seiner Methoden, oder die Einführung eines Regimentes wie dessen, das Mussolini führt und das freilich in Deutschland und Österreich notwendig in die Wiederherstellung der Monarchien ausmünden würde, ihre Chancen verbessere, indem es den „Marxisten“ den Garaus mache. Dieser Wahn ist allzu begreiflich aber er ist ein Wahn, und Wahnsinn ist es, in der Hoffnung auf ein solches Ergebnis den Bürgerkrieg vorzu[12]bereiten; vollends die Erwartung daran zu knüpfen, das wiederhergestellte monarchische Regiment werde dem Nachbarstaat oder den Nachbarstaaten einen solchen Schreck einjagen, dass dieser Schreck sie veranlasse den Young-Plan und alle Reparationen zu Boden fallen zu lassen; oder gar man werde die Feinde militärisch dazu zwingen! – Für jeden Denkenden versteht es sich von selbst, dass diese erhofften Ereignisse an den Zuständen, die uns bedrücken nichts würden ändern können; dass sie die Weltkrise nicht lindern, sondern verschlimmern, und die auswärtigen Verhältnisse, die eben leidlich geworden sind, unerträglich machen würden. – [13] Ebenso hinfällig und hinterlistig sind die übrigen von unserm Manne gestellten Fragen und die dahinter versteckten Behauptungen. Sie beruhen alle in der Meinung, dass der gegenwärtige Notstand nur im Deutschen Reiche und etwa auch in Österreich vorhanden, und dass er von den Weisen, die um das Münchener Palais sich gruppieren, vorausgesehen und 14

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Einführung eines Regiments: Nach seiner Ernennung durch den König zum Ministerpräsidenten (1922) brachte Mussolini die faschistische Staatsordnung in Italien zur Herrschaft, deren Führer (‚Duce‘) er bis 1943 war. Münchener Palais: Vermutlich das sog. „Braune Haus“ gemeint, das durch Umbau des Barlow-Palais in München entstanden war, welches die NSDAP 1930 als Sitz der Reichsparteileitung erworben hatte.

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vorausgesagt worden sei. Sie beruhen in einer Unwissenheit, die man versucht ist, meisterhaft zu nennen, wo die Falschheit der behaupteten Tatsachen so offen zutage liegt, wie es hier der Fall ist. England und sogar die Vereinigten Staaten, zu denen alle die Tribute abfliessen, die sich zum grössten Teile in Zinsen und Amortisationen auflösen, zu deren Zahlung die Staaten dem grossen Reiche jenseits des Ozeans verpflichtet sind – wie steht es denn um ihre ökonomische und finanzielle Lage? will etwa der „nationale“ Hitler auch ein internationaler Prediger der Bankrotterklärung werden? [14] Hitler hält auch noch den Fettdruck für notwendig, um seinen Satz zu bekräftigen, dass der Friedensvertrag von Versailles „kein“ Friedensvertrag sei, sondern im Gegenteil „in die Kategorie jener politischen Tributdiktate gehöre, die in sich den Keim späterer Kriege tragen“. Weisheit, du redst wie eine Taube. Was man wirklich mit Recht diesem Friedensvertrag vorwerfen kann, davon weiss Hitler nichts. Dass Friedensverträge Diktate sind, in die die eine Vertragspartei widerwillig sich ergeben muss, weil sie den Kampf wieder aufzunehmen sich ausser Stande weiss, ist nicht Ausnahme sondern Regel. Das Ausserordentliche und Empörende jener Verhandlung lag darin, dass man dem überwundenen Gegner nicht einmal die förmliche Gleichheit gönnte, die jedem, der einen Vertrag schliesst, sonst zusteht, sondern ein schmähliches Strafgericht daraus machte, worin weder dem Angeklagten noch einem Anwalt das Wort vergönnt war und – was schlimmer ist – Ankläger und Richter dieselben Personen waren. Dies unerhörte Verfahren kann man mit Recht als völkerrechtswidrig, und im ideellen Sinne als ungültig bezeichnen, auch wenn man meint, dass ein normales Verfahren kein wesentlich anderes Ergebnis gehabt hätte. Von der Behandlung, die den 14 Punkten des damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten zuteil wurde, und davon, dass nicht einmal die Bedingungen des Waffenstillstandes eingehalten worden sind, will ich schweigen. Das alles wäre moralisch betrachtet, Grund genug gewesen, auch einer besser unterrichteten, besser gesinnten französischen Regierung jedes spätere Abkommen zu verweigern und auch vom sog. Völkerbunde sich fernzuhalten. Politisch war dies nicht möglich. Es will viel sagen, wenn das heute sogar einige Nationalsozialisten einzusehen scheinen; vom Hitler muss man nicht erwarten, dass er irgendetwas einsieht. Die Franzosen wissen sehr gut, dass nicht nur diese, wenn sie auch am lautesten und wildesten bellen, sondern auch vernünftige und besonnene Leute im Deutschen 26 34

14 Punkten: D. i. das Friedensprogramm des amerik. Präsidenten Wilson von 1918. Die Franzosen … wildesten bellen: Ursprünglich: Die Franzosen wissen sehr gut, dass nicht diese, die freilich am lautesten und wildesten bellen.

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Reich fast ohne Ausnahme die sogenannten Reparationen in dem ungeheuren Umfange auf die Dauer [15] ebenso für unmöglich gehalten haben und ihre Sinnlosigkeit und Schädlichkeit auch dann erkannt hätten, wenn die gegenwärtige Krisis, die sich über den Erdball erstreckt, nicht eingetreten, oder minder tiefgehend gewesen wäre. Wenn aber Hitler behauptet, der Weg seit dem Jahre 1918, den die deutsche Nation unter ihren verschiedenen Regierungen nahm sei ein dauernder Weg nach abwärts gewesen, 10 Jahre innerer Entmannungs- äusserer Unterwerfungs- und wirtschaftlicher Erfüllungspolitik seien bei Ihrem Regierungsantritt, Herr Reichkanzler, bereits gerichtet gewesen und trotz 10jährigen „Bankrotts des Systems“ (den er unermüdlich in die Welt hinausschreit) werde die Erfüllungspolitik fortgesetzt, so sind das schreiende Reden, die in einer Volksversammlung unkundiger Anhänger ebenso schreienden Beifalls sicher sind – von ernsten Männern ernstgenommen können sie nicht werden. Dass nach einem Kriege wie wir ihn durchgemacht haben und in dem wir schliesslich unterlegen sind, keine heitere und glorreiche Friedenszeit folgen kann, versteht sich von selbst, auch für den, der nicht schreit und brüllt, sondern schweigend und in der Hoffnung auf allmähliche Linderung das Leid und den Kummer auf sich nimmt. Die Behauptung aber, dass der Weg dieser 12 Jahre ein beständiger Weg abwärts gewesen sei, ist so töricht, dass eine sachliche und eingehende Widerlegung ihr zu viel Ehre erweisen würde. Bekanntlich haben viele Ausländer, die das Deutsche Reich 1919, und wieder 1927 oder in einem der Folgejahre besuchten, mit Staunen und Bewunderung wahrgenommen, wie weit wir es im Wiederaufbau gebracht hatten! – Die Anlagen der deutschen Sparkassen, die der Natur der Sache nach, als die endliche Stabilisierung der Währung im Deutschen Reiche geschah (1924), wenig mehr als 0 betrugen, waren im Jahr 1928 auf fast 2 Milliarden gestiegen und betrugen im Jahre 1930, ungeachtet der schweren Krisis, die durch die Wirkung der Reichstagswahl vom 14. September gesteigert wurde, noch fast 1 1 / 3 Milliarden. Die Gesamteinlagen bei der deutschen Sparkassenorganisation betrugen noch im August 1931 12 188,9 Millionen, also erheblich über 12 Milliarden, obgleich die Einzahlungen des Monats ca. 35 % geringer waren als im August des Vorjahres. „Wirtschaft und Statistik“ 1. Oktoberheft 1931. Dass die [16] Angst der Sparer vor einer erneuten Inflation gross ist und in den Rückgang sich auswirkt, braucht Kundigen nicht gesagt zu werden. Auch lässt sich mit ziemlicher Gewissheit voraussagen, dass jene Partei, als deren Führer der Hitler sich 34

1. Oktoberheft: Vgl. o. V. 1931: 709.

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spreizt, nebst den ihm verbündeten Parteien und Parteichen, sobald sie zur Macht gelangten, eine Inflation künstlich herbeiführen würden; herbeiführen müssten, um im günstigsten Falle eine neue kurze Scheinblüte der grossen Industrie herbeizuführen, von der sie ernährt werden – soweit nicht ehemalige Souveräne und ihre Lakaien sie ernähren. Denn ebenso würde diese Macht auch dadurch verhängnisvoll werden, dass sie eine Gegenrevolution bedeuten und das Signal würde für den Versuch, die ehemaligen Monarchen wieder auf ihre Throne und Thrönchen zu setzen und dass davon ein in jeder Hinsicht furchtbarer Bürgerkrieg die notwendige Folge wäre. Mit gutem Grunde fürchtet jeder Einsichtige im Volke diese entsetzlichen Gefahren, und je mehr diese Einsicht wächst, desto mehr muss die von dem Hitler bisher so erfolgreich geführte Bewegung in sich zusammensinken; dieser ihr Untergang ist allerdings die Vorbedingung jeder wirklichen Besserung in unserer inneren Lage, welche Besserung wiederum allein uns fähig macht, die Lasten zu erleichtern, unter denen wir seufzen. Der Hr. Hitler freilich behauptet, dass Sie Herr Reichskanzler, mit Unrecht eine Gesundung unserer Finanzen für die Voraussetzung der Aufrollung des Reparationsproblemes halten. Er trifft damit einen Punkt, worin Sie so offenbar als möglich, Recht haben. Sie wissen aber auch, dass nur in dem Maasse von einer günstigen Entwicklung dieses Problemes die Rede sein kann, als die Staaten, die uns diese drückende Last aufgelegt haben in der Meinung, dass es zu ihrem eigenen Besten diene (ausser zu unserer Züchtigung) als diese Staaten selber erkennen, dass das ein Unsinn war und ist, nur ihre eigene Not kann sie davon überzeugen. Dass aber diese Überzeugung auf dem Marsche ist hat jedem Denkenden die Erfahrung der letzten vier Monate offenbar gemacht, und wird es immer mehr offenbar machen, wenn das Verbrechen des Umsturzes der Weimarer Verfassung völlig misslungen sein wird. Hitler setzt wiederum unter eine [17] Überschrift „Die wahre Aufgabe eines Reichsheeres ist Landesverteidigung, nicht Systemschutz“. Allerdings nicht ein Systemschutz, am allerwenigsten des Systemes Hitler, wohl aber Schutz der zu Recht bestehenden Verfassung, gehört zur Landesverteidigung und ist unter Umständen eine notwendige Aufgabe der Reichswehr. Das weiss der ruhmgekrönte Feldherr, der als Präsident der Republik, auch Oberbefehlshaber dieses Heeres ist, so genau und so sicher, dass er dadurch schon den Hass der Umsturzpartei sich zugezogen hat, die vergeblich bemüht ist durch den Namen Nationale Opposition sich als harmlos hinzustellen. 33

ruhmgekrönter Feldherr: D. i. Paul von Beneckendorf und von Hindenburg.

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Herr Hitler versucht ausserdem sich als eine moralische Kraft zu empfehlen. Er könne mit Stolz den ethischen Willen zur nationalen Selbstbehauptung, zur Freiheit, zur Selbstzucht, zum Opfer für das Vaterland als Grundpfeiler des Erfolges „seiner“ Bewegung bezeichnen. [18] Guten Willen und eine gute Meinung wenigstens von sich, dem Manne abzusprechen ist allerdings kein genügender Grund vorhanden. Auch gewisse Fähigkeiten, wenigstens organisatorische darf man ihm zugestehen. Man hat Herrn Hitler schon ironisch Wilhelm III. genannt. In Wahrheit sind gewisse Ähnlichkeiten nicht verkennbar. Auch Wilhelm II. besass einen guten Willen und besass gewisse Fähigkeiten. Und doch wird das historische Urteil über ihn lauten, dass sein Wille durch einen trüben Wahn geschwächt war und dass seine Fähigkeiten nicht die Fähigkeit eines klaren und weiten politischen Blickes einschlossen. Auch er wollte ein Sozialist sein – und wenn, so war er natürlich ein „Nationalsozialist“, obwohl er den wirklichen und im nationalen Sinne ernst gemeinten Sozialismus Friedrich Naumann’s der Vertrauen in seinen guten Willen setzte, so schroff wie möglich zurückgestossen hatte. Es ist darum doch höchst wahrscheinlich, dass er die Hitlerbewegung als eine wild antirepublikanische mit Wohlgefallen betrachtet und an den bisherigen Erfolgen einen fördersamen Anteil genommen hat. Man hat um so mehr ein Recht, dies zu vermuten, da ihm wie jedem der an seiner Stelle wäre, die Wiederherstellung, wenn nicht seiner Person, so doch seiner Dynastie das eine grosse Ziel für den Rest seines Lebens sein muss, und er offenbar nie wieder so gute Chancen gewinnen wird als ein etwaniger Sieg dieser nationalen Opposition ihm bieten würde. Freilich ist der Sozialismus Wilhelms II. nur ein flüchtiges Salz gewesen, mit dem er seinen Regierungsanfang würzte. Sollte der Sozialismus Hitlers mehr bedeuten? – Er macht Ihnen, Herr Reichskanzler, zum Vorwurf, dass Ihre Regierung über den einzelnen hinweg, dem es ja freistehe an der Lohnbestimmung mitzureden, sich die Freiheit nehme, auf dem Wege von Notverordnungen, die „realen Lebensgrundlagen“ durch schwerste Besteuerung so zu kürzen, dass – – – –. Herr Hitler kennt offenbar die Not nur vom Hörensagen, wird daher den Sinn Ihrer Not[19]verordnungen nie verstehen, die ja ganz und gar notwendig waren, um dem Reich, und also den Ländern und Gemeinden wieder finanziellen Atem zu geben, nachdem der Atem ihnen durch nichts mehr genommen war als durch die Befürchtungen, die im Ausland der Wahlerfolg der Hitlerschen Partei erweckt hatte. Völlig unnütz und unwissend ist auch die Bemerkung über den wirtschaftlichen Beirat und die daran geknüpfte Frage, warum dieser Beirat nicht schon längst zusammenberufen sei? Er scheint nichts davon zu wissen, dass durch

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Ein anderer Brief an Herrn Dr. Brüning

die Verfassung ein Reichswirtschaftsrat gebildet worden ist, dem „wirtschafts- und sozialpolitische Gesetzentwürfe von grundsätzlicher Bedeutung vor ihrer Einbringung von der Reichsregierung zur Begutachtung vorgelegt werden sollen“. Dass im gegenwärtigen Augenblick und mit Rücksicht auf die gegenwärtigen Nöte ein kleinerer Beirat dieser Art für erspriesslicher gehalten wird, ist leicht zu verstehen. – Uebrigens ist in dem Briefe nicht einmal von dem Schicksal, das er unsern jüdischen Mitbürgern zugedacht hat, die Rede, und diese edle Absicht ist doch der Kern seines vorgeblichen „nationalen“ Sozialismus! – Wie immer man diesen prüfen möge, immer von neuem steigt einem der Geruch einer Denkungsart entgegen, die man, wenn man sie sehr nachsichtig beurteilt, mindestens politisch unreif, eben darum aber auch politisch unzurechnungsfähig nennen muss.[20] Wenn Ihren ernsten und emsigen Bemühungen, die Schwierigkeiten zu überwinden gegenüber, der Hitler schreit: „Nein, es gibt wirklich keine Wunderlösungen! Es gibt keine Patentlösungen“ dann in viel fetterem Druck hinzufügt: „Es gibt nur eine einzige Lösung und sie heisst: ein Volk zur inneren Gesundung bringen!“, so ist ihm freilich der rauschende Beifall einer Versammlung seiner Anhänger die er Volksversammlung nennt, sicher, obgleich – derweil? – es nichtssagend ist. Wenn man von dem Manne nun erwartet, er werde endlich einmal aussprechen, wie er sich die Politik seiner Opposition denkt, so kömmt er jedesmal sofort mit seiner Überzeugung und seinen Überzeugungen, und diese beruhen auf Gefühlen. Gegen diese erlaube ich mir meine Überzeugung, die auf Gedanken und Folgerungen beruht, auszusprechen, dass die erste Voraussetzung für die innere Gesundung des Deutschen Volkes die wäre, von den plumpen Selbsttäuschungen, sei es der Deutschnationalen oder der [21] Nationalsozialisten oder Kommunisten, sich zu befreien und den für einen Politiker unerlässlichen Sinn für die unausweichlichen Tatsachen wiederherzustellen, der erst in diesen letzten zwei Jahren so schwere Schädigung erfahren hat, wie sie in dem Schriftstück, das der Hitler Ihnen Herr Reichskanzler vorzulegen wagt, ihre Früchte zeigt. Das sonderbarste an diesem Schriftstück ist, dass von dem „Programm“ dieser NSDAP in dem Briefe keine Spur geblieben ist. Dieses Programm hat in 25 kürzeren oder längeren Sätzen sehr viel gefordert. Erste Forderung (in mehreren Sätzen): 1 34

Reichswirtschaftsrat: Vgl. Art. 165 der Weimarer Verfassung (Mosler 1964: 18 ff.). Programm: Vom 25. 2. 1920; in: Kühnl 1987: 106−109.

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reine Rasse, deutsches Blut – die Absurdität dieser Forderung für den heutigen Staat muss auch einem Blinden einleuchten. Unter 11 wird gefordert: Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens (auch der im Ruhestande Lebenden, der pensionierten Beamten, der Sozialrentner usw.?) Zum Satze 17 aber: „Wir fordern eine unseren nationalen Bedürfnissen angepasste Bodenreform, Schaffung eines Gesetzes zur unentgeltlichen Enteignung von Boden für gemeinnützige Zwecke. Abschaffung des Bodenzinses und Verhinderung jeder Bodenspekulation“, erhalten wir am Schlusse einen sinnigen Kommentar, nämlich eine „München den 13. April 1928 von demselben Adolf Hitler gezeichnete Anmerkung“: gegenüber den verlogenen Auslegungen des Punktes 17 von Seiten seiner Gegner sei folgende Feststellung notwendig: Da die NSDAP „auf dem Boden des Privateigentums“ steht, ergibt sich von selbst, dass der Passus „unentgeltliche Enteignung“ nur auf die Schaffung gesetzlicher Möglichkeit bezug hat, Boden, der auf unrechtmässige Weise erworben wurde oder nicht nach den Gesichtspunkten des Volkswohles verwaltet wird, wenn nötig zu enteignen. Dies richtet sich dem[22]gemäss in erster Linie gegen die jüdischen Grundstückspekulationsgesellschaften.“ In zweiter Linie also wohl nur gegen die nichtjüdischen Grundstückspekulationsgesellschaften?! Arme Bodenreform! nie hast du solchen Unsinn verzapft, nie diesen Dilettanten ein Recht gegeben, deinen Namen so roh zu missbrauchen. Nun aber ist – ich wiederhole es – von allen diesen Forderungen eines Programmes das sich für „unabänderlich“ erklärt, in dem Briefe, den Herr Hitler Ihnen, Herr Reichskanzler geschrieben hat, keine Rede mehr. Der ganze Brief besteht nur aus Phrasen, aus inhaltlosen, also leeren Behauptungen, aus eitler Grosssprecherei, die um die Drohung sich sammelt: das deutsche Volk, das Deutsche Reich habe nur die Wahl zwischen Nationalsozialismus oder Bolschewismus. Wie in aller politischen Phraseologie auch offenbare und triviale Wahrheiten vorkommen, so auch hier, wenn der Briefsteller wieder fett drucken lässt: „Deutschland wird erst von dem Augenblick an als gleichgeachtetes Mitglied der civilisierten Staatsgemeinschaft angesehen werden, in dem es als gesamtpolitische Erscheinung wieder den Anspruch auf Machtgeltung und aus dem eigensten inneren Wert heraus erheben kann. Auch von der übrigen Welt wird nicht nur das aussenpolitische Wollen, sondern mindestens ebenso sehr die innenpolitische Kraft gewogen.“ Versteht sich. 10

Anmerkung: Parteiprogramm der NSDAP, ebd. 107 f.; ebd. auch folgendes Zitat.

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Noch breiter steht aber kurz vorher: „Man kann aber nicht nach aussen hin eine nationale Politik betreiben, wenn man als einzige Kraftreserve hinter sich Marxisten, Pazifisten und Demokraten besitzt.“ Das also wird Ihnen zur Last gelegt! – Und darauf folgt etwas bescheidener: „Die Auffassung, dass für eine solche Aufgabe dann auf den anderen Teil der Nation zurückgegriffen werden könnte, muss zurückgewiesen werden.“ Man verstehe wohl, was dies bedeutet. Wenn Ihre Regierung, Herr Dr. Brüning, in die tief traurige Lage käme, unter den heutigen Umständen in einen Krieg zu gehen – und Ihre [23] Regierung ist ohne Zweifel „pazifistisch“ genug, diese Notwendigkeit nur im Falle einer feindlichen Invasion oder eines offenbaren herausfordernden Angriffes anzuerkennen – so würde die „nationale Opposition“ Ihnen und Ihrer Regierung die Heeresfolge und den Kredit verweigern. Sie würde – gemäss dem Geiste des Hitler die Feinde willkommen heissen müssen als Helfershelfer zum Sturze Ihrer Regierung, wie ihr die Kommunisten als solche Helfershelfer willkommen sind. Wenn der Hitler im gleichen Zusammenhang darauf bezug nimmt, Bismarck habe sich und seinem Wollen nicht nur die allgemeine geistige Unterstützung der Nation gesichert, sondern auch alle rein machtmässigen Voraussetzungen geschaffen, die zur Durchfechtung seiner Absichten erforderlich schienen, so kann man darin vielleicht am deutlichsten die Gewissenlosigkeit dieses Parteihäuptlings erkennen. Denn er weiss natürlich selber vollkommen, dass von der Schaffung rein machtmässiger Voraussetzungen – zu Bismarcks Zeit allerdings – zu unserer Zeit ganz und gar nicht die Rede sein kann, dass nur ein Gernegross über diese Tatsachen sich täuschen oder getäuscht werden kann. Herr Hitler hat sich herbeigelassen mit einer gewissen Leutseligkeit, Sie Herr Reichskanzler, seines Wohlwollens und seiner Achtung zu versichern. Aber sein ganzer Brief hat keinen anderen Sinn als den Versuch, Sie und Ihre Politik als minderwertig, ja Sie als einen Vertreter „international-demokratisch-pazifistischer Einstellung“ zu brandmarken. In wechselnden Ausdrücken wiederholt er immer aufs Neue diese dreiste Bezichtigung. „Sie Herr Reichskanzler Brüning, sind überzeugt, dass eine Regierung, gestützt und getragen von Zentrum, Sozialdemokratie, den Parteien des Pazifismus usw. in der Lage sein kann, eine aktive nationale Aussenpolitik zu betreiben“. [24] Was er unter aktiver nationaler Aussenpolitik verstehe, darüber schweigt dieser Dilettant wie über alle wirklich bedeutenden Fragen. Keine Andeutung erfolgt darüber, wie er und seine Leute, wie Herr Göbbels und Herr Frick es anfangen wollten, für die hinter ihnen stehenden nicht

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pazifistischen sondern kriegerisch gesinnten, nichtmarxistischen sondern kapitalistisch gesinnten, nicht republikanisch, sondern monarchistisch gesinnten Anhänger die Achtung des Auslandes zu erwerben und eine „aktive auswärtige Politik“ in die Wege zu leiten. Bekanntlich schwebt ihm das Vorbild Italiens vor, dessen verantwortlicher Staatsmann „überragend“ genannt wird. Ob es möglich sei, dass dem deutschen Volke im Jahre 1932 einen Cäsarismus zu ertragen zugemutet werde, der im Jahre 1920, als auch das zu den Siegerstaaten gehörige Italien unter den Folgen des Krieges seufzte möglich war, ob heute das auch nur in Italien möglich wäre, diese Frage hat natürlich Herr Hitler nicht untersucht, wäre auch nicht in der Lage dazu. Und wenn der Cäsarismus Mussolinis bald 12 Jahre lang sich gehalten hat, so würde ein Cäsarismus Hitler ganz gewiss keine 12 Wochen dauern. Ich weiss, Herr Reichskanzler, dass es diesem Mann und seinem Gefolge nicht gelingen wird, Sie in der Zuversicht Ihres guten Willens, in Ihrer Verfassungstreue und in dem ernstlichen Bestreben, den inneren Frieden zu erhalten irre zu machen. Wenn ich gleichwohl gemeint habe und darum meine Stimme erhebe, dass es ein wenig zur Befestigung Ihrer Stellung beitragen könne, die Nichtigkeit und Unwahrhaftigkeit dieses geschwollenen Hitlerbriefes nachzuweisen, [25] so glaube ich allerdings unter den urteilsfähigen Zeitgenossen und Mitbürgern hinlängliches Verständnis dafür zu finden, wie ich es auch bei Ihnen Herr Reichskanzler zu finden hoffen darf. In Hochachtung und Ehrerbietung Ihr ergebener Ferdinand Tönnies, o. ö. Prof. an d. Univ. Kiel.[26]

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d. Univ. Kiel.: Grußformel und Unterschrift sowie folgende Überschrift eigenh.

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Es versteht sich von selbst, dass alles, was hier ausgesprochen wurde einer liebevollen Aufnahme bei den Häuptern und Gliedern der „Nationalen Opposition“ nicht eben gewärtig sein kann. Im Gegenteil. Keine Versicherung meiner eigenen Gesinnung, und dessen, was ich mit bescheidenen Kräften und geringen Mitteln während des Krieges und nachher, fürs Vaterland getan zu haben meine – es genügt mir selber nicht, wenn es auch amtlich durch ein Kreuz ausgezeichnet wurde – kann da im Geringsten helfen, oder mich gegen Insulten und Schmähungen schützen. Es können aber auch Einwendungen gemacht werden, die einen Sinn haben, und von Gerechtigkeit liebenden, besonnenen Männern oder Frauen herrühren – besonders die Frauen haben zuweilen, sogar in politischen Angelegenheiten mit denen sie in der Regel ungern sich befassen und wofür ihre positiven Kenntnisse selten ausreichend sind, dessen ungeachtet hin und wieder eine moralische Intuition, vermöge deren sie uns Männern manche einfache Wahrheiten und etwa unsere eigenen Grundsätze ins Gedächtnis zurückrufen, in der redlichen Absicht, uns vor leidenschaftlichen Stimmungen und vor Unbesonnenheiten zu warnen. 1. So kann auch eine wohlwollende Seele sagen: „Ja, die Ansichten sind nun einmal verschieden – so ist es auch immer gewesen. Du – wird man mir zurufen – bist nun einmal für die Republik eingenommen, andere Leute, die ebenso viel oder mehr von den Dingen verstehen sind ueberzeugt, dass die Republik von Uebel, dass ein monarchisches Regiment in jeder Beziehung oder wenigstens in sehr wichtigen Stücken heilsamer ist und gerade für unsere gegenwärtige Notlage besser taugen würde, um uns aus dem Sumpfe zu ziehen und die Ertrinkenden zu retten.“ Ich bemerke dazu: Auch wenn ich selber (diese Ansicht teilte und) prinzipiell die monarchische Staatsform für besser hielte, namentlich wenn ich

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durch ein Kreuz ausgezeichnet wurde: Tönnies ist Inhaber des Verdienstkreuzes für Kriegshilfe und wurde außerdem für seine Verdienste um den finnischen Freiheitskampf mit dem finnischen Freiheitskreuz II. Klasse ausgezeichnet (die Auszeichnungen und Urkunden befinden sich in TN, Cb 54.17).

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meinte, dass ein [27] erbliches Oberhaupt für den modernen Staat notwendig oder wenigstens in hohem Grade zweckmässig sei, – vor fünfzig Jahren war in Deutschland dies Vorurteil noch fast allgemein – auch dann würde ich eine schwere Schuld auf mich zu laden glauben, wenn ich auch nur durch einen schlichten Stimmzettel und durch ein liegendes Kreuz für einen antirepublikanischen Volksentscheid, das Treiben derer unterstützen wollte, die auf eine Restauration der Monarchen hinarbeiten, weil ich wie vom Dasein des Tageslichtes davon ueberzeugt bin, dass diese unsere Zustände in jeder Hinsicht verschlimmern, dass sie das Chaos bedeuten würden. Die um Hugenberg um Seldte und um Hitler sind nur einig in diesem ihnen selber mehr oder weniger klar bewussten Streben. Einstweilen verhehlen sie es noch, und viele, die ihnen anhangen behaupten, das sei eine ganz ungerechtfertigte Vermutung, das wolle ja niemand, Wilhelm der Zweite habe keine nennenswerte Anhänger mehr, auch seine Freunde und Verehrer würden dazu die Hand nicht bieten, weil ihnen allzu gut bekannt sei, dass es nicht gelingen kann, nachdem die republikanische Verfassung in den Herzen des Volkes schon tiefe Wurzeln geschlagen und der ehemalige Kaiser sich mit seiner Regierung besonders der des Fürsten Bülow, um allen Kredit gebracht habe –. Heilige Einfalt! Die echten und rechten Nationalisten und Hakenkreuzler wissen es besser, aber sie sind klug genug, so sehr als möglich davon zu schweigen bis die Stunde geschlagen haben wird, die sie die Stunde der Befreiung nennen: sie meinen nämlich der Befreiung von der Weimarischen Verfassung, die täglich von ihnen beschimpft wird. Und doch liegen die Beweisgründe offen genug zutage, dass diese Absicht, die nach unserem wie nach jedem Strafgesetzbuch das beabsichtigte Verbrechen des Hochverrats bedeutet, vorhanden ist. Nicht nur der Häuptling Hitler verrät das [28] Geheimnis, weil sein renomistisches Pathos nicht dicht halten kann – er soll wegen seiner Rede vor dem Reichsgericht eine scharfe Rüge von jenseits der Grenze erhalten haben – es gibt sogar anonyme, die noch deutlicher als er werden. Da meldete sich schon bald nach Ausbruch des Weltkrieges ein Geheimschriftsteller, der [..] Junius 10

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Die um Hugenberg: Alfred von Hugenberg war seit 1928 Vorsitzender der DNVP und setzte sich für die Berufung Hitlers zum Reichskanzler ein; 1933 übernahm er das Wirtschafts- und Ernährungsministerium in dessen Regierung. Franz Seldte gründete 1918 den „Stahlhelm“, einen nationalistischen und monarchistischen Wehrverband; er wurde 1933 Reichsarbeitsminister und später SA-Obergruppenführer. [..]: Ergänze: sich. Geheimschriftsteller: D. i. Franz Sontag.

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Alter nannte und die unterirdische Bewegung gegen die damalige kaiserliche Regierung leitete, nachdem und obgleich der Reichskanzler Herr v. Bethmann-Hollweg der Obersten Heeresleitung in den wichtigsten Fragen nachgegeben hatte, wenn auch für die Nationalisten die sogar damals schon sich (es waren meistens tüchtige „Heimkrieger“) für die einzig wahren Patrioten ausgaben, das bei weitem nicht genug war. Dass im Kriege die politischen Zwecke und Absichten, dass vor allem die politische Vorsicht – regieren ist voraussehen – entscheidend sein müsse, ist eine alte und sich von selbst verstehende Wahrheit, jene Wühler aber dachten anders. Sie wollten von Anfang an keinen blossen Verteidigungs- sondern einen möglichst ertragreichen Eroberungskrieg. – Junius Alter lebt noch. Er hat unter dem Titel „Nationalisten“ ein interessantes kleines Buch verfasst, (1930). Er will „Deutschlands nationales Führertum der Nachkriegszeit“ darstellen, an der Spitze der Helden, die er schildert, steht H. Class, dann folgen Wolfgang Kapp, A. v. Graefe, Reinhard Wulle, Graf E. zu Reventlow, Erhardt, Maraun, Seldte, Hitler, Hugenberg, von der Goltz, Ludendorff, endlich die „Stahlhelmprinzen“. Dies letzte Kapitel ist das interessanteste. Drei Prinzen, die sich „in den Dienst des nationalen Gedankens gestellt haben“, werden als die Stahlhelmprinzen herausgestrichen, und die Frage aufgeworfen, warum keiner von ihnen, kraft ihrer Stellung – d. h. als Soehne des ehemaligen Kaisers – versucht habe, der unseligen Zersplitterung der nationalen Bewegung zu steuern und sie unter seiner persönlichen Führung zu einigen. Es sei in Wahrheit ein Glück für die Republik, dass der Prinz Oskar den Junius für den [29] fähigsten hält – strenger „Legitimist“ – soll heißen: gesetzwidriger Handlungsweise abgeneigt sei, frei von persönlichem Ehrgeiz oder abenteuerndem Tatendrang – „sonst stünde die Stabilität der Novemberrepublik vermutlich auf sehr schwachen Füssen (S. 199.).“ Dann folgt ein neuer Absatz. „Der Gedanke an eine wiederkehrende Monarchie hat in den letzten 4 oder 5 Jahren (also 1925 bis 1929 / 30) stark an Bedeutung verloren“. Dieser Rückgang des monarchischen „Gefühls“ führe sich fraglos auf die Hindenburgsche Präsidentschaft zurück, deren offizieller Friedensschluss mit der Republik in weiten monarchisch gesinnten Kreisen umso verwirrender sich auswirken musste“ als man dort 6

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das bei weitem nicht genug war: Im Original fälschlicherweise ‚das war bei weitem nicht genug‘. Kleines Buch: Vgl. Alter 1930. folgt ein neuer Absatz: Hier und in den folgenden Passagen teils wörtliche, teils veränderte, teils nicht von Tönnies gekennzeichnete Übernahmen aus dem genannten Werk S. 199−202 aus dem Kap. „Die Stahlhelmprinzen“.

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gewohnt war, in ihm noch immer einen der Paladine des Kaisers zu sehen.“ Das Schicksal – offenbar ist es in diesem Falle nicht der sonst von diesen Denkungsarten verantwortlich gemachte himmlische Vater – habe ihm zweimal die Aufgabe vorbehalten, den monarchischen Gedanken tötlicher als jeder andere zu treffen. In den Novembertagen habe er seinen Kaiser und König stillschweigend „preisgegeben“ (lies: verraten); und 1925 habe er sich bestimmen lassen, die Kandidatur für die Nachfolge Eberts anzunehmen (die Kandidatur kam durchaus von der Rechten her!). Zum anderen aber trage an dieser Entwicklung auch der Nachdruck schuld, mit dem sämtliche nationale Parteien und Bünde die Frage der Staatsform immer wieder für nebensächlich oder als „im Augenblicke nicht akut“ erklärt und sie in weitem Bogen umgangen haben. Für die Nationalsozialisten sei freilich „schon unter dem Gesichtspunkt staatlicher und völkischer Zweckmässigkeit“ die Frage ob Monarchie oder Republik „sicherlich längst entschieden“: d. h. dieser Kenner weiss dass sie die Monarchie wollen! Aber auch die „behelfen sich“ und tragen naturgemäss dazu bei, den monarchischen Gedanken namentlich in der heranwachsenden Jugend „immer weiter versacken zu lassen“ – „In Wirklichkeit gibt es in unserer gesamten Politik keine Frage, die primärer als die Frage der Staatsform wäre, da jede grundlegende Reichsreform, wie sie von nationaler und völkischer Seite erstrebt wird, [30] in ihrer letzten Konsequenz immer wieder in die Frage nach unserer staatlichen Spitze samt ihren geschriebenen und ungeschriebenen Rechten ausmünden muss.“ Das als so heikel empfundene Problem werde „auf irgend einen Anstoss hin“ eines Tages ganz von selber sich auf die Tagesordnung setzen und dabei sehr gewichtig seinen absolut primären Charakter demonstrieren. Junius Alter ist ein politisch denkender Mann, er darf nicht mit Adolf Hitler verwechselt werden, dessen Nichtigkeit auch die Darstellung seines Buches deutlich genug durchschimmern lässt. Junius Alter erkennt auch, dass einstweilen die politische Taktik für den auf Vernichtung des „Systems“ gerichteten Willen massgebend ist. Es gebe nun einmal in den Parteien der Rechten ein starkes Kontingent mehr oder minder ueberzeugter Republikaner, und man hoffe, durch eine möglichst ausweichende Behandlung dieser Frage, auf ferneren Zuzug aus den Linksreihen.“ So ergibt sich aus Vernünftelei, Spekulation und Schwäche ein vorsichtiges Lavieren, das mehr und mehr dazu führt, einen Zustand zu verewigen, dessen praktische Unhaltbarkeit von jedem Einsichtigen längst erkannt worden ist …“ Inhalts- und wesen22

„… Rechten ausmünden muss“: Vgl. ebd.; im Folgenden Weiteres ebd.: S. 201−203, teils wörtlich, teils abgeändert.

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los scheine der Begriff einer nationalen Weltanschauung geworden zu sein, seitdem die Rechte im liberalistischen Gestrüpp der blossen politischen Zweckmässigkeiten sich verstrickt hat – der feste und sichere weltanschauliche Boden sei der Rechten offenbar verloren gegangen; eine erschütternde Tatsache sei es, dass man sogar in den nationalen Parteien und Bünden in dem „sakralen Begriff“ der deutschen Krone nicht mehr die Manifestation einer immanenten geschichtlichen Idee sondern nur eine nackte nüchterne Zweckmässigkeitsfrage sehe – allzu klar zeige es wie jene Parteien und Bünde schon durch das liberalistische und materialistische Denken verseucht seien, es werde zwar die „Kaiseridee“ von ihnen keineswegs abgelehnt, aber sie verzichten darauf, bis auf weiteres, rückhaltlos sich für sie einzusetzen. Der Gefahr eines hoffnungslosen Versinkens unseres [31] Volkes in ödesten Materialismus sei sich die Rechte durchaus bewusst. – Zweimal führt dann der gelehrte Verfasser aus sei die deutsche Kaiseridee fehlgeschlagen: die frühere Karls des Grossen, die spätere des Fürsten Bismarck, je aus verschiedenen Ursachen. Ihre eigentliche echte Gestaltung als Krönung eines Heiligen Deutschen Reiches der ganzen deutschen Nation sei die Geschichte uns bis heute schuldig geblieben. – Ob dies nun die authentische Vorstellung vom Dritten Reich ist, wage ich nicht zu beurteilen. Es interessiert mich auch wenig. Der behäbige, reine und echte Idealismus der pommerschen, ostpreussischen, märkischen oder schleswig-holsteinischen Grossgrundbesitzer, vollends der Grossindustriellen von Düsseldorf, Duisburg, Bochum und Gelsenkirchen – gegenüber dem rohen und seichten Materialismus des Proletariats und seiner gelehrten Gönner, ist eine offenbare, leuchtende Tatsache – wer lacht da? Jene gehen Sonntags in die Kirche, diese gehen nicht in die Kirche, dadurch ist der unermessliche Abstand der Denkungsart hinlänglich bezeichnet. Ueberdies haben jene die Kaiseridee, diese haben „die öde eines ungeliebten, aus fremder Begriffswelt künstlich konstruierten, nüchternen und unpersönlich gewordenen Staates“, so sagt im Vorworte seines Buches unser Gewährsmann. Was er nicht ausdrücklich sagt, ist dies: wir und die Stahlhelmprinzen, die Generale und andere von der nüchternen Republik angeekelten und pensionierten Offiziere nebst der immer an dem Besitz von Boden und Kapital sich anklammernenden protestantischen Geistlichkeit, streben deswegen, in aller Gottseeligkeit, nach dem Umsturz der bestehenden Verfassung, nach Abschaffung der Republik, nach Entrechtung des Judentums, wovon Junius behutsam schweigt, und vor allem nach Wiederherstellung der Monarchie, 29 30

„… gewordenen Staates“: Vgl. ebd.: 7. unser Gewährsmann: im Orig.: unserer.

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zum mindesten der kaiserlichen Würde, die Wilhelm II. mit so glänzenden Redensarten vertreten hat (der Verfasser spricht S. 192 [32] von Wilhelms „ueberschwenglicher und gerade darum nicht ungefährlicher Begabung“) … . Dies ist unser natürliches und „ideales“ Ziel, aber wir wollen und müssen mit der bestehenden Verfassung arbeiten. Ja, wir wollen und müssen uns ihrer, durch schonungs- und rücksichtslose Agitation und Demagogie, als eines höchst brauchbaren Mittels bedienen, um sie aus den Angeln zu heben. Wir handeln also rechtmässig, legal so lange und so weit als wir können, den dahinter verborgenen Willen der idealen Illegalität werden wir verstecken, so lange und so gut als es geht. Wir machen den Gebrauch der uns passt, von unseren guten demokratischen Rechten, wie immer wir ueber den Wert dieser Einrichtungen, und ueber unsere Absicht, inskünftig mit ihnen umzuspringen, denken mögen. Einstweilen brauchen wir für alle unsere Zwecke die Stimmen einer grossen Menge von männlichen und weiblichen Individuen und es wäre töricht, diese unsere eigentlichen Ziele zu verraten. – Sie wollen getäuscht sein – also mögen sie getäuscht werden. Da ist nun einmal das starke Kontingent mehr oder minder ueberzeugter Republikaner – und wir müssen nicht nur dies starke Kontingent halten, wir müssen und wollen es noch vermehren, wir brauchen ferneren Zuzug aus den Linksreihen – darum ist – so traurig und jämmerlich es sein mag – eine möglichst ausweichende Behandlung dieser primären Frage, ist ein vorsichtiges Lavieren leider notwendig – denn bei anderem, mehr wahrhaftigen Verhalten wäre unsere gute und aussichtreiche Sache verloren. Sehr richtig! Sehr einleuchtend! Sehr erleuchtend! Eben darum ist es für die Republik und die Republikaner schlechthin geboten, dem Publikum, und ganz besonders den mehr oder minder ueberzeugten Republikanern, die ohne Zweifel massenhaft und harmlos „Heil Hitler“ schreiend und auf das Hakenkreuz schwören, jenen Tatbestand zu enthüllen und unermüdlich ins Gedächtnis zu rufen. Wenn sie selber rufen „Deutschland er[33]wache“, so haben die Republikaner alle Ursache, ihnen dies zurück zu rufen, denn sie schlafen und träumen, sie wissen nicht, was sie tun und welche Wirrsal, welches blutige Verderben sie herbeizurufen halb unbewusst beflissen sind. Jene Taktik hat ihren tieferen Sinn darin, dass sie nicht nur Euch, Ihr Jünglinge und Mädchen, sondern uns alle einlullen will in den Zustand der Beruhigung, als ob der Republik keine Gefahr drohte, als ob sie – indem sie die Formen und Rechte der Verfassung missbrauchen, um die Republik zu verderben – dennoch gute Republikaner wären und berufen, die Regierung eines Staates anzutreten, dessen Dasein und Zukunft sie verneinen! – Man darf allerdings sagen, dass wenigstens ¾ dieser be-

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geisterten Hitlerianer blindlings ins Verderben rennen und nicht wissen, was sie tun. Ins Verderben? Aber vielleicht sind die meisten nur „minder ueberzeugte“ Republikaner, die sich leicht bekehren lassen, die den neuen Monarchen mit ihrem Idealismus zujubeln werden, auch wenn sie ihnen die materielle Margarine vom materiellen Brot abkratzen werden – müssen, vielleicht wird die Begeisterung für das Dritte Reich auch den geduldigen Sinn, den sie oder ihre Väter im wilhelminischen Reich bewährt haben, die Ergebung in das Dreiklassenwahlrecht, das während der ganzen Kriegsepisode noch gegolten hat, wiederherstellen?! – Das mag alles sein, aber was ohne Zweifel wenigstens die Frauen und die Familienväter unter diesen lauen und flauen Republikanern nicht wollen, das ist die chronische Unruhe und der Greuel eines Bürgerkrieges im Gefolge der Gegenrevolution, das ist die gesteigerte Feindseligkeit der Franzosen, die in einen neuen Ruhreinbruch sich entladen würde, dem höchstens wieder ein passiver Widerstand gegenueberstehen könnte. . oder hofft ihr wirklich auf einen neuen Weltkrieg? – auf die völlige Zertrümmerung Europas? 2. Aber, so werden nun die harmlosen, gläubigen Anhänger des Hitler sagen: unser Meister sagt doch klar und deutlich, sie wollen nur das System vernichten und dies System habe [34] seit zehn Jahren Bankerott gemacht, es habe uns immer tiefer abwärts geführt und habe es, das ist deutlich genug die Meinung – darauf abgesehen gehabt, denn – so steht ja in dem HitlerBrief – „10 Jahre innerer Entmannungs-, äusserer Unterwerfungs- und wirtschaftlicher Erfüllungspolitik waren bei Ihrem Regierungsantritt Herr Reichskanzler Brüning bereits gerichtet“. Ich muss nochmals auf die ungeheure Anmassung hinweisen, mit der ein Ausländer der sich geriert, als wüsste er Dinge besser als jeder Inländer, von denen er schlechthin nichts versteht, hier ueber Bemühungen redlicher und kundiger Männer, die dem deutschen Volke aus einer unendlich schwierigen Lage zu helfen berufen waren, zu urteilen wagt. Seine Nichtigkeit kann am besten dargetan werden durch den Hinweis auf die Ueberzeugung deren er sich rühmt, indem er die billige Versicherung gibt, dass er „und seine gesamten Mitarbeiter sie immer gehabt haben – die Ueberzeugung nämlich, dass ohne restlose Beseitigung der Reparationen an eine wirtschaftliche Sanierung ueberhaupt nicht zu denken sei“ – so steht es wörtlich in dem Offenen Brief und dieser Satz ist offenbar auf eine grossartige Wirkung berechnet – und doch ist er eine grosse Torheit. Dies braucht keinem Kundigen bewiesen zu werden, in Wahrheit fühlen die Kundigen mit ihrem Wissen ueber diesen armseligen Dilettanten sich so erhaben, dass sie ihrer Mühe es nicht für wert halten,

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ihn zu widerlegen und seine blöde Einfalt dem Publikum zu beweisen. Dies ist sehr zu bedauern und sehr verkehrt. Denn hier eben ist die Gefahr, die nämlich, dass man diesen Unkundigen und unverantwortlichen Mann in diesem Stile zu Tausenden die ebenso unkundig oder noch unkundiger sind reden lässt. Dass an ein restloses Beseitigen der Reparationen nicht gedacht werden kann, sollte jedes Kind wissen und nur von einer Einschränkung in mässige erträgliche Grenzen kann im Ernste die Rede sein. Eben danach ist während dieser zehn Jahre unablässig gestrebt wor[35]den. „Mit geringem Erfolge“, – freilich, und die Ursache warum nicht mehr erreicht worden ist, liegt klar zu Tage. Es ist dieselbe Ursache, die ihrem Wesen nach von jeher das Verhalten der Sieger gegen die Besiegten bestimmt hat. Ob dieser Sieg den Siegern auch nur im militärischem Sinne Ehre machte oder nicht, diese Frage hat dabei niemals eine Rolle gespielt. Und eine solche Behandlung ist einfach ein Ausdruck des Prinzips, das gerade die angeblich so idealistische Weltanschauung der Antipazifisten und Militaristen, nicht nur als selbstverständlich anerkennen, sondern durchaus gutheissen, bewundern und preisen müsste – des Machtprinzips, dessen tatsächliche Geltung niemand bestreiten kann, der die Geschichte der Kriege und ganz besonders die der Friedensschlüsse kennt. Auch dass diese Friedensschlüsse oft den Siegern selber die in der Lage waren, die so genannten Verträge zu diktieren, schliesslich mehr geschadet als genützt haben, ist nichts Neues, in irgend einer Weise hat dies immer gegolten, es sei denn, dass der Sieger immer einen neuen Krieg willkommen hiess und auch diesen dann gewann. Dies Willkommen müsste ja die kindliche Seele des Nationalsozialisten auch dem Friedensvertrag von Versailles zurufen, weil er in die Kategorie jener politischen Tributdiktate gehört, „die in sich den Keim späterer Kriege tragen“. Ich habe in meinem Briefe versäumt, darauf hinzuweisen, dass der Briefsteller Hitler hier rhetorisch wirksame Worte gefunden hat, mit denen er und, wie er sagt, die junge neue deutsche Generation stürmisch die tatsächliche Gleichberechtigung unseres Volkes mit den anderen Kulturnationen fordert und „die moralische Minderwertigkeitserklärung der Unterlegenen und die daraus gefolgerte Berechtigung ihrer ewigen Ausplünderung auf die Dauer unerträglich“ nennt. Es ist allerdings wahr, und kann nicht oft genug betont werden, dass in Wirklichkeit die Verpflichtung des deutschen Volkes eine so ungeheuerliche Misshandlung sich gefallen zu lassen (lange Zeit sogar ohne Kenntnis gelassen ueber den Umfang er ihm aufzuerlegenden Tribute, also auch ueber deren [36] Dauer), dass diese Misshandlung als vermeintlich gerechte Strafe abgeleitet wurde aus der angeblichen und vermeintlichen Schuld am Kriege – eine Schuld, von der wahrscheinlich

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der grössere Teil der französischen Politiker, und einige andere, auch heute noch ueberzeugt sind. In dieser Ueberzeugung lassen sie sich nicht irre machen. Dass als Grund dieser Ueberzeugung ihres Beharrens das eigene Interesse und der Wunsch, die Finanzen ihres Staates durch Vernichtung der unseren von ihrer schweren Schuldenlast zu befreien, und auch ueber diese hinaus aufzubessern, einen grossen Anteil hat, darf als völlig gewiss hingestellt werden. Wie es denn dem Gemeinen aus dem wie Schiller sagt, der Mensch gemacht ist, entspricht. Ich darf sagen, dass ich einer der ersten gewesen bin, die auf die Wichtigkeit der Kriegsschuldfrage hingewiesen und ihre wissenschaftliche Untersuchung angeregt haben. Diese wissenschaftliche Untersuchung ist seitdem – und auch dies hat dazu geholfen, dass es in diesen 10 Jahren aufwärtsgegangen ist – durch Männer wie H. Delbrück, Montgelas und H. Lutz geleitet, durch die unermüdliche Sorgfalt und Emsigkeit des Herrn H. von Wegerer in der Wochenschrift, die früher „Kriegsschuldfrage“ hiess (heute „Berliner Monatshefte“) mit nicht geringem Erfolge jedenfalls mit starken Eindrücken auf die Oeffentliche Meinung der Welt weitergeführt worden. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Öffentliche Meinung, die vormals in europäischen Dingen nicht nahe genug stand, um die Wahrheit zu erkennen, heute davon ueberzeugt, (und diese Ueberzeugung hat in dem Senator Borah einen einflussreichen Vertreter gefunden), dass die Behauptung Deutschland sei alleinschuldig am Ausbruch des Weltkrieges eine grobe Unwahrheit ist; nicht nur ueberzeugt wegen der ungeheuren Unwahrscheinlichkeit, die diese These angesichts der europäischen Machtverhältnisse von 1914, angesichts der Tatsache, dass der Zarismus zwar restauriert [37] war, aber ueber einem gefährlich lodernden Feuer stand, vor dem nur eine Diversion nach aussen hin und ein grosser Erfolg, auf den er mit der Hilfe der Westmächte hoffen konnte, ihn zu retten vermochte. Die Entwicklung der Kriegsschuldfrage bedeutet offenbar einen grossen Fortschritt zugunsten der Deutschen, und es steht im Zusammenhange damit, dass das hysterische Geschrei so gut wie verstummt ist, das noch nach dem Kriege unsere Nation als eine barbarische aus den Kreisen der Zivilisation ausscheiden wollte. Die so geschwatzt haben, schämen sich jetzt und wissen, dass sie lächerlich geworden sind. Was also Hitler bewirken will, das ist längst vollzogen, es wartet nicht auf ihn, der auch nichts dazu zu tun vermöchte – er kann den Fortschritt, den wir gemacht haben nur hemmen und gefährdet ihn fortwährend. Unsere Lage ist schwer genug, sie ist immer noch wesentlich verschieden von der Lage anderer Völker, die am Kriege einen schliesslich siegreichen Anteil genommen haben, aber auch sie mit Ausnahme von Frankreich, das aber

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auch von Monat zu Monat mehr unter der Weltkrise leiden muss. Sein ungeheuerer aufgehäufter Goldschatz kann ihm dagegen nicht helfen, die Unzufriedenheit in der Menge des Volkes ist auch dort vorhanden und ist schon in den letzten Kommunal-Wahlen zutage getreten. 3. Nun aber zum Dritten: „Aber die Marxisten“ „Sie sind doch die wahren Väter und Mütter des Unheils, sie sind es gewesen, sie sind es noch“. „Sie haben doch die Schuld, daran, dass der Krieg schliesslich verloren wurde. Sie haben die Schuld an der Revolution, sie haben die Schuld an der bisher geführten Unterwerfungs- und Erfüllungspolitik.“ Jede dieser 3 Anschuldigungen ist gleich viel wert. Jede ist unwahr. Dass es im Jahre 1918 Elemente in der Armee gegeben hat, die ein baldiges Ende des Krieges in dem Sinne wünschten, dass es ihnen gleichgültig war, auf welche Art dieses Ende herbeigeführt würde, ist sehr wahrscheinlich. Denn die unermüdliche und immer wiederholte [38] Forderung Ludendorff’s, dass mehr Mannschaften an die Front kommen müssten, hatte bewirkt, dass die Aushebung auf die Hefe der grosstädtischen Bevölkerungen ausgedehnt werden musste, die zum grossen Teil vorher d. u. geschrieben waren und nach ihrer ganzen physischen und moralischen Verfassung allerdings sehr ungeeignet waren, die Leistungen im Tun und Leiden zu vollbringen, die heute von einem Feldsoldaten verlangt und erwartet werden. Aber diese Mannschaften waren ganz gewiss keine Marxisten, sie waren auch im Frieden ungeeignet für jede Art von Organisation und beteiligten sich an politischen Wahlen wenig oder garnicht. Aber auch wenn man sie den Marxisten zurechnen wollte, wäre es immer noch Unsinn, ihnen die Schuld an dem Ausgang des Krieges, den die Feldherrn längst voraussahen und den sie schon lange Zeit nicht eingestanden hatten, weil sie immer noch auf eine Intervention des Himmels, einige auf Erhörung ihrer heissen Gebete, hofften. Der Kaiser selber hat nicht den angeblichen „Dolchstoss von hinten“ für die Ursache der Niederlage ausgegeben. Er sagt: (Ereignisse und Gestalten aus dem Jahre 1878 / 1918) S. 234): „Der Abfall Ungarns und Oesterreichs hat die Krise für uns gebracht.“ Er urteilt wegwerfend ueber seinen Kollegen den Kaiser Karl. 17 28

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d. u.: dienstuntauglich. „Dolchstoss von hinten“: Ursprünglich von Ludendorff, später von den Rechtsparteien verbreitete Auffassung, die Niederlage Deutschlands im 1. Weltkrieg sei durch einen Teil der Heimatbevölkerung verursacht worden, die dem im Feld unbesiegten deutschen Heer in den Rücken gefallen sei. Kaiser Karl: D. i. der Kaiser von Österreich, Karl I., als Karl IV. auch König von Ungarn.

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Nach unserem Misserfolge am 18. August 1918 habe General Ludendorff erklärt, dass er einen militärischen Sieg nicht mehr verbürgen könne und dass darum die Anbahnung von Friedensverhandlungen notwendig sein werde. Das Heer sei freilich nicht mehr das alte gewesen. Der Ersatz des Jahres 1918 sei vielfach von revolutionärer Propaganda verseucht gewesen und habe oft das Dunkel der Nacht benutzt, sich dem Feuer zu entziehen und in der Etappe zu verschwinden. „Aber die Mehrzahl meiner Divisionen hat sich bis zuletzt tadellos geschlagen, Disciplin und militärischen Geist gewahrt. Sie waren dem Feinde an innerem Gehalt noch immer gewachsen“. Was der deutsche Frontkämpfer und damit das deutsche Volk in Waffen in vier Kriegsjahren geleistet habe, sei ueber alles Lob erhaben. „Und dies Heer, das man abgekämpft hätte halten sollen, war nach fast 4 Kriegsjahren noch zu [39] Angriffserfolgen fähig gewesen, deren unsere Feinde trotz ihrer Riesenübermacht sich nirgends rühmen konnten. Trotzdem durfte man ihm (dem Heere) nicht Übermenschliches zumuten. Wir mussten zurückgehen, um Atem schöpfen zu können“. Damit ist klipp und klar jene böswillige Rede, dass „Marxisten“ die Niederlage verschuldet hätten widerlegt. Wenn die höheren Führer dem Obersten Kriegsherrn meldeten (S. 238), der Geist der Truppe vorn sei gut und zuverlässig, weiter rückwärts bei den Kolonnen sei das nicht in gleichem Maasse der Fall; das schlimmste seien die Urlauber, die zu Hause offenbar bearbeitet und verseucht worden seien und von dort einen schlechten Geist mitbrächten – so hat der Oberste Kriegsherr dies nicht bestätigen wollen. Vielleicht hat er gewusst, dass die Urlauber deprimiert waren durch die Eindrücke, die sie daheim, zumal in den Städten, von den Zuständen des Hungers und des Elends empfangen hatten. „Die Schuld an der Revolution“. Dass von Russland aus der Glaube, die Weltrevolution stehe bevor, mitgewirkt hat, den Aufruhr in der Flotte zum Ausbruch kommen zu lassen und den Geist des Aufruhrs weiterzuverbreiten, ist gewiss. Ebenso gewiss aber ist, dass die grosse Mehrheit der Sozialdemokratie von Anfang an ablehnend und abwehrend gegen Moskau sich verhalten hat und dass eben daraus die schwere Zwietracht entsprungen ist, die noch heute Sozialdemokraten und sogenannte Kommunisten voneinander scheidet. Die Sozialdemokratie aber hat im Verein mit einigen anderen Politikern sogleich erkannt, dass es gegen den Bolschewismus gegen die Steigerung des Wirrsals, die zumal, nachdem der Kaiser ins Ausland geflohen war, beobachtet wurde [40] nur das eine wirksame 16

„… um Atem schöpfen zu können“: Vgl. Kaiser Wilhelm II. 1922: 236; das Zitat davor S. 235

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Mittel gab: die Wiederherstellung eines rechtmässigen Zustandes, einer Verfassung, und dass diese rettende Aktion nur vermöge der Wahl einer Nationalversammlung geschehen konnte. Und die Wahl hat dieser Ansicht recht gegeben. Mehr darüber zu sagen scheint mir nicht notwendig. Endlich soll nun auch noch die Partei an dem Niedergang und Bankrott der 10 Jahre den der Hitler zum schweren Schaden unseres Ansehens und Kredits behauptet schuldig sein. In Wahrheit hat sie eine ganze Reihe von Neuerungen bewirkt, die fast allgemein als Verbesserung erkannt oder doch empfunden werden, und jene Behauptung von dem unablässigen Niedergang des Deutschen Reiches ist eine Fabel oder deutlicher gesagt, ein Schwindel. Das steuerpflichtige Gesamtvermögen im Deutschen Reiche betrug, soweit es von den Finanzämtern erfasst wurde im Jahre 1925 97,77 Milliarden RM, die sich auf 2,6 Millionen Pflichtige verteilten. Im folgenden Jahre 1926 hatte diese Vermögensmacht, an der also ausser den Vermögenslosen auch die kleinsten Vermögen nicht beteiligt sind, auf 99 Milliarden sich vermehrt. Aber im Jahre 1928 hatte eine fernere Vermehrung auf 117,3 Milliarden und der Pflichtigen fast auf 2,88 Millionen stattgefunden, wie in der amtlichen Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“, 2. Oktoberheft 1931 berichtet wird. In diesen Zahlen hat wie der Berichterstatter nicht für überflüssig hält, zu bemerken die seitdem eingetretene Wirtschaftskrise noch in keiner Weise einen Niederschlag gefunden. Solche Niederschläge und Rückschläge hat es seit dem Bestehen des neuen Deutschen Reiches bis zum Weltkriege, nicht weniger als fünf gegeben, auch die damalige Prosperität hat sie nicht verhüten können, ebensowenig wie die vielgepriesene Prosperität der USA seit 1925 den ungeheuren Rückschlag der letzten 2 Jahre verhindern konnte. Der Arbeiterklasse [41] in irgend einem Lande die Schuld daran zu geben und bei uns der SPD als ihrer zahlreichsten und stärksten Vertretung, das kann nur die dreiste Unwissenheit sich leisten, die bekanntlich viel vermag. Es ist bekannt, dass vor kurzem ein gewisser Dr. Frick, der als Minister eines Kleinstaats bekannt geworden ist, eine Erklärung der Partei im Reichstage verlesen hat. Die Partei hatte 14. Oktober 1930 den Antrag gestellt auf sofortige Aufhebung des Versailler Friedensvertrages und aller sonstigen Tributverträge; sie hatte ferner am 5. Dezember den Antrag ge-

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In diesen Zahlen: Vgl. o. V. 1931: 736. Dr. Frick: Wilhelm Frick war seit 1928 Fraktionsvorsitzender der NSDAP im Reichstag und 1930 / 31 in Thüringen erster nationalsozialistischer Minister in einem deutschen Land.

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stellt, ein Ultimatum an Frankreich zu richten zur Erfüllung seiner Pflicht gemäss Abschnitt V eben desselben Friedensvertrages – der ja wenn es nach ihrem Willen ging inzwischen aufgehoben war! Dann solle (gemäss Antrag 5. Dezember 1930) der sofortige Austritt aus dem Völkerbund erfolgen. Alle diese und ähnliche Anträge sind unter dem Namen Dr. Frick eingereicht worden. In jener Erklärung ist von den ohne Zweifel wichtigen, wenn sie verwirklicht würden verhängnisvollen Anträgen keine Rede mehr! Dieselbe Partei hat sich am meisten bekannt gemacht durch ihren Auszug aus dem Parlamentshause, d. h. durch die offenbare Willenserklärung der 107 Mitglieder, ihr Mandat nicht ausüben zu wollen. Sie haben dadurch aufmerksam gemacht, dass ein Gesetz fehlt, dem zufolge eine solche Willenserklärung ohne weiteres das Erlöschen der Mandate zur Folge haben müsste. Die Mandate würden nach dem geltenden System der Listenwahlen unmittelbar auf die Personen, die in den Listen folgen übergehen. Wenn diese es ebenso machen, so erlöschen ihre Mandate ebenso, und so fortan. Wenn die Liste erschöpft ist, so bleiben für die ganze Session des Reichstages die entsprechenden Wahlkreise unvertreten. Das Verhalten ist so unwahr wie es anmassend [42] ist. Nicht anders ist die Selbstbezeichnung der „Nationalen Opposition“. Durch das Wort Opposition soll der Schein erweckt werden, als wollte man nichts anderes als der Verfassung gemäss, wenn man die nötige Menge von Mandaten habe, die Regierung übernehmen oder wenigstens an der Regierung teilnehmen. Der Auszug und die ganze übrige Haltung beweisen das Gegenteil einer solchen Meinung und Absicht. Eine Umsturzpartei kann nicht die Regierung des Staates übernehmen, dessen Verfassung sie umstürzen will. Eine verfassungsmässige Änderung der Deutschen Reichsverfassung ist allerdings möglich (Art. 76), wenn zweidrittel der gesetzlichen Mitgliederzahl anwesend sind und wenigstens zwei drittel der Anwesenden zustimmen. Die fälschlich sogenannte nationale Opposition beweist durch ihre Abwesenheit, dass sie nicht auf gesetzlich rechtmässige Art die Verfassung verändern will. Um so mehr will sie es auf unrechtmässige, ungesetzliche Art.

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Die Endsilben -ismus (engl. -ism, franz. -isme, ital. u. span. -ismo) bezeichnen Wörter, deren Bedeutung international ist. Teils sind es allgemeine Begriffe, die eine Geistesrichtung ausdrücken, und zwar eine Richtung des Wollens und Handelns, oder eine Richtung des Denkens und Meinens; oder endlich beide Richtungen zugleich. Zum anderen Teile aber knüpfen sich jene Endsilben an die Namen von Persönlichkeiten: Denkern und Forschern, Staatsmännern und Volksführern. Sie bezeichnen dann eine Richtung und Bewegung, die an diese Namen sich heftet: also Anhängerschaften, Jünger und Schüler, Verehrer und Nachahmer solcher Persönlichkeiten sind alsdann die -isten oder -ianer die jenem -ismus huldigen und ihn vertreten. Es ist der grösste Erfolg einer Persönlichkeit, wenn also eine Bewegung und ein Gedanken- oder Willenssystem ihr Wesen und Wirken fortsetzt und durch die Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende erhält und überliefert. In den romanischen Sprachen wird auch das Christentum als ein -ismus bezeichnet. Und der Islâm wird in allen Kultursprachen nicht selten ebenso an den Namen seines Urhebers, des Propheten angehängt; allgemein geschieht es mit der Religion die den Buddha als ihren Stifter verehrt. Anders verhält es sich mit den grossen Dichtern, Musikern, und anderen Künstlern. Sie hinterlassen keine -ismen. Auch wenn einmal Richtungen des Denkens und Meinens von ihnen ausgehen, so werden diese doch verdunkelt durch den Glanz ihrer Werke, die als solche lebendig bleiben. Und in diesen Werken ist kein System. Das System ist die Einheit die sich oft an einen hervorragenden Namen knüpft und durch jene Endsilben angezeigt wird. Man spricht auch von dem „Werke“ eines Künstlers als einer Einheit die seinen Geist in sich enthält. Aber das „oeuvre“ unter[2]scheidet sich vom System dadurch, dass ihm nicht damit gedient ist, als Art und Richtung des Denkens, des Wollens oder beider angenommen zu werden, sondern es will zunächst anerkannt, ja bewundert werden und dadurch unmittelbar fortwirkend lebendig bleiben; hingegen das System kann nur durch Erörterung,

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Der Marxismus: Textnachweis: TN, Cb 54.34:30 – Eigenh. Manuskript in 4°, S. 1−11, mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Da von der Weltgeltung des Bolschewismus gesprochen wird, dürfte die Entstehung des Textes erst in den Jahren nach 1918 anzusetzen sein.

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Kritik, Zergliederung und was die lateinische Sprache „Auseinandermeinen“ und „Auseinanderschlagen“ (Disputation und Diskussion) nennt, also im Kampf um Dasein und Geltung sich erhalten und fortpflanzen. Dies ist das Schicksal der grossen Lehren und Denksysteme, von denen die geistige und moralische Welt ergriffen und aufgewühlt wird, die ihre zerstörende, umwälzende, aber auch ihre erneuernde und belebende Wirkung ausüben. Solche Lehre, solches Denksystem ist der Marxismus. So wollen wir ihn begreifen und darstellen. Ich unterscheide in dieser Darstellung A. den Urmarxismus, wie er noch bei Lebzeiten des Meisters entstand und durch die 12 Jahre hindurch sich entwickelte, die sein „anderes Ich“, Friedrich Engels, ihn überlebte. B. den orthodoxen Marxismus, wie er in der deutschen sozialdemokratischen Partei und in verwandten Parteien anderer Länder zur Geltung gelangte, und bezeichnet wird durch das „Erfurter Programm“ und durch die literarische Persönlichkeit Karl Kautsky’s. C. den freien oder heterodoxen Marxismus, der als Verlangen nach einer Neugestaltung jenes Programmes „Revisionismus“ genannt wird und als wissenschaftliche Kritik, aber innerhalb der Jüngerschaft auftritt, in erster Linie in Deutschland, demnächst auch in Italien und sonst. Vorzugsweise bezeichnet ihn die literarische Persönlichkeit Eduard Bernstein’s. Neuerdings haben andere Grössen der deutschen Partei, unter denen H. Cunow hervorragt, in ähnlichem Sinne die intra-marxistische Kritik verstärkt D. den apologetischen Marxismus – der durch die Ketzerei hervorgerufen, zugleich Anpassungen und Modifikationen bedeutet, um den Kern des Systems zu retten. Neben Kautsky sind hier (in der Literatur deutscher Sprache) Mehring, Hilferding, Rosa Luxemburg als die bedeutendsten Theoretiker zu nennen. [3] E. der Neo-Marxismus – Richtungen die zwar an den grossen Namen sich anschliessen, aber in Seitenwege gehen, die seine Grundrichtung und sein entwickeltes Wesen verleugnen. Bedeutenste Erscheinung dieser Art der in Frankreich anarchische „Syndikalismus“.

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„Erfurter Programm“: D. i. das 1891 nach dem Entwurf Kautskys vom Parteikongreß in Erfurt beschlossene Programm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, 1921 durch das Görlitzer Programm abgelöst. haben: Im Original: haben sich entwickeltes Wesen: „entwickeltes“ – unsichere Lesart.

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F. der Uebermarxismus, der in der Theorie und in der Praxis den orthodoxen Marxismus überbieten will, unter dem Namen des „Bolschewismus“ am meisten weltkundig geworden, neben welchem Namen, der ursprünglich nur die Mehrheit der russischen Sozialdemokratie bedeutete, der alte Name Kommunismus und (in Deutschland) der neue Spartakismus eine gewisse Celebrität erlangt haben. G. den kritischen Marxismus – als solcher werde verstanden die ausserhalb des Parteibewusstseins und des Parteiinteresses sich geltend machende wissenschaftliche Kritik, sofern sie nicht Verneinung und unbedingter Widerspruch sein will, sondern der inneren und äusseren Bedeutung des Lehrsystems gerecht wird, und seine wissenschaftlichen Grundlagen mit wissenschaftlichen Mitteln prüft, seiner Philosophie in philosophischem Sinne begegnet. __________________ Der Marxismus ist zugleich ein Gedankensystem und ein Willenssystem. Er bedeutet Theorie und Praxis, wo aber Praxis nur ein abgekürzter Ausdruck für Theorie der – befürworteten – Praxis, Gedanken und Programm einer Partei [..]. Wir betrachten nach beiden Richtungen hin die Anhänger und – mehr oder minder – sympathischen Kritiker seiner Lehren. In beiden hat der Marxismus immer zu kämpfen gehabt, um sich zu erhalten und sich durchzusetzen, zu kämpfen gegen entschiedene Feinde und erbitterte Gegner, gegen sämtliche übrige Parteien, wenn auch nicht alle mit gleicher Schroffheit, in gleich unerbittlicher Weise ihm gegenüberstehen: gegen die alte und geheiligte Weltanschaung des „Mittelalters“, wie gegen die bürgerliche Denkungsart, und gegen die Konkurrenten innerhalb der sozialistischen Gedankenwelt und Bewegung; welche gesamte moderne Den[4]kungsart, so tief sie in sich gespalten ist, doch zusammengewirkt hat, in den neueren Jahrhunderten mehr und mehr jene mittelalterliche Weltanschaung und Lebensansicht in den Hintergrund zu drängen. [5] Der Urmarxismus – das ist Friedrich Engels. Es gibt wohl kein anderes Beispiel eines Anhängers und Jüngers, der zugleich Miturheber war, dessen Name so mit dem Namen des Mannes verschmolzen ist, den er doch als seinen Meister verehrte. Als Mitarbeiter und Miturheber kömmt er für den Marxismus in erster Linie in Frage. Ihre Jugendschriften haben die 18 35

einer Partei [..]: Zu ergänzen: ist. Jugendschriften: Vgl. Engels / Marx 1845; 1848 u. 1932.

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„Dioskuren“ als Sprossen ihres gemeinsamen Geistes in die Welt geworfen: die heilige Familie, das Manifest, die ungedruckt gebliebene Kritik des deutschen Idealismus. Auf anderem Wege – schrieb Marx 1859 – sei Friedrich Engels mit ihm zu demselben Resultat gelangt – er weist auf seine „geniale Skizze“ zur Kritik der ökonomischen Kategorien in den Deutsch-französischen Jahrbüchern und auf seine „Lage der arbeitenden Klasse in England“ hin. In der Tat war Engels früher politischer Ökonom als Marx, Kaufmann von Beruf, und zwar in engem Zusammenhange mit der modernen für England Epoche machenden, auf dem Kontinent noch schwachen, mechanischen Baumwollspinnerei, fand er sich frühzeitig darauf hingewiesen. Früher auch als Marx, und in so unmittelbarer Fühlung mit dem wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes wie dieser sie niemals erworben hat, lebte Engels in England, der „klassischen Stätte“ der kapitalistischen Produktionsweise und der ihr entsprechenden Produktions- und Verkehrsverhältnisse. Und Engels war, obschon ein eifriger Leser und fleissiger Schriftsteller von Jugend auf, doch auch ein Mann des Lebens, ja ein Lebemann; nachdem er die religiösen Kämpfe seiner Jugend hinter sich hatte, ergab er sich einer epikureischen Denkweise und wusste die Musse zu geniessen, die ihm seine Berufstätigkeit liess und der Wohlstand seines Vaters zu geniessen erlaubte. Dem, der ihn gefragt hätte, wie sich solche Lustigkeit mit seiner Sympathie für die Leiden der arbeitenden Klasse vertrage, würde En[6]gels mit einem tiefen und herzlichen Lachen geantwortet haben „Meint ihr etwa, dadurch dass ich mich mit Singen und Beten beschäftige, könne ich dem Proletariat helfen? Nein, ich lebe, wie es meine Natur von mir fordert, um mich kampffähig und kampflustig zu erhalten – nur im Kampfe wird die arbeitende Klasse ihr Recht finden, und im Kampfe ihr beizustehen, ihre Erkenntis zu fördern, ihren Willen zu stählen – das ist mein Beruf.“ Dazu gehörte die Erfahrung, die Beobachtung. Und schon in der englischen Vorrede zur „Lage“ rühmt sich Engels, dass er nicht am Studium der Bücher und Urkunden sich genug getan habe, „ich wünschte euch (die englischen Arbeiter) zu sehen in euren Heimen, euch zu betrachten in eurem täglichen Leben, mit euch zu plaudern über eure Lage und eure Beschwerden, Zeuge zu sein eurer Kämpfe gegen die soziale und politische

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die „Dioskuren“: Die Zwillinge, der sterbliche Kastor und der unsterbliche Polydeukes (Pollux), nach der gr. Sage aus einem Ei entstanden, das Leda geboren hatte. Deutsch-französischen Jahrbüchern: Vgl. Engels 1844. „Lage der arbeitenden Klasse in England“: Vgl. ders.: 1845.

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Macht eurer Unterdrücker“ Zu diesem Behuf habe er der Gesellschaft und den Dinners, dem Portwein und Sekt der „Mittelklasse“ Valet gesagt und manch glückliche Stunde erlebt in Erlangung von Kenntniss des wirklichen Lebens, manche Stunde die sonst in fashionablem Geschwätz und langweiliger Etikette verloren wäre … [7] Das Enthusiastische seiner Natur, in der Jugend überströmend, hat er auch in das Mannes- und Greisenalter hineingerettet. Starke sittliche Empfindung vermischte sich darin mit lebhaftem ästhetischen Gefühl, und beide liessen ihn auf die grosse soziale und politische Umwälzung als auf ein notwendiges und nahes Ereigniss blicken, das er immer erwarten und niemals erleben sollte. Das ästhetische Gefühl überwog wohl in dem leidenschaftlichen sinnlichen jungen Manne. Wenn sein Genie nicht an das des Freundes heranreicht, an genialischem Wesen übertraf er ihn ohne Zweifel. Humor und Uebermut, rebellische Wildheit und verwegener Radikalismus erfüllten den jungen Poeten vor wie nach dem Soldatenjahre, das er beim Garde-Fuss-Artillerie-Regiment 1841 / 42 erlebte: es machte ihn für Lebenszeit zum „General“; strategische und taktische Probleme standen unter den vielen grossen Dingen die seinen regen Geist beschäftigten, obenan. Wenn je eine Gedankenwelt auf junge Männer dieser Art aufrührend gewirkt hat, so war es die Hegelsche Philosophie in der Gestalt, die ihr der von Strauss so genannte linke Flügel verliehen hatte. Engels war stürmischer Adept des Klubs der „Freien“ in Berlin. Er nahm mit Begeisterung Feuerbach in sich auf. Er schwelgte im Kommunismus, wie er ihn zu jener Zeit verstand und wähnte dass diesem nicht nur die Zukunft, sondern schon fast die ganze Gegenwart gehörte. Er las viel, redete und schrieb noch mehr. Aber in allen Schwärmereien verlor er nie den Boden unter den Füssen. Er blieb Kaufmann genug und bewahrte sich ein gutes Stück rechtschaffener bürgerlicher Vernünftigkeit als Sohn seines Vaters und Angestellter der Firma Ermen & Engels. Als solcher betrat er englischen Boden und das bedeutete eine ungemeine [8] Erweiterung seines Gesichtskreises über die rheinischen Kirchtürme und die Berlinischen Kasernen hinaus. Er sah den Industriestaat vor sich, den nackten Kampf 1

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„… eurer Unterdrücker“: Vgl. Engels 1932: 5: „I wanted to see you in your own homes, to observe you in your every-day life, to chat with you on your condition and grievances, to witness your struggles against the social and political power of your oppressors“. Strauss: Vgl. z. B. Strauss’ „Das Leben Jesu“ (1835 / 36) und „Der alte und der neue Glaube“ (1872). Klubs der „Freien“: Diesem Kreis junghegelianischer Intellektueller in Berlin gehörte neben Bruno und Edgar Bauer und Karl Friedrich Koeppen auch zeitweilig Karl Marx an.

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um die wirtschaftlichen Interessen, den Streit der Manchester-Leute gegen die Getreidezölle mit einer nie dagewesenen Agitation, das dumpf grollende Ringen der Arbeiterklasse im Chartismus und im Owenismus. So bereichert, so erfüllt von Eindrücken und Gedanken begegnete er sich mit Marx, der wesentlich als Philosoph, als radikaler Sociologe, bei dem Problem des Proletariats angelangt war und sich vorgesetzt hatte, die Hegelsche Dialektik umzustülpen, um aus ihr den Kommunismus zu entwickeln. Engels schrieb die Lage der arbeitenden Klasse in England, beide vereint schlossen ihre Rechnung mit dem Ueberhegel, der kritischen Kritik Bruno Bauers und mit dem ganzen deutschen Idealismus. Sie fanden sich in einer revolutionären Ansicht vom bisherigen und zukünftigen Gange der Geschichte. Sie hörten schon den Boden dröhnen vom Getöse der ungeheuren herannahenden Weltenwende. So warfen sie gemeinsam im Jahre des Völkerfrühlings, und noch ehe dessen Morgenröte erschienen war, das „Kommunistische Manifest“ in ein unendlich erregtes, staunendes, ahnendes Zeitalter hinein. Der Entwurf welchen Engels dazu verfasst hat, ist neuerdings (1913) bekannt geworden: „Grundsätze des Kommunismus“ in 25 Fragen und 22 Antworten. Die Form der Katechese war für solche Zwecke eingebürgert, aber Engels selbst sprach schon gegen [9] Marx den Wunsch aus, sie wegzuwerfen; wieviel an der endgültigen Fassung von ihm herrührt, ist ungewiss, aber die Carlyleschen Töne, die das Manisfest in sich birgt, dürfen ihm allerdings zugeschrieben werden, da er in den Deutsch-französischen

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Manchester-Leute: D. i. die Manchesterpartei, eine von Cobden und Bright von Manchester aus gegründete und geführte Bewegung, die den uneingeschränkten Freihandel propagierte. Chartismus: Diese erste sozialistische Arbeiterbewegung in England übte auch auf Marx und Engels Einfluss aus. Sie beruhte auf einer von Lovett 1836 verfassten „People’s Charter“, in der in sechs Punkten das allgemeine und geheime Stimmrecht, eine Parlamentsreform und jährliche Parlamentswahlen gefordert wurden. Owenismus: Eine nach dem Begründer der engl. Genossenschaften benannte Bewegung; seine Anhänger nannte man Oweniten. Robert Owen war engl. Sozialist und Mitinhaber einer der größten Industrieunternehmen Englands. Sein Hauptanliegen war die wirtschaftliche und moralische Hebung seiner Arbeiter durch Einführung sozialer Reformen wie Nichtbeschäftigung von Kindern unter zehn Jahren, 10,5-stündiger Normalarbeitstag, Kleinkinderschulen, Kranken- und Alterspensionskassen, Einrichtung genossenschaftlicher Konsumläden u. a. Ueberhegel: Unsichere Lesart. „Grundsätze des Kommunismus“: Vgl. Engels 1914. Past and present: Vgl. Carlyle 1843, dazu das folgende Zitat in Engels’ Rezension (1844a: 175).

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Jahrbüchern Past and present warm empfohlen hatte: als das einzige englische Buch des Jahres 1843, das menschliche Saiten anschlage, menschliche Verhältnisse darlege und eine Spur von menschlicher Anschaungsweise entwickle: – „auch ist es darum zu tun, die Haltlosigkeit, die innere Leere, den geistigen Tod, die Unwahrhaftigkeit des Zeitalters zu bekämpfen; mit allen diesen Dingen führen wird einen Krieg auf Leben und Tod, ebenso wie Carlyle …“ Und so im Manifest: „Die Bourgeoisie wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ‚bare Zahlung‘. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spiessbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt.“ [10] Durchaus richtig aber urteilt Engels’ Biograf vom Manifest: „In seiner endgültigen Gestalt trägt es zum überwiegenden Teil den Stempel des Marxschen Genius, der hier mit der mächtigen Prägnanz, die ihm eignete, die Worte wie flüssiges Erz in die herrische Form seiner Denkart hineinzwingt.“ (My 305) – Die Revolution rief den jungen Kaufmann ins Heimatland zurück. Die Neue Rheinische Zeitung trat ins Leben. Engels entfaltete an ihr seine jugendliche Kraft und Lust. Bald folgte Enttäuschung, Verfolgung, Flucht, Rückkehr, Kampfgenossenschaft in der Pfälzer Schildwache, Zusammenbruch. Im Herbst 1849 die beiden Kommunisten in London. Engels schreibt – über den deutschen Bauernkrieg. Er vertieft sich in diese Vergangenheit „um seine Augen zu schärfen, damit er durch die Hülle der politischen Erscheinungsformen des geschichtlichen Lebens in dessen Herzkammer dränge, wo die ökonomischen Kräfte pul6 12

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„… ebenso wie Carlyle …“: Vgl. Engels 1844: 175. ‚bare Zahlung‘: Im Ms. in eckigen Klammern: „Carlyle’s cash payment“. – Vgl. dazu auch oben S. 10. „… Handelsfreiheit gesetzt“: Vgl. Marx / Engels 1848: 9. (My 305): Vgl. Mayer 1920: 305. Neue Rheinische Zeitung: Neue Rheinische Zeitung. Organ der Demokratie. Köln / Bonn 1848−1849. Schildwache: Vgl. Mayer (1920: 363): „So verließen Engels und Marx Frankfurt am 20. Mai unverrichteter Sache, als Schildwache ihrer Partei Wilhelm Wolff zurücklassend, der nun ins Parlament eintrat“.

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sierten“ (My 381) Neue Pläne, neue Enttäuschungen, endlich Rückkehr ins Kontor zu Manchester – Resignation. Studien, mit Vorliebe solche in Kriegswissenschaft, und der Briefwechsel mit Marx, gewähren Trost. In diesen Freundesbriefen, wie sie jetzt gedruckt vorliegen, treten natürlich viele persönliche Angelegenheiten hervor, auch geschäftliche von Engels’ Seite, in Verbindung mit jenen der „Emigrantenmist“ der beiden zu schaffen macht; dann aber gegenseitige Teilnahme an der geistigen Arbeit, der beide leidenschaftlich ergeben sind, wobei Engels’ Seufzer über die dummen Einrichtungen in Manchester, die Mängel des Bibliotheknestes laut werden läßt, die ihm ein regelmäßiges und geordnetes „Ochsen“ fast unmöglich machen wie er schreibt; darauf immer neue Zeugnisse des Eifers, womit er bald Strategie bald Physiologie betreibt, bald kommen die Korrespondenzen für die New York Tribune, an denen Engels in [11] Marx’ Namen teilnimmt – vielfache Erregungen über die politischen Ereignisse zunächst hauptsächlich Tun und Pläne Louis Napoleons, dann der Kölner Kommunistenprozeß – so vergehen die ersten Jahre: Engels kontorgequält, Marx schuldengequält, wie dieser im Dezember 1853 sich ausdrückt. Engels dachte in der Tat damals daran, den „Schacher“ ganz aufzugeben und sich berufsmäßig auf die Schriftstellerei zu werfen; er meinte, und der Freund mit ihm, seine militärischen Kenntnisse und Studien ausmünzen zu können. Um die Mitte dieses ersten Jahrzehntes – es war die Blütezeit der „Reaktion“ – das große Ereigniß des Krimkrieges, bald nachher die große Geldkrise von ’57, das Orsini-Attentat auf Napoleon III, Herrn Dana’s Plan eines amerikanischen Konversationslexikons, woran Marx

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(My 381): Vgl. Mayer 1920: 381. „Emigrantenmist“: Unsichere Lesart. Bibliotheknestes: Unsichere Lesart. Korrespondenzen: New York Tribune. New York Ny 1841−1924. Louis Napoleons: D. i. Charles Louis Napoleon, als Napoleon III. frz. Kaiser 1852− 1870. sich ausdrückt: Vgl. Marx 1853. Krimkrieges: Vgl. zum Krieg 1853−1856 der engl.-frz.-türk. Allianz gegen Russland TG 9 (Tönnies 2000: 76−78). Geldkrise von ’57: Vgl. Marx 1894: 26. Kapitel: Akkumulation von Geldkapital, ihr Einfluß auf den Zinsfuß. Orsini-Attentat: Der Attentäter Felice Orsini trat sehr früh der Bewegung Jung-Italien bei und kämpfte mit Mazzini für die Einheit Italiens. Nachdem er mehrere Erhebungen in seinem Vaterland angestiftet hatte, ging er nach Frankreich und verübte am 14. 1. 1858 ein Attentat gegen Napoleon III. Er wurde zum Tode durch die Guillotine verurteilt. Herrn Dana’s: D. i. Richard Henry Dana.

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und Engels mitarbeiten sollen, dann der Italienische Krieg, die Gründung eines deutschen Arbeiterblatts in London, Beziehungen zu Lassalle, zu Liebknecht, zu Edgar Bauer, der Besuch Bruno Bauers in London: dies etwa die wichtigsten der Angelegenheiten, denen die emsige Briefstellerei der beiden gewidmet war. Schließlich das Erscheinen der Praeliminarschrift „Zur Kritik der Politischen Oekonomie“, die Lassalle bei Franz Duncker zum Verlag brachte. Ungefähr gleichzeitig kam von Engels (anonym) die Flugschrift „Po und Rhein“ heraus, deren militärtechnische Ausführungen Aufsehen machten.

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Italienische Krieg: Es ist nicht sicher feststellbar, welche der kriegerischen Auseinandersetzungen, an denen Italien beteiligt war, von Tönnies gemeint ist. Es könnte sich um den von Frankreich unterstützten Krieg Italiens gegen Österreich (1859) handeln, aber auch spätere, zur Einigung Italiens als Staatsnation führende Kriegshandlungen sind möglich. Politischen Oekonomie: Vgl. Marx 1859; die Schrift war die Vorläuferschrift zum „Kapital“. „Po und Rhein“: Vgl. Engels 1859. Aufsehen machten: Absatz; danach Ende des Manuskriptes.

[Über die Reform der Staatswissenschaften] [Protokoll eines Rede- oder Diskussionsbeitrages]

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Geehrte Versammlung! Es ist wohl schon darauf hingewiesen worden, dass man sich davor hüten solle, den Studierenden, im besonderen denen der Jurisprudenz und denen der Nationalökonomie, zuviel zuzumuten, und dieser Gedanke muss nach meiner Ansicht bei den Fragen der Reform immer mit vorwalten, ob man nicht zuviel verlangt, ob es nicht vor allem geboten sei, sich zu beschränken, und für alles Unterrichtswesen wird unbedingt der Spruch gelten: Non multa, sed multum. (Sehr richtig!) Mit anderen Worten – um es mit einem Ausdruck, der den Nationalökonomen geläufiger ist, zu bezeichnen – : man soll pädagogisch keine extensive Wirtschaft betreiben, sondern intensive Wirtschaft. Auf die Intensität des Unterrichts kommt alles an, und eben darum – was auch die Vorrednerin berührt hat – kommt es mindestens ebenso viel wie auf die Methode auf die Menschen an: auf die Menschen, die unterrichtet werden, und auf die Menschen, die unterrichten. Darum meine ich auch: es wird bei diesen Erwägungen leicht unterschätzt, wieviel – ich spreche nun nicht von den Anforderungen, die an den Lehrer gestellt werden, das wäre ein Kapitel für sich – auf die Begabung des Lernenden ankommt und noch mehr auf seinen guten Willen. Wo der Wille zum Lernen stark ist, da sind unsere Universitätsinstitutionen, so wie sie sind, und da ist auch der staatswissenschaftliche Unterricht vorzüglich. Ich meine, die Gelegenheiten zum Lernen, zumal wenn sie so ausgebildet sind wie etwa in diesem grossartigen [170] Institute, sind reich und mannigfaltig, und ohne den guten Willen 1

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[Über die Reform der Staatswissenschaften]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:102. – Typoskript in 4°, 6 Bll, S. 169−174 (Paginierung vermutlich aus einem Tagungs-Gesamtprotokoll). Ohne ersichtliche eigenh. Korrekturen. Weder Tagung noch ihr Datum konnten ermittelt werden; sie muss aber nach 1918 stattgefunden haben, weil die neue Verfassung als gültige genannt wird (s. unten S. 161). Dem Text steht auf S. 169 vorab: Geheimer Regierungsrat Prof. Dr. Tönnies. Non multa, sed multum: [lat.] nicht vielerlei, sondern viel. Ursprünglich bei Plinius in dessen „Epistolae“ (1806, lib. VII, 9, S. 273) zu finden; Tönnies sicher auch durch Lessings „Emilia Galotti“ bekannt und durch Schopenhauer, der den Satz wiederholt als Motto zu seinen Werken benutzte.

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beharren, wie schon Plato gesagt hat, die Wissenschaften nicht in der Seele. Damit hängt es zusammen, dass wir nicht für die Schule lernen, sondern für das Leben. Man sollte zugleich hinzufügen: wir lehren auch nicht für die Schule, sondern für das Leben. Ich möchte aber den Spruch, was das Lernen betrifft, dadurch ergänzen, dass ich sage: Non scholae, sed vitae discimus: nicht durch die Schule, sondern unendlich viel mehr durch das Leben lernen wir. Aber das Problem ist ja bei einer Reform der staatswissenschaftlichen Studien in erster Linie: wen will der akademische Lehrer ausbilden? und das scheint mir in den Erörterungen nicht ganz klar gewesen zu sein, oder die Herren, die aus ihrer reichen Praxis gesprochen haben, haben meistens, wie mir scheint, fast ausschliesslich den Nationalökonomen vor sich gehabt, der als solcher in der Regel einen beschränkten Beruf, und zwar überwiegend im privaten Dienste, also als Syndikus einer Handelskammer oder dergleichen, hat. Man kann überhaupt die Frage, wen man ausbilden will, in erster Linie dahin beantworten – darüber hat Herr Prof. Jastrow sehr gut einiges gesagt – : ein höherer Lehrer sollte nie vergessen, so wenig wie schliesslich ein Elementarlehrer, dass es seine Aufgabe ist, Menschen zu bilden. Des näheren ist es aber ein grosser Unterschied, ob man Gelehrte bilden will – und das ist eine Aufgabe von ganz anderer Art –, oder ob man Beamte bilden will, [171] und wiederum, wenn man Beamte bilden will, ob man Staats- oder Gemeindebeamte oder Privatbeamte bilden will. Die Nationalökonomen sind ja bisher überwiegend Privatbeamte, und wenn wir wünschen müssen, dass das staatswissenschaftliche Studium in ganz anderem Masse und Umfange als bisher eine Grundlage für höhere Berufe wird, so muss eben auch die Ertüchtigung für den Beruf des Staats- und Gemeindebeamten als Aufgabe gestellt werden. Diese Betrachtung führt mich nun weiter darauf, dass tatsächlich eben von den Staatswissenschaften die Rede ist und nicht bloss von der Nationalökonomie. Es wird neuerdings wohl die Nationalökonomie oder Sozialökonomie unter dem sehr unschönen Worte der wirtschaftlichen Staatswissenschaften begriffen. Das halte ich auch der Sache nach nicht für glücklich. Die Staatswissenschaften sollten eben eine Einheit sein, und 5

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Non scholae, sed vitae discimus: [lat.] nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir; nach Seneca, dort allerdings umgekehrt: „non vitae sed scholae discimus.“ (Vgl. Seneca 1965: 107; ep. 106). wirtschaftlichen Staatswissenschaften: Tönnies bekam am 31. 12. 1908 mit seiner Ernennung als Professor die Verpflichtung, an der Universität Kiel die Wirtschaftlichen Staatswissenschaften unter besonderer Berücksichtigung der Statistik zu vertreten.

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diese Frage hängt wieder mit der Frage der Jurisprudenz und der ganzen juristischen Fakultät zusammen. Das ganze juristische Studium ist ja wesentlich auf den Ziviljuristen, auf den BGB-Mann, eingerichtet und damit auf den zukünftigen Richter, der die Subsumtionstechnik, wie Herr Prof. Jastrow sagte, zu lernen hat. In Wirklichkeit gehört aber das ganze Studium des öffentlichen Rechts seinem Wesen nach in ein anderes Gebiet. Es gehört eben nicht zu den wesentlichen Elementen dessen, was der Richter lernen soll, wohl aber zu den wesentlichen Elementen dessen, was der Staatsmann lernen soll, [172] und diese Aufgabe, Staatsmänner zu bilden, sei es für den Staatsdienst, sei es für den Gemeindedienst, sei es – was ja ausserordentlich wertvoll und für unsere heutige Verfassung von überwältigender Bedeutung ist – für die parlamentarische Tätigkeit, ist ja eigentlich die natürliche und notwendige Aufgabe der Staatswissenschaft, der Staatswissenschaft aber in dem hohen und weiten Sinne, der notwendigerweise auch das öffentliche Recht in sich einschliesst eben nicht als eine Technik – was es auch seiner Natur nach gar nicht sein kann –, sondern eben als wesentlich eine – ich kann nicht anders sagen – soziologische Wissenschaft, und die Soziologie ist ja eben ein notwendiges Element, ein selbstverständliches Element der gesamten Staatswissenschaften. Dabei berühre ich, dass ein ungemein einflussreicher Berufszweig bisher in den Erörterungen gar nicht berührt worden ist, der aber hiermit nahe zusammenhängt: der Beruf des Journalisten. Erfahrungsmässig gehen viele Journalisten aus dem nationalökonomischen Studium hervor. Sie haben aber andere Bedürfnisse und haben ganz andere Kenntnisse nötig als etwa der Handelskammersekretär. Sie sollten eben auch nicht ausschliesslich wirtschaftswissenschaftliche Kenntnisse haben, es sei denn, dass sie eben von vornherein etwa Handelsredakteur sein wollen, sondern sie sollten staatswissenschaftliche Kenntnisse im weitesten Sinne haben, in gleicher Weise gesellschaftswissenschaftliche und sozialwissenschaftliche, und dazu gehört dieses ganze Studium. [173] Was die Fakultätsfrage betrifft, so meine ich, dass doch die naturgegebene Lösung dieses ganzen Problems darin liegt, dass die philosophische Fakultät geteilt wird. Ich widerspreche Ihnen durchaus, Herr Prof. Jastrow, dass die Fakultät „up ewig ungedeelt“ bleiben kann. Der natürliche Prozess ist der 19

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Staatswissenschaften: Am linken Rand handschriftlich (von Tönnies?): Ende. – Da der Text aber bruchlos weitergeht, ist unklar, welche Bedeutung die Randschrift hat. „up ewig ungedeelt“: [ndt.] auf ewig ungeteilt; Anspielung auf den für die Geschichte Schleswig-Holsteins wichtigen „Ripener Vertrag“ (1460): Nachdem der Mannesstamm der Herzöge von Holstein mit Adolph VIII. 1459 erloschen war, wählten die Stände der

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der Scheidung, der Differenzierung. Wir haben die zwei grossen Gebiete vor uns, die mehr oder weniger allgemein anerkannt werden: auf der einen Seite die Naturwissenschaften in ihrer Grösse und Stärke und Blüte und auf der andern Seite die noch viel zu wenig gepflegten und ausgebildeten Geistes- und insbesondere gerade Kulturwissenschaften mit Einschluss der Staatswissenschaften, und die natürliche und notwendige Scheidung scheint mir eben zu sein, dass eine kulturwissenschaftliche Fakultät aus den naturwissenschaftlichen ausscheidet. Die Grösse der philosophischen Fakultät ist ja an den grossen Universitäten wie Berlin bekanntlich jetzt schon unerträglich geworden und ist ihrer Natur nach unerträglich. Die Kulturwissenschaften haben eine grosse Zukunft. Man kann wohl sagen: so, wie die letzten drei bis vier Jahrhunderte den Naturwissenschaften gehört haben, so werden die jetzt folgenden Jahrhunderte, und zwar unter dem Drucke der Not und des Bedürfnisses, den Kulturwissenschaften gehören. Ich habe das Gefühl, als ob insbesondere die Nationalökonomie erst im Entstehen sei, wenigstens dass sie durch die Erfahrungen dieser letzten Jahre ein ganz unermessliches [174] neues Feld gewonnen habe, und dass alle ihre Lehren in viel tieferer und gründlicherer Weise revolutioniert werden, als etwa die Staatsverfassungen grosser und starker Staaten revolutioniert worden sind, und das näher zu betrachten, würde ein tieferes Eingehen insbesondere auch auf die Bedürfnisse der Arbeiterklasse erfordern, die sich ja berufen fühlt und in hohem Grade berufen ist, mitzuwirken an der Erneuerung des sozialen Lebens, insbesondere des Staatslebens. Die Arbeitsklasse hat uns bisher schon gezeigt, dass man es auch ohne akademisches wissenschaftliches Studium zu grossem wissenschaftlichem Wissen und Denken bringen kann. Sie hat darin Muster aufgestellt, und wir wünschten, dass in Zukunft eben vor allem auch die Basis verbreitert werde, dass ein grösserer Spielraum der Auslese geschaffen werde aus den bisher sogenannten unteren Schichten der Gesellschaft, dass also das Wort wahr werde, das zu Anfang des Krieges der damalige Reichskanzler sprach: „Freie Bahn dem Tüchtigen!“ Das muss insbesondere für das

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Herzogtümer Schleswig und Holstein 1460 den Dänenkönig Christian I. zum Landesherrn. Dieser gelobte, dass Schleswig und Holstein „ewig zusammenbleiben sollten, ungeteilt“. „Freie Bahn dem Tüchtigen!“: Bethmann Hollweg sagte am 28. September 1916 in der Reichstagssitzung: „Die gewaltigen Aufgaben, die auf allen Gebieten des staatlichen und sozialen, des wirtschaftlichen und politischen Lebens unser harren, bedürfen zu ihrer Lösung aller Kräfte, die in unserem Volke leben. Eine Staatsnotwendigkeit, die sich gegen alle Hemmungen durchsetzen wird, ist es, diese Kräfte, die da sind im Feuer geglüht, die nach Schaffen und Wirkung rufen und verlangen, für das Ganze zu nützen. Freie Bahn für alle Tüchtigen, das sei unsere Losung“ (Büchmann 1987: 394).

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Studium und ganz im besondern für das staatswissenschaftliche Studium gelten, und hier um so mehr, als eben der Beruf des Staatsmannes heute auch dem Arbeiter offen steht und von ihm erstrebt wird, und als eben die grosse und immer bedeutungsvoller werdende Schicht der Arbeiterklasse, worunter ich natürlich auch die Geistesarbeiter mit verstehe, eine Fülle von Möglichkeiten, von Chancen der Entwicklung in sich enthält, die wir auf keine Weise übersehen dürfen.

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Es ist eine wichtige Frage, ob und wie weit, und unter welchen Bedingungen die Wahrheit Aussicht habe, sich in der öffentlichen Meinung durchzusetzen. Ihr begegnet zunächst der Pilatus-Zweifel: „Was ist Wahrheit?“ Vielfach gilt als Wahrheit eben das, was sich in der öffentlichen Meinung durchgesetzt hat. Wenn aber dem, was für Wahrheit gilt, das, was Wahrheit ist, entgegengesetzt wird, so muss man im Besitz eines anderen Erkenntnisgrades sein für das, was Wahrheit ist. In einigen Beziehungen wird die Wahrheit von Tatsachen niemals bestritten. Auch manche Ansichten haben von je her, und ohne dass für sie gekämpft werden musste, als wahr gegolten. Jene Frage meint solche Fälle nicht. Sie meint vielmehr, ob u. s. w. es möglich sei, dass das, was in Wirklichkeit wahr ist, obgleich es zunächst nicht dafür gilt, gegen den Widerstand, der ihm geleistet wird, „in der öffentlichen Meinung sich durchsetzt“. Als öffentliche Meinung wird hier offenbar das übereinstimmende Urteil massgebender Personen, und als mögliches oder unmögliches Endergebnis wird gedacht, dass die wirkliche Wahrheit und die geltende Wahrheit sich decken, während sie vorher, eine bestimmte oder unbestimmte Zeit hindurch, von einander getrennt und geschieden waren. Als wirkliche Wahrheit verstehen wir, in Uebereinstimmung mit dem, was die wissenschaftliche Arbeit der Jahrhunderte als ihr Wesen und ihr Merkmal festgesetzt hat, das, was für den normalen menschlichen Verstand bewiesen worden ist und mit zureichenden Gründen bewiesen werden kann. Als normal gilt der unbefangene, d. h. durch Vorgefühl und Vorurteil nicht getrübte Verstand, der aber für manche Arten von Wahrheit einer besonderen Schulung bedarf und immer [2] einer durch Uebung gewonnenen Reife, um solche Wahrheiten zu begreifen, zu verstehen, einzusehen – um dem Beweise zugänglich zu sein und sich von der Wahrheit überzeugen zu lassen.

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Die öffentliche Meinung und die Wahrheit: Textnachweis: TN, Cb 54.34:43. – Typoskript (Durchschlag) in kl 2°, Bl. 1−14, mit wenigen (eigenh.?) Korrekturen. Entstanden um 1918. Pilatus-Zweifel: Vgl. Evangelium des Johannes 18,38 (Bibel 1912).

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I. Die Frage, ob die Wahrheit Aussicht habe, sich in der öffentlichen Meinung durchzusetzen, bejahe ich unbedingt. Was zunächst die Wahrheit von Lehren betrifft, so giebt es heute eine erkleckliche Anzahl solcher, die in der öffentlichen Meinung schlechthin feststehen und sich ihres Schutzes erfreuen, obgleich sie mehr oder weniger lange um ihr Dasein, d. h. um ihre Geltung, haben ringen müssen. Schopenhauer spricht von dem kurzen Siegesfest, das der Wahrheit beschieden sei zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial gering geschätzt werde. Was die Wahrheit von Tatsachen oder Ereignissen betrifft, wozu in diesem Sinne auch die Ursächlichkeit und Verschuldung solcher gehört, so scheint es in manchen Fällen nicht wesentlich anders damit zu stehen. Schon in der öffentlichen Meinung eines eng begrenzten Gebietes, etwa eines Dorfes und seiner Nachbardörfer, oder einer Stadt und ihrer Umgebung, tritt dies zuweilen zu Tage. Setzen wir, ein Mann sei wegen Ermordung seiner Ehefrau verurteilt und enthauptet worden. In Wahrheit ist er unschuldig gewesen. Aber in Uebereinstimmung mit den Richtern verurteilt ihn die öffentliche Meinung. Seine Kinder, die – mit wenigen anderen – von seiner Unschuld überzeugt sind, dringen auf Wiederaufnahme des Verfahrens. Diese findet statt, weil eine neue Tatsache vorliegt: das Geständnis, das auf seinem Totenbette ein Mann, der bei dem Verurteilten bedienstet war, abgelegt hat: er habe der Frau das Gift beigebracht. An der Wahrheit dieses Geständnisses zu zweifeln giebt es keinen Grund. Es wird sogar bestätigt durch Zeugnisse des Inhaltes, dass dieser wirkliche Mörder ein strafbares Verhältnis mit der Ermorde[3]ten unterhalten hat, und dass er im Besitze des Giftes gewesen ist. In einem Falle von dieser Art wird die Wahrheit augenscheinlich siegreich. Wer sie jetzt noch bestreitet, wird für einen Narren gehalten. Die Frage ist: Giebt es solche Umwandlungen des geltenden Urteiles auch in Fragen von soziologischer Tragweite, also in Bezug auf historisch und politisch wirksame Wahrheiten von Tatsachen? Auch diese Frage darf getrost bejaht werden. Zunächst giebt es Kriminalfälle von hoher politischer 8

gering geschätzt werde: Vgl. Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ die Vorrede zur ersten Auflage (1977: Bd. 1, 13): „Und so … gebe ich mit innigem Ernst das Buch hin, in der Zuversicht, daß es früh oder spät Diejenigen erreichen wird, an welche es allein gerichtet seyn kann, und übrigens gelassen darin ergeben, daß auch ihm in vollem Maaße das Schicksal werde, welches in jeder Erkenntnis, also um so mehr in der wichtigsten, allezeit der Wahrheit zu Theil ward, der nur ein kurzes Siegesfest beschieden ist, zwischen den beiden langen Zeiträumen, wo sie als paradox verdammt und als trivial geringgeschätzt wird. Auch pflegt das erstere Schicksal ihren Urheber mitzutreffen“.

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Bedeutung, die eben darum schon sich gegen gemeine Verbrechen abheben und dieser Bedeutung halber ein weit grösseres, in der Regel ein nationales Publikum sich gegenüber haben, das mit Spannung der Untersuchung, der Beweisaufnahme, den Verhandlungen folgt. Meistens wird hier der Gegensatz der Parteien in die Erscheinung treten: man wird über das Wesen, über die Schwere der Handlung, über die Wahrheit der Anschuldigung, die Gerechtigkeit des Urteils, oder über mehrere, ja über alle diese Punkte, geteilter Meinung sein. Ein offenbarer Landesverrat wird einmütig verurteilt: wenn er also bewiesen zu sein scheint, so wird die öffentliche Meinung auch den Stab über die Täter brechen. Aber auch für solche Fälle giebt es Revision, giebt es Wiederaufnahme des Verfahrens. Der Prozess kann ein parteiischer Tendenzprozess gewesen sein. Die Richter können unter dem Banne der öffentlichen Meinung geurteilt haben. Eine unbefangene Nachprüfung wird vielleicht die Unschuld eines Mannes beweisen, der das Opfer des Hasses, der Verfolgung, des Betruges geworden war. Zwei berühmte oder berüchtigte Fälle dieser Art haben sich in Frankreich ereignet. Der eine war der Fall des Jean Calas: Voltaire war es, der eine postume Revision des Prozesses durchsetzte, der ein Tendenzprozess dadurch gewesen war, dass Calas als Calvinist die Vorurteile seiner Richter [4] gegen sich hatte. Der Prozess Dreyfus hatte unmittelbare politische Bedeutung, das Vorurteil richtete sich hier gegen den Juden. In beiden Fällen hatte die verspätete Gerechtigkeit – sie wandelt oft mit einem lahmen Fusse – ein vollkommenes Umschlagen der öffentlichen Meinung zur notwendigen Folge. II. Die Frage, wie weit die Wahrheit sich durchsetzen könne, wird durch diese Beispiele dahin beantwortet, dass in der Tat ein vollkommener Sieg der Wahrheit möglich ist. Man muss aber zugleich sagen, dass auch hier 19

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Calas: Jean Calas, ein frz. Kaufmann, war Calvinist, der nach dem Selbstmord seines zum Katholizismus konvertierten Sohnes des Mordes an ihm beschuldigt wurde; er wurde verurteilt und gerädert, 1765 aber posthum freigesprochen. Voltaires Protestschrift gegen den Justizmord gehört zum Bildungsgut der Aufklärung. Prozess Dreyfus: Alfred Dreyfus, frz. Hauptmann, wurde 1894 in einem unzulänglichen (auch antisemitisch unterlegten) Prozessverfahren wegen Landesverrates zur Deportation verurteilt. Zweifel an seiner Schuld veranlassten Émile Zola zu einer international beachteten Agitation („J’accuse“) für die Revision des Prozesses, die die öffentliche Meinung in Frankreich tief zerriss. Die Revision fand 1899 statt und endete mit einem Urteil, das auf zehn Jahre Haft lautete. Nach diesem Urteil wurde er begnadigt und 1906 endgültig durch Freispruch rehabilitiert. Die belastenden Dokumente hatten sich als Fälschungen erwiesen.

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die Annäherung an das Vollkommene um so seltener und unwahrscheinlicher ist, je grösser die Widerstände, je grösser die Macht der Unwahrheit. Die Macht der Unwahrheit ist in neuerer Zeit durch die planmässige Organisation einer auf einfältige Seelen berechneten „Propaganda“ unermesslich gesteigert worden, die, mit den raffinirtesten Mitteln arbeitend, sich zutrauen kann, einen wahren Feldzug der Lüge und Verleumdung zu unternehmen. Mit Schaudern haben die Freunde der Wahrheit und Menschlichkeit erlebt, wie im Weltkriege die Fluten solcher um jene unbekümmerter, um diese heuchlerisch besorgter Propaganda über das lesende, schauende, hörende Publikum ausgegossen wurden. Die Frage der unmittelbaren Verursachung des Krieges, der Schuld an einem so furchtbaren Unheil, ist bis heute noch flüssig geblieben, obgleich in den meisten Ländern der Erde eine öffentliche Meinung, die unter dem Banne der falschen Zeugnisse und der Verleumdung stand, sie für erledigt gehalten hat. Noch wenden sich die meisten Völker mit Abscheu ab von den Deutschen als den vermeintlichen Raubmördern, die über die friedlichen Gehöfte des Zarismus und seiner harmlosen Bundesgenossen in gieriger Wut hergefallen seien. Freilich hat das dichte Lügengewebe, das gleich einem Nessusgewand um den Leib des deutschen Volkes gelegt wurde, schon eine Lockerung erfahren. Schon fühlen [5] sich die gutgläubigen Betrogenen ihrer Sache nicht mehr sicher. Das Loch in dem Gewebe erweitert sich sichtlich. Redliche Geschichtsforscher und wissende Staatsmänner, auch der feindlichen Nationen, können nicht mehr den Lichtstrahlen standhalten, die den wirklichen Tatbestand klar erkennen lassen: den Tatbestand, dass der Zarismus, wohl wissend, sein tief erschüttertes Prestige würde nur durch einen siegreichen Krieg, durch die Eroberung Konstantinopels und der Dardanellen, sich wiederherstellen lassen, der willfährigen und leidenschaftlich rohen Serben als eines Sturmbockes sich bediente und darauf rechnete, ebensowohl durch Oesterreich-Ungarns etwanige Nachgiebigkeit, wie durch seine etwanige Unnachgiebigkeit seine Ziele zu fördern und 17

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Zarismus und seiner harmlosen Bundesgenossen: 1922 veröffentlichte Tönnies das Buch „Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914“ (TG 12); bereits 1919 erschien sein Buch „Die Schuldfrage. Russlands Urheberschaft nach Zeugnissen aus dem Jahre 1914“ (TG 12). Nessusgewand: Der Sage nach raubte der Kentaur Nessos die Gattin des Herakles und wurde von diesem mit einem vergifteten Pfeil getötet. Die Frau des Herakles, die ihrerseits den Gatten für untreu hielt, bestrich dessen Hemd mit dem vergifteten Blut des Nessos, das dieser ihr kurz vor seinem Tode übergeben hatte. Es verursachte Herakles solche Qualen, dass er sich auf einem Berge verbrannte.

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zu erreichen, wenn er nur der diplomatischen und militärischen Unterstützung seiner teils offenen, teils heimlichen Bundesgenossen, die durch die Verschwörung (die „Entente„) zusammengekoppelt waren, gewiss war. Durch diese Verschwörung hatte Grossbritannien die Begierde Frankreichs ermutigt und angestachelt, die verlorenen deutschen Länder zurückzuerobern und das Deutsche Reich zu verderben. Dieser Tatbestand muss gesehen werden von Jedem, der offene wissenschaftliche Augen hat und sich nicht durch unwesentliche Nebenerscheinungen, durch gefälschte Depeschen und durch Foltergeständnisse betrügen lässt. Darum ist gewiss, dass die Wahrheit auch in dieser Schuldfrage, die an Bedeutung und Tragweite alle möglichen und wirklichen Kriminalfälle unermesslich übertrifft, in der öffentlichen Meinung der neutralen und sogar der feindlichen Länder sich durchsetzen wird, und zwar in nicht allzu ferner Zeit – wenn wir weit ausgreifen, mögen wir schätzen: im Laufe eines Menschenalters. Wie weit sie sich durchsetzen werde, das ist gerade in Fällen dieser Art fraglich, weil es mitbedingt ist durch die gesamte politische Konstellation, also durch die Machtverhält[6]nisse und durch die Parteiverhältnisse. Der Widerstand einer dem deutschen Geiste feindlichen, dem Zarismus, weil er Deutschland und Oesterreich-Ungarn angriff, freundlichen Gesinnung wird nur in dem Maasse überwunden werden, als die Einsicht sich Bahn bricht, dass das wahre „europäische Gleichgewicht“ nur dadurch gerettet und gestärkt werden konnte, dass das gesamte nichtslavische Europa einmütig gegen den wüsten und korrupten Zarismus, wie den unreifen und barbarischen Panslavismus, zusammenhielt; die Erkenntnis ferner, dass die grossbritannische Politik, von beschränkten und unwissenden Männern geleitet, die europäische Kultur verraten und zu Grunde gerichtet hat, weil der Handelsneid dem Deutschen Reiche seinen dürftigen „Platz an der Sonne“ nicht gönnte. Einsichten dieser Art können nur durch treues und unbefangenes Studium gewonnen werden; sie pflegen daher nur von einem engen Herde aus sich zu verbreiten, und zwar so langsam, dass die vergessliche öffentliche Meinung inzwischen gegen das Problem selber gleichgültiger wird. Denn sie hat für historische Fragen im allgemeinen wenig Sinn und Verständnis, es sei denn, dass solche mit Fragen des unmittelbaren sozialen und politischen Interesses eng verknüpft sind. Die Zeit wirkt in Bezug auf das Durchdringen der Wahrheit in zwiefacher Weise günstig: allmählich wird der Widerstand der Lüge und Unwissenheit schon darum schwächer,

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Platz an der Sonne: Vgl. Tönnies 1915.

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weil die Leidenschaften, die ihnen Kraft geben, verglimmen, und weil die Kraft der Wahrheit durch ihre eigene Bewegung, durch die Anziehung, die ihr objektiver Wert insbesondere auf eine frische, noch unbefangene Generation ausübt, ja durch den Enthusiasmus, den sie in ihr erregen kann, im Laufe der Zeit sich vermehrt und erhöht. Die Wut und Verlogenheit des Tages – mit Hegel zu reden (Rechtsphilosophie § 340): „das höchst bewegte Spiel der inneren Besonderheit der Leidenschaften, Interessen, Zwecke, der Talente [7] und Tugenden, der Gewalt des Unrechts und der Laster, wie der äusseren Zufälligkeit“ – schlägt in der Tagespresse und in Tagesreden nieder, tritt hier „in den grössten Dimensionen ans Licht des Tages“. Aber der Tag vertilgt das, was er geschaffen hat, die dünnen Gewebe der Meinungen (opinionum commenta delet dies), und durch die Fülle der Tage häufen sich die Samenkörner der Wahrheit und wachsen (naturae judicia confirmat). Ungünstig aber wirkt die Zeit dadurch, dass die innere Teilnahme an den weltbewegenden Ereignissen, und darum das Verständnis für ihre Katastrophen und Motive abflaut, so dass eine spätere Generation nur mit grosser Mühe, und nur in mangelhafter Weise, in die seelische Verfassung einer vergangenen Zeit sich zurückzuversetzen vermag. Es hat einen grossen und guten Sinn, die öffentliche Meinung, insofern als sie richtig beraten, der Wahrheit gemäss unterrichtet ist, ein „Gericht“ zu nennen – es hat vollends einen grossen und guten Sinn, mit Schiller und Hegel die „Weltgeschichte“ das Weltgericht zu nennen. Aber die Erkenntnisse der Gerichte werden nicht von allen vernommen, werden nur von wenigen ganz verstanden, und sie sind niemals unfehlbar. Die Wahrheit kann immer nur so weit in der öffentlichen Meinung durchdringen, als die öffentliche Meinung sie in sich aufzunehmen willig und fähig ist. Und die „Weltgeschichte“ denkt und urteilt nicht in Worten, sondern in Tatsachen. Die öffentliche Meinung vermag das nicht. Die dritte Frage, unter welchen Bedingungen es der Wahrheit gelingen möge, in der öffentlichen Meinung zum Siege zu gelangen, ist zum Teil schon durch die bisherigen Ausführungen erledigt, denn es lässt sich daraus ableiten, dass dies Gelingen um so wahrscheinlicher ist, je mehr 10 12

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„… ans Licht des Tages“: Vgl. Hegel 1929: 270. (opinionum commenta delet dies): [lat.] der Tag zerstört die Hirngespinste; vgl. Cicero 1787: 75 (vol. XVIII, De natura deorum ad Brutum, lib. II, 2). (naturae judicia confirmat): [lat.] (der Tag) bekräftigt die Urteile der Natur; vgl. ebd. das Weltgericht: Vgl. Schillers „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ (1853: 86) und Hegels „Rechtsphilosophie“ (1929: 270, § 340); als Zitat auch wiederholt von Schopenhauer benutzt.

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die Leidenschaften des Tages und der Unwahrheit sich abgekühlt haben, und je weniger sie also durch fortdauernde oder immer sich erneuernde Ursachen frische Nahrung erhal[8]ten; je mehr andererseits das Licht der Wahrheit durch emsige Forschung und planmässige Tätigkeit ausgebreitet wird: sei es, dass diese Forschung nur durch wissenschaftliche Beweggründe getragen und gefördert, oder dass sie durch persönliche und sachliche Interessen anderer Art unterstützt werde. Insonders nützlich ist offenbar der etwanige Fall, dass jene Leidenschaften, die der Unwahrheit ihre Kraft, der Unwahrhaftigkeit ihren Mut gaben, in Enttäuschungen und Ekel umschlagen, weil das Ziel, um dessentwillen sie angefacht wurden, als nicht erreicht den Blicken entschwindet. – Uebrigens aber gehören zu den Bedingungen, die dem Erfolge günstig sind, folgende: 1. Dass die zu beweisende Sache auch innerlich wahrscheinlich, also die ihr entgegenstehende Unwahrheit innerlich unwahrscheinlich sei. Denn sobald als ein nicht völlig verblendetes Urteil einsieht, dass es den Eindruck der Torheit und Einfalt macht, etwas zu glauben, was kluge Leute für unglaubwürdig halten und belächeln, so regt sich alsbald das Selbstgefühl in Gestalt der Scham, und zuletzt will es niemand gewesen sein, der „einen solchen Unsinn“ für wahr gehalten hat. Diese innere Unwahrscheinlichkeit haftet z. B. auf der ungeheuren Schuldlüge, die zur Stunde noch auf den guten Namen des deutschen Volkes und seiner Staatslenker von 1914 haftet. Für jeden Kenner der damaligen und der gegenwärtigen europäischen Machtverhältnissen, wie der beteiligten Persönlichkeiten, ist die innere Unwahrscheinlichkeit dieser Schuldlüge mit Händen zu greifen. Für die Staatsmänner des Deutschen Reiches konnte nichts erwünschter sein, als die Fortdauer und weitere Entwicklung des bestehenden Zustandes, nichts erwünschter sein aus Gründen innerpolitischer Art, wie aus solchen der auswärtigen Politik. Keine andere Grossmacht hatte ein so starkes, so unbedingtes Interesse an der Erhaltung der [9] territorialen Verhältnisse. Wer die Geschichte der letzten dem Weltkriege vorausgehenden Jahre denkend erlebt oder auch nur studiert hat, weiss, dass jene Staatsmänner schon durch den ersten Balkankrieg, den der Zarismus offenbar angezettelt hatte, tief beunruhigt waren, und wer historische Zusammenhänge zu verstehen gelernt hat, muss erkennen, dass der Balkankrieg das absichtlich gespielte Präludium des Weltkrieges gewesen ist. Auch weiss die Welt, dass schon Bismarck, und vollends seine schwächeren Nachfolger, unablässig in Besorgnis gewesen sind wegen des drohenden Krieges gegen zwei Fronten, und dass diese Nachfolger schlechthin blödsinnig gewesen wären, wenn

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sie nicht gesehen hätten, dass die Chancen eines solchen Krieges durch die englisch-französische Entente sich ungemein verschlechtert hatten; dass aber, wenn sie wirklich einen Angriffskrieg zur Rettung des Deutschen Reiches gegen die Einkreisung für notwendig hielten und die Verantwortung dafür auf sich nehmen wollten, jedes der zehn Jahre nach 1904, ganz besonders aber die Jahre 1905 bis 1907, als Russland machtlos am Boden lag, unvergleichlich günstiger gelegen hätten, als das unselige Jahr, da dasselbe Russland, sichtlich erstarkt, und sein Zarismus, den Boden unter den Füssen brennend, den noch mehr erstarkten Serbenstaat vorzuschicken wagen konnten, im Vertrauen auf den panslavistischen Fanatismus, und im Vertrauen auf die Bundeshilfe beider grossen Westmächte, die am Panslavismus gar kein Interesse, um so grösseres aber daran hatten, die deutsche Grossmacht zur Schlachtbank zu führen, wenn ihnen eine ungeheure numerische Ueberlegenheit zu Lande und zu Wasser gewiss war! – So unwahrscheinlich und unglaubwürdig also ein deutscher Angriff erscheinen muss, ebenso wahrscheinlich und glaubwürdig ist die Fortdauer, ja die Steigerung der aggressiven und panslavistischen Politik des Zarismus, die das ganze 19. Jahr[10]hundert hindurch zu Tage getreten war. Gesteigert wurde sie durch die Krisis der Autokratie: nach einer Unterdrückung von ungeheurer Gewaltsamkeit glomm das Feuer der Revolution unter der Asche weiter. Auch die dritte Duma, die durch einen Staatsstreich ihre Gestalt erhalten hatte, war gleichwohl nicht zuverlässig, wie eine Reihe von Abstimmungen, die der Regierung feindlich waren, gerade in der ersten Hälfte des verhängnisvollen Jahres deutlich erwies. Die „Oktobristen“, auf welche die Regierung sich stützen musste, verbanden sich öfter und enger mit den „Kadetten“, die der Zarismus mehr zu fürchten hatte als die sozialistischen Parteien, die durch den Terror niedergehalten wurden.

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am Boden lag: Nach dem verlorenen Russisch-Japanischen Krieg und den nachfolgenden Streikunruhen schloss Nikolaus II. mit dem dt. Kaiser Wilhelm II. am 24. 7. 1905 ein Verteidigungsbündnis, das 1907 von russ. Seite aufgekündigt wird. Eine Duma als beratendes parlamentarisches Organ sollte die autokratische Struktur des Zarenreiches beschränken. dritte Duma: D. i. die aufgrund einer Wahlrechtsänderung konservative bis reaktionäre, massiv nationalistische Duma (1. 11. 1907 bis 9. 6. 1912). Oktobristen: Das waren die „Anhänger eines streng monarchischen Konstitutionalismus“, die nach Stolypins Tode 1911 in der 4. Duma „das Zünglein an der Wage“ bildeten. – Die sog. Kadetten – d. i. die Partei der nichtsozialistischen Intelligenz liberaler und radikaldemokratischer Richtung (Abkürzung: KD, daher „Kadetten“); vgl. Tönnies 2002a: 623 (TG 14).

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Einmütig waren aber alle Parteien, mit Ausnahme der in der Duma schwach vertretenen Sozialrevolutionäre und Sozialdemokraten, mit der Regierung des Zarismus in dem nationalen und durch unmittelbare volkswirtschaftliche Interessen stark geförderten Streben nach der Eroberung von Zargrad und dem auch für Kriegsschiffe freien Zutritt zum Mittelländischen Meer; überdies ist durch das Protokoll einer geheimen Beratung der Spitzen des Staates, die im Februar 1914 statt hatte, offenbar geworden, dass unter diesen vollkommene Einmütigkeit darüber herrschte, diese hohen Ziele könnten nur durch einen europäischen Krieg erreicht werden. Dass man diesen Krieg zu entfesseln beflissen sein musste, war eine Folgerung, die in stillschweigendem Einverständnis sich von selber ergab. 2. Eine fernere natürliche und wichtige Bedingung ist nun aber, dass die innere Wahrscheinlichkeit durch äussere Zeugnisse unterstützt werde. Und diese Zeugnisse wirken um so stärker, je mehr sie innere Ueberzeugungskraft in sich tragen, denn die öffentliche Meinung lässt sich nicht auf eine kunstreiche und verwickelte Beweisführung ein. Schlussfolgerungen sind überhaupt nicht ihre [11] Sache. Sie will sehen und greifen, um zu begreifen. Zeugnisse müssen, um ihr glaubhaft zu erscheinen, klarer als das Tageslicht sein; sie müssen einen tiefen Eindruck machen, und dieser Eindruck ist um so sicherer, je mehr er nicht nur die Erkenntnis, sondern ein elementares moralisches Gefühl trifft. So war es der Fall bei der Revision des Dreyfus-Prozesses, als die schamlose Fälschung des Obersten Henry offenbar geworden war. 3. Das Gewicht der Zeugnisse wird verstärkt durch das Ansehen der Personen, die im gleichen Sinne ihre Stimme erhoben haben und erheben. Vornehme Namen und geistliche Würdenträger haben in den Ländern heutiger Zivilisation nur noch eine verhältnismässig schwache, wenn auch keineswegs eine unbedeutende Geltung – zumal in moralischen Fragen. Ihre Autorität wird aber übertroffen durch diejenige von berühmten Männern – zuweilen auch von Frauen – der Kunst und (zumal) der Wissenschaft. Ihnen traut das Publikum ein Urteil zu, das viele andere Urteile aufwiegt, und mancher Geringere, der keck seine „unmassgebliche Meinung“ aussprach, wird durch so gewichtige Stimmen eingeschüchtert, mancher, der

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Zargrad: D. i. Konstantinopel (Istanbul), wegen der besonderen Bedeutung der Meerengen am Schwarzen Meer das Hauptziel der russ. Eroberungspolitik.

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sonst den lauten Schreiern nachlief und, was sie ihm vorredeten, nachsprach, wird in seiner Zuversicht erschüttert und bereitet sich im Stillen vor, ins andere Lager überzugehen, wenn nicht gar ein ganzer Haufe „mit fliegenden Fahnen“ hinüberläuft, nachdem das Gefühl der Unhaltbarkeit bisher eingenommener Stellung zu der Frage übermächtig geworden ist. 4. In der Regel wird aber auch zu den Bedingungen des Sieges der Wahrheit gehören, dass für sie gearbeitet und gekämpft wird. Der Kampf erfordert Kampfmittel, und diese Mittel sind nicht nur geistige, sondern auch materielle Mittel. Es müssen also Opfer dafür gebracht werden. Für den Erfolg macht es keinen wesentlichen Unterschied, aus welchen Beweggründen der Kampf aufgenommen und geführt [12] wird. Es ist denkbar, dass rein egoistische Interessen von Individuen oder Gruppen oder Parteien ihn leiten, ja es können unlautere Gründe dabei mitwirken. Aber gewiss ist, dass ein solcher Kampf nicht nur seinen Charakter, sondern auch die Wahrscheinlichkeiten seines Sieges verbessert, je mehr er von idealen Motiven, und also von einem guten Gewissen, dem Glauben an eine gute Sache, gehoben und inspirirt wird. Dieser Glaube stärkt Kraft und Mut jedes Kämpfers. Was nun in einem solchen Kampfe ein einzelner Mensch zu leisten und durchzusetzen vermag, dafür bieten die Beispiele Voltaires und Zolas gute Gewähr. Wenn Fälle dieser Art selten sind, so ist doch seinem Wesen nach ein Kampf für die Wahrheit einer Tatsache oder die Unwahrheit einer Schuld nicht verschieden von dem – häufigeren – Kampfe für die Wahrheit einer Lehre, und dieser wiederum nicht, wenn er einer wissenschaftlichen Wahrheit gilt, von dem für eine subjektiv behauptete Wahrheit, die gleich einer objektiven bestimmte psychologische, insonderheit sittliche Wirkungen hat. Aber auch der beste Kämpfer für seine Wahrheit muss Hilfskräfte um sich versammeln. Planmässiges Zusammenwirken ist erforderlich. Die öffentliche Meinung muss von verschiedenen Seiten angegriffen und der Bearbeitung unterworfen, wenn möglich zur Uebergabe genötigt werden. Und zwar muss dies durchaus mit Beschleunigung geschehen: ehe das feindliche Urteil feste Wurzel geschlagen hat, lässt es mit desto geringerer Mühe sich ausreuten. Zugleich aber muss diese Arbeit mit Vorsicht und mit Takt unternommen werden. Das Publikum darf die Absicht nicht zu peinlich empfinden, um nicht verstimmt zu werden. Wie männiglich bekannt ist, und wie schon angedeutet wurde, 32

ausreuten: altes Wort für „austilgen“; vgl. Grimms „Deutsches Wörterbuch“ (1854: 1. Bd., 934 f.).

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giebt es für die öffentliche Meinung längst ein Instrument von mächtigem Wiederhall in der Literatur wie in der öffentlichen Rede; das gewaltigste Instrument aber, und ein immer [13] furchtbarer gewordenes, hat sie erst im 19. und 20. Jahrhundert durch das Zeitungswesen erhalten; dem sich mit zuweilen noch stärkeren Wirkungen die Filmindustrie angeschlossen hat. Werkzeuge aller Mächtigen, daher der Geldmächtigen, der politisch Mächtigen, der Geistesmächtigen: jede Gruppe ist um so mächtiger, je mehr sie durch beide andere, oder wenigstens durch eine von diesen, unterstützt wird, aber für sich allein ist in der Regel die erste, zuweilen, aber recht selten, die dritte die mächtigste. Die Presse, wie die gesamte Literatur, gehört ihrem Wesen nach zu den Geistesmächten, aber sie steht tatsächlich, und mit ihr ein grosser Teil der wissenschaftlichen Literatur, im Dienste der ökonomischen Mächte; was nicht notwendigerweise, aber allzu leicht, ihre Verderbnis, die „Korruption“, im Gefolge hat. Mit den politischen Mächten sind die geistigen Mächte ihrer Natur nach näher verwandt, aber auch hier entstehen Abhängigkeiten, die zu Fesseln werden. Auch der Kampf um die Wahrheit, und die Chancen ihres Sieges, sind an diese Bedingungen und Umstände des sozialen Lebens gebunden. Es erhellt daraus, dass der abstrakte Kampf um die Wahrheit zugleich ein Kampf um die Freiheit, die Unabhängigkeit und Würde des geistigen Lebens ist. Je mehr sich ihm die politischen Mächte und die ökonomischen Mächte unterordnen, um so mehr läutern und heben sie selber ihre Ziele und ihren Wert. Dadurch ist die Reform der Presse, welche heute allzu oft, in allzu gefährlicher Weise, ein Gerät feindseliger Leidenschaften, gemeiner und niedriger Interessen und der planmässig organisirten Unwahrheit ist, eine grosse und dringende Kulturaufgabe geworden. Je mehr sie aus eigenem inneren Bedürfnis, aus der Erkenntnis ihrer Würde, die in der Menschheitswürde beschlossen ist, an ihrer eigenen Reinigung und Veredlung arbeiten wird, um so mehr wird sie dazu mitwirken können, den Einfluss der Unwahrheit [14] auf die öffentliche Meinung zu vermindern und eben dadurch die Bedingungen für das Durchdringen der Wahrheit zu verbessern. In unserer Zusammenfassung dürfen wir sagen, dass die Wahrheit um so bessere Aussicht hat, Nacht und Nebel des Irrtums und der Lüge zu durchbrechen, je stärker die Ueberzeugung vom unbedingten Wert der richtig verstandenen Wahrheit, je lebendiger daher das wissenschaftliche Bewusstsein, je entschlossener der Wille, für die Wahrheit zu leben und tätig zu sein, in der Menschheit sich gestaltet. Am stärksten aber wirkt auf die öffentliche Meinung, und kann ihr als ein religiöses Mysterium sich einprägen: die Entschlossenheit und Entsagung, für die Wahrheit, die

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der Prophet zu wissen und zu kennen überzeugt ist, zu leiden und zu sterben. Das Martyrium macht sich in grossen Epochen als überwältigender Beweisgrund geltend.

[Zusammenkunft der pädagogischen Abteilung der Liga für Völkerbund]

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In Wetzlar a. d. Lahn, der alten Reichsstadt, die durch Goethes Jugend dauernde Jugend empfangen hat, fand vom 5. bis 7. Aug. eine Zusammenkunft von Deutschen mit Engländern u. Amerikanern statt, wol die erste ihrer Art seit 5 Jahren auf deutschem Boden. Die paedagogische Abteilung der Liga für Völkerbund hatte Einladungen dazu versandt und stellte zur Beratung, wie der sog. Pazifismus durch Verbesserungen der ethischen Voraussetzungen dauernden Friedens sich vertiefen lasse. Je 2 englische Frauen und Männer und eine Amerikanerin gehörten der berühmten Gemeinde der Quäker an, die sich selber Gesellschaft der Freunde (d. h. der Wahrheitfreunde) nennt; zu ihnen kam noch ein junger Amerikaner, der dieser Gemeinde meistens nahe steht, und ihrem Ausschuß sich angeschlossen hatte, der seit 2 Jahren in der Gegend von Verdun am Wiederaufbau des Landes tätig ist. Die englischen Quäker, die dem Kriege grundsätzlich feind, immer beflissen sind, der Humanität die Ehre zu geben, haben auch um deutsche Gefangene u. Internirte, wie um notleidende Deutsche, die in persönlicher Freiheit dort geblieben waren, sich Verdienste erworben, die wir dankbar anerkennen dürfen. Sie sind auch jetzt ernstlich beflissen, gangbare Wege zu erforschen, um im Laufe der Zeit eine Versöhnung zwischen ihrer Nation und der unseren zu bewirken; sie erkennen, daß es [2] zu diesem Behuf unerläßlich notwendig ist, Deutschland die Möglichkeiten des Lebens wiederzugeben; man darf sagen, sie wissen, daß der Versailler Frieden unhaltbar ist, ein Unding und ein Ungeheuer, das neue Kriege in seinem Schoße birgt. Ich folgte einer Anregung Prof. Natorp’s, des Verfassers der bald in 42. Auflage erscheinenden „Sozialpaedagogik“, als ich an dieser Versammlung

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[Zusammenkunft der pädagogischen Abteilung der Liga für Völkerbund]: Textnachweis: TN, Cb 54.33:16. – Eigenh. Manuskript-Fragm. (in 8°), S. 1−10, ohne Kopftitel oder Überschrift. Entstanden 1919 aus Anlass der Teilnahme an der Zusammenkunft der pädagogischen Liga für Völkerbund in Wetzlar an der Lahn am 5.−7. August 1919. Näheres s. Editorischer Bericht S. 631 f. Sozialpaedagogik: Vgl. Natorp 1920.

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teilnahm. Unsere gemeinsame Absicht ging dahin, dem GenossenschaftsGedanken in diesem Kreis Bahn zu brechen. Ich für meine Person habe an den Pazifismus sehr geringen Glauben, so lange als es noch „böse Nachbarn“ gibt. Ich nehme aber gern an allen Bemühungen teil, die Verhältnisse zwischen den Nationen für den Frieden günstiger zu gestalten, als sie bisher gewesen sind. Sie müssen vorwiegend auf politischem Gebiete sich bewegen, es ist aber auch eine wichtige Aufgabe und eine [..] Aufgabe der Volkserziehung. [3] In die Beratungen, deren Programm wesentlich paedagogischen Inhalt hatte, dies Element hineinzubringen war nun freilich nicht leicht. Den Anwesenden die wohl alle von hohem Idealismus erfüllt waren, dürfte der Gegenstand ziemlich fremd gewesen sein; Interesse dafür wurde allerdings wach, aber Zeit und Erwägung konnte ihm nicht soviel gegönnt werden, wie er in Anspruch nehmen wollte. Ich stand mit meinem Anspruch nicht allein, Unterstützung fand er natürlich durch Natorp, aber auch unser gemeinschaftlicher Freund Staudinger, der leider seine Gegenwart versagen musste, hatte eine Reihe von Thesen eingesandt, die ich noch in letzter Stunde durch Verlesung in die Versammlung hineindrückte, nachdem ich schon am ersten [..] das Thema mit starker Betonung angeschlagen hatte. Staudinger’s Thesen mündeten in den Satz, dass der Friede von selbst komme, wenn die Menschen in Erkenntnis und sittlichem Wollen reif geworden seien, die Grundlagen dazu in geordneter endlich weltbürgerlicher Gemeinschaft der Für[4]einanderarbeit zu legen. Vorher aber und ohne das bleibe aller Pacifismus eine Fata Morgana. Wenn ich nun hier eine eigene Ausführung des gleichen Grundgedankens folgen lasse, die man als eine Rede die dort gehalten wurde, vorstellen möge, so soll dabei für den Wortlaut keine Gewähr geleistet werden. Lieber ist mir wenn man versteht: die Rede hätte so gehalten werden können und sollen, und dass ich jedenfalls in diesem Sinn und Geiste mehrmals gesprochen habe; auch in Gesprächen, wobei sich besonders von der führenden Quäkerfrau, Miss Fry, lebhafte Zustimmung und Teilnahme ergab. Dass Staudinger’s Sätze 1 4

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ging dahin: unsichere Lesart; möglicherweise auch: ging daher. „böse Nachbarn“: Vgl. Schiller 1854: 137 (Wilhelm Tell IV, 3): „Es kann der Frömmste nicht in Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“. wichtige Aufgabe: Unsichere Lesart: wichtige. und eine [..]: Unsichere Lesart, lies möglicherweise: neue. schon am ersten [..]: Unsichere Lesart; lies möglicherweise: ersten Tag. Fata Morgana: Am Rande weist ein Zeichen darauf hin, dass hier ursprünglich ein Absatz geplant war.

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im gleichen genossenschaftlichen Sinne gehalten waren, brauche ich kaum hin[5]zuzufügen __________________

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Wenn gleich hier keine Politik geredet werden soll, so muss ich doch mit etwas beginnen, was sehr politisch klingt, nämlich mit einer moralischen Verteidigungsrede, ohne die ich als Deutscher nicht mit Ausländern in Verkehr treten kann. Es ist uns Deutschen während des Krieges, wie nach dessen Ende, ein unermessliches Unrecht getan worden, Schimpf und Schande ist auf uns gehäuft, weil wir angeblich den Weltkrieg gewollt haben, und weil unsere Feldherrn in der furchtbaren Not eines Krieges gegen 2 Fronten das Unrecht auf sich nahmen, einem Lande, dessen Neutralität vor 75 Jahren gewährleistet war, den Krieg zu erklären. Ich muss sagen, dass das deutsche Volk so friedliebend gewesen ist, wie irgend eine andere Nation, jedenfalls friedliebender als die Russen, die in immer wachsender innerer Unruhe Krieg auf Krieg gedrängt haben, [6] ja dass wir mehr als ein anderer europaeischer Staat in Folge unserer glänzenden wirtschaftlichen Entwicklung seit der Errichtung des Neuen Deutschen Reiches, Ursache hatten, uns des Friedens zu freuen, den Frieden zu schätzen, und beflissen zu sein, ihn zu bewahren. Aber eine gemeinsame Schuld an dem unermesslichen Weltunheil lastet auf allen Völkern, wenigstens auf den Führerschichten aller Völker, die für deren Schicksal eine schwere Last der Verantwortung tragen müssen. Das ist die Schuld, dass sie viel zu sehr nach aussen den Blick gewandt haben und viel zu wenig nach innen! Viel zu sehr waren sie darauf erpicht ihren Vorteil ja ihr Heil in der Blüte des auswärtigen Handels, in der Vermehrung und Erweiterung des Absatzes ihrer Produkte [7] zu suchen, den Kampf um den Weltmarkt zu ihrem Lebensgesetz zu machen – um die Rückwirkungen auf die Volkszustände kümmerte man sich wenig. Dieser glühende Wettbewerb machte auch die Nationen zu Feinden, die am meisten auf einander angewiesen waren, die sonst an beiderseitiger Blüte ihrer Volkswirtschaft und Bildung das lebhafteste Interesse hatten. Allzuwenig Verständniss hatte man hüben wie drüben für die Bestrebungen und Bewegungen der Arbeiterklasse, die eine immer mehr sich verschärfende Gegenwirkung ge-

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den Krieg zu erklären: Gemeint sind Einmarsch und Besetzung Belgiens durch deutsche Truppen am Anfang des 1. Weltkrieges. Durch die Londoner Konferenz 1831 wurde die dauernde Neutralität Belgiens durch die fünf Großmächte (darunter der Rechtsvorgänger des Deutschen Reiches, Preußen) gewährleistet.

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gen das atemlose Treiben der kapitalistischen Produktionsweise seit mehr als einem halben Jahrhundert darstellen. Freilich gab es Sozialpolitik und Sozialreform: bedeutsame und segensreiche Neuerungen sind ins Leben getreten; aber sie haben das Wesen des wirtschaftlichen [8] Lebens nicht erreicht und nicht zu verändern vermocht. Es war auch nicht möglich dies mit einem Schlage umzuwandeln; damals nicht, wie es heute nicht möglich ist, wenn auch damals viel mehr mit Erfolg in dieser Richtung – der ‚Sozialisirung‘ – hätte unternommen werden können, als in der gegenwärtigen Phase wenigstens unseres deutschen Lebens, wo wir jedes Misslingen bitterlich büssen müssen. Wenn auch der Widerstand gegen die Tendenzen des Sozialismus zum grössten Teile aus den Interessen des Kapitalismus und den Denkgewohnheiten, die darin wurzeln, abzuleiten ist, so ist er doch auch durch heftige und leidenschaftliche Agitationen genährt worden, die in massloser Weise anklagten und beschimpften, ohne dass sie Kenntnis der gangbaren Wege verrieten, die zu besseren und zugleich dauerfähigen Zuständen führen würden. [9] Wenn dies anerkannt werden muss, so ist um so mehr zu bedauern, dass so geringes Verständnis der Idee zu Tage getreten ist, die im Genossenschaftswesen liegt, das durchaus im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung eine neue Gesellschaftsordnung anbahnt, die, was man auch sonst über ihre Vorzüge und Mängel urteilen mag, sicherlich ihrem Wesen nach friedlicher ist als die des kapitalistischen Handels und der kapitalistischen Produktion. Wie konnte man hoffen, dass so etwas wie Gemeinschaftsgeist zwischen den Nationen gedeihen sollte, so lange es so schwachen Gemeinschaftsgeist innerhalb jeder grossen Nation gibt? Die Genossenschaft ist dazu angetan, solchen Geist in sich zu erzeugen, weil sie ohne ihn nicht leben kann, weil in ihr der Gegensatz in Kapital und Arbeit, der alle anderen menschlichen Beziehungen zersetzt hat, der Idee nach aufgehoben ist; denn wenn auch die Angestellten der Konsumvereine, die Arbeiter in den produktiven Betrieben [10] die von diesen oder von ihren Einkaufvereinen errichtet wurden, ihre Interessen geltend machen, und es zuweilen in einer Weise tun, als ob sie wirklich „das Kapital“ sich gegenüber sähen, wie ihre Kollegen in anders gearteten Unternehmungen, so beruht dies doch teils auf offenbaren Irrtümern, die durch bessere Kenntnis und Erfahrung berichtigt werden können, teils rührt es daher, dass die Genossenschaften in der Tat noch nicht stark genug sind und noch zu schwer um ihr Dasein und ihre Zukunft zu ringen haben, um schon „ideale“ d. h. so gute Arbeitsbedingungen darzubieten, wie sie es um so mehr werden leisten können, je weiter sie fortschreiten, je stärker

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sie werden, je mehr sie sich zu verallgemeinern vermögen. Ihr Ziel und Zweck ist allerdings nicht in erster Linie, dem Individuum zu dienen, das ihnen dient – diese Gegenseitigkeit […]

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diese Gegenseitigkeit […]: Abbruch des Textes; restliche Seiten fehlen.

Wunderglaube und Wissenschaft in der sozialen Frage

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Dass Wunderglaube und Wissenschaft in einem regelmässigen Gegensatz zu einander stehen, ist wohl allgemein bekannt. Vergegenwärtigen wir uns einmal, worin dieser Gegensatz zu Tage tritt. 1. Wunderglaube hält jedes beliebige Ereignis durch den Eingriff übersinnlicher Mächte für möglich. Wissenschaft hält nur für möglich, was mit den allgemeinen Bedingungen des Geschehens, mit den Naturgesetzen, soweit sie uns bekannt geworden sind, übereinstimmt.

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2. Wunderglaube hält zukünftige Ereignisse für wahrscheinlich, wenn übersinnliche Mächte durch menschliche Mächte bewogen werden, sie herbeizuführen, insbesondere Ereignisse, die man wünscht, wenn man es versteht, die Gunst solcher Mächte zu gewinnen. Wissenschaft hält nur für wahrscheinlich, was gegenwärtige Kräfte bewirken können, wenn diejenigen Bedingungen, die einem zukünftigen Ereignis günstig sind, die ungünstigen Bedingungen überwiegen. 3. Wunderglaube wähnt, dass auch menschliche Kräfte, sei es mit übernatürlichem Beistand, sei es durch sich selber, Beliebiges vermögen, wenn der Mensch „nur will“, und dass sie jeden Widerstand überwinden können durch Zwang und Gewalt, wenn nicht durch Zauber. Zauber ist das eigentliche Gebiet des Wunderglaubens, und als mächtigstes Zaubermittel gilt die geheimnisvolle Kraft des Wortes, z. B. der Beschwörungsformel, die Geister bannt und Geister reden macht. Wissenschaft lehrt, dass alles menschliche Können, alle Herrschaft über die Natur, bedingt ist durch Erkenntnis, und dass Erkenntnis nur durch Beobachtung, Forschung, Den1

Wunderglaube und Wissenschaft in der sozialen Frage: Textnachweis: TN, Cb 54.34: 67. – Typoskript in 4°, S. 1−8, mit eigenh. Korrekturen. Links über dem Kopftitel: „Zum Abdruck und Übersetzung angeboten vom Verfasser.“ Unter dem Titel: „von Professor Ferdinand Tönnies – Kiel.“ Das Nachlassverzeichnis von Else Brenke (1935) verzeichnet den Text unter Nr. 751: „vermutlich ungedruckte Manuskripte“. Er ist wohl kurz nach dem 1. Weltkrieg – etwa 1920 – entstanden.

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ken gewonnen wird. „Die Natur wird nur dadurch besiegt, [2] dass man ihr gehorcht“, hat ein Vertreter der Wissenschaft gesagt. Darum muss auch die menschliche Natur, die menschliche Seele beobachtet, erforscht, verstanden werden, wenn man sie richtig behandeln will. Der Kurpfuscher ist ein „Wunderdoktor“. Der Erfolg scheint ihm zuweilen recht zu geben, und der Wunderglaube lässt sich immer von Neuem irreführen durch die falsche Schlussfolgerung, dass etwas, was folgt, durch etwas, was unmittelbar vorherging, bewirkt worden sei, wenn es in Wirklichkeit durch etwas ganz anderes, was längst vorherging, bewirkt wurde. Der Arzt weiss ganz genau, dass er nur insoweit, als er den tierischen oder menschlichen Körper kennt, ihn, wenn er aus dem Geleise geraten ist, ins Geleise wieder zurückführen kann, „mit Gottes Hilfe“, d. h. wenn die allgemeinen Lebensbedingungen dieses Körpers seine Handlung, sein Verfahren begünstigen. 4. Wunderglaube erwartet immer, was er wünscht und erhofft; er erwartet, dass es rasch komme, plötzlich komme, das Wünschen selber soll helfen, wenn nicht mehr geglaubt wird, dass Beten und Opfern hilft. Der Wunderglaube überlebt den religiösen Glauben. Wissenschaft weiss, dass plötzliche Veränderungen sehr selten und unwahrscheinlich sind, dass sie nur unter ganz besonderen Umständen eintreten, deren Wesen und Ursachen meistens unbekannt sind, zu deren Herbeiführung jedenfalls das blosse Wünschen und Hoffen so wenig nützt wie Beten und Predigen; dass es daher zweckmässiger ist, nicht damit und darauf zu rechnen, sondern das zu erstreben, was man durch Tätigkeit, durch Arbeit erreichen kann, und, wenn die Tätigkeit, die Arbeit richtig getan wird, nachhaltig, geduldig, vorsichtig getan wird, mit Sicherheit erreicht wird. Wissenschaft lehrt, auf Grund der Erfahrung, dass in der Regel nur langsame, [3] allmähliche Veränderungen geschehen, dass namentlich aber nur solche von dauerndem Nutzen sind, besonders wenn es sich um organische lebende Wesen handelt, seien es Pflanzen, Tiere oder Menschen. Sie wollen ihren natürlichen Anlagen und Fähigkeiten gemäss behandelt werden, die in ihren „wunderbaren“, in Wirklichkeit aber gerade natürlichen Wirkungen den grössten menschlichen Künsten überlegen sind. Wissenschaftliche Kunst kann schon organische Stoffe aus unorganischen herstellen, aber noch keinen lebendigen Organismus selber, und auch jene Kunst ist sehr beschränkt; auch wenn sie noch so weit fortschreitet, bleibt sie an die Gesetze des Werdens, des Wachstums und Vergehens gebunden. 2

„…, ihr gehorcht“: Vgl. Bacons „Neues Organon“ (1990: 271).

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Im allgemeinen hat der Wunderglaube in neueren Zeitläuften sich stark vermindert, der Glaube an die Wissenschaft hat fortwährend zugenommen und sich vermehrt. Aber der Wunderglaube erhielt sich in vielen Ecken und Winkeln, er nistet sich immer wieder und am liebsten in den Gebieten ein, die dem menschlichen Hoffen und Wünschen am nächsten liegen. Die Mutter, die um das Leben ihres Kindes bangt, geht zum Wunderdoktor, oder sie erwartet vom Arzt, dass er Wunder wirke. In Angst und Not wendet auch manches ungläubige Gemüt sich zum Gebet und erwartet übernatürliche plötzliche Erlösung von seiner Qual. So ist es auch im sozialen Leben, so in der sozialen Frage. Ein altes Weisheitswort sagt: „Um ein Urteil über das Gemeinwesen zu fällen, ist die Hauptsache, dass man das Gemeinwesen kenne.“ Das ist im Sinne der Wissenschaft gedacht. Aber je grösser die allgemeinen Sorgen, die Unzufriedenheit, das Ringen um bessere Zustände, um so mehr will man auch ohne Kenntnisse urteilen, und glaubt zu wissen, wie es gemacht werden müsse. Das ist im Sinne des Wunderglaubens gedacht. Der Wunderglaube ist im Gebiete der [4] sozialen Frage und der Staatsangelegenheiten noch sehr lebendig, er lebt immer wieder auf und ist nicht leicht ins Weichen zu bringen. Betrachten wir einmal Wunderglauben und Wissenschaft unter den benannten 4 Gesichtspunkten. 1. Der soziale Wunderglaube hält für möglich, dass das ganze verwickelte Netzwerk der Volks- und Weltwirtschaft zerstört werden könne, und dass dann einige Formeln und eine kluge Gesetzgebung es in viel besserer und schönerer Gestalt wieder herzustellen vermögen. Wenn es, wie gegenwärtig der Fall, schon grosse Löcher hat, so meint der Wunderglaube, man müsse die Löcher noch weiter reissen, und von dem Netze nichts übrig lassen ausser den nackten Fäden; dann werde man um so gewisser die Fäden zu einem neuen Netzwerk zusammenschiessen lassen. Die soziale Wissenschaft erklärt dies für unmöglich, auch wenn der Wunderglaube wissenschaftliche Begriffe und wissenschaftliche Mittel anwenden will. Der soziale Wunderglaube ist für das wissenschaftliche Denken, wie jeder Wunderglaube, ein Kinderspiel. Das Kind zerstört sein Spielzeug und läuft zur Mutter, die es wieder heilmachen soll; das mag notdürftig gelingen, je mehr aber das Kind „radikal“ verfährt, um so gewisser ist es, dass die Kunst der Mutter und sogar die des kundigen Handwerkers versagt. 2. Der soziale Wunderglaube hat mit der soziologischen Wissenschaft, die bei weitem nicht so entwickelt ist, wie es die Naturwissenschaften sind,

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gemein, dass er im Geiste unserer Zeit seine Wurzeln hat. Daher wird er kaum je von übersinnlichen Mächten das Heil erwarten. Wohl aber pflegt auch er Ereignisse, die in Wirklichkeit sehr unwahrscheinlich sind, darum für wahrscheinlich zu halten, weil er sie wünscht. Z. B. eine Weltrevolution, die mit [5]einem Schlage allem Leiden und Sorgen des Proletariats, ja der ganzen Menschheit ein Ende machen würde. Der wissenschaftlich, also besonnen Denkende, ob er dies Ereignis wünschen oder verwünschen möchte, musste es in den siegreichen Ländern Europas, vollends in den Vereinigten Staaten von Amerika als schlechthin ausgeschlossen erkennen. Auch im Deutschen Reiche und in Oesterreich-Ungarn war ein Gelingen, zumal dauerndes Gelingen einer Bewegung, die in dem eben noch zaristischen Russland ihren Herd hatte, ausserordentlich unwahrscheinlich. Die grosse Mehrheit der industriellen Arbeiterklasse in diesen Ländern war durch politische und gewerkschaftliche Schulung, die sich über fünf Jahrzehnte erstreckte, an die Einsicht gewöhnt worden, dass eine plötzliche Umgestaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung, da, wo sie hoch entwickelt ist, nur verderbliche Folgen haben kann. Es ist sehr bezeichnend für die Sache, dass ein vorübergehender Sieg der Räterepublik gerade in Ungarn und in Bayern geschehen konnte, in zwei Ländern also, deren Volkswirtschaft vorzugsweise agrarisch ist, wie in noch höherem Grade die Volkswirtschaft Russlands, und dass in den kurzlebigen Putschregierungen, die Schicht, die ihr Ideal wissenschaftlichen Sozialismus nennt, kaum, um so mehr aber eine Literatenschar vertreten war, die als von sozialem Wunderglauben erfüllt sich blossstellte. 3. Der soziale Wunderglaube tritt in ausgesprochenster Weise hervor als der Wahn, dass mit Worten, Formeln, Resolutionen, Paragraphen, Diktaten sich alles beliebige bewirken lasse. Er glaubt an Gesetze, – nicht an die unerbittlichen ehernen Gesetze der Natur, denen auch das menschliche Leben sich nicht entziehen kann, – sondern an die von Menschen für Menschen gegebenen Gesetze, von denen der soziale Wunderglaube eben Wunderwirkungen erwartet, z. B. allgemeine Glückseligkeit und Zufriedenheit. Wissenschaftliches [6] Denken erkennt, dass die meisten 18

Räterepublik: Im Zuge der Nachkriegswirren wurde am 7. 4. 1919 in München die Räterepublik Bayern durch Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte ausgerufen und kurz danach – seit dem 1. Mai – von Freikorps blutig nieder geworfen. Ungarn wurde nach der Entscheidung der Alliierten, Siebenbürgen an Rumänien abzugeben, seit dem 21. 3. 1919 von Kommunisten und Sozialisten regiert und blieb bis zum 1. 8. 1920 eine Rätediktatur.

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Gesetze auf Widerstand stossen, dass sie oft ungestraft übertreten, öfter umgangen werden, und dass auch angedrohte Strafen, selbst wenn sie zum Vollzug gelangen, oft nur schwache Wirkungen haben, im Vergleich mit den Vorteilen, die dem Uebertreter oder Umgeher des Gesetzes sich darbieten; dass aber, auch wenn die Durchführung des Gesetzes gelingt und den gewünschten Erfolg hat, regelmässig, wie mit einer scharfen Medizin, unerwünschte Nebenwirkungen damit verbunden zu sein pflegen, die man zuweilen voraussehen kann, zuweilen erst durch schmerzliche Erfahrungen kennen lernt. 4. Dass der soziale Wunderglaube erwartet, was er wünscht, wurde schon unter 2. angedeutet; auch der Glaube an die sichere Wirkung von Gesetzesformeln gehört in das gleiche Gebiet. Wir meinen aber hier noch ganz besonders den Glauben, dass die soziale Entwicklung von selber, durch ihre eigene Steigerung an einem gewissen Punkte das Kapital gleichsam zum Abdanken nötigen und mit der politischen Macht die soziale Führung in die Hände des Proletariats spielen werde: was auch immer das Proletariat inzwischen getan und geschaffen habe, zu welchem Grade der Reife seines Verstandes und der sittlichen Reife es auch gelangt sein möge. Die soziale Wissenschaft hingegen lehrt: wie nahe man auch zuletzt einem solchen Ziel zu kommen hoffen dürfe, dass jedenfalls jeder Fuss breit Erde, den man gewinnen will auf diesem Felde, durch emsige geduldige Tätigkeit erkämpft werden muss. In diesem Sinne betrachtet die Soziologie das Genossenschaftswesen, die Kooperation, als ein Kampfmittel, das ökonomisch kräftig, moralisch unanfechtbar, politisch gesund, wirklich ein Stück neuer Gesellschaftsordnung innerhalb der alten bedeutet, und zwar ihre Verjüngung. Aber man muss auch wissen, dass die Genossenschaft bisher selbst da, wo sie das beste Gedeihen gefunden hat, nur ein zarter Keim [7] in einer ihm fremden Erde ist, und dass dieser Keim nur durch sorgsamste Pflege zu einem Baum heranwachsen kann, unter dessen Schatten wir wohnen, und dessen Früchte wir geniessen können. Dies Gleichnis möge uns ansprechen, aber es ist nur ein Gleichnis. Der Keim selber ist nicht ein Gegenstand ausser uns, sondern er ist unser eigenes Wollen, ist der genossenschaftliche Geist, ein Geist, der sich in der Welt entfesselter Interessenkämpfe fremd und bedrückt fühlt, der in diesen Kämpfen selber zu kämpfen genötigt ist. Der soziale Wunderglaube kann heilsam wirken, wenn er etwas erstrebtes, welches möglich, aber wenig wahrscheinlich ist, für gewiss oder wenigstens sehr wahrscheinlich schätzt. Oft stärkt er das Selbstvertrauen

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und den Mut, dessen im Kampfe jeder bedarf. Er trügt vielleicht, wie jede enthusiastische Hoffnung trügen kann, aber ein deutsches Sprichwort sagt: „Hoffnung lässt nicht zu Schanden werden“, und Goethe nennt sie die edle Treiberin, Trösterin, er nennt sie seine stille Freundin, die ältere, besonnene Schwester der Phantasie. Diese Hoffnung wollen wir nicht verbannen, sie vielmehr pflegen und fördern. Etwas anderes ist es, wenn der soziale Wunderglaube das für wahrscheinlich, oder wohl gar für gewiss hält, was der Natur der Dinge und der Menschen nach unmöglich ist. Hier ist blinde und törichte Hoffnung Warten auf das Kommen des Wunderbaren. Sie macht nicht mutig und tatkräftig, sondern träge und müssig. Ihr vor allem gilt die Kritik des wissenschaftlichen Denkens. Wer in irgend einem Sinne zu einer Führung sich berufen fühlt, wer die Verantwortung für wichtige Handlungen trägt, darf sich an keiner Art von Wunderglauben genügen lassen. Ihm dienen auch moralische Eigenschaften der besten Art, trotz ihres unermessliches Wertes, nicht allein, und auch die besonnene Hoffnung kann ihm verderblich werden. Er muss denken und immer wieder denken. In Anwendung auf das Genossenschaftswesen bedeutet dies, dass seine [8] Führer nach strengen wissenschaftlichen Grundsätzen verfahren müssen, um wesentliche und dauernde Erfolge zu erzielen. Zu diesen Grundsätzen gehört aber auch, dass sie dem sozialen Wunderglauben überall da, wo er als Hemmung des stetigen Fortschritts wirkt, mit aller Entschiedenheit entgegen arbeiten.

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„… zu Schanden werden“: Vgl. Paulus (NT Römer 5,5): „Wir sind allzumal Sünder. Hoffnung (aber) läßt nicht zuschanden werden“. besonnene Schwester der Phantasie: Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden.

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[37] einige (zum Teil spezifisch deutsche) Verhältnisse, daher eine veränderte Einstellung dadurch für begründet, dass heute – in Deutschland – der Arbeiterklasse nicht nur Gleichberechtigung sondern zum Teil noch mehr zugestanden werde. Demnach wäre diese Einstellung nicht durch Prinzipien sondern durch zufällige Umstände bedingt. Man wird darauf entgegnen müssen: 1. Dass die wirkliche Aufgabe der Wissenschaft jedenfalls nicht Parteinahme aus Sympathie oder Antipathie ist, sondern objektive Erkenntnis dessen was ist, was werden will und werden kann, des Notwendigen und des Wahrscheinlichen. 2. Darum war es ebenso ein Missverständnis, dass die Wissenschaft soziale Reformen vorschreibe oder gutheisse, wie das entgegengesetzte Dogma, das vor fünfzig Jahren zumal in England noch ungebrochene Kraft besass, die politische Ökonomie verbiete alle Sozialpolitik als einen plumpen Eingriff in das heilsame Walten der wirtschaftlichen Naturgesetze. 3. Das Streben nach Wahrheit und das Streben nach Gerechtigkeit sind ihrem inneren Wesen nach identisch. Dadurch allein gewinnen die Ansprüche des wissenschaftlichen Menschen innerhalb der Kämpfe von Klassen und Parteien Gehör zu finden, ihre höhere Bedeutung. Gegen die sachlichen Ausführungen Herkners wäre bei seiner unzweifelhaft redlichen Meinung dem gegenwärtigen Volksinteresse Deutschlands zu dienen, kaum etwas einzuwenden, wenn sie zugleich vom Sinne der Gerechtigkeit erfüllt wäre, anstatt von einseitigem Missfallen an der Politik derer, die – ohne Zweifel ebenso einseitig – die von Herkner sogenannten Handarbeiterinteressen vertreten; er meint sogar sie als die Interessen einer Minderheit abtun zu dürfen. Wäre die verstimmte Stimme eines hervorragenden Gelehrten der Entscheidung eines Gerichtes gleichzusetzen, so müsste ein höheres Gericht, auf Anrufung, diese Entscheidung aufheben.

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[Über Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland]: Textnachweis: TN, Cb 54.34: 10. – Typoskript (Fragment) in 4°, S. 37−47, mit eigenh. Korrekturen. Auf der Rückseite von S. 46 eigenh.: „Über Entwicklung der Sozialpolitik in Dtschl. (ungedruckt, Teil) unvollständig“. Entstanden 1923. Näheres s. Edit. Bericht S. 632 f.

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An die Stelle solcher förmlichen Instanz tritt in Fragen dieser Art die Kritik. Sie hat sich in reichem Maasse über das Vorgehen Herkners ergossen. Der ganze Jahrgang der Wochenschrift [38] „Soziale Praxis“ ist davon erfüllt, teils in eigenen Aufsätzen, teils in mitgeteilten Auszügen aus der Gewerkschaftspresse und aus anderen Organen sozialpolitischer Meinungen. Aus jener ragt die Äusserung eines Führers der sogenannten christlichen Gewerkschaften hervor der die Schwächen der Herknerschen Argumentation blosslegt. Er legt Verwahrung ein gegen die unzulässigen Verallgemeinerungen, wodurch – ein etwas verwegenes Gleichnis – aus der Entgleisung einzelner der gesammten Arbeiterschaft ein Strick gedreht werde. Es sei dem Gelehrten ein bitterer Vorwurf daraus zu machen, dass er höchst einseitig nur den Egoismus der Arbeiter geissle. „Oder ist Herkner unbekannt, dass auch schon Vertreter des Unternehmertums durch nackten Egoismus zu Handlungen hingerissen worden sind, die das allgemeine Wohl empfindlich geschädigt haben? Und hätte nicht Herkner hervorheben müssen, dass dem Egoismus der Bedrückten und Armen viel eher mildernde Umstände zuzubilligen sind, als der Selbstsucht von Angehörigen der Schicht, die über ‚Bildung und Besitz‘ verfügt?“ Eine andere Ungerechtigkeit sei es, zu verschweigen, dass dem Unrecht einzelner Arbeiter Grosstaten der gesamten deutschen Gewerkschaften bei der wirtschaftlichen Demobilmachung, beim Kampf gegen die Flut des Bolschewismus, im Rheinland und im Ruhrgebiet gegenüberstünden. Eine dritte Ungerechtigkeit sei in jenem Schelten über die Regelung der Arbeitsverhältnisse durch kollektive Verträge und über das „Gestrüpp“ von Gesetzen und Verordnungen, die auf Betreiben der Gewerkschaften erlassen würden enthalten: es sei doch auf Seiten des Kapitals ein Gestrüpp von Organisationen errichtet worden, das mindestens ebenso undurchdringlich und freiheitentziehend sei. – Von theoretischer Seite wurde bald die Krise der Sozialpolitik scharf beleuchtet. Zuerst durch eine wohlunterrichtete Frau, Dr. Charlotte Leubuscher, in drei Nummern der Sozialen Praxis. Sie geht davon aus, dass alle Sozialpolitik an den jeweiligen Wohlstandsgrad der Volkswirtschaft gebunden ist, der auch sonst zur Geltung gebrachte

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„Soziale Praxis“: Vgl. „Soziale Praxis“, XXXII. Jg., 1923, Nr. 10; 11; 18; 19; 24; 25; 28; 30−33. Führers: D. i. Wilhelm Herschel. „… ‚Bildung und Besitz‘ verfügt?“: Vgl. Herschel 1923: 236; dort statt „das allgemeine Wohl“: das Gemeinsame Wohl. in drei Nummern: Vgl. Leubuscher 1923 („Die Krise der Sozialpolitik“).

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Satz Herkners, dass eine gute Wirtschaftspolitik heute weitaus die beste Sozialpolitik sei, müsse für das gegenwärtige, verarmte Deutschland anerkannt werden. Aber auch innerhalb der sozialpolitischen Tätigkeit [39] seien neue Methoden mehrfach gefordert worden, im Sinne eines Abbaus der staatlichen Position zu Gunsten sozialer Selbstverwaltung der organisierten Parteien des Arbeitsvertrags; indessen sei schon – worauf auch Herkner in Eisenach nachdrücklich hingewiesen hatte – die staatliche Autorität den organisierten Wirtschaftsmächten gegenüber stark gelockert, das Aufgeben staatlicher Funktionen scheine daher höchst bedenklich. Eine neue soziale Frage aber sei entstanden durch die Geldentwertung und die Menge der durch sie geschädigten Personen; auch der überwiegende Teil der Arbeiterschaft sei noch in der Eigenschaft von Konsumenten des Schutzes bedürftig. Kulemann, Verfasser umfassender Werke über die Gewerkschaftsbewegung und neuerdings über die genossenschaftliche Organisation, trat in der Hauptsache Herkner bei, empfahl aber es möge eine grosse Aussprache über den gegenwärtigen Stand und die Tendenzen der Arbeiterbewegung im Verein für Sozialpolitik öffentlich geschehen. – Dr. Heinz Marr, ein Mitherausgeber der „Sozialen Praxis“, behandelte die Krise in nicht weniger als 9 Artikeln der Zeitschrift. Seine Ausführungen münden darin, die bewusste Ordnung der Arbeit als das immer schärfer heraustretende zentrale Problem hervorzuheben und zwar bezeichnet er als das praktische Ziel: Dezentralisation moderner Grossarbeit durch eine Werkstättengliederung, die innerhalb und ausserhalb des fabrikmässigen Betriebes möglichst selbstständige Teilwerkstätten entstehen liesse (im Anschluss an eine Schrift von Eugen Rosenstock) – Zugleich tritt der gedankenreiche Schriftsteller als Apologet des Konzerns d. h. des heute so mächtig sich entfaltenden Systems Stinnes auf: die Tendenz des echten Konzerns sei nicht kapitalistisch spekulativ sondern wirtschaftsorganisatorisch-technisch. Er betrachtet die Ablösung der organisierten Wirtschaftsmächte vom Staat als ein tragisches Schicksal, aber kein anderer Weg führe uns aus unserer Krise heraus. –

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die genossenschaftliche Organisation: Vgl. Kulemann 1922. 9 Artikeln der Zeitschrift: Vgl. Marr 1923 („Zur Krise in der Sozialpolitik. Rückblick und Ausblick. I−IX.“). im Anschluss: Vgl. Rosenstock[-Huessy] 1922. Systems Stinnes: Das Abkommen zwischen Stinnes und Legien sah zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern eine Tarifpartnerschaft auf sozialpolitischer Grundlage vor.

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V. Mehr und mehr hat sich aber als Kern der ganzen Streitfra[40]ge, der Streit um den Achtstundentag herausgestellt. Gegen den Achtstundentag kämpft die Unternehmerwelt in den vereinigten Arbeitgeberverbänden und hat sich in der Zeitschrift, die Herkners soviel Aufsehen machenden Artikel brachte, ein sehr geschickt geleitetes Organ geschaffen, das offenbar bestimmt ist die „Soziale Praxis“, die von dieser Richtung als ein Übel empfunden wird, zu verdrängen. Die eigentlichen Führer des Kampfes auf dieser Seite sind aber die grossen Konzerne, an deren Spitze die Herren Stinnes und Hugenberg (der Leiter der Kruppwerke) stehen. Sie vertreten die Ansicht, nur durch rücksichtslose Vermehrung der Produktion, also durch Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit, könne die deutsche Volkswirtschaft vor dem gänzlichen Verderben, dem sie sichtlich entgegen geht, gerettet werden. Die industrielle Arbeiterklasse kämpft für ihre Errungenschaft, den Achtstundentag, wie je ein Volk für seine Altäre und häuslichen Herde gestritten hat. Um es zu verstehen muss man eingedenk sein, dass der Achtstundentag ein internationales Panier gewesen ist, dem seit 1890 alljährlich die Maifeier, obgleich sie allmählich an ihren Widerständen erlahmte, gewidmet blieb. Die Novemberrevolution in Deutschland verlor rasch den blendenden Glanz, den sie anfangs für die heimkehrenden Krieger gehabt hat; die Einrichtung des Zukunftstaates der immer in den Phantasien der Gegner mehr als in denen der Anhänger des „wissenschaftlichen“ Sozialismus sein Wesen hatte, fand nicht statt. Was gleichsam als Reinertrag übrig blieb: die gehobene Stellung der Arbeiter innerhalb aller grösseren Betriebe durch Einrichtung der Betriebsräte, die wirtschaftliche und politische Macht der Gewerkschaften, die Überwindung jener von Marx beklagten „zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse“ – die neue Verfassung mit ihrer radikalen demokratischen Grundlage, ihren Ausblicken auf weitgehende Umgestaltung des Bodenrechts und des Arbeitsrechts –: alles das war nichts Geringes. Aber der Achtstundentag stellt eine an jedem Werktage neu ge[41]nossene Reform

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Zeitschrift: D. i. „Der Arbeitgeber“, vgl. Herkner 1923. von Marx beklagten: Vgl. Marx’ (1890: VII) Vorwort: „Neben den modernen Notständen drückt uns eine ganze Reihe vererbter Notstände, entspringend aus der Fortvegetation altertümlicher, überlebter Produktionsweisen, mit ihrem Gefolg von zeitwidrigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen. Wir leiden nicht nur von den Lebenden, sondern auch von den Toten. Le mort saisit le vif!“.

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des täglichen Lebens dar, er bedeutet eine unmittelbare Verbesserung der ganzen sozialen Lage durch Gewinnung von Musse im eigenen Haushalt, im Pachtgärtchen, vielleicht auch gegen Lohn oder Preis ausserhalb der regulären Arbeitsstelle tätig zu sein – von Zeit für die Erholung, für das Familienleben, die Erziehung der Kinder, für die geistige Ausbildung und das Vergnügen. Missbrauch liegt wie immer dicht neben dem Gebrauche, hebt ihn aber nach dem alten lateinischen Worte nicht auf. Bei dieser Lage der Dinge war und ist für diejenigen die die Arbeitszeit wiederum zu verlängern wünschen, jedenfalls die äusserste Behutsamkeit geboten. Indem sie es daran fehlen liessen, haben sie Misstrauen erzeugt und den Widerstand gestärkt. Auf der anderen Seite haben die Gewerkschaften durch die Forderung wertbeständiger Löhne die sich so sehr als möglich den Friedenslöhnen nähern sollten, ihre Position geschwächt. Denn das Verlangen nach einem hohen absoluten Reallohn macht den Ausfall der gesammten Produktion, das verringerte Gesammtquantum verteilbarer Güter zu einer um so schwerer empfundenen Erscheinung. Diese ist abgesehen von einigen Produktionszweigen tatsächlich die äussere Folge des Achtstundentages gewesen; ob auch die innere Folge, das ist die Frage, die lebhaft umstritten wird. Dass die Verminderung der täglichen Arbeitszeit dazu mitgewirkt hat wird indessen auch von eifrigen Verfechtern dieser Reform kaum noch geleugnet: die Umstände lagen und liegen zu ungünstig dafür, dass die Verminderung der Zeit durch entsprechende Intensivierung der Arbeit aufgewogen würde. Es ist geringere Fähigkeit und geringere Lust zur Arbeit, um so mehr also zu intensiverer Arbeit vorhanden. Hauptursache liegt ohne Zweifel in den Ernährungsverhältnissen; besonders dürfte die stark verringerte Fleischnahrung und Fettnahrung als Ursache zu betrachten sein. Dazu kommt vielleicht ebenso gewichtig, dass die jahrelange Aushungerung während des Krieges eine Hauptursache der deutschen Niederlage, die aber den Krieg noch um ein Jahr überdauerte, den Kräftezustand derer, die damals noch im Kindheitsalter standen ausseror[42]dentlich ungünstig beeinflusst hat; und diese auch in der Erziehung vernachlässigten Kinder rücken von Jahr zu Jahr mehr und mehr in die Reihen der jugendlichen Arbeiter auf – sie verfügen dann über Geldbeträge, die auch als Reallohn im Verhältnis zu den Löhnen gelernter Arbeiter und Familienväter eine Höhe haben, wodurch jugendlicher Leichtsinn zu Ausschweifungen verführt wird, die naturgemäss auf Fähigkeit 7

lateinischen Worte: Abusus non tollit usum – Missbrauch hebt den Gebrauch nicht auf; vgl. Cicero 1787: 122 (vol. Tertium, Topica ad Trebatium, 3, 17).

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und Lust zur Arbeit ungünstig zurückwirken. Vielfach würde schon eine Beschränkung der Musse durch längere Arbeitszeit heilsam wirken; und im allgemeinen darf man mit einiger Sicherheit sagen, dass die früher vielfach vertretene Meinung, der achtstündige Maximalarbeitstag bedeute ein Optimum von Leistungen, wenigstens im gegenwärtigen Deutschland keine Geltung behaupten kann. So wird auch von besonnenen Vertretern der Arbeiterklasse der Tatbestand aufgefasst. Sie anerkennen, dass die Steigerung der Produktion im höchsten Grade wünschenswert, ja notwendig sei; aber sie wehren sich dagegen 1. dass die vermehrte Herstellung von Gütern dem Vorteil und den Genüssen der Kapitalisten oder den verschiedenen Arten des arbeitlosen Einkommens, oder des „Mehrwerts“ zu Gute kommen sollte; sie verlangen dass die Arbeiterschaft dagegen gesichert werde und meinen, dass diese leicht dazu zu bewegen wäre eine „Wohlfahrtsstunde“ hinzuzufügen. In diesem Sinne hat ein sozialdemokratischer Schriftsteller den Satz ausgesprochen: „Die Leistung von Arbeit zu Gunsten bedürftiger Volksgenossen ist eine sittliche Tat, sie adelt den Arbeiter und die Arbeit.“ Die Leistung von Arbeit zur Überwindung von Notständen, von Unkultur sei sogar ein hervorragendes sozialistisches Ideal. Dass dieser Gedanke, der aus Arbeiterkreisen selbst entsprungen und in solchen immer einer begeisterten Aufnahme gewiss sei, bisher nur geringe Erfolge aufzuweisen habe, liege an den mangelhaften Verhältnissen des Absatzes, der Rohstoffbeschaffung und anderer Faktoren der Unsicherheit, die besonders in den verarbeitenden Industrien in die Erscheinung trete. Überall aber finde [43] man einen Widerspruch zwischen der Forderung längerer Arbeitszeit und der tatsächlichen Marktlage, also auch der Lage des Arbeitsmarktes, die zumal seit der missglückten Abwehr des brutalen Einfalls eines französischen Heereskörpers in das industriellste deutsche Gebiet, sich in ausserordentlicher Weise verschlechtert hat. In Wahrheit rechnen auch die Häupter der Industrie, die durch verlängerte Arbeitszeit die Produktion vermehren wollen, zugleich mit einer ausserordentlichen Vermehrung der Arbeitslosigkeit und halten offenbar die Chance, diese von Staats und Gemeinde wegen produktiv zu machen, für grösser als sie ist. Die Schwierigkeit der Lage wird aber dadurch beleuchtet, dass eine der entschiedensten Vertreter der Sozialreform, Dr. Potthoff, schon gegen Ende des Jahres 1922 eine planmässige Vermehrung der Arbeitslosigkeit durch Abstossung mindergeeigneter Arbeitskräfte als notwendigen Prozess des Heilverfahrens dargestellt hat. 15

den Satz ausgesprochen: Der konnte nicht ermittelt werden.

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Inzwischen hat der Achtstundentag einen starken Verteidiger gefunden an dem einzigen noch überlebenden Haupte jener Sozialisten des Katheders, der für seine Person immer ein Liberaler geblieben ist, aber ein Liberaler der alle Konsequenzen des Liberalismus zu Gunsten der Arbeiter zog, Lujo Brentano. In 5 gewichtigen Artikeln der Sozialen Praxis ist er gegen seinen ehemaligen Schüler Herkner aufgetreten („Der Ansturm gegen den Achtstundentag und die Koalitionsfreiheit der Arbeiter“). Brentano schildert zunächst die Entwicklung der Achtstundenbewegung bis zum 11. November 1918, der das Abkommen zwischen den deutschen Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden brachte; dann die Ausbreitung über die meisten europäischen Länder, den Artikel 427 des Versailler Friedensdiktates und die Konferenz von Washington nebst ihren Folgen. In seinem zweiten Artikel betrachtet der Gelehrte die Frage der Konkurrenzfähigkeit; er leugnet ausdrücklich dass die Verlängerung des Arbeitstages die notwendige Steigerung der Produktion mit sich führen würde; diese sei vielmehr wie der dritte Artikel aus[44]führt, unter den gegenwärtigen Umständen nur von Verbesserungen der Technik zu erwarten, als der normalen Wirkung verteuerter Arbeit. Er weist dabei auf die Rückständigkeit der Landwirtschaft hin, da ein Sachverständiger im sozialpolitischen Ausschuss des Reichswirtschaftsrats erklärt habe unter den 800 000 Betrieben Deutschlands seien nur etwa 10 000, die das Optimum erzielen. Eben da sei auch auf die Verpflanzungen deutschen Kapitales ins Ausland hingewiesen worden. Brentano spricht sich dann dafür aus, die begrenzten Ausnahmen vom normalen Arbeitstage auf tariflichem Wege, nicht durch Behörden festzusetzen. In diesem Sinn sind nunmehr auch die Gewerkschaften bereit in Verhandlungen einzutreten, aber auch nur in diesem Sinne. Nachdem im August dieses Jahres (1923) die grosse Koalition der Parteien sich gebildet hatte, die eine Vollmacht des Kabinetts in der inneren Politik als notwendig erkannte, entstand bald ein Zwiespalt, der

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Sozialisten des Katheders: So – „Kathedersozialisten“ – wurden die Mitglieder des 1872 von Gustav Schmoller gegründeten Vereins für Socialpolitik genannt. 5 gewichtigen Artikeln: Vgl. Brentano 1923. Artikel 427 thematisiert Verfahren und Grundsätze für die Regelung der Arbeitsverhältnisse, da Arbeit keine Handelware sei. Die „Allgemeine Konferenz der Internationalen Arbeitsorganisation“, die am 29. 10. 1919 von der Regierung der USA nach Washington einberufen wurde, traf ein Übereinkommen über die Beschäftigung der Frauen vor und nach der Niederkunft. (1923): Gustav Stresemann bildet eine große Koalition aus DVP, Zentrum, DDP u. SPD.

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dadurch geheilt wurde, dass die Verfügung über die Arbeitszeit ausdrücklich von der Ermächtigung zu diktatorischem Vorgehen ausgenommen wurde. Dagegen wurde nunmehr ein Gesetz über die Arbeitszeit vorbereitet, das den Ansprüchen von beiden Seiten gerecht werden sollte. – In seinem letzten Aufsatz (V) kommt Brentano auf den Verein für Sozialpolitik zu reden. Er hat immer an der Idee festgehalten, dass der Verein, dessen Seele er in dessen erster Phase gewesen ist, ein reformatorischer Verein sein und bleiben solle. Er fürchtet nunmehr, dass die jüngere Generation der Nationalökonomen den Verein für Sozialpolitik in einen Verein gegen Sozialpolitik verwandeln wolle, und dass infolgedessen ohne jeden Vermittler – er erwägt dabei nicht das Dasein der Gesellschaft für soziale Reform, die allerdings mehr zu einer Sammelvertretung von Organisationen der Arbeiter, Angestellten und Beamten als zu einer wissenschaftlichen Mittlerstelle geworden ist – dass also nunmehr ohne jeden Vermittler die Gegensätze im Klassenkampf aufeinanderprallen würden. [45]

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VI. Brentano hat durchaus recht, wenn er meinte, dass die veränderte Einstellung der gelehrten Volkswirte zu den sozialpolitischen Problemen (um uns der Ausdrücke Herkners zu bedienen) keineswegs eine gleichgültige Sache ist. Sie würde dazu beitragen, eine Richtung innerhalb der Arbeiterbewegung zu stärken, die, roher als der Bolschewismus (denn dieser nimmt wenigstens prinzipiell die geistigen Arbeiter unter seinen Schutz) die akademische Wissenschaft schlechthin als Feind, als Bundesgenossen des Kapitals und der Bourgeoisie ächten möchte, um allein auf die „schwielige Faust“ sich zu verlassen: die mildernde und vermittelnde Wirkung, die keineswegs von den „Kathedersozialisten“ allein, die sogar mit mehr Erfolg von Männern wie Berlepsch und Francke, die nie einen Katheder besassen, ausgegangen ist, wäre dadurch gelähmt. In Wirklichkeit wird es nicht gelingen, und ist sicherlich nicht Herkners Absicht gewesen, diesen Erfolg zu bewirken. Aber selbst wenn er einträte, so dürfte doch erwartet werden, dass jener roheren Richtung innerhalb der Arbeiterklasse selbst eine edlere einigermassen die Waage halten wird. Die Krise der Sozialpolitik ist eine Wirkung der allgemeinen kritischen Lage worin Deutschland, worin mit ihm der grösste Teil von Europa seit bald 10 Jahren sich befindet. Ein ungeheuerlicher und unerfüllbarer Zwangsfriedenschluss, der auf grobem Wortbruch beruhte, hat das republikanische Frankreich zum Herren Europas gemacht, wie

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es einst das napoleonische gewesen ist. Und sogar diesen von ihm selbst und seinen Genossen erzwungenen Frieden hat Frankreich gebrochen, hat einen neuen Kriegszustand geschaffen, der noch da ist. Nur unter diesem Gesichtspunkte wird man die Zerrüttung der deutschen Volkswirtschaft und Finanzen richtig verstehen. Was jetzt die Krisis der Sozialpolitik genannt wird, ist nicht durch diese Verhältnisse allein entstanden, aber es ist durch sie genährt und gefördert worden. Aus dem Gedanken der Politiker, sofern sie von Erkenntnis der wirklichen Kräfte des sozialen Lebens, von soziologischer Erkenntnis sich leiten lassen, kann [46] die Sozialpolitik in dem Sinne nicht wieder ausgeschaltet werden, dass – in den Worten eines geistvollen Soziologen, Rudolf Goldscheids – die Menschenökonomie ihren Platz über der Sachökonomie behauptet. Die Ernährung des Volkes, seine Behausung und Bekleidung, die Pflege der Erziehung und Kultur ist gerade unter den gegenwärtigen Notständen, denen das deutsche Reich zu erliegen in Gefahr ist, nicht möglich ohne eine starke und energische Staatsgewalt, ohne tiefe Eingriffe in das Privateigentum und in die freie Wirtschaft, d. h. ohne eine sehr entschiedene Sozialpolitik. Der Weltkrieg hatte diese rücksichtslose Durchsetzung des Gemeinwohls gegen die Sonderinteressen bei allen beteiligten Völkern, sogar bei den neutralen Völkern, notwendig gemacht. In Deutschland war in dieser Hinsicht eher zu wenig als zu viel geschehen; wenn Herkner von den entsetzlichen Erfahrungen spricht, die wir mit dem Sozialismus militärischer und sozialer Bürokratien, mit fiskalischem und gewerkschaftlichem Sozialismus gemacht haben, so werden wir damit nicht belehrt, wie der Krieg 5 Jahre lang mit wenigem, zum grossen Teil weiblichem Personal, das für die Zivilverwaltung und manche Zweige der Arbeit verfügbar war, ohne solche einschneidenden, lästigen und teilweise verunglückten Massnahmen hätte geführt werden sollen. Er vergisst auch, dass es sich hier um lauter Improvisationen gehandelt hat: wäre die Zivilbevölkerung, wäre die Beamtenschaft, die zum grossen Teile Ersatzmannschaft war, ebensogut diszipliniert, ebensogut für ihre Aufgabe vorbereitet gewesen, wie es die militärischen Reservetruppen für ihre Aufgabe waren, so brauchten jetzt wahrscheinlich „einige der besten Köpfe unter den jüngeren gelehrten Volkswirten“ sich nicht nach dem Staat zurück zu sehnen, der sich nur den zivil- und strafrechtlichen Schutz der Personen und der Eigentümer angelegen sein liesse. Wenn Friderikus in 11 33

geistvollen Soziologen: Vgl. Goldscheid 1911. „… jüngeren gelehrten Volkswirten“: Vgl. Herkner 1923: 35 („Sozialpolitische Wandlungen in der wissenschaftlichen Nationalökonomie“).

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den Nöten seines 7jährigen Krieges plötzlich ein Massenheer aus seinen Bauern und Bürgern hätte berufen und ausrüsten wollen, so darf man mit einiger Sicherheit vermuten, dass ebenfalls „entsetzliche Erfahrungen“ gemacht worden wären. Im gegenwärtigen furchtbaren Ungewitter ist es wie bei einer [47] Wanderung auf verschneiten Wegen im Hochgebirge, oder bei einer Wanderung im Wattenmeer, wenn die Flut steigt: rückwärts führt kein Weg, es gilt den schmalen Pfad zu finden, der wenn auch unter schweren Gefahren vorwärts und zum Ziel führt.

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„entsetzliche Erfahrungen“: Vgl. ebd. zum Ziel führt: Danach eigenh.: Ende.

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Die Gotteslästerung war unter den Nationen, die ihrer Gottes-Furcht sich rühmten, naturgemäß ein ungeheurer Frevel, ein todeswürdiges Verbrechen. So bei Juden, so bei Christen. Wenn es geistliche Consultationen gab die für Gotteslästerung im Rückfall Durchstechen der Zunge und Galeeren verhängten, wonach die geistlichen Gerichte verfahren sollten, so konnte auch der weltliche Arm seine Hilfe, so furchtbaren Greuel zu sühnen, nicht versagen. Die allerschwerste Gotteslästerung war die Leugnung, daß dies Wesen vorhanden sei, das […] allein von den Panthern der heidnischen Völker übrig geblieben um so mehr als allmächtig und allwissend gedacht wird, der starke und eifrige Gott, der die Sünden der Väter rächt bis ins 1000ste Glied. Eine so abscheuliche, so [..] Ketzerei konnte nur durch den Feuertod gesühnt werden. Erst in neuerer Zeit hat sich die Blasphemie als ein besonderes Vergehen vom Atheismus abgesondert, als das heilige römische Reich anfing, sich in hochnotpeinlichen Verordnungen zu betätigen – zuerst 1495 (Reichsschluß gegen die Gotteslästerer), dann mehrmals wiederholt. Noch Feuerbach

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[Die Gotteslästerung]: Textnachweis: TN, Cb 54.33:15 – Eigenh. Manuskript-Fragment (in 8°), 4 S. mit eigenh. Korrekturen und Ergänzungen. Das Manuskr. ist auf die leere Rückseite einer (in mehrere Stücke geschnittenen) Promotionsurkunde der Universität Kiel geschrieben, die unter dem Rektorat des Islamisten Georg Jacob (1922 / 1923) ausgestellt worden war. Demnach kann der Text nicht vor 1922 verfaßt worden sein. Er ist nicht identisch mit dem Artikel „Gotteslästerung“ in: Das Tagebuch, Jg. III, Heft 41, Berlin 14. Oktober 1922, S. 1438 / 1439, in dem Tönnies Carl Einstein gegen den Vorwurf der Gotteslästerung verteidigt; vgl. Tönnies 1922 (TG 13). Consultationen: unsichere Lesart. Lesbar auch: Consiliarien. das […] allein von den Panthern: im Original: das um so mehr allein von den Panthern der heidnischen Völker übrig geblieben um so mehr als allmächtig und allwissend gedacht wird; Panthern: unsichere Lesart. so abscheuliche, so [..] Ketzerei: unleserliches Wort. hochnotpeinlichen: im Original: hochnotpeinliche. Reichsschluß: Beschlüsse des Reichstages (hier in Worms) bedurften der Zustimmung des Kaisers, um Gesetzeskraft zu erlangen.

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gibt als Strafe der „unmittelbaren“ Gotteslästerung (als mittelbare galt die Schmähung [2] eines Gegenstandes bloßer Verehrung, z. B. der Heiligen, der Sakramente u. dgl.) nach dem gemeinen Rechte Ehrlosigkeit und überdies, am Leben oder am Leibe („mit Benehmung etlicher Glieder“); wozu Mittermaier bemerkt, in der neueren Praxis gebe es nur Freiheitsstrafe, auch in den schwersten Fällen. Das Preußische Landrecht enthält schon die humane Bestimmung: „Wer durch öffentl. ausgestoßene grobe Gottesl en zu ein gm Aergernisse Anlaß gibt soll auf 2−6 Monate ins Gefängniß gebracht und daselbst in seine Pflichten und d Geist seines Vbr belehrt werden.“ Charakteristisch ist daß das preuß. Str. GB. der Reaktionszeit von 1851 die Strafe auf „Gefängniß bis zu 3 Jahren“ verschärft, worin ihm – wiederum charakteristisch – das RStrGB. gefolgt ist! Heute wird auch der Verteidiger dieses Restes ehemaliger Religionsdelikte an Geldstrafen oder anderen [..] Strafen (denn auch im Strafrecht wird die Naturalwirtschaft wieder Geltung heischen) sich genügen lassen. [3] „Eine Streichung der Vorschrift“ heißt es im Vorentwurf, würde nicht dem hohen Werte entsprechen, den der Staat auf die Entfaltung und 1 3 4

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Gotteslästerung.: Im Original: Gottesl. Ehrlosigkeit und überdies: Unsichere Lesart: überdies. etlicher Glieder: Vgl. Feuerbach 1808: 265 (§ 306): „… straft die Blasphemie, welche die Gottheit selbst zum Objekt hat, mit dem Leben oder mit Verstümmelung einiger Glieder, wenn der Verbrecher, nach vorhergehender zwiefacher Bestrafung, zum drittenmal das Verbrechen begangen hat“. Preußische: Im Original: Pr. „… belehrt werden“: Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten 1821: Zweiter Theil, zweiter Band, 20. Titel, 6. Abschnitt, S. 519, § 217: „Wer durch öffentlich ausgestoßene grobe Gotteslästerungen zu einem gemeinen Aergernisse Anlaß gibt soll auf 2−6 Monate ins Gefängniß gebracht und daselbst über seine Pflichten und die Größe seines Verbrechens belehrt werden.“. preuß. Str.GB: Vgl. Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten (1851: 137, § 135). verschärft: Das Preußische Strafgesetzbuch (1866), § 135, S. 102: „Wer öffentlich in Worten, Schriften oder anderen Darstellungen Gott lästert, oder eine der christlichen Kirchen […] oder die Gegenstände ihrer Verehrung, ihre Lehren, Einrichtungen oder Gebräuche verspottet, […] wird mit Gefängniß bis zu drei Jahren bestraft“. das RStrGB. gefolgt ist: Vgl. Reichs-Strafgesetzbuch (1922: 453, § 166). [..]: unleserliches Wort. [3]: Am Fuß der Seite, ohne ersichtlichen Bezug zum Text, Notiz eines Zitats (?): „Mit deren [dessen?] Sünden wenn sie [..] zugleich der Gs Schaden bringen, hat d. P. [..] bürgerl Rechtsgelehrten nichts zu schaffen.“. „Eine Streichung der Vorschrift“: Die Anführungszeichen im gesamten Satz im Original unvollständig. heißt es im Vorentwurf: Darüber geschrieben: (S. 510).

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Bewahrung des religiösen Lebens des Volkes legen muß“ und so ist denn der [..] Abschnitt Vergehen u [..] f d Ausübg der Religion unter den Verbr u Vg gg Einrichtungen des Staats stehen geblieben. Bei dem sichtlichen Verfall des religiösen Glaubens einem Verfall, der keine schweren sittlichen Folgen hat, sofern andere Kräfte und Motive positive sittliche Wirkungen ausüben, hätte der Staat besseren Grund, auf die Entfaltung und Bewahrung außerreligiösen sittlichen Bewußtseins hohen Wert zu legen – daß dies aber im Strafrecht Ausdruck finden könne und müsse, ist eine Folgerung, die einem Rückfall in jenen Irrtum, Sünden unter Strafe zu stellen, gleichkäme. Nur öffentliche Gotteslästerungen wollen sowol das geltende GB. als der Vorentwurf und der von Kahl, Lilienthal, Liszt und Goldschmidt veröffentlichte „Gegenentwurf“ unter Strafe stellen. Der Vorentwurf fügt das Merkmal der Bösartigkeit hinzu, und läßt dagegen das öff. Aergerniß fallen. Zugleich will er die Religionsdelikte grundsätzlich als Störungen des Friedens zwischen den Religionsgesellschaften betrachten. Warum werden nicht auch Störungen des niemals vorhandenen Friedens zwischen den politischen Parteien mit Strafe bedroht? Wenn heute der Religionsfriede leidlich gesichert ist, so ist das sicherlich nicht dem StrGB. zu verdanken. Beschimpfungen der Religionsgesellschaften, sind ebenso wie rohe und unflätige Angriffe auf Ueberzeugungen – religiöse oder philosophisch-wissenschaftliche – ihrem Wesen nach Beleidigungen die im Vorentwurf die allgemeine Bezeichnung Ehrverletzungen erhalten haben. [4] Daß auch Vereine, Genossenschaften, Verbindungen in ihrer Ehre verletzt werden können, ist offenbar und wird durch die „Beschimpfung von Religionsgesellschaften“ ausdrücklich anerkannt. Sie können aber auch mit Grund ihre Ehre verletzt fühlen, wenn ihre Lehren und Programme öffentlich dem Haß und der Verachtung preisgegeben werden. Und darin

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der [..] Abschnitt: unleserliches Wort. Falls mit dem „Vorentwurf“ der Entwurf des „Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs“ gemeint ist, dürfte es sich um den 11. Abschnitt handeln (Störung des religiösen Friedens und der Totenruhe); vgl. Schubert 1990. Lies folgend: Vergehen und [..] für die Ausübung der Religion unter den Verbrechen und Vergehen gegen Einrichtungen des Staats stehen geblieben. Kahl, Lilienthal, Liszt und Goldschmidt: Gegenentwurf zum Vorentwurf eines deutschen Strafgesetzbuchs. Aufgestellt von W. Kahl; K. v. Lilienthal; F. v. Liszt; J. Goldschmidt. Berlin 1911. Religionsgesellschaften: Im Original Religionsgs. die allgemeine: Im Original die allgem. Bezeichnung Ehrverletzungen: unsichere Lesart.

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sind die (wirklichen oder angeblichen) Ueberzeugungen ihrer Mitglieder niedergelegt, die also vor Schimpf beschützt werden, wenn die Ehrverletzung gegen die Vereine mit Strafe bedroht wird. Daß etwas Weiteres zweckmäßig oder gar notwendig wäre, wird sich mit wissenschaftlichen Gründen nicht dartun lassen. „Die“ Religion ist ganz gewiß keine Einrichtung des Staates und die wirklich Frommgläubigen müssen ihren Glauben durch solche Bezeichnung herabgewürdigt finden. Die Kirchen aber waren ehemals, zumal in moralischen Wirkungen und Einflüssen, viel wichtiger als heute der Staat ist: sie oder was an ihre Stelle treten mag, werden es wieder werden, in dem Maße als sie einen neuen Geist gewinnen, der dem Geist des Zeitalters gerecht zu werden vermag und dadurch einer wahren und ernsten ethischen Gesinnung klaren und entschiedenen Ausdruck zu geben weiß.

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Frommgläubigen: unsichere Lesart.

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[Formen der Öffentlichen Meinung] Vortrag D. G. 1914

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Blaise Pascal erwähnt in einer jener Pensées, aus denen uns eine so ernste Denkergestalt entgegenleuchtet, den Titel eines italienischen Buches, von dem er bedauert nicht mehr als den Titel zu kennen, der ein lebhaftes Verlangen in ihm errege es kennen zu lernen. Der Titel lautet „Della opinione regina del monde.“ Es ist zweifelhaft, ob dieses Buch wirklich je vorhanden war, ob nicht Pascal im Irrtum darüber gewesen ist, denn es nachzuweisen ist noch nicht gelungen. Um dieselbe Zeit nannte Thomas Hobbes es eine öfters gehörte Behauptung, dass Meinungen die Welt regieren. Erst ein Jahrhundert später ist der Ausdruck Ö. M. in Umlauf gekommen und hat eine bis heute fast unablässig steigende Bedeutung gewonnen. Von weltgeschichtlichen Personen war es zuerst der französische Minister Necker, der Enkel eines deutschen Vaters, der in fast jeder seiner Schriften vor, während und nach der Revolution unermüdlich immer von Neuem auf die Bedeutung der Ö. M. hingewiesen hat. Schon in dem berühmten Werke über die Finanzverwaltung Frankreichs, spricht er von dem Gerichtshof, vor dem

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[Formen der Öffentlichen Meinung]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:12 / Cb 54.34: 42. – Beide Texte sind Typoskripte im selben Format (kl 2°) und offensichtlich mit der selben Maschine geschrieben, das erste umfaßt S. 1−4, das zweite S. 5−6, 9(9a)−17. Die beiden Typoskripte sind eigenh. korrigiert und ergänzt. Es handelt sich wahrscheinlich um den – fragmentarisch überlieferten – Text eines 1922 gehaltenen Vortrages. S. 1 enthält links oben in der Handschrift Franziska Heberles (?) den Vermerk: „Vortrag. D. G.1914.“ Tönnies hat den Vortrag vor der „Deutschen Gesellschaft 1914“ in Berlin gehalten, deren Mitglied er war. Siehe dazu auch Tönnies 2002a (TG 15). Della opinione regina del monde: Vgl. Pascal 1967: 128 (Pensées 81): „Imagination“ … „le livre italien, dont je ne connais que le titre, qui vaut lui seul bien des livres: Della opinione regina del mondo. J’y souscris sans le connaitre, sauf le mal, s’il y en a“. Das Buch ist bis heute (2005) nicht nachweisbar. Ausdruck Ö. M.: D. i. Öffentliche Meinung. berühmten Werke: „L’esprit de société, l’amour des égards & de la louange, ont élevé en France un tribunal, où tous les hommes qui attirent sur eux les regards, sont obligés de comparoître: l’opinion publique, comme du haut d’un trône, décerne des prix & des couronnes, fait & défait les réputations.“ – Necker 1784: tome 1, Introduction, S. LVIII.

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alle Menschen, welche den Blick auf sich ziehen, erscheinen müssen, der Ö. M., die wie von der Höhe eines Thrones Preise verteile, Ansehen gebe und nehme. Seitdem haben viele Philosophen, Historiker, Staatsrechtslehrer und Schriftsteller jeder Art über Wesen und Macht der Ö. M. sich ausgesprochen und manche beachtenswerte Theoreme zum Besten gegeben. Noch ins 18. Jahrhundert fallen so bedeutende Namen wie Sieyes, Mirabeau und von Deutschen Forster, Garve, Wieland, und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Niebuhr, Köppen, Fries, Hegel, Ancillon, der Hegelianer Rosenkranz u. a., die sich um Wesen und Bedeutung der Oe. M. bemühten. Auch berühmte Staatsmänner und Fürsten haben ihr gehuldigt. Freiherr v. Stein verkündete 1807, die Herrschaft Napoleons stehe im Widerspruch mit der Oe. M., mit der Vernunft, sowol mit deren eigennützigen als mit deren edelsten Gefühlen des Menschen, dem Gefühl für Recht, für Wahrheit u. Freiheit. Talleyrand hat gesagt: Ich kenne jemand, der klüger ist als Voltaire, der mehr Verstand hat als Napoleon und alle Minister die es gibt die es je gab und geben wird, dieser Jemand ist die Oe. M. Und Bonaparte selber äusserte sich auf St. Helena: „Die Oe. M. ist eine unsichtbare mysteriöse Macht, der nichts widerstehen kann; nichts ist beweglicher, unstäter, machtvoller; und hurenhaft wie sie ist, sie ist gleichwohl wahr, vernünftig, gerecht, weit öfter als man zu denken geneigt ist“. [2] Dennoch ist eine gültige Lehre von der Ö. M. nicht eigentlich zu Stande gekommen, wenn auch bis in die neueste Zeit in Deutschland, aber auch in Frankreich, Italien, England u. besonders Amerika manche der besten Geister wertvolle Beiträge dazu gegeben haben. Für die neuere Zeit drängt sich vor allem der Beobachtung auf die enge Verbindung, in die man den Begriff der Ö. M. mit der Presse, also insbesondere der Tagespresse gebracht hat. Und zwar geschieht dies noch mehr in der – ich weiss es nicht anders auszudrücken – Ö. M. selber als in den eigentlichen Theorien über sie. In den früheren Betrachtungen der von mir genannten Autoren findet sich kaum eine Andeutung davon. Wie ist das zu erklären? Es ist zunächst die Zweideutigkeit des Ausdrucks selber, die hier wie so oft der Verworrenheit der Ansichten zu Grunde liegt. Der ursprüngliche Sinn war gleich „allgemeine Meinung“, wie noch im grossen Murray’schen Wörterbuche Public opinion als General opinion erklärt wird und wie im Schwedischen von allmenna opinionen ganz im gleichen Sinne geredet wird. Diese allgemein verbreitete Meinung wurde 11 35

1807: Die folgenden Äußerungen konnten nicht ermittelt werden. erklärt wird: Vgl. Murray 1909.

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als eine Macht von gewaltiger, unter Umständen unwiderstehlicher Kraft dargestellt, ob sie nun mit latenter Energie in den Seelen der denkenden ruhe, ob in privaten Gesprächen und Korrespondenzen, oder aber in öffentlichen Reden und Schriften in die Erscheinung trete. Mehr und mehr ist aber das Prädikat der Öffentlichkeit im Gegensatz zum Privaten, Heimlichen, Vertrauten in den Vordergrund getreten und vielfach pflegt man bei der Ö. M. weniger an die Allgemeinheit zu denken als daran, dass eine Meinung öffentlich und zwar mit möglichst starkem Getöse laut werde. – Ein dritter Sinn schwebt auch bedeutungsvoll mit: die Beziehung auf „öffentliche“ Angelegenheiten, insbesondere also solche des Staates. Und damit hängt es zusammen, dass die Oe. M. als etwas wesentlich Neues auftritt, nämlich als sich äußernd in, und beruhend auf der öffentlichen Erörterung von Staatsangelegenheiten, die in so entschiedenem Gegensatz zur geheimen Kanzlei, dem geheimen Rat u. der geheimen Diplomatie steht, die durchaus revolutionär insbesondere zum fürstlichen Absolutismus u. zur Abgeschlossenheit der Höfe steht. [3] Hier scheidet sich die neuere Ansicht der Oe. M. von dem ursprünglichen Sinn ihrer Allgemeinheit und ihres Anspruchs auf allgemeine Gültigkeit – nicht also in der Richtung auf öffentliche Angelegenheiten, aber in ihrer öffentlichen Behandlung, die selber in Verbindung mit dem Postulat der Pressfreiheit so etwas wie ein Dogma der Oe. M. geworden ist. In Wahrheit wissen wir jedoch nur zu gut, dass die Publizistik sehr selten das Bild einer einigen und gleichen Meinung darbietet, dass sie vielmehr der Schauplatz fortwährender Meinungs- und Redekämpfe ist, so dass dann eben der sehr seltene Fall der leidlichen Übereinstimmung der Meinungen in auffallender Weise sich bemerkt macht und in diesem Sinne wohl von einem grossen Teil oder wie im Englischen von einem starken „Körper“ der Ö. M. geredet wird, wenn wenigstens einige bedeutende Zeitungen verschiedener Richtung in dasselbe Horn blasen. In Wahrheit ist es geboten im Anschluss an den Sprachgebrauch zwischen der mannigfachen, in sich zerrissenen ö. M. und der Ö. M. zu unterscheiden, die eben durch ihre Einmütigkeit und Geschlossenheit ihre Macht und Autorität zur Geltung bringt und oft fast wie ein übersinnliches Wesen gefeiert oder geschmäht wurde. Noch andere Unterscheidungen müssen getroffen werden. Es gibt einen alten Medizinerspruch: „Qui bene purgat, 15 35

revolutionär: Unsichere Lesart. Medizinerspruch: [lat.] svw. was gut reinigt, das heilt auch gut – der Scuola Medica Salernitana zugeschrieben.

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bene curat“. Er gilt auch für wissenschaftliche Kuren. Der Sprachgebrauch, der allzu viel verdauen muss, bedarf oft der Reinigung, wenn man seine Funktionen in den Dienst der Erkenntnis stellen will. Ich unterscheide die Ö. M. in dem Sinne, wie sie uns als soziologische Kraft erscheint, von den vielen öffentlichen Meinungen, wie sie in jeder sozialen Gruppe, in jedem Kreise sich geltend machen und uns allen bekannt sind im Zusammenhange mit Standesehre, Berufsehre, gutem und üblem Rufe überhaupt: dies ist ihre vorwiegend moralische Bedeutung: sie ist auch in China u. d. N. Tsing-ni wohlbekannt. Diese moralische Bedeutung kommt auch der Ö. M. zu, die wir hier im Auge haben, obgleich oder wenn man will weil, diese hauptsächlich auf das Gebiet der Politik sich erstreckt. [4] Ihr Subjekt ist ein nationales Publikum, möge dieses als ein mannigfaches, zerrissenes, zankendes oder als eine wirkliche Einheit vorgestellt werden: darauf bezog sich die schon vorgetragene Unterscheidung öffentlicher Meinung, bei der der Akzent auf der öffentlichen Kundgebung liegt und hingegen jener einheitlichen Macht, die mit gewaltigen Staatsmännern und mit gesetzgebenden Körpern in Wettbewerb tritt oder aber als oberste Herrin bei ihnen Gehorsam findet. Man kann auch Ö. M. des ersten Sinnes mit einer beratenden Versammlung vergleichen, worin leidenschaftliche Debatten geführt werden und der Streit der Meinungen oft in wüsten Lärm ausartet. Die wahre Ö. M. wäre dann gleich einer Versammlung, die zur Ruhe gekommen ist, die beschlossen hat und Achtung für ihre Gesetze fordert oder erzwingt. [5] Endlich muss ich noch eine dritte wichtige Unterscheidung vortragen. Wie wir auch in der Sprache die lose und lockere Meinung des Augenblicks als eine geringere Erscheinung betrachten, verglichen mit der festen und dauerhaften Meinung, die wir lieber eine feste Ueberzeugung nennen, so gewinnt das Wesen der Oe. M. mehr Licht, wenn wir der flüchtigen, dunstartigen Tagesmeinung die feste Gestalt einer herrschenden, tief wurzelnden Ansicht der grundsätzlichen Ueberzeugung der Nation oder sogar der Menschheit gegenüberstellen. Und wie in den Aggregatzuständen der Materie die flüssige Form zwischen der gasförmigen und der festen den Uebergang darstellt, so gibt es auch eine flüssige Oe. M., zu der die Tagesmeinung oft sich verdichtet, wie sie durch Verdunstung aus der flüssigen hervorgeht. Ebenso bringen starke Empfindungen und Erlebnisse auch festgewordene Ueberzeugungen wie des Einzelnen, so ihrer Gesamtheit, in Lösung und

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[5]: Hier Ende von Ms Cb 54.34:12 und Beginn des Manuskripts Cb 54.34:42.

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Fluss, wie andrerseits eine flüssige Oe. M. indem sie an Wärme verliert im Laufe der Zeit felsenfest werden kann. Diese Uebergänge und Veränderungen können wir an vielen nahen Ereignissen und Erlebnissen, aber auch an grossen historischen Vorgängen beobachten. Die feste Oe. M. ist ein Komplex von Grundsätzen, Ueberzeugungen, Lehrmeinungen, der sehr schwer zu erschüttern ist, der vielen Angriffen Widerstand leistet, den anzugreifen man oft nicht einmal wagt. Wir alle nehmen daran teil, er ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Bewirkt hat das teils der Jugendunterricht, das Hören von Reden und Vorträgen, teils andere Elemente insgesamt der Geist der Zeit, der mit eben diesem Komplex von Ueberzeugungen und Lehren fast identisch ist. [6] Wie stark diese Oe. M. ist, lässt sich leicht an einem Gedankenexperiment ermessen; etwa an der Aufnahme im Publikum, die ein Antrag finden würde, die Strafe des Feuertodes wiedereinzuführen oder wenn in einer Flugschrift die Zweckmässigkeit der Folterkammer, also der peinlichen Frage erörtert und deren Erneuerung empfohlen würde. So gibt es viel schlechthin unzeitgemässe und dadurch unmögliche Gedanken, unmöglich, weil die Oe. M. als ein Ganzes dagegen gerüstet sich erheben würde und entweder mit sittlicher Entrüstung oder mit tötendem Gelächter solche Vorschläge empfinge. Es ist niemandem verborgen, dass alle diese Ideen, die wir Lebenden mit der Muttermilch eingesogen haben, nicht viele Generationen alt sind. Sie sind die Sprösslinge des Zeitalters der Aufklärung, der modernen und freigeistigen Philosophie. Die auf viel längere Dauer gestützten Autoritäten des Herkommens und der Religion haben ihnen lange einen zähen Widerstand entgegengesetzt. Die Wissenschaften, oder sagen wir lieber die Fakultäten der Theologie und der Jurisprudenz, standen geschlossen an der Seite dieser Autoritäten, bekämpften die leichtfertige Neuerungssucht, die frechen Irrtümer derer, die diese Autoritäten anfochten. Es wurde noch im 17. Jahrhundert als Atheismus verabscheut, die Wirklichkeit von Geister- und Gespenstererscheinungen zu leugnen. Die gesamte vorherrschende Denkungsart war auf die Möglichkeit solcher Erlebnisse wie auf die Tatsache der Wunder eingestellt. Heute sind auch für diejenigen Männer und Frauen, die mit leidenschaftlicher Innigkeit […][9]

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teils andere Elemente: Eigenh. Einfügung am Rand durch Wasserschaden unlesbar. […][9]: Textabbruch; im Original fehlen Seite 7 und 8.

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Glaubenssätzen sie zum Teil auch dann noch sich bekennen, wenn sie das Wunder, des Glaubens liebstes Kind, mit allem Nachdruck verwerfen oder sogar verspotten. Hier wie dort ist es eine Weltanschauung, die man hegt und deren heterogene Bestandteile mit einander streiten oder oberflächlich ausgeglichen werden. Deutlich erkennbar ist es, dass die Theologie als Auslegung der Religion wenigstens innerhalb der protestantischen Bekenntnisse, mehr und mehr aber auch in der alten Kirche, durch das Gebot ihrer Selbsterhaltung genötigt worden ist, vor der Ö. M. zurückzuweichen oder sich ihr anzupassen. So weit dies nicht geschehen ist, hat es eben darin seinen Grund, dass die Ö. M. sich noch im Flusse befindet oder wieder in Fluss geraten ist, wo dann Ebbe und Flut sich deutlich bemerkbar machen. [9a] Je mehr wir aber die Verwandtschaft von Religion und Ö. M. betrachten, um so deutlicher tritt uns auch der Kontrast entgegen. Es ist der Kontrast von Pietät und Kritik, von Ueberlieferung und Rationalismus, von Glaube und Wissenschaft. Die Religion ist eine gemeinschaftliche, die Oe M eine gesellschaftliche Macht und Erscheinung. Die Religion hat auf dem Lande, auf kleinen Inseln, in entlegenen Gegenden, ihre liebsten treuesten Stätten, die Oe M bewegt sich in den Strassen der grossen Städte, am lebhaftesten der Weltstädte; wie schon Georg Forster, mitten in der terreure von 1793 seine Eindrücke dahin wiedergab, Paris gebiete über Frankreich durch die Kraft der Oe M. – Religion in ihrer echten Gestalt, d h. als fester Glaube sucht die Einsamkeit, die Stille, den Frieden aber auch die ernste Feierlichkeit, die Würde, das Erhabene. Die Oeffentliche Meinung tönt als ein gellendes Geschrei durch die Lande, in aufgeregten Reden, und brühwarmen Leitartikeln, in lärmenden Demonstrationen gibt sie sich kund. Hinter ihr steht das wissenschaftliche Denken mit seinen Anregungen, seinen Neuerungen, seinen Streitigkeiten, seinen Zweifeln und seinen Erleuchtungen. Religion ist für die Bekennung, für die Heiligkeit des Alten, Oe. M für den Fortschritt, für die Nützlichkeit des Neuen. Man empfindet und begreift, wie viele Uebergänge, Zwischenerscheinungen, Zusammenhänge die Erfahrung der Wirklichkeit zwischen diesen einander verwandten und entgegengesetzten Erscheinungen darbietet. [9]

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des Glaubens liebstes Kind: Vgl. Goethe 1998: 3. Bd., 31 (Faust I, 1. Szene, Nacht). [9a]: Text in S. [9] eingeschaltet. gibt sie sich kund: Am Rand ohne Einfügezeichen als unvollständiger Satz: Wenn man – so erweist man der Rel. zu viele Ehre und tut der Oe M Unrecht. Bekennung: Unsichere Lesart.

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Die Ö. M. des Tages, die ich als eine luftartige auffasse ist naturgemäss am wenigsten geeignet, Widerstand zu leisten sie ist am meisten durchsetzt von Gefühlen, Leidenschaften, Stimmungen, von plötzlichen Erregungen und Phantasmen. Sie begleitet hauptsächlich die politischen Ereignisse und heftet sich mit Vorliebe an Beurteilung der Personen, die die erste Rolle auf dem Welttheater spielen, zumal wenn es auf der Bühne des eigenen Landes geschieht oder die im Konzert die erste Geige spielen. [10] Die Oe. M. des Tages pflegt man im Sinne zu haben, auch wenn man die ö. M. nicht als an den grossen Mischkessel worin die Meinungen der Parteien durcheinander gären, denkt, sondern als an die vornehme Regentin, deren Erscheinungen und Gebote für Parlamente und Regierungen massgebend seien. Wir finden, dass sehr oft diese ausschlaggebende Bedeutung übertrieben wird. Sie macht sich allerdings nicht selten bemerkbar und zwar um so mehr, je mehr sie wirklich einmütig ist und von den auch sonst materiell und moralisch stärksten Elementen der Gesellschaft getragen und vertreten wird, je mehr sie daher, wie ein religiöser Glaube, verbindend ja verpflichtend wirkt und abweichende Meinungen mit Erfolg in den Bann zu tun vermag. Diese Einmütigkeit ist aber auch vergleichsweise selten und sie ist nicht immer so stark, dass die regierenden Autoritäten ihr gehorchen. Es gibt Staatsmänner, die sich von dem, was ihnen als ö. M. erscheint, treiben lassen. Es gibt aber auch Staatsmänner, die sich von diesem Schein nicht trügen und treiben lassen wollen und die sogar der wirklichen unzweifelhaft – soweit es überhaupt möglich ist – einigen ö. M. trotzen. Beispiele dafür sind nicht weit zu suchen. Man denke an die Bismarckische Politik 1861−66: man muss durchaus sagen, dass sie die deutsche ö. M. gegen sich hatte, und diese war mehr als die ö. M. des Tages, – es war die fliessende Ueberzeugung des weitaus grössten Teiles der Intellektuellen und des von ihnen geleiteten, mehr oder weniger gebildeten Mittelstandes bis in die Kreise der Arbeiterschaft hinein. Dieser Fall ist aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie der Erfolg die ö. M. umstimmt, namentlich der kriegerische Erfolg, der Sieg der Waffen, der den Siegreichen immer auch als der Sieg des Geistes, der Sieg von Ideen gilt. – Offenbar ist ein Staatsmann, eine Regierung um so stärker, je mehr sie oder er die ö. M. für sich, hinter sich, unter sich hat. Und wenn dies selten vollkommen der Fall ist, so wird eine Staatslei[11]tung schon zufrieden sein müssen, wenn sie wenigstens keinem heftigen Widerstand der ö. M. begegnet. Sie wird auch zufrieden sein müssen, wenn sie den Schein statt der Wirklichkeit für sich, hinter sich, unter sich hat. Und da der Schein oft gleich oder doch ähnlich der

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Wirklichkeit wirkt, so bemerken wir fortwährend, dass der Staatsmann beflissen ist, diesen Schein, wo er nicht vorhanden ist, hervorzurufen, oder wo er vorhanden ist, zu vergrössern. Das ist es, was uns vorzugsweise im Verhältnisse der Regierungen zur Tagespresse entgegen tritt. Man hat oft versucht, die echte ö. M. von der falschen und scheinbaren zu unterscheiden, aber das Urteil über die echte richtet sich, wie allzu natürlich ist, regelmässig nach dem Parteistandpunkt. Es ist aber auch des öfteren unternommen worden, Kriterien zu suchen und Methoden, nach denen sich mit wissenschaftlichem Grunde die wirkliche ö. M. erkennen lässt. Die ö. M. des Tages ist hier immer gemeint. Daher liegt es so nahe, auf die Tagespresse hinzuweisen als den Spiegel oder das Organ der ö. M. Wir wissen schon, welches Missverständnis, welche Irrleitung durch den Sprachgebrauch hier zu Grunde liegt. Indessen gibt es Fälle, dass wirklich ein allgemeines und gleiches oder wenigstens sehr ähnliches Urteil über politische Ereignisse, über Personen, die auf der Bühne des öffentlichen Lebens stehen, allmählich oder plötzlich sich bildet und mit solcher Wucht sich geltend macht, dass sie auch Parteien, die sonst bis aufs Blut sich bekämpfen, in ihren Dienst zwingt. In einem solchen Falle wird auch die Tagespresse fast gleichlautende Ur[12]teile fällen. So ist es, wenn das gemeinsame Lebensinteresse eines Volkes als solches erkannt und anerkannt ist, wenn man also weiss, dass die Zukunft des Volkes oder der Nation auf dem Spiel steht, also im Kriege, wo aber die ungeheuren und niemals gleichmässig verteilten Leiden und Opfer doch sehr verschieden wirken und, zumeist im Zusammenhange damit, auch die Meinungen über die Gründe und Berechtigung des Krieges leicht voneinander abweichen. Mehr als alle künstlichen Mittel und gewaltsamen Methoden wird der Sieg zusammenhalten und die abweichenden Meinungen verstummen machen. Trotz aller solcher Mittel und Methoden wird die Niederlage auf die Volksstimmung und durch sie auch auf die ö. M. zerrüttend wirken, denn Volksstimmung und ö. M. sind zwar nahe verwandt und gehen oft in einander über, aber sind doch voneinander verschieden. In schweren Krisen verschmelzen sie am ehesten miteinander. Im alltäglichen Verlauf der Dinge nimmt die Volksstimmung an den politischen Ereignissen, selbst, wenn sie sehr wichtig sind, geringen Anteil, während die ö. M. ihnen auf dem Fusse folgt, meistens in ihrem geteilten und streitenden Zustande, zuweilen aber auch als die einmütige und wirkliche. Ein Fall dieser Art war es, als in Deutschland nach der Daily Telegraph Publikation im November 37

Daily Telegraph Publikation: Am 28. Oktober 1908 erschien in der brit. Tageszeitung

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1908 der Stab über den damaligen Monarchen gebrochen wurde. Es war ein Fall von überwältigender und unwiderstehlicher ö. M. Auch Curt Erler, der einige Jahre später über d Macht der Presse in Deutschland schrieb, meint, es sei damals zum erstenmale ein Sieg der Oe M errungen worden durch die Einigkeit aller Parteien. Aber die Volksstimmung verhielt sich ziemlich gleichgültig. Für sie war die Sache zu sehr literarisch-journalistisch und die Nützlichkeit oder Schädlichkeit von mündlichen oder schriftlichen Aeusserungen des Kaisers hat sie [13] kaum je beschäftigt, und darum trat ihr überhaupt der moralische oder politische Wert des Monarchen selten nahe. In der Arbeiterpresse konnte nur sehr vorsichtig darüber gesprochen werden. Der Kaiser hatte allerdings in den bewussteren Parteikreisen durch seine Aeusserungen sich unbeliebt gemacht. Sonst aber war man gegen seine Person gleichgültig, die hingegen in den Schichten von Besitz und Bildung unausgesetzt der Beobachtung und oft einer scharfen Zensur unterlag, zumal, nachdem der Monarch durch die Entlassung Bismarcks die ö. M. stark vor den Kopf gestossen hatte. Allerdings sprachen die monarchischen Gefühle und der in der ö. M. vorherrschende „Vernunftmonarchismus“ zu seinen Gunsten, aber seine Reden, Telegramme und Handlungen hatten selten den Beifall der ö. M., so dass man sagen kann, es war ein, wenn auch nicht festes, so doch flüssiges ungünstiges Urteil über seine Persönlichkeit, das Urteil der ö. M. So sind auch nach dem traurigen Ausgange des Krieges die Volksstimmung und die ö. M. weit auseinander gegangen, nachdem sie so lange durch die Natur der Dinge und durch den Zwang der Politik und Zensur zusammen gehalten waren. Die Volksstimmung ist, wenn meine Beobachtung mich nicht täuscht, – und das Volk hat immer diese Neigung, – überwiegend fatalistisch wohl auch mit einer Beimischung von Aberglauben. Jedenfalls steht sie den Ereignissen selber und ihren Folgen, ohne sich sonderlich dafür verantwortlich zu fühlen, als unabänderlichen Tatsachen gegenüber und die grosse Menge ist zu sehr genötigt, im Au[14]genblicke zu leben und den kommenden Tag zu erwarten, als dass sie in der Lage wäre, sich

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„Daily Telegraph“ ein Artikel mit Äußerungen des deutschen Kaisers Wilhelm II. zum dt.-brit. Verhältnis, in dem der Kaiser erklärte, dass er ein Freund Großbritanniens sei. Während des Burenkrieges habe er eine europäische Union gegen Großbritannien verhindert, außerdem seiner Großmutter, Königin Viktoria, durch den später erfolgreich ausgeführten Plan für einen Feldzug gegen die Buren geholfen. Über diese Äußerungen war die deutsche Öffentlichkeit entsetzt: sie schädigten den Ruf Deutschlands und machten seine Politik unglaubwürdig. Presse in Deutschland schrieb: Vgl. Erler 1911.

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viel mit den Ursachen des Unheils oder gar mit der mannigfachen Literatur darüber zu beschäftigen, wenn auch von manchen in der Zeitung dies und jenes derartige gelesen wird. Die ö. M. hat gerade in den Kreisen ihren Ursprungsherd, die sich lebhaft in diesem Sinne beschäftigen und die im Bewusstsein ihrer Weisheit immer geneigt sind, der Torheit und Unbesonnenheit, Zuchtlosigkeit und Sittenlosigkeit der grossen Menge die Hauptschuld zuzuweisen an den Uebeln, von denen alle bedrückt werden. So besteht denn die unermessliche Schwierigkeit der gegenwärtigen Regierungen darin, dass, um es rund heraus zu sagen, die ö. M. gegen sie ist. Wir brauchen nur in unseren Hochschulen, unter Lehrern und Studierenden uns umzusehen, brauchen nur unter Grosskaufleuten oder Grossindustriellen zu verkehren, brauchen nur zu bemerken, welche Zeitungen und Wochenblätter an den Bahnhöfen und den Kiosks am eifrigsten gekauft werden, um uns davon zu überzeugen. Die ö. M. ist heute, um es mit einem bekannten Schlagwort aber ohne Tadel oder Lob zu bezeichnen, reaktionär. Dies ist um so merkwürdiger, da sie ungefähr 100 Jahre lang mit dem Liberalismus assoziiert gewesen ist. Noch heute sind die festen Bestandteile, von denen ich gesprochen habe, solche der freisinnigen Weltanschauung und der Aufklärung. Aber die politischen Folgerungen dieser Denkungsart sind schlechthin in Fluss geraten und teilweise verdun[15]stet. Das ist nicht von ungefähr gekommen, sondern in einem Prozess fortgeschritten, der in dem Augenblicke einsetzt, als die Arbeiterbewegung den Liberalismus zersetzte und das neue Herrentum noch entschiedener auf die Seite des alten drängte, als es schon der wachsende Reichtum und Lebensgenuss bewirkte, so dass mehr und mehr an die Stelle des alten Gegensatzes: Adel nebst Dynastie – Bürgertum, grosses Grundeigentum – Kapital, der neue Gegensatz: Kapital – Arbeit, besitzende – besitzlose Klasse sich verschoben hat. Die ö. M., zumal, sofern sie mit sich einig ist, und eine geschlossene Kraft des Widerstandes besitzt, ist Urteil und Wille der besitzenden Klasse. Dies soll nicht einen Vorwurf, geschweige denn eine Anklage bedeuten, sondern eine Tatsache anzeigen, die freilich im Lichte eines Begriffes gesehen wird. Die Gründe, die ich für diesen Begriff habe, sind hier mehrfach angedeutet worden. Einen Begriff kann man nicht beweisen, man kann ihn nur mit Gründen empfehlen. Seinem Ursprunge nach ist das Wesen der ö. M. sogar noch enger zu begrenzen. Der eigentliche Träger ihrer Erscheinung ist die in den letzten Jahrhunderten emporgekommene, nicht mehr den einzelnen Städten angehoerige, sondern städtisch-nationale und national-städtische hauptstädti-

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sche Mittelklasse, die man in Frankreich die Bourgeoisie nennt, der freilich immer auch Elemente des kleinen Landadels und des höheren Bauernstandes gesellt waren. Das merkwürdigste in ihrer Entwicklung ist eben dies, [16] dass sie lange als das ganze Volk erschien mit Ausnahme der wenigen Hunderttausende, die in den mittleren Zeiten als Adel Träger des weltlichen, als Klerus des geistlichen Regimentes waren. Durch Siéyès Schrift wurde in die Morgenröte der Revolution das Wort hinausgeschmettert: „Der dritte Stand war bisher nichts, er wird alles sein.“ Aber es dauerte kaum 3 Jahre, da tat die Kluft zwischen Bourgeoisie und peuple sich auf, die seitdem immer mehr sich erweitert hat. Trotzdem blieb noch mehr als zwei Menschenalter hindurch die Vorstellung lebendig, dass wenigstens in Deutschland der Wille des gebildeten Bürgertums der Wille des ganzen Volkes sei. Darum leuchtete dieser Wille und flammte von Zeit zu Zeit empor als die ö. M., und die ö. M. erschien mehr oder minder als „demokratisch“ im damaligen, zunächst dem Absolutismus entgegengerichteten Sinne. Ihre Forderungen waren Konstitution, Gewissensfreiheit, Pressfreiheit, Redefreiheit, Geschworenengerichte, Mündlichkeit und Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, fernerhin Handels- und Gewerbefreiheit, Freizügigkeit, Freiheit der Eheschliessung, kurz persönliche Freiheit und Gleichheit, Vertragsfreiheit nach allen Richtungen und Gleichheit aller vor dem Gesetze! Dadurch, dass mit starkem Uebergewicht nicht nur die politische Literatur in Büchern und Broschüren und Zeitschriften, sondern vor allem in der noch jungen Tagespresse auf Seite dieser Gedanken und Interessen stand, konnten diese also als Organe der ö. M. sich darstellen, und somit wurde von den Vertretern der Alten, mehr und mehr zurückgedrängten Stände, ihrer Denkungsart und ihrer [17] Politik die ö. M. ebenso wie die Presse und die ganze liberale Literatur verabscheut, angeklagt und angeschwärzt. Dafür gibt es viele Zeugnisse aus andern Ländern wie aus Deutschland, von denen ich nur zwei charakteristische Beispiele anführe. Der englische Staatsmann Sir Robert Peel nannte im Jahre 1820 – er war damals noch ein echter Tory – die ö. M. einen grossen Misch-Masch von Narrheit, Schwäche, Vorurteil, unrichtiger Empfindung, richtiger Empfindung, Eigensinn und Zeitungsartikeln. –

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„… wird alles sein.“: Vgl. Siéyès 1794 sowie Cramer 1794: 105: „1) Was ist der Bürgerstand? – Alles. 2) Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? – Nichts. 3) Was verlangt er? – Etwas zu seyn“. im Jahre 1820: Die Äußerung konnte nicht nachgewiesen werden.

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Der Abgeordnete von Bismarck-Schönhausen wollte am 6. Sept. 1846 in der zweiten preussischen Kammer den Wunsch nicht unterdrücken, dass es das letzte Mal sein möge, dass (durch den Dreikönigsvertrag) die Errungenschaften des preussischen Schwertes mit freigebiger Hand weggegeben würden, um die nimmersatten Anforderungen eines Phantoms zu befriedigen, welches unter dem fingierten Namen von Zeitgeist oder ö. M. die Vernunft der Fürsten und Völker mit seinem Geschrei betäubt, bis jeder sich vor dem Schatten des anderen fürchtet, und alle vergessen, dass unter der Löwenhaut des Gespenstes ein Wesen steckt von zwar lärmender, aber wenig furchtbarer Natur. Es ist nur folgerichtig, dass auch auf dem entgegengerichteten Flügel der politischen Richtung eine Geringschätzung, ja Verachtung der ö. M. angetroffen wird. So begegnet uns von dem grossdeutschen Radikalen Prof. Wuttke jene heftige Anklage gegen das deutsche Zeitungswesen und die ihm zur Last gelegte Gestaltung der ö. M., eine Anklage deren Bitterkeit und Schärfe Ferdinand Lassalle mit dem ganzen Pathos seiner Beredsamkeit noch zu überbieten beflissen war.

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von Bismarck-Schönhausen: D. i. Otto von Bismarck, der spätere Reichskanzler. (durch den Dreikönigsvertrag): Vgl. Bismarcks Rede (1895: 1. Bd., 20) vom 6. 9. 1849 (bei Tönnies irrtümlich 1846): Der Dreikönigsvertrag (Dreikönigsbündnis) vom 26. 5. 1849 zwischen Preußen, Sachsen und Hannover beinhaltet die Verfassung des in Aussicht genommenen Deutschen Reiches: An der Spitze des Deutschen Reiches steht der König von Preußen usw. Pathos seiner Beredsamkeit: Vgl. Lassalle 1874.

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Es ist mehr und mehr zu allgemeiner Erkenntniss gelangt, dass die Entwicklung des Kapitalismus, der im Handel und im Geldwesen längst angebahnt war, während der letzten Jahrhunderte als kapitalistische Produktionsweise ihrer Vollendung sich genähert hat. Diese Entwicklung wird naturgemäss willkommen geheissen und kräftig bejaht durch die Klasse die durch sie emporgehoben wurde: diese kämpft als „dritter Stand“ gegen den Adel und den Klerus, die herrschenden Stände des alten Gemeinwesens. Die Entwicklung reflektiert sich in der überwiegend werdenden Denkungsart, der gerinnenden öffentlichen Meinung, und diese gelangt in Literatur und Kunst, in der Wissenschaft, in politischen Streitschriften wie in periodischen Publikationen, insbesondere im Zeitungswesen zu mannigfachem, mehr oder minder deutlichem Ausdruck. Die Entwicklung ist eine Bewegung. Sie wird als ein Fortschritt empfunden und vorgestellt, folglich auch oft gepriesen. Die Vermehrung und Verstärkung der Kenntniss der Natur und Naturgesetze wie die Vermehrung und Verstärkung der Herrschaft über sie liegt als grosse unbezweifelte Wahrheit dieser Meinung und dieser Verherrlichung des Fortschrittes zu Grunde. Aber auch die damit zusammenhängende Abschaffung vieler alter Bräuche und Einrichtungen des sozialen Lebens, die als barbarische und grausame Härten geächtet werden, rechnen die bewussten Vertreter des neuen Zeitalters ihm zum Ruhme; nicht minder die tolerantere und humanere Denkungsart im Gegensatze zu damals vorherrschendem religiösen Fanatismus, der Verfolgung von Andersdenkenden und ähnlichen Handlungen die dem finsteren Aberglauben und Wahn zugeschrieben werden. Das Bewusstsein des [2] Fortschrittes erfüllt und erhebt die Seelen derer, die als Kaufleute, Bankiers, Unternehmer grosser Betriebe die wirtschaft1

Die Krise der Sozialpolitik: Textnachweis: TN, Cb 54.34:28 – Eigenh. Manuskript in 4°, 8 S., mit eigenh. Korrekturen und Zufügungen. Der Text dürfte nach 1922 entstanden sein und ist nicht identisch mit dem Artikel unter dem Titel „Zur Krise der Sozialpolitik“, den Tönnies am 9. März 1924 in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ (DAZ), Berlin, veröffentlicht hatte (Tönnies 1924). Dieser ist auf die aktuelle Arbeitssituation, Arbeiterfragen und den Achtstundentag bezogen. Der nachgelassene Text entwickelt allgemein die Geschichte der Sozialpolitik.

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liche Bewegung leiten; diesem Bewusstsein seinen Ausdruck zu verleihen ist insbesondere die Aufgabe der Schriftsteller und anderer Männer der Wissenschaft, die es zu deuten und auszubreiten sich berufen halten. Die wirtschaftliche Bewegung schlägt in der Verbesserung und Verfeinerung der Lebenshaltung, der Versuchung an Bequemlichkeiten, Annehmlichkeiten, Genüssen, der Anhäufung und verstärkten Sicherung des Reichtums aller Art nieder, woran in erster Linie naturgemäss jene leitende Schicht, die oft unter dem französischen Namen der Bourgeoisie zusammengefasst wird, ihren Anteil gewinnt und in Anspruch nimmt. Dieser Bewegung tritt, zunächst auf wirtschaftlichem Gebiet, die Arbeiterbewegung entgegen. Sie wächst in ungefähr gleichem Masse wie der kapitalistische Fortschritt. Sie stellt sich unmittelbar als ein Streit um den Preis der Arbeitskraft dar. Der Arbeiter verlangt möglichst günstige Bedingungen für seine Arbeit, insbesondere aber möglichst hohen Lohn, möglichst kurze Arbeitszeit. Der Unternehmer ist in der Regel am Gegenteil interessirt. Folge des Gegensatzes sind A. von der einen Seite Arbeitseinstellungen, Organisation von Vereinen zu gegenseitiger Hilfe und gemeinsamer Tätigkeit zur Erzielung günstiger Arbeitsbedingungen, also Unterstützung beschlossener und anerkannter Ausstände, Aechtung der „Streikbrecher“, alsbald auch der nichtorganisirten Collegen und Weigerung mit solchen zusammenzuarbeiten, sodann Sympathiestreiks, Demonstrationsstreiks, Generalstreiks, und die Agitation für alle [3] solche Zwecke nebst den Bemühungen, die öffentliche Meinung für sie zu gewinnen oder wenigstens über die tatsächlichen Zustände, Verhältnisse, Forderungen aufzuklären. B. von der anderen Seite Bekämpfung der Streiks durch entgegengerichtete Agitation, durch Anwerbung Arbeitswilliger, durch Aussperrungen, durch Organisation von Arbeitgeberverbänden, durch Ausschluss der Rädelsführer in Streiks und anderen Bewegungen, mit schwarzen Listen, die dem „Gemasssregelten“ auch die Einstellung in andere Betriebe versperren sollen, durch Betonung des Herrenstandpunkts, durch „Wohlfahrtseinrichtungen“, die den Arbeiter abhängiger machen sollen vom Betrieb, durch Versicherung gegen Streikgefahren u. a. – Durch diese Kämpfe tritt der Gegensatz von Kapital und Arbeit, innerhalb des täglichen Lebens der Produktion und des Austausches von Gütern, auf mehr oder minder grosser Stufenleiter, in mannigfacher Stärke und Heftigkeit, aber mit zunehmender Planmässigkeit in allen Ländern der modernen Industrie immer greller zu Tage. Dieser Gegensatz hat keinen unmittelbaren politischen Inhalt. In den Vereinigten Staaten sind die daraus entspringenden Kämpfe oft von grosser

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Heftigkeit, werden mit Wut und nicht selten in gewaltsamer Weise, geführt, ohne dass eine antikapitalistische politische Partei dort nennenswerte Bedeutung hat gewinnen können. Auch in Grossbritannien verharrte während des 19ten Jahrhunderts, ungeachtet der Episode des Chartismus, die Arbeiterbewegung wesentlich in einem wirtschaftlich-sozialen Charakter. In Deutschland entwickelte sich die gewerkschaftliche Organisation im Anschluss an verschiedene und somit gegen einander gerichtete politische Parteien: in grossen Streiks, in dem der Bergarbeiter des Ruhrgebietes 1905, wirkten die [4] 4 konkurrierenden Gewerkvereine einträchtig zusammen, um Ruhe und Ordnung in den erregten Massen zu wahren. Auch die in Arbeiterkreisen mehr und mehr Boden findenden Bestrebungen, durch Organisation des Konsums der eigenen Hauswirtschaft zu helfen, haben ihrem Wesen nach und in der Regel auch ihrem Programme nach, keinen Parteicharakter, wenngleich sie in Deutschland erst aus den Reihen der Sozialdemokratie diejenige Förderung – etwa seit 1895 – gefunden haben, derer sie zu ihrer Entwicklung bedurften. Die deutschen Konsumvereine sind doch, und nicht blos durch gesetzliche Nötigung politisch neutral geblieben, wenn auch drei verschiedene Arten, je nach ihren Beziehungen zu drei verschiedenen Parteien, sich gegen einander abheben. 2. Die Entstehung einer politischen Partei, die wesentlich eine Partei der Arbeit, und zwar zunächst der körperlichen Arbeit, und unmittelbar der industriellen, sein will, ist überall – ausser durch die allgemeinen Zustände der modernen Civilisation – wesentlich bedingt durch drei besondere Faktoren: 1. die Erweiterung des Wahlrechts bis zum allgemeinen, direkten und geheimen Wahlrecht wenigstens der Männer 2. Den Fortschritt der Volksbildung, der einer grösseren Menge Zeitung und Flugschrift zugänglich macht und ihr gemeinsames Bewusstsein dadurch erhöht 3. Den Zustand geschlossenen Bodens, der die Konkurrenz der Arbeiter in Städten und Fabrikcentren intensivirt. Deutschland und die skandinavischen Länder sind hauptsächlich durch die Stärke des zweiten Faktors günstige Felder für die Sozialdemokratie geworden. Der Einfluss bedeutender literarischer 4

Chartismus: D. i. erste sozialistische Arbeiterbewegung in England; sie erwuchs aus der Enttäuschung über die nur den Mittelstand befriedigende Reformbill von 1832 und beruhte auf einer von Lovett 1838 verfaßten „People’s Charte“, in der in 6 Punkten besonders das allgemeine und geheime Stimmrecht, eine Parlamentsreform und jährliche Parlamentswahlen gefordert wurden. Die chartistische Bewegung veranstaltete Aktionen, um die politische Gleichberechtigung und den sozialen Schutz der Arbeiter durchzusetzen.

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und rednerischer Persönlichkeiten kam befruchtend hinzu. Wenn der Sozialismus zunächst als Gegensatz gegen den Liberalismus, insbesondere den ökonomischen, als Richtung auf Staatshilfe wider die Beschränkung auf Selbsthilfe, emporkommt, so findet er naturgemäss seine Anlehnung bei dem alten Gegner des Liberalismus, der konservativen Denkungsart und zwar sowol bei deren religiös-kirchlichen, als auch bei ihrer in den alten europaeischen Ländern noch vorhandenen monarchischen Tendenz; beide gehen [5] auch leicht und gern zusammen. Jene bedeutet politische Anwendung moralischer, insbesondere karitativer Grundsätze, wie sie von der religiösen Ueberlieferung getragen werden; diese die Anknüpfung der eingreifenden und ordnenden Staatsgewalt an eine zumeist auch religiös beglaubigte erhabene Autorität. So gibt es katholischen Sozialismus, besonders in Frankreich; protestantischen, besonders in England – beide Arten auch in Deutschland wirksam vertreten. Hier tritt aber auch mit Kraft die Idee des sozialen Königtums auf und wird durch bedeutende Schriftsteller, auch durch einzelne Staatsmänner begünstigt. Indessen haben die Gedanken des Sozialismus ihre grosse historische Entwicklung nur in Anlehnung an die Gedanken der Demokratie gefunden. Max Weber sprach es im Jahre 1918 aus: „alle Parteien die rein socialistischen Charakter haben, sind heute demokratische Parteien“ – der politische Zusammenhang mit dem Liberalismus, dessen Gegner schon die demokratische Gesinnung dadurch wird, dass sie fortschreitend ihn hinter sich lässt, ist mithin stärker gewesen, als der ideologische Zusammenhang anderer Art mit konservativen und mittelalterlichen Ideen, wenn auch dessen Bedeutung fortdauert. 3. Aber im Gebiete des Geistes ist eine andere Association der demokratischen und socialistischen Ideen von tieferer und stärkerer Bedeutung: diejenige mit einer principiell wissenschaftlichen und philosophischen, also den Ueberlieferungen und den Religionen gegenüber freien Denkungsart. Diese ist – eben als freie – ursprünglich liberal. Sie ist eine Tochter des Zeitalters der Aufklärung. Ihr Lieblingsgedanke war die Natürlichkeit, und dass [6] das Natürliche das Vernünftige sei. Das fand auch Anwendung auf die Ansicht vom richtigen Wirtschaftsleben im Physiokratismus und der sich anschliessenden Lehre Adam Smith’s. Jener hatte schon die Maxime „laissez 15 18

sozialen Königtums: Das soziale Königtum ist eine Idee Lorenz von Steins gewesen. Max Weber sprach: Das Zitat lässt sich wörtlich nicht, allenfalls sinngemäß nachweisen in Max Webers Frankfurter und Wiesbadener Reden vom 1. und 5. Dez. 1918 (vgl. Weber 1988: 376−395).

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faire, laissez passer“ als Grundregel der staatlichen Wirtschaftspolitik geprägt; Adam Smith vollendet sich im „Manchestertum“, dessen bedeutendste Vertreter, die Vorkämpfer des Freihandels – Cobden und Bright – von Menschenliebe und Idealismus erfüllt, die Erwartung des Aufhörens der Kriege und der Verbrüderung der Völker an die Verwirklichung ihres Ideals anknüpften. Das Ideal selber wurde noch um 1870 auch in Deutschland von der einflussreichsten Schule der Volkswirte geglaubt und vertreten, von den führenden Gelehrten wenigstens begünstigt. Aber die Kritik nagte schon an diesem Dogma. Der historischen Jurisprudenz, die das Naturrecht verwarf, passte eine historische Nationalökonomie sich an. Ihre Grundansicht bezieht sich zunächst auf die Handelspolitik: in dem Sinne, dass je nach Umständen ein System des Schutzes oder ein System des Freihandels „richtig“ sei. Zu gleicher Zeit stellte sich in der Lehre Friedrich List’s die Nation als Mittelpunkt des kosmopolitischen Gesichtspunktes der Freihandelsschule entgegen. Es wurde nicht in Frage gestellt dass der theoretischen Wissenschaft obliege, die praktische zu begründen, und dass die praktische Nationalökonomie der Volkswirtschafts-Politik die Wege [7] weisen sollte. Aber anstatt der abstrakten und deduktiven Methode müsse die Theorie die konkrete und induktive anwenden. Die Nationalökonomie wurde zu einer historischen Wissenschaft gemacht. Ein anderes Element kam hinzu, das für die Praxis und Politik wichtiger war: das Postulat einer ethischen Fundierung der Gesetzgebung, auch in Bezug auf das wirtschaftliche Leben. Es pflegte nicht klar durchdacht aufzutreten. Es entsprang einer Mannigfaltigkeit von Gefühlen, die sich in der Richtung auf das Ideal eines besseren sozialen Lebens, insbesondere durch eine für die grosse Menge des Volkes günstigere Verteilung der Güter, versammelten. Man wollte nicht mehr kalten Herzens an der Steigerung der Produktivität der Arbeit durch die rastlos verbesserte Fabrik, also an der Vermehrung der Produktenmasse, sich ergetzen, nicht mehr sich daran genügen lassen, die ungeheuren Vorzüge der Neuzeit vor dem finsteren Mittelalter und noch vor der kurz vorausgehenden Zeit zu preisen – kurz man wollte die gegenwärtigen Zustände nicht mehr ausschliesslich, nicht einmal vorzugsweise, aus der Seele der Wenigen, der Reichen und sich Bereichernden, der Geniessenden und Herrschenden – man wollte sie auch im Sinne der grossen Mehrheit der Dienenden und Leidenden betrachten – man wollte (das war die ethische Forderung) die ausgleichende Gerechtigkeit walten lassen in dem Streit um die Meinungsverschiedenheiten zwischen Kapital und Arbeit. Im Anschluss daran trat die verdrängte Auffassung der Aufgaben des Staates wieder in den Vorder[8]grund: die Zweckbestimmung

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der Wohlfahrt über die des blossen formalen Rechtes. Als polizeiliche Bevormundung – „Polizeistaat“ – war sie in Verbindung mit absolutistischer Willkür und Despotie verworfen, daher die Nichteinmischung des Staates in die freien Verträge zwischen Unternehmern und Arbeitern ebensowol um der persönlichen Freiheit beider willen, als wegen der wirtschaftlichen Unzweckmässigkeit solcher Eingriffe verlangt worden. Nun aber war die „soziale Frage“ da! Das Auftreten Lassalles, eines Mannes von Geist, von Kenntnissen und von ergreifender Beredsamkeit, hatte sie schärfer als zuvor in das Bewusstsein der Gebildeten gerückt. Freilich, jene Politiker, Gelehrte, Journalisten, die im „Volkswirtschaftlichen Congress“ zusammenkamen, spotteten wohl über die „sogenannte“ soziale Frage. Fleiss und Sparsamkeit allein könne den Arbeiter fördern; mehr und mehr werde die Steigerung der Produktion auch ihm zu gute kommen; nur seine eigene Unbesonnenheit in Eheschliessung und Kinderzeugung bringe ihn ins Elend. In diesem Sinne, dem Malthus eine so breite Folie gegeben hatte, wirkte noch stark der auch sonst in Deutschland einflussreiche John Stuart Mill. Und Roscher den noch um 1870 und später die jüngeren Nationalökonomen als ihren Meister verehrten, ebenso wie Mill ethischen Erwägungen auch in Bezug auf die Volkswirtschaft, breiten Spielraum gebend, schreibt doch in seinem damals noch unendlich vielgelesenen Lehrbuch: „Die Lage der Lohnarbeiter kann wesentlich nur dadurch gut bleiben oder besser werden, dass ihre Anzahl minder schnell wächst als die schliesslich zu ihrer Löhnung bestimmten Kapitalien“ und „Ganz besonders kommt es an auf ihre Vorsicht und Selbstbeherrschung hinsichtlich des Kinderzeugens.“

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„Volkswirtschaftlichen Congress“: D. i. eine seit 1858 bestehende Vereinigung, die sich die Agitation für wirtschaftliche- und Gewerbefreiheit zur Aufgabe machte. Später entstanden Verbindungen zum Verein für Sozialpolitik Kinderzeugens: Vgl. sinngemäß Roscher 1918: 751 u. 832; die Zitate konnten in Roschers „System der Volkswirtschaft“, das mehr als 25 Auflagen erreichte, wörtlich nicht ermittelt werden.

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In Heft III / 4 S. 248 behauptet Herr Prof. Roberto Michels: „Auch Ferdinand Tönnies hat keine Ahnung von der tüchtigen italienischen Literatur die auch auf dem Gebiete der Sociologie der öffentlichen Meinung welcher er einen dicken Band gewidmet hat, längst bereits besteht.“ Sehr begierig wäre ich zu erfahren, woher Herr Michels meine Ahnungen kennt. Die Tatsachen sind folgende. Seit 17 Jahren habe ich nicht nur Wesen und Wirken der öffentlichen Meinung erforscht, sondern auch die weitschichtige Literatur über ihre Probleme mir angelegen sein lassen. Dabei habe ich freilich hauptsächlich mit deutschen Autoren mich beschäftigt, die in dieser Hinsicht eine sehr reiche Ausbeute ergeben. Seit 1914 ist bekanntlich für uns Deutsche die Benutzung ausländischer [2] Literatur sehr erschwert. Eine meiner ältesten Notizen ist aber dem mir von seinem Verfasser gütigst übersandten Werke von Bonucci L’orientacione psicologica dell’ Etica e della filosofia dell diritto entnommen, worin eine begrenzte Anzahl von Citaten zur Literatur über die öffentliche Meinung sich findet. Wenn Herr Michels dem „dicken Buche“ (Kritik der öffentlichen Meinung) wenigstens einen Blick in seine Vorrede gegönnt hätte, so wäre ihm die Mitteilung begegnet (S. V), dass (längst) die Gesamtheit der Lehren und Theorieen, die über die öffentliche Meinung ans Licht getreten sind, in Deutschland und in anderen Ländern … einen grossen Umfang gewonnen hat. „Die Entwicklungsgschichte dieser Meinungen über die öffentliche Meinung … war von mir bestimmt, das letzte Buch dieses Werkes zu bilden: Bald erschien mir aber der Stoff zu gross, ich habe ihn darum einem

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Erklärung: Textnachweis: TN, Cb 54.34:109 – Eigenh. Manuskript in 8°, 3 S. Erwiderung aus dem Jahre 1924 auf den Aufsatz von Robert Michels’ „Elemente zur Soziologie in Italien“ (1924: 219−249). Weiteres über die Entstehung der Kontroverse sowie die durch Tönnies „Erklärung“ provozierte „Replik“ von Michels im Editorischer Bericht S. 633−635. „… längst bereits besteht“: Vgl. Michels 1924: 248. Bonucci: Vgl. Bonucci 1907. (Kritik der öffentlichen Meinung): Vgl. Tönnies 2002 (TG 14); zuerst 1922. (S. V): Vgl. auch Tönnies 2002: 5 f.; das folgende Zitat ebd.: 6.

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besonderen Werke, das als Anhang des gegenwärtigen ihm bald folgen soll, vorbehalten.“ So habe ich denn nur insoweit als es in den systematischen Zusammenhang zu gehören schien, auf frühere Werke, namentlich auf die von Moralphilosophen, Bezug genommen, und zu Bryce ausdrücklich bemerkt (S. 323), dass seine einleitenden Kapitel „über das Wesen der öffentlichen Meinung und Regierung durch die öffentliche Meinung“ „hier übergangen werden.“ Dass mir überhaupt die italienische Literatur der Sociologie keine terra incognita ist, konnte Herr Michels auch sonst wissen, da ich seit 1888 eine grosse Zahl von Buchanzeigen über diese Werke verfasst habe. Den Vorwurf dass Herr Michels „keine Ahnung“ von dem Bereiche meiner Studien hat, wird er freilich sehr leicht nehmen. Schlimmer ist es, dass er trotzdem darüber meint urteilen zu dürfen. Ferdinand Tönnies

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(S. 323): Vgl. ebd.: 374; dort abweichend folgt das zweite Zitat unmittelbar in Klammern gesetzt.

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Die Lage der deutschen Konsumvereine, wenigstens eines grossen Teiles von ihnen, ist schwierig. Die Ursachen liegen klar zu Tage. Nicht nur liegt der Verfall der deutschen Volkswirtschaft überhaupt zu Grunde, es sind auch besondere Umstände wirksam, die es erklären, dass Heinrich Kaufmann jüngst die Alternative aufstellte: Zusammenbruch oder Wiederaufbau? Er stellt fest, dass ungefähr zwei Drittel der Genossenschaften, die dem Zentralverband angehören weniger als tausend Mitglieder haben, also Kleinbetriebe darstellen. Dass diese weniger widerstandsfähig sind, ist offenbar. Auch für grosse Geschäfte, die ausschliesslich im händlerischen Gewinninteresse geführt werden, ist die Anpassung an die Geldentwertung und ihre Folgen mit vielen Nöten, Enttäuschungen, Kosten und Sorgen verbunden. Man ist genötigt die Preise der Waren so zu stellen, dass man erwarten kann, sie von neuem einkaufen zu können. Aber das Hinschwinden der deutschen Währung, und somit die Steigerung der Einkaufspreise in Papiermark ausgedrückt, hat, besonders in den letzten Monaten auch die verwegensten Erwartungen und Befürchtungen weit übertroffen. Es wird mehr und mehr üblich in der nicht mehr vorhandenen Goldmark zu kalkulieren. Die grösseren Genossenschaften haben längst begonnen sich danach zu richten. Je kleiner aber der Verein um so mehr begegnet die Durchführung kaum überwindbaren Hemmungen, zumal dem Wettbewerb – lauterem oder unlauterem – der privaten Kleinhändler gegenüber. Wir stehen jetzt an dem Punkte, dass von Staatswegen versucht wird dem unerträglich gewordenen 1

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Solidarität?: Textnachweis: TN, Cb 54. 34: 53. – Der Text, ca. 1924 entstanden, liegt in zwei Typoskripten vor, beide Maschinen-Durchschriften derselben Original-Maschinenschrift. Beide Durchschläge (S. 1−4, in 8°) enthalten gleichlautende Korrekturen und Anmerkungen, teils von Tönnies’ eigener Hand, teils von Franziska Tönnies-Heberle. Auf dem Titelblatt des einen der beiden Durchschläge befindet sich zusätzlich am Kopf (Handschrift Franziska Tönnies-Heberles): „Zur gefälligen Verwendung“. Auf Blatt 3 des anderen TyposkriptDurchschlags (eigenh.): „Solidarität? Betrifft Konsumvereine der Arbeiter“. Auf beiden Vorlagen unter dem Titel „von Ferdinand Tönnies-Kiel“ (Handschrift Franziska Tönnies-Heberle). Der beide Mal enthaltene Zusatz „711“ verweist auf die Liste von Else Brenke. Alternative: Vgl. Kaufmann 1923: 506 f.

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Misständen des Zahlungswesens durch Wiederherstellung eines wertbeständigen Geldes auf neuer Basis ein Ende zu machen. Wenn dies, wie wir hoffen dürfen gelingt, wenn dann auch der Arbeitslohn und das Gehalt wieder eine Gestalt gewinnen, die von der Schwindsucht geheilt sein würde, so wird doch diese Genesung zugleich offenbarer als bisher machen, wie furchtbar der Wohlstand des deutschen Volkes gelitten hat und wie schlimm es auch um die meisten Konsumgenossenschaften steht. Es wird, wie Kaufmann sich ausdrückt der Schleier [2] zerrissen werden, der sich über alles wirtschaftliche Geschehen gelegt hat. Kaufmann, der schon längst durch den Schleier hindurchgeblickt hat, täuscht sich auch nicht darüber, dass es zur Rettung der Konsumgenossenschaften nicht genügen wird, wenn sie nunmehr über ihren wirklichen finanziellen Zustand Klarheit gewinnen werden. Er hält vielmehr für unerlässlich notwendig, dass sie ihre Unkosten verringern, darum die Zahl ihrer Angestellten vermindern, nachdem diese durch die scheinbare Steigerung der Umsätze fortwährend gestiegen war. Ferner hält er unzweifelhaft mit Recht die Steigerung der Geschäftsanteile auf 50−60 neue sogenannte Rentenmark für geboten, d. h. nach dem jetzigen Stande der Valuta auf 30−36 Billionen, in Papiermark. Bei der gegenwärtigen Steigerung der Lebensmittelpreise, die in vielen Artikeln erheblich über die ehemaligen Goldmarkpreise hinausgeht, muss es als fragwürdig erscheinen, ob zu gleicher Zeit die Entwicklung der Löhne damit Schritt halten wird und ob der Wiederaufbau der deutschen Konsumgenossenschaften auf dieser Basis gelingen kann. Denn sie stellt sehr hohe Anforderungen an den genossenschaftlichen Geist und an das Verständnis für eine grosse und wertvolle Sache. Wenngleich sich dies Verständnis bedeutend verstärkt und in der jüngeren Generation noch zugenommen hat, so ist es doch keineswegs allgemein. Die meisten Arbeiter, besonders aber ihre Frauen und Töchter, denken nur an den augenblicklichen Vorteil und sehen in dem Konsumverein nur ein Geschäft, das mit anderen Geschäften konkurriert; in der Regel sind ihnen diese anderen Geschäfte sogar bequemer und scheinen ihnen nicht selten billiger, wenn auch die Wohlfeilheit oft nur trügerisch ist und der Irrtum nicht selten auf ihrer eigenen Warenunkenntnis beruht. Übrigens lassen Not und Sorgen oft auch die lebendige Gesinnung für eine gemeinsame Sache, wenn sie Opfer verlangt, erkalten und lähmen den Gedanken an die Zukunft, auch an die Zukunft der eigenen Kinder und Kindeskinder. Indessen selbst wenn das Wollen und die Gesinnung so [3] stark und einmütig wären, wie sie in Wirklichkeit nicht sind, so würden sie doch – man muss sich dies ohne Schonung klar machen – allzuleicht am Nichtkönnen scheitern. Kaufmann

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weiss, dass die Lage der Arbeiterfamilien infolge zu geringen Einkommens höchst ungünstig ist. „Sehr viele Mitglieder unserer Genossenschaften werden nicht mehr, und manche nicht einmal soviel Einkommen haben, als sie zu dem allerbescheidensten täglichen Leben aus der Hand in den Mund benötigen.“ Es ist beinahe trivial geworden, dass der Untergang des deutschen Lebens für alle Nationen des westlichen Europa, mit Ausnahme vielleicht von Frankreich, und für den Norden tiefe und langwierige Beeinträchtigung ihres Lebens bedeutet. Zumeist wird dabei nur an das Wirtschaftsleben gedacht. Auf den Verlust der Kaufkraft wird am nachdrücklichsten hingewiesen. In Wahrheit ist es nicht nur die Kaufkraft, sondern die Arbeitskraft und selbst wenn die Arbeitskraft noch unversehrt bliebe, die Fähigkeit zu arbeiten mit unzulänglich gewordenen nicht genugsam vermehrten, ergänzten, verbesserten Arbeitsmitteln, was zum Schaden der Welt in die Erscheinung tritt. Es ist aber nicht nur der wirtschaftliche Niedergang sondern auch die geistige Wertminderung des deutschen Volkes, die sich für das gesamte geistige Leben Europas und darüber hinaus mehr und mehr fühlbar machen wird. Das Genossenschaftswesen ist zugleich eine wirtschaftliche und eine geistige, eine moralische Angelegenheit. Es war in Deutschland glänzend emporgeblüht. In einem Aufsatz der Wochenschrift: „The New Statesman“, die von Sidney und Beatrice Webb geleitet wird, wurde am 30. Mai 1914 von der merkwürdigen Überlegenheit der deutschen im Vergleich mit den britischen, sowohl als den französischen Genossenschaftern gesprochen: der Überlegenheit in ausdauernder Treue für den Verein, in Bereitschaft der planmässig durchgeführten Organisa[4]tion und Beherrschung, wodurch die Leistungsfähigkeit gesichert werde, sich zu unterwerfen, der Überlegenheit im glühenden Eifer für die Sache. Von solchem Lobe, das gewiss ebensosehr von den Genossenschaftern der Schweiz und Österreichs und der nordischen Länder gilt, muss man vor allem sagen: Erwirb es um es zu besitzen. Aber als Zeugnis von so berufener Seite und aus einem Lande, wo (nach Johannes 5 21

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„… Mund benötigen.“: Vgl. ebd.: 507. „The New Statesman“: Vgl. [o. V.] 1914: 230: „… the British co-operators have in practice maintained the democratic principle more completely unimpaired than the co-operators of the other lands. But the Germans have certainly achieved much greater success than the English in checking the danger to democracy which arises from the apathy of the average man or woman …“. um es zu besitzen: Frei nach Goethes „Faust I“ (Nacht) (Goethe 1881: 5. Bd., 17 f.): „Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“.

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Konrad) die Konsumvereine einen so kolossalen Umfang gewonnen haben, möge es geschätzt und in Erinnerung gebracht werden.– Kein Hilferuf ist von den deutschen Konsumgenossenschaften laut geworden. H. Kaufmann nennt die Hoffnung auf fremde Hilfe, in einer Zeit wo niemand helfen könne, töricht. „Unserer eigenen Tatkraft und nur dieser werden wir Leben, Fortschritt und Freiheit verdanken.“ Der dieses schreibt handelt nicht im Auftrage irgend einer Organisation, nicht einmal mit Vorwissen irgend eines anderen Freundes der Sache. Aber er handelt als überzeugter Freund der Sache, nicht allein der deutschen, sondern der Sache als einer der grössten Angelegenheiten des wirtschaftlichen und des sittlichen Lebens der Menschheit. Er wendet sich darum an die Genossenschafter aller Länder. Er wendet sich nicht nur an ihr Mitgefühl, sondern an ihr genossenschaftliches Bewusstsein, an die Erkenntnis, dass das deutsche Genossenschaftswesen ein unentbehrliches Glied im Gesamtkörper einen grossen Idee ist – einer Idee, der die Zukunft gehört, wenn die Genossenschafter der Erde sie einmütig pflegen und tatkräftig entwickeln.

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Kaufmann nennt: Vgl. Kaufmann 1923: 507.

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Vor 50 bis 60 Jahren kam in der deutschen philosophischen Literatur der Gegensatz Egoismus – Altruismus in Aufnahme. Das Wort Altruismus war dem sonst unter uns wenig bekannt gewordenen Denker Auguste Comte entlehnt, der seine Ethik in die bündige Vorschrift zusammenfasste, dass der Mensch für den Mitmenschen, den „anderen“ leben solle (vivre pour autrui). Die Vorschrift unterschied sich nicht von der Regel, in die oft die Moral des Christentums zusammengefasst wird: dass Nächstenliebe blind wirken solle. Diese Regel ist immer universalistisch gedeutet worden: der Christ soll sich zu jedem beliebigen anderen, mithin auch zu seinem Feinde, in gleicher Weise wohltuend, mitleidig, erbarmungsvoll verhalten, wie etwa der Samariter, der ein Beispiel gab, das gegen das Verhalten des Priesters und Leviten sich leuchtend abhebt. In der Erzählung wird als der Nächste nicht der verstanden, dem die Barmherzigkeit erwiesen wird – wie es in jener Moralvorschrift zu geschehen pflegt –, sondern der sie übte. In diesem Sinne verstanden enthält die Erzählung eine bedeutsame und bleibende Wahrheit: dass nämlich das gute Handeln von dieser Art nicht bedingt ist durch irgendwelche erlernte Weisheit, und Vorschriften (wie jene, die achtlos vorübergingen, sie offenbar besassen), sondern durch die Herzensgüte und schlichte Hilfsbereitschaft, die oft [2] beim unwissenden Manne aus dem Volke – und man darf hinzufügen, noch eher bei der Frau – sicherer anzutreffen sei, als bei den Gelehrten und vornehmen Menschen. – In Wahrheit ist kaum ein normaler Mensch ohne einen Funken dieser natürlichen Sympathie mit dem anderen Menschen, ja mit den uns Menschen nicht allzu fern stehenden Tieren, deren Leiden uns rühren und den Hilfstrieb erwecken, der vor aller Erwägung von Wirkungen und Folgen unmittelbar in der guten Tat sich auslöst. Jene Moralvorschrift aber kehrt sich wenig an diese instinktiven Neigungen. Sie pflegt vielmehr in der

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[Die Parallelität der Gegensatzpaare: TN, Cb 54.34:44 – Typoskript mit eigenh. Korrekturen, 13 S. in 4°. Vermutlich 1924 verfasst. wie etwa der Samariter: Vgl. NT, Lukas 10, 30−37.

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Voraussetzung zu beruhen, dass der Egoismus das schlechthin Natürliche sei und der Altruismus nur durch Erziehung und Lehre eingepflanzt und gepflegt werden könne, sodass er eben nicht in der Natur des Menschen begründet sei, sondern ausschliesslich ein Erzeugnis der Kultur und Bildung. Unbestritten ist diese Auffassung freilich niemals geblieben; aber sie hat eine vorwiegende Geltung behalten. – Die ungeheure Ausdehnung und Verbreitung des Egoismus im menschlichen Leben aller Völker, aller Schichten kann niemand leugnen. Aber auch nicht, dass es Egoismen von sehr verschiedener Artung gibt, nicht nur von verschiedener Stärke. Es muss vor allem unterschieden werden der Grad der Bewusstheit, womit der individuelle Egoismus sich geltend macht. Zwei Typen treten uns hier [3] entgegen: man mag sie zunächst als den defensiven und den offensiven unterscheiden. Wir denken hier sogleich an den Egoismus eines Staates. Der eine wird oft in Verbindung mit dem Nimbus, der die Idee des Vaterlandes und noch näher für das Gemüt, die des häuslichen Herdes umgibt, hochgepriesen, ja als ein heiliger gefeiert: er bedeutet die Selbsterhaltung und Verteidigung eines Staates und also eines in ihm sich verbunden wissenden Volkes. Der offensive Egoismus hingegen ist mit dem Begriffe der Habsucht und des Strebens nach Eroberung verknüpft, wird oft als Imperialismus getadelt, ja gebrandmarkt. Nicht anders aber verhält es sich mit dem Egoismus des einzelnen Menschen. Hier gibt es aber noch feinere Unterschiede, darin beruhend, dass wir unsere eigenen Motive sicherer erkennen und vor unserem Gewissen rechtfertigen oder verurteilen. Da erscheint uns nämlich nicht nur die Selbsterhaltung und was wir in ihrem Sinne unmittelbar für unser eigenes Wohl tun, als erlaubt, ja zum grossen Teile als geboten, sondern auch bis zu einer gewissen Grenze das Suchen unseres Vorteils, insbesondere im wirtschaftlichen Leben, also im Tausche, dem Kaufen und Verkaufen, sogar noch, wenn ein normales und solides Geschäft gemacht wird, solange als der Handel als eine notwendige Funktion der Vermittelung von Nachfrage und Angebot erscheint. Immer tritt freilich hier der Egoismus in einer neuen und besonders ausgeprägten Gestalt hervor: als das [4] Gewinnstreben oder Mehrhabenwollen, wie es die Griechen mit dem Worte „Pleonexie“ bezeichneten. Es ist die ausgeprägteste Form des Egoismus, weil es die bewussteste ist. So stünde ihr also die am wenigsten bewusste oder gar unbewusste entgegen? Unbewusste, oder, wie man besser dafür sagen mag, unterbewusste, d. i. nicht über die Schwelle des Bewusstseins steigende Beweggründe lassen sich freilich in allem menschlichen Tun und Treiben entdecken. Aber dieser Gegensatz gegen den bewusstesten Egoismus ist es nicht, der hier ins Auge gefasst werden

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soll. Vielmehr wird gedacht an jene schwächeren Arten der Bewusstheit, die im unmittelbar gefühlsmässigen oder instinktiven, im gewohnheitsmässigen, aber auch sogar im eigentlichen oder gedankenmässigen Wollen vorliegen, welches Zweck und Mittel unterscheidet – solange nämlich als diese in eins gedacht werden: als zusammengehörig, als einander verwandt und einheitlich gewollt. Diese Art des Wollens: das gefühlsmässige, gewohnheitsmässige und gedankenmässige bis zu der Grenze, wo eine Kluft sich auftut zwischen Zweck und Mittel und das Mittel etwa trotz Widerwillens (Abscheus, Ekels) in Absicht auf den Zweck gewollt wird – jene Formen und die aus ihnen zusammengesetzten Erscheinungen des Wollens habe ich im Begriffe des „Wesenwillens“ zusammengefasst und ihnen die Formen entgegengesetzt, als die des „Kürwillens“, die in der Opposition von Zweck und Mit[5]tel beruhen. Das Ich (ego) drückt sich in allem Wollen aus. Wesenwille steht nicht als schlechthin unegoistisch oder altruistisch dem Kürwillen als einem schlechthin egoistischen entgegen; aber die Art des Unegoismus ist verschieden. Kürwille wirkt nicht notwendig für die Zwecke eines individuellen Ich; er wirkt der Erfahrung nach oft viel rücksicht- und schrankenloser für ein kollektives Ich, in dem die Zwecke des Individuums enthalten oder damit eng verbunden sind. Überdies aber kann der Egoismus und wird regelmässig darin sich ausdrücken, dass die Zwecke des anderen bejaht werden, weil und sofern sie in das System der Eigenzwecke hineinpassen: der andere wird trotz aller sonstigen Gleichgültigkeit gegen sein Wohl, ja trotz feindlicher Gefühle benutzt und also gefördert. So beschaffen ist der Geist des sozialen Lebens, wenn es als Gesellschaft sich entwickelt. Dies ist die späte, hohe, kommerzielle Zivilisation, wenngleich das entsprechende Denken und Handeln viel früher auftritt und niemals ganz im Verkehre der Menschen und in ihren Verhältnissen zueinander fehlt. Aber es ist nicht die ursprüngliche und niemals die einzige Gestaltung des sozialen Lebens, weder in primitiven noch in den Zuständen hoher Kultur. Das Unegoistische, wie es im Wesenwillen enthalten ist, hat einen anderen Charakter. Es ist ohne vermittelnde Re[6]flexion im Fühlen und Denken des eigenen Ich enthalten. Jeder kennt es als Liebe, als Anhänglichkeit, Verehrung, Dankbarkeit, als Begeisterung, als Bereitschaft zur Aufopferung; als hingebende, freundliche Gesinnung, als Gemeinsinn oder Geist der Gemeinschaft.

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im Begriffe: Vgl. Tönnies 1887.

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Der wirtschaftliche Egoismus, insbesondere sofern er durch das Streben nach Gewinn bedingt und bestimmt wird, also der kapitalistische Egoismus, ist Typus des Kürwillens. Er beseelt nicht nur Individuen, sondern alle kollektiven Körper, die nach Art von Individuen handeln und Geschäfte machen; gleich den wirtschaftlichen auch politische und sogar ideelle Geschäfte. Dieser Egoismus ist oft als der Motor der grossen Gesellschaft und des Fortschritts dargestellt und gepriesen worden. Heute wird er öfter angeklagt als verteidigt. In der Wirklichkeit behauptet er sich nicht nur, sondern strebt danach, sich immer weiter auszudehnen, und zwar mit gutem Erfolge. Der Welt-Kriegszustand, der mehr als vier Jahre lang gewütet hat und in seinen Wirkungen über ein Jahrzehnt hinaus nach seinem Beginne dauert, kam dem wirtschaftlichen Egoismus ausserordentlich zustatten. Der Gemeinschaftsgeist wird oft gerühmt, sein Wert wird kaum jemals angezweifelt, aber seine Geltung wird durch die heutige Gesellschaft nicht begünstigt. Freilich hat gerade der furchtbare Krieg ihm nicht wenig Nahrung [7] gegeben, wie er denn gleich der Kampfstellung überhaupt den Zusammenschluss derer, die im gleichen Lager weilen, aufnötigt. Gemeinschaftsgeist als Kameradschaft und Bereitschaft zur Aufopferung entsteht da um so eher, wenn die Kämpfer oder wenigstens viele von ihnen von Begeisterung erfüllt sind. Nach dem Weltkriege hat sich unter uns trotz des verhängnisvollen Ausganges viel von diesem Enthusiasmus erhalten und erneuert: schwerlich ist je zuvor soviel von Gemeinschaft, Gemeinschaftsgeist und Volksgemeinschaft, die Rede gewesen, wie in diesen letzten Jahren. Und es darf angenommen werden, obschon dieser Geist durch gehässigen Parteigeist allzu oft getrübt wird, dass einiges davon von einer Jugend, die schwärmt, in den Ernst und die Sorgen des Tagelebens hinübergenommen wurde; die Armut und Not, mit der eine grosse Zahl derer, die aus begünstigten Schichten stammen, vertraut wurde, dürfte in einigem Masse geholfen haben, die Lage der grossen Volksmenge besser als zuvor zu verstehen und ihren Ursachen nachzugehen. Aber gerade die Not und die dringenden Forderungen des Tages hemmen den Gemeinschaftsgeist und machen den wirtschaftlichen Egoismus zu gebieterischer Notwendigkeit. In jeder Form auch in der ausgeprägtesten, von der die Rede war, wird er gefördert durch dieselben Elemente, die den wirklichen Gemeinschaftsgeist begünstigen und erhalten. Der Familienegoismus, der Standesegoismus, der genossenschaftliche Egoismus, sie erheben den wirtschaftlichen Egois[8]mus des einzelnen und scheinen ihn zu veredeln; und in Rückwirkung kommt der wirtschaftliche Egoismus des einzelnen, je mehr er mit Intelligenz verbunden ist, um so mehr den von ihm vertretenen Gemeininteressen zugute.

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Es ist bekannt, dass die heutige Gesellschaft ganz und gar auf dem wirtschaftlichen Egoismus beruht, und zwar zum grossen und mächtigsten Teile eben auf der ausgeprägtesten Gestalt, in welcher jede Art von selbständiger Tätigkeit als eine Unternehmung oder als ein Geschäft nach Art des Handels sich darstellt, also den Gewinn sich zum Zwecke setzt. Die Möglichkeit dieses allgemeinen Gewinnens, in einem System mit allgemeinem wechselseitigen Austausche, ist das eigentliche Problem des nationalökonomischen Denkens gewesen, wie es beim Übergange aus seiner klassischen in die kritische Phase, am ausgesprochensten bei Marx, zutage tritt: von dem Gedanken aus, dass ja offenbar die Gewinne sich gegenseitig aufheben müssten, wenn sie nicht, gleichsam durch Verteilung einer gemeinsamen Beute entstehen. Und dass dem so sei, ist der zumeist unverstanden bleibende Sinn der vielberufenen Mehrwertlehre. Denn durch die blosse Arbeitsteilung und den Austausch der in ihr erzeugten Produkte oder geleisteten Dienste entsteht kein normaler Gewinn. Nur der Handel der den Austausch vermittelt, bezieht notwendig seinen [9] Gegenwert in der Form des Gewinnes. Und dieser Gegenwert ist nur begrenzt durch die relativ zufälligen Umstände des Marktes, die ihn ebenso wachsen wie unter Null herabdrücken, also Verlust werden lassen. Sein Wachstum aber ist die Regel, je mehr er in grossem Umfange und zur Vermittelung über grosse Entfernungen hin, also auch ausserhalb des Rahmens einer Volkswirtschaft sich ausdehnt. Seinem Wesen nach steht er ausserhalb des Systems der Arbeitsteilung, das die Volkswirtschaft bezeichnet. Gleichwie daher jedermann, obgleich der Handel wie ein anderes Gewerbe erlernt und betrieben wird, also zum Gegenstande eines Berufes wird, irgendwie, sei es durch Intelligenz oder durch Glück oder beides, ein Geschäft, d. h. Handelsgewinn machen kann; so können es auch die im Systeme der Arbeitsteilung wirksamen Produzenten, die ihren Gegenwert durch die Gewinne des Handels verkürzt sehen, unternehmen, selber die Vermittelung des Austausches zu betreiben, also in Wettbewerb mit dem Handel zu treten, um ihn schliesslich überflüssig zu machen. Dies ist das allgemeine Wesen der Genossenschaft als einer persönlichen Zusammenschliessung von Produzenten. Durch die kapitalistische Entwicklung ist die übergrosse Mehrheit des Volkes von der selbständigen Unternehmung irgendeines Betriebes oder Geschäftes ausgeschlossen. Sie kommen nicht als Verkäufer irgendwelches Produktes auf den Warenmarkt, sondern nur als Verkäufer [10] ihrer Arbeitskraft, d. h. einer Dienstleistung, die erst, nachdem sie durch die Mühle eines Betriebes gegangen ist, in die Gestalt von Produkten

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übergeht; und sie kommen allerdings als Käufer auf den Warenmarkt, d. h. als Geldbesitzer; denn Geld empfangen sie im Austausch für ihre Dienstleistungen. Nicht anders aber als der Gegenwert des Produktes wird der Gegenwert des Geldes durch den Handel, und zwar am unmittelbarsten durch den Kleinhandel (jetzt statistisch als Einzelhandel bezeichnet) oder die Krämerei beschnitten. Und so gut wie Produzenten können Konsumenten – in letzter Linie also alle, die als Geldbesitzer den Warenmarkt betreten – durch Vereinigung in Wettbewerb mit dem Handel treten; dies ist der Sinn des Konsumvereins. Dass der Konsumverein sich gleich den Personalvereinen von Produzenten in deutscher Sprache Genossenschaft nennt, hat unmittelbar nur die Bedeutung, dass er gleich diesen das System der Arbeitsteilung, sofern dieses die Sphäre des Handels ungestört walten lässt, durchbricht. Die einen wie die anderen wollen dem Handel Abbruch tun. Aber der Konsumverein will seiner Idee, und das heisst dem Keime nach, der sich langsam, aber sicher entwickelt hat, weit mehr. Sein entferntes Ziel ist, das universal gewordene Prinzip des Handelsgewinnes, und damit jener Wirkung, die den eigentlichen Produzen[11]ten, also den Arbeiter (und als solcher stellt immer mehr auch der technische und kaufmännische Gehilfe – Angestellte und Beamte – sich dar) nur noch als Geldbesitzer [..], d. i. als Konsument auf dem Warenmarkte „etwas zu sagen hat“, – diesen Kern des kapitalistischen Wesens zu brechen. Dieses Ziel, diese Aufgabe macht den Konsumverein zur Waffe eines zwar durchaus friedlichen und auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung sich entwickelnden Klassenkampfes, der als solcher nicht von irgend einem Konkurrenzkampfe sich unterscheidet. Und es ist zunächst nur ein alltäglicher wirtschaftlicher Egoismus, der darauf ausgeht, beim Einkauf von Lebensmitteln zu sparen und in Bezug auf Güte der Verbrauchsgegenstände sicherer zu gehen, als dem oft an ihrer Verfälschung allzu interessierten Händler gegenüber. Auch soll der Verein, durch das Prinzip der Barzahlung gedeckt, nicht darauf angewiesen sein, gute Zahler für die Ausfälle durch schlechte büssen zu lassen. Es wird dabei nicht verkannt, dass das Privatgeschäft durch das eigene Interesse des Handelsgewerbes angespornt im Wettbewerb manches vor dem genossenschaftlichen Betriebe voraushat und auch durch überlieferte Erfahrung und geschulte Kenntnisse zunächst überlegen ist. Andere äussere Momente kommen dazu, den Einkauf im Laden des Krämers bequemer und anziehender zu machen. 20

als Geldbesitzer [..]: Wohl zu ergänzen: sieht.

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Viel heller gestalten sich die Aussichten des Kon[12]sumvereinwesens dadurch, dass zum wirtschaftlichen Egoismus ein anderes Motiv hinzukommt. Der genossenschaftliche Geist kann sich unmittelbar aus jenem engen Egoismus entwickeln, indem dieser sich erweitert, indem der eigene Wille und das Interesse auf ein zeitlich fernes Ziel, auf eine bessere Zukunft, möge sie noch so schwer vorstellbar sein, sich richtet. Ein solcher Gedanke durch Lehre und Unterweisung gefördert kann mitbestimmend werden für die gesamte Seelenverfassung des Menschen und dadurch auch auf das alltägliche Tun und Treiben zurückwirken. So geht der Gemeinschaftsgeist unmittelbar aus dem Familienegoismus hervor, worin der gemeine Egoismus sich veredelt. Jener kann sich mit der Erkenntnis erfüllen, dass das Wohl der eigenen Familie wesentlich bedingt ist durch ein allgemeines Gedeihen: durch das Wohl anstatt durch den Schaden seiner Genossen in seinem Wohnorte, seinem Gewerbe, seiner Berufsschicht und seiner Klasse, endlich auch in seinem Vaterlande, ja in der Menschheit. Leichter noch und stärker entfaltet sich der Gemeinschaftsgeist, wenn er mit einer Sache, einer Ideenwelt sich verbindet, an die geglaubt wird und an die das Bewusstsein der edleren Seelenkräfte sich hängt. Dies Bewusstsein muss sich nicht, um zu wachsen, ablösen von dem Gedanken an die Familie oder andere Werte, und deren Zukunft. Wer an die Zukunft seiner ungeborenen Urenkel emsig denkt, wird [13] daraus Ermutigung und Stärkung ziehen für eine Gesinnung, die sich einem Gegenstand widmet, dessen Wert seinem egoistischen Denken nicht genügende Nahrung bietet. In diesem Sinne vermag der Gemeinschaftsgeist, zumal wenn er von Begeisterung getragen wird, weit mehr zu leisten, als selbst der erweiterte wirtschaftliche Egoismus. Und das Konsumvereinwesen bedarf des Gemeinschaftsgeistes, um eine wirtschaftliche Macht zu werden. Die Idee einer höheren sozialen Ordnung entwickelt sich aus ihm mit seinem Wachstum. Die Eigenproduktion, so grosse Schwierigkeiten sie enthält inmitten eines kapitalistischen Systems, eröffnet den Ausblick auf die Gestalt eines wirtschaftlichen Neubaus, der in seiner gesamten Verfassung mehr auf einträchtiges Zusammenwirken, als auf feindseligen Streit angelegt wäre. Schon hat, wenn auch noch mit schwachem Bewusstsein von seiner Tragweite, ein solcher Entwicklungsgang begonnen. Er wird des Erfolges um so sicherer sein, je mehr er von hellem Bewusstsein und von hohem Gemeinschaftsgeist gefördert seiner Aufgabe als einem Werk von idealem Werte sich hingibt.

Anfangsseite des Manuskripts „Die Gotteslästerung“ (s. S. 199)

[Staatsrechtliche Probleme Englands] Vortrag Aachen März 1925

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Das erste Viertel des 20. Jahrhunderts, jetzt seinem Ende entgegengehend, ist wie wir alle nur zu schwer am eigenen Leibe erfahren haben, an ungeheuren Veränderungen reich gewesen. Eine der bedeutsamsten unter diesen Veränderungen, war die weitgehende Vernichtung der monarchischen Staatsform, nachdem schon das letzte Drittel des vorigen einen bedeutenden Anfang damit in Europa gemacht hatte. Bisher waren die neugebildeten Staaten, die aus der Zertrümmerung des osmanischen Reiches hervorgingen, noch Königreiche geworden. Auch Belgien, auch Italien als einheitlicher Staat, dessen Entstehung freilich mehreren Monarchien den Garaus machte, wie auch das zum Deutschen Reich erweiterte Preußen, selbst auch Norwegen das aus der Personalunion sich löste, sind Monarchien geworden und bisher geblieben. Dagegen alle durch den Weltkrieg neu entstandenen Staaten haben sich als Republiken ihre Verfassung gegeben. Von größerer historischer Bedeutsamkeit aber sind die Staatsumwälzungen der drei ehemaligen Kaiserreiche. Alle drei waren aus dem „Imperium Romanum“ hervorgegangen, wenn auch alle drei nur mittelbar. Der FürstenTitel der beiden deutschen Kaiser wie der des Zaren, war nichts als der Name des genialen römischen Jünglings, der einst jener wüsten Verschwörerbande der Katilinarier angehört hatte: – ein echter Revolutionär war

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März 1925: Textnachweis: TN, CB 54.34:87. – Typoskript in 4°, S. 1−15, mit eigenh. Korrekturen und Zufügungen. Der Kopftitel bezeichnet lediglich Ort und Datum des Vortrages, auf dem letzten Blatt rückseitig eigenh.: „Aachen Vortrag England“. „Staatsrechtliche Probleme Englands“ freie Hinzufügung von Hg.; weitere Einzelheiten zum Vortrag in Aachen nicht ermittelt. Entstanden Anfang 1925. erweiterte: unsichere Lesart. ehemaligen Kaiserreiche: Das waren das sich als Nachfolger des oströmisch-byzantinischen Reiches verstehende Russische Kaiserreich und das aus dem weströmischen Reich hervor gegangene Heilige Römische Reich (Deutscher Nation). Aus dem letzteren sind im 19. Jhdt. zwei Kaiserreiche entstanden: Österreich und Deutschland. Verschwörerbande der Katilinarier: Nach dem römischen Prätor Lucius Sergius Catilina benannte Gruppe von Verschwörern, die unter seiner Führung im Jahr 63 v. Chr. mit

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also der Stammvater dieser für heilig gehaltenen und ihre Legitimität eifersüchtig bewachenden Monarchien. – Während aber so der Kontinent von Europa sich verändert hat, ist das wunderbare Inselreich auch in seiner Staatsform dasselbe geblieben. Der König von England steht in unversehrter Majestät über seinen drei Königreichen und über dem Weltreich, das Großbritannien für sich erobert hat. Er ist König von England und Schottland, über Irland, über Kanada und Neufundland, König des australischen Bundesstaates, wie des süd-afrikanischen, König von NeuSeeland. Viel mehr aber bedeutet noch, daß er „Kaiser“ von Indien ist, und daß die Menge der Kolonien, die keiner Autonomie sich erfreuen, ihm als „Kronkolonien“ unmittelbar gehorchen. Ohne Zweifel ist er seiner förmlichen Machtfülle nach der mächtigste Mensch des Erdballs. Vor 25 Jahren war es noch eine Frau, – diese Tatsache ist auch für die Frauenfrage eine bedeutsame Tatsache. Diese Machtfülle [2] hat ihren natürlichen Kern in der Macht, die dem König von England nach der englischen Verfassung eigen ist, seit der Union der Königreiche England und Schottland der britischen Verfassung; nachdem auch die Union mit dem Königreich Irland vollzogen war, hieß dies Gebiet das des vereinigten Königreiches. Welche Rechte also gibt die Verfassung diesem König oder jener Königin? Vor 100 Jahren galt den meisten Staatsdenkern des Kontinents die englische Verfassung als ein erhabenes Muster, wie es der Baron Montesquieu dargestellt hatte: eine beschränkte anstatt der damals noch auf dem Kontinent vorwaltenden unumschränkten Monarchie. Das eben war die Bedeutung der Verfassungsfrage, die zu jener Zeit ebenso tief die Gemüter, freilich vorzugsweise in der Oberschicht bewegte, wie heute die soziale Frage vorzugsweise die der arbeitenden Klasse freilich neuerdings mehr und mehr auch des geistig Arbeitenden aufrührt. Das Streben nach Verfassungen ist seitdem immer mehr erfolgreich gewesen, das letzte wichtige aber nicht

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Gewalt die Macht in der römischen Republik zu erringen versuchte. Dabei hofften sie auf Unterstützung durch Marcus Licinius Crassus und C. Julius Caesar. Dem Namen Caesars, der später zum Imperator Roms aufstieg, waren der dt. Kaiser- und der russ. Zarentitel entlehnt. drei Königreichen: Das sind England, Schottland (seit 1603 bzw. 1607) und seit 1801 Irland, dem jedoch (bis auf Nordirland) am 6. 12. 1921 Dominionstatus zugesprochen wurde. noch eine Frau: D. i. Victoria, Königin bis 1901. vereinigten Königreiches: Am Rand ohne Einfügungszeichen: Beschränkte Rechte der Krone.

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dauerhafte Ergebnis war die Verfassung, die im Jahre 1905 die russische Revolution sich erzwungen hatte. Das unerläßliche Element aller dieser Staatsverfassungen war das „Parlament“, dessen Vollendung nach dem englischen Vorbilde, im Systeme von zwei Kammern erschien, von dem die eine nach demselben Vorbilde, vorzugsweise als Vertretung des Adels und sonst eben bevorzugter oder dem Fürsten nahestehender Schichten, die andere als gewählte „Volksvertretung“ verstanden und bestimmt wurde. Der ganze Nachdruck der Bewegung lag aber darauf, daß eine Verfassung, die in rechtsgültigen Sätzen die Staatsgewalten zu binden und gegeneinander abzugrenzen bestimmt war, als Urkunde verfasst und geschrieben würde, sei es daß sie als solche von dem Monarchen gegeben und beschworen, sei es daß sie von einer Nationalversammlung aus freien Wahlen hervorgegangen, beraten und beschlossen wäre; dieser letzte Ursprung musste ohne Zweifel als der normalere gelten. [3] In England gibt es bis auf den heutigen Tag keine Verfassungsurkunde, keine geschriebene Verfassung, außer sofern sie aus dem altgermanischen Gewohnheitsrecht, dem nicht in Form von Gesetzen niedergelegten Common-Law oder in solchen Gesetzen beruht, die in das Buch der Statuten eingetragen sind. So verstanden ist die englische Verfassung allerdings ein Gebilde, das einer mehr als 1000 jährigen Geschichte sich rühmen darf. Nur wenige rein germanische Gemeinwesen wie Dänemark und Schweden sind ihm darin ähnlich. Das Fundament der englischen Verfassung ist ein in seiner Zweifachheit einheitlicher Ursprung: das stammverwandte Volk und sein König. Das Volk wird noch heute als das der Angelsachsen bezeichnet; und doch hat grade dieses angelsächsische Volk, dessen 7 kleine Königreiche erst 829 unter einem Oberkönigtum vereinigt wurden, dem Eroberer, der als Normanne das Land betrat, sich unterwerfen müssen, wie es selber etwa 600 Jahre früher die Ureinwohner keltischen Stammes sich unterworfen hatte. Allerdings geschah bald eine Verschmelzung der beiden germanischen Stämme, worin die Angelsachsen der Menge des freien Volkes nach das Übergewicht behielten. Aber das Königtum ist seit 1066 kein Volkskönigtum mehr. Es wurde diesem wieder ähnlich dadurch, daß der Adel und die 1

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im Jahre 1905: Das sog. „Oktobermanifest“ sah die Duma als Organ der Legislative vor und versprach freies Wahlrecht, es wurde jedoch am 6. 5. 1906 von Zar Nikolaus II. vor der ersten Duma-Sitzung durch ein „Grundgesetz“ ersetzt. verstanden und bestimmt wurde: Am Rand ohne Einfügungszeichen: Verfassung. sofern sie aus: Korrekt: auf. Eroberer: Am 25. 12. 1066 wurde der französisch sprechende Normanne Wilhelm I. englischer König (Wilhelm der Eroberer)

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Kirche seine Macht einschränkten. Von der Einschränkung durch die Barone, die aber auch den Gemeinfreien zu Gute kam, rührt der berühmte Zellkern der englischen Verfassung, die Magna Charta libertatum her, als ein Ergebnis langer Kämpfe gegen die Willkür und Habsucht der normannischen Könige. Aber in der Gestalt, die von jener Zeit her die englische Monarchie annahm und ausbildete, ist sie nicht wesentlich verschieden von den andren mittelalterlichen Monarchien, in denen eine landständische Verfassung sich entwickelte – eine Verfassung, wie sie auch innerhalb des neuen deutschen Reiches noch bis 1918 in beiden Mecklenburg bestanden hat. Das Wesen dieses ständischen Staates ist innerhalb der Staatseinheit die durch den Landesherrn re[4]präsentiert wird, der Dualismus und der Feudalismus. Der Dualismus besteht darin, daß ungeachtet der Oberhoheit des Fürsten die Herrenstände ihr eigenes Gebiet beherrschen, sodaß ihre Untertanen nur mittelbar auch die Untertanen des Fürsten sind. Viele oder doch mehrere solche kleine Herren sind nach Art von Gliedstaaten im Bundesstaate miteinander und in diesem verbunden. Der Feudalismus oder Lehensverband prägt darin sich aus, daß die kleineren Herren als Lehnsmänner dem Oberherrn verpflichtet sind zur Heeresfolge und anderen Leistungen, sodaß sie in der Ständeversammlung ihm auf seinen Antrag oder seine Bitte die Mittel für kriegerische und andere Zwecke bewilligen. Der dualistische Staat ist in England in einigen Beziehungen frühzeitig dadurch vereinheitlicht, daß das Domanium veräußert wurde, hingegen die königliche Gerichtshoheit in dem verhältnismäßig kleinen und nicht dicht bevölkerten Gebiete leicht zur Durchführung gelangte. Eben dadurch wurde auch der Feudalismus in seinen partikularistisch-politischen Auswirkungen getroffen und gebrochen. In gewissen anderen Beziehungen aber hat der ständische Staat und mit ihm der Dualismus und der Feudalismus bis heute eben in England sich erhalten. Die Formen der Verfassung sind seit etwa sieben Jahrhunderten kaum mehr verändert worden. Ihr Wesen wurde vor 100 Jahren, und lange vorher, in die Einheit von drei Korpora3

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Magna Charta libertatum: [lat.] die Große Charta der Freiheiten. – Dieses in Einzelbestimmungen nach wie vor geltende Staatsgrundgesetz wurde im Juni 1215 zwischen dem engl. König Johann ohne Land und den englischen Baronen abgeschlossen. Hauptpunkt ihrer 64 in lat. Sprache verfassten Artikel war, die Ausübung der königlichen Gewalt der Kontrolle der Stände zu unterwerfen und die Fixierung ererbter Freiheiten der freien Männer des Königreiches England. normannischen Könige: Am Rande ohne Einfügungszeichen: Der ständische Staat. das Domanium: Synonym für Domäne. in England sich erhalten: Am Rande ohne Einfügungszeichen: Formen der Verfassung.

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tionen gesetzt: auch die Krone galt juristisch als eine Korporation, wenngleich sie nur durch eine physische Person dargestellt wurde. Die andre Korporation ist das Oberhaus die dritte das Unterhaus. „König, Lords und Commons“, so sagte man, „das ist die englische Verfassung“, sie war damals schon die britische geworden. Indessen war es unrichtig diese drei, als ob sie gleiche Faktoren wären, nebeneinanderzustellen. In Wahrheit gab es nur die zwei Faktoren und sie gibt es noch heute: König und Parlament. Insbesondere sind sie [5] die beiden Faktoren der Gesetzgebung, von denen keiner dem anderen übergeordnet ist – dies eben ist das Beharren des ständischen Dualismus. Er wird dadurch ausgedrückt, daß im Rechtssinne „König und Parlament“ oder der König im Parlament als Träger der Souveränität bezeichnet wird – ein Ausdruck an dessen Stelle der englische Staatrechtslehrer auch schlechthin „das Parlament“ setzt, das also dann den König in sich begreift. Ein Gesetz ist nur rechtsgültig, wenn es von beiden Häusern des Parlamentes angenommen worden und vom König genehmigt worden ist. Diese Norm hat erst im Jahre 1911 dadurch einen Riß bekommen, daß die Annahme durch das Oberhaus in gewissen Fällen suppliert wird, d. h. die Form gilt als erfüllt, ungeachtet des Widerspruchs dieser Körperschaft. Ferner ist die königliche Genehmigung (der Assent) zu einer bloßen Form geworden, die sich von selbst versteht, nachdem von der unzweifelhaften rechtlichen Befugnis sie zu verweigern, seit dem Jahre 1711 niemals mehr Gebrauch gemacht worden ist. Es war eine Dame, die Königin Anna, die es zum letzten Male gewagt hat Nein zu sagen. Da nun auch in den Fällen, wo die Ablehnung durch das Oberhaus von Rechts wegen noch geschehen kann, die jeweilige Regierung befugt ist, im Namen des Königs durch Ernennung neuer „peers“ eine Mehrheit im Hause der Lords zu erzwingen, so hängt tatsächlich die Gesetzgebung beinahe ausschließlich vom Hause der Gemeinen ab. In diesem Sinne darf man sagen, daß diese Kammer – in England heißt sie die erste Kammer – tatsächlich die Souveränität besitzt, obschon das förmliche Recht von ganz anderer Art ist. Und diese Tatsache ist das erste große Ergebnis der langen geschichtlichen Entwicklung, durch welche die in ihren Formen so starre englische Verfassung hindurchgegangen ist. Auf diese Entwicklung werde

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des ständischen Dualismus: Am Rande ohne Einfügungszeichen: Souveränität. Diese Norm: Durch das „Parliament Bill“ – es wurde am 15. 5. 1911 im Unterhaus mit großer Mehrheit gebilligt und trat am 18. 8. 1911 in Kraft – wurde von nun an eine Ablehnung oder Änderung von Finanzgesetzen durch das Oberhaus ausgeschlossen.

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daher zunächst ein Blick geworfen. Durch diese Entwicklung setzt in England wie in anderen Staaten die Richtigkeit der Theorie des zu seinen Lebzeiten in England, seinem Vaterlande nicht verstandenen Philosophen Thomas Hobbes, sich durch, die für unerlässlich erklärt, dass der Staatswille immer als einheitlicher sich müsse erklären und ausdrücken können; so gut wie in Rechtsfragen die letzte Entscheidung entweder einem Einzelrichter oder einem Gerichtshofe der durch Mehrheit sich entschliesst anheimgestellt werden muss und oft unmöglich wurde, wenn die zufällige Übereinstimmung mehrerer, als Einheit nicht beschlussfähiger Personen dafür erfordert wurde. Es ist die Idee des einheitlichen unpersönlichen Subjektes alles gültigen Rechtes und der Macht, es in Verwaltung und Gericht nach innen und nach außen geltend zu machen, diese Idee ist es die erst während der letzten vier Jahrhunderte, also in der sog. Neuzeit, aus den überwiegend persönlichen Herrschafts-Verhältnissen sich entwickelt hat, wenn auch die Reste und Erinnerungen der römischen „res publica“ und des römischen Imperiums das ganze Mittelalter hindurch [6] wirksam blieben. Dieser Begriff ist, wie aus dem Gesagten sich ergibt, in England noch weniger als auf dem Kontinent zu seiner vollendeten Auswirkung gelangt. Indessen hat doch eine fortwährende Annäherung an ihn stattgefunden, wenig im Rechte, wenig in der Theorie, aber doch bedeutend in der Praxis. Die Volksgenossenschaft wurde von je beim Könige durch die Großen des Landes als seine Berater vertreten: die Curia Regis, der Hof, ursprünglich auch ein Gerichtshof; daneben aber ein zusammenberufener „Großer Rat“, der aus der höheren Geistlichkeit und den Baronen bestand; bei gewissen Gelegenheiten wurden seit d. 14. Jahrh. auch Abgeordnete der Grafschaften und der Marktflecken eingeladen und dann hieß der so erweiterte Rat nach französischem Vorbilde das damals die Rechtssprache beherrschte, ein Parliamentum was ja soviel bedeutet wie ein „Sprechsaal“. In Frankreich behielten noch bis zur großen Revolution die Parlamente als Gerichtshöfe ihre hohe Geltung, und das Parlament von Paris hatte die nicht geringe politische Bedeutung gewonnen, daß die Verordnungen des damals unumschränkte Macht in Anspruch nehmenden Königs erst durch 16 17

„res publica“: [lat.] Staats- und Gemeinwesen. [6]: Am Rand neben dem Absatz ohne Einfügungszeichen: Der Begriff des Staates. – Am Blattende nachträglich handschriftlich: diese Theorie ist in Wahrheit zu einer teils stillschweigenden teils ausdrücklichen Anerkennung gelangt, nachdem in England selber die Juristen Bentham und Austin in der 1. Hälfte des 19ten Jahrhunderts sie kraftvoll erneuert hatten.

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die Registrierung, die jenes Parlament vorzunehmen oder zu unterlassen sich für befugt hielt, Gesetzeskraft erlangten. Während nun in Frankreich neben und außer den Parlamenten der verschiedenen Landesteile die Versammlungen der Generalstände sich ausbildeten, so erwuchsen diese in England aus dem einen Parlament, das heißt aus dessen ursprünglicher Gestalt als Hoher Gerichtshof im Hause der Lords, das die beiden herrschenden Stände, den geistlichen und den weltlichen, in sich vereinte und der ursprüngliche große Rat war, der innerhalb des großen Parlaments sich behauptete. Mit dem Hause der „Gemeinen“ d. h. der Land- und StadtGemeinden sind also die drei Mächte der Verfassung konstituiert, wie sie noch heute bestehen. – Aber die Mächte sind ursprünglich durchaus nicht als gleiche gedacht. Über dem Parlament steht in Autorität und Würde der König. Er ist „unser allergnädigster Souverän“; er ist der Gesalbte des Herrn; er ist der oberste Richter und der oberste Heerführer; er hat das unbestrittene Recht, seine Ratgeber sich zu wählen, daher auch das Parlament zusammenzuberufen und aufzulösen. Er kann kein Unrecht tun; es gibt kein [7] menschliches Gericht, vor dem er verklagt werden, das ihn bestrafen könnte. Diese alle sind seine „Prärogative“ nach gemeinem Recht. Ebenso gesichert aber ist innerhalb des Parlamentes zuerst das Übergewicht der älteren und vornehmeren Körperschaft. Innerhalb ihrer wiederum hatten ein moralisches, wenn auch nicht ein materielles Übergewicht die Lords spiritual, das waren die Bischöfe und die Äbte, die freilich nicht kraft ihrer kirchlichen Würden, sondern als Vertreter des weltlichen Grundherrentums an dem Kirche und Orden teilhatten dem hohen Hause angehörten. In diesen Verschiedenheiten des Ranges und der Autorität lag aber naturgemäß der Keim zu Streitigkeiten, die auch in Taten der Gewalt, in Aufruhr und Empörung ihren Verlauf nahmen. Zunächst bestand die natürliche Eifersucht zwischen Trägern der Krone und den Magnaten, die in ihrer Summe gewissermaßen seine Mitregenten waren, je für sich ihre eigene Verwaltung, ihre eigenen Gerichtshöfe hatten. Der König konnte die geistlichen gegen die weltlichen, die weltlichen gegen die geistlichen Herren ausspielen. In der Regel war es leichter, die Geistlichen für sich zu gewinnen durch Einräumungen an die Kirche; auch war die Macht der weltlichen Großen gefährlicher, solange als die Autorität der Kirche noch wenig angefochten war. Andrerseits konnte der Monarch die Gemeinen, zumal die städtischen, begünstigen, um an ihnen eine Stütze gegen die gesamte Aristokratie, die geistliche und die weltliche, zu gewinnen. Und auch dies ist mit Erfolg versucht worden, wie in Frankreich, im Heiligen Reiche und in dessen Territorien. Je mehr die „Geldwirtschaft“

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fortschritt, um so mehr war die Krone auf Geldbewilligungen und auf Darlehen der Bürger angewiesen. Aber die historische Entwicklung hat zuerst den Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Macht, Staat und Kirche zur Reife gebracht. Der Sieg des Staates durch den Abfall von Rom war in England so vollkommen wie irgendwo. Zwar blieb die Kirche als eine katholisch sein wollende in England erhalten mit unabhängiger, geistlicher Autorität; zwar dauerten die Widerstände des Papismus bis gegen die Mitte des 18. Jahrhunderts – aber eine Kirche, die den anerkannten Anspruch erhoben hätte, wenigstens in geistlichen Angelegenheiten über aller weltlichen Autorität auch der des [8] Königs zu stehen und als einheitlich-menschliche durch den heiligen Stuhl geleitet wurde, gab es nicht mehr. Und doch erhob sich grade im Zusammenhange mit dieser Lösung, nachdem sie schon ein Jahrhundert lang fest zu stehen schien, die schwerste Krise, die das englische Staatsrecht durchgemacht hat: die einer Revolution, welche man in England die „puritanische Rebellion“ zu nennen pflegt, die der Enthauptung des Königs, der Abschaffung des Hauses der Lords, der Einsetzung der Republik mit bestehender tatsächlicher unumschränkter Monarchie des „Protektors“; der Restauration des Königtums und der zweiten Staatsveränderung, die in England die glorreiche genannt. Sie ließ das Königtum bestehen, bedeutete aber bis in die jüngste Zeit den endgültigen Sieg des Herrenstandes: einer Oligarchie der großen Grundbesitzer, die durch die kommerzielle Entwicklung mehr und mehr auch eine solche des großen Kapitals wurde. Die Kirche von England bleibt als der linke Arm dieser Oligarchie, das Königtum mit seiner formal immer noch großen, ja durch die fortschreitende Ausbildung einer zentralen Verwaltung noch im 19. Jahrhundert stark vergrößerten Macht, als ihr rechter Arm. Die Kirche nimmt durch ihren Reichtum am wachsenden gesellschaftlichen Reichtum Teil, und dient dadurch dass sie, gleich dem Heere und der Kriegsflotte, die jüngeren Söhne

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Abfall von Rom: Der engl. König Heinrich VIII. sagte sich 1534 kirchenrechtlich von Rom los und machte sich zum Oberhaupt der Anglikanischen Kirche (Anglo-Roman Church). puritanische Rebellion: König Karl I. unterdrückte den Presbyterianismus und Puritanismus in Schottland zu Gunsten der Stärkung der engl. Bischofskirche und provozierte damit einen Bürgerkrieg, der durch Cromwell 1646 zu seiner Niederlage und 1649 zu seiner Enthauptung führte und damit zum vorläufigen Ende des Anglikanismus in Schottland. – Das Eintreten seiner Vaters Jakob I. für die Anglikanische Staatskirche, gegen den presbyterialen Charakter der schott. Kirche, hatte bereits zu Spannungen mit den Puritanern, Presbyterianern und den immer zahlreicher werdenden Katholiken geführt.

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der Aristokratie in sich aufnimmt den Glanz der regierenden Familien zu erhalten und im Volke den Glauben an die bestehende Ordnung als dem Willen Gottes entsprechende zu pflegen. Das Königtum war als ein landfremdes und mehr dem Willen der großen Familien als dem Erbrechte seine Stellung verdankend, seit der glorreichen Revolution gedrückt. Dennoch gelang es erst allmählich, seine förmlichen Befugnisse zu blos scheinbaren zu machen. Der „König in seinem Rate“ (‚King in Council‘) blieb der Chef der Exekutive und hat als solcher das unbestrittene Recht der Verordnung. Aus seinem Geheimen Rat aber wurde das „Cabinet“, worin zunächst er persönlich den Vorsitz führte. Es bestand aus seinen Secretären des Staates wie sie im Unterschiede von Privatsekretären hießen. Aber es hatte und hat bis heute kein rechtliches Dasein. Das Recht ist immer das der Krone, die ihre Diener und Beamten ernennt. Dass nun in Wirklichkeit das Cabinet anstatt der Krone regiert, ist teils die Folge der Tatsache gewesen, dass der König seinen Ministern freie Hand gewähren musste, weil sie in der Regel den Herrenstand in beiden Häusern des Parlamentes hinter sich hatten; teils hat die Praxis eine quasi-gesetzliche, nämlich konventionelle Geltung erlangt, dass der König einen oder den Führer der Partei, die im Hause der Gemeinen über eine bewilligende Mehrheit verfügt, zur Bildung des Ministeriums beruft, und dass dieser in Wirklichkeit die Minister auswählt die der Form nach der König ernennt. Erst im 19ten Jahrh. ist aber dieser Brauch so fest geworden, dass unter ihm das förmliche Recht auch in dieser Hinsicht als praktisch bedeutungslos angesprochen werden darf. [9] Wie also kam es zu jener großen Krise, wie zu ihrem endlichen Ergebnis? Die Hauptsache ist bekannt. Wie in Frankreich, wie in den größeren deutschen Territorien – anders stand es im Reiche – hatte auch in England mehr und mehr die zentrale Regierung, repräsentiert durch die Monarchie, die Notwendigkeit empfunden und erkannt, sich zu stärken: militärisch, finanziell und also durch die Verwaltung. Die Zusammenfassung der Kräfte nach außen hin für Krieg und Diplomatie schien und war geboten. Dies bedingte die Unterwerfung der mehr oder minder autonomen Korporationen innerhalb ihrer, und neben ihr, unter ihren Willen, also die Bekämpfung der Kirche und der Stände. Es war ein Leitgedanke für die Einführung des Protestantismus und für die Etablierung der Souveränität gegenüber den Ständen. Die Monarchen der Dynastie Tudor und ihrer Regierungen führten diesen Kampf, freilich nicht mit der Rücksichtslosigkeit im 15. und 16. Jahrhundert, wie im 17. die Bourbonen und ihre großen Minister, wie noch im 18. ihn Friedrich Wilhelm I. in Preußen führte, der seine Oberherrlichkeit als einen ehernen Felsen errichten wollte. Jene, die

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Tudors, beriefen ihre Parlamente, wie es herkömmlich war und kamen ihnen mannigfach entgegen; aber es gelang ihnen allerdings, gegen das gemeine Recht ihrer Autorität einen bedeutenden Fortschritt zu sichern. Im Jahre 1603 wurde der König von Schottland Sohn der Maria Stuart, Nachfolger ihrer Rivalin, der Elisabeth. Er glaubt an das göttliche Recht der Könige. Auch in Schottland hatte ihre Macht gegen eine schwere Opposition des Adels sich durchgerungen. Er setzte die Politik seiner Vorgänger fort, aber mit geringerem Geschick und geringerem Glück. Ebenso sein Sohn Karl I. Dieser, der Gemahl einer französischen Prinzessin, versuchte die in Frankreich geübte Methode auf England zu übertragen. Er berief 11 Jahre lang seine Stände nicht, und erhob Steuern, die nicht bewilligt waren. Der Unwille hierüber und die Steuerverweigerung ging [10] von der Gentry aus. In breiteren Kreisen des Volkes schlug die Opposition gegen andere Maßnahmen der Regierung Wurzeln. Die Stuarts brauchten die dem Staate dienstbare Kirche als ihr Werkzeug. „Kein Bischof, kein König“ war der Spruch des Bibelgelehrten wunderlichen Jacob des I. Unter seinem Nachfolger leitete ein Erzbischof die innere Politik. Aber die große Menge des Volkes wollte der Kirche nicht untertan sein. In Schottland erhob sich ein Sturm gegen die Einführung der anglikanischen Liturgie, und dieser Widerstand fand eifrige Sympathie unter den Puritanern in England, den ernsten Frommen, denen die Menge der Kleinbürger und Bauern anhing – schon die Königin Elisabeth haßte sie als eine Gefahr für das monarchische Regiment. Sie wollten teils ein presbyterianisches Kirchenregiment, wie es in Schottland eingeführt war, und als christlich echter galt, teils waren sie noch radikaler in Ablehnung alles Kirchentums und wollten unabhängige Gemeinden – Abkömmlinge der großen täuferischen Bewegung, die auch in England Boden gefunden hatte. Besonders heftigen Anstoß erregte die kirchliche Gerichtsbarkeit der Bischöfe, wie auch die Rechtsprechung der Sternkammer, die wie eine administrative Justiz empfunden wurde. So war die Revolution wesentlich Ablehnung von Neuerungen – Kampf der Ideen, die im Herkommen, dem Gewohnheitsrecht wurzelten gegen die Neuerungen und den Rationalismus einer modernen 4

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König von Schottland: Der schott. König Jakob VI. wurde in Personalunion am 24. 3. 1603 als Jakob I. auch König von England. Gentry: D. i. der niedere brit. Adel. ein Erzbischof: D. i. William Laud. Sternkammer: Heinrich VII. richtete 1487 neben dem Kronrat einen Gerichtshof ein (‚Star Chamber‘). Dem Gericht gehörten ein Bischof, zwei Oberrichter sowie ein Berater des Königs, der Lordkanzler, der Schatzminister und der Geheimsiegelbewahrer an.

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Regierungsweise. Es war eine konservative Revolution und wurde ein Sieg der Stände über die Monarchie, der sich daraus erklärt, daß diese kein nennenswertes Domanium hatte, also finanziell keine unabhängige Macht besaß, und auch über kein stehendes Heer verfügte, vermöge dessen sie im Innern sich durchzusetzen vermocht hätte. – Inzwischen hatte sich die Handelsmacht Englands und mit ihr die Seemacht fortschreitend entwickelt, zum Wettbewerb angestachelt durch das glänzende Vorbild der Vereinigten Niederlande, der ersten Republik auf europäischem Boden. Die englische Republik für eine kurze Zeit Groß-Britannien und Irland mitumfassend, führte den Seekrieg gegen die überlegenen Niederlande, der trotz [11] Staatsveränderung unter Karl II. fortgesetzt wurde. Die Ansprüche und Aussichten des Dissent, d. h. der großen beherrschten Schichten des Volkes, mitzuregieren und dem Prunke des Hofes und der Kavaliere wie dem Prunke der Kirche Einhalt zu gebieten, sanken lautlos dahin. Die normale ökonomische Entwicklung: Zunahme des Luxus, der großstädtischen Lebensweise und ihrer Laster, als Folge der Vermehrung des Handels und durch ihn gesteigerten Reichtums setzte wie immer sich durch und trug ihre politischen Früchte, eben in der 2., der glorreichen Revolution, die der neuen, zuerst durch die Aneignung der Klosterländereien, mehr und mehr dann durch die Verbindung mit der City von London, d. h. eben mit dem See- und Kolonialhandel bereicherten Klasse, für den bald das schwarze Menschenfleisch der einträglichste Handelsartikel wurde, das ökonomische Übergewicht gab. Dies begründete auch die politische Macht der moderner denkenden Schicht des Adels, die dann als die Partei der Whigs fast 100 Jahre lang wenig angefochten das Scepter führte; dessen Träger, der König, nachdem schon lange die Personalunion von England und Wales mit Schottland bestanden hatte, seit 1701 König der beiden staatlich verbundenen Länder geworden war, des großen Britanniens. In diesem Zeitalter, das von 1688 bis 1832 gedauert hat, und mit der Blütezeit des fürstlichen Absolutismus auf dem Kontinent zum großen Teile zusammenfällt – einer Regierungsform, die mehr und mehr als aufgeklärter Absolutismus die liberalen Neuerungen einzuführen beflissen war, welche der Zeitgeist ver-

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vermocht hätte: Am Rande ohne Einfügungszeichen: Beides. Republik: Nach der Hinrichtung von Karl I. wegen Tyrannei und Anzettelung eines Bürgerkrieges wird am 19. 5. 1649 die von einem 41-köpfigen Staatsrat regierte engl. Republik („Commonwealth“) ausgerufen. 1701: Die Personalunion mit Schottland bestand seit 1606, die Union mit Irland seit 1801. Unklar, wie Tönnies auf 1701 kommt (wahrscheinlich Schreibfehler).

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langte, stockte in England und Schottland alle innerpolitische Reform. Sie war zum Teil nicht nötig, weil die ländliche Hörigkeit längst aufgelockert war; umso mehr aber gelang der Squirearchie die Ausdehnung ihres Grundbesitzes auf Kosten der Gemeinweiden und der Bauern. Handel und Kolonialmacht dehnten sich unermeßlich aus, wurden aber von einem harten Schlage getroffen durch den Abfall der 13 Kolonien Nord-Amerika’s. Die große französische Revolution, die sich daran anschloß, ging an England nicht spurlos vorüber. Hätte nicht die von dem jüngeren Pitt geführte Regierung für notwendig gehalten, die Macht der Revolution und ihres Erben [12] Bonaparte 20 Jahre lang zu Wasser und zu Lande zu bekämpfen, so hätte die Reform des Unterhauses nicht so lange hinausgeschoben werden können, wie es geschah, sodaß erst die zweite französische Revolution, die Juli-Revolution diesen schweren Block in Bewegung brachte. In tiefem inneren Zusammenhange mit dieser Bewegung, die eine zunehmende Erschütterung der Oligarchie bedeutete, steht das allmähliche Wachstum der Arbeiterbewegung, die schon im 4. und 5. Jahrzehnt des Jahrhunderts politische Gestalt annahm, dann freilich in der zweiten Hälfte, während die britische Groß-Industrie durch den Freihandel entfesselt, das Monopol auf dem Weltmarkt eroberte, wieder zusammenschmolz, um nach Zerrüttung dieses Monopols umso kräftiger wieder sich zu erheben. Das Haus der Gemeinen war und ist der Form nach noch heute keine eigentliche Volksvertretung, kein Repräsentantenhaus für eigens zu dem Zwecke geschaffene Wahlkreise. Es war und ist eine ständische Körperschaft. Die Abgeordneten sind Vertreter von Städten und Grafschaften, nicht unmittelbar Vertreter der Nation. So war bis zum Reformgesetz (1832) eine Anzahl großer neuer Industriestädte nicht vertreten, während viele „verrottete“ Marktflecken das alte Privileg behalten hatten, sodaß sie tatsächlich den regierenden Familien völlig zur Verfügung standen. Auch sonst war die Wahl zum großen Teil nur eine Form, wodurch die Häupter oder aus den Peersfamilien die Erbprinzen und die jüngeren Söhne sich selber zu Mitgliedern des Parlamentes ernannten. Die Wahlbestechung spielte eine große Rolle, wie auch wiederum die Bestechung der Mitglieder durch 3 13

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Squirearchie: Svw. die Herrschaft der Grundbesitzer (engl.: squires). Juli-Revolution: Nach Aufhebung der oppositionellen Kammer und der Pressefreiheit sowie der Einführung eines neuen Wahlrechts angesichts der wirtschaftliche Notlage kommt es am 2. 8. 1830 zum Sturz des Bourbonenkönigs Karl X. und am 9. 8. 1830 zur Inthronisation von Ludwig Philipp (des „Bürgerkönigs“). Reformgesetz: Es brachte eine Änderung des Wahlrechts zu Gunsten der städtischen Mittelschichten.

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die jeweilige Regierung. Wie ein Drama hat sich bisher die Umgestaltung des Hauses der Gemeinen in 5 Akten vollzogen. Der erste Akt war das Reformgesetz, der zweite folgte erst 36 Jahre später durch Verleihung des Wahlrechtes an die Haushalter in den Städten. Dies wurde 1885 auf die Landarbeiter ausgedehnt. Das Parlamentsgesetz von 1911 betraf nicht das Wahlrecht, es befestigte [13] aber die von einer starken konservativen Mehrheit der Lords angefochtene gesetzgeberische Autorität des Hauses der Gemeinen und erweiterte sie. Der Weltkrieg brachte dann den bisherigen Abschluß dieser Entwicklung durch eine nochmalige Erweiterung des Wahlrechtes, die dem allgemeinen Stimmrecht aller mehr als 21 jährigen Männer wenigstens nahe kommt, während es zugleich dem größeren Teile der mehr als 30 jährigen Frauen verliehen wurde. Auch heute noch gehört das Wahlrecht nicht als subjektives öffentliches Recht dem Staatsbürger, geschweige der Staatsbürgerin, sondern ist an eine gewisse Leistungsfähigkeit, als einen Census geknüpft, auch nachdem neuerdings erst die haushaltlosen Mieter es erhalten haben, da sie für eine unmöblierte Wohnung wenigstens 10 Pfd. Miete schuldig sein müssen. Auch müssen diese alljährlich von neuem um Eintragung in die Listen nachsuchen, was natürlich oft versäumt wird. Immer ist das staatliche Wahlrecht bedingt durch Zahlung von Kommunalsteuern, das der Frauen auch durch eigenes Kommunalwahlrecht oder das ihrer Ehemänner. Es bleibt daher immer die radikale Forderung lebendig, die auf gleiches Wahlrecht und auf Einteilung des Landes in gleiche Wahlkreise nach den Einwohnerzahlen dringt. Indessen haben die steigenden Wählermassen eine zunehmende Bedeutung gewonnen. Sie gelten in einem unklaren Rechtsbegriff vielfach als identisch mit dem souveränen Volk, daher als, in letzter Linie, der nach den konventionellen Regeln nicht mehr bestreitbaren Souveränität des Hauses der Gemeinen überlegen. Ein sehr bedeutsames Zeichen des enormen Übergewichts, das der demokratische Gedanke auch in England gewonnen hat, ist es, daß die Berufung an die Wähler (oder Wählerschaft), sonst der normale Gegenzug eines bestehenden Kabinetts gegen eine getroffene Entscheidung des Unterhauses, neuerdings als Forderung vom Oberhause gegen eine solche ausgespielt wird. Sie wollen die Demokratie durch eine radikalere Demokratie schlagen. Nicht genug daß sie die allgemeinen Wahlen entscheiden lassen wollen – sie befürworten auch die letzte Form der modernen Demokratie: den Volksentscheid oder das Referendum. Dies liegt nun freilich [14] grade England sehr nahe, da eine bloß relative Mehrheit dem Kandidaten das Mandat verleiht. Die logische Voraussetzung dieser Form ist, daß nur zwei Parteien miteinander ringen:

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die den Vorsprung hat, gewinnt. Im Unterhause selbst hat es zwar schon seit der Katholiken-Imanzipation 1828 eine dritte Partei gegeben, aber sie stammte ausschließlich aus Irland. Bei den Wahlen von Großbritannien gab es nur vorübergehend eine unbedeutende dritte Partei. Dies ist anders geworden durch die Fortschritte der Labour-Party, die das eigentliche große Ereignis der jüngsten innerpolitischen Entwicklung Groß-Britanniens ist. Diese Partei selbst ist nicht etwa der Stichwahl günstig gestimmt; denn sie erhält leichter eine relative als eine absolute Mehrheit. Sie sträubt sich weniger gegen das „Verhältniswahlrecht“, das von einer nicht geringen Gruppe, die durch einen Verein Propaganda macht, neuerdings lauter und mit mehr Erfolg verlangt wird. Besonders ist es die liberale Partei, die durch die neuste Entwicklung ins Gedränge gekommen, diese Forderung unterstützt. Denn der Unterschied zwischen dem Ergebnis der Wahlen einerseits, dem Verhältnisse der Parteistimmen insgesamt dazu andererseits ist ein grobes Mißverhältnis geworden. Man darf, wenn man das Werden der englischen Verfassung betrachtet, nicht vergessen, daß aus dem kleinen England einmal das Vereinigte Königreich und sodann das Britische Weltreich geworden ist. Das englische Parlament war also das des Vereinigen Königreichs geworden und nennt sich wohl auch als das über ein ungeheures Reich gebietende „das Reichsparlament“. Als Parlament des Vereinigten Königreiches besteht es nicht mehr. Das ehemalige Königreich Irland ist auseinandergefallen in einen kleineren, den nordwestlichen Teil, der sein eigenes Parlament und eine eingeschränkte Selbständigkeit (es sendet erst seine Vertreter ins Unterhaus) erhalten hat und den größeren und volksreicheren Teil, der als der irische Freistaat nach erbittertem Kampf um seine Freiheit im Jahr 1922 entstanden ist. Dies Süd-Irland ist nicht mehr im Hause der Gemeinen vertreten. Es steht im gleichen Verhältnisse zu Krone und Parlament, wie die 5 Dominions. Es hat Dominion [15] Home Rule; es kann also als sechstes Dominion angesprochen werden. Nun ist aber das Verhältnis dieser Teile des Reiches zum oft noch sog. „Mutterlande“ keineswegs einfach und klar. Es trägt wachsende Schwierigkeiten und mögliche Konflikte in sich. Das Reichsparlament ist freilich weit gegangen in der Selbständigkeit, die es ihnen beläßt: keine Besteuerung findet statt, vollkommene Freiheit der inneren Gesetzgebung und Politik, wenn auch ein Aufsichtsrecht bleibt besitzen sie: diese Freistaaten unter dem König dürfen natürlich nicht durch ihre innere Politik das Reich schädigen oder gefährden. Eine auswärtige Politik 2 15

Katholiken-Imanzipation: korrekt wohl ‚Emanzipation‘ Mißverhältnis geworden: Am Rande ohne Einfügungszeichen: Schluss.

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aber können sie überhaupt nicht führen. In die Kriege Groß-Britanniens werden sie ohne weiteres hineingezogen, mögen sie Gefallen daran finden oder nicht. Sie sind zwar als Staaten im Völkerbunde vertreten, wie auch der in ähnlicher Weise freigegebene Staat Aegypten es ist. Aber das Beispiel Aegyptens lehrt auch, wieviel diese Art der Selbständigkeit in kritischen Fällen wert ist. Noch beherrscht Groß-Britannien, also nominell die Krone, realiter das Haus der Gemeinen, das ganze ungeheure Reich mit Einschluß dieser Freistaaten. Daß sie damit dauernd zufrieden sein werden, ist nicht wahrscheinlich. Längst schon verlangen sie eine Bundesverfassung. Diesem Verlangen sollten die sog. Reichskonferenzen entgegenkommen, die aber in dieser Hinsicht mehr Schein als Wirklichkeit bedeuten. Wichtiger war es dass im Weltkriege 1917 ein Reichs-Kriegs-Kabinett begründet war, dem die Premier-Minister der Dominions als gleichberechtigte Mitglieder mit nur 6 britischen Ministern die schon vorher als Kriegskabinett konstruiert waren, angehörten. Und doch ist das Verhältnis dieser sich selbstregierenden Kolonien minder gefahrvoll als das zum volkreichen Indien. Die Unruhen waren hier lange vor dem Weltkriege auf einen Grad gestiegen, daß es als ein Meisterstück der englischen Politik betrachtet werden muß, daß sie es während dieses Krieges verstanden hat, die Untertänigkeit der ihnen rassefremden Völker sich zu erhalten und sogar große Leistungen von ihnen zu gewinnen. Auch sonst gibt es gewaltige Probleme innerhalb eines so ungeheuren Imperiums. Ob sie anders als durch Gewalt und ob sie dauernd durch Gewalt gelöst oder bezwungen werden können: das ist die große Frage einer Zukunft, die auch für das außerenglische Europa ein Schicksal bedeutet.

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Aegyptens: 1923 erklärte Großbritannien einseitig die (formale) Unabhängigkeit Ägyptens (das konstitutionelle Monarchie wurde), behielt sich aber die Sicherung des Suezkanals vor.

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Renaissance, Reformation, Restauration, Reaktion – Bewegungen, die durch eine gemeinsame Vorsilbe ein gemeinsames Element ihres Geistes kundtun. Denn ihnen ist gemein, daß sie etwas Gewesenes wiederherstellen wollen; ja auch die Revolution darf in die gleiche Reihe gestellt werden: auch sie ist regelmäßig mit diesem Elemente behaftet, obgleich es sich leicht unter den Vorstellungen der gewaltsamen Umwälzung, des Umsturzes und der Neugestaltung verbirgt. Auch in den Revolutionen pflegt der Blick ihrer Führer und Förderer nach rückwärts, in die Vergangenheit gerichtet zu sein: man will etwa die Freiheit wiederherstellen, die der Despotismus vernichtet oder bedroht hat. Immer liegt die Idee eines ursprünglichen besseren Zustandes zugrunde, die ihren naiven und poetischen Ausdruck in den Sagen vom goldenen Zeitalter, dem Reiche des Kronos und den Paradiessagen sich geschaffen hat, woran sich denn natürlich das Verlangen nach Erneuerung des goldenen Zeitalters, nach Wiedergewinnung der Seligkeit des verlorenen Paradieses knüpft. Auch das klassische Altertum, besonders die Welt der Griechen, erschien, je mehr das Studium vom strengen theologischen Interesse an einigen ihrer Werke sich losmachte und zum ästhetischen Genusse sich vertiefte, je mehr man die verschütteten Bildwerke der toten Götter wieder ans Licht zog, als ein verlorenes Paradies. Die Wiedergeburt aber war nicht so sehr Gegenstand eines Strebens und Verlangens als vielmehr ein Erlebnis, dessen man sich freute: die vorhandene und sich steigernde Blüte städtischer Kunst und Kultur, die gerade in Italien ihren geographischen Hauptsitz gewann, weil hier die Ausstrahlungen des Griechentums und der von ihm genährten römischen Weltmacht niemals völlig erloschen waren; weil die Handelsstraßen, die 1

[Reformation]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:47. – Manuskript in 4°, S. 1−14, unbekannte Handschrift, mit eigenh. Korrekturen und Zufügungen von Tönnies. Auf der Rückseite von Blatt 1 handschriftliche Notiz von Tönnies: „ungedrucktes MS“. Darunter in größerer Handschrift, aber möglicherweise nicht von Tönnies’ eigener Hand: „Reformation“. Dieser nicht unbedingt authentische Titel bietet sich als Kopftitel und Überschrift an, da er Intention und Inhalt des Textes trifft. Die Entstehung des Textes lässt sich wohl nur über die eigenh. Korrekturen und Zufügungen datieren, die dem Schriftbild der Handschrift nach auf die Zeit nach 1925 schließen lassen.

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Orient und Occident verbanden, in Byzanz ihren großen Knotenpunkt behielten und in Oberitalien, begünstigt durch Fruchtbarkeit des Bodens und durch die Lage zwischen zwei Meeren, Stätten des gewerblichen Reichtums und des Kunstfleißes entstehen ließ, die schon durch ihr Dasein den ursprünglichen christlichen Geist der Weltverneinung ebenso verleugneten wie es mehr und mehr durch die päpstliche Kirche selber geschah, die nach dem Ausdrucke des Hobbes wie ein Gespenst auf dem Grabe des verstorbenen römischen Reiches saß. Schon bei seinen Lebzeiten hatte der Primat des römischen Bischofes, die Nachfolge Petri, sich festgesetzt; und damit zugleich war die Einfügung in die sündige Welt, wogegen die gläubigen Christen solange sich sträubten, gegeben: der Verzicht auf die Erwartung der nahen Wiederkehr des Herrn und der Errichtung des tausendjährigen Reiches, dessen Ende mit dem Entscheidungskampfe zwischen Christ und Antichrist zusammenfallen und das jüngste Gericht vorbereiten sollte. Durch die Kirche wurde der religiöse Glaube, der im ursprünglichen Christentum gegen die Verzierung und Veredlung des Lebens, darum gegen den Handel, den Reichtum und Luxus, gegen die schönen Künste, die den Lastern der Heiden ein glänzendes Gewand verliehen und sie mit dem trügerischen Schimmer der Tugenden umkleideten, [2] sich empört hatte, wiederum ein Element solcher allmählich neu sich erhebenden Kultur: wie die Religion in der Antike selber und wie sie in jeder erhöhten Volkskultur es gewesen ist. Aus bloßen Stätten der Versammlung und des Obdachs für die Gläubigen wurden die kirchlichen Gebäude wiederum Kunstwerke zur Ehre des Christengottes und der Heiligen, die ihm, nachdem schon das Dogma der Trinität seine starre und nüchterne Einheit durchbrochen hatte, Wunderglaube und Dichtung gleichsam als Gesellschafter in seine himmlische Einsamkeit gestiftet [..] Die Bildhauerei fand, weil sie an den eigentlich christlichen Gestalten sich nicht genug tun konnte, im alten Testament Gegenstände, die zwar nicht einer göttlichen Verehrung taugten, aber doch als Heroen auch dem christlichen Bewußtsein vertraut waren: Werke wie Michelangelos gewaltiger Moses, wie sein David, dessen Jünglingsgestalt auch Donatello und Verrocchio bildeten, gaben den epischen Helden des Judentums durch plastische Gestaltung eine gewisse Verwandtschaft mit den Gebilden der hellenischen Phantasie. Weit ausgesprochener aber und allgemeiner bis in entfernteste germanische Missionsstätten entfaltete sich die Malerei als christliche Kunst; auch hatte sie am meisten ihre eigene

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Einsamkeit gestiftet [..]: Wohl zu ergänzen: hatten.

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Entwicklung genommen, daß sie der antiken Vorbilder so gut wie ganz entbehrte. Sie hat auch ihre Ausbildung wenigstens ebenso sehr in den stillen Zellen und Refektorien der Klöster gefunden wie in den Werkstätten der Städte. Der Ausschmückung der Kirchen, ihrer Altäre und Kapellen und also dem eigentlichen Kultus blieb sie, freilich im Verein mit manchen andern Künsten und Handwerken, vorzugsweise hingegeben; und ein weltlicher Charakter hat sich innerhalb ihrer später und langsamer als in den anderen Künsten des großen Stiles entwickelt. Darum hat auch die Wiedergeburt des klassischen Altertums viel mehr in Baukunst und der Bildhauerkunst als in der Malerei ihren typischen Ausdruck gefunden. Aber auch jene konnten und wollten wenigstens den äußeren Zusammenhang mit der christlichen Legende und der kirchlichen Überlieferung nicht lösen. Freier stand in dieser Hinsicht nur die Gelehrsamkeit und das theoretische Denken da, sofern es wenigstens unbefangen dem Studium und der Verherrlichung der Griechen und Römer sich widmen durfte, solange als es nicht ausdrücklich die Voraussetzungen und den Inhalt des dogmatischen Glaubens anfocht. Darum erhielt im Humanismus die Renaissance ihre am meisten bewußte, am meisten mitteilbare und daher sich ausbreitende Deutung. Die Reformation will etwas neu gestalten, was zum klassischen Altertum sehr verschieden, ja ihm entgegengesetzt war: die ursprüngliche christliche Gemeinde. Darauf ist wenigstens ursprünglich am tiefsten und am meisten energisch der Sinn dieser gewaltigen theologischen und sozialen Bewegung gerichtet: der Volks-, also Laienbewegung, während innerhalb des Klerus schon mehr als hundert Jahre früher, die Reform der „verweltlichten“ Kirche „an Haupt und Gliedern“ gefordert wurde und ein vorherrschender Gedanke blieb, der denn auch im Kampfe gegen das Papsttum und in der Einrichtung neuer Landeskirchen, in denen der Fürst an die Stelle des höchsten Bischofs trat, eine Ver[3]wirklichung fand, worin die geistliche Gewalt, das eigentliche Merkmal der Kirche, erhalten blieb und ein neues Verhältnis zur weltlichen Gewalt begründete – freilich ohne die Ansprüche der Hierarchie von neuem erheben zu können, aber doch eines dauernden moralischen Einflusses gewiß. Der ursprüngliche und echte Geist der Reformation als einer volkstümlichen Empörung gegen die Kirche und damit zugleich gegen den wesentlichen Inhalt der weltlichen Ordnungen und Gesetze, die von der Kirche geheiligt wurden, indem sie ihnen sich anschmiegte ist in der Ketzerei enthalten: in den niemals ausgestorbenen Gemeinden derer, die als Christen leben wollten, um sich auf die Wiederkunft des Herrn und auf das tausendjährige Reich vorzubereiten. Immer verfolgt, an manchen Stellen ausgerottet, erhob die Ketzerei immer

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von neuem ihr Haupt, teils weil ihr Fortleben in abgelegenen Gegenden und in geheimgehaltenen Formen sich nicht unterdrücken ließ, teils weil mehr und mehr mannigfache verwandte Bestrebungen in einer Entwicklung, die dem Klerikalismus feindselig war, ihr zuhilfe kamen. Das Wesen dieser Entwicklung zu erkennen, ist die Aufgabe, die mit dem Problem der Reformation gestellt ist. Für heutige Menschen ist es schwer, von der Vorstellung sich frei zu machen, als ob die Reformatoren die Losreißung von der päpstlichen Kirche als einen Fortschritt gedacht hätten, der in ein Zeitalter, wie es seitdem sich gestaltet hat, und wie wir es erleben, hinüberführen sollte. Nichts lag der mittelalterlichen Denkungsart, in deren Sinn und Geist jene Theologen verharrten, ferner. Sie lebten nicht mit dem Ausblick in eine zukünftige Verbesserung des Menschengeschlechtes; sie lebten vielmehr, wie die ersten Christen, und zwar entschiedener als ihre Gegner, die Verteidiger der alten Kirche, in der Überzeugung und im Gefühle einer untergehenden Welt. Die Lehre von den vier Weltreichen, mit deren letztem diese Zeitlichkeit zuende gehen solle, galt als eine göttliche Offenbarung. In der Prophezeihung des Daniel war sie enthalten. Er hatte im 7. Kapitel die vier großen Tiere beschrieben, die er im Traume aus dem Ozean hervorgehen sah, den Löwen, den Bären, den Panther und ein viertes, unbenanntes Tier, das er nur als „schrecklich und grauenvoll anzuschauen“ bezeichnet. Noch für den Verstand des Straßburger Gelehrten Philippi aus Schleiden (Sleidanus), der ein eifriger Lutheraner war, als solcher die Geschichte des Zeitalters schrieb und wie einen Anhang dazu das merkwürdige Büchlein: „Über die großen Weltreiche“ verfaßte, ist es über allen Zweifel erhaben, daß die vier Tiere des Propheten eben diese vier Reiche bedeuten, und daß das vierte und letzte das noch bestehende römische Reich sei: denn offenbar sind mit den zehn Hörnern, die Daniel dem unbenannten Tiere gibt, die Glieder oder Hauptprovinzen des Reiches gemeint: Syria, Aegyptus, Asia, Graecia, Africa, Hispania, Gallia, Italia, Germania, Britannia. Der Prophet läßt ferner zwischen den zehn Hörnern ein kleines Horn entstehen und wachsen, das von jenen zehn drei ausrottet: dies bedeutet das mohammedanische oder türkische Reich, das, aus bescheidenen Anfängen hervorgegangen, innerhalb der römischen Monarchie [4] drei ihrer Hauptteile, Ägypten, Asien und Griechenland erobert hat. Jenes kleine Horn – heißt es in der heiligen Schrift – hat Augen und ist frevelhaft gegen Gott. Das geht auf 21 25

„schrecklich und grauenvoll anzuschauen“: Vgl. AT, Buch Daniel 7, Verse 7 / 8. „Über die großen Weltreiche“: Vgl. Sleidanus 1642.

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den Stifter des Islam, denn Mahomet hat eine neue Art von Lehre aufgebracht, die den Seinen gar willkommen war und einen gewissen Schein von Klugheit an sich trägt: das sind die Augen, aber er tut Gott eine neue Schmach an. Denn der Propheten und der Apostel Schriften hat er völlig vernichtet und anerkennt kein Heil von Christus, sondern verfolgt vielmehr mit Schmähungen die ganze Lehre von Christus. Und in beweglicher Art schildert Sleidanus, wie dem römischen Reiche immer mehr Abbruch geschehe durch jenes kleine Horn und durch andere Zerrüttungen, so daß es nunmehr schon fast zerstoben sei. Da es aber feststehe, daß mit diesem letzten Reiche, das von keinem an Macht übertroffen worden sei und übertroffen werden könne, der Lauf dieser Welt ein Ende haben und daß es kein ferneres Reich geben werde – so könne nur nach Vernichtung aller weltlichen Herrschaften noch jenes dauerhafte Reich folgen, dessen Urheber und Führer Christus sein wird. Wenn Luther und viele seiner Anhänger den Papst selber oder seine Kirche als Antichrist schalten, so fällt dies aus dem Rahmen der sonst geläufigen chiliastischen Vorstellung: denn erst nach Ablauf der tausend Jahre sollte ja der Antichrist auf Erden erscheinen und dem wiedergekommenen Jesus Christus sein Reich streitig machen. Auch hatte ja Luther ebenso wie Zwingli und wie die von ihm gestifteten Kirchen auf lange hin mit den Schwarmgeistern und Sektierern, den Täufern oder Wiedertäufern, den Bilderstürmern und Aufrührern, die alle das nahe Ende der Welt vor sich zu sehen glaubten und danach ihre Vorkehrungen trafen, unablässig zu kämpfen, nicht anders als die alte Kirche mit der Ketzerei zu kämpfen hatte und dieser Schlange den Kopf zu zertreten beflissen war. Es wiederholte sich mit den neuen Kirchenbildungen in verkleinertem Maßstabe das Geschehnis mit dem ehemals, gestützt auf die Lehren des heiligen Augustinus, als Felsen Petri die Kirche sich eingerichtet hatte. Nach Augustinus sollte die Kirche schon ein gegenwärtiges Reich Gottes auf Erden darstellen; wenn die protestantischen Kirchen dies auch nicht ausdrücklich für sich in Anspruch nehmen, so wiederholen sie doch in ihrem Glaubensbekenntnis die Behauptung der dritten Person in der Gottheit als einer heiligen christlichen Kirche und wollen diese als Heilsanstalt geschätzt wissen; in die schon das Kind durch die Taufe aufgenommen wird, um ihm den Glauben zu vermitteln, durch den allein es gerechtfertigt und selig werden kann. Die neuere protestantische Theologie gibt wohl der Vorstellung vom Reiche Gottes eine freiere Deutung, indem sie den Begriff als bezeichnendsten und umfassendsten Ausdruck faßt für den Weltzweck Gottes, sich ein Volk zu sammeln, das seinen Willen tut. Durch das Dogma von der unsichtbaren Kirche, die durch die sichtbare

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und wirkliche gefördert werde, versuchte schon früh die protestantische Theologie einen gewissen logischen Zusammenhang in diese Vorstellungen zu bringen. – Die kirchengeschichtliche Auffassung der Protestanten wird kaum noch, wie es um die Mitte des 16. Jahrhunderts in klassischer Weise durch die Magdeburger Centurien geschah, das lutherische Dogma als das allein echte und als das der Kirchenväter vertreten, um die katholische Kirche als schlechthin auf Fälschung und Verderbnis beruhend hinzustellen. Sie wird aber nicht umhin können, in den auf den Evangelien aufgebauten Kirchen eine höherentwickelte Gestaltung der Idee des Christentums zu erblicken, eine vollkommenere, jüngere Form, welche die minder vollkommene ältere des Katholizismus innerlich, wenn auch nur in begrenztem Gebiete äußerlich, überwunden habe. [5] Es ist nicht zu verwundern, daß die Kirchengeschichte fast ausschließlich von Theologen der verschiedenen Bekenntnisse gepflegt und bearbeitet wird – wird doch auch die Rechtsgeschichte von Juristen, die Litteraturgeschichte von Gelehrten, die zur schönen Litteratur ein persönliches Verhältnis haben, u. s. w. geschrieben. Auch haben bekenntnistreue so gut wie freidenkende Theologen sich als ausgezeichnete Forscher bewährt. Daß ihre Forschung und Auffassung durch ihr Bekenntnis, oder doch durch die begrenzte Gläubigkeit, die auch der liberale Protestant sich vorbehält, stark gefärbt wird, ist an und für sich nichts, was die Kirchengeschichte zu ihrem Nachteil von anderer Geschichte, namentlich von der Profan-, Staaten- oder Weltgeschichte unterscheidet. Denn auch diese unterliegt dem Einfluß teils des nationalen, teils anderen Parteistandpunktes: die objektiv wissenschaftliche Geschichte ist eine Idee, von der die wirkliche Geschichte in vielen Stücken und besonders je mehr sie ihrem Gegenstande zeitlich nahe steht, weit entfernt bleibt. Ein besonderes störendes Element ist aber aller theologischen Ansicht der Geschichte eigen: daß sie nämlich mehr oder minder auf natürliche Erklärung der Ereignisse verzichtet und eine übernatürliche dafür eintreten läßt. In gläubigen Zeitaltern wurde diese Art der Erklärung auch auf die Weltgeschichte angewandt; und Spuren davon sind auch bei neueren Historikern noch zu finden. Im ganzen aber hat die theologische Methode sich auf ihr eigenes

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Magdeburger Centurien: Flacius, Matthias (1556 oder 1560−1574). Flacius hatte als Schüler Luthers in den dogmatischen Streitigkeiten Stellung für die Orthodoxie, das sogenannte genuine Luthertum bezogen. Sein ‚catalogus testium veritatis‘ (1556) und seine ‚ecclesiastica historia … secundum singulas‘ (1559) – kurz Mageburger Centurien genannt – waren epochemachende Werke für die protestantische Kirchengeschichtsschreibung.

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Gebiet zurückgezogen und läßt natürlich um so mehr dasselbe Ereignis wie die Reformation in sehr verschiedenem Lichte erscheinen: die einen sehen das Wirken des Teufels, die andern das Wirken Gottes darin. Die wissenschaftliche Ansicht wird in der römisch-katholischen Kirche die bedeutendste und stärkste soziale Gestalt der christlichen Religion, als eines alle Schichten des Volkes von den Einfältig-Abergläubischen bis zu den Höchstgebildeten verbindenden Glaubens, erkennen und bewundern; sie wird also in der Reformation, der Bildung neuer, unter sich uneiniger Kirchen und Sekten einen Prozeß der Auflösung eben dieser Religion erblicken. Sie wird aber nicht, wie die katholische Ansicht selber, dafür einzelne verirrte, abgefallene Menschen verantwortlich machen, auch nicht die allgemeine Sündhaftigkeit der menschlichen Natur anklagen, die das dargebotene Heil und die göttliche Wahrheit verschmäht und von sich gestoßen habe; sie wird vielmehr den Prozeß als einen durchaus natürlichen begreifen und ihn aus allgemeinen sozialen Ursachen abzuleiten beflissen sein. Sie wird dann finden, daß im Verlaufe der modernen Kulturentwicklung zwar auch die Elemente des christlichen Bewußtseins sich fortgebildet und in höhere Formen sich entwickelt haben, daß aber zugleich im erweiterten Umfange der Geist der Denkenden und Strebenden, also mittelbar auch der Volksgeist, von den Voraussetzungen dieser Religion, ja aller Religion als eines Glaubens an übernatürliche Wirkungen immer weiter sich entfernt hat. Auch wer diese Entwicklung beklagt, wird ihre Tatsächlichkeit anerkennen müssen; wer sie aber beklagt und zugleich persönlich verleugnet, d. h. der für sich die katholische oder protestantische Gläubigkeit festhält, wird schwerlich in der Lage sein, den notwendigen Gang der Dinge mit hinlänglicher Unbefangenheit anzuschauen. [6]

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Sagen, daß die Reformation durch den Fortgang des allgemeinen Lebens bedingt, ja verursacht war, heißt sie in Zusammenhang mit den Fortschritten des städtischen Lebens bringen. Und dieser Zusammenhang ist in Wahrheit offenbar. Besonders ist die moderne großstädtische Entwicklung zwar keineswegs ausschließlich, aber doch vorzugsweise den protestantischen Ländern eigentümlich. An ihrer Spitze steht unbestritten England; dann folgt das Deutsche Reich: im Deutschen Reiche stehen aber in dieser Hinsicht die protestantischen Landesteile weit voran; unter den 23 Gemeinden, worin am 1. XII. 1910 mehr als je 200 000 Einwohner gezählt waren,

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sind nur solche mit überwiegend katholischer Bevölkerung. Auch in den Großstädten der Kolonialländer, insbesondere der Vereinigten Staaten, herrscht das protestantische Element durchaus vor; die Zahl der ausgesprochen katholischen Großstädte ist gering. Im Ursprunge und Fortgange der Reformation tritt ihr städtischer Charakter klar zutage. Dies gilt besonders für die im engeren Sinne sog. Reformierten Kirchen, in denen der Calvinismus am meisten erfolgreich war. Sein Hauptsitz war die Stadt Genf; und sein Charakter bewußter und planmäßiger Frömmigkeit ist durchaus stadtbürgerlich; in Frankreich, seinem Heimatlande, vermochte er sich gegen schwere Verfolgungen, freilich auch durch die Stütze, die er am hohen Adel gefunden hatte, aber dauernd doch am zähesten durch städtischen Reichtum zu erhalten, der im Gefolge der Intoleranz, die ihnen die Gewissensfreiheit raubte, in andere protestantische Länder überging und diese befruchtete. Die städtischen Merkmale des Luthertums erscheinen weniger ausgeprägt. Ja, zunächst geschah seine Ausbreitung im Nordosten Europas als in einer Gegend, die eher gegenüber dem Süden und Südwesten als ländlich charakterisiert gelten muß. Hier waren offenbar die räumliche Entfernung von Rom und der schon infolge davon geringere Einfluß der gesamten romanischen Kultur, was den Abfall erleichterte und begünstigte. Die spanischen wie die italienischen Städte enthielten zwar starke antipapistische Elemente, die von Zeit zu Zeit hervorgetreten sind; aber sie blieben doch der Kirche unterworfen. Wenn aber hier während der Dauer des Mittelalter um das Mittelmeer der lebhafteste Handelsverkehr und daher die Blüte der Städte sich sammelte, so hatte nunmehr dieser seine besten Zeiten hinter sich: die Straße, die vom Orient nach dem Norden führte, war durch die Türkenherrschaft gesperrt; und mehr und mehr drängte Verkehr und Kolonisation hinaus in den Ozean. In dem Kampf um die neue Welt hatten zwar die katholisch gebliebenen Völker noch einen gewaltigen Vorsprung, aber bekanntlich haben ihnen im Laufe der Jahrhunderte Holland und vor allem seit dem langem Ringen gegen Frankreich Großbritannien den Rang abgelaufen. Schon auf der Höhe des Mittelalters hatten Ostsee und Nordsee eine steigende Bedeutung für den Handel und also für Städtebildung gewonnen; diese Bedeutung erhielt sich und setzte sich fort, wobei zunächst noch die Ostsee im Vordergrunde blieb. Ostsee und Nordsee wurden protestantisch und zwar abgesehen von England lutherisch: mit Lübeck, dem Vorort, eine ganze Reihe von

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katholischer Bevölkerung: Richtig wohl: protestantische Bevölkerung.

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Hansestädten an allen deutschen Ostseegestaden; sodann die als Seemächte über die Hanse hinauswachsenden nationalen Königreiche Dänemark [7] mit dem noch das Königreich Norwegen wie die Herzogtümer Schleswig und Holstein verbunden waren, sowie bis 1658 Schonen; Schweden, zu dem noch (bis 1809) Finnland gehörte. Für die Nordsee aber und durch die Nordsee für die Weltmeere wurde mehr und mehr der Handel Hamburgs mächtig; und auch Hamburg gehörte zum Bereiche des Luthertums, ja war lange eine seiner einflußreichsten Stätten. Das Auftreten Luthers fand in ganz Deutschland begeisterten und ermutigenden Widerhall. Den lebhaftesten und verständnisvollsten aber in den größeren Städten, unter denen die reichsunmittelbaren im Vordergrunde standen und auch zum großen Teil in der Anhängerschaft treu blieben. Sie hatten seit Jahrhunderten gegen die Ansprüche der Geistlichkeit sich gewehrt, sie hatten gegen die Kostspieligkeit der päpstlichen Herrschaft, die sich durch Annaten und Pallium geltend machte, am meisten einzuwenden; ihnen war der Ablaßhandel, der im Landvolke und unter den Frauen immer auf gläubige Abnehmer rechnen konnte, längst ein Greuel: sie begrüßten daher in den Worten des Meistersingers freudig die Wittenberger Nachtigall. Aber zugleich trafen die leidenschaftlichen Anklagen Luthers gegen den Papst und gegen die Mönche zusammen mit verbreiteter und tief wurzelnder Unzufriedenheit des gemeinen Volkes in den Städten wie auf dem Lande, die in Empörungen der Armen gegen die Reichen auslief. Bald schalt und verfolgte man die Juden, öfters aber wandte sich der Unwille allgemein gegen Kaufleute und Wucherer, gegen die großen Hansen, gegen die Fuggerei, der man die zunehmende Teuerung der notwendigen Lebensmittel ebenso schuld gab wie man die Üppigkeit und Schwelgerei der höheren Stände, des geistlichen wie des weltlichen, des Adels wie des Patriziates, geißelte und schmähte. Die ungeheure Erregung, die also in den ersten zehn Jahren, nachdem Luther durch seine kühnen, wenn auch noch keineswegs revolutionären Streitsätze unermeßliches Aufsehen gemacht hatte, schlug auch in umfangreichen litterarischen Erscheinungen nieder, unter denen die Flugschriften Luthers, vor allem die an den Adel 15

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Annaten und Pallium: [lat.] Jahrgeld, d. i. eine Abgabe eines vom Papst neu besetzten niederen Benefiziums an diesen; das Pallium ist liturgisches Amtszeichen des Metropoliten, der für die damit verbundenen Befugnisse an den Papst eine Abgabe (Palliengeld) entrichten musste. Wittenberger Nachtigall: Der Meistersinger ist Hans Sachs, der mit seinem Gedicht „Die Wittembergisch Nachtigall“ (1523) für Luther und die Reformation eintrat. Flugschriften Luthers: Vgl. Luther 1907−1919

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deutscher Nation gerichtete, hervorleuchten. Diese Schriften mußten ihre Leser hauptsächlich in den Städten suchen und finden; unter den Bauern mochte wohl oft ein Geistlicher, den selber danach verlangte, die Fesseln seines Berufes zu zerbrechen, dem Volke solche aufrührerischen Zeichen deuten; aber die Bewegung unter den Bauern, die am heftigsten in Süddeutschland und in Thüringen, aber zugleich oder bald nachher in anderen Gegenden des Deutschen Reiches, durch den furchtbaren Bauernkrieg von 1525 zum Ausbruch kam, hatte tiefere Wurzeln als das „Evangelium“: sie war ein Protest des Bauernstandes gegen die Knechtung, die ihm durch Adel und Geistlichkeit teils schon widerfahren war, teils drohte; sie erneuerte den alten im Gewohnheitsrecht beruhenden Anspruch auf gemeinen Wald, Weide, Wasser, der in immer ausgedehnterer Weise beschnitten oder durch Verwandlung gemessener in ungemessene Frohnden zunichte gemacht wurde. Die Bewegung war länger und nachhaltiger als durch den Einfluß Luthers, wenn auch dieser den grimmigen Ausbruch beförderte, durch die Schwarmgeister genährt worden, die schon längst Wiederherstellung von Gütergemeinschaft und Gleichheit predigten und mit [8] glühendem Eifer das Christentum Christi im Gegensatze zur verweltlichten Kirche ins Leben zu rufen trachteten. Eine mystische Theologie, die der plötzlichen Erleuchtungen und Eingebungen des Geistes wartete, erfüllte das Denken Gelehrter wie Ungelehrter, sie war Luther wohl bekannt, wenngleich er sich mehr und mehr von ihr schied und es notwendig fand, einen neuen, der Form nach in ein rationales System gefaßten kirchlichen Lehrbegriff herzustellen. Bei weitem volkstümlicher war und blieb jener Enthusiasmus, der im Sinne des allgemeinen Priestertums jedem Christen die Deutung der heiligen Schrift offen hielt und am liebsten aus dem geheimnisvollen Buch der Apokalypse Offenbarung und prophetische Erkenntnisse schöpfte. Erst neuere Forschungen haben die ganze Ausdehnung und Tiefe dieses religiösen Aufruhrs in den unteren Volksschichten kennen gelehrt, die die herkömmliche Kirchengeschichte verdunkelt hat. Diese Schwärmer waren die Revolutionäre innerhalb und unterhalb der Reformation, die sie lange vorbereitet hatten und zuerst begrüßten, um sie bald unzulänglich und in Halbheiten verharrend zu finden. Von wie starker Bedeutung aber ihr eiserner Wille und die Kraft ihrer Überzeugung war, davon zeugt noch besser als der Bauernkrieg und der Volksprediger Thomas Münzer das Reich, das die Wiedertäufer in der westfälischen Bischofsstadt errichteten und die Verbindung, worin ein so weitblickender und entschlossener Po36

westfälischen Bischofsstadt: D. i. Münster in Westfalen.

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litiker wie der Lübecker Wullenwewer mit diesem sonderbaren Reiche trat. – Obgleich in ihren großen Erscheinungen und Ausbrüchen bald erloschen, bleibt doch die Sektiererei und der mit ihr verwandte vielfach sich an sie anschließende Pietismus, wenn gleich dieser zumeist innerhalb der Kirche verharrt, ein Faktor der religiösen Bewegung und dadurch auch der politischen Entwicklung in den nächsten Jahrhunderten. Sie verhalten sich vielfach ähnlich zu den gesetzlich eingerichteten protestantischen Kirchen wie in ihren Anfängen und durch ihren ursprünglichen Geist die Reformation zur alten Kirche sich verhielt. Auch die neuen Landeskirchen stellen einen geistlichen Stand wieder her, der zugleich [..] Nebenbuhler und Stütze des weltlichen Herrscherstandes, vorzüglich aber [..] ein mächtiges Werkzeug des sich über beide erhebenden und auf unumschränkte Gewalt Anspruch machenden Fürstentums sich entwickelt, eben dadurch auch, wenigstens in seinen unteren Gliedern, Fühlung mit dem „dritten“, dem beherrschten Stande gewinnt, zumal mit dessen bäuerlichen, den Einfluß des „Kirchherrn“ mehr zugänglichem Teile. Denn in den Städtern, zumal in deren ärmeren Schichten, den kleineren Handwerkern, zumal wo sie schon in Abhängigkeit vom Handel und seinem Kapital frühzeitig geraten sind wie die Weber, wurzelt am meisten die religiöse Eigenbewegung, die Laienfrömmigkeit, die Lust am Forschen in der Schrift, an heimlichen Konventikeln und Gebetsübungen, die Beschäftigung mit Zukunftsträumen, himmlischen und irdischen, das Vertrauen auf Gesichte und Ahnungen, der Glaube, daß man durch ein unmittelbares Verhältnis zu Gott-Vater, Jesus Christus oder dem heiligen Geiste, durch eigene Heiligung, durch methodische Gestaltung des täglichen Lebens, durch Bibellesen, Singen und Beten das Heil und die ewige Seligkeit erringen müsse und daß es nicht durch Formen und Riten, also [9] nicht durch eine Heils-Anstalt, wie die Kirche, nicht durch Vermittlung eines Amtes und seiner angemaßten Gnade, nicht durch Symbole und Sakramente erlangt werden könne. Näher als das lutherische Kirchentum bleibt diesen unabhängigen Sektenwesen der Calvinismus; aber mehr als irgend eine lutherische hat die unter dem Einflusse Calvins gebildete, zugleich aber als nach wie vor „katholisch“ sich behauptende bischöfliche Kirche in England das Wesen der alten Kirche aufs neue in sich verkörpert, ja um so starrer und ständischer gestaltet, je mehr hier die weltliche Aristokratie gegen das Königtum sich behauptete und ihre Alleinherrschaft entfalten konnte: der englische Klerus wurde der 10 11

der zugleich [..] Nebenbuhler: Zu ergänzen wohl: der zugleich als Nebenbuhler. vorzüglich aber [..]: Zu ergänzen wohl: vorzüglich aber als.

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linke Arm dieser Aristokratie, aus der auch seine Spitzen hervorzugehen pflegen. Aber eben im Zusammenhange damit steht es, daß die nachtäuferische Sekte auch auf englischem Boden ihre große geschichtliche Blüte getrieben hat: in jener ersten Revolution, die man dort auch die puritanische Rebellion zu nennen pflegt. Denn der Puritanismus nebst den demokratischen Gemeinden, die aus ihm entsprangen, lebte zwar, auch nachdem in der Restauration die Staatskirche wieder aufgebaut war, fort; aber er blieb geächtet als Dissent, auch nachdem der Protestantismus in der „glorreichen“ Revolution gegen einen katholischen König sich behauptet und die etablierte Kirche dauernd befestigt hatte. Während des 18. Jahrhunderts konnte nur jenseits des Meeres diese ausgestoßene Macht von neuem politische Gestalt gewinnen. Sie war es, die den siegreichen Kampf gegen das englische Mutterland führte, der in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 gipfelte. Im 19. Jahrhundert erhebt sich wiederum in Großbritannien selber die Kapelle gegen die Kirche, das demokratische Nonconformistentum gegen die Magnaten des Großgrundbesitzes und die Inhaber der fetten Pfründen – der Kern der bürgerlich-demokratischen Bewegung und Entwicklung im britischen Staate.

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III[10] Die soziologische Charakteristik der Reformation wird zu einem guten Teile dadurch gewonnen, daß man sie als eine Frucht des Städtelebens betrachtet. Aber sie wird nicht dadurch erschöpft. Ihr stehen manche Momente entgegen. Oberitalien mit seinen reichen, von Kultur und Kunst erfüllten Städten blieb ebenso bei der alten Kirche wie in seinem überwiegenden Teile das städtisch hochentwickelte Frankreich, dessen Hauptstadt ungeachtet ihres katholischen Gewandes, vielmehr auch getragen durch ihren Jahrhunderte alten Ruf als scholastische, orthodoxe Hochschule, schon im 17. Jahrhundert sich anschickte, die zweite Hauptstadt der Welt (nach Rom) zu werden. Ebenso blieben noch blühende Städte Spaniens und Portugals, darunter der Welthafen Lissabon, Träger katholischen Handelsreichtums und katholischen Glaubenseifers; beide zusammen verbreiteten von den drei Ländern aus die heilige Kirche und ihr Ansehen in die Kolonien der neuen Welt wie nach den alten Stätten vorchristlicher orientalischer Gesittung. Ebenso blieben die in Handel und Gewerbe weit 15

Kapelle: D. i. die von der Staatskirche abweichende Gemeinde (chapel).

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vorgeschrittenen Städte Flanderns, unter denen Brügge als Mittelpunkt des ozeanischen Handels bald Lissabon an Kraft und Bedeutung übertraf, der alten Religion treu. Eine andere Seite der Entwicklung wird dadurch bezeichnet, daß mehr und mehr die freien, selbständigen Städte und ihre Bündnisse aufhören, politische Mächte zu sein; daß vielmehr staatliche Mächte, vorzugsweise unter monarchischer Leitung, in den Vordergrund treten. Diese staatlichen Mächte sind zum Teil verhältnismäßig neu auf der politischen Bühne, und die neuen sind fast ohne Ausnahme protestantisch. Während das in seinem Kaisertum und seiner weit überwiegenden Masse nach katholisch gebliebene „Römische Reich Deutscher Nation“ in Zerrüttung fiel; während auch Polen, das nach einem lebhaften calvinistischen Anlauf seines Adels dem Einfluß Roms wieder anheimgefallen war, von Norden, Westen und Osten her in Bedrängnis geriet – erhoben sich die jungen Seemächte im Laufe des 17. Jahrhunderts: Dänemark, das zwar in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters aus dem Dunkel emporgetaucht war, aber noch von der Macht der Hanse überschattet wurde; Schweden, das als alte Heimat des Eisens für die gesteigerten Friedens- und Kriegswirtschaften hohe Bedeutung und dadurch Wohlstand gewann, erhob sich fast plötzlich unter zwei geistig bedeutenden Königen zu einer Großmacht, die wie Frankreich von Westen, Polen von Osten, die am meisten gefürchteten Türken vom Süden her, so von Norden am heiligen Reiche nagte; und zwar als protestantische Macht und aufgrund des Protestantismus. Sodaß eine heidnische, zwei römisch-katholische und eine lutherische Macht gleichsam verschworen waren, dem Reiche den Garaus zu machen, in dessen Kaisertum neben dem Papsttum der Schwerpunkt des mittelalterlichen politischen Systemes gelegen war; während der Kaiser ehemals als oberster Schirmherr der Kirche auch über die jüngeren romanischen und germanischen Reiche eine Autorität und wenigstens moralischen Vorrang in Anspruch genommen hatte – noch während des 16. Jahrhunderts stand nur ihm das Prädikat Majestät [..] – so rissen nun vom eigentlichen Körper des Reiches wertvolle Glieder sich los: die schweizerische Eidgenossenschaft und die Niederlande: beide wurden Hauptstätten der Reformation, beide bildeten neue Staaten, und zwar gewann besonders die Republik der vereinigten Niederlande vermöge ihrer Lage eine Weltstellung als See- und Kolonialmacht, die mit derjenigen der älteren und größeren Reiche in erfolgreichem Wettbewerb treten konnte. Aber auch 19

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zwei geistig bedeutenden Königen: Das sind wohl Gustav II. Adolf und Karl XII. (vielleicht auch Gustav I. Adolf). Majestät [..]: ergänze: zu.

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innerhalb [11] Deutschlands, wie es übrig blieb, erhoben sich mit zunehmender Stärke die größeren und auf Vergrößerung bedachten Territorien, vor allem die norddeutschen, deren Boden schon als Kolonialland jugendliche Lebenskraft in sich trug, von deren Fürsten zwei mit der Kurwürde bekleidet waren; und beide, der Herzog von Sachsen ernestinischer Linie und der Markgraf von Brandenburg wurden frühzeitig Führer der evangelischen Opposition. Lange konnte es zweifelhaft sein, welcher von beiden die Aufgabe, an die Spitze eines neuen, antihabsburgischen und antikatholischen Deutschlands zu treten, am kräftigsten ergreifen und lösen würde. Beide strebten nach der Ostsee: daher die Verbindung Brandenburgs mit dem Ordenslande Preußen[.] diejenige Kursachsens mit Polen, jene mit einem kleinen, aber zukunftsreichen früh zum Luthertum übergetretenen Herzogtum; während die polnische Krone zwar Herrschaft über ein großes und noch mächtiges Königreich verlieh, das aber katholisch blieb und bald in hilflose Zerrüttung verfiel. Die Erstarkung der protestantischen Fürstentümer kam aber auch ihren Landstädten vielfach zugute, sodaß diese sich neben den Reichsstädten und teilweise über die meisten von diesen erheben konnten. So vor allen die jungen Residenzstädte oder als solche verjüngte und in Abhängigkeit gebrachte; dazu andere, neu gegründete Fürstenstädte, die regelmäßig die Bestimmung hatten, durch wirtschaftliche Freiheiten und, wenn möglich, durch Verbindung mit dem Seehandel, Aussichten auf Reichtum und dadurch auf Bereicherung des Fürsten und seines Landes, auf Wachstum der Bevölkerung und vermehrte gewerbliche Tätigkeit zu eröffnen, die Geld ins Land bringen sollte. Nachdem die Rheinmündungen vom deutschen Reiche getrennt waren und der größte Teil der mittleren Rheinlande unter geistlicher Herrschaft der Antriebe entbehrte, die ihm protestantische Fürsten verliehen haben würden, mußte umso mehr die Bedeutung der übrigen deutschen Ströme und ihrer Nebenflüsse zur Geltung gelangen; damit auch die Bedeutung der Städte, welche die Träger ihres Verkehres waren. Und daran hatten oder gewannen mehr und mehr die beiden protestantischen Fürstentümer steigenden Anteil. So besonders an dem Verkehr der Elbe: Dresden, zugleich als glänzende Residenzstadt und als Stapelplatz, der zur Vermittlung der Bergschätze Böhmens und der gewerblichen Erzeugnisse des sächsischen Erzgebirges mit der Unterelbe

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zwei mit der Kurwürde: Das sind wohl Friedrich III. und Joachim I. Nestor. Ordenslande Preußen[.]: Hier wohl Komma zu ergänzen. Herzogtum: D. i. Pommern.

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und so auch mit dem Meere diente; Berlin, das, viel ungünstiger gelegen, seine Bedeutung als Handelsplatz erst zu steigern vermochte, nachdem die Eisenbahn die Entfernung von der Elbmündung und also von Hamburg gering gemacht hatte. Wertvoll wurde für Brandenburg auch die Gewinnung der alten Handelsstadt Magdeburg, die sich früh der lutherischen Reformation angeschlossen hatte und nachdem das Erzstift 1648 in ein weltliches Herzogtum verwandelt war, mit diesem zusammen vom großen Kurfürsten unterworfen ward. – Die deutschen Stände, insbesondere die weltlichen Fürstentümer, wurden durch die Reformation in katholische und protestantische geschieden; und bald spalteten sich wiederum die protestantischen in lutherische und reformierte. Der Grundsatz „cuius regio, eius religio “ war zunächst eine natürliche Folge; denn wenn der Fürst nicht Kraft seiner Landeshoheit Kirche und Schule zu reformieren entschlossen war, so blieb es eben darin beim alten; tat er es aber, so [12] erfolgte naturgemäß die Erneuerung im Sinne seines Bekenntnisses, und war in ihrem Wesen nicht verschieden von derjenigen, welche die Könige in England, in Dänemark, in Schweden bewirkten, wenngleich sie in einem kleinen Territorium sich leichter vollzog, weil sie geringerem Widerstande begegnete als da, wo die Interessen der Stände mächtiger waren und daher schärfer entgegengesetzt. Bald aber erkannten die Fürsten und ihre Staatsmänner, daß ein viel besseres Mittel zur Förderung des Gewerbes und Verkehrs, also der Bevölkerung und des Reichtums, Duldung verschiedener Bekenntnisse als Erzwingung eines einzigen sei: die Religionsfreiheit wurde ein mächtiges Anziehungs- und Lockmittel für die Begründung und Vergrößerung neuer Städte und für den Aufschwung des Gewerbfleißes älterer. Dazu gehörte dann auch die gewerbliche Politik, die auf Begünstigung jüngerer und freierer Industrien gegenüber den Rechten der alten Städte und ihrer Zünfte abzielte. Freiheit der Arbeit, des Handels, der Unternehmung verbinden sich mit Freiheit der Religionsübung und Gewissensfreiheit. Sie vereinen sich in Freiheit der Niederlassung und der Eheschließung. Der Staatsmann, der diese Freiheiten verkündet, macht sein Land zu einem Einwanderungsland, wie eine Kolonie, und befördert den Wettbewerb Einheimischer und Fremder, also den Eifer und die Betriebsamkeit, den Erwerbstrieb und die

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Erzstift: Im Westfälischen Frieden 1848 wurde Magdeburg säkularisiert und fiel nach dem Tode des Kurfürsten von Sachsen 1680 an Brandenburg. vom großen Kurfürsten: D. i. Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg. cuius regio, eius religio: [lat.] svw. wer die Herrschaft innehat, bestimmt auch die Religionszugehörigkeit.

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Gewinnsucht Aller. Auch katholische Territorien und Staatsgebiete konnten es werden; aber sofern sie unter dem Einflusse der Kirche blieben, nur für Katholiken – deren Verfolgung war aber naturgemäß selten, da eben die Reformation durch die Obrigkeit immer bei der Menge Entgegenkommen fand; nur Vornehme blieben dann wohl dem alten Glauben treu, und diese bedurften des öffentlichen Gottesdienstes nicht: sie hatten ihre Privatkapellen und Kapläne, die für sie die Messe lasen. Wenn sie aber dem ketzerischen Lande den Rücken kehrten, so bedeutete das wohl einen Verlust an Vermögen, aber nur von wenigen Menschen für dieses. Anders, wenn ein protestantisches Gebiet Protestanten die Tore öffnete. Aber auch hier mußte die Verschiedenheit der Bekenntnisse hemmend wirken. Lutheraner und Calvinisten waren für einander gefährliche Ketzer; Täufer und Enthusiasten für beide. Indessen konnte gegen diese Unterschiede eher die Staatsraison aufkommen; diejenige, die unter dem Einflusse des Calvinismus stand, freilich eher als die lutheranische; denn die Entwicklung brachte es mit sich, daß das Luthertum enger mit dem Ackerbau, also mit dem bäuerlichen Wesen und seinem Herrentum, der Calvinismus mehr mit städtischem Handwerk, mit Industrie und Handel sich verknüpfte. So wurde es bedeutungsvoll, daß der brandenburgische Kurfürst sein lutherisches Bekenntnis aufgab und zum Calvinismus überging. Ranke weist darauf hin, daß das strenge Luthertum ständischer, und das hieß damals provinzialständischer Natur war; daher habe eine von ihrer eigenen Macht emporsteigende Staatsgewalt sich nicht zu dessen Pflege berufen fühlen können. Der Fürst wollte eben die Einheit seines Staates in sich darstellen; diese Einheit gebot einen gewissen Indifferentismus gegenüber den Konfessionen der im [13] neuen Königreich Preußen allmählich bis zur Maxime Friedrichs des Großen, daß jeder auf seine Weise selig werden möge, sich steigerte – einer Maxime, die denn auch den Jesuiten zugute kam. Diese Betrachtungen drängen uns in die Erwägung des gesamten Verhältnisses der Religion zu den weltlichen Betätigungen, des Verhältnisses zwischen Kirche oder anderer Religionsgemeinschaft und der Obrigkeit des Staates.

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IV Die unablässigen Streitigkeiten zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt gehören zur Signatur des Mittelalters: nicht nur die welthistorischen Kämpfe zwischen Papst und Kaiser, den „zwei Schwertern Gottes auf Erden“, sondern auch die stilleren, aber mannigfachen Kämpfe, die sich

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innerhalb der Städte zwischen Bischof und Gemeinde, zwischen Kapitel und Rat abspielten. In diesen Kämpfen war schon mit dem 14. Jahrhundert der Gipfelpunkt des geistlichen Übergewichtes überschritten. Gleichwohl ist es auch in dieser Hinsicht die Reformation, die eine neue Epoche begründet. Sie bezeichnet den Anfang der auch in unseren Tagen noch nicht vollendeten Säkularisierung und Rationalisierung des Staates. Die vollendete Entwicklung würde bedeuten, daß Gesetzgebung und Verwaltung gleichermaßen gleichgültig wären gegen alle religiösen oder irreligiösen Meinungen, daß sie die Religion und Weltanschauung schlechterdings als eine Privatangelegenheit betrachten würden, die Staat und Behörden nichts angehen. Von der vollkommenen Herrschaft der Kirche bis dahin ist ein weiter, mit Dornen besetzter Weg. Tatsächlich ist die Götterverehrung immer in ausgesprochenster Weise eine öffentliche Angelegenheit gewesen, und die Teilnahme am Kultus setzt ein inneres Verhältnis der Anerkennung und Ehrfurcht zu den übersinnlichen Mächten voraus, die das gläubige Volk als die seinen empfindet und denkt. Die Priester sind dazu bestellt, diese Formen richtig zu erfüllen, die richtigen Lehren über Wesen und Wirken der gefeierten Gottheiten mitzuteilen, also den Verkehr mit ihnen zu vermitteln. Sie überwachen also die Leistung religiöser Pflichten; ihre Macht und ihr Einfluß wachsen in dem Maße, als es ihnen gelingt, den Kreis der Pflichten, die als religiöse sich deuten lassen, zu erweitern, insbesondere auch jede Kundgebung einer anders als auf Erfüllung dieser Pflichten, mithin auf schlichten Gehorsam gegen die geistliche Seelsorge gerichteten Denkungsart zum Verbrechen zu machen. Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint die Ketzerin als eine moralische Pest, die man ausrotten und vertilgen muß, um der Ansteckung zu wehren; weil man überzeugt ist, daß nicht nur der Atheismus als Todsünde der Seele des einzelnen zum völligen Verderben gereiche und seiner Verdammnis gewiß mache, sondern daß auch jede Abweichung vom richtigen Glauben ein Schritt auf der Bahn sei, die abwärts führe, also als eine Verführung zum Bösen, als Auf[14]ruhr und Empörung gegen Gott und die von Gott gesetzte Obrigkeit mit den schwersten Strafen bedroht und verfolgt werden müsse. Diese Überzeugung teilten auch die Reformatoren, wenngleich sie den Kreis der pflichtmäßigen Glaubensmeinungen anders beschrieben. Auch in den katholischen Ländern hat die Staatsgewalt sich mehr und mehr von dieser Ansicht, von der Herrschaft des Priestertums, die dahinterstand, befreit; 1

Kapitel: Im kath. Kirchenrecht ist dies ein Beschlussgremium von Priestern an einer Dom- oder Stiftskirche. Rat ist die städtische Ratsversammlung.

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aber in den protestantischen blieben während der ersten Jahrhunderte nach der Reformation die Bedingungen für diese Befreiung günstiger. Freilich will auch der moderne protestantische Staat ein christlicher Staat sein und drückt diesen seinen Charakter in Formen aus, die entweder dem innerhalb seiner Grenzen vorherrschenden Bekenntnis angehören oder diejenigen seines Herrscherhauses sind; am leichtesten, wenn beide zusammenfallen, wie es in der Regel der Fall ist. Wenn nicht wie im Königreich Preußen alten Umfanges, so bedeutete schon die Union der beiden Bekenntnisse, des lutherischen und des calvinischen, die Einrichtung einer neuen, im allgemeineren Sinne protestantisch-christlichen Staatsreligion. Daß eine solche bestehe, von Staats wegen geschützt und gepflegt werde, gilt noch als schlechthin notwendig im eigensten Interesse des Staates selber.

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1. Als Revolution schlechthin verstehen wir die politische Revolution. Sie ist von Revolutionen anderer Art [..], die sich unter die Kategorie der sozialen, d. h. wesentlich ökonomischen und die der geistig-moralischen Revolution […] können nur aus ihren Zusammenhängen mit den Veränderungen und Umwandlungen des sozialen Lebens und der Ideenwelt verstanden werden. Diese Veränderungen sind ganz überwiegend chronischer Natur: sie vollziehen sich allmählich, oft unbemerkt in mannigfachen Linien, die einander teils hemmen, teils fördern, zuletzt aber in einem grossen Strom sich zusammenfinden. 2. Als politische Revolution wird in der Regel nur ein einmaliges, wenn auch oft über Monate, vielleicht sogar über Jahre sich erstreckendes Ereignis verstanden, nämlich die Tatsache einer gewaltsamen Veränderung der Staatsform. Solche gewaltsame Veränderung aber muss unterschieden werden – wird aber in der Literatur nicht immer unterschieden – je nachdem sie ausgeht von Personen, die auch bisher einen wesentlichen Anteil an der politischen Macht besassen oder von solchen Personen, die keinen, oder nur geringen Anteil daran hatten. Jene Art ist der Staatsstreich (coup d’Etat) die andere die eigentliche Revolution. 3. Es gibt aber auch eine chronische Revolution – Revolution, die sich auf ein Jahrhundert oder mehrere erstrecken kann. Sie tritt zu Tage teils in mehreren katastrophalen Staatsveränderungen welche die Tendenz haben, sich in einem Rhythmus von Revolutionen und Gegenrevolutionen zu bewegen, teils in einem fortgesetzten Kampfe [..]ger Revolution gegen die ihr widerstrebenden und sie verzögernden [2] Elemente. Dieser Kampf kann, wie jeder Kampf zwischen zwei Mächten oder Tendenzen drei verschiedene 1

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Thesen über den Begriff der Revolution: Textnachweis: TN, Cb 54.34:56. – Typoskript in 4°, S. 1−7 (S. 1−5 originale Paginierung; S. 6−7 ohne Pagina). Zur Datierung sowie zur Entstehung des Textes (vmtl. um 1925) vgl. Editorischer Bericht S. 638f. anderer Art [..]: Zu ergänzen: unterschieden. […]: Zu ergänzen: subsumieren lassen; sie. [..]ger: Zu ergänzen: ständiger.

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Ausgänge haben: entschiedenen Sieg der einen oder der anderen Seite und Ausgleich mit Versöhnung. Dieser Ausgleich tritt am häufigsten dadurch […] eine dritte vermittelnde Macht oder Tendenz über beide sich erhebt. Eine solche Macht kann die Revolution zugleich töten und beerben. Sie wirft sich dann auf zum Testamentsvollstrecker der Revolution. – Die Revolution muss auch von der Rebellion unterschieden werden, wenn sie auch mit ihr zusammen gehen kann, und unter Umständen sich leicht mit ihr gesellt. Rebellion ist zuweilen eine plötzliche Erscheinung von kurzer Dauer – der Putsch –, kann aber auch zum eigentlichen Bürgerkrieg sich entwickeln. Revolutionen haben oft die eine wie die andere Gestalt in ihrem Gefolge. 5. In der sozialen Entwicklung Europas und seiner Kolonialländer wie sie im Laufe der zuletzt vergangenen vier Jahrhunderte sich vollzogen hat, sind die bedeutendsten Revolutionen hervorgegangen aus der Empörung einer neuen sozialen Schicht, die sich im Laufe dieser Zeit allmählich konsolidierte gegen die herrschenden Mächte des Mittelalters die ihre Macht in die neueren Jahrhunderte nicht nur hinüber trugen, sondern guten Teil verschärften und verstarrten. Dies geschah insbesondere durch ihre Anlehnung an die monarchischen Gewalten, die ihrerseits ebenso wie die Revolution jenen überlieferten Herrscherständen entgegen wirkten und als Staatsgewalt ihre Gewalt einzuschränken oder zu lähmen beflissen waren. Diese Tendenzen des fürstlichen Absolutismus waren also zwiespältig und zweischneidig: sie arbeiten teils der Revolution vor, teils verbinden sie sich mit den von dieser bekämpften [3] Gewalten, stützen und befestigen diese. Die Aktionen des Absolutismus können als ein chronisch verlaufender Staatsstreich verstanden werden, indem sie das überlieferte Staatsrecht der ständischen Verfassungen durch ihre Macht umwandelten und umstürzten. Darum auch das Königtum Jahrhunderte-lang seine heftigsten Gegner in den Ständen hat, die in der neuesten Zeit als seine engsten Verbündeten gelten und sich gerieren. Durch diese Gegnerschaft wurden diese ehemals herrschenden Stände, soweit sie nicht ihr Schicksal mit dem der Monarchie verschmolzen und deren getreueste Untertanen wurden, vielmehr die Urheber von Revolutionen, die sich gegen die Monarchie sowie gegen Stücke ihrer selbst und mittelbar gegen sich selber d. h. gegen ihre überlieferte Autorität sich richteten. 3 12

[…]: Zu ergänzen: ein, dass. 5.: Fehlerhafte Zählung, korrekt: 4. So auch im Folgenden.

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6. Es gibt daher Revolutionen, die einen konservativen, ja, insofern sie vergangene Zustände wiederherzustellen trachten, einen reaktionären Charakter an sich tragen. Sie entspringen der Defensive der alten Mächte an deren Ueberwindung und Lähmung die gesamte neuere soziale, politische und geistige Entwicklung gleichsam als eine chronische Gesamtrevolution arbeitet. 7. Diese Gesamtrevolution ist der Prozess, der sich in jedem einzelnen davon erfassten Staate, als die Entwicklung der modernen Gesellschaft die auf förmlicher Gleichheit der Individuen beruhen will, aus den mannigfachen Gemeinschaften [..], die in familiären, lokalen und kultlichen Verwandtschaften und Zusammenhängen ihre Wurzeln haben. Dieser Entwicklung dient sowohl der Absolutismus und die ihn ausdrückenden chronischen und akuten Staatsstreiche, als auch die Revolutionen der Neuzeit überwiegend. Auch Gegenrevolutionen und Restauration vermögen sie nicht zu hemmen, ja gereichen zum Teil selber zu ihrer Förderung. Das Ergebnis ist die Gestaltung einer neuen massgebenden und mittelbar herrschenden Klasse, deren Kräfte mehr auf dem Kapital als auf dem Besitz des Grund und bodens be[4]ruhen. Sie ist bisher sozusagen der Reinertrag der gesamten politisch-revolutionären Bewegung gewesen. Diese erscheint daher als das Abbild des ökonomischen Fortschritts, der den Handel zur bestimmenden Potenz des wirtschaftlichen Lebens erhoben hat. Dieser Fortschritt ist aber eben der normale Ausdruck einer gesetzmässigen Entwicklung, die den Austausch der Güter und die Arbeitsteilung – berufliche, lokale und internationale Arbeitsteilung – durch die Vermehrung der Bevölkerung zur überaus wichtigen Notwendigkeit erhebt. 8. Die Revolutionen haben, wie der Gesamtprozess, deren dienende Glieder sie sind, bisher nur schwache Modifikationen erfahren durch die Empörung gegen dies neuere gesellschaftliche System, die als proletarische Revolutionen es bedrohen. Naturgemäss berühren und verbrüdern sich diese Empörungen leicht und häufig mit den Gegenwirkungen der alten Mächte, die wenn auch in stetig abnehmender Stärke der gesellschaftlichen Entwicklung widerstreben und sich gegen sie zu wehren suchen. Andrerseits aber ist diese proletarische Bewegung infolge ihrer Bedingtheit durch das neue gesellschaftliche System und dessen Träger gerade jenen Mächten der Vergangenheit am schärfsten entgegengesetzt und fördert teils 10

Gemeinschaften [..]: zu ergänzen: vollzieht.

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absichtlich, teils unter den allgemeineren Antrieben den hergebrachten und sich immer erneuernden Charakter der Gesamtrevolution. Die politische Revolution, die Veränderung der Staatsform, kann von ihr – der politischen Empörung – ausgehen und doch gerade die gesellschaftlichen Mächte höher erheben und verstärken, denen die politische Empörung entgegenwirken wollte und will. Diese Verkleidung und Verzerrung, die den natürlichen Formen der modernen politischen Revolution zu teil wird, kann die groteskesten Gestalten annehmen, indem sie als [5] scheinbare Vernichtung des alten und des neuen sozialen Systems zugleich erscheint; wird doch auch dann nichts sein als eine paradoxe Phase im Gesamtprozess der politischen Revolution der Neuzeit, deren eigentlicher Inhalt die Etablierung des Handels und also des mobilen Kapitals als sozial und folglich auch politisch massgebender Macht sein wird. 9. In meisterhafter Knappheit und Schärfe spricht Marx aus: es sei nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr soziales Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt; und man könne eine Umwälzungsepoche nicht aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern müsse vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens aus dem vorhandenen Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären. Aber die Anwendungen, die Marx von diesen Sätzen auf die Wahrscheinlichkeit einer proletarischen politischen Revolution, ja einer Zwischenphase, die er als Diktatur des Proletariats bezeichnet und vollends auf die Wahrscheinlichkeit des Gelingens, des dauernden Erfolges solcher Revolution und Diktatur gemacht hat, beruhen mehr in Gefühlen, Wünschen, Hoffnungen und allgemeinen Ideen des Fortschritts der menschlichen Kultur als auf hinlänglich durchdachten sachlichen Gründen. Das gesellschaftliche System des Kapitalismus ist noch in den Anfängen seiner politischen Ausgestaltung, die wir dort am vollkommensten erblicken, wo die proletarische Gegenbewegung am schwächsten ist: in dem Staatenreiche, das sichtlich die Weltregierung, wenn auch zunächst nur die ökonomische, an sich reisst, in den Vereinigten Staaten von Amerika. Das Gesamtbild dieser Zukunftsgestaltung wird in seinen am meisten charakteristischen Zügen weder durch vorübergehende und scheinbare Arbeiterregierungen in Australien und Neuseeland, noch durch die ungeheure Diskreditierung, die der Bolschewismus den Folgerungen

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Bewusstsein bestimmt: Vgl. Marx 1859 (Vorwort).

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aus Marxischen Premissen zu teil werden lässt, dauernd verändert und beeinträchtigt werden. – [6]

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9. Reform oder Revolution? ist eine Alternative, die oft von politischen Schriftstellern aufgestellt wurde, oft auch gewaltige politische Bedeutung erlangt hat. Es ist eine alte Weisheit, dass frühzeitige, rechtzeitige Reformen der Revolution vorzubeugen vermögen; eine alte Erfahrung, dass verspätete Reformen die Revolution fördern und beschleunigen; auch dass regelmässig solche Reformen vergeblich ins Leben gerufen werden, wenn eine Revolution im Anzuge ist. Bemüht ist der Ausspruch Tocquevilles (L’ancien régime et la révolution, Buch III, Kap. 4) dass der gefährlichste Augenblick für eine fehlerhafte Regierung derjenige sei, wo sie sich zu bessern beginne; als Besserung muss hier auch eine Anpassung verstanden werden, die aus objektiver Ferne betrachtet vielleicht als eine Verschlechterung erscheinen wird. Tocqueville fährt fort: „Die Leiden, die man als unvermeidliche geduldig hinnahm, werden unerträglich, sobald man die Möglichkeit erspäht, sich von ihnen zu befreien. Jeder Missbrauch, der dann beseitigt wird, lässt nur um so deutlicher die dann noch übrigen erblicken und macht jede Berührung mit ihnen um so schmerzlicher: das Uebel hat sich zwar verringert, die Fähigkeit aber, es zu empfinden, hat sich gesteigert.“ Rechtzeitige und wohlerwogene Reformen und Anpassungen machen einen tiefen und die revolutionäre Gesinnung dämpfenden Eindruck, verspätete und hastige einen flachen, der jene Gesinnung ermutigt. 10. Ein merkwürdiger Zug in der Ideologie der Revolutionen ist ihr retrospektiver Charakter. Sie wollen regelmässig etwas früheres Ursprüngliches, durch die gegenwärtigen Zustände und Regierungen Verdorbenes und Vernichtetes wiederherstellen, begegnen sich also in dieser Hinsicht durch ihr Wünschen und Wollen mit den Gegenrevolutionen und Restaurationen, obschon diese gerade das herstellen wollen, was jene zerstört haben. Die Wahrheit dieser Beobachtung hat Marx (im Eingange des „18. Brumaire“) so ausgesprochen: „Die Tradition aller [7] toten Geschlechter lastet wie ein 3 19

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9.: Fehlerhafte Zählung. „… hat sich gesteigert.“: Vgl. Tocquevilles 1867: 180: „Das Uebel, welches man als unvermeidlich in Geduld ertrug, erscheint unerträglich, sobald man auf den Gedanken kommt, sich ihm zu entziehen. Alles was man alsdann von Mißbräuchen beseitigt, scheint das noch Uebrige um so deutlicher zu zeigen und macht es peinlicher: das Uebel ist allerdings geringer geworden, aber die Empfindlichkeit gegen dasselbe ist lebhafter“. „18. Brumaire“: Vgl. Marx 1869: 1.

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Alp auf dem Gehirn der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüme, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsscene aufzuführen.“ Und in Marx’ Spuren hat der (allzu früh verstorbene) Baron Casimir Krausz gewagt, ein „Gesetz der revolutionären Rückschau“ aufzustellen, das er so formuliert: „Jede Bewegung, die darauf ausgeht, die Prinzipien des sozialen Systems zu verändern, beginnt damit, sich an eine mehr oder minder entfernte Epoche der Vergangenheit anzulehnen“ und er versucht, die Notwendigkeit dieses Gesetzes aus einer Art von psychologischer Trägheit abzuleiten. „Die Geister, die sich in ihren Bedürfnissen gekränkt fühlen, wenden sich ab von der Gestaltung, die ist; sie suchen etwas anderes. … Man kann das Heil auf suchen in dem, was man kennt (ich setze hinzu: oder zu kennen glaubt) man wünscht die Rückkehr dieser Vergangenheit“. Er beruft sich auf eine Idee seines Landsmannes, des Soziologen J. K. Potocki, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen: „die Rolle dieser Erinnerungen an die Vergangenheit besteht darin, den Tendenzen, die in die Zukunft blicken, das ästhetische Element, das Gewebe der Träume zu schaffen; und es ist nur natürlich, dass gerade die Künstler der Bewegung davon durchdrungen zu sein pflegen“ (Annales de l’institut international de sociologie, vol. I, p. 283 ff., 289).

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so formuliert: Vgl. Krausz 1895: 1. Bd., 283: „Chaque mouvement, tendant à changer les principes du système social, commence par se tourner vers une des époques du passé plus ou moins éloignée“. Das folgende Zitat ebd.: 289: „Donc, de rôle de ces souvenirs du passé et de fournir aux tendances vers l’avenir l’élément esthétique, le tissu des rèves; et il est tout indiqué, que les artistes du mouvement justement en soient pénétrés“.

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[4g] als Dichter bahnbrechend gewirkt hat, obgleich er selber sich nie zum Dichter berufen fühlte, sondern beteuerte, er müsse die dichterische Produktion sich mühsam abquälen. Es war sein ungemein starker Verstand, der dies über sich selber vermochte. Kritik ist Reinigung, oft Vernichtung. Von dem der kritisiert wird oft verlangt daß er es besser mache. Lessing wollte diesem Verlangen gerecht werden. Daß er gerade im Drama bei weitem sein bestes als Poet geleistet hat, ist nicht nur seinem vielfachen Verkehr mit der Bühne und mit Bühnenkünstlern zu verdanken; nicht nur seinem Bedürfnis, offen und laut seinen Gesinnungen Ausdruck zu geben, die sich nicht am wenigsten gegen die Verderbnis der Höfe und gegen die ganze Verlogenheit der Civilisation richteten und ihn daher als einen Vorkämpfer des gebildeten Bürgertums erscheinen lassen, dessen Aufstieg gegenüber dem Adel und den Höfen das Jahrhundert und das folgende bezeichnet. Nein, das Drama ist auch Lessings richtige Sphäre [4h] weil seine Stärke in der Dialektik liegt. Er hatte sozusagen nie einen Gedanken, ohne auch die Antwort auf diesen Gedanken hervorzurufen und zu vernehmen, oft also den Widerspruch und die Verneinung zugleich vorzustellen wenn nicht auszusprechen. Das ist auch für seinen Stil in gelehrten Arbeiten charakteristisch, daher die vielen Fragezeichen, freilich sind es zumeist rednerische Fragen, aber sie lassen doch auch verneinende Antworten offen. Lessing hatte seine Lust am Spiel der Gedanken, hinter denen er seinen tiefsten Ernst verbarg. Er hegte eine gewisse Scheu bei all seinem Mute, seiner ungemeinen intellektuellen Redlichkeit, eine gewisse Scheu, sich geistig ganz zu enthüllen. Das Bewußtsein das seine Offenheit die Welt entsetzen müsse und daß er trotz aller Aufklärung, deren das Zeitalter sich erfreute und sich rühmte, durch seine radikalere Aufklärung sich unmöglich mache, hat [4i] 1

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[Gotthold Ephraim Lessing]: Textnachweis: SHLB, TN Cb 54.34:29 – Das Manuskript (S. 4g-38, 4°) von Schreiberhand (Ernst Jurkat) mit nachträglichen eigenh. Ergänzungen und Korrekturen von Tönnies ist ein Fragment, es fehlen die Seiten 1−4 f. Entstanden vmtl. 1926. Der Titel ist eine freie Hinzufügung des Herausgebers. Näheres s. Editorischer Bericht S. 639f. rednerische: unsichere Lesart. das: Korrekt: dass.

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sicherlich dazu mitgewirkt. Er mag wohl gedacht haben, wie der ihm wohl völlig unbekannte, obwohl ihm geistig nahe verwandte Thomas Hobbes (vor und mit Spinoza der radikalste Freidenker des 17. Jahrhunderts), der einmal gesagt hat: er liebe es, ein Fenster zu öffnen, aber er müsse es bald wieder schließen aus Furcht vor dem Sturme, und er erregte allerdings noch heftigere Stürme als Lessing zu seiner Zeit. Lessings Dramen sind Bekenntnisse: das letzte „Nathan der Weise“ auch das offenste, stärkste, lebendigste. Sein langjähriger Freund Mendelssohn hatte Recht, wenn er im Nathan den ganzen Lessing, seinen langjährigen Freund wiederfand, während er die sogleich zu erwähnende Enthüllung Jakobis über Lessing nicht ertragen konnte, ja wie Göthe in allem Ernste behauptet hat, daran gestorben ist, teils an der Sache selber, mehr aber an dem Kummer, daß Lessing so gedacht und es ihm verschwiegen [4k] haben sollte.[5] Dies führt uns auf die dritte große Bedeutung Lessings die er als Denker, als entschiedener Freidenker gewonnen hat. Lessing war durchaus nicht Philosoph vom Fach, wenn man denn ein solches Fach zugeben will. Doch hat er ein sehr starkes Verhältnis zur Philosophie, nicht nur als Gelehrter, der die Entwicklung der Philosophie von den Kirchenvätern her studiert hatte, nicht nur als niemals müder Kritiker der Theologie und der christlichen Dogmatik aller Gattungen, sondern gemäß seinem unablässigen heißen Streben nach Wahrheit, das er selber durch einen berühmten Ausspruch über den Wert gerade des unablässigen Ringens um diesen Preis verherrlicht hat. Er war ein Philosoph auch im Sinne des ganzen Zeitalters, das ihn getragen und gebildet, das er belehrt und erleuchtet hat, das Zeitalter der Aufklärung und des Weltbürgertums, das gerade in den Gebieten der lutherischen Konfession glänzend sich abhebt von einer trüben, geistlosen Orthodoxie; sie hatte seit den Tagen des Mönches, der das Christentum aus den Banden Roms und des Papsttums, die für ihn den „Antichrist“ darstellten, zu erlösen unternahm; seit dem frommen und gelehrten Melanchton, der einen Rest von Humanismus mit der Rechtfertigung durch den Glauben verbinden wollte, [6] immer mehr sich verdichtet und war immer mehr verknöchert – diese 4 7 8 10 11 22 28

gesagt hat: Quelle nicht ermittelt. Nathan der Weise: Vgl. Lessing 1897: 3. Bd., 1−177. Mendelssohn: Im Original: Mendelsohn. zu erwähnende: Unsichere Lesart. Göthe: Quelle nicht ermittelt. berühmten Ausspruch: Vgl. Lessings ‚Über die Wahrheit‘ (1890: 133 f.). Mönches: D. i. Martin Luther.

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Rechtgläubigkeit hatte zwar ihre Blütezeit in der 2ten Hälfte des XVIten und der ersten Hälfte des XVIIten Jahrhunderts, ragte aber noch tief bis in das 18. hinein. Wie sollten und wollten die Freidenkenden, die Philosophen sich dazu stellen? Nicht nur hatten diese überlieferten Werte ihre förmliche Geltung, meistens von den Fürsten und fast immer von den staatlichen Behörden geschützt; der am meisten freidenkende König war geistig ein Franzose, der das ehrliche Ringen der Denker seines Volkes nicht kannte oder verachtete. Die naturwissenschaftliche d. h. natürliche Ansicht des Seins und Geschehens hatte gerade in dem vorausgehenden Jahrhundert als die Gläubigkeit noch viel stärker war, sich hochentwickelt und war in philosophischen Systemen niedergeschlagen, durch welche die Glaubenssysteme in ihren Kernen erschüttert, ja vernichtet waren. Kein Gelehrter, der auf Erkenntnis und Aufklärung Anspruch machte konnte dieser Tatsache sich entziehen, sie verleugnen und von sich weisen. In England hatte der schon genannte Thomas Hobbes, so stark als Anwalt des gottlosen Denkens sich geltend gemacht, daß er den Einfältigen und Frommen nie Gegenstand des Schauderns [7] wurde, der Häuptling des Atheismus. In Frankreich hatte Descartes nicht ohne Absicht ein für die Theologie erträglicheres System ersonnen, weil es eine so tiefe Kluft zwischen Welt und Gott, wie zwischen Materie und Seele, aufriß, die ebenso gelten wollte als absoluter Unterschied zwischen dem menschlichen Subjekt aller Erkenntnis und allen anderen organischen Wesen, als bloßen Objekten und seelenlosen Mechanismen: auch die intelligentesten Tiere waren für ihn „Maschinen“. In den Niederlanden, wo die Freiheit des Denkens am frühesten und reinsten gewaltet hatte, war dem Geiste eines Juden, den die Synagogen ausgeschlossen eine Art von neuer Theologie entsprossen, die in Wahrheit Verneinung aller Theologie war. Ihr Urheber freilich, Benedictus De Spinoza glaubte und sagte, sie sei die allein echte, allein haltbare Lehre von jenem Gotte, den Christen, Juden und Mohammedaner einstimmig und eintönig lobten und verehrten. Aber Mitwelt und Nachwelt hatten guten Grund, dies System als Atheismus zu brandmarken, denn es war die vollkommene Verneinung ihrer Kindervorstel[8]lungen von jenem einsamen Wesen, dem letzten Reste den die in Vernunft erstarrte Einbildungskraft der absterbenden antiken Völker übrig gelassen hat, der bei aller seiner Unbegreiflichkeit dennoch begriffen wurde als ein allmächtiger Mann, der die Welt gemacht oder durch einen Zauberspruch ins Dasein

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Franzose: Unsichere Lesart. Gemeint ist wohl Friedrich der Große.

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gerufen hatte, der einen Sohn mit einer jüdischen Mutter erzeugt hatte, einen wahren Menschen, der aber als Gottes Sohn auch wahrer Gott sein mußte und der mit diesem Sohn zusammen (der nach getaner Erlösungsarbeit zu seiner Rechten auf dem Himmelsthron sitze) eine dritte göttliche Person, den heiligen Geist, aus sich entlassen hat. Das war die kirchliche Dogmatik, die zu bezweifeln und gar anzugreifen als todeswürdiges Verbrechen galt. Dies Verbrechen war allmählich eines von denen geworden, das fortwährend verübt wird, wenn diejenigen, die es zu ahnden berufen sind, es selber begehen oder doch sich nicht mehr zutrauen, es als solches ernst zu nehmen. Dies war der vorwaltende Zustand in Deutschland des [9] 18. Jahrhunderts. Auch der theologische Rationalismus, der in den reformierten Bekenntnissen beinahe siegreich geworden war und mehr und mehr auch in das römisch-katholische Eingang fand – dieser Rationalismus war ungläubig und doch berufen, den Glauben des Volkes zu erhalten oder zu erretten. Er war vorbereitet durch die pietistischen Richtungen in der Theologie die aus viel älteren Wurzeln stammend, gegen Ende des 17. Jahrhunderts kühner sich hervorwagten und zur Abschwächung des dogmatischen Glaubens wirkten, aber doch diesen keineswegs entbehren wollten, selbst wenn sie nur auf den sogenannten christlichen Lebenswandel, auf die wahre Frömmigkeit Wert legten. Die Aufklärung bedeutete eine viel entschiedenere Abwendung von der Kirchenlehre, indem sie zugleich alles Wunderhafte ablehnte und was als angeblich historisch durch das vermeintliche Wort Gottes beglaubigt überliefert war, sich befliß, natürlich zu erklären, z. B. die angeblichen Erweckungen der Toten durch den Starrkrampf oder Scheintod, den der [10] Meister zu brechen gewußt habe. Diese naturalistische Auffassung war die natürliche Wirkung der neuen Philosophie, die man oft die reformierte nannte. Auch Deutschland hatte etwas später als die anderen Hauptländer seine philosophischen Führer gehabt in Gottfr W Leibniz, ja man darf sagen, es hatte ihrer zwei gehabt, deren Namen auch regelmäßig zusammengenannt werden: nach Leibniz nämlich Christian Wolff, der seinen bedeutensten Lehren sich anschloß und während Leibniz seine Lehren nur in kleinen Schriften und vielen Briefen niedergelegt hatte, ein gewaltiges System in vielen umfangreichen Quartbänden herausgab, ein vollkommenes System rationaler Wissenschaft, wie sie in einem nüchternen und praktischen Geiste sich reflektierte. Sie beherrschten um die Mitte des Jahrhunderts fast durch zwei Menschenalter

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das fortwährend verübt wird: Im Original: werden.

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die Katheder. Zugleich aber war Wolff dessen Ruhm ihm die Standeserhöhung als Reichsfreiherr einbrachte, beflissen, seine Weltweisheit auch in deutscher Sprache bekannt zu machen durch kurzen Schriften, denen er meistens den Titel gab „Vernünftige Gedanken z. B. von den Kräften des menschlichen Verstandes“, von der [11] Menschen Tun und Lassen, von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen u. s. w. Mit diesem LeibnizWolffischen System war Lessing von Jugend auf bekannt, daher behielt auch seine Philosophie lange einen theologischen Firnis im Sinn jener natürlichen Theologie, die für gesichert durch die richtige menschliche Vernunft gehalten wurde und einen viel bewunderten Ausdruck in Leibniz’ „Theodizee“ fand, während Wolff zwar in den Hauptpunkten in bezug auf das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele sich eng an den Meister angeschlossen hatte, aber nicht wie dieser die Mysterien des Glaubens zu erklären unternahm und sogar während Leibniz hinter der Ewigkeit der Höllenstrafen einen vernünftigen Sinn gesucht hatte, erklärte Wolff sich rückhaltlos gegen die Dogmen. Lessing hielt sich im ganzen lieber an Leibniz als den originaleren von den beiden Autoren. So subtile Argumente wie diejenigen waren, die für die Wahrheit der Dogmatik schon von den Kirchen[12]vätern als beweisbar hingestellt waren, reizten seinen Scharfsinn, obgleich er bald zu einem weit vollkommeneren Freidenker fortgeschritten ist, als es für Leibniz, Wolff und die gesamten Philosophen der deutschen Aufklärung möglich und erlaubt schien. Ja in einem gewissen Sinne gab er der Orthodoxie einen gewissen Vorzug, nämlich gegenüber den rationalistischen Theologismen die er auch für noch intoleranter hielt als die damalige auf scheinbare historische Beweise sich stützende Gläubigkeit, von der er sagt, daß sie nur durch lügenhaft ausgesonnene Evangelienharmonien, zu denen sie ihre Zuflucht nahmen, existiere. Lessing, der auch nachdem er längst aufgehört hatte Studiosus der Theologie zu sein, mit emsiger Forschung dem Studium der alten wie der lutherischen Dogmatik obgelegen hatte, war aber dadurch früh zur Verwerfung aller Theologie und jeder positiven angeblich offenbarten Religion fortgeschritten. Wie am deutlichsten in Nathan dem Weisen zutage tritt, will er die Humanität und [13] die humane Ethik an die Stelle aller religiös bedingten,

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kurzen Schriften: Korrekt: kurze Schriften. Siehe in der Bibliographie die korrekten Titel. Theodizee: Vgl. Leibniz 1840. existiere: Im Original durchgestrichen und irrtümlich von Tönnies überschrieben mit: ich behaupte.

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beschränkten und verfälschten Moral setzen. Darum genügte ihm auch nicht der um jene Zeit herrschende unitarisch gefärbte „Deismus“, dem gegenüber er sogar das Dogma der Dreieinigkeit tiefsinniger fand. Was man längst aus seinen zerstreuten Äußerungen und aus dem Nathan hätte herauslesen können, das verkündete aus seinem Munde der noch jugendliche Friedrich Heinrich Jakobi, Göthes Freund, auf Grund eines Besuches, den er 8 Monate vor Lessings Tode gemacht hat. Es erregte in der damaligen literarischen Welt ein unermeßliches Aufsehen, als Jakobi zuerst 1785 in Briefen an Moses Mendelssohn bekannt machte, Lessing sei Spinozist gewesen. Denn obschon Spinoza auf seinen echten und rechten Theismus sich viel zugute getan hatte, so erschien doch sein System mit gutem Grunde den Deisten und Aufklärern ebenso wie den Gläubigen von strengerer Observanz, als Atheismus, denn es bedeutete schlechthin die Leug[14]nung eines extra-, praeter- und supramundanen Gottes, den die damalige, wie auch heute noch die vulgäre Vernunft als Urheber der Welt und als ersten Beweger aus vermeintlichen Vernunftgründen für notwendig hält. Das Gespräch mit Jakobi kam von einem merkwürdigen äußeren Anstoß: das ganz neue Gedicht des jungen Goethe „Bedecke deinen Himmel Zeus mit Wolkendunst“ die trotzige Rede des Prometheus. Wir lesen sie heute wohl unbefangen als zur alten Mythologie gehörig, ohne darin etwas zu finden, was dem gläubigsten jüdischen oder christlichen Gemüt anstößig sein könnte. Anders zu jener Zeit. Jakobi gab ihm das Gedicht mit den Worten: „Sie haben so manches Ärgernis gegeben, so mögen Sie auch wohl mal eines nehmen.“ Er hält also Lessing eben für einen Gottgläubigen, der die göthischen Verse als atheistisch deuten und verschmähen würde. Es war folglich eine Überraschung für Jakobi, als Lessing sie ihm mit den Worten zurückgab: „Ich habe kein Ärgernis genommen, ich habe das schon lange

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Mendelssohn: Vgl. Jacobis „Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn“ (1789). praeter-: Unsichere Lesart. Vernunft: Darüber – jedoch ohne Streichung dieses Wortes – von Tönnies nachträglich eingefügt: Denkungsart. Wolkendunst: Vgl. Goethes „Prometheus“ (1881: 1. Bd., 237−239): „Bedecke deinen Himmel, Zeus, mit Wolkendunst …“. trotzige: Unsichere Lesart. mit den Worten: Ungeachtet etwaiger gesetzter oder fortgelassener Anführungszeichen sind die folgenden Ausführungen teils wörtliche, teils freie Wiedergaben, vgl. Jacobi 1789: 19, 21−24, 27−32, 38 u. 41. „Ich habe: Anführungszeichen von den Hg. eingefügt.

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aus der ersten Hand.“ Das sollte natürlich [15] heißen, für mich ist diese Denkungsart nichts Neues, und wie er gleich darauf sagt: „der Gesichtspunkt, aus welchem das Gedicht genommen ist, das ist mein eigener Gesichtspunkt“… „die orthodoxen Begriffe von der Gottheit sind nicht mehr für mich, ich kann sie nicht genießen. Hen kai Pan ich weiß nichts anderes, dahin geht auch dies Gedicht und ich muß bekennen, es gefällt mir sehr.“ Jakobi – offenbar stark betroffen: „da wären Sie ja mit Spinoza ziemlich einverstanden“, worauf Lessing erwiderte: „Wenn ich mich nach jemanden nennen soll, so weiß ich keinen anderen.“ Jakobi dann: „Spinoza ist mir gut genug; aber doch ein schlechtes Heil das Sie in seinem Namen finden.“ Lessing: „ja, wenn Sie wollen … und doch … wissen Sie etwas besseres?“ Am nächsten Tage kam Lessing wiederum in Jakobis Schlafzimmer, um wie er sagte, über sein Hen Kai Pan mit ihm zu reden. Weil er Jakobi damit [16] erschreckt habe. Dieser leugnete, daß seine Überraschung und Verwirrung „Schrecken“ gewesen sei. „Freilich war es gegen meine Vermutung, an Ihnen einen Spinozisten oder Pantheisten zu finden, und noch weit mehr dagegen, daß Sie mir es gleich und so blank und baar hinlegen würden.“ Nachdem Jakobi erklärt hatte, was Lessing offenbar nicht wußte, den Spinoza gründlich studiert zu haben, sagte Lessing: „Dann ist Ihnen nicht zu helfen. Werden Sie lieber ganz sein Freund, es gibt keine andere Philosophie als die Philosophie des Spinoza. „Nachdem dann auf Lessings Wunsch der jüngere Mann eingehend und treffend dargelegt hatte, was ihm als Geist des Spinozismus erschien, fuhr Lessing fort: „Über unser Credo also werden wir uns nicht entzweien.“ Jakobi protestierte: in Spinoza stehe sein Credo nicht. [17] „Ich will hoffen“, entgegnete Lessing, „daß es in keinem Buche steht.“ Nachdem dann Jakobi bekannt hatte: er glaube an eine verständige persönliche Ursache der Welt, sagte Lessing: – offenbar mit scharfer Ironie – „O, desto besser, da muß ich etwas ganz Neues zu hören bekommen!“ „Freuen Sie sich nicht zu sehr darauf“, entgegnete der junge Glaubensphilosoph. „Er helfe sich durch einen Saltomortale aus der Sache und Lessing pflege am Kopf-unten eben keine sonderliche Lust zu finden, worauf dieser: „Sagen Sie das nicht, wenn ich

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Hen kai Pan: Von Tönnies darüber gesetzt: “ En kaˆ P©n. – [gr. ] svw. das Eine und Ganze; gemeint ist der Begriff der All-Einheit, der in der gr. Philosophie entstand und im neuplatonischen Denken, dem Pantheismus und Monismus von Bedeutung ist. Sie: Bei Jacobi 1789: 22: wir. „daß es in keinem Buche steht“: Vgl. ebd.: 27: Es steht in keinem Buche. Er helfe: Vgl. ebd.: Ich helfe.

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es nur nicht nachzumachen brauche“, offenbar wieder mit überlegenem, aber wohlwollendem Spott. Jakobi setzt dann weitläufig auseinander, daß er aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fatalismus und gegen alles, was damit verknüpft sei schließe. „Ich merke“, sagte Lessing darauf „Sie hätten gern Ihren Willen frei. [18] Ich begehre keinen freien Willen. Überhaupt erschreckt mich, was Sie eben sagten.“ – Jakobi hatte fälschlich Spinoza dahin ausgelegt, daß nach ihm das denkende Vermögen der ganzen Natur bloß das Zusehen habe, sein einziges Geschäfte sei, den Mechanismus der wirkenden Kräfte zu begleiten. Dies erschrecke, sagte Lessing bedeutend, ihn nicht im mindesten. „Es gehört zu den menschlichen Vorurteilen, daß wir den Gedanken als das erste und vornehmste betrachten und aus ihm alles herleiten wollen; da doch alles, die Vorstellungen mit einbegriffen, von höheren Prinzipien mit abhängt. Ausdehnung, Bewegung, Gedanke sind offenbar in einer höheren Kraft gegründet, die noch lange nicht damit erschöpft ist.“ Jakobi antwortet, Lessing gehe weiter als Spinoza, diesem gelte doch Einsicht über alles. „Für den Menschen“, fällt Lessing sogleich ein. [19] „Er war aber weit davon entfernt unsere elende Art nach Absichten zu handeln für die höchste Methode auszugeben und den Gedanken obenan zu setzen.“ Jakobi versucht durch seine Interpretation des Spinoza seine These zu retten. „Gut“, sagt Lessing, aber nach was für Vorstellungen nehmen Sie dann Ihre persönliche extramundane Gottheit an? Etwa nach den Vorstellungen des Leibniz? Ich fürchte, der war im Herzen selbst ein Spinozist.“ „Reden Sie im Ernste“, frägt offenbar mit einigem Entsetzen Jakobi? Lessing darauf: „Zweifeln Sie daran im Ernste?“ Lessing begründet dann, daß es oft mit dem größten Scharfsinne sehr schwer sei, Leibnizens eigentliche Meinung zu entdecken. Gegen Jakobis Bedenken erinnert Lessing an die Stelle, wo Leibniz von Gott gesagt habe, dieser befinde sich in einer immerwährenden Expansion und Kontraktion: dieses wäre die [20] Schöpfung und das Bestehen der Welt. Jakobi will es natürlich nicht anerkennen, ihm schwindelt vor der Annahme, daß dieser Mann – Leibniz – keine supramundane sondern nur eine intramundane Ursache der Welt geglaubt haben sollte. Lessing gibt zu, daß er vielleicht etwas zu viel gesagt habe, nach welchen Vorstellungen aber glaube Jakobi das Gegenteil des Spinozismus? Ob er finde, daß Leibnizens Prinzipien dem ein Ende machten? Jakobi räumt nun wiederum ein, daß kein Lehrgebäude so sehr wie das Leibnizsche mit dem Spinozismus übereinkomme 6

Überhaupt erschreckt mich, was Sie eben sagten: Vgl. fortführend ebd.: 29: …, nicht im mindesten.

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und daß aus Spinoza Leibnizens ganze Seelenlehre sich ableiten lasse. Auf diese lange Auslassung entgegnet Lessing: Ich lasse Ihnen keine Ruhe, Sie müssen mit diesem Parallelismus an den Tag. Reden die Leute doch immer von Spinoza wie von einem toten Hunde. Aus dem Rest des Gespräches ist noch bemerkenswert, daß Jakobi erklärt, keinen innigeren Begriff als den von den Endursachen, keine lebendigere Überzeugung [21] als daß er tue, was er denke, zu haben, daß er nur die Grenze wissen will, wo das Unbegreifliche anfängt, und nur erkennen, daß es da ist. Lessing leugnet, daß diese Grenze sich bestimmen lasse. „Und an der anderen Seite geben Sie der Träumerei, dem Unsinn, der Blindheit freies offenes Feld“, die überall zu Hause seien, wo verworrene Begriffe herrschen. – Jakobi will nur einen knappen Auszug aus diesen und aus ferneren Gesprächen gegeben haben. Daß Lessings Äußerungen wörtlich genau wiedergegeben sind, ist nicht wahrscheinlich. Seine (Jakobi’s) eigene Auslassungen waren Jakobi jedenfalls interessanter, aber niemand, der Lessing einigermaßen intim kennt, kann daran zweifeln, daß die ihm hier zugeschriebenen Äußerungen den Stempel seines Geistes tragen, dennoch steht es fest, daß unser großer Lessing wenigstens in den letzten Jahren seines Lebens ausgesprochener Spinozist gewesen ist. [22] Und manche Forscher haben schon bemerkt, daß er längst auf dem Wege dahin sich befunden hatte. Merkwürdig ist, daß in Lessings Todesjahre die Kritik der Reinen Vernunft erschienen ist. Eine innere Verwandtschaft zwischen Lessing und Kant ist leicht erkennbar. Beide wollten den Rationalismus jenes Sinnes, der damals in Deutschland und anderswo herrschte überwinden: Kant, indem er seine Anwendung auf das Gebiet der möglichen Erfahrung einschränkte unter anderem also die angeblichen Beweise für das Dasein Gottes für die Freiheit des Willens und die Unsterblichkeit der Seele bündig widerlegte und diese 3 VernunftIdeen nur aus der praktischen Vernunft wiederherzustellen unternahm; das war also theoretisch vollkommener Atheismus den man auch nicht richtig als „Pantheismus“ begreifen wird außer wenn dies ein vermittelnder und versöhnender Name sein soll. So ist denn auch von J. E. Erdmann recht erkannt worden, daß Kant schließlich Spinoza viel näher stand als dem von ihm [23] sehr hochgeschätzten Mendelssohn: obgleich ihm wie allen Aufgeklärten seines Jahrhunderts Spinoza so zuwider war, daß er sich nie zu einem gründlichen Studium desselben entschließen konnte, so hat er

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Todesjahre: D. i. 1781, aber: unsichere Lesart. sehr: Unsichere Lesart.

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doch nicht wie Mendelssohn nur Individuen gelten lassen, sondern die Menschheit als etwas Wirkliches und sich Entwickelndes anerkannt: da werde man sich, meint Erdmann, kaum wundern dürfen, wenn man höre, daß Zeitgenossen ihn zu den Pantheisten zählten, da er in Wahrheit mehr sogar als Lessing den Anschauungen des 17. Jahrhunderts in sich Raum gewährt habe. Er weist auch auf andere Kantische Lehren hin, in denen der Keim pantheistischer Lehren liege und daß diese Lehren in der „Kritik der Urteilskraft“, in welchem Werk Kant eigentlich über den Standpunkt beider anderen Kritiken schon hinausgehe, weit mehr hervortreten als in diesen. Lessing der große historische Gelehrte hält sich mehr an den Begriff der Entwicklung den man auch als das letzte Wort des antidogmatischen, oder kritischen Denkens verstehen kann. Er [24] verwirft vor allem die Einbildung der Nichts – als – Aufklärer, daß das alte einfach zu negieren und das neue also der heutige vernünftige Standpunkt einfach das richtige enthalte, also zu bejahen sei. Er sieht die Vernunft selber in ihrer Entwicklung. Auf höchst deutliche und originelle Art tritt dies in den 100 kurzen Paragraphen hervor, die er teilweise schon früher aber als Ganzes im Februar 1780 seinem Verleger übergab: die Erziehung des Menschengeschlechtes. Lessing hat sich nur als den Herausgeber vorgestellt und ausgesprochen, daß er es nie für seine Arbeit erkennen würde. Hierin liegt zugleich die Auflösung des Rätsels, wie sich die Autorschaft der merkwürdigen Schrift mit dem fast unmittelbar nachher von ihm bekannten Spinozismus vereinigen lasse. Denn die äußere Form der „Erziehung“ ist so theistisch daß Schopenhauer mit Widerwillen [25] davon gesprochen hat und auf die „Vorsehung“ wird der ganze Plan dieser Erziehung bezogen. Die Lösung des Problemes liegt, wie ich meine – und Erich Schmidt, der das neuere große Werk über Lessing verfaßte, urteilt in der Hauptsache ebenso – einfach darin, daß Lessing selbst hier als Pädagoge verfahren will. Er hat es darauf abgesehen, den Gedanken auch gläubigen Gemütern zugänglich und einleuchtend zu machen, daß die christliche Religion nicht die höchste und letzte Stufe dessen sei, was man unter Offenbarung verstehen möge: unter welchem theologischen Ausdruck er offenbar eine wichtige Stufe der natürlichen geistigen Entwicklung versteht. Dies ist die Hauptsache in dem kleinen Werke, das Christentum sei etwas, das über-

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Erziehung des Menschengeschlechtes: Vgl. Lessing 1897a: 13. Bd., 413−436. mit Widerwillen: Vgl. Schopenhauer 1977: 2. Bd., 522 f. (Die Kritik der Kantischen Philosophie). verfaßte: Vgl. Schmidt 1923.

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wunden werden müsse und werde. Er knüpft dabei an eine merkwürdige Ahnung gewisser Schwärmer des 13. und 14. Jahrhunderts an, die das Herannahen des neuen „ewigen Evangeliums“ mit Zuversicht ver [26]kündeten. Damals hatten die Weissagungen des Abtes Joachim, der ein besonderes Kloster und den Orden der Floriacenser, später mit dem der Cluniacenser vereinigt, gestiftet hatte, ein unermeßliches Aufsehen erregt; sie verkündeten den Untergang der heiligen Kirche und das Heraufkommen eines neuen Reiches. Als er schon fast vergessen war erneuerten die Spiritualen des Franziskanerordens sein „Evangelium Aeternum“ und die Meinung, daß das Zeitalter des heiligen Geistes des Parakletos schon angebrochen sei ja ein Franziskaner-General Johann von Parma bekannte sich zu dieser Lehre, die natürlich bald als Ketzerei erkannt und verdammt wurde. Es zeugt von Lessings genialem Blick, daß er den Tiefsinn dieser frühen Ketzerei, die in Wahrheit tiefsinniger war als die Meinungen aller sogenannten Reformatoren, für seine eigene Ansicht von der menschlichen Entwicklung zu verwerten und zu deuten wußte: Für eine Ansicht, der die Wahrheit gleich ist [27] der reinen wissenschaftlichen und in ihr beruhenden philosophischen Erkenntnis, also auch Offenbarung keinen anderen Sinn hat als den einer enthüllten Gesetzmäßigkeit der Entwicklung des Menschengeschlechtes die man als Erziehung des Menschengeschlechtes verstehen mag, auch wenn man für überflüssig hält einen außerweltlichen Erzieher hinzuzudichten. Lessing selbst ist ein wirklicher ein innerweltlicher Erzieher des Menschengeschlechtes. Er wollte in den Worten Kuno Francke’s des Kielers der fast 4 Jahrzehnte den amerikanischen Studenten wie seinen Lesern, die deutsche Literatur zugänglich zu machen sich bemüht hat, daß der Streit der Religionen aus dem Hadern über Überlieferung, über den Glauben an religiöse Symbole in einen Wettstreit edler menschlicher Gesinnung sich verwandle. Ich füge hinzu: daß die Religionen untergehen und im [.. ] Ringen um das Wahre Gute und Schöne als das allein Heilige aufgehen sollten. Wenn er länger gesund geblieben wäre und gelebt hätte, so hätte er diese seine spinozistischen Gedanken ohne Zweifel zu einem großen Gebäude 4 9

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Abtes Joachim: D. i. Joachim von Fiore. Evangelium Aeternum: 1254 veröffentlichte Gerard von Borgo San Donnino als Einleitung zu den drei Hauptschriften des Joachims von Fiore sein „Liber introductorius in evangelium aeternum“ (Vgl. im vorliegenden Band: Neue Botschaft, S. 68−75). außerweltlichen: Unsichere Lesart. innerweltlicher: Unsichere Lesart. und im [..]: unleserlich.

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ethischer Weltweisheit ausgebaut, dessen Umrisse sowohl in der Erziehung als besonders in dem großen edlen Drama „Nathan der Weise“ deutlich erkennbar sind. Wie er offenbar alle sogenannten Glaubenswahrheiten verwirft, so gibt es für ihn auch nur das eine Gute, das der Mensch tun werde und müsse, weil es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind, von denen er in der Sprache des Pädagogen sagt, daß [28] sie ehedem den flatterhaften Blick des Menschen bloß heften und stärken sollten, die inneren und besseren Belohnungen des Guten zu erkennen (§ 85). Nur die Reinlichkeit des Herzens mache uns fähig die Tugend um ihrer selbst willen zu lieben und sie hervorbringen könne der menschliche Verstand nur, wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelange; um zu dieser zu gelangen, müsse er schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt sein. – Die völlige Aufklärung das ist es, was Lessing ins Auge faßt, was ihm die halbe Aufklärung verdächtig, ja verhaßt machte. Die völlige Aufklärung ist Spinozismus, die halbe Deismus. Die völlige Aufklärung wird Humanität jenseits aller positiven Religionen. – Gedenken wir hier der von Lessing umgedeuteten Fabel von den 3 Ringen. Der Besitzer jedes der drei unechten Ringe kann seinen Ring dem echten gleichwertig machen dadurch, daß er seine beseligende Wirkung aus sich selber hervorbringt: Wohlan, es eifre jeder seiner unbestochnen Von Vorurteilen freien Liebe nach Es strebe von Euch jeder um die Wette, Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut [29] Mit herzlicher Verträglichkeit mit Wohltun mit innigster Ergebenheit in Gott Zu hilf’ – Das ist Lessings „Ewiges Evangelium“ von dem er sagt, daß seine Zeit gewiß kommen werde, die Zeit der Vollendung … die Meinung ist offenbar: eine tugendhafte und gute Menschheit wird von keiner der Religionen gebildet, sondern kann nur aus der Beschaffenheit der Menschen, die sie zusammensetzen, entspringen. Eine ethische Lehre, ein Evangelium mag einer solchen Menschheit dienen, aber sie wird nicht nötig haben, sich vorschreiben zu lassen, wie man handeln solle. Diese große Zukunftsvision verbindet sich bei Lessing mit dem Gedanken einer fortschreitenden Ver13 28

das ist: Im Original: d i. zu hilf’: Vgl. Lessing 1897: 3. Bd., 94 f.

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vollkommnung jedes einzelnen Menschen und er wagt es geradezu auszusprechen, daß eben der einzelne Mensch mehr als einmal auf dieser Welt vorhanden sei. Warum sollt’ ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bring ich auf einmal so viel weg, daß es der Mühe wieder[30]zukommen etwa nicht lohnet? Darum nicht? – Oder weil ich es vergesse, daß ich schon dagewesen? Wohl mir, daß ich das vergesse. Die Erinnerung meiner vorigen Zustände würde mir nur einen schlechten Gebrauch des Gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf jetzt vergessen muß, habe ich denn das auf ewig vergessen? Oder weil soviel Zeit für mich verloren gehen würde – verloren? – Die letzten Sätze schließen als §100 die merkwürdige Schrift ab. Zu ihrer Ergänzung und zu ihrem Verständnis aber gehören die Gespräche für Freimaurer Ernst und Falk. Hier ist der Gedankengang der: Lessing war Freimaurer geworden, er war ziemlich enttäuscht von den Erfahrungen, die er dort machte. Aber er anerkannte doch etwas in der Maurerei, was ihm innig sympathisch war und was er wohl für entwicklungsfähig hielt. Dieser Idee dienen die Gespräche. Sie entwickeln, daß die bürgerliche Gesellschaft oder der Staat, die doch eben auf Vereinigung auf Frieden ausgehen, die Menschen nicht vereinigen können, ohne sie zu trennen, nicht trennen [31] ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie zu ziehen, schrecklich seien diese Klüfte unübersteiglich oft diese Scheidemauern; nicht genug, daß die bürgerliche Gesellschaft die Menschen in verschiedene Völker und Religionen trennt – sie setze ihre Trennung auch in jedem dieser Teile gleichsam bis ins Unendliche fort. Ein Staat lasse sich nicht ohne Verschiedenheit von Ständen denken, vornehme und geringere Glieder werde es immer geben. Hier kommt Falk, der das Gespräch führt, also Lessing, auch auf die Verschiedenheit des Eigentums und des Genusses zu sprechen, wir würden heute sagen auf die Klassenscheidung: „reichere und ärmere Glieder“ „nun überlege, wieviel Übel es in der Welt wohl gibt, daß in dieser Verschiedenheit der Stände den Grund nicht hat?“ Wenn diese Scheidungen als notwendig anzuerkennen seien, so seien sie darum nicht gut, geschweige denn heilig. Es sei doch

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verloren: Vgl. ebd.: 13. Bd., 436. Die letzten Sätze: Vgl. ebd.: „… Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“. Ernst und Falk: Vgl. Lessing 1897b: 387−411. reichere und ärmere Glieder: Teils wörtliche, teils freie Wiedergaben der Gespräche, vgl. ebd.: 356, 360 f., 363−365, 397−399, 401 f. daß: Korrekt: das.

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wohl sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die über die Vorurteile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüßten, wo [32] Patriotismus, Tugend zu sein aufhört. Steht sehr zu wünschen, daß es in jedem Staate Männer geben möchte, die dem Vorurteile ihrer angeborenen Religion nicht unterlägen, nicht glaubten, daß alles notwendig gut und wahr sein müsse, was sie für gut und wahr erkennen – Männer endlich, welche bürgerliche Hoheit nicht blendet und bürgerliche Geringfügigkeit nicht ekelt, in deren Gesellschaft der Hohe sich gern herabläßt und der Geringe sich dreist erhebt. Ob etwa die Freimaurer es seien, die sich mit zu ihrem Geschäfte gemacht hätten, jene Trennungen, wodurch die Menschen einander so fremd wären, so eng als möglich wieder zusammenzuziehen. In Frage gestellt wird dann, ob wirklich die Freimaurer Leute seien, die es freiwillig über sich genommen haben, den unvermeidlichen Übeln des Staates nicht dieses und jenes Staates entgegenzuarbeiten: denjenigen Übeln, denen sich auch der glücklichste Bürger nicht entziehen könne. Studieren müsse man jene Übel, [33] sie alle kennen lernen, alle ihre Einflüsse gegeneinander abwägen: dies Studium werde Dinge aufschließen, die in Tagen der Schwermut die niederschlagendsten unauflöslichsten Einwürfe wider Vorsehung und Tugend zu sein scheinen. Auch ohne Freimaurer zu heißen werde man durch diesen Aufschluß, diese Erleuchtung ruhig und glücklich werden. Lessing empfiehlt also hier, was wir heute eine soziologische Forschung nennen würden als ein Heilmittel von psychologischer, d. h. ethischer Kraft. Auch ohne Freimaurer zu heißen, werde man solcher Wirkung innewerden. Gegen das Mißtrauen des Mitunterreders, ob wirklich die Freimaurer eine solche Tendenz betätigen, führt der Leiter des Gesprächs ihm ein Grundgesetz der Freimaurer zu Gemüte, daß sie nämlich jeden würdigen Mann von gehöriger Anlage, ohne Unterschied des Vaterlandes, ohne Unterschied der Religion, ohne Unterschied des bürgerlichen Standes in ihren Orden aufnehmen. Nachdem inzwischen der jüngere Mann Ernst Freimaurer geworden ist, kommen die beiden nochmals [34] zusammen: der Neuling spricht von dürrer Wüste, in die er anstatt ins gelobte Land geführt worden sei, er spottet über Goldmacherei, Geisterbeschwörung, Wiederherstellung der Templer und andere Narrheiten; mehr aber über die Kränkungen jener Gleichheit, die ihm als Grundgesetz sei vorgestellt worden – jener Gleichheit, die meine Seele mit so unerwarteter Hoffnung erfüllte, sie endlich in Gesellschaft von Menschen atmen zu

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können, die über alle bürgerlichen Modifikationen hinweg zu denken verstehen, ohne sich an einer zum Nachteil eines dritten zu versündigen. Er sehe sich bitterlich enttäuscht. Laß einen aufgeklärten Juden kommen und sich melden; ja, heißt es, ein Jude? Christ wenigstens muß freilich der Freimaurer sein, es ist nur gleichviel, was für ein Christ, ohne Unterschied der Religion heißt nur, ohne Unterschied der drei im heiligen Römischen Reich öffentlich geduldeten Religionen. Laß einen ehrlichen Schuster, der bei seinen Leisten Muße genug hat, manch guten Gedanken zu haben, (wär’ es auch ein Jakob Böhme und [35] Hans Sachs) lasset ihn kommen und sich melden. Ja, heißt es ein Schuster? Freilich ein Schuster. Laß einen treuen erfahrenen versuchten Dienstboten kommen und sich melden – ja, heißt es, dergleichen Leute freilich, die sich die Farbe zu ihrem Rocke nicht selbst wählen – wir sind unter uns so gute Gesellschaft. Er – bemerkt der Novize – habe an der Gesellschaft allerdings weiter nichts auszusetzen, als daß es nur gute Gesellschaft sei, die man in der Welt so müde wird – Prinzen, Grafen, Herren von, Offiziere, Räte von allerlei Beschlag, Kaufleute, Künstler, – alle die schwärmen freilich ohne Unterschied des Standes in der Loge untereinander durch, sie seien in der Tat aber alle von einem Stande und der sei leider … die Ergänzung fehlt – leider! – offenbar wollte er sagen: keineswegs frei von Vorurteil und Dünkel gegen die nicht zu diesem Stande gehörigen. Der Verteidiger erklärt, daß sich die Loge zur Freimaurerei verhalte wie die Kirche zum [36] Glauben. Er habe selber die schwersten Bedenken gegen das Logenwesen, es würde wohl durch seine Verfassung dahin wiedergelangen, wovon sie sich losreißen wollten. Aber daß sei vielleicht der Weg, auf dem die Freimaurerei ihr Ende finden werde, d. h. ihr Schema, ihre Hülle, ihre Einkleidung. Im fünften und letzten der überlieferten Gespräche will dann Lessing durch seinen Falk lehren, daß ihrem Wesen nach die Freimaurerei ebenso alt sei als die bürgerliche Gesellschaft, daß ihr beiderseitiges Schicksal immer wechselseitig ineinander gewirkt habe. Denn obgleich die Freimaurerei immer und allerorten nach der bürgerlichen Gesellschaft sich habe schmiegen und biegen müssen, darum mancherlei Formen anzunehmen gezwungen gewesen sei, so beruhe sie im Grunde doch nicht auf äußerlichen Verbindungen, die so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten sondern auf dem Gefühl gemeinschaftlich sympathisierender Geister. Das Gespräch [37] ergeht sich dann noch in 1 24 31

Modifikationen: Vgl. Lessing 1897a: 13. Bd., 397: Modifications. daß: Korrekt: das. biegen müssen: Im Original fehlt ‚müssen‘.

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einigen Deutungen der Vorgeschichte des Ordens über die ich als zweifelhaften Wertes hinweggehe. Was Lessing gewollt hat, hätte er vielleicht klarer in einem sechsten Gespräch enthüllt wenn uns dies erhalten wäre, aber er hatte schon von seinem Fürsten einen freundschaftlichen Wink erhalten, nach dem dritten mit der Bekanntmachung aufzuhören. Man darf es folglich dahin ergänzen, daß Lessing einen neuen Orden zu begründen seines Strebens für wert gehalten hätte, einen Orden, der das wirklich leiste, was die Freimaurerei angeblich leisten wolle: die Förderung des allgemein Menschlichen durch die Erkenntnis, insbesondere also die Förderung eines sittlichen Bewußtseins, daß sich über alle Trennungen und Grenzpfähle des Menschentums erhebe und also schlechthin dem Frieden diene, mit anderem Worte der menschlichen Veredelung: denn daß diese notwendige Vorbedingung sei, um [38] jenen unvermeidlichen Übeln des sozialen Lebens mit Erfolg entgegenzuwirken, ist Lessings Überzeugung. Und daran kann kein Zweifel sein, daß er die vollkommene Aufklärung, also das Schwinden der mannigfachen Wahrheit und Vernunft gleich schlecht begründeter religiöser Bekenntnisse für die notwendige Vorstufe der Veredelung des menschlichen Gemütslebens und dadurch der menschlichen Handlungsweisen gehalten hat. Dieser Gedanke war ein richtiger Gedanke. So tief er heute gesunken zu sein scheint – er wird leben und wirken, er wird über die Torheiten und Beschränktheiten siegen, von denen wir heute nicht in jeder Beziehung ganz so schwer wie zu Lessings Zeit bedrückt werden.

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Wink: Vgl. die „Vorrede eines Dritten“ (des ursprünglichen Herausgebers), „der ohne Wissen Lessings (wohl aber doch nicht ohne sein Vorwissen)“ den Text druckte (Lessing 1897a: 13. Bd., 389). daß: Korrekt: das. anderem Worte: Unsichere Lesart.

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Keineswegs aber darf an eine schematische Entsprechung, so wenig in der Vertikal- wie in der Horizontallinie, gedacht werden. Sondern es werden uns auch auffallende Widersprüche begegnen, und was in einem Begriffspaare auf der rechten Seite steht, kann in einem anderen, wenn auch unter anderem Namen, auf der linken stehen. Man vergleiche dies aber nicht etwa mit politischen Parteistellungen – da würde man vielfach gerade das Gegenteil erwarten, z. B. daß das Land auf die rechte, die Stadt auf die linke Seite gehöre. Hier hindert die Linke nun das begrifflich oder historisch Frühere, die Rechte das Spätere. Auf jenen Zusammenhang was sie wirklich sind, wird die Untersuchung zurückkommen. Ich wünsche hier die allgemeine Warnung einzuschalten, daß man nicht eine Parteinahme in irgendeinem Sinne von mir erwarten oder aus meinen Worten heraushören wolle. Ich habe schon viele Jahre, ehe mein verstorbener Freund Max Weber mit größerem Erfolge in diesem Sinne auftrat, den Grundsatz ausgesprochen: die Phänomene des sozialen Lebens mit derselben sachlichen Gleichgültigkeit ins Auge zu fassen, womit der Naturforscher die Prozesse des Lebens, einer Pflanze oder eines Tiers verfolgt. Ich halte auch heute an diesem Grundsatz fest, obgleich mir die Schwierigkeiten, ihm durchaus gerecht zu werden lebhafter [2] im Bewußtsein sind, als sie es damals waren. Es gibt „Werturteile“, die allen Menschen wenigstens denen einer gewissen Kulturstufe gemeinsam sind; die nur der Zynismus mit Worten verleugnen mag, ohne daß man alsbald geneigt wäre, daß die dahinter verborgenen Gefühle ebenso schamlos wären, wie das in den Werken sich darstellende Betragen. Es gibt aber ferner und in viel

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[Werturteilsfreiheit]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:66. – Manuskript in 4°, 6 Blätter, nur erster Absatz eigenh., danach Handschrift Ernst Jurkat. Mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Fragment, offensichtlich Bruchstück eines größeren Werkes, ohne Kopftitel, stattdessen folgender eigenh. Vermerk am oberen Rand von Blatt 1: „Wirtschaft Politik Geist 2tes Stück“. Danach originale Blattpaginierung von 1−6. Der Kopftitel „Werturteilsfreiheit“ ist eine freie Hinzufügung der Hgg. – Das Fragment dürfte zwischen 1926 und 1930 entstanden sein, in welchem größeren Text es hinein gehört, wurde nicht ermittelt. Warnung einzuschalten: Ab hier Handschrift Ernst Jurkat. eines Tiers verfolgt: Vgl. Tönnies 1970: XXI.

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größerer Menge Werturteile und Stellungnahmen, die ganzen großen oder kleinen Gruppen von Menschen gemeinsam sind, weil ihre gemeinsamen Lebensverhältnisse, gleichartige Erziehung, verwandte Gewohnheiten und ihre gewohnte Umgebung, die einen nötigenden Einfluß auf den Einzelnen ausübt, ihnen solche Gefühls- und Denkungsart gleichsam eingibt und in ihnen nährt; auch abgesehen von den mehr oder minder bewußten Interessen, die in dieser Hinsicht die schärfsten Wirkungen zu haben pflegen. So wird man auch von einem Soziologen nicht erwarten, daß er jene Gleichgültigkeit den Zuständen und Vorgängen des sozialen, politischen, geistigen Lebens gegenüber wirklich in seinem Herzen trage, zumal denen in seinem eigenen Lande, und zumal in kritisch be[3]wegter Zeit. Allerdings aber wird vielleicht seine innere, ja etwa auch seine äußere Parteinahme von etwas anderer Art sein als die des aktiven, überzeugten, entschlossenen Parteimannes die angeborene Farbe der Entschließung muß ihm von der Blässe des Gedankens angekränkelt sein. Er muß von den Vorurteilen, die hinter der parteiischen Leidenschaft fast immer liegen, sich befreien und ernstlich versuchen, sich auf nun auf eine höhere Warte zu stellen. Denn insofern als ich beobachte, forsche, denke, so habe ich keinen Wunsch noch Willen, daß die Dinge anders sein oder werden möchten, als sie sind. Alle solche Gefühle, Neigungen und Abneigungen würden die Unbeirrtheit meines Urteils beeinträchtigen. Die Gerechtigkeit des wissenschaftlichen Denkens ist der Gerechtigkeit des Richters wesensverwandt. Auch dieser will in erster Linie den wirklichen Sachverhalt erkennen. Er will aber auch erkennen, was rechtens ist in bezug auf einen solchen Fall. Er will also doch außer der Erkenntnis daß Recht werde oder wiederhergestellt, daß sein Urteil vollstreckt werde. Der Soziologe hat es, wie der Naturforscher nur mit den Tatsachen, mit ihren Ursachen [4] und Wirkungen zu tun, mögen sie ihm gefallen oder nicht. Aber es schweigt auch, gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit des Denkens das Gefallen und Mißfallen im Angesicht der großen Notwendigkeit, die in den Zusammenhängen der Dinge liegt; und die gewonnene Einsicht, daß ein jeder von uns nach ehernen großen Gesetzen seines Daseins Kreise vollenden muß, vermag uns in der Tat in eine Sphäre zu erheben, in der uns nur der Ehrgeiz beseelt, der Wissenschaft als Beruf nach Max Webers Wort zu dienen, also den Beruf des Denkers und Forschers zu erfüllen und ihm getreu zu leben. Max Weber nennt das „intellektuelle Rechtschaffenheit“: die erste Aufgabe des Lehrers sei, seine Schüler Tatsachen anerkennen zu lehren, die ihrer Parteimeinung 36

„intellektuelle Rechtschaffenheit“: Vgl. Weber 1992: 97.

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[Werturteilsfreiheit]

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(ich füge hinzu, wenn sie schon solche zu besitzen glauben) „unbequem“ sind. Nicht als Führer, sondern nur als Lehrer seien wir aufs Katheder gestellt: eine unentrinnbare Gegebenheit unserer historischen Situation sei es, dass [5] Wissenschaft heute ein fachlich betriebener Beruf ist, im Dienst der Selbstbesinnung und der Erkenntnis tatsächlicher Zusammenhänge, nicht eine Heilsgüter und Offenbarungen spendende Gnadengabe von Sehern, Propheten oder ein Bestandteil des Nachdenkens von Weisen und Philosophen über den Sinn der Welt. Dieses ist auch meine Ansicht und mein Programm, das ich noch dahin ergänze, daß auch seine Aufgabe sein kann, richtige d. i. zweckmäßige Staatstätigkeit, richtige d. h. wissenschaftlich begründete Weltanschauung zu lehren; daß diese Aufgaben aber nicht die des Soziologen sind. Ich muß daher jedem Zuhörer es überlassen, ob er und welche Folgerungen er aus meinen Darlegungen gewinnen will; ob er seine Ansichten, wenn er solche schon besitzt, durch mich bestätigt oder bestritten findet; ob er uns nur Willensmeinungen, die ich lieber verberge als hervorkehre, heraushöre, die ihm sympathisch oder unsympathisch sind. Ich bin allerdings davon überzeugt, daß die wissenschaftl. Erkenntis soziologischer Art, auch in Webers und meinem Sinne, einerseits zwar, wie hervorgehoben wurde, auf die Gefühle, die Leidenschaften, den Willen dämpfend wirkt, andererseits [6] aber mit vollkommener Sicherheit dem Wunsch nach ihrer eigenen Vermehrung, nach Stärkung ihres Einflusses erweckt und fördert; daß sie also jedenfalls bei aller sonstigen Unparteilichkeit die unwissenschaftliche Denkungsart und die aus irrtümlichen Vorstellungen gewonnenen Folgerungen – solche begegnen uns alle Tage in großen Mengen – verneint und ihnen entgegenwirkt.

[Republikanisches und monarchistisches Staatsbewußtsein]

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In Nr. 2 des „Reichsbanners“ wird die Frage aufgeworfen: der 18. Januar? In dem Sinne: sollen wir den 18. Januar feiern? mitfeiern? Der erste Satz des Artikels, der eine negative Antwort begründen will, behauptet, die Volkserziehung der Vorkriegszeit habe den Deutschen zwei Daten als für seine nationale Geschichte besonders bedeutsam ins Gedächtnis eingehämmert: den 18. Januar 1701 und den 18. Januar 1871. Ich behaupte, dass dieser Satz unrichtig ist. In den altpreussischen Schulen mag es üblich gewesen sein, das eine Datum als ebenso wichtig für die Glorie des preussischen Königtums [..], wie das andere für die Kaiserwürde, die tatsächlich mit der preussischen Krone verbunden war. Auch ausserhalb der alten preussischen Landesteile mag man hier und da in diesem Sinne die Bedeutung der beiden Tage gleich hoch geschätzt haben. Im grossen ganzen Deutschland ist dies sicherlich nicht der Fall gewesen. Ich denke dabei garnicht einmal an diejenigen Länder, wo man den Aufstieg der eigenen regierenden Familie für ebenso wichtig hielt, wie den der Hohenzollern und auf den eigenen grösseren oder kleineren Staat bezogen für wichtiger. Man hatte jedenfalls ein festes Bewusstsein davon, dass der 18. Januar

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[Republikanisches und monarchistisches Staatsbewußtsein]: Textnachweis: TN, Cb 54.34: 49. – Typoskript in 4°, 8 S., ohne originale Überschrift. Kopftitel von fremder Hand (Dieter Kappe?) später hinzugefügt. Auf Seite 2 bis 8 original-maschinenschriftlich jeweils über dem Text als Kopfzeile: „Tönnies. Kiel. 20. I. 28.“ – Der vorliegende 1928 entstandene Text ohne Verfassernennung wurde veranlaßt durch den Artikel „Der 18. Januar?“ in der Wochenzeitung „Das Reichsbanner“ (Das Reichsbanner, 1924−1933), dem Organ des „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“. Das Reichsbanner, 1924 gegründet, war geplant als Wehrverband der zur Verteidigung der Weimarer Republik entschlossenen Parteien und Gruppen. Es schloss sich 1932 mit den Freien Gewerkschaften zur „Eisernen Front“ zusammen und wurde 1933 durch das NS-Regime aufgelöst. In Nr. 2 des „Reichsbanners“: Vgl. [o. V.]: 1928: 1. 18. Januar 1701 und 18. Januar 1871: Der brandenburgische Kurfürst Friedrich III. ernannte sich mit Billigung des Kaisers am 18. 1. 1701 in Königsberg selbst zum König in Preußen (nunmehr König Friedrich I.). – Am 18. 1. 1871 wurde im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles König Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser proklamiert. des preussischen Königtums [..]: zu ergänzen wohl: anzusehen.

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1871 eine ganz anders geartete und keineswegs eine wesentlich dynastische Bedeutung habe. Ich glaube, dass man, wie ich von mir sagen kann, jene Zeit erlebt haben muss, um die [2] damals herrschende Volksstimmung richtig zu würdigen. Sie hat ihre Höhe und Stärke erreicht im Gefolge eines schweren, aber durch grosse Siege glänzenden Feldzuges, der noch nicht beendet war, dessen erfolgreichen Ausgang man voraussehen durfte. Dass ein gewonnener Krieg unter den damaligen Umständen, sogar wenn es ein Bürgerkrieg war und man der Verlierer war, umwälzend auf die Gesinnung wirken konnte, hat mein Freund Franz Staudinger († 1921) in seinem schönen Buche: „Kulturgrundlagen der Politik“ trefflich dargestellt: Band I, Seite 29. Er berichtet mit schlagenden Belegen, dass im Hessenlande, dem Staudinger entstammte, 1866 eine gegen Preussen geradezu fanatisch feindselige Stimmung herrschte und dass diese Stimmung binnen sechs Wochen völlig in ihr Gegenteil umgeschlagen sei. „Wer jetzt gegen Preussen redete, bekam nicht einmal Rippenstösse. Er wurde einfach ausgelacht“. Staudinger erörtert eingehend, wie es möglich gewesen sei, dass die Besiegten und Geschlagenen so rasch sich dazu verstanden, ihre Meinung zu ändern und ihrem Sieger zuzujubeln; und erzählt: wenn man einen solchen Bekehrten gefragt habe, so sei die eintönige Antwort gewesen: „Wir waren im Irrtume befangen, wir merkten nicht, dass in Preussen die Kraft zur Lösung der deutschen Wirren lag. Nun sehen wir das ein.“ Es war ähnlich bei uns in Schleswig-Holstein. Der bis dahin noch lebhafte Widerstand gegen die Annexion war gebrochen, die Landespartei, die noch für das [3] Recht des Herzogs Friedrich eintrat, erglomm nur noch wie eine erlöschende Kerze und ihre Anhänger flüchteten in die Fortschrittspartei. Innerhalb dieser blieb freilich noch eine gute Portion des Widerwillens und Unwillens über die gewaltsamen Methoden Bismarcks. Dass aber der Sieg

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glänzenden Feldzuges: Mit dem Sieg im dt.-frz. Krieg, und dem Gewinn von Elsass und Lothringen. „Kulturgrundlagen der Politik“: Vgl. Staudinger 1914. „… Er wurde einfach ausgelacht“: Vgl. ebd.: 30. „… Nun sehen wir das ein“: Vgl. ebd.: 31. Recht des Herzogs Friedrich: Friedrich VIII., Herzog von Schleswig-Holstein-SonderburgAugustenburg, machte nach dem Tod des Königs Friedrich VII. von Dänemark die Erbansprüche wieder geltend, auf die sein Vater Christian August 1852 verzichtet hatte. Die Herzogtümer sowie Österreich und der Bundestag erkannten diese Ansprüche Friedrichs VIII. an, der aber von Bismarck überspielt wurde. Fortschrittspartei: die Deutsche Fortschrittspartei bildete sich 1861 aus Altliberalen und Radikaldemokraten im preußischen Abgeordnetenhaus.

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über Frankreich und seinen neuen Napoleon, mochte dieser auch noch so wenig mit dem alten vergleichbar sein, so etwas, wie eine neue Tat der Befreiung bedeutete, das mochte man auch in diesen Kreisen sich nicht verhehlen. Die Partei selbst aber, die ohne Zweifel den Liberalismus reiner, als die neue Nationalliberale ausprägte, hatte offenbar infolge davon, dass sie an der damals vorwaltenden Gesinnung nicht vollen Anteil nahmen, ihren grossen Misserfolg, von dem sie sich nie völlig erholt hat. Bei der ersten allgemeinen Wahl zum Deutschen Reichstage hat sie nur wenig über 8 vH Stimmen auf sich vereinigt. Immerhin war sie noch viel stärker, als die Sozialdemokratie, die nur 3 vH nämlich etwa 118500 von den gültigen Stimmen, die mehr als 100 000 betrugen. Ausser der kleinen Zahl derer, die damals diese noch so unbedeutende Partei führten, dachte niemand an die Möglichkeit einer Republik. Man sah die monarchische Form für das Deutsche Reich, wie für die meisten Einzelstaaten als naturnotwendig, viele als von Gott gewollt an, und das Kaisertum hatte für das vorwaltende Bewusstsein einen romantischen Glanz, der es verklärte. Der angebliche Barbarossa war im Kyffhäuser [4] erwacht. Dieser Gedanke war ganz und gar volkstümlich. Er fand auch in der Arbeiterklasse von damals nur hier und da einen schwachen Widerstand, und dieser war teilweise, wie bei Wilhelm Liebknecht und seinem näheren Anhange grossdeutsch begründet. So war auch die Denkungsart der kleinen Süddeutschen Volkspartei, die damals noch 19 400 Stimmen bei der Wahl aufbrachte und später ganz verschwunden ist, indem sie in die allgemeine deutsche Volkspartei aufgegangen war. Was der Aufsatz über die Motive der grosspreussischen Politik Bismarcks und ihre Wirkungen, wie sie im 18. I. 1871 sich vollendeten, ausführt, anerkenne ich als durchaus richtig. „Die konservative Weltanschauung war zerstört worden, da ihr der Glaube an das Gottesgnadentum der Monarchie geraubt war“. Auch was daran angeknüpft wird, über die Folgen der Entwicklung lasse ich gelten, wenn auch, wie sich versteht, die ganze Mannigfaltigkeit der historischen Vorgänge dieser Jahrzehnte darin nicht erschöpft wird. Es heisst zum Schluss: „so sah das Ende des preussischen Staates vom 18. I. 1701 und des grosspreussischen Kaiserreichs vom 18. I. 1871 aus“. Ich bemerke dagegen: ein Kaiserreich, in dem Sinne, wie der

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seinen neuen Napoleon: D. i. Napoleon III. Wahl zum Deutschen Reichstage: 1871. „… Monarchie geraubt war“: Vgl. [o. V.]: 1928: 1. „… vom 18. I. 1871 aus“: Vgl. ebd.

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preussische Staat ein Königreich, ist das neue Deutsche Reich nicht gewesen. Es war in erster Linie ein Bundesstaat, im Gegensatz zum [5] Staaten-Bund, den der Deutsche Bund von 1815 bis 1866 darstellte. Der König von Preussen war der erbliche Resident dieses Bundesstaats. Er hatte in ihm keine eigentlichen monarchischen Rechte. Er hatte die Reichsgesetze nur zu verkünden, die durch Übereinstimmung des Bundesrates und Reichstages zu Stande kamen. Diese Verfassung hatte gerade in Anbetracht der bisherigen Lage, in der sich das Reich nach aussen hin bei dem fortwährend drohenden Zwei-Fronten-Kriege befand, ihre ungeheuren Schwächen, zumal, nachdem man es fertig gebracht hatte, durch eine unbesonnene Kolonial- und Weltpolitik auch die Gegnerschaft Grossbritanniens auf sich zu ziehen. Die Dynastien haben es büssen müssen. Das war ein höchst bedeutender Erfolg – ein Erfolg des Reichsgedankens: das Reich wollte leben, es warf seine Fürsten über Bord, wie ein Schiff den Ballast über Bord wirft, um sich zu retten. Wenn aber das Reich weiter leben will, muss es, kann es dann seiner Geburtsstunde vergessen? Seine Geburtsstunde war der 18. Januar 1871. Dies muss man anerkennen, auch wenn man heute keine Sympathie mehr hegt mit den Gesinnungen, die damals das Ereignis willkommen hiessen und noch weniger mit den Vorgängen und Formen, unter denen die schwere Geburt zu Stande kam. Die „junge Mutter Germania“ war eben eine recht bejahrte Frau. Und sie war alt geworden unter dem Einflusse des altdeutschen Königtums und seiner Herzogtümer, wie unter dem des römischen Kaisertums, [6] das überdies vom Glanze der kirchlichen Weihe umstrahlt war. Man kann nicht erwarten und verlangen, dass die entschiedenen Anhänger der Republik, also des Deutschen Reiches in seiner gegenwärtigen Form mit denselben Gefühlen an der Feier des 18. Januar hängen, wie die Gegner dieser Staatsform, die am liebsten die Bismarckische Verfassung, oder wenigstens irgend eine monarchische Krönung des Reiches wiederherstellen möchten, wohl aber darf man erwarten und verlangen, dass auch die Republikaner, die historische Bedeutung jenes Tages anerkennen und würdigen. Es ist nichts ungewöhnliches, dass man allen Grund hat, historische Ereignisse zu feiern und als Gunst des Schicksals zu begrüssen, die durch Umstände ihre[.] Entstehung schwer belastet sind. Jedenfalls gestaltet sich so das Gedächtnis des Volkes immer und überall: die belastenden Umstände verblassen in der Erinnerung, das Ereignis selber gewinnt durch 23 34

römischen Kaisertums: Das „Heilige Römische Reich Deutscher Nation“. Umstände ihre[.]: Korrekt wohl: ihrer.

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den Kontrast in seinem Glanze. So war es mit den Befreiungskriegen, ihrem Höhepunkt, der Leipziger Völkerschlacht, ihrem Ende bei Waterloo. Die Befreiung von Napoleons Despotismus war geschehen mit Hilfe Russlands und Englands. Beide hatten sich der deutschen Erhebung nur für ihre Zwecke bedient. Aber die Erhebung und die zeitweilige deutsche, wenn auch unvollkommene deutsche Einigung war Tatsache. [7] Sie bleibt wirksam, bleibt unvergessen. Wenn es in dem Artikel heisst: „nichts hatte das Kaisertum der Hohenzollern mit dem Deutschen Volke zu tun, nichts verbindet das heutige republikanische Deutschland mit jenem Vorkriegsstaate“, so sind das schlechthin unhaltbare Sätze. Wenn die Parteien, deren Übereinstimmung und Kompromisse die Weimarer Verfassung von 1919 geschaffen haben, damals eine Mehrheit von fast 25 1 / 2 Millionen (mit Einrechnung der damaligen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei) repräsentierten, d. h. mehr als 4 / 5 der abgegebenen gültigen Stimmen und mehr als 2 / 3 aller Wahlberechtigten – während dieselben Parteien durch die Reichstagswahl, auf der noch der gegenwärtige Reichstag beruht, auf kaum 14 Millionen zusammen geschmolzen war[.], also unter die Hälfte der gültigen Stimmen und auf reichlich 1 / 3 der Wahlberechtigten zusammengeschmolzen war[.]; so muss man, wenn man nicht diesen ungeheuren Umschlag bloss auf die Launenhaftigkeit und Unkenntnis der weiblichen und der vielen allzu jungen Wähler zurückführen will, (was freilich z. T. richtig wäre) darin doch eine Antwort des deutschen Volkes auf jene Sätze erkennen. Diese Antwort ist also den republikanischen Parteien, die im Reichsbanner verbunden sind, teuer zu stehen gekommen. Später noch und noch vernehmlicher hat in diesem Sinne die Wahl des Reichspräsidenten am 26. April 1925 gesprochen, wo fast die Hälfte aller gültigen Stimmen auf einen greisen General entfiel, dessen Kandidatur nichts anderes bedeutete als die Verneinung der Republik [8] und der Weimarischen Verfassung (wie wenig auch die Hoffnungen sich erfüllt haben, die daran geknüpft wurden). Andere mögen anders urteilen. Ich halte die bedeutete Entwicklung der Abstimmungen für einen Beweis dafür, dass die republikanischen Parteien versäumt haben, den tatsächlich vorhandenen und sehr starken patriotischen Gefühlen Genüge zu tun, die trotz allem und allem auch heute noch einen sehr grossen Teil des deutschen

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„… mit jenem Vorkriegsstaate“: Vgl. o. V.: 1928: 1. war[.]: Korrekt wohl: waren. zusammengeschmolzen war[.]: Korrekt: waren. einen greisen General: D. i. Paul von Hindenburg.

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Volkes mit der ehemaligen monarchischen Verfassung verbinden, auch wenn man deren Wiederherstellung für aussichtslos hält und sie vielleicht nicht einmal wünscht. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, liegt offen zu Tage.

[Hobbes’ Religionsphilosophie] [Das Manuskriptfragment]

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Die Gedanken des Hobbes über die Religion insonderheit über die christliche Religion und die christlichen Kirchen verstehen sich zum grössten Teile im Zusammenhange mit seiner Staatslehre die bekanntlich in drei Hauptfassungen vorliegt. Ich werde hier ihre Grundzüge darstellen und versuchen die Entwickelung dieser Gedanken zu finden. In den Elements of Law will der zweite Teil die Menschen als politische Körper betrachten und zerfällt in drei Hauptabschnitte: 1.) Erzeugung und Arten von Regierung 2.) die Übel der verschiedenen Staatsformen, verglichen 3) Beweis dass die Entscheidung über religiöse Streitfragen von der souveränen Gewalt abhängt. Die Ausführung nennt es eine Schwierigkeit die der unbedingten Unterwerfung des Menschen anhänge, dass er auch dem allmächtigen Gott schlechthin unterworfen sei, diese Schwierigkeit gäbe es freilich nur unter solchen Christen, die da leugnen,

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[Hobbes’ Religionsphilosophie]: Textnachweis: TN, Cb 54.43:74. – Unter dieser Signatur befinden sich zwei Fragmente im Nachlass: 1. Ein Manuskript, das Tönnies Ernst Jurkat diktiert hat (Format 4°, Bl. 1−68, mit eigenh. Korrekturen von Tönnies) mit fehlenden Schlussseiten und 2. ein Typoskript in 4° (originale Paginierung: drittes Blatt; viertes Blatt; danach Seiten 8−11 und 14−36). Die Texte entstanden 1929 als Vortrag zur Hobbes-Feier in Oxford. – Näheres zu den beiden Vorlagen und ihrer Zusammenfügung s. Editorischen Bericht S. 640f. Der Manuskript-Text unterliegt einer Gliederung, deren Systematik durch Zahlen und andere Zeichen gekennzeichnet ist. An einigen Stellen sind diese Gliederungsmerkmale beim Diktat aber vergessen worden. Die vollständige Gliederung lässt sich wie folgt darstellen: I.: Elements of Law II.: De Cive A: De Cive, Kapitel XV (1); (2); (3, a-c); (4); (5); (6); (7); (8); (9, 1−3); (10, 1−3); (11); (12); (13); (14, 1, 2); (15, a-g); (16); (17); (18) B: De Cive, Kapitel XVI C: De Cive, Kapitel XVII (1, 1−3); (2); (3); (4); (5, a-c); (6, 1, 2) III.: Leviathan Gedanken zu finden: Anschließend fehlende Überschrift „I“.

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dass die Auslegung der [2] Schrift von der souveränen Autorität des Gemeinwesens abhänge. Menschliche Gesetze, macht Hobbes zunächst geltend, seien nicht bestimmt die Gewissen sondern nur die Worte und Handlungen der Menschen zu regieren, es müsse aber unterschieden werden zwischen der Lage eines christlichen Untertanen unter einem christlichen Souverain oder unter einem Ungläubigen. Unter einem christlichen komme es darauf an, welcher Glaube für das Heil der Seele notwendig sei und da sei wieder zu unterscheiden zwischen den fundamentalen Stücken und dem Überbau. Und unstreitig sei nun das notwendigste Stück der Glaube, dass Jesus der Messias, d. h. der Christ sei. Dies und alles was dazu gehöre, sei fundamental. Es werden viele Bibelstellen angeführt zu beweisen, dass nur allein dieser Artikel notwendig sei zum Heil. Freilich gäbe es anderes, was als Gegenstand des Gehorsams wichtig bleibe, nämlich die Gesetze des Himmelreiches. [3] Diese aber seien identisch mit den Gesetzen der Natur und wer diese beobachte, heisse rechtschaffen. So sei also auch Rechtschaffenheit – Gerechtigkeit – notwendig zum Heil. So sei die Lehre des Paulus, dass nur der Glaube rechtfertige und die des Jakobus, dass der Mensch nicht durch Glauben allein gerechtfertigt werde zu vereinen. Hieraus wird gefolgert, dass in einem christlichen Gemeinwesen es keine Gefahr gebe wegen schlichten Gehorsams gegen menschliche Gesetze verdammt zu werden. Denn wenn der Souverän das Christentum zulasse so werde niemand gezwungen, dem Glauben zu entsagen, der für sein Heil notwendig sei. In bezug auf die anderen Stücke bedeute der Gehorsam nicht nur, dass man tue was man dürfe sondern auch was man solle, gemäss dem Naturgesetz d. h. dem Sittengesetz wie es der Heiland selber gelehrt habe. – Es sei freilich wahr, was der Mensch [4] gegen sein Gewissen tue, ist Sünde, aber wer den Gesetzen gehorche, folge immer seinem Gewissen, wenn auch nicht seinem privaten, was man dem entgegentue sei nur dann Sünde, wenn das Gesetz Freiheit gelassen hat des Tuns oder Unterlassens. Tatsächlich unterwerfen auch alle, die es in Worten leugnen, sich in Meinungssachen einer menschlichen Autorität, sei es der des Papstes oder eines allg. Concils oder eines Provinzialconcils oder eines Presbyteriums; wenn einer nur der Schrift sich unterwerfen wolle, bedürfe ja die Schrift der Auslegung und eben dafür gebe es ja das Kirchenregiment. „Aber die Wahrheit liegt durch beständige Erfahrung klar zutage, dass die Menschen nicht Gewissensfreiheit allein sondern Handlungsfreiheit erstreben und auch diese Freiheit nicht allein sondern die fernere Freiheit andere zu den eigenen Meinungen zu überreden; ja über[5]dies wünscht jeder, dass die souveräne Autorität nur die Behauptung solcher Meinungen zulasse die er

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selber vertrete.“ Der Schluss wird gezogen, es gebe in einem christlichen Gemeinwesen keine Schwierigkeit Gott und den Menschen zugleich zu gehorchen. Anders sei es, wenn man eines Ungläubigen Untertan geworden sei: wer lieber den Tod erleide, als gehorche, dessen Ungehorsam sei gerechtfertigt, und wenn es schon niemand zugemutet werden könne, zu gehorchen wo der Gehorsam ihm den zeitlichen Tod bringe, viel weniger, wenn er in seinem Herzen glaube darum ewig verdammt zu werden. – Im folgenden Kapitel will der Verfasser mit einem grossen Aufwande von theologischen und rationalen Argumenten erhärten, dass in keinem Falle die souveraine Gewalt eines Gemeinwesens [6] irgendwelcher kirchlichen Autorität unterworfen sein könne ausser derjenigen Christi selber. Auch wenn man sich den Überzeugungen von Kirchenleuten unterwerfe in bezug auf das Himmelreich so sei man darum noch lange nicht ihrer Regierung und Herrschaft unterworfen. Da nun einmal heute Gott zu niemandem spreche durch private Auslegung der Schrift auch nicht durch die Auslegung irgendwelcher Macht, die der souveränen Gewalt eines jeden Gemeinwesens überlegen sei oder nicht von ihr abhänge, so bleibe nur übrig, dass ausschliesslich durch seine Vertreter oder Statthalter hier auf Erden, also durch Könige oder andere Personen mit souveräner Autorität diese Auslegung geschehe. –

II.

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Das Hauptmerkmal, wodurch die Schrift De Cive von [7] den entsprechenden Kapiteln der E. o. L. sich unterscheidet ist der weit grössere Umfang, den hier der Abschnitt über Religion gewonnen hat, wie dies schon durch die Zahl der Kapitel nämlich die doppelte (4 anstatt 2) sich verrät und durch die Überschriften dieser Kapitel, nämlich: Kap. 15: das natürliche Reich Gottes, Kap. 16: das Reich Gottes nach dem alten Bunde, Kap. 17: das Reich Gottes nach dem neuen Bunde, Kap. 18: über das was notwendig ist zum Eintritt in das Himmelreich. Es kommt also hier an letzter Stelle erst, was in den Elements zugrundegelegt und ausführlich begründet wurde. Der ganze Abschnitt über Religion ist hier in den beiden ersten Abschnitten, die als Freiheit und Herrschaft unterschieden werden, beigeordnet. Die [8] Argumentation geht folgenden Weg: 1 23 33

„… die er selber vertrete“: Vgl. Hobbes 1926: 180 (VI, 13). E. o. L.: Elements of Law (Hobbes 1889b). geht folgenden Weg: Hiernach wäre gemäß Gliederung zu ergänzen: A.

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Nachdem hier gelehrt worden ist, dass man als Untertan schlechtweg gehorchen muss in allem was Gottes Geboten nicht widerstreitet, kommt es nun darauf an zu wissen, welches sind Gottes Gebote. Nur dadurch könne man seinen Weg finden zwischen zwei Klippen der einen, dass man dem Staate allzu gehorsam sei und dadurch die göttliche Majestät verletze; der anderen, dass man aus Furcht gegen Gott zu sündigen, dem Staate ungehorsam werde. 2.) Nur die können für Angehörige des Reiches Gottes angesehen werden, die da anerkennen, dass er der Lenker aller Dinge ist, dass er den Menschen Vorschriften gegeben und Strafen gegen deren Verletzung festgesetzt hat. [9] 3.) Ein Gesetz muss um zu gelten deutlich verkündet werden. Die Gesetze Gottes seien auf dreifache Art verkündet: a). durch die stillschweigenden Gebote der richtigen Vernunft b). durch eine unmittelbare Offenbarung, d. h. durch eine übernatürliche Stimme oder durch eine Vision oder einen Traum, oder eine Inspiration – einen göttlichen Anhauch c). durch die Stimme eines Menschen, den Gott durch wahre Mirakel als glaubwürdig empfohlen hat, d. h. einen Propheten. Diese drei können das dreifache Wort Gottes genannt werden, nämlich das rationale, das wahrnehmbare und das prophetische Wort. Diesen entsprechen die drei Arten, wodurch man sagt, dass wir Gott vernehmen: richtiges Denken, sinnliche Wahrnehmung und Glaube. Gods sensible word [10] has come but to few; neither has God spoken to men by revelation except particularly to some and to diverse diversly; neither have any laws of his Kingdom been published on this manner also to any people. 4) Gemäss dem Unterschiede des rationalen und des prophetischen Wortes wird ein zwiefaches Reich ihm zugeschrieben das natürliche, worin er durch die Gebote der richtigen Vernunft regiert und weil das vernünftige Wesen allen gemein ist, so ist dies eine universale Herrschaft über alle die die göttliche Macht anerkennen. Hingegen das prophetische Reich ist ein specielles, weil Gott nur einem bestimmten Volke und gewissen von ihm auserlesenen Menschen Gesetze gegeben hat. 5.) In seinem natürlichen Reiche beruht das Recht zu herrschen und die zu bestrafen, die [11] seine Gesetze übertreten ausschliesslich auf seiner unwiderstehlichen Macht. Denn alles Recht über andere kömmt entweder 27

people: Vgl. Hobbes 1839: 206 (vol. II, chap. XV, 3).

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von Natur oder von einem Vertrag her und wie im Naturzustande ein Übermächtiger nicht nötig hätte sich mit den anderen zu vertragen, so könne eben auch Gott als ein Mächtiger den Sünder strafen und auch wenn einer nicht gesündigt hat, ihn heimsuchen oder auch töten. 6.) So erledige sich die Frage als müssig, wenngleich sie selbst heilige Männer im Glauben wankend gemacht habe, warum Gott den Guten Böses und den Bösen Gutes zuteil werden lasse. 7.) Folglich rühre die Pflicht des Menschen, Gott zu gehorchen, von der Schwäche des Menschen her. Wer das nicht anerkennen wolle, solle nur fragen: wenn es zwei [12] allmächtige Wesen gäbe, wer von beiden dann dem anderen zu gehorchen habe? Doch wohl keiner von beiden. 8. Das natürliche Wort Gottes könne nur bestehen in natürlichen Gesetzen, also in den moralischen Gesetzen, die aus den Geboten der Vernunft abgeleitet wurden, weil sie zum Frieden führen. Es bleibe nur zu prüfen, welche Ehren die natürliche Vernunft Gott zu erweisen gebiete. 9) Ehre ist die Meinung von fremder Macht, die mit Güte verbunden sei. Jemanden ehren heisst, ihn hochschätzen, also ist die Ehre nicht im Geehrten, sondern im Ehrenden, nämlich in seiner Meinung. Aus dieser Meinung entspringen drei Affekte: 1, die Liebe, die sich auf die Güte, 2, Hoffnung und 3, Furcht, die sich auf die Macht beziehen. Aus diesen Affekten gehen äussere Handlungen hervor wo[13]durch die Mächtigen versöhnt und geneigt gemacht zu werden pflegen: solche Handlungen sind die Wirkungen und eben darum die natürlichen Zeichen der Ehre. Infolge davon wird Ehre oft in gleichem Sinne gebraucht wie Verehrung oder Kultus. 10.) Aller Kultus besteht in Worten oder Handlungen. Von beiden gibt es drei Arten 1.) Lob oder öffentliche Erklärung der Güte, 2.) öffentliche Erklärung gegenwärtiger Macht d. i. Verherrlichung 3. öffentliche Erklärung von Glück oder der auch für die Zukunft sicheren Macht d. i. glücklich preisen. „But we then praise and celebrate in words when we do ist by way of proposition or dogmatically that ist to say by attributes or titles; which may be termed praising and celebrating categorically and planely as when we declare him to be honour to be liberal, strong, wise. And then in deeds when it is done by consequence or by [14] hypothesis or supposition as by thanks giving 35

to be honour: Vgl. ebd.: 211: whom we honour. – Das folgende Zitat ebd.

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which supposes goodness; or by obedience which supposes power; or by congratulation which supposes happiness. 11) Es gibt Worte sowohl als Handlungen, die bei allen Menschen Ehrung bedeuten. Andere die bei einigen Ehre bei anderen Schmähung oder keins von beidem bedeuten. Je nachdem man sie auffasst „as that a man slew his enemy that he fled that he is a philosopher or an orator and so like; which with some are had in honour with others in contempt. Ebenso haben Handlungen verschiedene Geltung je nach Sitte oder Gesetzen. 12.) So kann aller Kultus geboten sein oder freiwillig. Im ersten Falle bedeutet der Kultus unmittelbar nichts als Gehorsam. Freiwilliger Kultus ist nur durch die Natur der Handlungen ehrenvoll, bedeuten sie für die Zuschauer Ehre [15] so sind sie Kultus, wenn nicht Beleidigung. Ferner kann Kultus öffentlich oder privat sein. Öffentlicher Kultus kann nicht gleichzeitig freiwillig sein für den einzelnen, wohl vom Staat aus. Sonst wäre es nicht ein Kultus, sondern viele. Privater Kultus kann nur freiwillig sein, sofern er insgeheim geschieht. For what is done openly is restrained either by laws or trough modesty which is contrary to the nature of voluntary action. 13.) Warum erfreuen sich die Menschen am Kultus? d. h. am Empfangen von Zeichen der Ehre? Freude besteht überhaupt darin, dass jemand Tugend, Kraft, Wissen Schönheit, Freunde, Reichtum oder irgendwelche Macht als die seine oder als ob sie die seine wäre, anschaut und ist also nicht wesentlich verschieden vom Stolz oder von dem inneren Triumphe dessen, der meint, dass [16] er geehrt, d. h. geliebt und gefürchtet wird, und daher Dienste und Hilfe seiner Mitmenschen zur Verfügung habe. „Now, because men believe him to be powerful whom they see to be honoured that ist to say esteemed powerful by others. It falls out, that honour is increased by worship; and by the opinion of power true power is aquired. His end therefore who either commands or suffers himself to be worshipped is that by this means he may aquire as many as he can, either through love or fear, to be obedient unto him. [14.] Es folgt nun die Anwendung dieser allgemeinen Sätze auf die Gottesverehrung. Offenbar sei es dass man Gott um ihn zu ehren gewisse

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with others in contempt: Vgl. ebd.: 213; die vier folgenden Zitate ebd. [14.]: Gliederungsziffer fehlt im Original.

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Eigenschaften zuschreiben muss: nämlich 1.) und vor allem muss ihm die Existenz zugeschrieben [17] in der englischen Fassung heisst es eingeräumt (allowed) werden; for there can be no will to honour him who we think has no beeing. 2) daher sprachen Philosophen die behaupteten, dass Gott die Weltseele sei, that is to say a part of it, unwürdig von Gott. Denn unter Gott verstehen wir Ursache der Welt „but in saying that the world is God they say that it has no cause that is as much as there is no God. Ebenso seien die zu verwerfen die da die Ewigkeit der Welt behaupten nicht minder die ihm Musse zuschreiben und ihm das Regiment über die Welt und über das Menschengeschlecht abstreiten. Selbst wenn sie ihn für allmächtig halten aber doch meinen, dass er sich um die Kleinigkeiten nicht kümmere so werde das abgedroschene Wort bei ihnen gelten quod supra nos nihil ad nos, sie werden also keinen Grund finden, ihn zu lieben oder zu fürchten, d. h. sich so verhalten, als [18] ob er nicht existiere. – Ferner: wenn wir Gott Grösse und Macht zuschreiben so dürfen wir Grösse und Macht nicht irgendwie begrenzen. Es wird ihm also keine Gestalt zugeschrieben werden, denn jede Gestalt ist begrenzt und man darf nicht sagen, dass man ihn mit irgendeiner Fähigkeit unserer Seele begreife oder auffasse denn alles was wir begreifen, ist begrenzt. Und obgleich das Wort ‚unendlich‘ einen Begriff bedeutet, so folgt doch nicht dass wir einen Begriff haben von einem unendlichen Dinge: denn wenn wir sagen, dass etwas unendlich ist, so bezeichnen wir nicht etwas in dem Dinge sondern eine Ohnmacht in unserem Geiste. Auch sprechen die nicht ehrenvoll – im Englischen heisst es honourably enough, – von Gott, die da sagen: wir haben eine [19] Idee von ihm in unserem Geiste, denn eine Idee ist unser Begriff, wir haben aber keinen Begriff ausser von einem begrenzten Dinge. Ausführlich erörtert nun Hobbes alles andere was man Gott nicht zuschreiben dürfe ohne der ihm gebührenden Ehre Abtrag zu tun, wenn man ihm einen Willen zuschreibe, so sei darunter jedenfalls nicht etwas zu verstehen, was unserem Willen ähnlich sei. „But we must suppose some resemblance which we cannot conceive.“ Ebenso wenn man ihm Wahrnehmung, Wissen oder Verstand zuschreibe. Alles das wäre immer das Zeichen von einer Macht, die von etwas anderem abhänge. Wenn man also Gott keine anderen Namen

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there is no God: Vgl. ebd.: 214 quod supra nos nihil ad nos: Vgl. ebd.; [lat.] svw. Was über uns ist, ist nicht für uns. we cannot conceive: Vgl. ebd.: 215.

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beilegen will als solche die von der Vernunft vorgeschrieben werden so muss man ihm entweder negative oder [20] superlative (z. B. der grösste, der beste) oder endlich unbestimmte Namen geben z. B. gut, gerecht, stark, Schöpfer, König und dgl. „in such sense as not desiring to declare what he is (which were to circumscribe him within the narrow limits of our phantasy; but to confess his own admiration and obedience which is the property of humanity and of a mind yielding all the honour it possibly can do. For reason dictates one name alone which does signify the nature of God that is existing or simply that he is; and one in order to and in relation to us, namely God under which is contained both King and Lord and Father. 15. Das Argument geht nunmehr über auf die äusseren Handlungen, mit denen Gott zu ehren sei. Da ist die allgemeinste Vorschrift der Vernunft, dass es Zeichen eines ehrenden Gemütes sein müssen und als solche werden nun [21] an einander gereiht a) Bitten: sind die Zeichen von Hoffnung, Hoffnung aber ist eine Anerkennung der göttlichen Macht und Güte. b.) Danksagungen; sie unterscheiden sich von den Bitten nur dadurch dass die Wohltat der Bitte folge, dem Dank vorausgeht. c.) Geschenke, Darbietungen und Opfer, als Zeichen der Dankbarkeit. d.) Bei keinem anderen zu schwören, denn es ist der Eid eine Herbeirufung des Zornes gegen den Schwörenden, dessen der es wohl wissen kann ob er gelogen hat oder nicht und ihn, wenn er noch so mächtig sei, strafen kann, das aber kann nur Gott. „For if there were any man from whom his subjects malice could not lie hid, and whom no human power could resist, phligeted faith would suffice without swearing; which broken might be punished by that [22] man. And for this very reason there would be no need for an oath.“ e) Vorsichtig über Gott zu reden, denn es ist ein Zeichen der Furcht, die Furcht Eingeständnis der Macht. Also nicht Gottes Namen unnütz brauchen, nicht schwören, wo es nicht nötig ist, nicht disputieren über das Wesen Gottes. Es fehlt sehr viel daran, dass wir nach Prinzipien natürlicher Wissenschaft etwas von Gott wissen, können wir doch nicht einmal die Eigenschaften unseres Körpers oder irgend eines Geschöpfes hinlänglich verstehen. Unbesonnen und dreist sei auch die Rede derer, die da sagen, dies oder jenes könne mit der göttlichen Gerechtigkeit nicht [23] bestehen. 11 27

King and Lord and Father: Vgl. ebd.: 216. „… no need for an oath.“: Vgl. ebd.: 217.

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f.) Alles was in Gebet, Danksagung, Opfern geleistet wird, muss in seiner Art das beste sein und Ehre bedeuten. g.) Gott muss nicht nur insgeheim, sondern offen und öffentlich vor den Menschen geehrt werden. Wenn andere es nicht sehen geht das was am meisten gefällig ist an unserem Kultus, verloren. Endlich gebietet die Vernunft, dass die Naturgesetze so sehr als möglich beobachtet werden müssen. Wohlgefälliger als alle Opfer ist der Gehorsam. Den Staaten aber, von denen jeder eine Person ist, gebietet überdies die natürliche Vernunft Gleichförmigkeit des öffentlichen Kultus. 16.) Das Argument kommt hier zurück auf die natürlichen Zeichen und unterscheidet hier zwischen natürlichen und durch [24] Vertrag gesetzten oder sonst gebotenen Zeichen. Daraus ist abgeleitet, dass durch Gesetz bestimmt werden könne welche Benennungen für Gott Ehre bedeuten, welche nicht, d. h. welche Lehren über Gottes Wesen und Tätigkeiten öffentlich-rechtlich zu halten oder zu verkünden sind. Die Bedeutung von Handlungen ist an sich nicht durch menschliche Satzung sondern durch die Natur bestimmt, einige sind natürliche Zeichen von Ehre, andere von Kränkung. Daran kann der Staat nichts ändern. Es gibt aber unzählige andere, die der Natur nach gleichgültig, und so muss man dem Staatsgesetz gehorchen in allem was es als Kultus einrichten mag. 17.) Aus den Grundsätzen der Staatslehre folgt, dass die Bürger das Recht über die Art der Gottesverehrung zu beschliessen auf den oder die Inhaber der souveränen Gewalt nicht nur übertragen können sondern müssen. „For else all manner of absurd opinions concerning the nature of God, and [25] all ridiculous ceremonies which habe been used by any nations will be seen at once in the same city. Whence it will fall out that every man will believe that all he rest do offer God an affront so that it cannot be truly said of any, that he worships God; for no man worship God that is to say honours him outwardly but he who does those things whereby he appears to others to honour him. 18) Wenn also auch in Sachen des Gottesdienstes die Gesetze massgebend sind, wie wenn ein Gesetz direkt gebietet, Gott zu beleidigen oder verbietet ihn zu ehren ? Darauf sei zu antworten, es folge nicht dass einem solchen Gesetz gehorcht werden muss, denn im Naturzustande hatte, von allen die überhaupt anerkannten, dass Gott herrsche, nie-

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to honour him: Vgl. ebd.: 222.

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mand das Recht ihm die darum schuldige Ehre zu verweigern. Folglich konnte ein solches Recht auch nicht auf den Staat übertragen werden. Wenn aber der Staat etwas zu sagen und zu tun gebietet was zwar nicht direkt eine Beleidi[26]gung Gottes enthält aber woraus beleidigende Folgerungen in Gedanken abgeleitet werden können, wenn z. B. befohlen würde Gott unter einem Bilde zu ehren in Gegenwart von solchen, die dies wirklich für eine Ehrenbezeugung halten ? Da muss das allerdings geschehen! – Dieser kühne Satz hat offenbar schon bei denen Anstoss erregt die zuerst die Schrift De Cive kennen lernten, wie daraus hervorgeht dass der Verfasser in einem Zusatz der zweiten Ausgabe ihn verteidigt. Er macht geltend, es bedeute allerdings Gott Grenzen setzen, wenn man ihn im Bilde darstelle, aber dafür seien nicht verantwortlich diejenigen die gezwungen solchen Kultus mitmachen, sondern die ihn gebieten. Ferner erinnert er hier an seine Voraussetzung in diesem ganzen Kapitel, dass weder ein alter noch ein neuer Bund zugrundeliege [27] sondern nur die Regeln der blossen Vernunft in Sachen der natürlichen Gottesverehrung. Er schliesst das Kapitel mit der Rekapitulation dieser Regeln. Die beiden folgenden Kapitel sollen also 1) das Reich Gottes nach dem alten Bunde 2.) dasselbe nach dem neuen Bunde betrachten. B, Das 16. Kapitel gibt einen Abriss der jüdischen Geschichte die in orthodoxem Stile darauf beruht dass Gott die wahre Religion durch Abraham eingesetzt habe. Interessant ist hier die Erwägung dass Furcht vor dem Unsichtbaren wenn getrennt von richtiger Vernunft Aberglaube sei, daher sei es ohne spezielle göttliche Hilfe so gut wie unmöglich beiden Klippen zu entgehen, dem Atheismus und dem Aberglauben – vielleicht eine Reminiszens aus Bako von Verulam „For this [28] (superstition) proceeds from fear withour right reason; that (atheism) from an opinion of right reason without fear. Es folgen dann lange Ausführungen über den „Bund“ der schon die Herrschaft Gottes über Adam und Eva begründet habe aber noch nicht das Reich Gottes. In dem Bunde mit Abraham liege der wahre Anfang, denn Abrahams Gott bedeute nicht Gott schlechthin sondern den Gott, der ihm erschienen war, wie er glaubte, so dass der Kultus, den er in solchem Begriff Gott schuldete nicht der Kultus der Vernunft, sondern der Religion und des Glaubens war und ein solcher, 21

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B,: Beginn der Erörterung von Kapitel XVI. von „De Cive“, gemäß Gliederung. Vorhergehendes „A.“ fehlt. „… reason without fear: Vgl. Hobbes 1839: 227. Abführungszeichen fehlt im Original.

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den nicht die Vernunft, sondern Gott auf übernatürliche Weise offenbart. So wurde der Bund Abrahams und Isaaks erneuert durch Moses mit dem ganzen [29] jüdischen Volk. Daher stammt nun eine wirkliche Herrschaft Gottes, eine Theokratie. Gott gab also den Juden eine Reihe von Gesetzen an ihrer Spitze den Dekalog. Das wirkliche Wort Gottes ist nicht alles, was Prediger oder Propheten dafür ausgeben, man muss also erst wissen, wer der wahre Prophet ist, dem wir dann zuerst glauben müssen. Die Macht das Wort Gottes auszulegen hatte zusammen mit der bürgerlichen Gewalt Moses, solange er lebte und zu Josuas Zeit der Hohe Priester, der auch der Souverain war. Das blieb so bis zur Zeit des Saul, von da an hatte der König ohne Zweifel die bürgerliche Autorität und weil es kein anderes anerkanntes und geschriebenes Wort Gottes ausser dem mosaischen Gesetz vor der [30] Gefangenschaft gab, so gehörte auch die Autorität [..], Gottes Wort auszulegen, ja selbst wenn das der Fall gewesen wäre, hätte der König doch solche in Anspruch genommen. Denn er setzte Priester ein und ab, und offenbar blieb das Priestertum auch seit König Saul bis zur babylonischen Gefangenschaft nicht ein Meistertum, sondern ein Dienst – non magisterium, sed ministerium Dies ist dasselbe was Hobbes schon in einem Briefe vom 2. August 1641 an den Earl of Devonshire geschrieben hatte: „I am of the opinion that ministers ought to minister rather than govern at least that all church government depend on the state and authority of th Kingdom without which there can be no unity in the church“. Der Lord möge das [31] vielleicht für eine blosse philosophische Phantasie halten. Er berufe sich aber auf die Erfahrung, dass der Rangstreit zwischen geistlicher und civiler Gewalt neuerdings in allen christlichen Ländern mehr als irgend etwas anderes die Ursache von Bürgerkriegen gewesen sei. – Der Autor fährt in seiner historischen Diathribe fort: Es sei nach dem Exil das priesterliche Reich wieder hergestellt worden und unter jeder Regierung sei eben die Gehorsamspflicht unbedingt gewesen, ausser wenn eine Beleidigung der göttlichen Majestät vorlag, die es aber bei den Juden nur gegeben habe als Leugnung der göttlichen Vorsehung und als Götzendienst.

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so gehörte auch die Autorität [..]: Korrekt wohl: so gehörte dazu auch die Autorität, Gottes Wort auszulegen, ja selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre, … „… church“: Vgl. Tönnies 1904 / 1906: 302 f. Diathribe: Korrekt Diatribe [gr.: diatribe] svw. Streitschrift, Zeitvertreib. und als Götzendienst: Danach wäre „C.“ (“De Cive“, XVII. Kapitel) als Gliederungsmerkmal zu ergänzen.

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Im nächsten Kap. schliesst dann [32] ein Abriss über die Stiftung des Neuen Bundes sich an der vor allem beweisen will dass das Reich Gottes zu dessen Wiederherstellung Christus von Gott Vater geschickt worden sei, seinen Anfang erst von der Wiederkunft des Herrn nämlich vom jüngsten Gericht nehme. Sein diesseitiges Reich sei nicht als eine Herrschaft sondern als ein Regiment vermöge Lehre und Überzeugung zu verstehen. Darum nenne er die Apostel nicht Jäger sondern Fischer der Menschen, darum vergleiche er auch das Reich Gottes mit einem Senfkorn, mit einem Gährungsstoff, der im Mehl verborgen sei. Wie die Beschneidung für den alten Bund so sei die Taufe ein Zeichen des neuen Bundes aber nicht mehr als ein Zeichen und ein Merkmal. Gesetze die Christus gegeben habe seien im [33] ganzen keine anderen als jene an die alle Sterblichen gebunden seien, die den Gott Abrahams anerkennen, abgesehen von Einrichtungen der Sakramente wie Taufe und der Eucharistie. Was sonst Christus gesprochen habe als Berufungen zum Glauben, seien keine Gesetze. Es kann also nichts daraus abgeleitet werden in bezug auf das staatliche Regiment –, geboten seien nur die Gesetze der Natur oder der Vernunft mit Einschluss also des bürgerlichen Gehorsams. Die Wissenschaft und Technik müsse weil Christus darüber nichts überliefert hat, durch Denken d. h. auf Grundlage der Erfahrung durch ein Gewebe von Schlussfolgerungen erkannt werden. Freilich gebe es Irrtümer und Streitigkeiten [34] aus denen Gefahren für das öffentl. Wohl und den gemeinen Frieden erwachsen. Über die Entscheidung solcher Streitigkeiten sind keine Regeln von Christus gegeben worden, denn er ist nicht in diese Welt gekommen, um Logik zu lehren. Es muss also Richter darüber geben, die Gott durch die Natur schon früher eingerichtet hat. Wenn eine Streitigkeit über den Sinn eines Wortes vorliege und das Recht einer Benennung z. B. ob eine Leibesfrucht von ungewöhnlicher Beschaffenheit ein Mensch zu nennen sei, so können nur das Gesetz und die Staatsgewalt entscheiden. Freilich gehört es zu Christi Obliegenheiten Moral zu lehren, Sünden zu vergeben und göttliche Gebote mitzuteilen in bezug auf den Kultus und in bezug auf Glaubensar[35]tikel, die durch natürliche Vernunft nicht gewusst werden können. – Auf diesen Grundlagen unternimmt nun der Philosoph eine Reihe von vieldiskutierten Problemen der Theologie, des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik zu lösen: 1.) Die Unterscheidung von geistlichen und zeitlichen Angelegenheiten (spiritualia und temporalia). Alles was unter eine rationale Wissenschaft falle, müsse zeitlichen Rechtes sein hingegen was nur von Christi Wort, und Autorität abhänge also die Mysterien des Glaubens, darüber zu richten ist geistlichen Rechtes – aber zu definieren, was geistlich, was zeitlich

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sei, sei ein Problem der Vernunft, da der Heiland diese Unterscheidung nicht tradiert habe und gehöre zum zeitlichen Rechte. Paulus unterscheide freilich in vielen Stellen spiritualia und carnalia. [36] Er hat aber nicht definiert und keine Regeln gegeben, nach denen man wissen könne, was von natürlicher Vernunft, was von übernatürlicher Eingebung ausgehe. Nun sei es zweifellos dass der Heiland die Autorität der Entscheidung über Temporalia den höchsten Gewalten der Staaten nicht habe nehmen wollen. Wem aber hat er eine gleiche Autorität in bezug auf die Spiritualia übergeben? Das kann nur erkannt werden aus dem Worte Gottes und der Tradition der Kirche. Es stellen sich also mehrere neue Fragen, nämlich: Was ist das Wort Gottes? Antwort: 1) Im eigentlichsten Sinne was Gott gesprochen hat z. B. zu Abraham und Moses; oder der Heiland zu seinen Jüngern und anderen. 2) Was von Menschen [37] auf Geheiss oder Antrieb des Heiligen Geistes gesagt worden ist: in diesem Sinne anerkennen wir, dass die heiligen Schriften Gottes Wort sind. 3) Im Neuen Testament bedeutet das Wort Gottes sehr häufig: das Wort von Gott oder das Wort vom Reiche Gottes durch Christum. Das dritte ist, was heute von den Lehrstühlen gelehrt wird und in den Büchern der Theologen enthalten ist. – Die Heilige Schrift, die das Wort Gottes im zweiten Sinne ist, enthält vieles Politische, Historische, was nicht Regel sein kann der Mysterien der christl. Religion, auch kann nicht der Buchstabe und das Wort sondern nur der wahre und echte Sinn des Wortes Gottes die Regel der christlichen Lehre enthalten. Es bedarf also eines Auslegers. Daraus folgt: entweder [38] das Wort des Auslegers ist das Wort Gottes oder die Regel der Christenlehre ist nicht Wort Gottes. Das zweite kann nicht richtig sein, denn eine Lehre die nur durch göttliche Offenbarung gewusst werden kann, kann nur als göttliche Regel sein. Mithin muss das Wort des Auslegers Gottes Wort sein. Nun gehört zur Auslegung der Schrift mehr als die Kenntnis der Sprache, auch genügt es nicht dass einer Kommentare verfasst hat, denn sie können irrtümlich sein. Und die Kommentare bedürfen der Erklärung, die Erklärung später wieder [..] Darstellung, diese Darstellung neuer Kommentare ohne Ende. Es muss also jemand um massgebender kanonischer Interpret zu sein, das gesetzliche Amt

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Wort Gottes: Am Rande eigenh. Anmerkung von Tönnies: pag. 9 ff. siehe auch: S. 29 ff. später wieder [..]: Zu ergänzen hier: der.

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haben, Streitigkeiten über [39] das Wort Gottes durch Entscheidung zu beenden, also oberster Richter der Lehren sein. Dies führt 2.) auf den Begriff der Kirche und auf den verschiedenen Sinn dieses Wortes. Es bedeutet eine Versammlung, wird aber oft verstanden als ob es die Gesamtheit aller Getauften, hingegen aber auch, als ob es die Erwählten nur bedeuten sollte, nur als Versammlung kann aber die Kirche reden, hören, beschliessen. Eine unbestimmte Menge von Menschen, die nicht wo es nötig ist, in einer Versammlung sich vereinen kann, wäre keine Person und sollte nicht so heissen. Beschlussfähig kann eine Versammlung nur dadurch sein, dass jeder Teilnehmer durch den Beschluss der Mehrheit verpflichtet wird. Darum muss eine Kirche sich nicht nur ver[40]sammeln sondern auch von rechtswegen sich versammeln können und wenn die Teilnehmer von rechts wegen zusammenberufen werden aber von rechts wegen unterlassen können, dem Rufe zu folgen so ist eine Kirche als Person nicht vorhanden, denn wenn etwa einige hier, einige dort sich versammeln und jede Versammlung Eine Kirche sein will, so wird es so viel Kirchen geben als verschiedene Meinungen. Mithin ist Eine Kirche nur möglich, wenn durch eine sichere und bekannte d. h. rechtmässige Macht die Einzelnen, sei es persönlich, oder durch Einen Vertreter verpflichtet werden, in der Versammlung zugegen zu sein. Durch diese Einheit rechtmässiger Gewalt, die Synoden und Versammlungen der Christen zu berufen nicht durch die Gleichförmigkeit der Doktrin [41] wird sie eine Einheit und als Person zu fungieren fähig. Aus diesen Erkenntnissen folge nun dass ein Staat von Christen und eine Kirche von Christen ganz und gar dieselbe Sache ist die aus zwei Gründen, zwei verschiedene Namen hat. Es folgt ferner, dass mehrere christliche Staaten zusammen nicht eine Kirche bilden können, denn Personen, Ort und Zeit von Versammlungen zu bestimmen, ist Sache des bürgerlichen Rechtes: die Erlaubnis des Staates gehört dazu, dass auch nur jemand seinen Fuss an einen bestimmten Ort setze, und nur die Autorität des Staates macht es rechtmässig. Der Denker erhebt hier den Einwand gegen sich selber, dass es wohl die allgemeine Kirche [42] gebe, einen mystischen Körper, dessen Haupt Christus ist; aber nicht anders als wie alle Menschen, die den Weltenlenker anerkennen ein Reich und ein Staat sind – dieser ist aber weder eine Person, noch hat er eine gemeinsame Handlung oder einen gemeinsamen Willen. Es gab einst eine römische Kirche: innerhalb des Römischen Reiches. Sie war niemals allgemein, so

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einen gemeinsamen Willen: Sinn unklar; wohl: Eben sowenig wie alle Menschen, die den

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wenig wie der römische Staat, der auch in seiner grössten Ausdehnung nicht den 20. Teil der bewohnten Erde umfasste. Das Reich ist zerfallen und es gibt so viele Kirchen als es Staaten gibt. Die Macht der Römischen Kirche über sie kann in Folge dessen nur noch von der Autorität dieser einzelne Staaten abhängen. [43] 3.) Kirchenbeamte gibt es, wie schon früher bedeutet, dienende und lehrende. Die Lehrenden mögen Apostel, Bischöfe oder Presbyter heissen, oder Propheten, Evangelisten, Pastores, Doctores. Es muss unterschieden werden die Wahl und die Weihe oder Einsetzung der Kirchenbeamten. Aus der urchristlichen Praxis ergebe sich, dass zwar die Weihe aller kirchlichen Beamten den Aposteln und Doctores zukam, die Wahl aber der zu Weihenden der Kirche. 4) Dies führt auf die wichtige Frage, der Macht Sünden zu erlassen und zu behalten, zu lösen und zu binden, die auch die Schlüsselgewalt genannt wird. Ausführlich werden hier die [44] Schwierigkeiten entwickelt: die Sünden behalten dem der getauft ist zur Vergebung der Sünden scheint dem neuen Bunde selber zu widersprechen. Sie dem Nicht-Reuigen zu vergeben scheint gegen den Willen Gottes des Vaters zu sein, von dem Christus gesandt wurde, um die Welt zu bekehren und die Menschen zum Gehorsam zurückbringen. Wenn aber jedem Pastor zustünde, Sünden zu vergeben und zu behalten, so würde alle Furcht vor den Staatsbeamten und alles bürgerliche Regiment zerstört werden. Denn jeder vernünftige Mensch würde denen eher gehorchen, die Sünden vergeben und behalten können, als den mächtigsten Königen. Denn jenen gegenüber handelt es sich um das ewige Heil oder Verderben. Es kann also nur heissen [45] dass die Pastoren die Sünden vergeben können den Reuigen und behalten können, denen die nicht bereuen. Aus einem falschen Verständnis der Reue ist es entsprungen, dass man meint die Reue sei nicht Wirkung sondern Grund des Geständnisses und die Sünden derer die Reue empfinden seien schon vergeben in der Taufe, die der Nichtreuigen könnten überhaupt nicht vergeben werden. Das ist aber gegen die Schrift und gegen die Worte Christi. In Wahrheit ist schon die wahre Anerkennung der Sünde Reue, eben darum folgt sie dem Geständnis, geht ihm nicht vorher, wenn jemand meint, dass das was er getan hat nicht gesetzwidrig ist, so ist es unmög-

Weltenlenker anerkennen, ein Reich und einen Staat bilden, ist auch dieser [mystische Körper] aber weder eine Person, noch hat er eine gemeinsame Handlung oder einen gemeinsamen Willen.

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lich, dass er seine Tat bereue. Man kann [46] aber das Verhältnis einer Tat zum Gesetze nicht ohne einen Ausleger dessen was der Gesetzgeber meinte, finden. Es muss also, da nicht jeder für sich entscheiden kann, ob seine Tat Sünde ist oder nicht, die Tat vor einem Menschen oder mehreren dargelegt werden, d. h. sie muss eingestanden werden. Und wenn der Sünder sich dabei beruhigt dass der Richter es für Sünde erklärt, so ist das Reue. Nun ist also urteilen, ob eine Tat Sünde ist Sache des Richters als Auslegers des Gesetzes. Die Sünde vergeben oder zu behalten, Sache des Pastors. So hat auch Jesus gemeint, dass die Entscheidung ob etwas Sünde sei oder nicht, der Kirche zustehe. Folglich ist diese Schlüsselgewalt ihrem Wesen nach nicht verschieden von derjenigen Gewalt die mit den Worten verliehen wurde Gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen u. s. w. Folglich [47] können die Pastoren weder dem die Taufe verweigern den die Kirche für würdig hält, noch die Sünden dessen behalten, den die Kirche freisprechen heisst, ebenso nicht die Sünden dessen vergeben, den die Kirche für schuldig erklärt. – 5) Das Behalten der Sünden ist das was die Kirche Excommunikation nennt übernommen von der jüdischen Ausschliessung aus der Synagoge. Die Excommunication bedeutete Auschliessung von allem Verkehr mit Christen. Daraus folgt a.) ein christlicher Staat kann nicht excommuniciert werden. Denn ein christlicher Staat ist eine christliche Kirche und eine Kirche kann nicht sich selber excommunicieren. Ebensowenig kann eine andre sie excommunicieren. Denn die allg. Kirche ist keine Person, also nicht handlungsfähig. Die Excommunication einer Kirche durch die andere ist aber sinnlos. Es folgt b.) niemand kann die [48] Bürger eines Staates gleichzeitig alle excommunicieren oder ihnen den Gebrauch der Tempel oder den öffentlichen Gottesdienst untersagen, denn sie können weder von der Kirche, die sie selber sind excommuniciert werden, wenn aber eine andere Kirche sie excommuniciert, so heisst das, dass diese Kirche sie als Heiden behandeln will. Keine christliche Kirche kann aber die Heiden verhindern sich auf ihre Weise zu versammeln, zumal wenn sie zusammenkommen Christus zu verehren, wenn auch auf ihre besondere Weise. c.) Ein Fürst, der in einem Staat souverän ist, kann nicht excommuniciert werden. Es wäre ein Majestätsverbrechen. Wenn der Fürst ein Christ ist, so ist der Staat, dessen Wille in seinem Willen enthalten ist derselbe was [49] wir die Kirche nennen. Mithin excommuniciert die Kirche niemanden ausser vermöge der Autorität des Fürsten oder der souveränen Versammlung. Freilich kann eine Versammlung von Rebellen, den Fürsten für excommuniciert erklären, aber nicht von rechtswegen. Erst recht nicht

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kann ein Fürst von dem anderen excommuniciert werden; ebenso würde von etwaiger Exkommunikation der Fürsten durch die allgemeine Kirche gelten wie früher gesagt dass die allg. Kirche keine Person ist. So wird die Schlussfolgerung gerüstet, dass die Auslegung der Schrift gleich dem allg. Recht der Streitentscheidung ausschliesslich der Autorität desjenigen Menschen oder derjenigen Versammlung angehört, die die höchste Gewalt im Staate haben. – So fasst das Argu[50]ment sich dahin zusammen, dass in allen Fragen menschlicher Wissenschaft also auch denen des Rechts und der Philosophie die Wahrheit in letzter Linie von den Verträgen und der Übereinstimmung der Menschen abhänge und wer dagegen meine aus dunklen Schriftstellen etwas einwenden zu können, der wolle den Sprachgebrauch und damit die menschliche Gesellschaft aufheben. Solche Fragen kann der Staat nicht durch Auslegung der Schrift entscheiden und ist nicht verpflichtet dazu Doctores ecclesiasticos heranzuziehen. Anders ist es mit Glaubensfragen die jenseits des menschlichen Verstandes sind. Dazu gehört ein göttlicher Segen und der Souverain muss also die heiligen Schriften, wo es sich um die Mysterien des Glaubens handelt, durch ordnungsmässsig geweihte Geistliche auslegen lassen, wenn er ein Christ ist. Denn [51] Kirche und christlicher Staat ist eins und dasselbe. Im letzten Kapitel des Abschnittes und zugleich des ganzen Werkes, kömmt nun die Rede zurück auf das Argument, das wir schon in den Elements fanden. Bereichert ist es hier nur durch einen Paragraphen der den Begriff des Glaubens von dem der Wissenschaft und den der Meinung deutlich unterscheiden will. Es kehrt hier die auch schon aus den Elements bekannte These wieder dass die Wahrheit eines Urteils oder Satzes dadurch bedingt ist, dass auf denselben Gegenstand mehrere Namen angewandt werden. Es wird aber dabei 1.) betont, dass die Gründe, warum wir etwas für wahr halten entweder sich ableiten aus dem Urteile (oder dem Satze) selber, oder von der Person des Urteilenden. Nur auf den ersten Fall beziehen sich Wissen und [52] Wissenschaft und hier wird mit Nachdruck betont, dass die Bedeutung der Worte auf der Übereinstimmung derer die dieselbe Sprache haben wie auf einer Abmachung die der menschlichen Gesellschaft notwendig ist, beruhe. Hobbes geht auch auf die Schwierigkeiten ein, die im gewöhnlichen Sprachgebrauch und in der Mehrdeutigkeit vieler Worte

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Doctores ecclesiasticos: [lat.] theologische Doktoren. Im letzten Kapitel: Vorab fehlend: 6.). wird aber dabei 1.): Nachfolgende Ziffer(n) fehlen.

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liegen auch darin, dass es Namen gibt von unbegreiflichen Dingen, wo ein Wissen unmöglich ist. Anders als die Gründe für Bejahung eines Urteils, seines Inhalts halber, sind diejenigen, die vom Vertrauen in das Wissen eines anderen herkommen, das ist der Glaube. Der Glaube geht immer mit innerer Zustimmung einher, nicht immer das Bekenntnis, es ist wesentlich äusserer Gehorsam. Ebenso wird Glaube und Meinung, ferner Glaube und Wissenschaft unterschieden. Und am Schlusse dieses Paragraphen tritt der berühmt gewordene Satz auf, nach dem gesagt worden, dass Dinge die über das [53] menschliche Fassungsvermögen hinausgehen, geglaubt werden sollen und durch Erklärung niemals einleuchtender gemacht werden, sondern im Gegenteil dunkler und minder glaubwürdig. „And the same thing befalls a man who endeavours to demonstrate the mystery of faith by natural reason, which happens to a sick man who will needs chew before he will swallow his wholesome bitter pills; whence it comes to pass that he presently brings then up again; which perhaps would otherwise if he had taken them well down have proved his remedy.“ Im lateinischen Text fehlt hier das perhaps. Übrigens folgen wieder die theologischen Argumente, um darzutun dass nur dieser eine Glaubensartikel (Jesus ist der Christ) zum Heile notwendig sei und dass alles andere nur auf die freiwillige Handlung des Gehorsams und zwar das öffentliche Bekenntnis betreffe. Es sei nicht zu verwundern, dass so viele Dogmen da seien deren Glaube als notwendig zum Seelenheil behauptet werde und dass es so viel Streit darüber gebe. Denn meistens handle es sich da [54] um die irdische Herrschaft, manchmal um materiellen Gewinn, zuweilen um geistigen Ehrgeiz.

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„… his remedy“: Vgl. Hobbes 1839: 305 (vol. II, chap. XVIII, 4). dieser eine: „eine“ ist doppelt unterstrichen. Bekenntnis betreffe: Korrekt: zutreffe.

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Der Leviathan gibt wieder eine andere Einteilung. Abschn. 1. u. 2. sind eine neue und erweiterte Fassung der Elements of Law. Das Kapitel über das natürliche Reich Gottes bildet hier den Schluss des zweiten Abschn. und ist seinem Inhalte nach von demjenigen in De Cive nicht wesentlich verschieden. Es folgen dann aber noch zwei grosse Abschnitte die zusammen fast ebenso umfangreich sind wie die beiden ersten. Der dritte Hauptabschnitt ist betitelt „über ein christliches Gemeinwesen“ der vierte „über das Reich der Finsternis.“ Das erste Kap. des III. heisst: Über die Prinzipien christlicher Politik. Hier kehrt das Gleichnis mit den Pillen wieder und dass wir unseren Verstand gefangen geben müssen, was aber nur bedeute, den Willen zum [55] Gehorsam, wo Gehorsam Pflicht ist. Diese bedeute dem Glauben gegenüber Verzicht auf Widerspruch. Schärfer als bisher wendet sich hier die Kritik gegen das angebliche Wort Gottes. To say he has spoken to him in a dream is no more than to say he dreamt that God spoke to him; which is not of force to win belief from any man that knows dreams are for the most part natural and proceed from former thoughts; in such dreams as that from self-conceit and foolish arrogance and false opinion of a man’s own Godinesse or other virtue by which he thinks he has merited the favour of an extraordinary revelation to say he has seen a vision or heard a voice is to say he has dreamt between sleeping and waiting. For in such manner a man does many times naturally take his dream for a vision as not having well observed his own slunbering. To say he speakes by supernatural inspiration, is to say he finds an ardent desire to speak or some strong opinion himself für which can alledge [56] no natural and sufficient reason. So that though God almighty can speak to a man by dreams visions voice and inspiration; yet He obliges no man to believe He has so done to him that pretends it; who being a man may erre, and which is more may lie. Im gleichen Sinne wird dann ausgeführt, dass da Mirakel nicht mehr vorkommen wir kein Zeichen übrig haben whereby to acknowledge the pretended revelations or inspirations of any private man. Auch bedürfe es, weil man die Heilige Schrift habe keines Enthusiasmus und keiner übernatürlichen Inspiration. Daran schliesst sich ein Kapitel über die Heilige Schrift und ein ferneres über die Bedeutung der Worte Geist, Engel, Inspiration in ihr. Körper und Geist werden analysiert: in der 29 31

more may lie: Vgl. Hobbes 1839: 361 (vol. III, part III, chap. XXXII). any private man: Vgl. ebd.: 365.

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gewöhnlichen Rede sei Geist entweder ein feiner flüssiger und unsichtbarer Körper oder ein Gespenst, ein Idol oder Phantasma der Einbildung. Ebenso wird aus[57]geführt, welche Bedeutung im alten und im neuen Testament das Wort „Engel“ habe. Im Alten bedeute es ein auf übernatürliche Weise von der Phantasie erregtes Bild um die Gegenwart Gottes in der Vollziehung eines übernatürlichen Werkes anzuzeigen. Zuweilen bedeutet es Gott selber, keine Stelle gibt es aber im Texte des Alten Testamentes, den die Kirche von England für kanonisch hält, aus der wir schliessen könnten, dass es ein dauerndes Ding gebe und geschaffen sei, welches keine Quantität habe, das der Verstand nicht teilen könne, überhaupt etwas Unkörperliches, was unter dem Namen von Engeln oder Geistern vorgestellt wurde. Ebenso im N. T. werden Engel niemals als dauernde und überdies unkörperliche Dinge vorgestellt, ausser wenn sie Menschen bedeuten, die Gott zu Boten oder Dienern seines Wortes oder seiner Werke gemacht hat. So sei denn auch das Wort Inspiration in der Schrift nur metaphorisch zu verstehen. Im nächsten Kap. werden [58] ebenso die Worte Gott, heilig, geweiht Sakrament geprüft. Sie seien nur zu verstehen in Analogie zu dem was in einem Staate König oder öffentlich rechtlich oder im Gegensatz zu dem Gemeinen. So ist auch ein Sakrament die Ausscheidung eines sichtbaren Dinges vom gewöhnlichen Gebrauche und die Weihung davon für den Gottesdienst. Das nächste Kapitel wagt sich ebenso an Gottes Wort und Propheten. Propheten seien immer mit grosser Vorsicht aufzunehmen, sie werden im alten wie im Neuen Testament mehrmals der Lüge bezichtigt: schon damals und ebenso jetzt sei jeder Mensch verpflichtet Gebrauch zu machen von seiner natürlichen Vernunft und auf alle Propheten diejenigen Regeln anzuwenden, die uns gegeben sind das Wahre vom Falschen zu unterscheiden. „For when christian men take not their christian sovereign for God’s prophet, they must either take their own dreams for the prophecy they mean to be governed by, [59] and the tumour of their own hearts for the spirit of God – oder sie müssten sich einer Fremdherrschaft unterwerfen oder sich zur Rebellion verführen lassen. Das 37. Kap. handelt über Mirakel. Es gäbe bloss zwei Dinge, über die die Menschen sich wundern: eines, wenn es sonderbar ist d. h. dass desgleichen niemals oder sehr selten hervorgebracht worden ist. Das andre: wenn es hervorgebracht ist, ohne dass wir vorstellen können, es sei durch natürliche Mittel entstanden, so dass nur übrig bleibe es sei durch die unmittelbare Hand Gottes hervorgebracht. 19 30

Gemeinen: Zu ergänzen etwa: bedeute. spirit of God: Vgl. ebd.: 427.

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„But when we see some possible natural cause of it, how rarely soever the like has been done, or if the like have been often done how impossible soever it be, to a natural means thereof, we no more wonder nor esteem it for a miracle.“ Dies wird durch manche Beispiele beleuchtet und die wirklichen Wunder Gottes auf das äusserste eingeschränkt. Sie seien eben nur bestimmt Gottes Boten Dienern und Propheten Kredit zu verschaffen. Es liege also niemals eine [60] besondere Eigenschaft des Propheten vor. Auch könne kein Teufel, kein Engel oder sonst ein geschaffener Geist ein Wunder tun. „Those texts that seem to countenance the power of magic witch craft and enchantment, must needs have another sense than at first sight they seem to bear. „For such is the ignorance and aptitude to error generally of all men but especially of them that have not much knowledge of natural causes, and of the nature and interests of men; as by innumerable and easy tricks to be abused. What opinion of miraculous power before it was known there was a science of the course of the stars might a man have gained that should have told the people this hour or day the sun should be darkened. Nach anderen Beispielen über Taschenspieler, Bauchredner u. s. w. Wundertun nach Verabredung, heisst es: For two men conspiring, one to seem lame the other to cure him with the charm will deceive many; but many conspiring one to seem lame another so to cure him and all the rest to bear witness [61] will deceive many more.“ – Das folgende Kap. (38.) handelt über die Bedeutung der Worte ewiges Leben Hölle, Seligkeit, das Jenseits und Erlösung. [Der Grundgedanke hier ist dass es unmöglich sei für ein Gemeinwesen zu dauern, wo jemand anders als der oder die Souveräne Macht habe grössere Belohnungen als das Leben zu verleihen und grössere Strafen als den Tod zu verhängen]. Kap. 39 handelt über die Bedeutung des Wortes Kirche. Hier kehrt die frühere Lehre wieder, ebenso in Anwendung auf das Alte Test., wenn in Kap. 40 die Rechte des Reiches Gottes bei Abraham Moses u. s. w. erörtert werden. Kap. 41 betrachtet die Mission Christi: er repräsentierte lehrend und regierend wie Moses vor ihm die Person Gottes der von da an Gott Vater hiess. Es folgt wieder ein sehr langes Kap. (42) über kirchliche Gewalt als vorletztes dieses Abschnittes. [62]

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„… for a miracle.“: Vgl. ebd.: 428. should be darkened: Vgl. ebd.: 433. „… deceive many more.“: Vgl. ebd.: 435. [… Tod zu verhängen]: Im Original befinden sich eckige Klammern ohne erkennbaren Grund.

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Auch hier kehrt die Beweisführung von De Cive wieder aber mit mehr eingehender Begründung. Zugrundegelegt wird hier sogleich dass nach der Himmelfahrt zwei Perioden zu unterscheiden seien: die erste vor der Bekehrung von Königen und sonst herrschenden Personen, die andere nachher. Hier wird sogleich eine eigene und offenbar nicht im Sinne der orthodoxen Theologie gedachte Idee der Trinität vorgetragen, anknüpfend an die am Schluss des ersten Teiles des Leviathan neu dargestellte Lehre von der Person als Vertretung: dass nämlich Moses und die Hohen Priester im Alten Testament Gottes Vertreter waren. Der Heiland, als er auf Erden weilte, die zweite – der Heilige Geist – d. h. die Apostel und ihre Nachfolger im Amte der Predigt und Lehre die dritte. So könne man von der Dreieinigkeit sprechen, obwohl weder dies noch das Wort Person Gott in der Bibel zugeschrieben werde. Paradox [63] ist dann auch die Lehre von Märtyrern: das Wort bedeute einen Zeugen und wirkliche Märtyrer seien eben nur die Zeugen der Auferstehung und nicht der Tod des Zeugen sondern das Zeugnis selbst mache den Märtyrer. Vor der Bekehrung von Herrschern gab es keine authentische Auslegung der Schrift. Erst nach der Bekehrung konnte das N. T. bindende Regel für die Christen werden: nur das Gesetz eines Gemeinwesens konnte es selber zum Gesetze machen. Auch die Beschlüsse von Konzilien konnten nicht das N. T. zum Gesetz machen. Wert wird auch auf die Feststellung gelegt dass die Diener des Evangeliums im Urchristentum für ihr materielles Leben auf das Wohlwollen ihrer Gemeinden angewiesen waren, bis sie ihre Ernennung von einem christlichen Herrn als civilem Souverän erhielten. Daher ist auch ihr Recht nur ein bürgerliches Recht. Jure divino ist nur die pastorale Autorität von Souveränen, so dass diese allerdings die geistliche Leitung ihrer Untertanen dem [64] Papste übergeben, der eben dann ihr Beamter jure civile wird. Es schließt sich hier eine Polemik gegen den Cardinal Bellarmin und sein Buch De summo pontifice an, worin auch die Infallibilität des Papstes in Glaubenssachen gelehrt war. In grosser Ausführlichkeit werden die Argumente für des Papstes geistlicher und weltlicher Gewalt widerlegt, wiederum werden im Schlusskapitel die Gründe wiederholt und erweitert die auch im De Cive darstellen sollten, was für des Menschen Eintritt ins Himmelreich notwendig sei. Mit demSchlusse, dass Gehorsam gegen Gott und gegen den civilen Souverän sich wohl miteinander vertragen, ob der Souverän selber ein Christ oder ein Ungläubiger sei. 25 29

jure divino: [lat.] aus göttlichem Recht. De summo pontifice: Vgl. Bellarmin 1611.

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Es bleibt noch übrig über den letzten Abschnitt der eigentlich charakteristisch ist mit der Überschrift „das Reich der Finsternis“ zu berichten. Unser Autor versteht darunter „ein Bündnis von Betrügern, that to obtain dominion over [65] man in this present world endeavour by dark and erroneous doctrines to extinguish in them the light both of nature and of the gospel; and so to disprepare them for the Kingdom of God to come.“ Es dürfe nicht gefolgert werden, dass darum weil unter den Nichtchristen der dunkelste Teil des Satansreiches sei, die Kirche alles des Lichtes sich erfreue, das zur Erfüllung der uns von Gott gestellten Aufgabe notwendig ist. In Wahrheit haben fast seit der Zeit der Apostel die Christen einander beständig aus ihren Plätzen weggestossen both by foreign and civil war; such stumbling at every little asperity of their own fortune, and very little eminence of that of other men; and such diversity of ways in running to the same mark felicity, if it be not night amongst us, or at least a mist? We are therefore yet in the dark. Der Feind habe in dieser Dunkelheit das Unkraut geistlicher Irrtümer gesät auf vier verschiedene Weise 1) durch Missbrauch der Schrift, namentlich dadurch [66] dass die gegenwärtige Kirche als das Reich Christi dargestellt wurde und der Papst als Christi Stellvertreter, die Pastoren als Klerus, die Unterscheidung des civilen und kanonischen Rechts; ein zweiter allgemeiner Missbrauch sei die Darstellung der Weihe als einer Art von Beschwörung oder Bezauberung wie insbesondere beim Heiligen Abendmahl nicht minder beim Sakrament der Taufe als Exorcismus, ebenso werden Zauberformeln und Bräuche bei der Ehe bei der letzten Ölung, bei der Einweihung von Kirchen und Friedhöfen gebraucht – andere allg. Irrtümer springen aus Missdeutung der Worte ewiges Leben, ewiger Tod, zweiter Tod. Alle diese Lehren seien nur auf einige der dunkleren Stellen des NT’s gegründet; niemals ist als Seele eine unkörperliche Substanz mit einem Dasein das von dem des Körpers getrennt wäre zu verstehen, das müsste schon von jeder anderen lebenden Kreatur, so gut wie vom Menschen [67] gelten. Die Vernichtung der Seele mit dem Leibe schliesst natürlich nicht aus, dass Gott, der aus Staub und Kleie ein lebendes Geschöpf machte ebenso leicht durch sein Wort einen Leichnam wieder ins Leben rufen und ihn ewig leben lassen oder ihn durch ein zweites

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„… God to come.“: Vgl. Hobbes 1839: 604 (vol. III, part III, chap. XLIV). yet in the dark: Vgl. ebd. gesät auf vier verschiedene Weise 1): Die Aufzählung der Missbräuche scheint unklar, zumal die folgenden Aufzählungsziffern fehlen. [67]: Am Blattrand links oben in anderer Handschrift: zu Hobbes.

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Wort wieder sterben lassen kann. In diesem Sinne wird noch besonders die Lehre vom Purgatorium kritisiert und lächerlich gemacht. Es wird dann noch besonderer Bezug genommen auf die Lehre des Calvinisten Beza, der das Reich Christi mit seiner Auferstehung beginnen lässt, vermutlich zur Begründung der höchsten kirchlichen Gewalt im Gemeinwesen von Genf durch das Presbyterium. „For the presbyter has challenged the power to excommunicate the own King, and to be the supreme moderators in the religion, in the places where they have that form [68] of church government no less than the pope challenges it universally. Es wird unternommen auch aus der Schrift alles zu widerlegen, was daraus angeführt wird zur Begründung, dass es eine natürliche Unsterblichkeit der Seele gäbe. In Wirklichkeit müsse das alles als Gnade und als Wirkung des Jüngsten Tages verstanden werden. Aber es gelte alles nur von den Erlesenen und den Gläubigen, die nicht essen noch trinken noch ehelichen und zeugen werden. Das alles gelte nicht von den Verworfenen, die werden freien und gefreit werden und Kinder zeugen. Die Texte die zugunsten des Fegefeuers angeführt werden erfahren dann gleichfalls eine Widerlegung.

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[Das Typoskriptfragment] [drittes Blatt] worden ist. Eine grosse Schwierigkeit war es nun offenbar für einen Philosophen der noch von der Theologie umdrängt war, die unablässig ihre Herrschaftsansprüche geltend machte, darüber sich auszusprechen, ob und wiefern er diese Theoreme auch für die angeblich geoffenbarten Religionen also die jüdische und die christliche gelten lassen, also auch wieder anwenden wolle. Er musste sich hier der äussersten Vorsicht befleissigen und hat es getan, indem er beständig so redet, als ob er die Wahrheit dieser Tatsache anerkenne. Wie er in seinem Herzen darüber gedacht habe können wir mit wissenschaftlicher Sicherheit nicht feststellen. Es gibt aber starken Grund zu vermuten, dass Hobbes die äussere Unterwerfung unter die Religion als Gesetz, wie er sie für geboten hielt auch für seine Person ausgeübt hat; mithin auch für seine Pflicht gehalten hat, jene Glaubensdogmen, die er als zum Heile nicht notwendig bezeichnet, ja als absurd verwirft und lächerlich macht, dennoch anzuerkennen in dem Sinne dass er ihnen nicht zu widersprechen entschlossen war, sofern ein 3 9

Beza: Gemeint ist Theodor de Bèze. challenges it universally: Vgl. Hobbes 1839: 617 (vol. III, part III, chap. XLIV).

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Staatsgesetz dies erforderte. Darum hat er besonders nach der Restauration mehrmals geflissentlich erklärt, dass er auch der Church of England gehorsam sei, wenngleich er noch im Behemoth seiner Abneigung gegen das bischöfliche Regiment, das ja immer ein hohes Mass von Unabhängigkeit gegenüber der Staatsgewalt in Anspruch nahm deutlich ausgesprochen hat (die Stellen sind freilich im gedruckten Text unterdrückt und erst in meiner Ausgabe nach dem Manuskript in Saint John’s College soweit sie unter der Rasur von mir gelesen sind wiederhergestellt worden. Er hatte gerade unter der Restauration naturgemäss mehr als zur Zeit des Common Wealth viele und schwere Anfechtungen zu erleiden und nicht bloss literarisch, wie am deutlichsten sich ergibt [viertes Blatt] 1. aus an Historical Narration concerning Heirethy and the Punishment thereof, 2. in den Considerations upon the Reputation Loyalty, Manners and Religion of Thomas Hobbes of Malmesbury, written by himself by way of letter to a learned person. – Bei allen Akkommodationen hat er aber nie seine Grundthesen verleugnet, die gemäss den zu seiner Zeit bei allen Denuminationen gehegten Vorstellungen für den christlichen Glauben vernichtend waren: nämlich dass es keine Geister gäbe und dass insbesondere Erzählungen von Gespenstern und Traumerscheinungen keinen Glauben verdienten, als entweder auf Täuschung und einfältigem Aberglauben oder auf Lüge beruhend; und wenigstens klagt er unermüdlich die Geistlichen wenn auch in erster Linie die der Römischen Kirche an, dass sie in ihrem eigenen Interesse ebenso diesen Aberglauben wie die absurden und aus solchem Aberglauben abgeleiteten Dogmen aufrechterhalten. Wenn er in diesem Sinne auch Gott nur anerkennt als ein körperliches Wesen, weil es andere als körperliche Wesen nicht gäbe, so lag es allzunahe, dass man auf die andere Alternative des möglichen Daseins von Geistern verfiel: Gott sei gleich anderen Geistern eine Illusion, das also was von den Göttern im allgemeinen ohne Gefahr weil im Sinne des Christentums behauptet werden durfte auch auf den Gott der Juden und Christen angewandt werden müsste. Wenn ihm die Entlarvung der heidnischen Götter nicht schaden konnte, so schadete ihm doch gemäss der Mentalität die zu seiner Zeit noch in allen

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Restauration: Restauration der englischen Monarchie im Jahre 1660 mit Karl II. als König. wiederhergestellt worden: Vgl. Hobbes 1889a. learned person: Vgl. Hobbes 1680 u. 1662. Denuminationen: Richtig: Denominationen, Bezeichnung für freikirchliche Gemeinschaften bzw. Sekten.

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christlichen Ländern vorherrschte die Leugnung des Spiritismus, d. h. der Realität von Geistern und Gespenstererscheinungen. (hier folgt Glanville u. s. w.) [8] Man muß diese zweite Ansicht für eine Akkomodation halten, angesichts der Sicherheit, mit der die Theologen doch fortwährend an den persönlichen Gott, ja von dessen dreifacher Person redeten, wollte er seinen Glauben an das Dasein Gottes etwas konkreter machen, indem er der Konsequenz seines Gedankens folgte: was ist, muss irgendwo im Raum sein und was irgendwo im Raum ein Dasein hat ist Körper. Die zugrundeliegende Lehre dass objektiv nur Körper vorhanden seien, dass die Meinung vom Dasein der Geister lediglich auf Einbildung beruhe und sich daraus begreifen lasse, dass Menschen von schlichtem Verstande nicht unterscheiden zwischen dem, was objektiv ausser ihnen vorhanden ist und dem, was nur subjektiv ihrer Vorstellung angehört, erfüllt die ganze Kritik des religiösen und kirchlichen Bewusstseins, die in den drei Darstellungen der Staatslehre eine immer grössere Bedeutung gewann und einen immer breiteren Raum einnahm. Es ist daher eine wichtige Frage, in welchem Merkmal der Empfindung oder Vorstellung oder Einbildung unser Philosoph das Kriterium erblickt habe, wonach die nur subjektive Einbildung von derjenigen, die durch ein objektives Ding verursacht sei, unterschieden werden könne und müsste. Denn dass der Charakter der subjektiven Empfindung und Vorstellung beiden gemeinsam sei hat er immer scharf genug betont. In diesem Sinne erklärt er De Corpore part. IV. Kap. 25: von allen Erscheinungen, die um uns (es könnte auch heissen in uns) ist tÕ fa…nesϑai das Wunderbarste, nämlich dass unter den [9] natürlichen Körpern einige beinahe von allen Dingen andere von keinem in sich selber die Muster (exemplaria im englischen patterns) haben und weiter hin sagt er, alle Empfindung geschehe durch eine Reaktion, es sei aber nicht notwendig, dass alles was reagiert, empfinde. I know there have been philosophers and those learned man who have maintained that all bodies are endued with sense. Nor do I see how they can be refuted, if the nature of sense be placed in reaction only“ Er weist also keineswegs diese philosophische Meinung zurück, macht aber mit Recht geltend, dass solche etwanigen Phantasmen sofort aufhören müssten nachdem die Wirkung getan, weil eben unbelebte Körper keine Organe hätten die Eindrücke zu behalten: Gedächtnis gehöre unmittelbar zur Empfindung. Auch gehöre ein beständiger Wechsel dazu, denn fortwährend dasselbe zu empfinden, sei 24 31

tÕ fa…nescai: (gr.:) das Sichtbar-Werden, das In-Erscheinung-Treten. „… in reaction only“: Vgl. Hobbes 1839: 393 (vol. I, part IV, chap. XXV, 5).

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gleich dem Nichtempfinden und es sei immer die an Stärke vorwaltende und dominierende Empfindung, die jedesmal das Phantasma ergebe, wie das Licht der Sonne das Licht der übrigen Gestirne verdunkle. Hier folgt dann eine Ausführung über das Gedächtnis. Phantasie und Gedächtnis seien nur in einem Punkte verschieden, das Gedächtnis beziehe sich auf vergangene Zeit, Phantasie nicht. Im allgemeinen nennt Hobbes wie nach ihm Hume, die Vorstellung eine erschlaffende oder abgeschwächte Empfindung. Er wirft die Frage auf, ob ohne die Wirkung des Gegenstandes die Bewegung schwächer sei? Wäre dem so, so müssten die Phantasmen der Vorstellung immer und notwendigerweise weniger klar sein als in der Empfindung. Das aber sei nicht wahr. Beweis die Träume. Denn im Wachen würden eben [10] die Vorstellungen des Gewesenen fortwährend überschattet von den Wirkungen des Gegenwärtigen. Im Schlafe sei diesen der Zugang verschlossen. Er gibt dann eine eingehende Theorie der Träume und versucht sie physiologisch zu erklären. [11] Daran schliesst sich ein Absatz, der für unser Problem vorzüglich wichtig ist: „But it is here to be observed that certain dreams especially such as some men have, when they are between sleeping and waking, and such as happen to those that have to knowledge of the nature of dreams and are withal superstitious, were not heretofore nor are now accounted dreams. For the apparitions men thought they saw and the voices they thought they heard in sleep, were not believed to be phantasms, but things subsisting of themselves, and objects without those that dreamed. For to some men, as well sleeping as waking, but especially to guilty men and in the night and in hallowed places, fear alone, helped a little with the stories of such apparations, hath raised in their minds terrible phantasms, which have been and are still deceitfully received for things really true, under the names of ghosts and incorporeal substances.“ Diese Erklärung des Glaubens an Geister und unkörperliche Substanzen, also eine psychologische Erklärung aus dem Zwischenzustande zwischen Schlaf und Wachen, findet sich in keiner der beiden ersten Darstellungen der Staatslehre: den Elements of Law und der Schrift De Cive, sie findet sich angedeutet am Schluss des Leviathan. Alle drei aber operieren fortwährend mit dem Begriffe dieser falschen Einbildungen, deren Wesen es sei Empfindungen und Vorstellungen, die nur subjektiv sind in die Aussenwelt 11

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Das aber sei nicht wahr: Von Tönnies handschriftlich am Rand dazu: Wie ja auch Hume behauptet. „… incorporal substances.“: Vgl. ebd. (25, S. 402).

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zu projizieren und mit Körpern zu verwechseln, also gleichsam für unkörperliche Körper zu halten. [14] sentlich verschieden vom Stolz oder von dem inneren Triumphe – wir würden sagen dem befriedigten Selbstgefühl dessen der meint, dass er geehrt, d. h. geliebt und gefürchtet wird und daher Dienste und Hilfe seiner Mitmenschen zur Verfügung habe: „Now because men believe him to be powerful whom they see to be honoured that is to say esteemed powerful by others; it falls out that honour is increased by worship; and by the opinion of power true power is acquired. His end therefore who either commands or suffers himself to be worshipped is that by this means he may acquire as many as he can either through love or fear to be obedient unto him.“ – diese Sätze beziehen sich alle auf Ehren, die Menschen Menschen erweisen, also auch auf Verehrung und Kultus von Menschen durch Menschen. Wenn also nun die Anwendung auf das Verhältnis der Menschen zum Gott und auf die Gottesverehrung geschieht, so ist in dieser Anwendung enthalten, obschon nicht ausdrücklich ausgesprochen, dass dieser gesamte religiöse Kultus darauf beruhe, dass die Götter als Menschen, dass auch der einzige Gott als Mensch gedacht und verehrt werde. In diesem Sinne wird nun die besondere Lehre über den religiösen Kultus abgeleitet. Es sei offenbar, dass man Gott um ihn zu ehren gewisse Eigenschaften zuschreiben müsse, nämlich 1. und vor allem das Dasein: in der englischen Fassung heisst es eingeräumt (allowed) werden: for there can be no will to honour him, who we think has no being. Negativ wird daher die Lehre von der Weltseele, von der Identität Gottes mit der Natur und mit der Welt und von der Ewigkeit der Welt abgelehnt, denn solche Lehren kämen darauf hinaus, ihm das Dasein abzustreiten. Auch wenn man meine, dass er zwar all[15]mächtig sei, aber in Kleinigkeiten – das soll hier offenbar heissen um den alltäglichen Lauf der Dinge auf Erden sich nicht kümmere, habe zur Folge, dass man keinen Grund finde, ihn zu lieben oder zu fürchten, d. h. sich so zu verhalten, als ob er nicht da sei. Hieran schliesst sich nun die schon erwähnte Beschränkung der Prädikate, die eine wirkliche Ehrung bedeuten auf Negative, Superlative und Unbestimmte. Alsdann werden die äusseren Handlungen, mit denen Gott geehrt werde aufgezählt und dies hätte füglich schon vorher, wo die Zeichen der Ehre eines Menschen durch andere Menschen dargestellt wurden, dargestellt 2 12 23

Körper zu halten: Die Seiten 12−13 fehlen; weiter mit S. 14. „… obedient unto him.“: Vgl. ebd. (vol. II chap. XV, 13, S. 213). has no beeing: Vgl. ebd. (14, S. 213).

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werden müssen, nämlich 1. Bitten, 2. Danksagungen, 3. Geschenke (also Opfer), als Zeichen der Dankbarkeit, die einen Verzicht in sich schliesst, 4. (erst hier folgt, was sich nur auf Götter bezieht) bei keinem anderen zu schwören, denn es wird vorausgesetzt, dass kein anderer immer wissen kann ob der Schwörende gelogen hat oder nicht und ihm wenn er als Mensch noch so mächtig sei, strafen kann; 5. sei es ein Zeichen der Gottesverehrung vorsichtig über Gott zu reden, denn es sei ein Zeichen der Furcht, Furcht aber Eingeständnis der Macht. Zu dieser Behutsamkeit gehört auch über das Wesen Gottes nicht zu diputieren. Es fehlt sehr viel daran, dass man nach Prinzipien natürlicher Wissenschaft etwas von Gott wissen: können wir doch nicht einmal die Eigenschaften unseres Körpers oder irgend eines Geschöpfes hinlänglich verstehen. 6. Alles was im Gebet, Danksagung geleistet wird muss in seiner Art das beste sein und Ehre bedeuten. Wenn dieser Satz speziell für die Gottesverehrung gemeint ist, so lässt er sich doch auch allgemein fassen und [16] zwar so, dass man sagen darf: je mehr die Menschen einen Menschen ehren wollen, um so mehr nähert sich in dieser Hinsicht wie in anderen ihre Verehrung derjenigen, die dem Gotte gezollt wird. 7. Hier geschieht nun die besondere Anwendung der Forderung, dass die wirkliche Verehrung offen und öffentlich sein muss, auch die Gottesverehrung. „Wenn andere es nicht sehen, geht das, was am meisten gefällig ist an unserem Kultus verloren. Wenn nun dies alles vom natürlichen Reiche Gottes gilt, so wird das prophetische Reich in den beiden Gestalten: nach dem alten Bunde und nach dem neuen Bunde dargestellt. Hier ist nun der Philosoph beflissen, die bedeutendsten theologischen und kirchenpolitischen Probleme auf seine Art zu lösen, indem er beweisen will, dass schon unter den Juden die weltliche und die geistliche Gewalt immer in ein und derselben Hand gewesen seien, dass also auch die Theokratie eine normale Regierung zu bedeuten habe. Die Schwierigkeit des möglichen Falles, dass ein Gesetz gebieten würde, Gott zu beleidigen oder verbiete ihn zu ehren, wird dahin erledigt, es folge nicht, dass einem solchen Gesetze gehorcht werden müsse, denn im Naturzustande hatte, wenn man voraussetzen müsse, dass alle die Herrschaft Gottes anerkannten, niemand ein Recht, ihm die daher geschuldete Ehre zu verweigern; folglich konnte ein solches Recht auch 10 22

von Gott wissen: Zu ergänzen: kann. Kultus verloren: Bei Hobbes (1839: vol. II, chap. XV, 15, S. 218): unless others therefore see it, that which is most pleasing in our whorship vanisheth.

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nicht auf das Gemeinwesen übertragen werden. Wie aber wenn befohlen würde, was zwar nicht direkt beleidigend wäre aber doch so dass es mögliche Beleidigung in sich schlösse, z. B. Gott unter einem Bilde zu ehren in Gegenwart von solchen, die dies wirk[17]lich für eine Ehre hielten. Da müsse man freilich gehorchen! – Dieser Satz hat offenbar schon bei denen Anstoss erregt die von der ersten Ausgabe der Schrift De Cive, die in Paris als Manuskript gedruckt wurde (1642) Kenntnis gewonnen hatten, wie daraus hervorgeht, dass der Verfasser sich bemüssigt sah, ihn in der zweiten Ausgabe zu verteidigen: es bedeutet freilich Gott Grenzen setzen, wenn man ihn im Bilde darstellt, aber dies hätten nicht diejenigen zu verantworten, die genötigt wurden, solchen Kultus mitzumachen, sondern die ihn geboten haben. Auch sei die Geltung dieser Regel nur gemeint als ein Stück der natürlichen Gottesverehrung. Es folgt dann ein Abriss der jüdischen Geschichte. In rechtgläubigem Stile lehrend, dass Gott die wahre Religion durch Abraham eingerichtet habe. Hier fügt sich aber die kritische Erwägung ein, dass Furcht vor dem Unsichtbaren, wenn von richtiger Vernunft getrennt Aberglaube sei, daher ohne spezielle göttliche Hilfe es fast unmöglich scheine beiden Klippen zu entgehen, dem Atheismus und dem Aberglauben (was an einen bekannten Satz Baco’s von Verulam erinnert): for this (superstition) proceeds from fear without right reason; that (atheism) from an opinion of right reason without fear. – In dem Bunde mit Abraham sei der wahre Grund gelegt denn Abrahams Gott bedeutete nicht Gott schlechthin sondern den Gott, der ihm erschienen war wie er glaubte, so dass der Kultus, den er in diesem Sinne Gott schuldig war, nicht der Kultus der Vernunft sondern der Religion und des Glaubens war und ein solcher, den nicht die Vernunft sondern Gott auf übernatürliche Weise offenbart. So wurde der Bund Abrahams durch Moses erneuert und mit dem ganzen jüdischen Volk ge[18]schlossen. Nun gab Gott den Juden seine Gesetze, vor allem den Dekalog. Das wirkliche Wort Gottes ist nicht alles, was Prediger oder Propheten dafür ausgeben. Wir müssen also zuerst wissen, wer der wahre Prophet ist, an den wir dann glauben müssen. Der König Saul und seine Nachfolger hatten ohne Zweifel die bürgerliche Autorität und weil es vor dem Exil kein anerkanntes und geschriebenes Wort Gottes ausser dem mosaischen Gesetz gab, so gehörte den Königen auch die Befugnis, Gottes Wort auszulegen. So blieb denn auch das Priestertum ein Dienst und wurde nicht zum Meistertum – non magisterium sed ministerium. Diese Antithese betont Hobbes später oft, wie 21

without fear: Vgl. ebd. (chap. XVI, 1, S. 227).

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er schon in einem uns erhaltenen Briefe vom 2. Aug. 1641 seine Ansicht dahin formuliert hatte, that ministers ought to minister rather than govern. Er beruft sich auf die Erfahrung, dass der Rangstreit zwischen geistlicher und bürgerlicher Gewalt neuerdings in allen christlichen Ländern mehr als irgend etwas anderes die Ursache von Bürgerkriegen gewesen sei. – In gleichem Sinne wird dann über die Stiftung des neuen Bundes berichtet: das Reich Gottes, zu dessen Wiederherstellung Christus von Gott Vater sei gesandt worden, nehme seinen Anfang erst mit der Wiederkunft des Herrn also mit dem jüngsten Gericht – sein diesseitiges Reich sei nicht als eine Herrschaft sondern als eine Leitung durch Lehre und Überzeugung zu verstehen. Darum nenne er die Apostel nicht Jäger sondern Fischer der Menschen, darum vergleiche er das Reich Gottes mit einem Senfkorn u. s. w.. Wie die Beschneidung für den alten, so sei die Taufe ein Zeichen des neuen Bundes, aber nicht mehr als ein Zeichen und Symbol. Die von Christus gegebenen Sätze seien im ganzen keine anderen als jene, an die alle sterblichen gebunden sind [19] die den Gott Abrahams anerkennen. Abgesehen von Einsetzung der Sakramente, Taufe Eucharistie. Berufungen zum Glauben sind keine Gesetze, geboten sind nur die Gesetze der Natur oder Vernunft, mit Einschluss also des bürgerlichen Gehorsams. Alles was zu Wissenschaft und Technik gehört, muss durch Denken erkannt werden, also durch Schlussfolgerungen auf dem Grunde der Erfahrung. Irrtümer und Streitigkeiten gibt es genug mit Gefahren für den gemeinen Frieden, Christus ist nicht in die Welt gekommen um Logik zu lehren und hat keine Regeln für Entscheidung solchen Streites gegeben, überhaupt nichts über Wissenschaft und Technik, Streitigkeiten über den Sinn eines Wortes und ob z. B. eine mönströse Leibesfrucht ein Mensch heissen solle, kann nur das Gesetz entscheiden. Anders ist es mit Geboten in bezug auf den Kultus und solche Glaubensartikel, die jenseits der natürlichen Vernunft liegen. Hier schliesst dann die Erörterung wichtiger Fragen sich an, nämlich 1. über den Unterschied von geistlichen und weltlichen Angelegenheiten. Die Unterscheidung dieser sei freilich ein Problem der Vernunft, der Heiland bietet darüber nichts. Paulus unterscheidet nur Spiritualia und Carnalia, ohne zu bestimmen, nach welchen Regeln sie zu unterscheiden seien. Wenn nun der Heiland die Entscheidung über Temporalia den Staatsgewalten nicht hat nehmen wollen, wem hat er die Autorität über Spirtualia verliehen? Es muss aus dem Worte Gottes und der Tradition der Kirche erkannt werden. Hier folgt dann wieder eine Erörterung über das Wort Gottes und dass 2

rather than govern: Vgl. Tönnies 1904a: 302 f.

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die Heilige Schrift durchaus der authentischen Deutung bedürfte und das Wort des Auslegers muss für Gottes Wort selber gelten. Eine endgültige Entscheidung kann nur von [20] einem gesetzlichen Amte ausgehen. Dies führt 2. auf den Begriff der Kirche und den verschiedenen Sinn des Wortes. Nur als Versammlung kann die Kirche reden, hören beschliessen, also eine Person heissen. Jeder Teilnehmer muss durch den Beschluss der Mehrheit gebunden sein. Dadurch beschlussfähig muss doch eine Kirche in der Lage sein, sich von rechtswegen zu versammeln und die Teilnehmer von rechtswegen verpflichtet sein, dem Rufe zu folgen. Folglich ist eine Kirche nur möglich, wenn solche Pflichten durch eine sichere und bekannte d. h. rechtmässige Macht den einzelnen auferlegt werden. Durch diese Einheit rechtmässiger Gewalt, nicht durch Gleichförmigkeit der Doktrin ist die Kirche selbst Einheit und Person. Es folgt daraus, dass ein aus Christen bestehender Staat und eine ebensolche Kirche ein und dasselbe ist, nach verschiedenen Gesichtspunkten benannt und dass mehrere christliche Staaten nicht zusammen eine Kirche bilden können. Aber es gäbe doch die allgemeine Kirche als ein mystischer Körper, dessen Haupt Christus ist; wie man ja auch die Gesamtheit der Menschen, die den Weltenlenker anerkennen einen Staat nennen möge. Beide seien aber keine Personen weder willens- noch handlungsfähig. Es gab einst eine römische Kirche innerhalb des Römischen Reiches. Sie war niemals allgemein und der Römische Staat hat auch in seiner grössten Ausdehnung niemals den 20. Teil der bewohnten Erde umfasst. Das Reich ist zerfallen und es gibt so viele Kirchen als es Staaten gibt. Die Macht der Römischen Kirche über sie kann infolgedessen nur noch von der Autorität der einzelnen Staaten abhängen. Ebenso gehöre die Wahl und Ernennung von Kirchenbeamten der Kirche, wenn auch ihre Weihe nach urchristlicher Praxis den Aposteln zukam. – Nun aber 4. die wichtige Frage in betreff der Macht, Sünden zu erlassen [21] und zu behalten. Wenn diese sogenannte Schlüsselgewalt jedem Prediger zustünde, würde der vernünftige Mensch diesen eher gehorchen, die dann über das ewige Heil oder Verderben verfügen als den mächtigsten Königen. Es sei also zu folgern, Sünden können nur vergeben werden den Reuigen; Reue setze Geständnis voraus, Geständnis die Einsicht der Gesetzwidrigkeit, das Gesetz muss also feststehen oder authentische Deutung erfahren, also ist es Sache des Richters zu urteilen, ob eine Tat Sünde ist. Jesus hat gemeint, diese Entscheidung stehe der Kirche zu. Folglich

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Nun aber 4. Die wichtige Frage: Ziffer 3. fehlt.

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ist die Schlüsselgewalt gleich derjenigen Gewalt, die in den Worten liegt: gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker. 5. Die Sünden behalten nennt die Kirche Exkommunikation und sie bedeutet Ausschliessung von allem Verkehr mit Christen. Daraus folgt a). ein christlicher Staat kann nicht exkommuniziert werden, denn eine Kirche kann sich nicht selber exkommunizieren und ebensowenig kann es eine andere. Die allgemeine Kirche kann es nicht, weil sie keine Person ist. Auch hat es keinen Sinn gleichzeitig alle Bürger eines Staates zu exkommunizieren, sie selber sind ja die Kirche; eine andere Kirche mag sie in dem Sinne exkommunizieren, dass es sie als Heiden behandeln will. Keine christliche Kirche kann also Heiden verhindern, auf ihre Weise sich zu versammeln, zumal wenn sie Christus auf ihre eigene Weise verehren wollen. – Einen Fürsten zu exkommunizieren wäre ein Majestätsverbrechen. Wenn er ein Christ ist, so ist der Wille des Staates und also der Kirche in seinem Willen enthalten. Eine Versammlung von Rebellen kann allerdings den Fürsten für exkommuniziert erklären aber nicht von rechtwegen. Noch weniger kann ein Fürst von dem anderen exkommuniziert werden. Alles dies folgt aus der [22] Erkenntnis, dass die Auslegung der Schrift gleich dem allg. Recht der Streitentscheidung ausschliesslich der Autorität desjenigen Menschen oder derjenigen Versammlung gehört, die die höchste Gewalt im Staate hat. – Das Argument fasst sich dahin zusammen: in allen Fragen menschlicher Wissenschaft des Rechtes und Philosophie hänge die Wahrheit in letzter Instanz von Verträgen und Übereinstimmung der Menschen ab, wer dagegen aus dunkelen Schriftstellen meine, etwas einzuwenden, der wolle den Sprachgebrauch und damit die menschliche Gesellschaft aufheben. Der Staat ist nicht verpflichtet zur Entscheidung solcher Fragen doctores ecclesiasticos heranzuziehen. Anders ist es mit Glaubensfragen, die jenseits menschlichen Begreifens liegen. Der Souverän muss allerdings die Heiligen Schriften wo es sich um die Mysterien des Glaubens handelt durch ordnungsmässig gewählte Geistliche auslegen lassen. Im letzten Kap. des Abschnittes und damit des ganzen De Cive wird von neuem die Frage erörtert, was zum Eintritt in das Himmelreich notwendig sei. Schärfer als früher wird der Begriff des Glaubens gegen den der Wissenschaft und den der Meinung abgegrenzt. Die Gründe des für-wahrhaltens seien entweder in dem Satze selber oder in der Person des Urteilenden enthalten. Nur auf den ersten Fall bezieht sich Wissenschaft. Und hier kömmt wiederum die Bedeutung der Sprache und des Sprachgebrauches zur Geltung: viele Worte sind mehrdeutig und es gibt Namen von unbegreiflichen Dingen, wo ein Wissen unmöglich ist. Glaube beruht auf dem

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Vertrauen des Wissens eines anderen und stimmt innerlich zu, nicht aber das Bekenntnis, es ist seinem Wesen nach äusserer Gehorsam. Am Schlusse dieses Paragraphen wird betont, dass […] über menschliches Begreifen hinausgehe könne durch Erklärung nicht ein[23]leuchtender gemacht werden sondern nur dunkler und minder glaublicher. „And the same thing befalls a man who endeavours to demonstrate the mystery of faith by natural reason which happens to a sick man who will needs chew before he will swallow his wholesome bitter pills; whence it comes to pass that he presently brings them up again; which perhaps would otherwise if he had taken them well down, have proved his remedy das Wort perhaps ist im englischen Text hinzugefügt). Es folgen dann wieder die theologischen Argumente um darzutun, dass nur dieser eine Glaubensartikel Jesus ist der Christ zum Heile notwendig sei, bei allem anderen handle es sich nur um Gehorsam und etwaniges öffentliches Bekenntnis. Der Streit über die Dogmen rühre wie ihre Behauptung meistens daher, dass um die irdische Herrschaft gekämpft wird, manchmal materiellen Gewinnes halber, zuweilen liege auch geistiger Ehrgeiz zugrunde.

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_______________________ Der Leviathan zerfällt in 4 Abschnitte. Die zwei ersten geben den Inhalt der Elements of Law in veränderter und erweiterter Fassung wieder mit Ausnahme der zwei Kapitel, die sich auf religiöse Kontroversen beziehen. Das Kap. über das natürliche Reich Gottes aus De Cive herübergenommen schliesst den zweiten Abschnitt. Es folgen aber dann noch ein dritter Abschn. über ein christliches Gemeinwesen und ein vierter über das Reich der Finsternis. Ein besonderes Kap. das in den Elements of Law sich nicht findet über Religion […] schon in den ersten Abschnitt eingeschaltet. Der Gedankengang ist hier: der Same der Religion ist nur beim Menschen vorhanden. Die Menschen suchen nach Ursachen dessen was sie erleben mehr oder weniger wenigstens wünschen sie die Ursachen ihres eigenen Glük[24]kes oder Missgeschickes zu wissen. Sie sehen, dass Dinge einen Anfang haben und beobachten wie eins aus dem anderen folgt und kommen

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wird betont, dass […]: zu ergänzen; das, was. have proved his remedy: Vgl. Hobbes 1839 (vol. II, chap. XVIII, 4, S. 305). Fehlendes Anführungszeichen am Zitatende. über Religion […]: Lies: über Religion ist.

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entweder selber auf Vermutungen über Ursachen oder verlassen sich auf andere Menschen, die sie für ihre Freunde halten oder für weiser als sie selber sind. Die ersten Gründe machen den Menschen ängstlich. Fortwährend beflissen sich zu sichern gegen das Übel und das Erwünschte sich zu beschaffen gerät er in beständige Sorge: ein Mensch der zu weit vorausschaut und um die Zukunft sich bekümmert findet sein Herz gleich Prometheus unablässig zerhackt durch Furcht vor Tod Armut oder anderem Unheil; und hat keine Ruhe kein Aufhören seiner Angst ausser im Schlafe. Diese beständige Furcht ist die notwendige Begleitung der Unwissenheit. In diesem Sinne haben die alten Poeten schon gesagt, dass menschliche Furcht zuerst die Götter geschaffen habe. Das sei völlig richtig von den vielen Göttern der Heiden, hingegen sei der Glaube an einen Gott daraus abzuleiten, dass der Gedanke von näheren Ursachen zu ferneren fortschreitend endlich zu der Annahme kömmt, es müsse einen ersten Beweger geben oder eine erste und ewige Ursache aller Dinge. Das sei es, was die Menschen unter dem Namen Gott verstehen. Diese Unterbrechung hindert nicht darauf zurückzukommen, dass die Phantasievorstellung unsichtbarer Agenten sich diese gleich der menschlichen Seele darstellt; und die menschliche Seele gleich einer Erscheinung im Traum oder in einem Spiegel und solche für wirkliche Substanzen gehaltene sogenannte Geister. So hält man dann diese für diejenigen, die alle möglichen Wirkungen verursachen und folgt dabei der Regel nach Erfahrung zu erwarten, dass gleiches gleichem, ähnliches ähnlichem folge, wobei die unsichtbaren ebenso wie sichtbare [25] Dinge für Ursachen oder Verursacher gehalten werden und so zollen sie den Unsichtbaren ihre Verehrung gleichwie Menschen und erwarten von ihnen Voraussage der Zukunft, wobei denn irgend etwas Zufälliges als Zeichen und Voraussage genommen wird. And in these four things: opinion of ghosts ingnorance of second causes, devotion towards men fear and taking of things casual for prognostics consists the natural seed of religion; which by reason of the different fancies jugdements and passions of several men has grown up into ceremonies so different that those which are used by one man are for the most parts ridiculous to another. Denn diese Saaten haben einen planmässigen Anbau erfahren durch zwei Sorten Menschen: die einen haben sie genährt und geordnet nach ihrer eigenen Erfindung, die anderen nach Gottes Befehl und Leitung, beide aber mit der Absicht, die Menschen, die sich auf sie

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to another: Vgl. Hobbes 1839: vol. III, part I, chap. XII, S. 98.

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verliessen um so mehr geeignet zu machen für Gehorsam Gesetze Frieden Carität und bürgerliche Gesellschaft. Die Religion der einen Art ist ein Teil menschlicher Politik, die der anderen ist göttlicher Politik. Es folgt dann eine lange Ausführung über die absurden Meinungen des Heidentums über die Zwecke derer die eine Religion begründeten. Es soll beweisen, dass die Religion der Heiden ein Teil ihrer Politik war. Anders sei es natürlich, wo Gott selbst durch übernatürliche Offenbarung Religion gepflanzt hat. In seinem Reiche werden Politik und bürgerliche Gesetze ein Teil der Religion. Wiederum kehrt das Argument zurück auf das was allen Religionen gemeinsam sei, nämlich Meinungen von Gottheit, von unsichtbaren und übernatürlichen Mächten „For seeing all formed religion is founded at first upon [26] the faith, which a multitude has in some one person whom they believe not only to be a wise man and to labour to procure their happiness, but also to be a holy man to whom God himself vouchsafes to declare his will supernatural it follows necessarily, when they that has the government of religion shall come to have either the wisdom of those men their sincerity or their love suspected; or when they shall be unable to show any probable token of devine revelation; that the religion which they desire to uphold, must be suspected likewise; and without the fear of the civil sword, the contradicted and rejected. – Es wird dann untersucht 1. was nimmt den Ruf der Weisheit den Gründern oder Vertretern einer Religion? Die Zumutung widersprechendes zu glauben. Diese Zumutung beweist Unwissenheit und nimmt dem der sie macht seinen Kredit in bezug auf alles was er etwa als übernatürliche Offenbarung vorlegt. Er mag allerdings manches durch Offenbarung erlangen, was über, aber nichts was gegen natürliche Vernunft geht. 2. Der Ruf der Aufrichtigkeit wird gefährdet durch Tun oder Sagen die darauf hindeuten, dass sie selber das nicht glauben, was sie von anderen verlangen zu glauben. Das alles wird skandalös genannt weil es Blöcke sind über die die Menschen fallen auf ihrem Wege der Religion als Ungerechtigkeit Grausamkeit Habsucht Unheiligkeit Schwelgerei. Der Ruf der Liebe geht verloren, wenn private Zwecke entdeckt werden: als der Glaube den sie von anderen verlangen führt oder scheint zu führen für sie ausschliesslich oder doch besonders zum Erwerbe von Herrschaft,

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contradicted and rejected: Vgl. ebd.: 105 f. verlangen: Der Rest des Satzes muss wohl heißen: führt dieser Glaube für sie selber (oder scheint zu führen) ausschließlich oder doch besonders zum Erwerbe von Herrschaft, Reichtum, Würde oder gesicherten Vergnügens.

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Reichtum, Würde oder gesicherten Vergnügens. Endlich 4. zum Zeugnis göttlicher Berufung bedarf es des Wundertuns oder der wahren Prophetie, die auch ein Wunder ist oder [27] ausserordentlichen Glückes. Alles was sich nicht durch Wunder beglaubigen kann, kann keinen grösseren Glauben bewirken als was Sitten und Gesetze der Orte wo sie erzogen waren in sie gewirkt haben. For as in natural things men of judgement require natural signs and arguments so in supernatural things they require signs supernatural, which are miracles before they consent inwardly. Aus dem Alten Testament werden Belege dieser Sätze gewonnen und durch die Verachtung worin die heidnischen Priester gefallen waren sei zum guten Teile die Ausbreitung des Christentums im Römischen Reich zu erklären. In entsprechender Weise auch der Abfall von der römischen Kirche in England und anderen christlichen Ländern. – Übrigens seien unter den Punkten, die die Kirche von Rom für notwendig zum Heile erkläre sehr viele offenbar zum Vorteil des Papstes und seiner geistlichen Untertanen. Viele Beispiele werden dafür gegeben. „So that I may attribute all the changes of religion in the world to one an the same cause that is unpleasing priests; and those not only amongst Catholics but even in that church that has presumed most of reformation. Die unmittelbare Anwendung dieser Theorie geschieht hier freilich nicht, aber sie lag für den Denkenden nahe genug und vorausgegangen ist schon in einem früheren Kap. der gewichtige Satz: fear of power invisible feigned by the mind, or imagined from tales publicly allowed religion; not allowed superstition, der freilich durch den Zusatz gemildert wird wenn die eingebildete Macht in Wahrheit solche sei, wie wir sie einbilden, so sei es wahre Religion. [28] Auch hier ist Hobbes beflissen gewesen sich zu decken, aber er gewann den Mut, rücksichtslos gegen das gesamte Kirchenwesen vorzugehen. Die ganze Wucht des Angriffes gilt naturgemäss der Römischen Kirche und dem Papsttum, aber er polemisiert nicht nur gegen den ultramontanen Autor Bellarmini sondern nicht minder energisch gegen den Kalvinisten Beza und die Ansprüche der Presbyterianer ganz so wie der Papst ein vom bürgerlichen Gemeinwesen unabhängiges Kirchenregiment in Anspruch zu nehmen. Seine Untersuchung gilt vorzugsweise der Bedeutung aller

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Endlich 4. zum Zeugnis: Ziffer 3. fehlt inwardly: Vgl. Hobbes 1839: vol. III, part I, chap. XII, S. 10. reformation: Vgl. ebd.: 109. Ende des Zitats ohne Abführungszeichen. superstition: Vgl. ebd. (chap. VI, S. 45). Beza: Gemeint ist Theodor de Bèze.

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jener Worte in der Heiligen Schrift, deren falsche Auslegung er für die Gründe aller solcher Ansprüche verantwortlich macht. In diesem Sinne untersucht er die Bedeutung von Geist Engel, Inspiration, heilig, geweiht, Sakrament, des ewigen Lebens der Hölle des Heiles, der zukünftigen Welt und der Erlösung, endlich des Wortes Kirche. Dazwischen wird noch das Wort Gottes, Prophetentum erläutert, werden auch die Wunder und ihr Gebrauch aufs neue kritisch betrachtet. Die schon dargestellten heterodoxen Lehren treten in verschiedenen Variationen von neuem auf. Überall wird die Verneinung des Daseins einer vom Leibe getrennten Seele, der Ursache alles Geister und Gespensterglaubens in ihre mannigfachen Gestalten und Schlupfwinkel verfolgt. Hier tritt nun auch die Folgerung aus dem Satze dass der sogenannte Geist entweder eine dünne körperliche Wesenheit oder ein Gespenst, ein Idol, ein Phantasma, eine Einbildung bedeute, viel bestimmter auf. Und neben der Hinweisung auf die Leichtgläubigkeit von Menschen, die der Gesetzmässigkeit der Naturvorgänge unkundig sind, fehlt es nicht an Hinweisungen auf die Neigung zu Lug und Trug, die solche Leichtgläubigkeit sich zunutze mache. Insbesondere erregt die Berufung auf Träume, in denen Gott sich angeblich offenbart [29] habe, gerechten Verdacht. To say that he has spoken to him in a dream is no more than to say he dreamed that God spake to him which is not of force to win believe from any man that knows dreams are for the most part natural and may proceed from former thoughts; and such dreams as that from self-conceit, and foolish arrogance, in false opinion of a man’s own godliness or other virtue by which he thinks he has merited that favour of extraordinary relation. Hier tritt nun auch – zum ersten male soviel ich sehe – der Versuch einer Erklärung solcher angeblichen Offenbarungen durch einen Zustand zwischen Schlaf und Wachen auf: for in such manner a man does many times naturally take his dreams for a vision as not having well observed his own slumbering. Ähnlich sei es mit angeblicher übernatürlicher Inspiration: dazu genüge schon ein glühender Wunsch zu reden oder eine starke Meinung, die einer von sich selber hege. „So that though God almighty can speak to a man by dreams visions voice and inspiration yet he obliges no man to believe he has so done to him that pretends it; who being a man may err, and, which is more, may lie. In diesem Sinne wird noch über Taschenspielkünstler, Bauchredner, wird über 25 29 34

relation: Vgl. Hobbes 1839: vol. III, part III, chap. XXXII, S. 361. slumbering: Vgl. ebd.: 362. may lie: Vgl. ebd.

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Wundertum nach Verabredung, über etwaniges zufälliges Voraussagen einer Sonnenfinsternis ehe man wusste dass es eine wissenschaftliche Erkenntnis davon gibt – da hätte so einer offenbar als Wundermann gegolten. Alle Anklagen dieser Art treten verschärft und gesteigert auf im letzten Abschnitte des Werkes der das Reich der Finsternis betitelt ist. Es sei ein Wahn zu meinen, dass nur unter Nichtchristen die Finsternis herrscht. In Wahrheit seien fast seit der Zeit der Apostel die einen Christen immer von den anderen verdrängt und verstossen. Both [30] by foreign and civil war, such stumbling at every little aspirity of their own fortune, and every little eminence of that of other men and such diversity of ways in running to the sam mark felicity, if it be not night amongst us or at least a mist? We are therefore yet in the dark. In vierfacher Weise habe der Feind in dieser Finsternis das Unkraut geistiger Irrtümer ausgesät. Die ist das Thema, das dann noch besonders ausgebaut wird in dem Kapitel über Dämonologie und andere Reste der heidnischen Religion: ein Kapitel, das mit dem Satze schliesst: wer danach forsche, würde sicherlich finden „many more of these old empty bottles of gentilism, which the doctors of the Roman Church […] have filled up again with a new wine of Christianity that will not fail in time to break them. Es folgt dann noch ein fast leidenschaftliches Kapitel über die Finsternis die aus eitler Philosophie und aus fabelhaften Traditionen folge, endlich wird im letzten Kapitel dieses Abschn. und damit der Substanz des Buches die Frage cui bono? aufgeworfen und darin das Papsttum mit einem Feenreiche verglichen zuletzt dann auf die Reformation bezug genommen „but who knows that this spirit of Rome now gone out, and walking by missions through the dry places of China Japan and the Indies that yield him little fruit, may not return, or rather an assembly of sprits worse than he enter, and inhabit this clean swept house, and make the end thereof worse than the beginning? For it is not the Roman clergy only that pretends the kingdom of God to be of this world and thereby to have a power therein destinct from that of the civil state. An dieser Stelle spricht Hobbes unverhohlen aus, dass er bei aller auch in diesem Werke oft betonten Missbilligung der Rebellion, doch mit ihren Folgen nicht unzufrieden ist, ja seine Hoffnungen an den dadurch er[31]zielten Fortschritt knüpft – Hoffnungen, die sich dann besonders auf eine gründliche Reform 2 12 18 19 30

Sonnenfinsternis: Zu ergänzen ist: geredet. in the dark: Vgl. Hobbes 1839: vol. III, part IV, chap. XLIV, S. 604. […]: Nach Hobbes zu ergänzen: either by negligence or ambition. to break them: Vgl. ebd. (chap. XLV, S. 663). the civil state: Vgl. ebd. (chap. XLVII, S. 700).

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der Universitäten und ihrer Befreiung von kirchlichen Einflüssen richteten. Es sind sonst nur schwache aber doch deutliche Spuren davon erhalten, dass der Philosoph jahrlang diese Hoffnungen gehegt hat und wenn er auch vielleicht nicht geneigt war in seinem fortgeschrittenen Alter selber noch Lehrtätigkeit auszuüben, doch gewünscht und für möglich gehalten hat, dass seine wissenschaftliche Lehre von Staat und Kirche in den Universitäten siegreich durchdringe und den theologischen Spuk verdränge. Merkwürdig ist in dieser Beziehung noch ein längerer Passus dieses letzten Kapitels, worin er das ganze kirchliche System als ein künstliches Gewebe darstellt, das in derselben aber umgekehrten Folge wie es gemacht wurde auch wieder aufgetrennt werde. Drei Knoten seien geschlagen worden: der erste durch die Apostel und ihre Tugenden, der zweite durch die Presbyter und die Bischöfe, die zuerst die Freiheit der Christen in Knoten schlugen, endlich dadurch dass der Bischof von Rom Autorität über alle anderen Bischöfe sich anmasste, sei der dritte und letzte Knoten geschlagen worden und die ganze Synthesis und Konstruktion der kirchlichen Macht. Aber die Auflösung die Analysis ist denselben Weg gegangen, sie fängt an mit dem zuletzt geschlagenen Knoten der päpstlichen Macht, obwohl die Bischöfe vermeintlich ihre Gewalt kraft unmittelbaren Rechtes von Gott ableiteten. „After this the presbyterians lately in England obtained the putting down of episcopacy: and so was the second knot dissolved. And almost at the same time the power was taken also from the presbyterians: and so we are reduced to the independancy of the primitive christians, to follow Paul or Cephas or Apollos, every man as he likes best: which if it be without contention [32] and without mesuring the doctrine of Christ, by our affection to the person of his minister … is perhaps the best. Diese Schätzung, wodurch also Hobbes ausdrücklich seine entschiedene Sympathie mit den Independenten, zu denen ja Cromwell gehörte ausspricht, begründet er noch eingehend damit 1. es sollte keine Macht über die Gewissen der Menschen geben ausser der des Wortes selber, 2. weil es unvernünftig sei bei denen, die da lehren, dass in jedem kleinen Irrtum grosse Gefahr sei von einem Menschen der mit eigener Vernunft begabt sei zu verlangen, dass er der Vernunft eines anderen Menschen oder einer Mehrheit von solchen folgen solle, was wenig besser sei als seine Seligkeit auf ein Spiel von Kreuz und Feil zu riskieren. Endlich sollten solche Lehrer selber zufrieden sein mit 26 26 34

of his minister …: Im Original drei Punkte für ausgefallene Textstelle. perhaps the best: Vgl. Hobbes 1839: vol. III, part IV, chap. XLVII, S. 696. Kreuz und Feil: redensartlich. Sinn nicht ermittelt.

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diesem Verlust ihrer ehemaligen Autorität for their is none should known better than they that power is reserved by the same virtues by which it is acquired; that is to say by wisdom humility clearness of doctrine; and sincerity of conversation; and not by supression of the natural sciences and of the morality of natural reason; nor by obscure language; nor by arrogating to themselves more knowledge than they make appear; nor by pious frauds; nor by such other fault as in the pastors of God’s church are not only faults that also scandels apt to make men stumble one time or other upon the suppression of their authority. [33] Die kühnen und paradoxen Neuerungen theologischer Kritik, die im Leviathan auffielen, haben bekanntlich viele gegnerische Federn in Bewegung gesetzt: unter den theologischen dürfte die schon erwähnte Schrift des Bischofs Bramhall die wichtigste sein. Merkwürdiger noch ist es, dass ein Nichttheologe der freilich als Staatsmann ein Vorkämpfer der Kirche von England war Edward Earl of Clarendon, der als Edward Hyde mit Hobbes zusammen in Magdalen Hall studiert hat, noch im Jahre 1674 eine Anklage grossen Stiles unter dem Titel herausgab A brief view and Survey of the dangerous and pernicious errors to Church and State in Mister Hobbes’s book entitled Leviathan von 322 Seiten. Die Schrift ist dem König Karl II. gewidmet. Clarendon lebte in der Verbannung in Frankreich und will offenbar durch dieses Werk die Gunst des Königs wiedergewinnen. Man wird aus dem Buch am besten lernen, welche Stücke der Hobbesischen Doktrin den schwersten Anstoss erregten: unter den rein theologischen Sätzen dürfte es die Lehre von der Trinität sein, unter den philosophischen diejenige von der natürlichen Sterblichkeit der Seele mit dem Körper, die für Hobbes sich von selbst versteht, weil es eine unkörperliche und vom Leibe getrennte Seele nicht gebe. Er sucht diesen Unglauben gewissermassen theologisch wieder gut zu machen, dadurch dass er sagt, es sei eine notwendige Folgerung aus Gottes Allmacht anzunehmen, dass er, wenn es ihm beliebe jederzeit einen Toten wieder erwecken könne und dass dies in der Verheissung des Jüngsten Tages und des dann beginnenden Gottesreiches enthalten sei. [34] In der Zeit des Common-Wealth sind dann auch die beiden ersten Teile des lateinischen Systems: De Corpore und De Homine vollendet worden. In diesen überwiegt die Doktrin und die Polemik tritt zurück. Dennoch aber lässt der Philosoph sich die Gelegenheit nicht entgehen, seine Anklage gegen 9 19

of their authority: Vgl. Hobbes 1839: vol. III, part IV, chap. XLVII, S. 697. Leviathan: Vgl. Hyde 1674.

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die Theologie zu erneuern nachdem er in seiner Widmungsepistel ein grosses Bekenntnis zur neuen Wissenschaft der Astronomie des Kopernikus, der Mechanik Galileis, der Physiologie Harveys und nachdem er als Nachfolger dieser Grössen Kepler, Gassend und Mersenne aber auch das Kollegium der Ärzte in London gerühmt hat, spricht er von der Philosophie der alten Griechen geringschätzig „there walked in old Greece a certain phantasm for superficial gravity though full within of fraught and filth a little like philosophy; which unwary men, thinking to be it, adhered to the professors of it, some to one some to another through they diesagreed among themselves … Den ersten Doctores der Kirche nach den Aposteln sei die Vermischung der Ansichten heidnischer Philosophen mit den Lehren der Heiligen Schrift zur Last zu legen: sie hätten die Feinde hereingelassen und so die Burg des Christentums verraten: From that time instead of the worship of God there entered a thing called school divinity walking on one foot firmly which is the Holy Scripture but halted on the other rotten foot which the apostel Paul called vain and might have called pernicious philosophy … It is like that ampusa in the Athenian common poet which was taken in Athen for a ghost that changed shapes having one brazen leg but the other was the leg of an ass an was sent as was believed by Hekate as a sign of some approaching evil fortune. Against this Empusa I think there cannot be invented a better exorcism than to distinguish [35] between the rules of religion that is rules of honouring God which we have from the laws and the rules of philosophy that is the opinions of private men; and to yield what is dur to religion to the holy scripture, and what is due to philosophy to natural reason. – Die Lehre vom Körper lässt sich auch in dem Kap. über die Welt und Sterne auf so etwas wie einen kosmologischen Beweis für das Dasein Gottes ein; wenngleich er alle Fragen von dem Unendlichen und Ewigen der Religion und der Schrift überlässt, so lässt er doch zu, dass daraus dass nichts sich selbst bewegen kann richtig geschlossen werde, es müsse ein primum movens geben, das ewig sei, es folge aber nicht was man zu folgern pflege ein ewiges unbewegliches, sondern im Gegenteil ewige Bewegung und es fehlt nur die These, dass eben die ewige Bewegung das sei, was man als Gott verstehen wolle. Der Schluss des ersten Kapitels von De Homine klingt ebenso ein wenig an den physico-teleologischen Beweis an, wenn er am Schluss des ersten Kapitels 4 10 25 27

Gassend: Gemeint ist Pierre Gassendi. themselves …: Drei Punkte im Original. Vgl. Hobbes 1839: vol. I, part IX. to natural reason: Vgl. ebd.: part X / XI. ein;: Semikolon fehlt im Original.

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von De Homine sagt, er müsse das Studium des körperlichen Menschen anderen überlassen „qui si machinas omnes tum generationis tum nutritionis satis perspexerint, nec tamen eas a mente aliqua conditas ordinatasque at sua quasque officia viderint ipsi profecto sine mente esse censendi sunt. Auch hier ist wie im Leviathan ein besonderes Kapitel der Religion gewidmet, das sich vorzugsweise mit den verschiedenen Arten des Kultus beschäftigt und von vorneherein den Begriff der Religion dahin bestimmt, sie sei der äussere Kultus, den Menschen die Gott aufrichtig ehren ihm widmen. Bemerkenswert ist, wie er hier auch auf die Frage zurückkommt, wodurch Religionen verändert würden. Es seien zwei Ursachen, die beide bei den Priestern liegen: 1. Dogmata absurda; 2. religioni quam docent contrari mores. [36] Die Erörterung der ersten Ursache bringt ihn auf den berühmt gewordenen Satz: paulatim eruditur vulgur, et verborum quibus utitur tandem aliquando vim intelligit“.

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esse censendi sunt: Vgl. Hobbes 1839 / 45: caput I, 4, S. 6. contrari mores: Vgl. ebd. (caput XIV, 13, S. 128). vim intelligit: Vgl. ebd. – Unvollständig gesetzte Ab- bzw. Anführungszeichen im Original.

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Ich bin seit 40 Jahren Soziologe (Theoretiker) und habe über das „Eigentum“ meine Anschaung öfter bekannt gegeben, sie ist jener der beiden trefflichen Männer nahe verwandt, es ist aber an dieser Stelle nicht möglich sich darüber zu verbreiten. Ich will nun eine andere hohe Autorität für das Recht der Enteignung ins Gefecht führen, diejenige Immanuel Kants. Seine Ausführung in der 1797 erschienenen Rechtsphilosophie („Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“) beruht darauf, daß Jahrhunderte lang, besonders aber während der letzten Jahrhunderte seit der Reformation, trotz der seitdem vorwaltenden individualistischen Begründung des Privateigentums, aber auch im Zusammenhang mit ihr, eine umfassende Enteignung stattgefunden hat, nämlich die „Saekularisierung“ des Bodeneigentums, das der Kirche und besonders den Klöstern gehörte; und zwar geschah dies wegen der behaupteten volkswirtschaftlichen Unzweckmässigkeit der „Toten Hand“, die nicht zulasse, daß das Grundeigentum seinen Weg zum tauglichsten Wirt finde. Ob die tote Hand immer so unnütz war, wie man meinte, lasse ich dahingestellt. Das oft wiederholte Wort „Unterm Krummstab ist gut wohnen“ spricht dagegen. Tatsache ist aber, daß die vorwaltende Meinung sehr ungünstig über die tote Hand urteilte; und sie hatte ohne Zweifel starke Gründe dafür. Kant war als Königsberger besonders aufmerksam auf die Güter des deutschen Ordens, an dessen Spitze die „Komturen“ standen. So sagt er: „Die Comtureyen auf der einen, die Kirchengüter auf der anderen Seite,

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[Über Eigentum und Enteignung]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:112. – Typoskript in 4°, 2 S. mit eigenh. Korrekturen. Dem Text ist eine Überschrift „Nordische HeimstättenTagung“ vorgeschaltet, was den Schluss nahe legt, dass das Typoskript vom Büro des Norddeutschen Heimstättentages angefertigt worden ist, der am 7. 11. 1929 in Kiel tagte. Der Text wäre demnach Tönnies’ Beitrag auf der Tagung 1929. Näheres im Editorischen Bericht S. 640f. meine Anschauung: Vgl. insb. Tönnies 1926 (TG 17). beiden trefflichen Männer: Das sind Adolph Wagner und Friedrich Naumann. „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“: D. i. der erste Teil von Kants „Die Metaphysik der Sitten“. „Toten Hand“: Beschränkung über die Verfügensgewalt über kirchliches Vermögen.

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können, wenn die öffentliche Meinung (über die Zwecke [2] wodurch sie früher gerechtfertigt schienen) aufgehört hat, ohne Bedenken aufgehoben werden. Die so hier in die Reform fallen, können nicht klagen, daß ihnen ihr Eigentum genommen wurde; denn der Grund ihres bisherigen Besitzes lag nur in der Volksmeinung, und mußte auch so lange diese fortwährte, gelten. Sobald dies aber erlosch, so mußte gleichsam als durch eine Appellation des Volkes an den Staat, das vermeintliche Eigentum aufhören.“ Kant hebt auch als Prinzip das Obereigentum des Volkes oder in seinem Auftrage des Staates und etwa (in dessen Namen) des Königs nachdrücklich hervor. In der Tat muß man sich nur einmal die Konsequenzen des absoluten Eigentums deutlich machen. Stellen wir uns vor, ein amerikanischer Milliardär liesse sich in Deutschland naturalisisieren – vielleicht würde man ihm sonst verwehren, Grundeigentum zu erwerben. Er nenne 1000 Millionen Dollars = 4200 Millionen RM sein eigen. Ich vermute, er würde 200 Millionen etwa in Actien von Elektrizitätswerken, die ja ohnehin in amerikanische Hände übergehen, anlegen, um mit dem Jahreseinkommen von 20 Millionen =10%, gemächlich zu leben. Für die 4000 Millionen kauft er um verhältnismäßig hohen Preis Bauerngüter groß und klein, auf. Sagen wir, das Gut koste ihm 50 000. Dann würde er 80 000 Bauernstellen verschwinden lassen und Latifundien zum Behuf seiner Herrschaft, die sich ja über Land und Leute erstrecken würde, herstellen. „Und ein solches Eigentum soll uns heilig sein“? Nein, es ist das Unheiligste, was man sich denken kann. Der Milliardär wäre zwar nicht Güterschlächter, sondern „Güterfresser“. Dieser überspannte Eigentumsbegriff ist mit dem Volkswohl schlechthin unvereinbar, er muß vertilgt und unmöglich gemacht werden. 7

„… Eigentum aufhören.“: Vgl. Kant 1922: 131 (Kap. „Das Staatsrecht“): „Die Komptureien auf einer, die Kirchengüter auf der anderen Seite können, wenn die öffentliche Meinung wegen der Mittel, durch die Kriegsehre den Staat wider die Lauigkeit in Verteidigung desselben zu schützen, oder die Menschen in demselben durch Seelmessen, Gebete und eine Menge zu bestellender Seelsorger, um sie vor dem ewigen Feuer zu bewahren, anzutreiben, aufgehört hat, ohne Bedenken (doch unter der vorgenannten Bedingung) aufgehoben werden. Die, so hier in die Reform fallen, können nicht klagen, daß ihnen ihr Eigentum genommen werde; denn der Grund ihres bisherigen Besitzes lag nur in der Volksmeinung und mußte auch, so lange diese fortwährte, gelten. Sobald diese aber erlosch, und zwar auch nur in dem Urteil derjenigen, welche auf Leitung desselben durch ihr Verdienst den größten Anspruch haben, so mußte, gleichsam als durch eine Appellation desselben an den Staat (a rege male informatu ad regem melius informandum), das vermeinte Eigentum aufhören“.

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[Hobbes] Rundfunk-Vortrag 1929

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Das 17. Jahrhundert entwickelte die grosse Wendung der Weltanschauung, die bis heute fortwirkt, und ferner wirken wird. Das 16. hatte durch den schweren Konflikt zwischen der alten und den neuen Kirchen im Westen und Norden Europas aufregend vorgearbeitet. Dem 16. gehört aber auch die Grundlegung der Erkenntnis an, von der Goethe sagt, dass sie unter allen Entdeckungen und Überzeugungen wohl die größte Wirkung auf den menschlichen Geist hervorgebracht habe: Das ist die Lehre des Kopernikus. Durch sie fiel die naive Ansicht, die aber von der damaligen Gelehrsamkeit unterstützt wurde, dass die Erde im Mittelpunkt der Welt stehe. Der Kampf um ihre Richtigkeit und ihr Sieg sind Ereignisse, die das 17te Jahrhundert erfüllen. Die hervorragendsten Gestalten in der Schaffung des neuen Weltbildes sind der Italiener Galilei, der Deutsche Keppler, der Engländer Newton. Zwischen diesen [II] mächtigen Naturforschern bewegt sich die reformierte Philosophie, deren Hauptträger der Franzose René Descartes, der Engländer Thomas Hobbes, und im Gefolge der beiden der Holländische Israelit Benedictus Spinoza, endlich der Deutsche Gottfried Wilhelm Leibniz geworden sind. Hobbes, dessen grossen Namen Hass und

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Rundfunk-Vortrag 1929: Textnachweis: TN, Cb 54.34:73. – Manuskript (Handschrift Ernst Jurkat, mit Korrekturen und Ergänzungen von Ferdinand Tönnies), S. I−XVII, in 4°. Von diesem Manuskript ist eine vermutlich von Eduard Georg Jacoby angefertigte und dem Manuskript später beigefügte Maschinenabschrift vorhanden. Anlass der Textentstehung war ein Vortrag, den Tönnies am 4. Dezember 1929 am 250. Todestag des Thomas Hobbes im Deutschen Reichsrundfunk hielt. Er benutzte hierzu allerdings nicht das vorliegende Manuskript, sondern eine offensichtlich vom Reichsrundfunk redigierte Fassung, die – ohne inhaltlich einzugreifen – den Originaltext (wo nötig) in kürzere und einfachere Sätze umgestaltete. Diese redigierte Fassung befindet sich in TN unter Cb 54.34:22 und trägt die Überschrift „Thomas Hobbes. Der Mitgestalter des naturwissenschaftlichen Weltbildes, der Sozialpsychologe, der Begründer des rationalistischen Naturrechtes“. – Eine Anfrage der Herausgeber im Rundfunkarchiv Frankfurt am Main hat ergeben, dass sich der Vortrag dort nicht als Tondokument erhalten hat. von der Goethe sagt: Vgl. Goethe 1998: 14. Bd., 81 (Naturwissenschaftliche Schriften, 2. Teil, Geschichte der Farbenlehre).

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mangelhafte Einsicht verdunkelt haben, hat von seiner Jünglingszeit bis zu seinem Todestage, heute vor 250 Jahren, volle drei Viertel dieses großen kritischen Jahrhunderts durchlebt. Ich werde seine drei hochbedeutenden Verdienste darstellen: 1, um die allgemeine Weltanschauung, 2, um die Seelenlehre, 3, um die Rechts-Philosophie und Staatslehre. Er hat an der Gestaltung des Weltbildes mächtig mitgewirkt. Während Descartes Bedenken trug, hat er mit vollkommener Offenheit und Entschiedenheit zu Kopernik und dessen vornehmstem Ausleger Galilei sich bekannt. Er wurde auch Kepplers Verdiensten vollkommen gerecht. Er wusste die Leistung seines Landsmannes [III] des Arztes Harvey: die Entdeckung des doppelten Kreislaufes des Blutes im Säugetierkörper, vollauf zu würdigen. Er entwarf selber ein System das man heute zu den vier grössten Systemen rechnet, die das Jahrhundert auszeichnen – ein System, das man als Materialismus anzuklagen pflegt. Es ist materialistisch in dem Sinne, wie es die ganze moderne Naturwissenschaft ist, die nicht mehr durch Formen und Seelen das Wesen der materiellen Körper zu erklären meint, sondern die körperliche Materie in ihrem eigenen Wesen erforscht und die Kräfte ihrer Veränderung auf das eine grosse Prinzip der „Energie“ reduziert: Hobbes wie sein Rivale Descartes haben dies vorausgeahnt, wenn sie die lokale Bewegung als die Eine Ursache aller Veränderungen im Weltall wie im Organismus verkündeten. Das Problem, das jene [IV] Zeit so stark in Anspruch nahm, wie das seelische zum körperlichen Sein sich verhalte, liess Hobbes ungelöst; aber seine Gedanken gehen in die Richtung die, während er in hohem Greisenalter noch lebte, Spinoza gewiesen hat: Identität von Leib und Seele; und Höffding setzt des Hobbes grosse Bedeutung darin, dass er die Beschränkung der materialistischen Hypothese klar dargelegt habe. In Wahrheit ist es das System der geschlossenen Kausalität, das obschon in der neuesten Atomforschung angezweifelt, die ganze große Entwicklung der Naturwissenschaften diese 300 Jahre hindurch beherrscht und gefördert hat. In der Psychologie hat er, wie ebenfalls Höffding rühmt, mit seinem gewöhnlichen kräftigen Griff und seinem Blick für die großen elementaren Linien wertvolle Beiträge zum Verständnis des Seelenlebens gegeben hauptsächlich, füge ich hinzu, durch Begründung der Lehre von der IdeenAssoziation. Als wissenschaftlicher Denker hat er auch hier umgestaltend auf unsere Weltanschauung gewirkt: er lehrte, was damals noch paradox und in hohem Grade anstössig war, ja ihn in die Gefahr brachte, als Ketzer gerichtet zu werden (während es heute trivial geworden [V] ist – nur einzelne Schwarmgeister und Zauberkünstler bemühen sich immer aufs neue wieder-

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herzustellen, was zu Hobbes‘ Zeit noch die Überzeugung einer übergrossen Mehrheit war) – er lehrte, daß es keine Seele und keinen Geist in unkörperlichen Wesen gebe, also keine Geister- oder Gespenstererscheinungen: alles derartige sei Illusion, wenn es nicht durch Betrug und Lüge unterstützt werde. Hervorragende Schriftsteller, geistliche und weltliche traten zum Teil mit umfangreichen Bänden auf, um eine so schlimme und gefährliche Lehre zu widerlegen, zu vernichten. Sie sagten teils offen: das sei Atheismus teils erklärten sie: wenn man das Dasein unkörperlicher Substanzen leugne, so sei darin auch das Dasein Gottes so gut wie das des Teufels und der Engel mindestens sehr gefährdet. Ein zu jener Zeit gefeierter Schriftsteller sagte: die da nicht geradezu auszusprechen wagen: es gibt keinen [VI] Gott, begnügen sich zu behaupten, dass es keine Geister und keine Hexen gebe, das sei eben die Einleitung, der erste Schritt zur Gottesleugnung. In der Tat ist Hobbes ein Führer der Aufklärung, auch durch Bekämpfung des Gespenster-, Teufel- und Hexenglaubens geworden. Hobbes’ Psychologie gipfelt darin dass auch der menschliche freie Wille in den notwendigen Zusammenhang des Weltgeschehens gestellt wird – Hobbes ist der philosophische Begründer des Determinismus – sie geht auch in Sozialpsychologie über. Er wirft die Frage auf nach dem Ursprung des Aberglaubens und der Religion und er hält den alten Satz, dass die Furcht es ist, die die Götter gemacht hat, für ganz richtig in bezug auf die Heiden; anders verhalte es sich natürlich, wenn Gott selber eine Religion gemacht habe wie dies von den Christen geglaubt werde, die Gott fürchten, aber auch lieben wollen. Aber gut für christliche Gemeinden, wie für heidnische sei die Hauptsache der Religion der Kultus, [VII] die Art der Gottesverehrung, die notwendig den Arten der Menschenverehrung nachgebildet werde. Der Kultus ist etwas Äusserliches, er besteht in Zeremonien, diese müssen öffentlich sein, sie unterliegen daher der Gesetzgebung. Dies verhält sich ebenso mit den Meinungen über das Göttliche, also Übernatürliche. Der Glaube, daß Gott alles geschaffen habe und regiere, ist natürlich und vernünftig. Bezieht aber Glaube sich auf Dinge die über das Begreifen der Menschen hinausgehen, so ist er eine Meinung, die von der Autorität abhängig ist und darauf beruht. Wenn man also nicht vorher schon die Meinung hat, dass derjenige, welcher behauptet, dass er auf eine übernatürliche Weise wisse, was er sagt, so kann es keinen Grund geben, warum wir ihm glauben sollen. Folglich glauben wir in bezug auf übernatürliche Dinge niemanden, es sei denn wir glauben, dass einer vorher etwas [VIII] Übernatürliches getan hat. Wenn aber jemand sagt, das was er sagt oder lehrt sei durch Wunder bestätigt, wie kann er Glauben finden, wenn er nicht auch selber ein Wunder

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getan hat? Denn wenn einem Privatmann ohne Wunder geglaubt werden müßte, warum, wenn jeder etwas anderes lehrt, dem einem mehr als dem anderen? Schon wegen dieser Hilflosigkeit in der wir uns den einander widersprechenden Aussagen gegenüber befinden, muss in Fragen der Religion alles vom Gesetz, mithin vom Staat abhängen; daher ist Religion nicht Philosophie sondern Gesetz in jeglichem Gemeinwesen. Und deswegen ist nicht darüber zu streiten, sondern es muss erfüllt werden, was das Gesetz verlangt. Wenn man streitet, also Wissenschaft sucht wo es Wissenschaft nicht geben kann, zerstört man den Glauben an Gott, denn wo es Wissen gibt, hört der Glaube auf, wie beim Genuss die Hoffnung. Die Menschen wünschen inbrünstig die Zukunft zu erkennen, [IX] Furcht und Hoffnung beherrschen sie, daher der Wahn, dass in den Sternen das Schicksal eines Menschen zu lesen sei, die Astrologie, die nicht Wissenschaft ist, sondern eine Kriegslist derer die ihr Leben dadurch fristen wollen, dass sie mit ihrer vermeintlichen Weisheit das törichte Volk ausbeuten. Ebenso muss man urteilen über diejenigen, die ohne ein Wunder getan zu haben, sich für Propheten ausgeben. Dass Träumende ihre Träume ohne ein Wunder zu tun, für Vorbedeutungen der Zukunft halten, ist Dummheit; dass sie verlangen, man solle ihnen glauben, ist Wahnsinn, dass sie leichtfertig dem Gemeinwesen Unheil voraussagen Verbrechen. Wenn die Hexen, dem Glauben der großen Menge nach, denen schaden, denen sie übel wollen, so ist das nicht wahr, aber wenn das Unheil, das sie heraufbeschwören, ein[X]trifft, wie sie es wünschen, dann wähnen sie selber, dass auf ihre Gebete der Teufel, mit dem sie im Traume ihren Bund geschlossen haben, jenes Unheil verursachte und bekennen zuweilen, dass sie selber es verursacht haben. Sie wissen also nicht die Zukunft, sondern hoffen, das was sie wünschen, werde eintreffen. Und doch werden sie sowohl wegen ihres Willens zu schaden, als wegen ihres nichtswürdigen Kultus nicht unverdientermassen bestraft. – Oft trägt der Philosoph seine Lehre vor, dass der Wahnglaube der Menschen durch Träume genährt werde; besonders durch die Träume in einem Zustande zwischen Schlaf und Wachen. Kaum bekannt scheinen ihm die Erscheinungen der Epilepsie gewesen zu sein. Dass auch zweifellos Geisteskranke oft für Propheten gehalten worden sind, und werden, ist heute bekannt genug. [XI] Hobbes hat, wie für seine Zeit sich von selbst versteht, niemals das Dasein Gottes geleugnet, vielmehr dessen Anerkennung als das Hauptstück der natürlichen Religion dargestellt – den Begriff hatte vor ihm sein Freund 37

natürlichen Religion: Vgl. oben S. 303 sowie „Neue Botschaft“ (S. 3−75) und Herbert (1966 u. 1663).

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Lord Herbert von Cherbury entworfen. Aber Hobbes betont oft, ausser dem Sein könne man nichts von einem so schlechthin unbegreiflichen Wesen aussagen. Alle Eigenschaften, die man ihm zuschreibe, hätten ausschliesslich den Sinn, zu ehren. Daher können die Prädikate nur negative, superlative oder unbestimmte sein. Im negativen Sinne spricht er selber Gott die Eigenschaft des Geistes ab, weil es eben unkörperliche Substanzen nicht geben könne; allenfalls möge man ihn als einen reinsten und einfachsten körperlichen Geist denken. In einer späteren Schrift, die erst nach seinem Tode bekannt wurde, sagt er: wenn man den Begriff des Universums bilde, als der Gesamtheit aller Dinge, die ein Sein an sich selber haben, so müsse Gott entweder das ganze Universum sein oder ein Teil von ihm. Es kann kaum zweifelhaft sein dass seine eigene Meinung war, nur das erstere sei richtig. III. Am tiefsten und nachhaltigsten hat aber dieser Philosoph gewirkt durch seine Rechts- und Staatslehre, wir würden heute sagen als Soziologe. Er trat als ein vollkommener Neuerer in diesem Gebiete auf und wurde der Begründer des rationalistischen Naturrechts, das von dem bis dahin gelehrten Naturrecht eben durch seinen rationalistischen d. h. untheologischen Charakter sich unterscheidet. Die theologische Form war und [XII) ist noch heute als katholisch-christliche Denkweise, diejenige in der die gelehrte Auffassung des Wesens gemeinschaftlicher Verhältnisse gedacht wird und begründet werden soll. Hobbes kennt als Denker nur gesellschaftliche Verhältnisse, die aus den isolierten Individuen hervorgehen und nur durch Verträge sich rechtlich verbinden können. Darum stellt er als Kontrastgebilde der in Verträgen sich kristallisierenden Kultur, den Naturzustand den Menschen als einen Kriegszustand entgegen und zwar folgerichtig als den Krieg aller gegen alle. Prinzipiell und vollständig aufgehoben könne dieser nur dadurch werden, dass die Menschen vertragsmässig einen künstlichen Menschen oder eine fingierte kollektive Person schaffen, den Staat. Dieser bedeutet einheitlichen Willen aller, unbedingte Autorität und Gewalt – ihrem notwendigen Wesen nach einheitlich, die Souveränität muss ihren Sitz in einem Monarchen oder in einer Ratsver[XIII]sammlung haben. Hobbes gibt für seine Person der Monarchie den Vorzug, betont aber dass dieser Vorzug nicht beweisbar, daher auch kein Stück der strengen Lehre sei. Als ein Ungeheuer stellt er den Staat vor, einen Leviathan wie ihn Hiob schildert: „wenn er sich erhebet, so entsetzen sich die Starken

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III.: Anfangs als „3,“ geplant; 1, und 2, wurden im Text nicht neu gekennzeichnet.

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und wenn er losbricht so ist keine Gnade da – auf Erden ist ihm niemand zu gleichen, er ist gemacht ohne Furcht zu sein“. Dem Souverän gehört in erster Linie die Streitenscheidung in anderer die Aufstellung von Normen dafür oder die Gesetzgebung; in dritter die Vollziehung der richterlichen Erkenntnisse durch Zwang. Die drei Gewalten müssen in einem einzigen Willen vereinigt sein, wenngleich dieser aus politischen Gründen die abhängigen Träger der drei Gewalten voneinander scheiden mag. Die Staatsgewalt erstreckt sich zwar nicht über die Gedanken der Menschen, wohl aber über deren Kundgebung, daher auch über den öffentlichen Gottesdienst, die Religion. – Hobbes hat wie der bedeutende deutsche Staatsrechtslehrer Georg Jellinek anerkennt, den Begriff des modernen Staates geschaffen, in dem er ihn als einheitliche Persönlichkeit erfasst. Ebenso hat Otto Gierke stark hervorgehoben, dass die zu Hobbes Zeit geltende Lehre eine nach [XIV] rückwärts abschliessende und nach vorwärts grundlegende Gestalt durch die radikale Kühnheit und scharfe Folgerichtigkeit dieses Denkers erhalten hat. Gleichwohl wird in 100 Lehrbüchern der Irrtum wiederholt, der Begründer des modernen Naturrechts und allgemeinen Staatsrechts sei Hugo Grotius, dessen Verdienste um das Völkerrecht besonders um dessen Gestaltung im Kriege unanfechtbar sind, der aber in betreff des Naturrechts noch auf dem Boden des civilistisch-kanonistischen Systems sich bewegt hat. Es ist geboten, die Grundsätze der hobbesischen Staatslehre auch auf das Verhältnis der Staaten zu einander anzuwenden und er selber fordert dies, wenn er sagt: das Naturrecht ist auch das Völkerrecht – Völkerrecht verstanden als ein System von Grundsätzen die den Kriegszustand verneinen, und einen dauernden Friedenszustand begründen wollen. Was der Naturzustand des Menschen in der Konstruktion das ist der Naturzustand der Staaten in der Erfahrung: Krieg eines jeden gegen jeden anderen wenn nicht nur wirklicher, so doch immer möglicher – das Völkerrecht die Grundlage seiner Aufhebung die erst ein Weltstaat oder Weltreich vollenden könnte. Ganz im gleichen Sinne will Kant der viel von Hobbes übernommen hat seinen Grundsatz das Völkerrecht solle auf einen Föderalismus freier Staaten gegründet sein, durch den Vergleich mit dem Übergang des Einzelmenschen aus dem gesetzlosen Natur- in den bürgerlichen Zustand empfehlen wie

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„… ohne Furcht zu sein“: Vgl. AT, Hiob 41, 17; 21. des civilistisch-kanonistischen Systems: Naturrechtstheorien, die dem sogenannten ‚rationalistischen Naturrecht‘ vorausgehen, das nach Tönnies’ Auffassung von Thomas Hobbes begründet wurde.

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er ja auch in seiner Rechtsphilosophie einen allgemeinen Staatsverein als letztes Ziel des ganzen Völkerrechts hinstellt. Man stellt seine Staatslehre wohl dar, als ob ihr eigentlicher Inhalt die Verkündung der absoluten Monarchie und der Kirche von England wäre, die man fälschlich die „Hochkirche“ nennt. [XVI] Für die Würdigung seiner gesamten Persönlichkeit haben mehr als die Geschichtsschreiber der Philosophie zwei große Historiker geleistet. Der eine war Georg Grote, ein berühmter Engländer von deutscher Abstammung, dessen Geschichte Griechenlands noch heute als ein monumentales Werk seinen Rang behauptet. Grote schrieb im Jahre 1839, indem er die Vernachlässigung anklagte, die einem so eminenten Denker wie Hobbes in England zuteil werde und dem intellektuellen Charakter der Nation keine Ehre mache. Seine philosophische Bedeutung sei viel grösser als die des gefeierten Lord Bacon: in allen Qualitäten die den philosophischen Forscher machen, sei die Überlegenheit des Hobbes über Bacon durchaus entschieden und unfraglich. Grote untersucht die Gründe der gerade in seinem Vaterlande obwaltenden Vorurteile gegen Hobbes: nicht nur durch seine Abweichung von überkommenen und volkstümlicher Denkweisen habe sein Ansehen als Philosoph gelitten, sondern haupt[XVI]sächlich dadurch, dass er machtvolle Menschenklassen gegen sich aufbrachte, insbesondere eine die man selten ungestraft kränke, die der Priester. Ebenso habe seine antioligarchische Tendenz dazu gewirkt ihn allen Oligarchen verhasst zu machen, denn er habe die Idee privilegierter Klassen verschmäht, es gab für ihn nur gleiche und freie Staatsbürger. – Der andere Richter, den ich anrufe, ist unser Leopold Ranke. Er nennt Hobbes den Philosophen der Epoche – jener Epoche, die in Gross-Britannien durch die puritanische Rebellion, die Republik, das Protektorat Cromwells und die kurzlebige Restauration der Stuarts bezeichnet wird. Er charakterisiert ihn mit gewohnter Meisterschaft als den Philosophen, dessen Stärke bestehe in der Bestimmtheit seiner Definitionen, der Schärfe seiner [XVII] Schlüsse, der zwingenden Folgerichtigkeit seines Gedankenwerkes. Ihm verschwinde der einzelne vor der Gesamtheit, die Freiheit vor der Notwendigkeit, die subjektive Moral vor dem objektiven Gesetz. Wenn man ihn liest, sagt Ranke, kann man sich eines großen Eindruckes nicht erwehren; er ist tief und kühn, markig, herbe und selbst schrecklich. Hobbes 9

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Geschichte Griechenlands: Vgl. Grote 1846 / 1856. – Erste Auflage des Werks, daher dürfte Tönnies’ Jahresangabe ein Versehen sein. Protektorat: 1649−1658; s. a. oben S. 242 (Anmerkung).

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gehört den großen Agonien des 17. Jahrhunderts an – Locke – dessen Wert erscheint ihm wie allen wirklichen Kennern als viel geringer – sei einer der vornehmsten Vorläufer und Begründer des 18., dessen Geist in philosophischer Hinsicht die Aufweichung und Verdünnung der großen Gedankenmasse ist, die im 17. geschaffen wurde. Die geehrten Hörer, die mehr über den grossen Mann erfahren wollen, verweise ich – ausser auf die neueren Geschichten der Philosophie, besonders Höffdings und Vorländers, auf meine Monographie Hobbes Leben und Lehre (Frommann Verlag – Stuttgart) und auf die deutsche Übersetzung „Hobbes Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen“ (Verlag Reimar Hobbing) –

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Agonien: Hier gemeint im Sinne von Gelehrtenkämpfen. die im 17. geschaffen wurde: Vgl. Ranke 1955: 744 u. 751 f. verweise ich: Vgl. Höffding 1907 u. 1895; Vorländer 1903, Tönnies 1896 u. 1926a.

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Die von Molière’s scharf geschliffenem Geist geschaffene Gestalt wird uns neuerdings durch das hübsche Lustspiel Karl Gutzkows im „Urbild des Tartuffe“ einmal wieder näher gebracht. Ihrem Wesen nach stellt sie einen Typus dar, von dem man sagen darf, daß er ewig ist. Es ist der Mensch, der sein wahres ungefälliges Antlitz hinter einer Maske verbirgt. Die Maske ist freilich durchaus keine wirkliche Maske, die als solche rasch erkannt würde: Sie besteht vielmehr in einem gewissen Betragen oder Gebahren das gleich einer Maske nach aussen hin einen gewissen Eindruck macht, von dem der so sich betragende Mensch erwartet, daß er ihm vorteilhaft sein werde; und in diesem Sinne kann man sagen, daß es verschiedene Grade der Kunst gibt, sein wahres Antlitz zu verbergen. Die Kunst ist umso schwieriger, je grösser der Unterschied zwischen dem wirklichen und dem scheinbaren Menschen, dem wahren Antlitz und der Maske, ist. Denn eine gewisse Schauspielerei wird sozusagen dem erwachsenen Menschen – wenn auch in verschiedener Weise – durch Gemeinschaft wie durch Gesellschaft auferlegt, durch die gesellschaftliche Konvention in der ausgesprochensten Weise, so daß kein geringerer als Kant in seiner „Anthropologie“ sagen kann, die Menschen seien insgesamt je zivilisierter, desto mehr Schauspieler. Aber mit Recht meint er, es werde niemand dadurch betrogen, weil jeder andere wisse, daß der Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit eben nicht herzlich gemeint sei. – In Wahrheit aber gibt es einen Grad dieses Spieles, der allerdings gefährlich ist, wenn nämlich der Akteur des Lebens wirklich es darauf anlegt und damit Erfolg hat, seine Mitmenschen allerdings zu betrügen, indem er die Rolle, sagen [2] wir, des Biedermannes so geschickt und täuschend spielt, daß er von einem arglosen Publikum wirklich dafür gehalten wird, natürlich am ehesten von Gutmütigen und etwas einfältigen Leuten.

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Tartuffe: Textnachweis: TN, CB 54.43:74. – Typoskript in 4°, 4 Seiten, mit eigenh. Korrekturen und Unterschrift „Ferdinand Tönnies“ am Ende des Textes. Entstanden etwa 1929 (ermittelt über die Angaben zu John Law am Textschluß). näher gebracht: Vgl. Gutzkow 1867; Molière 1747 [u. ö.]. Anthropologie: Vgl. Kant 1800: § 14.

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Von altersher wirksam ist in dieser Hinsicht die Gestalt des religiösen Biedermannes, und sie hat den Begriff der Heuchelei ernährt, aus dem der Typus des Tartuffe hervorgegangen ist. Im heutigen Leben aber ist dieser nicht mehr recht an der Zeit. Denn der Kredit der Frömmigkeit, also auch der scheinbaren ist nicht mehr der gleiche, der er einst gewesen ist, sodaß es jedenfalls viel seltener gelingt, durch diese Maske den eigenen Kredit so zu erhöhen, wie es in Molières klassischer Komödie dem Tartuffe bei dem reichen Orgon gelang. Andere Rollen wirken heute besser. So die Rolle des politischen Biedermannes, wenn er die Miene annimmt, von der er weiß oder doch Grund hat zu vermuten, daß sie etwa einer Wählerschaft, die er für sich gewinnen will, durchaus gefällt, während seine Absicht nur auf seinen eigenen Vorteil, seine Macht oder seine Herrschaft ausgeht und er im Grunde ganz anders denkt, etwa so, daß die Welt betrogen sein wolle, also betrogen werden müsse. Das Betrügerische dieses Systems ist nicht immer leicht zu erkennen, daher kann es lange dauern, bis es entlarvt wird. Es verrät sich am ehesten dadurch daß ein solcher Politiker und Redner heute so, morgen anders redet; daß er dem einen dies, dem andern jenes verspricht und in Aussicht stellt, auch wenn das eine das andere unmöglich macht oder sonst ein offenbarer und schreiender Widerspruch zwischen den Dingen, die gleichzeitig oder in unmittelbarer Folge aufeinander, – etwa an verschiedenen Orten vor einem Publikum von höherer und geringerer Bildung gemacht werden. Unter solchen Umständen ist es verhältnismässig leicht, die Verlogenheit und Nichtswürdigkeit solches Treibens zu enthüllen. Schwerer ist es freilich, nachzuweisen, [3] welcher Art seine Absicht, sein wahrer und eigener Zweck sei, den er mit seinen durchsichtigen Künsten zu erreichen hofft, und vor allem, welche Maske er wiederum später, nachdem er sein nächstes Ziel erreicht haben wird, anlegen werde, um eines ferneren Zieles sich zu versichern. Es ist leicht zu wissen, welchen allgemeinen Zweck er ins Auge gefaßt hat: Es ist nämlich immer derselbe ER, nämlich seine Bereicherung, seine Standeserhöhung, zumal, wenn er von bescheidener Herkunft ist und von brennendem Durste nach Glanz, Prunk, nach vertrautem Umgang mit Personen erfüllt ist, die ihm als göttergleich erscheinen, zumal wenn er, wie Persönlichkeiten dieser Art nicht selten sind, abergläubisch und unwissend, heute etwa lieber mit Astrologie, als mit Mathematik und mit Astronomie sich beschäftigt, lieber durch kartenlegende alte Frauen, als durch wissenschaftlich denkende Männer sich die Zukunft deuten lässt. Er wird dann vielleicht nachdem er mit dem einen, dem grossen Publikum verhältnismäßig leicht fertig geworden ist und von dessen Beifall sich getragen fühlt, doch nicht recht wissen, wie es

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ihm ergehen wird, wenn er so zu einem kleinen und erlesenen Publikum hingetragen wird, dem er von vorneherein fremd und unkundig gegenübersteht, und von dem er wenigstens soviel weiß, daß er ihm jedenfalls nicht in so ausgesprochener Weise überlegen ist, wie er jenem großen Publikum gegenüber sich bewährt hat. Ein solcher erlesener Kreis möchte etwa derjenige von Personen sein, die etwa mit dem hohen Range von Fürsten in der Welt sich bewegt oder sogar regiert oder doch zu regieren sich eingebildet haben – wie werden sie einen solchen Parvenu, einen im Grunde geistlosen Schau- und Taschenspieler empfangen – wird er, wenn er in eine solche Nähe kommt, ihnen imponieren? oder werden sie gar seiner sich schämen und ihn ebenso rasch in das Nichts eines dunklen Daseins zurückstossen, wie er daraus mit Ungestüm sich erhoben hat?[4] Das Publikum, sobald es dessen inne wird, wie beschaffen in Wirklichkeit das Individuum ist, von dem es sich vielleicht lang hat nasführen lassen, wird umso dringender wünschen, daß ein solches Individuum bald und so vollständig als möglich entlarvt werde. Es kann aber recht lange dauern, bis dies wirklich sich vollendet. Ist doch auch heute, nach zweihundert Jahren, das Urteil über John Law nicht einmütig abgeschlossen und entschieden, wird er doch von den Einen noch wie bei seinem ersten Auftreten für einen genialen, uneigennützigen Finanzkünstler, ja sozialen Reformator gehalten, – während die anderen in ihm nichts als „den gewissenlosen Spieler, den Spekulanten niedrigster Sorte“ – (HW. d. Staatsw. s. v. Law) erkennen. Wahrscheinlich stehen diese der Wahrheit viel näher als jene; und so in ähnlichen Fällen.

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Law: Vgl. Adler 1910: 420.

Hobbes und Spinoza

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Ihre Namen sind im 17. Jahrhundert bis ins 18te hinein oft zusammen genannt worden. Sie wurden von den Rechtgläubigen aller Richtungen mit heftigem Abscheu genannt, in der Regel als Atheisten, aber auch mit anderen Namen der Verachtung, so von dem englischen Theologen Clarke als Brutisten, was wohl anzeigen sollte, dass sie für Anwälte der rohen Materie (brute matter) galten. Aber auch von aufgeklärten Denkern, ja im Grossen und Ganzen von allen Hauptvertretern der Aufklärung wenigstens in England und Deutschland, wurde ihr Name mit Scheu genannt, als ob man sich dagegen wehren wollte, mit ihnen verwechselt zu werden. Zwar gedachte man des Hobbes als des Begründers der neueren rationalistischen Ansicht vom Naturrecht und vom vernünftigen oder natürlichen Staate oft, aber fast nur, um ihn zu widerlegen, und wenn man für ihn Partei nahm, so geschah es in dem Sinne, dass er als monarchischer Absolutist verstanden wurde, obschon er oft versichert hat, dass er von der absoluten Geltung des Staatswillens spreche, ob nun dieser durch eine natürliche Person oder durch eine kollektive Person (eine Versammlung) dargestellt werde; nur Wahrscheinlichkeitsgründe könne und wolle er dafür geltend machen, dass von ihm persönlich der Monarchie ein Vorzug gegeben werde. Spinoza hingegen galt als ein sehr paradoxer Metaphysiker, der aus der rechtschaffenen Schule des Cartesius hervorgegangen, dessen

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Hobbes und Spinoza: Textnachweis: TN, Cb 54.34:75. – Typoskript in 4°, 21 S., mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen von Tönnies. Um 1930 entstanden. Weiteres zur Textgeschichte und Textgestalt s. Editorischer Bericht S. 642f. Brutisten: Vgl. Clarke 1738. verwechselt zu werden: Am Rand eigenh. Zusatz: Dr. A. v. d. Linde führt in seiner Bibliographie (1871), ausser der unten besprochenen Schrift Kortholt’s und deren deutscher Übersetzung, und den Predigten Clarke’s, die auch in dessen sämtlichen Werken gedruckt seien, noch an (289): Traitté de la liberté de conscience ou de l’ Autorité des Souverains sur la religion des peuples. Opposé aux Maximes de Hobbes & Spinoza. 1687. 12mo. Ferner andere Ausgaben von Clarke’s Predigten, auch in französischer und holländischer Sprache (291−293), und die in Upsala gedruckte „historisch-philosophische Dissertation“ AQEOMASTIX von dem Schweden Morin (1709), die in § II Campanella § III Vanini IV Hobbes V Spinoza behandelt. Die übrigen Nummern sind neuere Schriften, s. u.

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Spuren frevelhaft verlassen habe, wofür man denn auch nicht ganz selten sein ursprüngliches Judentum verantwortlich machte, während andererseits [2] die Tatsache, dass die Synagoge ihn mit dem grossen Bannfluche ausgestossen hatte, als Verstärkung des Beweises für die Verworfenheit seiner Gesinnung in bezug auf die göttlichen Dinge geltend gemacht wurde. Freilich muss man hier immer des besonderen Verhältnisses eingedenk bleiben, worin Leibnizens Denken zu demjenigen des grossen Israeliten stand. Als Haupt der deutschen Aufklärung in ihrer ersten Phase, als sie noch sich in enger Fühlung mit der Theologie halten musste, um einen Platz in der Literatur zu erobern, war Leibnitz moralisch genötigt an der entschiedenen Verneinung eines für atheistisch geltenden Systemes teilnehmen. Es sind aber Spuren genug übrig geblieben, die verraten, dass er innerlich diesem System nicht so fremd, geschweige so feindlich gegenüberstand, wie es von aussen gesehen den Anschein hat. Schon Lessing hat bekanntlich darauf hingewiesen. Auch Hobbes galt wie gesagt als Atheist. Versteht sich, dass er ebensowenig wie Spinoza der ja Gott allein ein Dasein zuschrieb, das Dasein Gottes geleugnet hat. Aber die Art, in der er es behauptete, erregte Argwohn und Unwillen. Am schlimmsten war offenbar in dieser Hinsicht, dass er ihm einen Körper zuschrieb: denn dies verstiess gegen die allen Kirchen und Sekten gemeinsame Dogmatik. Auch betonte er in gar zu auffälliger Weise die völlige Unbegreiflichkeit dieses Wesens und dass alle Eigenschaften, die man ihm zuschreibe, ausschliesslich den Sinn haben, [3] ihn zu ehren und zu preisen; dass man [..] in Übereinstimmung mit der natürlichen Vernunft nur bleibe, wenn man ihn entweder negative oder superlativische oder unbestimmte Namen gebe und dass zu diesen auch die Prädikate gut, gerecht, heilig, Schöpfer gerechnet wurden, und zwar auch diese mit dem Vorbehalt, dass sie nicht bedeuten könnten, was Gott sei, sondern eben nur Bewunderung und Ehrfurcht, denn es gebe nur einen einzigen Namen für sein Wesen, nämlich Dasein. Das kommt dem Zusammenfallen von essentia und existentia bei Spinoza nahe genug. Indessen scheint Hobbes auch den kosmologischen Beweis einigen Wert zugeschrieben zu haben. Wenn er 3

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Bannfluche: Spinoza wurde 1656 wegen häretischer Ansichten aus der span. Synagoge in Amsterdam ausgestossen. teilnehmen: Korrekt: teilzunehmen. Schon Lessing: Vgl. Jacobi 1789: 31 f. dass man [..] in: Im Original: dass man ihn in. wenn man ihn: Korrekt: wenn man ihm. Hobbes auch den: Korrekt: Hobbes auch dem.

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mehrmals ausführt, man müsse bei der Zurückführung von Wirkungen auf Ursachen endlich einmal Halt machen und also eine Erst-Ursache annehmen. Auch findet sich eine Andeutung des teleologischen Beweises wenn er am Schluss des ersten Kapitels de homine sagt: wenn die Philosophen alle Mechanismen der Erzeugung wie der Ernährung hinlänglich erforscht haben und nicht erkannt haben würden, dass diese Mechanismen von irgend einem Geiste eingerichtet und je zu ihren Funktionen geordnet seien, so müsste man schätzen, dass sie selber gewiss ohne Geist seien. Wenn also manche Stellen wohl begütigend wirken mochten, so wirkten hingegen im üblen Sinne, dass er allzu emsig bei den Religionen der Heiden verweilte, ohne die christliche als die allein geoffenbarte so davon abzuschei[4]den wie die Theologie für die Vorstellungen der Gläubigen es allerdings verlangte. So in dem berühmt gewordenen Ausspruch (Lev. P. I, 6) wo er definiert: „die Furcht vor unsichtbaren Mächten die der Geist fingiert, oder die nach Erzählungen die öffentlich-rechtlich gestattet sind, vorgestellt werden, ist Religion; von nicht gestatteten: Aberglaube. Denn der Zusatz: wenn die vorgestellte Macht wirklich eine solche ist, wie wir vorstellen, so ist es wahre Religion.“ war nicht danach angetan, ihn von dem Vorwurf des völligen Unglaubens zu reinigen. Auch wenn er sagt, der Spruch eines alten Poeten, dass die ersten Götter von der Furcht gemacht worden seien, sei richtig in bezug auf die Götter, d. h. auf viele Götter der Heiden, musste wohl beunruhigend auf diejenigen wirken, die nicht ausdrücklich ihren einzigen Gott von dieser Entstehung ausgenommen fanden. In Wahrheit hat Thomas Hobbes im 31. Kapitel des Leviathan den ganzen Grundgedanken vorweg genommen, der im Zeitalter der Aufklärung in bezug auf den Ursprung der Religion wie des gesamten Aberglaubens mehr und mehr herrschend wurde und auch in das neuere wissenschaftliche Denken übergegangen ist. Was er in grossen Zügen darstellt, hat etwa 100 Jahre nach ihm in seinem eigenen Lande Hume ausgeführt und wiederum 100 Jahre später im gleichen immer noch kirchenstarken Lande Herbert Spencer. Das ist die Lehre [5] vom Nicht-dasein der Geister oder dass deren vermeintliches Dasein lediglich auf Phantasien Träumen und krankhaften Zuständen beruhe. Und in dieser Lehre wurde eben Spinoza der unmittelbare Nachfolger des Hobbes im Theologisch-politischen Traktat: was Spinoza vor Hobbes voraus hatte, war eine intime Kenntnis des Alten Testaments. Hobbes war nicht nur (ohne Zweifel) des Hebräischen unkundig, er wusste noch weniger 18 34

„… wahre Religion.“: Vgl. Hobbes 1839: 3. Bd., 45 (part I, chap. VI). Theologisch-politischen Traktat: Vgl. Spinoza 1870 / 71.

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von den gelehrten Auslegern jener auch den Juden heiligen Schriften. Der grosse Jenaische Theologe Johannes Musäus, der schon vier Jahre nach dem Erscheinen des Traktats seine scharfe Kritik gegen den für ihn noch anonymen Autor herausgab, klagt diesen an, er sei in der Unverschämtheit und Unpietät so weit gegangen, dass er sagte, die Prophetie habe abgehangen von der trügerischen Einbildung [..] und der Propheten und sei bei einem jeden in verschiedener Gestalt aufgetreten, je nach der Anlage seines Temperamentes und je nach seinen vorgefassten Meinungen – so habe denn die Prophetie niemals die Propheten gelehrter gemacht sondern sie in ihren vorgefassten, wenn auch noch so falschen Meinungen belassen, wir seien also keinesfalls gehalten, ihnen in rein spekulativen Fragen Glauben zu schenken; auch seien die Briefe der Apostel nicht aus Offenbarung und göttlichem Gebot, sondern nur aus ihrem natürlichen Urteil geflossen, die Religion sei von ihnen so weit es möglich war, dem Geiste [6] ihrer Zeitgenossen angepasst worden, also auf den Fundamenten aufgebaut, die zu ihrer Zeit am meisten bekannt und angenommen waren, daraus aber, dass diese Fundamente so verschieden waren, seien die vielen Streitigkeiten und Spaltungen entstanden, von denen die Kirche schon von den Zeiten der Apostel her unablässig geplagt wurde. Er (Spinoza) anerkenne Wunder und übernatürliche Werke in der Schrift garnicht. Es könne darunter nichts anderes verstanden werden als natürliche Wirkungen, deren Ursache wir nicht kennen oder nicht erklären können, oder die auf die Weise [..] die natürlichen Dinge zu erklären pflegt, nicht erklärt werden konnten. Daher behauptet er, es habe alles, was in der Schrift der Wahrheit gemäss erzählt werde, wie alles andere gemäss den Naturgesetzen mit Notwendigkeit sich zugetragen und wenn etwas erfunden werde, wovon man apodiktisch beweisen könne, dass es den Naturgesetzen widerstreite, oder dass es aus ihnen nicht habe folgen können, so sei das von Frevlern den heiligen Schriften hinzugefügt. Diese Begriffe und Lehren nun waren es, die im Leviathan sich vorbereitet und angelegt finden, zusammen mit dem durch Herbert von Cherbury eingeführten, von Hobbes aufgenommenen Begriff der natürlichen Religion, die Spinoza lieber eine dem Menschengeschlechte allgemein eigene oder katholische nennt. –

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scharfe Kritik: Vgl. Musaeus 1674. trügerischer Einbildung und [..]: Hier und am Rand Einfügungszeichen, jedoch ohne Angabe eines einzufügenden Wortes. auf die Weise die [..] natürlichen Dinge: Zu ergänzen: die. Begriff der natürlichen Religion: Vgl. Herbert 1966 u. 1663. allgemein eigene oder katholische: Vgl. Spinoza 1870 / 71: 291.

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Es ist kein Wunder, dass ein anderer lutherischer Theologe (neben Musäus), Christian Kortholt die drei Namen als die der drei grossen Betrüger in witziger Anleh[7]nung an jenes fabelhafte alte Buch, das den Hohenstaufenkaiser Friedrich Jahrhunderte hindurch brandmarkte, weil er es begünstigt oder gar verfasst haben sollte. Darin waren Moses, Christus und Mohammed die 3 grossen Betrüger. Hobbes und Spinoza haben in der Tat nicht wenig miteinander gemein: vor allem eben dies, dass sie auf eine rein wissenschaftliche und eine streng wissenschaftliche Weltanschauung Welterklärung abzielten, die den Wunderglauben jeder Gestalt völlig überwunden haben. Da es den Theologen mit dem Volksglauben gemein war, ihren Gott als ein geistiges Wesen zu denken, das sich auf eine übernatürliche Weise offenbart habe, so mussten sie allerdings jenem Zeitalter als Gottesleugner erscheinen und erscheinen noch heute allen denen notwendig so, die an solchen Vorstellungen festhalten. Die beiden Denker verbindet auch ausser dem Zeitalter, dem sie angehören, dies miteinander, dass sie persönlich unabhängige unvermählte familienlose Männer waren: beide von lebhaftestem Drang nach Erkenntnis erfüllt, dessen Befriedigung das höchste Glück behauptend; wie denn der Spinozaschen Liebe zu Gott, d. h. zum Universum oder zur Natur, einer Liebe, die keine Gegenliebe erwartet, des Hobbes Ausspruch innerlich verwandt ist mit dem er im Vorwort des de corpore an den Leser ausführt, dass die den Vergnügen ergebenen Menschen nur darum die Philosophie vernachlässigen, weil sie nicht wissen, eine wie grosse Wollust die dauernde und kräftige Umarmung zwischen der Seele und dem herrlichen Weltall, dem der dem Studium obliegt [8] gewährt. So ist ihre Lebensweisheit die gleiche und sie ist von der des Plato und der Stoa nicht wesentlich verschieden, wenn auch ihre Methode eher der des Epikur gleichkommt. Es ist der Gedanke, dass der Vernunft des Menschen das Streben nach Wissen und Einsicht am meisten gemäss ist, und dass die Befriedigung dieses Strebens das reinste Glück für ihn sichert; dass also die gegebene Aufgabe ist, die Vernunft walten zu lassen anstatt der ungehemmten Triebe und Leidenschaften, der Affekte, denen Hobbes so wie gleichzeitig Descartes [..] denen nach ihnen Spinoza ein besonders ein4

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Hohenstaufenkaiser Friedrich: D. i. Friedrich II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches (Deutscher Nation), König von Sizilien u. Jerusalem. Die angeblich von Friedrich II. verfasste ketzerische Schrift regte in den folgenden Jahrhunderten weitere Ketzerliteratur an, so Müller 1598 u. 1846, aber eben auch „witzige“ Anlehnungen wie Kortholt 1680. im Vorwort: Vgl. Hobbes 1915: 26. gleichzeitig Descartes[..]: Zu ergänzen: und.

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gehendes Studium gewidmet hat. Die Ethik in diesem Sinne wissenschaftlich zu begründen, dies im Geiste der Zeit: sie mathematisch more geometrico begründen und es ist eine nicht unglaubwürdige Überlieferung vorhanden, dass kein geringerer als Galilei persönlich bei der einzigen Begegnung, die seinem lebhaften Verehrer Thomas Hobbes zu teil wurde, den jüngeren Mann ermutigt habe, die Moral more geometrico zu demonstrieren. Hobbes hat versucht, dieser Aufgabe dadurch gerecht zu werden, dass er bald den Bürger als eine besondere Art des Menschen, bald das Gemeinwesen als eine besondere Art von Körper zu beschreiben unternahm. Spinoza hingegen hat mit der Methode vollkommen Ernst zu machen versucht. Wie immer man darüber denken möge, gewiss scheint es, dass die besondere Ruhe und Erhabenheit, die jeden dafür empfänglichen Leser aus dem tiefsinnigen System anmutet, [9] von seiner Form schwerlich trennbar ist und dass eben durch diese Würde einer Weltanschauung und Weltweisheit, die nichts sein will als von reinstem wissenschaftlichen Ernst getragen, Spinoza seine einzigartige Stellung in der Geschichte der Philosophie gewonnen hat; wogegen die Missachtung die dem Denken des Hobbes auch nachdem die theologischen Vorurteile zusammengeschmolzen waren, ausgesetzt blieb, so seltsam absticht. Von dieser Vergleichung zu unterscheiden ist das Studium der Frage, wie weit einer dieser Denker auf den anderen gewirkt habe. Eine Wirkung des Jüngeren auf den Älteren ist so gut wie ausgeschlossen; wir wissen aber doch dass der Traktat einen starken Eindruck auf den bei seinem Erscheinen schon im 83. Lebensjahre stehenden Hobbes gemacht hat: es wird ihm die Äusserung zugeschrieben, es sei ihm wie ein Schnitt ins Fleisch gewesen, dies Buch kennen zu lernen; er selber hätte nicht gewagt, mit solcher Kühnheit zu schreiben. In der Tat ist er nicht entfernt mit so starkem Pathos und Eifer für die Freiheit des Philosophierens unmittelbar eingetreten, an der ihm allerdings ebenso sehr wie dem von seiner Gemeinde verstossenen Israeliten gelegen war und gelegen sein musste. Sein Kampf gegen die Kirche und gegen die kirchliche Denkungsart hat eben diesen innersten Sinn. Er rühmt es der Zeit als Cromwell am Steuerruder der Republik stand, nach, dass zu dieser Zeit jedem frei stand zu schreiben, was er mochte, wenn er zufrieden war nach der Weise des Ortes zu leben. [10] Die Auffassung der Nachwelt von den beiden epochemachenden Denkern, ihrem Wesen, ihren Wirkungen

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more geometrico: [lat.] nach der geometrischen Methode. die Äusserung zugeschrieben: Vgl. Tönnies 1925: 61 u. 286.

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und Zusammenhängen ist ein besonderes Stück Geistesgeschichte, wozu hier ein kleiner Beitrag gegeben werden möge. Das kleine Buch des Theologen Christian Kortholt, das zu Kiel im Jahre 1680 herauskam, stellt einen interessanten Ausgangspunkt für diese Betrachtung dar. Wenn er als den ersten grossen Betrüger den Lord Herbert von Cherbury an die Spitze stellt, so beweist er eine richtige Einsicht in den literarischen Zusammenhang. Denn Herbert hat sicherlich einen gewissen Einfluss auf Hobbes gehabt, der auch den Lord persönlich gekannt und jenes Büchlein über die Wahrheit und ihren Unterschied von der Offenbarung vom Wahrscheinlichen, Möglichen und Falschen wie wir wissen mit Spannung erwartet, wenngleich er in seinen Werken niemals dieses Vorgängers erwähnt, sondern nur in den biographischen Notizen, die von ihm selber herrühren, der Freundschaft mit dem um 6 Jahre älteren Manne sich erinnert. In der Tat war auch Herbert durchaus ein Freidenker und hat als solcher gewirkt. Kortholt nennt es seinen fundamentalen Irrtum, – sein [..] – dass er meine, in fünf Kapiteln oder Artikeln alles zu beschliessen, was zum allgemeinen Geschäft der Religion gehöre: dass es ein höchstes göttliches Wesen gäbe, zweitens, dass es verehrt werden müsse, drittens, dass Tugend und Pietät die hauptsächlichen Teile der Gottesverehrung seien, 4. dass Laster und alle Übeltaten gesühnt werden müssen von der Reue aus, 5., dass es Lohn und Strafe gäbe nach diesem Leben. Den Versicherungen Herberts, dass seine Enthüllung der allgemeinen und natürlichen Religion keineswegs auf den Umsturz des Christen[11]tums und die Ächtung aller Offenbarung ausgehe, hält Kortholt entgegen: seine neue Lehre könne so wenig dem Atheismus und dem unfrommen Wesen wehren, dass sie viel näher solches Unheil mit Segeln und Rudern auf die Welt loslasse. Freilich leugne er ja durchaus nicht ausdrücklich, das Dasein Gottes. Man müsse aber den Namen der Atheisten eine weitere Geltung geben, sodass er auch diejenigen umfasse, die über das Wesen und die Verehrung anders denken als sie sollen und als der Sinn der göttlichen Offenbarung es zulasse: solche seien insbesondere alle, die sich als Hasser der christlichen Religion bekennen und sie feindselig angreifen. Viele Stellen aus Kirchenvätern werden dafür angeführt und dann heisst es (XII): dass aber dahin die gesamte Struktur der Herbert’schen Theologie gerichtet sei, dass, wenn sie bestünde, das Gebäude des Gotteshauses von Grund auf zerstört und die Kirche Christi 2 15 33

gegeben werden möge: Links am Seitenrand mit Grünstift eingetragen: xK. – sein [..] –: Im Original Textlücke. heißt es (XII): Vgl. Kortholt 1680 (Sectio I, Kap. XII), 28.

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in ihren Fundamenten erschüttert würde, das ergäbe sich schon daraus, dass der Verfasser mit ausdrücklichen Worten die allgemeine Übereinstimmung als die einzige Norm der Wahrheit in notwendigen Dingen hinstelle. Es folge daraus, dass dem Herbert alles nach Betrug rieche, was immer einzelne Verbände der Menschen als wahr glauben, ohne dass es durch den Consensus der Welt aufgenommen wäre; mithin riechen ihm nach Betrug die hauptsächlichen Dogmen der christlichen Kirche, da ja eingeständlich weder Heiden noch Juden noch Mohammedaner diese annehmen. Es komme auf dasselbe hinaus, wenn er leugne, dass man etwas als wahr oder gewiss zulassen müsste, was nicht die Gewähr eines unserer Seelenvermögen habe oder dessen Wahrheit nicht unsere Sinneswahrnehmung oder ein nur durch das natürliche [12] Licht erleuchteter Verstand lehre. Oft komme er darauf zurück, man solle sich nicht imponieren lassen. Wolle man den schlechthin heidnischen Geist bei diesem Theologaster erkennen? Er verschone nicht Moses und die Propheten, nicht die Apostel, ja nicht Christus selber. Was er über Propheten im allgemeinen und dann über die heidnischen Seher ausführe, das lasse sich nicht minder gegen unsere Propheten kehren. Wenn man wie Professor Krüger die Lehre trotz des Zeugnisses von Wundern niemandem so Glauben schenken solle, dass man ihn mit hinlänglicher Sicherheit als einen Mitwisser der geheimen Ratschläge Gottes schätzen dürfe, so müsse nicht nur Moses sondern Christus selber sich und andere getäuscht haben, wenn er die Juden anrede bei Johannes X, 37 / 38 „Wenn ich nicht die Werke tue meines Vaters, so glaubet mir nicht; wenn ich aber jene tue, so möget ihr mir nicht glauben, glaubet aber doch den Werken.“ Den Wundern meinte er. Kortholt will dann noch mit einem grossen Aufwand von Gelehrsamkeit nachweisen, wie sanft Lord Herbert in allen Dingen mit den alten Verkleinerern des Christentums übereinkomme. Er bezieht sich auf die von Augustin berichteten Prophezeiungen und auf den Bericht des Plinius über die damaligen Christen, ganz wie diese mache Herbert den Christen die Neuheit ihrer Religion zum Vorwurf; ja wie jene fälschlich ihren baldigen Untergang zum Beispiel nach 350 Jahren prophezeiten, so hoffe auch er auf das Ende des Christentums und auf die öffentliche Einführung seines Naturalismus. Der Kritiker schliesst, mit einer beredten Apostrophe, die beweisen soll [13] dass Herbert trotz seiner Beteurung, 18 22

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Professor Krüger: Krüger nicht ermittelt. Juden anrede: Vgl. NT Johannes X, 37 / 38: „Tue ich nicht die Werke meines Vaters, so glaubet mir nicht; tue ich sie aber, glaubet doch den Werken, wollt ihr mir nicht glauben, auf daß ihr erkennet und glaubet, daß der Vater in mir ist und ich in ihm“. er bezieht sich: Vgl. Kortholt 1680: 88 (Sectio I, Kap. XXXIX).

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keines Trugs in seinen Schriften sich bedienen zu wollen, doch auf nichts anderes ausgehe, als alles, was die Kirche nach der Heiligen Schrift über jene seine fünf Artikel hinaus glaube für ungewiss und verdächtig, zum Teil sogar für unsinnig und verderblich zu erklären. [14] Nachdem unser Kanzler so den ersten seiner drei Betrüger erledigt hat, geht er auf Thomas Hobbes über, von dessen Hauptschriften er die Titel zitiert. Zuletzt den des Leviathan, von dem er wohl nur die lateinische Ausgabe kannte. Sein Geist sei dem des Herbert verwandt, vor allem durch großes Selbstbewußtsein, ja Überhebung. Auch in dem Eifer die christliche Religion zu verderben und ihre Grundlagen zu erschüttern, gebe er jenem nichts nach, obgleich er nach einer andern Methode dies gottlose Werk angreife. Nämlich während das proton pseudos der Herbert’schen Theologie sei, daß man in der Religion nichts als gewiß und unzweifelhaft wahr zulassen dürfe, was nicht durch das Urteil der Sinne und der Vernunft des Menschen und durch die allgemeine Übereinstimmung aller geistig Normalen gebilligt werde, so will hingegen Hobbes der Vernunft und der Übereinstimmung so wenig einräumen, daß er offen lehrt, es stehe durch das natürliche Licht nicht einmal für alle Sterbliche fest oder könne auch nur feststehen das Dasein Gottes (er zitiert dafür drei Stellen aus De Cive); er mache vielmehr die Summe der Religion von der Willkür der Staatsmacht abhängig: dabei allein müsse man sich beruhigen und ihr die menschliche Vernunft schlechthin unterwerfen. Diese Lehre sei so ungeheuerlich, daß der Leser kaum sich überzeugen würde, daß sie einem vernünftigen Menschen in den Sinn gekommen sei; darum wolle er einen eingehenden Nachweis dafür, daß dies wirklich die Grundlage der gesamten Hobbianischen Theologie sei, antreten. Es geschieht dies in den folgenden Abschnitten hauptsächlich mit Stellen aus dem Leviathan [15] wobei er Anstand nimmt, manches zu wiederholen, weil es ihm allzu gottlos und blasphemisch scheint: schauderhaft erscheint ihm insbesondere, daß der Philosoph auch Moses und die Propheten nicht als sichere Zeugen des göttlichen Wortes anerkennt. So kreidet er auch den Satz aus De Homine an: „In bezug auf übernatürliche Dinge glauben wir niemandem, es sei denn, daß wir glauben, sie hätten zuvor eine übernatürliche Tat getan.

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Kanzler: D.i. Kortholt, Prokanzler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. proton pseudos: [gr.] Grundirrtum, falsche Voraussetzung zu Anfang einer Beweisführung, aus der andere Irrtümer folgen. er zitiert dafür: Vgl. Kortholt 1680: 109 f. (Sectio II, Kap. I, XII, und I, XIII).

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Wenn aber jemand sagt, was er sage oder lehre, sei durch Mirakel bestätigt, wie kann man dem glauben, wenn er nicht selber ein Wunder getan hat?“ –– Er führt dann Stellen an, die beweisen sollen, daß Hobbes mit den alten Heiden einig gehe und daß diese, besonders die Römer alle bei Todesstrafe Neuerungen der Religion verboten hatten und daß darunter eben die ersten Bekenner der christlichen Lehre schwer haben leiden müssen, und daß schon die frühen Apologeten den Verdacht, daß diese Lehre rebellisch sei, haben abwehren müssen; da ja sogar die Heiden die christliche Religion für schieren Atheismus erklärt hätten. Wenn Hobbes Recht hätte, so wären ja in der Tat die ersten Christen nichts als Revolutionäre gewesen. Was verstehe er aber als Unterwerfung des Verstandes unter den Willen der Machthaber? Nichts als äußere Zustimmung, trotz innerer Ablehnung. Eine Schmähung der Märtyrer sei darin erhalten. Durch ein umfangreiches Zitat aus einer Schrift des Wenzeslaus Budovvez will der Verfasser erweisen, daß die Irrlehre des Hobbes in betreff Auslegung der heiligen Schrift völlig den Ansichten der Türken entspreche, nur daß dort eben der Koran die heilige Schrift sei. Habe nun Hobbes selbst seine Lehren danach gerichtet, was in seinem Vaterlande die Staatsgewalt vorschrieb? Mit nichten, er [16] habe einen solchen Haß auf sich geladen, daß er kaum in seinem Lande selber, geschweige denn anderswo einen sicheren Wohnsitz habe finden können. Seien denn etwa seine Lehren in England durch die öffentliche Autorität beglaubigt? Keineswegs. Er werde immer nur als ein profaner Taschenspieler mit seinen vielfachen Betrügereien gelten dürfen. Zur Bestätigung dieses Urteils und zur Wiederlegung der Urteile, die der Schrift De Cive vorgedruckt sind, führt der Verfasser schließlich noch seinen Kieler Kollegen Samuel Rachel ins Gefecht, über dessen Naturrecht kürzlich noch Curt Rühland geschrieben hat. [17] Seinen dritten Abschnitt über Benedictus Spinosa führt unser Theologe ein mit dem Ausruf: occupet extremum scabies! Er verschont dann den Namen nicht mit einem Wortspiel: Er würde richtiger malediktus heissen; denn die Erde sei (gen.) III, 1718 nach der göttlichen Verfluchung dornenreich (spinosa), und würde kaum je einen mehr verfluchten Menschen und

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„… ein Wunder getan hat?“: Vgl. Hobbes’ „De Homine“ (1839 / 45: 2. Bd., 119). ein umfangreiches Zitat: Vgl. Kortholt 1680: 129−133 (Sectio II, Kap. XXV). führt der Verfasser: Vgl. ebd.: 138 (Sectio II, Kap. XXVII) und Rühland 1925. occupet extremum scabies!: [lat.] (nach Horaz’ „De arte poetica“) der letzte soll die Krätze kriegen; vgl. Kortholt 1680: 139 (Sectio IIII, Kap. I). (gen.) III, 1718: Vgl. NT (1. Mose 3 Vers 17 / 18).

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dessen Gedächtnis mit so vielen Dornen besetzt sei, tragen. Er führt dann eine längere Stelle aus der Vorrede des Herausgebers der Opera Postuma und einen kurzen Auszug aus Spinosas Antwortschreiben an Fabricius an und gibt ein Verzeichnis seiner Schriften. Von Charakteristik seiner Person geht er auf die des Werkes über: Mit Zitaten wiederum aus jener Praefatio und aus den Briefen Oldenburgs. Gleich ihnen habe Spinosa sich selber zu entlasten versucht von der Anklage, die Würde der Heiligen Schrift angefochten zu haben. In Wahrheit sei seine theologische Doktrin zum grossen Teile aus denen des Herbert und des Hobbes zusammengelesen, werde aber mit grösserer Deutlichkeit und Dreistigkeit vorgetragen: gemäss dem Ausspruche Oldenburgs: In der freiesten Republik müsse am freiesten philosophiert werden. Es folgt ein interessantes Zitat aus Gisbert Voetius, des vielbewunderten Gegners Descartes: disputatio de atheismo. Der „Unser Belgien“ das wahre Afrika der Libertiner und aller Fanatiker nennt: Es sei schon längst diesen Seuchen so sehr als möglich verfallen gewesen und sei es auch noch. „Bis auf den heutigen Tag gibt es unter den Belgiern besonders den Batavern (Holländer) viele, die allzu auf Neuheit erpicht allzu geduldig und stumpfsinnig den Libertinismus [18] verehren und die Schwärmer, die hier entstehen und auftauchen oder von anderswoher wegen der Freiheit oder Zügellosigkeit der Sekten hierher zusammenströmenden Libertiner Neutrale, Atheisten wohlwollend sich gefallen lassen und mit ihnen vertraulichen Umgang pflegen, ja gemäss der üblichen Artigkeit, wie sie besonders gegen Ausländer und Fremde gepflegt wird, verhätschelt man sie. Denn man freut sich, entweder an ihren höflichen Sitten oder an ihrer Geschicklichkeit in gesalzenen Witzen oder an der Gewandtheit, wäre es auch nur eine scheinbare irgendwelcher Genialität oder an irgendwelcher sei es Beredsamkeit sei es blosse Redefertigkeit; oder an irgendwelcher Kunst und Wundertuerei und an mathematischen und mechanischen Erfindungen oder auch nur an der Übung der blossen Arithmetik und Geometrie. Dies und anderes wird insgemein der soliden Weisheit und Frömmigkeit vorgezogen, die den verzärtelten und weltläufigen Menschen allzu trübselig und lästig sind. Das ist die Ehre, die der Frömmigkeit zuteil wird. Daher bei 1 2 3 5

Menschen und dessen Gedächtnis: Korrekt: Menschen, dessen Gedächtnis. Opera Postuma: Vgl. Spinoza 1677 und Kortholt 1680: 140 (Sectio II, Kap. I). Fabricius: gemeint ist Johann Ludwig Fabritius. Praefatio: Vgl. Kortholt 1680: 144 (Sectio II, Kap. IV). Paefatio 35 Seiten unpaginiert; folgender Inhalt: I Ethica, II Politica, III De erdendatione Intellectus, IV Epistolae, et ad eas Responsiones, V Grammatices Linguae Hebraece. Vgl. Spinoza 1677 u. Oldenburg (1965−68).

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uns die reiche Ernte von Atheisten, an Libertinern, Lucianen und Neutralen daher ihre Raserei, ihre Unverschämtheit“ Hier meint unser Kieler Theologe, werde Spinosa bewusster Weise abgebildet. Kortholt bezieht sich zurück auf seine Kritik Herberts der wieder und wieder den Christen Leichtgläubigkeit vorwerfe, weil sie alle möglichen Dogmen wie große Mysterien sich aufdrängen ließen. Im gleichen Sinne sei (auch dies wird durch Zitate erhärtet) der theologisch-politische Traktat verfaßt, wo die Prophetie oder Offenbarung als nicht verschieden von den phantastischen Einbildungen melancholischer Menschen und die Propheten als fanatische Menschen, als Fanatiker darge[19]stellt würden, die vieles Eitle, Törichte und Lächerliche in ihrem Geiste empfangen hätten. Ganz ähnlich würden die Apostel, ja Christus selbst aufgefaßt. So sei die ganze Bibelkritik auch beschaffen, die in den Spuren des Hobbes gehend, behaupte, daß die uns vorliegenden Schriften der Bibel keineswegs von Moses und den Propheten, sondern erst viele Jahrhunderte nach dem Tode der angeblichen Verfasser geschrieben worden seien. An manchen andern Stellen nähere sich freilich scheinbar Spinoza dem christlichen Glauben; indessen das sei lauter Schwindel und Heuchelei. In Wahrheit gebe er einmal auch die zum Heile notwendigsten Dogmen der subjektiven Deutung preis. Allerdings habe er ja selber gegen den Verdacht der Gottesleugnung sich gewehrt; aber auch das sei nur ein Spiel mit Worten. „Denn der Gott, dessen Dasein er anerkennen zu wollen scheint, ist ihm nicht jenes höchste Lumen, von dem wir glauben, daß von ihm als erstem Urheber oder – scholastisch zu reden – als erster wirkender Ursache alles geschaffen sei, alles erhalten und regiert werde – wir glauben dies geleitet durch die Autorität der Heiligen Schrift mit unerschütterlichem Glauben und wissen es aus natürlicher Erleuchtung klar und deutlich – sondern unter dem Namen Gottes versteht er die Natur d. h. dies Weltall oder alles was diese Welt in sich schließt als etwas, was aus sich selber und durch sich selber von Ewigkeit her existiere und keine äußere Ursache, sei es eine wirkende oder eine Zweckursache anerkenne.“ Diese monströse Meinung habe er freilich in seinen Briefen an Oldenburg zu verschleiern gesucht, aber schon im theologisch-politischen Traktat habe er sie nicht so verhehlen können, daß nicht scharfsinnige Leser [20] sie gewittert hätten. Vergebens habe, das sucht der Kritiker zu erweisen, Spinoza sich da herausreden wollen. 2 21 31

„… ihre Unverschämtheit“: Vgl. Kortholt 1680: 150 f. (Sectio II Kap. VII). Spiel mit Worten: Vgl. ebd.: 171 (Sectio II, Kap. XV) u. Spinoza 1677. „… Zweckursache anerkenne.“: Vgl. Kortholt 1680: 172 (Sectio II; Kap. XV).

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Als entscheidenden Beweis dafür, daß Spinoza keinen Gott als Schöpfer und Beherrscher der Welt anerkenne, führt er mit richtiger Erkenntnis der Ablehnung des theologischen Anthropomorphismus die berühmte Stelle im Anhang des Ersten Teiles der Ethik an und fügt zur Bestätigung noch das Vorwort des IV. Teiles ins Gefecht. Ebenso wie das Dasein Gottes leugne er ganz offenbar das des Teufels und nenne sogar die Lehre vom Teufel unsinnig, ebenso wie der Heide Celsus. Nicht minder verleugne er natürlich Himmel und Hölle, Lohn oder Strafe im Jenseits und beschuldige sogar diesen Glauben als einen niedrigen, weil er die Tugend nicht um ihrer selbst willen anerkenne. Und doch wollte er Gott als das höchste Gut anerkennen und heißt ihn als solchen lieben – das bedeute bei ihm natürlich nur, daß das höchste Gut in Erkenntnis und Liebe dieser Welt oder der natürlichen Dinge gesetzt werde; freilich wie alle Leute dieses Schlages suche er sich zu decken und wolle den Schein vermeiden, als ob er allzu weit von der Redeweise der Schrift und der Kirche sich entferne. So spreche er auch davon, daß Gott den Reuigen ihre Sünden vergebe! Wie wäre das vereinbar mit seiner Lehre, daß es im Naturzustande keine Sünde gebe, sondern nur in Bezug auf ein Gemeinwesen. So stehe es sowohl in der Ethik als im politischen als im theologisch-politischen Traktat. Danach möge man auch beurteilen, welchen Sinn es bei ihm habe, wenn er Gerechtigkeit und Nächstenliebe für den Inbegriff der allgemeinen Religion und Gottesverehrung erkläre. Da es eben für ihn keine andere Gerechtigkeit und Nächstenliebe gebe außer der, die sich auf bloße mensch[21]liche Gutdünken und Übereinkünfte und auf die Autorität der höchsten bürgerlichen Gewalt stütze. In bezug auf das Naturrecht sei eben Spinoza schlechthin ein Hobbesianer: nur daß er in einigen Stücken noch weit schlimmer und gottloser als dieser sei. Das wird durch ausführliche Stellen aus den Werken beider belegt. „O über den sacrosancten Teufel“, ruft am Schlusse einer solchen Stelle der brave Kanzler aus. So habe er denn auch zwar scheinbar eine hohe Meinung von Christus, aber die historische Tatsache der Auferstehung und Himmelfahrt anerkenne er keineswegs. Offenbar habe er hier sich an jenen Celsus gehalten hier zeige sich seine Gottlosigkeit am klarsten, indem er offenbar die Apostel und alle heiligen Männer der Lüge und des Betruges bezichtige. Also untergrabe und zerstöre er nach Kräften den christlichen Glauben und die christliche Lehre, die ja auf die Auferstehung hauptsächlich sich stütze. 7 29

Celsus: Vgl. Keim 1873. „O über den sacrosancten Teufel“: Vgl. Kortholt 1680: 200 (Sectio III, Kap. LXXIV).

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Und ganz ebenso wie Hobbes mache er alles, was die Religion angeht zum Gegenstande willkürlicher gesetzlicher Bestimmungen. Wie vertrage sich nun das mit der von ihm gepriesenen Freiheit des Philosophierens, für die er ja den ganzen theologisch-politischen Traktat verfaßt habe? Da müsse man auf seine Unterscheidung zwischen dem Rechte zu handeln und dem Rechte zu denken, zu urteilen, zu reden achten. Dahin nämlich ziele seine ganze Denkungsart, durchzusetzen, daß es mit vollem Rechte den Atheisten und ähnlichen fanatischen Menschen freistehe, ihre Gottlosigkeiten ungestraft zu bekennen und in Wort und Schrift auszubreiten, andere also ohne Schaden oder Gefahr zu überreden. Dafür wird noch eine Stelle über die jüdischen Propheten aus dem theol.-politischen Traktat, Kap. VIII p. 209 herangezogen.

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Eine Studentengesellschaft, die sich Hochschulgruppe Kiel des Nationalsozialistischen deutschen Studentenbundes nennt, versendet eine Nummer der vom Vorstand der sogenannten Freien Kieler Studentenschaft herausgegebenen Schleswig-Holsteinischen Hochschulblätter, worin der „offizielle“ Bericht dieses sogenannten Bundes über den Fall Baumgarten enthalten ist. Man bittet höflich, das Material und im Vergleich dazu das Urteil eines hohen Senats noch einmal überprüfen zu wollen. Es wird als auf die Unterlage für die Angriffe d. h. für die schlechthin schamlose Verunglimpfung Prof. Baumgartens an erster Stelle auf eine von diesem während des Krieges nach dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg 1917 verfasste Schrift: „Das Echo der Alldeutschen Bewegung in Amerika“ hingewiesen. Der erste Satz einer Ausführung, die also jenes Flugblatt rechtfertigen soll, lautet: „In der Schrift … macht Prof. B. den Alldeutschen Verband verantwortlich, die Kriegsstimmung in Amerika und in England mit erzeugt zu haben“. Ich bemerke dazu:

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Die Besudelung Prof. Baumgarten’s: Textnachweis: TN, Cb 54.34:06. – Typoskript in 4°, S. 1−6, mit eigenh. Korrekturen und Ergänzungen; Kopftitel eigenh., darunter gleichfalls eigenh. „von Prof. Ferdinand Tönnies.“ Verfasst: Ende 1930. Anlass dieser Streitschrift war folgendes Ereignis: Im Oktober 1930 wurde in Kiel das Deutsche Bachfest abgehalten. Die Festpredigt am 5. Oktober in der Kieler Nikolaikirche war dem Theologen Otto Baumgarten übertragen worden. Dies suchten die Freie Kieler Studentenschaft und die Ortsgruppe des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes zu verhindern, indem sie von der Bachgesellschaft einen anderen Festredner forderten. Der Festausschuss der Bachgesellschaft lehnte das aber ab. Unterstützt wurde die Forderung von einem in der Bevölkerung verteilten Flugblatt. Als Reaktion darauf brachte die Jugendgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold – einer Vereinigung zur Verteidigung der Republik – Baumgarten einen Fackelzug dar. Die Leitung der Universität Kiel reagierte auf die Vorgänge, indem sie der Hochschulgruppe Kiel des NS-Studentenbundes die Rechte eines akademischen Vereins entzog und die Vorsitzenden der beiden Studentenvereinigungen exmatrikulierte. Vgl. Tönnies 1930a. „offizielle“ Bericht: Vgl. [o. V.] 1930: 173 f. Es wird als auf die Unterlage: Richtig wohl: es wird als Unterlage auf die … Schrift … hingewiesen. „… mit erzeugt zu haben.“: Vgl. o. V. 1930: 173.

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Die Schrift ist offenbar in jenem Pathos geschrieben von dem damals die Besonnenen unter uns „Heimkriegern“ erfüllt waren. Wir wussten was auf dem Spiele stand, wir erkannten die ungeheure Gefahr die schon da war, und die durch den Eintritt Amerika’s verstärkt wurde, wir sahen das Verderben kommen, und mussten zugleich den traurigen Leichtsinn erleben womit die Alldeutschen und eine unbedenkliche militaristische Jugend eben jener gefahrvollen Tatsache ins Auge sah. Hut ab vor Patriotismus, Hut ab vor Mut und Aufopferung! Aber Politik ist eine ernste Sache. Sie fordert in erster Linie Denken und Wissen, Kritik und Überlegung: Eigenschaften, wodurch in der Regel nicht die Jugend sich auszeichnet. Ich weiss, wie das Treiben des Alldeutschen Verbandes in Deutschland selbst von allen besonnenen und vernünftigen Politikern verschiedener Parteien längst vor dem Kriege regelmässig beurteilt wurde. Es wurde nämlich von solchen durchaus für gefährlich gehalten wegen des unzweifelhaften chauvinistischen Charakters der Alldeutschen Blätter und der wenigen Vertreter, die der Bund im Reichstage hatte. Einer von diesen war der Direktor des Statistischen Amtes der Stadt [2] Leipzig, Prof. Hasse: er hatte das traurige Schicksal, als Politiker und Mitglied des Reichstages nicht ernst genommen zu werden, obgleich an seiner guten Meinung und seiner Biederkeit niemand zweifelte. So haben auch die damaligen Regierungen sich mehrmals schroff gegen die Äusserungen Hasse’s und anderer Alldeutscher gewandt, wie man aus den stenographischen Berichten der Reichstagsverhandlungen von 1898 bis 1914 leicht ersehen kann. Eine direkte Schuld des Alldeutschen Verbandes an der Entstehung des Weltkrieges möchte ich nicht behaupten. Auch die anderen grossen Staaten hatten ihre Chauvinisten, die ebenso wie die Alldeutschen Blätter eine herausfordernde Sprache führten. Aber die Meinung, dass Preussen als der grosse oft bewunderte Militärstaat, ähnlich wie das Frankreich Ludwig XIV. und Napoleons, eine aggressive und auf Eroberung erpichte Geistesrichtung habe und diese Richtung dem von ihm hegemonisch geleiteten Deutschen Reiche mitgeteilt habe, hatte trotz des friedlichen Charakters, den das neue Reich betätigte, in der Welt sich ausgebreitet und ohne Zweifel auch in den Vereinigten Staaten, die in ihrer Unkenntnis des wirklichen Europa ganz und gar unter englischem Einflusse standen: England aber hatte immer der deutschen Einheitsbewegung und

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Eintritt Amerika’s: Am 6. 4. 1917 erfolgte die Kriegserklärung der USA an Deutschland. Reichstagsverhandlungen: Vgl. [o. V.] 1857−1942: Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichtstages.

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der Entwicklung des Neuen Reiches nur mit Besorgnissen und Eifersucht zugesehen und diese Stimmung gesteigert, nachdem das Reich angefangen hatte durch Flotten-, Kolonial- und also Weltpolitik aktivistischer als bisher aufzutreten. Um so gefährlicher war der Ton der Alldeutschen Blätter, er nährte ohne Zweifel die feindseligen Gefühle im Inselreiche, darum ist es an sich schon sehr wahrscheinlich, dass dieser Ton ebenso in den Vereinigten Staaten gewirkt hat. Mithin hat er schädlich gewirkt und dazu bei[3]getragen, dem Entschlusse des Präsidenten Wilson, zum Behuf der amerikanischen Gläubiger am Kriege teilzunehmen, populär zu machen, ihm die Zustimmung der Bürger zu sichern. Es wäre also offenbar von Nutzen für das Deutsche Reich gewesen, wenn man vermocht hätte, das Gebahren jenes Verbandes rechtzeitig zu hemmen, ebenso wie es von Nutzen gewesen wäre, wenn es möglich gewesen wäre, den Mann der als Kaiser an der Spitze des Reiches stand, zu dauerndem Schweigen zu bringen, wie der Fürst Bülow gemäss seiner Erklärung im Reichstage im November 1908 sich anheischig machte zu bewirken. Wir lernen aus seinen posthumen Mitteilungen, dass er fortwährend gerungen hat, taktlosen Äusserungen und unpolitischen Handlungen seines Herrn vorbeugend zu begegnen oder zu versuchen, sie wieder gut zu machen. Heute sind junge Männer geneigt, ihm, Bülow, Schuld zu geben, dass er nicht – wie der Kaiser von ihm erwartete und verlangte – im Reichstag sich schützend vor ihn gestellt und die Verantwortung für dessen unqualifizierbares Benehmen auf sich genommen hat. Wer so urteilt, hat entweder die damals im ganzen Deutschen Reich bei allen Parteien einhellige Entrüstung über den Kaiser nicht erlebt, oder zu jung erlebt, oder erinnert sich nicht mehr der Tatsache, dass man einfach sprachlos war und dass dieser Reflex freilich sehr stark im Reichstag zum Ausdruck kam, aber doch nur gebrochen, denn die Stimmung im Volke, gerade in den gebildeten Kreisen des protestantischen Norddeutschlands, war noch viel heftiger. Wenn Bülow wirklich es gewagt hätte, den Kaiser zu verteidigen, ernsthafter als er es wirklich mit amtlicher Kühle getan hat, so hätte er sich teils lächerlich, teils verhasst gemacht. Wenn auch seine Politik im grossen gesehen [4] durchaus unzulänglich gewesen ist, so wusste er doch im einzelnen Fall mit Verstand zu handeln. Mit Verstand konnte er in diesem Falle nicht anders handeln und reden, als er es tat; mochte er auch Ursache genug haben, sich selber Vorwürfe zu machen, weil er nicht verstanden hatte, der Veröffentlichung jener schlimmen kaiserlichen Äusserungen vorzubeugen. 17

posthumen Mitteilungen: Vgl. Bülow 1916 und 1930: 362−375.

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Die Verteidigung der Studenten führt noch die letzten Worte von Baumgartens Broschüre an und druckt sogar in fetten Lettern die letzten 10 dieser Worte. Der ganze Absatz lautet: „Man wird gewiss nicht zu viel sagen, wenn man das Echo der alldeutschen Bewegung in Nordamerika kurz als die Erweckung der feindseligen Stimmung gegen uns bezeichnet, auf die sich die Machthaber stützen können, wenn sie nun den Frieden der Welt herbeizwingen wollen durch Eintritt in den Krieg an der Seite der Entente.“ – Die Hervorhebung dieser letzten Worte geschieht offenbar in der Meinung, dass diese Worte das am meisten gravierende seien und sie sollen den Vorwurf des Landesverrates begründen. Diese Auffassung zeigt, wie die Gedanken jugendlicher Fanatiker verblendet sind, wie unfähig solche Jünglinge allzu oft sind (jeder Seminarleiter kennt die Erfahrung), den Sinn von Sätzen unbefangen und richtig aufzufassen, der ihnen irgendwie zu hoch ist (in diesem Falle weil er nicht ihren geschwollenen Vorurteilen entgegenkommt). Baumgarten sagt deutlich genug: die Machthaber der Vereinigten Staaten bedurften einer feindseligen Stimmung im Volke, um in den Krieg an der Seite der Entente einzutreten, wofür sie des Vorwandes sich bedienten, dass es ihnen nur um den Frieden der Welt zu tun sei und dass sie diesen auf Kosten des grossen Friedenstörers erzwingen wollten. [5] In der Tat war es ja die ständige Redensart, die gebraucht wurde, dass es um die Rettung der Freiheit und um einen Krieg zum Behuf der Beendigung des Krieges und wohl gar der Kriege überhaupt (war to end war) sich handelte. Und dieser Vorwand hätte keinen Glauben gefunden, wenn nicht die Stimmung so vorbereitet gewesen wäre, wie sie es war. Vermutlich hat man geflissentlich, in dieser feindseligen Absicht Äusserungen des Alldeutschen Verbandes gesammelt und in Massen verbreitet. Baumgarten will sagen: wäre nicht die alldeutsche Bewegung so gewesen wie sie war, so hätte dies keinen Erfolg gehabt. Dass es Erfolg hatte, ist eben dieser Bewegung und ihrem Schrifttum selber zuzuschreiben, mögen ihre Absichten so gut gewesen sein, wie sie wollen. Dieser Gedankengang ist ohne einiges Nachdenken nicht zu verstehen. Im Sinne der von ihnen beliebten Deutung berufen die Studenten sich auf den bekannten Historiker G. v. Below, der einwandfrei nachgewiesen haben soll, dass Baumgarten in dieser Schrift zu wiederholten Malen bewusst die Unwahrheit gesagt habe. Dass dieser Vorwurf einwandfrei war, wissen 3 15 32

Der ganze Absatz lautet: Vgl. Baumgarten 1917: 33 und o. V. 1930: 173 f. sagt deutlich genug: Vgl. Baumgarten 1917: 1 f. berufen die Studenten sich: Vgl. o. V. 1930: 173., dazu Below 1917.

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natürlich die Kommilitonen mit vollkommener Sicherheit. G. v. Below war bekannt als ein sehr gelehrter und genauer Forscher auf seinem Gebiete. Er war auch sehr bekannt durch eine rücksichtslose und junkerhafte Polemik, was vielleicht seinem schwachen und kränklichen Körper und einem äusserst reizbaren Temperament zugute gehalten werden mag. Wenn ich nicht irre, war er selber ein eifriges Mitglied des Alldeutschen Verbandes, jedenfalls ging er mit diesem durch dick und dünn, und fühlte sich natürlich durch Baumgartens heftige Anklagen getroffen. Niemand wird ihm verargen, dass er sich dagegen gewehrt hat. Dass er dies [6] mit richtiger Würdigung der Beweggründe Baumgartens und der von Baumgarten behaupteten Tatsachen getan habe, ist nach Lage der Dinge und zumal nach der allzu bekannten Art, in der Prof. v. Below bei solchen Gelegenheiten verfuhr, ausserordentlich unwahrscheinlich. Baumgartens Beweggründe waren durchaus lauter. Sie waren patriotisch, wenn auch in einem Sinne, den diese jungen Herren, die doch selber mit dem Weltkriege nur durch ihre Phantasien verbunden sind, nicht verstehen. Baumgarten meinte offenbar, dass nicht nur unser politisches Verhalten im grossen, sondern auch eine gewisse übermütige Haltung des Geistes vielfach, wenn sie irgendwie so blind und töricht wie in den Kundgebungen der Alldeutschen zutage trat, unserer Sache sehr grossen Schaden getan hat. Dies lässt sich mit guten Gründen behaupten; wenn man auch gegen einige dieser Gründe skeptisch sein mag, wie ich es allerdings bin. Denn ich meine, dass viel grössere „weltgeschichtliche Massen“, um einen goethischen Ausdruck zu gebrauchen, hier im Spiele waren und doch wohl auch die Sache entschieden haben. Aber der Gedankengang dass der Entschluss des amerikanischen Präsidenten einer bereiten Stimmung bedurfte und dass diese Stimmung durch die unverantwortlichen Meinungsäusserungen der Alldeutschen genährt würde, ist auch nach meiner Ansicht unwiderlegbar.

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goethischen Ausdruck: Vgl. Goethe 1998: 12. Bd., 381.

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Wenn Fürst Bülow (nach dem jüngsten Auszug in der Vossischen Zeitung v. 8. Nov.) den konservativen Fraktionsführern des Winters 1908 / 09 den Vorwurf machte, dass das von ihnen betriebene Spiel nicht nur frivol sondern gleichzeitig einfältig war, so lassen diese beiden Prädikate mit gleicher Kraft und Wahrheit auf das Spiel sich anwenden, das heute die Förderer der Gegenrevolution mit der Ruhe und den Zukunftsaussichten des Deutschen Reiches treiben. Die Gegenrevolution, die man allzu früh für fast zertrümmert hielt, ist lebhafter geworden in Ton und Gebaren als sie seit zehn Jahren gewesen ist: sie hat einen unleugbaren Wahlerfolg davongetragen und verfolgt ihre Ziele in einer festen und starken Organisation, nicht nur mit Dreistigkeit und Frivolität, sondern mit einer so rücksichtslosen Frechhheit, wie sie nur durch ein hohes Mass von Siegesgewissheit eingegeben werden kann. Wer auf 50 Jahre politischen Denkens zurückschauen kann, hat die Entstehung und die Wirkungen des Gesetzes gegen die „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ erlebt. Die damalige Gefahr war in Wirklichkeit gering: die Staatsform war in Preussen, wie in den übrigen Einzelstaaten und im Reich, noch völlig gesichert, die Leitung durch den Fürsten Bismarck genoss bei der grossen Mehrheit des Volkes ein unbegrenztes Vertrauen, der deutsche Kaiser und König von Preussen war ein besonnener alter Mann, dessen Haupt die Lorbeerkränze von drei siegreichen Kriegen zierten. Die wachsende Zahl sozialdemokratischer Stimmen, die Tonart einiger ihrer Redner und Schriftsteller die nicht zu den wirklichen Führern gehörten, setzten den ruhigen Bürger der kleinen

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Das Spiel der Gegenrevolution: Textnachweis: TN, Cb 54.34:86. – Typoskript in 4°, S. 1−4, mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen; vmtl. Ende 1930 verfasst. Vossischen Zeitung: Vgl. Bülow 1930a. Gesetzes: Das Sozialistengesetz wurde 1878 auf Betreiben Bismarcks zur Unterdrückung der sozialistischen Arbeiterbewegung erlassen und trotz Wirkungslosigkeit bis 1890 mehrmals verlängert. ein besonnener alter Mann: Verbessert, vorher: verständiger und besonnener Mann. – Gemeint ist Wilhelm I. drei siegreichen Kriegen: 1864 gegen Dänemark, 1866 um die Vorherrschaft in Deutschland, 1870 / 71 gegen Frankreich.

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Städte noch mehr als den Landmann von Zeit zu Zeit in Schrecken und be[2]wirkten, dass man im Ernste glaubte, die sinnlosen Schüsse eines verwahrlosten und eines wahnwitzigen jungen Mannes seien das von der Sozialdemokratischen Partei absichtlich gegebene Signal für einen ungeheuren Aufruhr. Diese Meinungen, deren die damalige Regierung für ihre Zwecke sich bemächtigte, waren kindlich, wenn nicht kindisch zu nennen. Im Jahre 1877 entsetzte die Zunahme sozialdemokratischer Stimmen die einer halben Million nahegekommen waren, Biedermeiers Gemüt: es waren 91 von 1000 Stimmen geworden gegen 68 drei Jahre früher. Freilich es war auch damals eine grosse allgemeine Krisis der Volkswirtschaft, sogar der Weltwirtschaft, soweit sie schon vorhanden war, ausgebrochen. Ich habe in einer kleinen Schrift „Die Entstehung des Sozialistengesetzes“ (Berlin Springer) auf diese Zusammenhänge hingewiesen. Wir haben heute eine neue Staatsform. Dass sie von vielen gehasst und verachtet wird, und zwar gerade von vielen, die als Träger der Bildung gelten, ist bekannt. Weniger bekannt ist, dass seit dem Bestehen der Republik unablässig, aber gerade in den letzten Jahren mit zunehmender Intensität auf ihre Zerstörung hin gearbeitet wird: aber der Ausfall der letzten Reichstagswahlen muss jeden darauf aufmerksam gemacht haben, der die Erhaltung dieser Staatsform als eine schlechthin notwendige Lebensbedingung für das Deutsche Reich und für das deutsche Volk (denn auch für Österreich ist sie es) erkannt hat. – Wenn mit den Stimmen, die für die zwei Parteien, welche das Wort „national“ – zum Behuf der Beschimpfung aller Kriegsteilnehmer und Volksgenossen, die nicht zu ihnen gehörten –, im Namen führen, diejenigen vereinigt werden, die in der gegenrevolutionären Tendenz ihnen nahe verwandt sind, nämlich Wirtschaftspartei, Bauernbund, Landbund und dergl., überdies aber die Hälfte der Stimmen, die für die Deutsche Volkspartei abge[3]geben wurden, als in dieser Hinsicht gleichgerichtet hinzugerechnet werden – der letzte Faktor ist zwar so ungewiss wie der Nationalliberalismus es immer war – so finden wir, dass insgesamt von 1000 Stimmen im Mai 1928 307 gegenrevolutionäre Stimmen, im September 1930 363 ebensolche aus den 2

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sinnlosen Schüsse: Das Attentat des 20-jährigen Max Hödels am 11. 5. 1878 musste als Anlass für das Sozialistengesetz herhalten. „Die Entstehung des Sozialistengesetzes“: Vgl. Tönnies 1929 (TG 19); richtig: „Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878“. der letzten Reichstagswahlen: zum 5. Reichstag am 14. 9. 1930; dabei erhielt die NSDAP 18,3% der Stimmen. zwei Parteien: Das sind die DNVP und die NSDAP.

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Wahlurnen hervorgingen. Die Zunahme beträgt also 18,2 von 100: kein Wunder, dass diese Zunahme eine grosse Beunruhigung hervorgerufen hat. Eine nähere Betrachtung der einzelnen Wahlkreise kann aber dazu dienen, die Aufregung etwas zu dämpfen. Sie lehrt uns nämlich, dass diese Zunahme ihrer Stärke nach im umgekehrten Verhältnisse zur bisherigen Stärke dieser Stimmenzahlen, wie sie 1928 zutage traten, steht: und zwar in fast vollständiger Korrelation, wenn wir die 35 Wahlkreise in sieben gleiche Gruppen einteilen: nämlich in den fünf Wahlkreisen, wo diese Summe 1928 am grössten war (Ostpreussen, Potsdam I, Frankfurt a. d. O., Pommern, Schleswig-Holstein), beträgt die Zunahme durchschnittlich 14 %. In den fünf aber, wo sie am schwächsten war (Berlin, Süd-Hannover, Braunschweig, Westfalen Süd, Köln, Aachen, Baden) beträgt sie im Durchschnitt fast 40 von 100. Dazwischen liegen die Durchschnitte 18, 14, 22, 27, 36 v. H. Nur in der Mitte ist eine kleine Abweichung der regelmässigen Steigerung von Gruppe zu Gruppe. Werden die 15 zusammengenommen, in denen die verhältnismässige Anzahl schon beträchtlich war und wiederum die 15, wo sie noch schwach war, so war die Steigerung dort 15 hier 34 v. H. – Ein ähnliches aber noch auffallenderes Ergebnis zeigt sich, wenn nur die beiden ausgesprochen gegenrevolutionären Parteien: die Deutschnationale und die National-Sozialistische, zusammengenommen und verglichen werden: hier ist die Folge der Gruppen à 5 in folgenden Durchschnitten gegeben: 13, 28, 50, 92, 78, 99, 145 und wenn die ersten 15 zusammengenommen werden, so ist deren Durchschnitt 30, der Durchschnitt der letzten 15 aber 107. Wie sind diese Ergebnisse zu deuten? Sie werden ohne Zweifel [4] von bewussten oder halbbewussten Anhängern dieser Parteien als Siegeszeichen gedeutet werden. Was scheinbare rasche entscheidungslose Siege bedeuten, haben wir bitterlich durch den Weltkrieg erfahren. Ich meine, wenn eine masslose durch traurige wirtschaftliche Zustände und schlimmen Zustand der öffentlichen Finanzen unterstützte Agitation, die offenbar über masslose Geldmittel verfügte, von welcher interessierten Seite auch immer sie herrührten, nicht mehr erreicht hat als dies Ergebnis, dass sie nur in einem dieser Wahlkreise, wo die Steigerung 77 von 100 betrug (nämlich in Osthannover) die Höhe von mehr als 300 v. tausend Stimmen erreichte, in allen übrigen darunter blieb, so mögen wir mit einiger Ruhe, wenn auch mit äusserster Wachsamkeit die weitere Entwicklung beobachten: denn noch eine Offensive von gleichem Erfolge ist in höchstem Grade unwahrscheinlich. Man kann das Ergebniss mit Grund dahin deuten, dass an einem bestimmten Punkte die Sättigung mit dem Schmaus den diese Partei darbietet, eintritt, wenn nicht schon vorher eine Übersättigung sich zeigt.

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In 26 Wahlkreisen haben die beiden Bruderparteien die Stimmenzahl auf über 1 / 5 sämtlicher gültiger Stimmen gebracht, nur in zwei – Ostpreussen und Pommern – auf über zwei fünftel und in 5 anderen auf über 30 %. Dagegen ist die Zahl in 9 Kreisen noch unter 1 / 5 geblieben.

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Der Begriff der „Opposition“ als einer Art von staatsrechtlicher, zwar nicht Einrichtung aber offenbarer und anerkannter Tatsache ist dem englischen Staatsleben entnommen, wo man – so sagt Hatschek in seinem grossen Werke über das englische Staatsrecht – nicht Anstand genommen hat, die Opposition als einen Teil der Staatsregierung zu bezeichnen und wo (so sagt derselbe treffliche Autor) der im Scherz gemeinte aber dann durchaus ernst genommene Ausdruck dafür geblieben ist: Seiner Majestät „getreueste Opposition“, der in einer Republik einfach heissen würde: die getreue Opposition der republikanischen Regierung. In Gross-Britannien hängt wie bekannt diese Bedeutung der Opposition deutlich damit zusammen, dass es, einst in aller Regel, zwei regierungsfähige und regierungswillige Parteien gab, von denen die eine drinnen und die andere draussen war, und die draussen immer bestrebt war hineinzukommen, also die andere hinauszudrängen. Die Entscheidung hing an der Wählerschaft, die freilich, zumal vor aller Reform sonderbar genug zusammengesetzt war, und in keine Weise darauf Anspruch machen konnte das Volk, auch wenn es nur aus Männern zusammengesetzt gedacht wurde, gültig zu vertreten. Der Wechsel der Regierungen, das Schwingen des Pendels zwischen Tories und Whigs, oder später zwischen Konservativen und Liberalen, beruhte im Grunde in einem stillschweigenden Einverständnis der herrschenden vornehmen Familien, also der Gentry – denn die Nobility hatte ja ihre eigene ständische Vertretung und übte zwar einen grossen Einfluss aus auf die sogenannten Wahlen zum Hause der Gemeinen, [2] aber sie war nicht unmittelbar darin vertreten. Es war die besitzende Klasse, dh. zunächst die grundbesitzende Aristokratie, aus der sich, wenn auch einzelne fremde Beimischungen allmählich sich einstellten, das Unterhaus in seinen beiden Parteien zusammensetzte. Der ursprüngliche Unterschied zwischen beiden Parteien war der, dass die Tory-Partei ganz überwiegend ein kleineres und 1

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Die nationale Opposition: Textnachweis: TN, Cb 54.34:77. – Typoskript in 4°, 4 S., mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Unter dem Kopftitel eigenh.: „Von Ferdinand Tönnies“. Verfasst um 1930. das englische Staatsrecht: Vgl. Hatschek 1905 / 06. Gentry: D. i. der niedrige brit. Adel.

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noch im Feudalismus beruhendes Eigentum des Bodens darstellte, das insbesondere sehr nahe mit der gesetzlich etablierten Kirche von England, also mit deren bischöflicher Verfassung und über die Kirchspiele verstreuten Geistlichkeit eng verbunden war, dagegen die Whigs waren schon im 17. Jahrhundert, als der Spitzname aufkam, moderner: sie hingen damals nahe mit der City von London, also mit der Kaufmannschaft, mit der Schiffahrt, mit der Bank von England, die im Jahr 1695 aus ihren grossen Vermögen hervorging, zusammen; auch suchten sie immer Fühlung mit dem Dissent, den vorzugsweise städtischen und industriellen Elementen die dem kirchlichen Christentum sich nicht anpassen wollten. Ihre Häupter waren wirklich grosse Grundbesitzer, die damals noch selten waren, und vorzugsweise aus den Klosterländereien den Abbey-Lands sich bereichert hatten, woraus ihre grosse Scheu vor dem Papismus, also auch vor der Restauration der Stuarts, nachdem sie in der „glorreichen Revolution“ gestürzt waren, sich erklärt, während die Tories lange der Sympathie für den gestürzten König und seine Erben schuldig oder doch verdächtig waren. Dieser schwerwiegende Gegensatz verschwand aber um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem öffentlichen Leben. Es blieben Unterschiede und Gegensätze zwischen den Parteien genug, und vermehrten sich als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Parteien sich zersetzten und umgruppierten, als endlich ein dritte, nicht nur dem Namen nach demokratische, Partei hineintrat und sogar als regierungsfähig, wenn auch [3] nur bedingterweise, sich bewähren konnte. Der Parteienkampf und also auch die normale Zwiefachheit von Regierung und Opposition ist dadurch schwieriger, die stillschweigende Konvention, dass jedenfalls eine der beiden aristokratischen Parteien regieren müsse, ist tief erschüttert worden. Sie hat aber ihren Sinn insofern behalten, als auch die Arbeiterpartei nicht als solche, nur durch einige ungeduldige und ungestüme Vertreter, irgendwelches Verlangen und Bestreben kundgegeben hat, die Verfassung des Reiches in einem wesentlichen Teile zu verändern; obschon wenigstens die Reform, ja auch die Abschaffung des Hauses der Lords schon seit wenigstens einem halben Jahrhundert selbst von dem fortgeschrittenen Teile der liberalen Partei lebhaft verlangt worden ist. Die sozialdemokratische Partei hat in dem Bismarckschen Reich das sie ächtete, niemals für eine „Opposition“ in diesem Sinne sich ausgegeben, sie hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass sie nicht erwartete und keinen Anspruch drauf machte, wenn sie eine Mehrheit im Reichstage gewönne, 14

glorreichen Revolution: Die „Glorious Revolution“ von 1689 inthronisierte Wilhelm III. von Oranien.

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auch nur zur Teilnahme an der Reichsregierung berufen zu werden; diese Erwartung hätte nach der damaligen Verfassung, ihrem monarchischen Charakter gemäss keinen Sinn gehabt; als sie wenn auch nur in schwachem Masse dennoch wirklich wurde, war dies ein deutliches Zeichen des nahen Endes dieser Verfassung. Wenn heute eine sogenannte nationale Opposition im Deutschen Reiche sich den Anschein geben will, als ob sie im Sinne des gross-britannischen Verfassungslebens oder eines der vielen, die ihm nachgebildet sind, eine normale Opposition darstellte, so ist sie entweder unwissend und töricht oder, was in diesem Falle wahrscheinlicher ist, sie ist unwahrhaftig, und versucht ihre durchaus auf die Zerstörung der bestehenden Verfassung gerichtete Gesinnung und Tätigkeit hinter dem Schein eines friedlich parlamentarischen Strebens, wie es jener historische Begriff der Opposition in sich schliesst, zu verstecken. Eine schöne Opposition, die aus dem Hohen Hause des Parlaments davonrennt und hinter ihm herbellt! – Schlimmer als diese Unwahrhaftigkeit oder Unwissenheit ist das Beiwort „national“, womit diese Umsturzpartei sich schmückt, deren Umsturzgelüste in der gegenwärtigen Not gefährlicher und schlimmer wirken müssen, als je ähnliche Gelüste zu wirken vermochten. Schon die „Vaterlandspartei“ während des Weltkrieges, deren Erfindung einen militärischen also unpolitischem Manne allenfalls nach [4] gesehen werden konnte, bedeutete eine unerhörte Kränkung der Volksmenge, die im Heere und in der Marine kämpfte oder in der Heimat litt und hungerte; denn es war eine Partei, die eine bestimmte Ansicht – überdies eine falsche – über die richtige Fortführung des Krieges und seine mögliche Beendigung vertrat. Nun aber gar die Deutschnationale Volkspartei! An deren Spitze die Erben jener ostelbischen Familien sich stellten, die der nationalen Einigung Deutschlands durch mehr als fünf Jahrzehnte mit allen Kräften widerstrebt hatten, die sogar nach der unvollkommenen Lösung der „Deutschen Frage“, die als Folge des siegreichen Krieges gegen Frankreich, zu dem (ausser 20

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Vaterlandspartei: D. i. unter Führung von Großadmiral Alfred von Tirpitz und Wolfgang Kapp als nationale Opposition gegen Reichstag und Regierung im Herbst 1917 gegründete „Deutsche Vaterlandspartei“. Deutschnationale Volkspartei: D. i. die DNVP, ein Sammelbecken konservativer und monarchistischer Kräfte, 1918 gegründet, rekrutierte sie sich aus den Mitgliedern der „Deutschen Reichspartei“ (Freikonservative) und der „Christlich-Sozialen Partei“, rückte ab 1924 scharf nach rechts. Deutschen Frage: Auf der Frankfurter Nationalversammlung 1848 wurde von Preußen zur Gestaltung Deutschlands die „kleindeutsche Lösung“ durchgesetzt mit Preußen an der Spitze, Berlin als Hauptstadt und damit gegen Österreich und Wien.

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den österreichischen) die deutschen Stämme zusammengewirkt hatten, Bismarck zu bewirken vermochte, aus preussischem Partikularismus der Entwicklung des Neuen Reiches immer widerstrebten, sie mittelbar und unmittelbar fortwährend schädigten – auch wenn dem nicht so gewesen wäre, so blieb die Anmassung des Namens „deutsch-national“ ein Schlag ins Gesicht derer, die für die Nation, für das Deutsche Reich so viel getan und gelitten hatten, wie in den fünf Jahren 1914 / 18 von der Gesamtheit getan und gelitten worden ist. – Die nationale Opposition ist also nicht nur eine Torheit oder eine Unwahrheit oder beides zugleich, sondern auch eine grobe Insulte Andersdenkender, also glücklicherweise der grossen Mehrheit des deutschen Volkes. Von dem Augenblicke an, wo sie als solche erkannt wird, muss sie an ihrer eigenen Nichtigkeit zugrunde gehen.

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Insulte: [frz.] svw. Beleidigung. zugrunde gehen: Abschließend eigenh. Unterschrift: Ferdinand Tönnies.

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Vorwort [zur geplanten Neuausgabe der Schrift: „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung“] 5

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Die vorliegende Abhandlung ist ihrer Substanz nach während des letzten Vorkriegsjahres verfasst worden. Sie erschien in zwei Teilen im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik: der erste wurde in Band 39 Heft 1 (Juli 1914), der zweite Teil in Band 39 Heft 3 (Juli 1915) abgedruckt. Man versteht dass diese Zeitpunkte beide im höchsten Masse ungünstig waren. Ob es nur infolgedessen ist, dass die Abhandlung weder damals noch seitdem irgendwelche Beachtung gefunden hat, wage ich nicht zu entscheiden. In meinem Vertrauen auf die Zweckmässigkeit der von mir angewandten Methode und auf den Wert der Ergebnisse lasse ich mich nicht beirren; und der Bitterniss die ein Totschweigen immer in der Seele hinterlässt, stehen in meiner Erinnerung die glänzenden Aeusserungen des Beifalls gegenüber, die beim Empfange des ersten, aber auch – obgleich schon die Kriegsnöte alle Aufmerksamkeit absorbirten – des 2ten Manuskripts, Max Weber, der damals persönlich die Zeitschrift redigirte, aus freien Stücken und in lebhaften Worten mir kundgegeben hat. Es ist die neue Ausgabe einer früher publizierten Untersuchung, die hier vorgelegt wird. Nicht nur Berichtigungen und Streichungen sind im Texte vorgenommen worden, sondern es ist auch neuer Text hinzugekommen, der zur Erläuterung und Ergänzung dient. Auch wird auf die seit dem Ausbruch des Weltkrieges verflossenen unter völlig veränderten Bedingungen stehenden Jahre ein Blick geworfen. Es kann von unmittelbarer Anwendung auf die neuesten

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Vorwort: Textnachweis: TN, Cb 54.34:106. – Typoskript in 4°, 2 Blätter, mit eigenh. Korrekturen und Einfügungen. Am Kopf des Anfangsblattes mit Farbstift die röm. Ziffer „I“, wohl nicht als Seitenpaginierung gedacht, da das folgende Blatt unpaginiert ist. Alles Nähere, auch zum Entstehungsdatum des Textes, s. Editorischer Bericht S. 643−645. abgedruckt: Vgl. Tönnies 1914 / 1915 (TG 9, Tönnies 2000b: 419−478). kundgegeben: Handschriftl. am Rand von Tönnies vorgesehen eine Fn, in der er ein Zitat aus Webers Brief an ihn zu zitieren gedachte, was aber unterblieb (vgl. unten S. 643f.). Es ist die neue Ausgabe: Geändert aus nicht gestrichenem: Es ist aber eine neue Ausgabe, die hier vorgelegt wird.

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Zeitläufte nicht die Rede sein. Die Abhandlung nimmt auch in ihrer abgeänderten Fassung nur einen streng wissenschaftlichen Wert in Anspruch. Ich wiederhole daher die im Jahre 1915 geschriebenen (jetzt im Texte gestrichenen) Worte, die darauf hinwiesen, dass schon das Jahr 1914 im höchsten Grad ein unregelmässiges Jahr geworden sei. „Höchstwahrscheinlich wird dadurch auch der Wechsel von Quadriennien wie er hier aufgezeigt wurde, schlechthin unterbrochen werden, nachdem er auch sonst störenden Einflüssen durch Kriege immer [2] ausgesetzt gewesen ist. Vielleicht ist aber die Vermutung nicht allzu gewagt, dass er sich später wiederherstellen mit dem Frieden wiederaufleben werde“. Niemand vermutete damals, welchen ungeheuren Umfang, welche Zerrüttung der Krieg dessen Dauer auch nicht vorausgesehen wurde, haben würde; noch weniger, welch ein furchtbarer Friedensschluss erfolgen, wie er bis heute in seinem zwar in erster Linie für das Deutsche Reich und Österreich weiterhin aber für die ganze Weltwirtschaft verderblichen Wirkungen fortleben werde. Der unerhörte auf eine nicht erschöpfte Kriegspsychose schliessenlassende Umstand, dass der Friedensschluss in die Form eines Strafprocesses gekleidet wurde, worin die Verbündeten, die nicht mit Ehren „Sieger“ Ankläger und Richter zugleich waren – diese himmelschreiende Tatsache wird sicherlich eines Tages zu einer vollen Besinnung und gründlichen Revision des Diktates führen müssen, wenn nicht Europa unrettbar seinem Verderben entgegen gehen soll, was wohl auch die gewaltigen Vereinigten Staaten Amerikas nicht ganz unbeschädigt lassen wird. Die dort so verbreitete Furcht vor dem „Bolschewismus“ wird sich dann als wohlbegründet erweisen. Im Deutschen Reich ist durch eine neue und republikanische Verfassung und durch grosse Anstrengungen die soziale Reform auf höherer Stufenleiter wiederaufzunehmen, der richtige Weg für eine vernünftige Neugestaltung angebahnt worden. Auf diesem Wege wurden manche Fehltritte begangen, die zum grössten Teil durch die Schwierigkeit der Probleme und die heftigen Widerstände derer, die dem neuen Staat und der neuen Gesellschaft mit der Leidenschaft von Hass und Abscheu gegenüberstehen, entschuldigt werden. Aber es ist kein Grund, die Hoffnung fahren zu lassen, dass es doch gelingen werde, diese Widerstände zu überwinden. 10

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„… wiederaufleben werde“: Vgl. den Schlussabsatz in Tönnies 1914 / 15: 794 (2000b: 478). die nicht mit Ehren: Im Original nachträglich (mit Bleistift) in eckigen Klammern. himmelschreiende Tatsache: ‚himmelschreiende‘ im Original nachträglich (mit Bleistift) in eckigen Klammern. Widerstände zu überwinden: Der vorausgehende Text ist von dem Satz anfangend, ‚Niemand vermutete damals … bis Textende in eckige Klammern gesetzt.

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Der Begriff der Gesellschaft scheint einfach und leicht verständlich. Er ist aber keineswegs einfach und enthält manche Probleme. Will man einen Begriff in einem Namen ausprägen, so muss man immer zunächst mit dem Sprachgebrauch sich auseinandersetzen und dieser ist meistens schwankend, oft launenhaft, kennt strenge Begriffe jedenfalls nicht, und so hat die Gesellschaft mannigfachen Sinn in der Sprache. Ich sehe zunächst ab von dem Sinn, worin die Gesellschaft als eine künstliche Person gedacht wird, die wir als gleichen Sinnes verstehen mit einem Verein, einer Genossenschaft, einer Gemeinschaft, einem Bund, oder wie immer dieser Begriff, der auch im Rechte ausgebildet ist, erscheinen mag. Auch verweile ich nicht dabei dass e. Gesellschaft für fashionable Leute etwas ist, was man gibt, wen man einlädt, wohin man geht. Mehr wissenschaftlich ist der Sinn, worin ausserdem Gs. im Sprachgebrauch erscheint. 1.) Sie hat einen ganz vagen Sinn, wenn sie weiter nichts bedeuten soll, als die Gesamtheit der irgendwie im Raum und in der Zeit gleichzeitig vorhandenen Menschen, die also gedacht werden, als möglicherweise in irgendwelchen Beziehungen zueinander stehend, ohne dass aber der Gedanke dabei verweilt; es ist nichts gemeint als eine Gesamtheit der Menschen, ohne dass von irgendwelchen Begrenzungen die Rede ist. Es ist der Sinn, womit man oft sagen hört, es könne auch ein Mensch, der sich in einem asozialen, also dem geselligen Leben entgegen gerichtetem Sinn betätigt habe, noch ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft werden. 2.) Einen bestimmteren Sinn verbindet man mit dem Namen der Gesellschaft, wenn man ihr ein bestimmtes Gebiet zuweist, sie also begrenzt auf ein Land, das Gebiet eines Staates oder einer Nation. Diesen Sinn werden wir hier als den der bürgerlichen Gesellschaft und diese in ihrem Verhältnis und ihrem möglichen Gegensatz zum Staate einer besonderen Betrachtung unterwerfen. [2] 1

[Der Begriff der Gesellschaft]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:98. – Typoskript (in 4°), 12 Bl. mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Beiliegend ein sonst leeres Blatt mit handschriftlichem Vermerk: „Vortrag über Gesellschaft“ (vermutlich von der Hand Ernst Jurkats). Entstanden etwa 1931. Ob, wann und wo der Vortrag stattgefunden hat, wurde nicht ermittelt.

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3.) Hier bedeutet die Gesellschaft nur einen Teil der Gesellschaft, auch der bürgerlichen Gesellschaft, d. h. einer Auslese: die Summe der irgendwie hervorragenden und weithin sichtbaren Personen. Diese Auslese wird aber je nach engeren oder weiteren Gesichtspunkten mannigfach verstanden und gedeutet: A) Ursprünglich hängt dieser Sprachgebrauch zusammen mit der Bedeutung der Monarchien und ihrer Höfe. Wenn man frühzeitig von der Gesellschaft im zweiten Sinne anfängt zu reden, diese unterschied nach Stadt und Land, so bedeutet z. B. in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts ‚la cour‘ eine dritte Kategorie. Diese war damals fast identisch mit der Gesellschaft in diesem dritten Sinne, das bedeutet zu jener Zeit noch vorzugsweise den Adel, wenn auch dieser mehr und mehr unadlige Personen in sich aufnehmen mußte, die in der Regel den Anspruch darauf durch bedeutendes Vermögen sich erworben hatten. Gehörten solche einer andern als einer staatlich anerkannten Religion an, so war natürlich der Eintritt in diesen Kreis erschwert und in der Regel durch Konvertierung bedingt. Auch in England hat der Name ‚court‘ noch die besondere Bedeutung, die z. B. darin sich kundgibt, dass im Londoner Adreßbuch, der ‚court‘ eine besondere Abteilung einnimmt, dem aber alle Personen angehören, die nicht als Arbeiter oder als Handel- und Gewerbetreibende ausgeschlossen sind. Als natürliche und notwendige Mitglieder dieser Hofgesellschaft galten die Geistlichen, wenigstens ihrer Spitzen, die sogar oft schon im Mittelalter das besondere Vertrauen der regierenden Personen und ihrer Angehörigen genossen und nicht selten an den führenden Funktionen der Monarchen den bedeutendsten Anteil hatten, wie die Kardinäle unter Ludwig XIII. und unter Ludwig XIV. in Frankreich. Eine natürliche Ergänzung fand außer[3]dem der Adel im Offiziersstande, zumal solange dieser ausschliesslich oder doch vorzugsweise dem Adel entnommen wurde, ebenso wie die Diplomatie, die hohen Verwaltungsbeamten, zum guten Teil auch die hohe Geistlichkeit. B) Von grosser historischer Bedeutung aber wurde, wie ich schon angedeutet habe, dass mehr und mehr das Bürgertum durch Erwerb grossen Vermögens und zum Teil auch durch andere Leistungen in diese Hofgesellschaft eingedrungen ist. Die Aufnahme geschah zum guten Teil durch die Gunst der Fürsten selber, die bei den wachsenden finanziellen Ansprüchen des Hofes und der Armee, auch abgesehen von ihren etwaigen persönlichen Neigungen erkannten, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt

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ihrem Staate und so auch ihren Personen, in denen sie sich zuweilen mit dem Staate identifizierten, zugute kommen müsse. So kamen im Laufe der Jahrhunderte immer mehr teils die finanziell starken Personen, sogar ohne dass sie geadelt wurden, teils die Häupter von Wissenschaften und Künsten in die Gesellschaft hinein und die Gesellschaft dieses Sinnes konstituierte sich auch unabhängig von den Höfen als die Einheit, wie sie oft in Deutschland genannt wurde, von Besitz und Bildung. In diesem Sinne prägt sie z. B. auch sich aus in dem hoch interessanten und sehr stattlichen Werke, das eben als das Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft in die Öffentlichkeit getreten ist. Hier ist natürlich die Abgrenzung gegen die grosse Menge derer, die davon ausgeschlossen ist, ausserordentlich schwierig gewesen und wird auch viele unbefriedigt lassen, die sich davon ausgeschlossen finden, schwierig schon wegen der durch ein solches Werk doch unvermeidlichen Auslese aus einer grossen, zahlreichen Bevölkerung; es wird wohl ausser der deutschen auch die österreichische und andere sprachlich nahestehende einbezogen sein. Wie man hört, hat sich schon, [4] nachdem die zwei grossen Bände erschienen waren, das Bedürfnis einer Ergänzung geltend gemacht und dies wird nicht leicht ruhen. Immerhin wird die durch Portraits wenn auch nicht aller, so doch der meisten genannten Personen geschmückte Publikation ein grosses, auch wissenschaftliches Interesse in Anspruch nehmen und zum guten Teil auch befriedigen, da die leitenden Gesichtspunkte der Auswahl wohl nicht gemissbilligt werden können. [5] Der wissenschaftliche Begriff der Gesellschaft ist die bürgerliche Gesellschaft. Die zweite der Bedeutungen des Sprachgebrauches kommt ihm am nächsten. Das Prädikat „bürgerlich“ weist daraufhin, dass der Begriff an die Erscheinungen des städtischen Lebens sich anlehnt, daher in einem gewissen Gegensatz steht zu jener Gestaltung des sozialen Lebens, die durch das Vorwalten der ländlichen Zustände charakterisiert ist, also auch durch das der Herrenstände des geistlichen und des weltlichen, die mittelalterlich auch als Landesherrschaften über die Städte zum grössten Teil sich erstrecken, wenn sie auch nicht imstande sind, die Ausbildung freier Bürgerschaften zu unterdrücken, zum Teil auch sie nicht einmal hemmen können. Die Idee des modernen Staates ist die der vergrösserten und verallgemeinerten Stadt, die ihre ganze Nomenklatur an die antike Polis und die Politik anknüpft. Die Idee der bürgerlichen Gesellschaft will sagen, dass ihre 9

Reichshandbuch der Deutschen Gesellschaft: Vgl. darin von Tönnies die Einleitung „Über die Gesellschaft“ (1930b).

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Glieder Gleichheit untereinander zugleich mit der Freiheit der Bewegung in Anspruch nehmen, dass sie also die Herrenstände ablehnen, insofern als diese eine, sie es natürlich oder übernatürlich beglaubigte Überlegenheit ihres Einflusses und ihrer Bedeutung behaupten. Der Begriff stützt sich also auf eine der Meinung nach fortgeschrittene und fortschreitende Kultur. Er hängt mit dem Begriff der Aufklärung und eben dadurch mit dem des jungen Gross-Bürgertums nahe zusammen. Dieses stammt zwar zum grössten Teil vom Bürgertum der älteren Städte, besonders dem der grossen Städte ab. Es ist aber nicht mit ihm identisch, sondern es ist immer bezogen auf eine grössere Gesamtheit, die sich am einfachsten als die der Nation darstellt und vorzugsweise in der jüngeren Schicht wurzelt, deren Kern die handeltreibende Klasse ist, die vom Handel aus in einem natürlichen Gegensatz gegen die spezifisch altstädtische, zünftige Handwerksindustrie, eine neue allgemeinere Industrie hervorruft und sich durch ihr Kapital zu deren Beherrscherin gemacht hat. [6] Die Erkenntnis dieser Zusammenhänge ist zwar erst sehr allmählich gewachsen, man sah noch nicht, oder sehr selten auch dann nur im schwachen Lichte die Klassenscheidung in der bürgerlichen Gesellschaft, wodurch die grosse Menge des Volkes in die Abhängigkeit von der Macht des Kapitals gefallen ist. Man sah eben nur Fortschritt, Licht, Freiheit und glaubte an eine Verwirklichung der Gleichheit im Sinne einer Verallgemeinerung des Kleinbürgertums, welcher Illusion freilich bald die Tatsachen sich entgegenstellten. Auch findet man nur schwache Andeutungen einer solchen Entwicklung in Schriften – es waren besonders französische und englische – die zunächst um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts und dann im 18. Jahrhundert den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft mit einer gewissen naiven Sorgfalt behandelten, gegen den freilich bald Rousseaus Anklage wider die Zivilisation der Städte, wider die Unnatürlichkeiten der verfeinerten Gesellschaft wie ein Unwetter sich erhob und tönenden, wenn auch verübergehenden Widerhall fand. Im deutschen Gebiet war die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und auch ihr Reflex in der Literatur schwächer und langsamer. Die bürgerliche Gesellschaft drang meistens nur auf dem Umwege der Übersetzung besonders aus dem französischen in das deutsche Bewusstsein ein. Dass übrigens die Entwicklung parallel lief, wenn auch gebrochen durch die kleinen Staaten und die unentwickelte Staatsnatur des alten Reiches, ist leicht erkennbar. Clemens Theodor Perthes stellt dies in seinem ausgezeichneten Buche über das deutsche Staatsleben vor der Revolution dar, wie mehr und mehr nur die Opposition der Individuen noch in Frage kam und wie eben die Individuen in den Städten sich mischten, wie das Leben in Wissenschaft

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und Kunst die jüngeren Städte belebte, besonders die Residenzen, die Städte der Hochschulen und zum Teil die jungen Industriestädte; „dazu [7] kamen die von einsamen Burgen in die Städte ziehenden Ritter, die sich mehrenden Beamten, die Elemente der Höfe: aus ihrem gegenseitigen Verhalten zueinander und der Wechselwirkung, die sie untereinander übten, wuchs sehr allmählich und unbemerkt ein neues, der früheren Zeit unbekannt gebliebenes Geistiges hervor, welches, da ein treffenderer Ausdruck fehlt, als soziales Leben bezeichnet werden mag.“ Das Subjekt dieses sozialen Lebens war eben die bürgerliche Gesellschaft. Es ist merkwürdig, wie gerade aus dem deutschen Denken zunächst eine tiefere begriffliche Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft hervorgegangen ist. Es geschah nach manchen minder wirksamen Vorgängern durch den Philosophen Hegel, der mit dem Zauberstabe seiner Trilogien den Staat aus zwei sittlichen Wurzeln erwachsen lässt, nämlich erstens aus der Familie, hier als der unmittelbare oder natürliche Geist charakterisiert und 2tens aus der Korporation, die nach ihm in der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist. Die bürgerliche Gesellschaft selber lässt er aus der Familie als deren Verneinung hervorgehen, denn in ihrer Erweiterung und Erneuerung geschehe auch ihre Entzweiung. Sie gehe in den Standpunkt des Relativen über und so werde die bürgerliche Gesellschaft eine Verbindung der Glieder als selbständig Einzelner in einer somit formellen Allgemeinheit durch ihre Bedürfnisse, die Rechtsverfassung als Mittel der Sicherheit der Personen und des Eigentums und durch eine äusserliche Ordnung für ihre besonderen und gemeinsamen Interessen. Hegel nennt die bürgerliche Gesellschaft in diesem Sinne auch einen „äusserlichen Staat“. Er lässt den wahren, also innerlichen Staat nur als den Zweck und die Wirklichkeit des allgemeinen und substantiellen Geistes und des diesem gewidmeten öffentlichen Lebens in der Staatsverfassung als eine Einheit der Familie und der bürgerlichen Gesell[8]schaft hervorgehen: er nennt den Staat dann die Wirklichkeit der sittlichen Idee. Wir erkennen in diesen Begriffszusammenhängen den Ausgangspunkt in der Ansicht der sozialen Frage, wie sie eben in Deutschland über einer wesentlich utopistischen und rhetorischen zu einer höheren und wissenschaftlichen sich entwickelt hat. Ihre Wirkung in dieser Hinsicht ist gewaltig und wirkt bis in die heutige unermessliche Literatur aller Länder über den Marxismus, wenn auch mit meistens schwacher Auffassung des 8

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„… bezeichnet werden mag.“: Vgl. Perthes 1845: 230; dieses Zitat ist von Tönnies aus mehreren Passagen der angegebenen Quelle zusammengestellt worden. sie gehe: am Wortende Buchstabenverlust, möglicherweise ist auch ‚gehen‘ zu lesen.

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Problems, ja zum grössten Teil mit grobem Un- und Missverständnis. Hegel selber weist schon daraufhin, dass die wichtige Frage, der Armut abzuhelfen, eine vorzüglich die moderne Gesellschaft bewegende und quälende sei. Hegel ist im Jahre 1831 – es sind gerade 100 Jahre vergangen – verstorben, als eben durch die – wiederum französische Revolution des Juli 1830 das scheinbare Stilleben, das sich nach dem Fall Napoleons über Europa gelagert hatte, zu Ende gegangen war. Eben trat mit dem SaintSimonismus die utopistisch-sozialistische Denkungsart auf die Bühne, die auch des [..] Goethe lebhafte Aufmerksamkeit erregte. Erst im folgenden Jahrzehnt drang eine nahe Kunde davon in das deutsche Bewusstsein ein und übersetzte sich in eine tiefere, eben an Hegel sich anlehnende Literatur. Es war zunächst die grosse Tat von Lorenz Stein, das Element des Widerspruchs und der Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft und das Problem der staatlichen Gegenwirkung dagegen deutlich entwickelt zu haben, zunächst in der Einleitung zu seiner sozialen Geschichte der französischen Revolution, die sich bis auf die Epoche des Februars 1848 erstreckte. Um diese Zeit trat auch als ein neuer Sprengstoff der Meinung das kommunistische Manifest auf, die Kundgebung zweier junger Männer, die aus dem Hegelianismus hervorgegangen, zugleich sich über ihn erheben wollten, indem sie ungefähr dasselbe im Geiste der Aufklärung zu leisten sich vornahmen, wie um die gleiche Zeit ein einsamer [9] Denker in Paris, der in den Spuren Saint-Simons wandelnde Auguste Comte, der die soziale Physik oder die politische Philosophie – welche beiden Doppelwörter er durch den lange angefeindeten aber längst weltläufig gewordenen Terminus „Soziologie“ zu ersetzen unternahm – aus ihren vorwissenschaftlichen Stadien, dem theologischen und dem metaphysisch-evolutionären in ihr definitiv-positives wissenschaftliches Stadium hinüberzuführen meinte. Während des letzten halben Jahrhunderts haben Marxismus und Positivismus in allen Punkten häufig sich berührt. Beide stellen ein grosses Fragezeichen vor die seither mit blendendem Glanz, aber auch mit furchtbaren Zerstörungen und Zerrüttungen verlaufenden Fortschritte des Kapitalismus mit seiner grossen Technik, seinem Weltverkehr, seiner Beherrschung der Naturkräfte, seinen Epoche machenden, das soziale Leben umwälzenden Erfindungen.

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die auch des [..]: unleserliches Wort. Einleitung: Vgl. Stein 1842. kommunistisches Manifest: Vgl. Marx / Engels 1848.

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Ich erwähnte schon Lorenz Stein und die an ihn anknüpfenden Theoretiker, unter denen Rudolf Gneist als Jurist und Theoretiker der Verwaltung, Friedrich Paulsen als Ethiker hervorgehoben werden müssen – sie hatten mit jenen Führern der Nationalökonomie, die sich bald historische, bald ethische nannten – vielfache Fühlung, die vielfach als Katheder-Sozialisten angeklagt wurden, deren Denkungsart aber überall siegreich durchgedrungen ist. Ungeachtet immer neuer Versuche, ihre Wirkungen auszutilgen, haben diese Männer und die ihnen vielfach entgegenkommenden, von sozialen Gefühlen erfüllten Frauen die Eingriffe des Staates und seiner Gesetzgebung in den Prozess des sozialen Lebens gefordert und gefördert, wenngleich mit sehr verschiedenen Modalitäten, niemand vielleicht so intensiv und aus so tiefer Überzeugung unter diesen Gelehrten, wie Adolf Wagner. Jene Gelehrten, die an Lorenz Stein anknüpften, behandelten das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, ob diese Potenzen gleichartig wären, beide als persönlich und mit einheitlichem Willen aus [10] gestattet. Sie stellten dabei die Gesellschaft vor als repräsentiert durch die im sozialen Sinne mächtigen Personen, deren Einmütigkeit vorausgesetzt wurde, repräsentiert also durch die grossen Vertreten des Kapitalismus, dieselben etwa, die heute nach dem Weltkriege sich „die Wirtschaft“ zu nennen pflegen. Es galt jenen notwendig, dass der Staat im Interesse der Arbeiter oder wie man am liebsten sagte der Besitzlosen, sich geltend mache, wie jene das Interesse des Kapitals vertreten. Es ergab sich daraus, dass sie die kapitalistische Verfassung des wirtschaftlichen Systems nicht anfochten, nicht an eine Regeneration der Gesellschaft dachten, sondern sich daran genügen liessen, eine immer neue Reparatur zu verlangen und zu erwarten, als ob eben die Grundelemente unabänderlich wären. Anders Wagner, der ein „Gesetz der wachsenden Staatstätigkeiten“ aufstellen zu dürfen meinte und prinzipiell das ganze wie er sagte, physiokratisch-Smithsche Gedankensystem in Frage stellte. Nun ist jene Personifizierung der Gesellschaft offenbar unrichtig. Person ist diese bürgerliche Gesellschaft offenbar nicht als ein Ganzes, sondern am ehesten so verstehbar als eine Summe vieler mächtiger Gesellschaften, die heute als Aktiengesellschaften, als deren Verbände, Kartelle, Syndikate, Konzerne, Trusts, das zusammengeballte Kapital in ihren Händen halten. Durch diese Tatsache gewinnt nun auch die Gesellschaft in jenem dritten Wortsinn einen neuen Aspekt. Sie besteht von hier aus gesehen nicht mehr aus den Vertretern von Besitz und Bildung, sie schliesst kaum die prominentesten unter den Rittern vom Geiste in sich ein, sondern sie macht mit 26

„Gesetz der wachsenden Staatstätigkeiten“: Vgl. Wagner 1876: 260.

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geringen Ausnahmen alle diese Elemente von sich abhängig. Sie bedeutet nur noch das Kapital. Es ist nicht die Meinung, durch diese Erwägung das [11] Verdienst des Reichshandbuches, von dem die Rede war, zu vermindern. Aber man wird begreifen, dass ein solches Unternehmen neben vielem Beifall auch manchen Widerspruch findet. Es gibt eben keinen wissenschaftlichen Begriff der Gesellschaft, wie sie in einem solchen Werke vorgestellt wird. Vor etwa 50 Jahren machte ein württembergischer Lehrer des Staatsrechts, Sarwey, geltend, der Begriff der Gesellschaft dränge sich mehr und mehr in die Stelle des Begriffs des Volkes. Dies war richtig beobachtet. Je mehr aber das [..] sich seitdem vollendet hat, umso mehr macht sich die grosse Menge des Volkes geltend als zur Gesellschaft gehörig, ja, wie schon Saint-Simon drastisch illustriert hatte, wie Arbeitskräfte und Leistungen unentbehrlich, während in jener speziellen sogenannten Gesellschaft, es gar viele müssige geniessende Überflüssige gebe. Freilich, ein Katalog etwa aller erwerbstätigen Arbeiter, Angestellten und Beamteter ist zumal in einem grossen Lande undenkbar. Im heutigen Russland wäre auch ein Reichshandbuch der russischen Gesellschaft unmöglich, denn sie ist nicht mehr vorhanden oder insofern ihre Reste vorhanden sind, so würde man nicht zulassen, dass diese sich als die Gesellschaft vorstellten. Das europäische Denken hat bisher keine Miene gezeigt, dem Beispiel der russischen Umwälzung zu folgen, aber ein gewisser Fortschritt in derselben Richtung ist unverkennbar z. Zt., da in Gross-Britannien in dem Reiche der bisher durch die Jahrhunderte sich erstreckenden Whigs und Torys schon zum zweiten Male eine Regierung auf die Bühne getreten ist, die sich nach der Arbeit benennt, wo auch in deutschen Gebieten, speziell im grössten deutschen Staate wenigstens eine Mitregierung der Arbeiterpartei durch ihren Einfluss eine mächtige Opposition hervorgerufen hat. Die bürgerliche Gesellschaft ist offenbar in einer so tiefen Umwandlung begriffen, wie man vor etwa 50 Jahren, vollends vor 100 Jahren ebenso für unmöglich gehalten hätte, wie die Veränderungen unseres [12] täglichen Lebens als schlechthin utopisch und unmöglich erschienen wären, an welche die heute aufwachsende Generation schon so gewöhnt ist, dass sie ihr Fehlen für undenkbar halten muss.

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aber das [..]: An dieser Stelle ist eine Lücke gelassen für ein vielleicht griechisches Wort. zum zweiten Male: James Ramsay MacDonald von der Labour Party führte die Regierung vom 22. 1. − 4. 11. 1924 und dann erneut von 5. 6. 1929 − 7. 6. 1935.

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Vor kurzem wurde durch den Rundfunk, und gleichzeitig durch die amtliche Zeitschrift „Wirtschaft und Statistik“ das vorläufige Ergebnis der sog. Natürlichen Bevölkerungsbewegung des Deutschen Reiches im Jahre 1931 verkündet. Für die Populationisten, wie man im 18. Jahrhundert die Politiker nannte, die für die Aufgabe des Staatsmannes hielten, das Land volkreich und geldreich zu machen, wird ohne Zweifel auch das definitive Ergebnis nicht gerade erfreuend sein. Der Geburtenüberschuss ist tief gesunken: in Berlin – das bedeutet jetzt auch statistisch Gross-Berlin – ist er schon seit einer Reihe von Jahren negativ und diese negative Ziffer wächst seit 1926 fortwährend. Betrug sie damals nur 3 auf 100 000, so jetzt schon 250 auf ebenso viele Einwohner und nur in wenigen kleinen ländlichen Gebieten beträgt sie noch mehr als 500 oder mehr als 5 auf 1000 Einwohner bezogen. Mit Recht ist hervorgehoben worden, dass der Fortgang dieser Entwicklung bald allgemein zur Verminderung der Volksmenge, infolge des Sinkens der Rate Neugeborener, führen muss, ja dass auch jetzt die noch bestehende Vermehrung insofern nur eine scheinbare ist, als sie nicht auf einem ausreichenden Zuwachs von unten her, sondern nur auf grösserer Dauerhaftigkeit der Lebenden beruht. Es ist also begreiflich, dass man mit wachsender Besorgnis auf diese Ziffern blickt und wie es unter Menschen üblich ist, zunächst den mangelhaften Willen der Zeitgenossen dafür verantwortlich macht, auch versucht durch lautes Predigen des Willens [II.] zum Kinde gegen den Mangel dieses Willens zu wirken, bisher offenbar mit sehr geringem Erfolge. Nun ist das Sinken der Eheschliessungsziffer (und infolgedessen natürlich der ehelichen Geburten), keineswegs etwas neues. Ehemals regelmässig erfolgend bei steigenden Kornpreisen, ist es seit etwa 60 Jahren eine regelmässige Erscheinung der wirtschaftlichen Krisen. So sank die im Jahre 1872 mächtig angewachsene Zahl der Ehen in den 7 folgenden Jahren von Jahr zu Jahr unablässig (1873 bis 1879),

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Die Bewegung der Bevölkerung: Textnachweis: TN, Cb 54.34:07. – Typoskript in 4°, S. [I]−VII, mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Eigenh. Kopftitel und Zufügung „von Ferdinand Tönnies“. Entstanden 1932−1934; vgl. Editorischer Bericht S. 643−645. „Wirtschaft und Statistik“: Vgl. Statistisches Reichsamt: 1934.

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dann wieder 1887, 1892, 1901, 1902, 1908 und 1909; und in anderen Krisenjahren fand nur ein unbedeutendes Wachstum statt, also nicht ein Wachsen mit dem Wachsen der Volksmenge. Ob dies ein grosses Unheil bedeutet? Nun, Heil und Unheil in den Dingen des sozialen Lebens lassen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Unmittelbar müssen wir in den gegenwärtigen Notständen es für ein Glück halten, dass die Familien klein bleiben, wenn auch mittelbar dadurch die Nachfrage nach vielen Waren die Gegenstände eines Massengebrauchs sind, vermindert wird; indessen hat die Weltkrise offenbar tiefere und allgemeinere Ursachen, und würde durch die vermehrte Zahl lebender Kinder so wenig als durch die vermehrte Zahl der Särge sich heben lassen, wenn auch einige Händler und Fabrikanten Nutzen davon hätten. So war es in den genannten Jahren nach dem Kriege von 1870 / 71, wo trotz des Sinkens der Eheschliessungen die Zahl der Geborenen noch lange, nämlich bis 1876 zunahm, wenn auch in abnehmendem Verhältnis; und eine Krise von gleicher Schwere wie damals im Verhältnis zu dem so viel geringerem Umfange der Industrie, des Handels und Verkehrs, haben wir seitdem erst jetzt wieder erlebt. – Indessen ist auch nicht [III.] allgemein die Verminderung der ehelichen Geburten auf eine Verminderung der Eheschliessungen zurückzuführen. Wohl aber ist sie – und dies ist von grosser Bedeutung – zu einem guten Teile auf die veränderte Beschaffenheit der Ehen zurückzuführen. Ich habe diesen Gesichtspunkt zuerst geltend gemacht vor etwa 7 Jahren in einer Studie, die auf den Geburtenrückgang in den letzten 10 Jahren vor dem Kriegsausbruch, also seit der Jahrhundertwende sich bezog: in dem Sinne nämlich, dass eine entsprechende Veränderung der Altersverhältnisse in den neugeschlossenen Ehen stattgefunden habe, besonders im Lebensalter der heiratenden Frauen. Ich verwies dabei auf die Urteile der angesehensten Gynäkologen über die Chancen der Konzeption, verwies auch auf die sorgfältigen Untersuchungen des Norwegers Kjär über den Einfluss des Heiratsalters auf die völlige Sterilität und die Oligoteknie wie ich die Erscheinungen benannte, dass 1. nur ein Kind, 2. nur zwei Kinder den Ehen entspriessen. Ich wusste damals wohl, dass diese Ursachen auch bedeutsam mitwirkten zur Tatsache der Nachkriegszeit, dass die Rate der Geburtenfrequenz nach kurzem Aufschwung rasch gesunken ist, habe

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1870 / 71: D. i. der dt.-frz. Krieg. in einer Studie: Vgl. Tönnies 1928. des Norwegers: Vgl. Kiaer 1904 / 1905 und Tönnies 1928. Oligoteknie: [gr.] svw. ‚Weniggebären‘

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aber darauf nur im Vorbeigehen mich bezogen. Nachdem meine Arbeit wenig und wie es scheint nur von einigen Ärzten, der Beachtung für wert gehalten war, ist dann Prof. Eugen Würzburger aus eigenem Antriebe auf den Gegenstand zurückgekommen. Er hat auf wenigen Seiten in derselben Zeitschrift, in der meine Arbeit erschienen war, auf die ungeheuren Zerstörungen am Volkskörper hingewiesen, aus denen für die Folgezeit – es dürfe gesagt werden: für die folgenden Generationen – eine unvermeidliche Störung in der Bevölkerungsentwicklung sich ergeben habe, die bis zu einem gewissen Grade hätte vorausberechnet werden können [IV.] nämlich 1. der fortdauernde Fehlbetrag an Ehepaaren, den er nach den Erfahrungen des Staates Sachsen schätzt woraus sich für das Reich ein jährlicher Ausfall von 150 000 Geburten erkläre, 2. es sei auch ein Teil des Minus von jährlich 230 000, das nach Abzug der 150 000 verbleibe, durch veränderte Zusammensetzung der vorhandenen Ehepaare, also demographisch zu erklären. Nachdrücklich und treffend weist er darauf hin, dass die übliche Vergleichung der auf 100 Ehefrauen im gebärfähigen Alter jährlich entfallenden Geburtenziffer nicht geeignet ist, Klarheit in diese Fragen zu bringen. Denn nach der sächsischen Statistik – wir finden hier eine wertvolle Ergänzung der Kjär’schen Ergebnisse – gab es in Sachsen auf die 1910 vorhandenen 70,8 Tausend Ehefrauen unter 25 Jahren 40, auf die 139,9 Tausend von 25 / 30 24 ¼, auf die 154,8 T. von 30 bis 35 15 ½ auf das folgende Jahrfünft weniger als 11 und auf das letzte (40 / 45) nur noch 4,3 ehelich lebend geborene Kinder. Wenn die hierin enthaltenen Tatsachen als normal, und zwar grösstenteils als physiologisch aber im Zusammenhange damit auch als psychologisch bedingt anerkannt werden muss, so folgt als sehr wahrscheinlich, dass diese normalen Ursachen auch für den fortdauernden Rückgang der Geburten eine grosse Bedeutung haben muss. Ich mache hier in erster Linie darauf aufmerksam, dass jedenfalls (auch Herr Würzburger hebt dies hervor) der Anteil der neuen Ehen immer auf die Geburtenfrequenz wirkt, bekanntlich ist auch zu einem nicht geringen Teile, in der grossen Menge der Bevölkerung, die vorherige Erzeugung eines Kindes und der Wunsch, es legitim geboren werden zu lassen, Ursache vieler Eheschliessungen, so dass man mit Grund erwarten darf, es sei in jedem Jahre etwa die Folge von vier [V.] Jahrgängen der Eheschliessungen, z. B. für 1931 der Jahre 1928 bis 1931, von wesentlicher Bedeutung, so dass ein sehr grosser Teil der ehelichen Geburten, auch ausser dem Teil

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der Beachtung: Vgl. Würzburger 1931.

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der die Eheschliessung verursacht hat, aus diesen Ehen hervorgegangen ist. Ich habe nun die Frage aufgeworfen: wieviele von den Ehefrauen, die im Alter unter 45 Jahren standen während solcher 4 Jahre neu in die Schar dieser Ehefrauen eingetreten waren: solche also die nicht nur gebärfähig ihrem Alter nach waren, sondern eine stark erhöhte Wahrscheinlichkeit des Gebärens darboten. Und ich habe gefunden, dass die neu verheirateten Frauen in den Jahren 1910 bis 13 nahe an 2046 T. zu 7130 T. gleich mehr als 28 v. 100 darstellten, während das entsprechende Verhältnis der Gebärwahrscheinlichsten 1928 nur 25,80, 1931 26,70 ausmachte. Wenn dies schon eine wichtige Korrektur ist so gewinnt sie erheblich vermehrte Bedeutung, wenn wir das Alter der eheschliessenden Frauen in Betracht ziehen. Wir finden nämlich im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich nachgewiesen, dass von 1000 Frauen, die zum erstenmale heirateten im Jahre 1910 379, 1911 378, 1912 375 und 1913 376 im Alter von mehr als 25 Jahren standen. Dies minder günstige Alter fand sich im Jahre 1925 bei 428 v. T., im Jahre 1926 bei 430, 1927 bei 435, und 1928 bei 431 v. 1000 erstheiratenden Frauen. Deutlicher wird die Verschlechterung, wenn die Verhältnisse auf sämtliche heiratenden Frauen, also mit Einschluss der verwitweten und geschiedenen bezo[VI.]gen werden. Diese sind im Durchschnitt nicht unerheblich älter und haben auch aus anderen Ursachen weniger Kinder als gleichaltrige (bisherige) Mädchen. Wir finden nämlich durch eigene Auszählung dass die über dreissigjährigen Frauen von sämtlichen in den Ehestand eintretenden ausmachten: 1910 auf 1000 153 1911 154 1912 153 1913 152 es ist also ein fast konstantes Verhältnis gewesen. Hingegen dies Verhältnis war in den Jahren 1926−29 resp. 186 178 172 173 12

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Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich: Vgl. Statistisches Reichsamt [Hg.] 1880 ff. erstheiratenden Frauen: Vgl. Statistisches Reichsamt [Hg.] 1880 ff.: 34. Jg. (1913: 26); 35. Jg. (1914: 26); 36. Jg. (1915: 30); 46. Jg. (1927:31); 47. Jg. (1928: 35); 48. Jg. (1929: 33); 49. Jg. (1930: 35).

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Die Bewegung der Bevölkerung

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ist also selbst in diesen letzten Jahren (die Zahlen für 1930 und 31 sind noch nicht bekannt gemacht) fast um 20 p. m. = ca. 13 % im Verhältnis zu der früheren konstanten Ziffer höher als es vor dem Kriege war. Zugenommen hat aber auch der Anteil der 25 bis 30 jährigen: im Durchschnitt der Jahre 1910 bis 13 war er 260 im Durchschnitt der letzten 4 Jahre, von denen wir Kunde haben hingegen 290. Wesentlich gesunken ist also nur der Anteil der jüngsten Jahrgänge, der unter 25 jährigen, der auch nach dem Urteil der Gynäkologen, so weit mir bekannt, als der für die Konzeption günstigste gilt. Dieser war 1910 bis 13 585, hingegen 1926 bis 29 noch kaum 532: erst in den letzten zwei Jahren beginnt er zu steigen, er bleibt aber auch 1929 noch um mehr als 50 auf 1000 unter dem Vorkriegsdurchschnitt, also um 8−9 % des früheren Anteils, der als der normale gelten kann. Wir sehen also an diesem Beispiele, wie leicht in soziographischen Fragen ein Urteil in die Irre geht, das die Faktoren der Erscheinungen nicht genügend in Rechnung zieht, zumal wenn es von Vorurteilen diktiert wird. Und das ist in diesem Gebiete offenbar der Fall. [VII.] Treffend fasst Würzburger sein Urteil dahin zusammen: „Es ist also fast allein der Krieg selbst, der die Schuld am Geburtenrückgang trägt, aber nicht das ihn überlebende Geschlecht“ Diese Erkenntnis will jedoch keineswegs leugnen, dass die bewusste und gewollte Verhinderung der Konzeptionen, schon vor dem Kriege und vollends während der letzten 10 Jahre, ausserordentlich zugenommen hat; in welchem Maasse dies geschehen ist und zumal in welchem Maasse es mit Erfolg geschehen ist, das können wir weder für die gegenwärtige noch für die frühere Zeit, auch nur annähernd abschätzen. Man geht aber nicht fehl, wenn man die Wirkung dieses Faktors hauptsächlich in den grossen Städten, deren wir freilich sehr viele jetzt haben, gewahr wird. Die geringe Zahl der Geburten, die einer Eheschliessung folgt, könnte man leicht, wenigstens annähernd in jeder Grossstadt nachweisen. Die grossen Daten über die Bevölkerungsbewegung, die uns das Statistische Reichsamt zunächst vorlegt, lassen z. B. erkennen, dass im Durchschnitt der Jahre 1929 bis 31 in Gross-Berlin ca. 9,6 geborene auf 1000 Einwohner entfallen sind, in Hamburg 13,1, in Bremen 16,1, in Lübeck 14,4, im Deutschen Reich aber (ohne Saargebiet) etwas mehr als 17,1. Dieser Durchschnitt wird übertroffen durch Ost-Pommern, die Grenzmarkt Preussen, Nieder- und

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sein Urteil dahin zusammen: Vgl. Würzburger 1931: 116. Statistische Reichsamt: Vgl. Statistisches Reichsamt: 1880 ff.

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Oberschlesien, Sachsen, Hannover, Westfalen, Rheinprovinz, die Länder Bayern, Würtemberg, Baden, Lippe, beide Mecklenburg. Man erinnert sich hier auch des Verlustes den Preussen an seinen polnischen Landesteilen erlitten hat, denn es machen noch Reste dieser sich bemerkbar. Die Polen in Preussen heirateten früh und die Familien hatten regelmässig ein Kind mehr als die rein deutschen Familien.

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[Brünings Rede in Genf]

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Die heutige Möglichkeit zu reden und in allen Winkeln des Erdballes verstanden zu werden kann nicht leicht eine grössere Bedeutung gewinnen als sie durch die Rede, die heute der deutsche Reichskanzler in Genf gehalten hat, gewonnen wurde. Ohne Zweifel hat sie einen sehr starken Widerhall gefunden: einen Widerhall, der unmittelbar als ein Erfolg des Redners in der Weltversammlung sich kundgegeben hat, aber auch in den Herzen aller derer, die diese Rede so vernommen haben, als ob sie gegenwärtig wären und die wissen was ein Krieg ist und bedeutet, vor allem, was ein neuer Weltkrieg mit den heutigen Kriegsmitteln sein und bedeuten würde, auch wenn einige der schlimmsten Kriegsmittel völkerrechtlich verboten werden sollten. Es ist möglich, dass diese Verbote einige Wirkung haben würden; aber auch wenn sie eine wirklich bedeutende Wirkung hätten, so blieben die „erlaubten“ Kriegsmittel, die schon lange furchtbar waren, durch die moderne Technik ins Furchtbarste gesteigert, noch fähig, das zu erreichen, was mit gutem Grunde vorausgesagt wurde als die Völker vom Weltkriege aufatmeten: der europäische Zivilisation ein Ende zu machen. Darum muss die wohldurchdachte und ehrliche Rede Brünings einen tiefen und bleibenden Eindruck machen. Auch unter denen, die sich gebärden, als wären sie und ihr kurzsichtiger staatenloser Häuptling die deutsche Nation, deren eifrigstes Streben darauf gerichtet ist ebendiesen Reichskanzler zu stürzen, um etwa einen unfähigen Herrn Frick oder Göbbels in die Stelle zu setzen?[2] Kaum mag man es sich gestehen, aber es ist eine unleugbare Wahrheit: die Männer und Frauen, die mit Worten und Untaten ihren Willen darauf richten, ihr phantastisches und problematisches neues Reich ins Leben zu rufen, sind nicht nur persönliche Gegner Brünings und derer die mit ihm gehen – sie sind auch Gegner des Friedensgedankens und der Abrüstung die den Frieden zu sichern bestimmt ist. Sie verhöhnen den Pazifismus und die 1

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[Brünings Rede in Genf]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:08. – Typoskript in 4°, 4 Blätter. Kopftitel von unbekannter Hand später hinzugefügt. Anlass des 1932 verfassten Textes war die Rede von Reichskanzler Brüning am 8. 2. 1932 vor der Abrüstungskonferenz in Genf. Häuptling: D.i. Adolf Hitler.

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Pazifisten, sie nennen es Landesverrat, wenn man weiss und geltend macht, dass auch ein grosser Staat heute nicht mehr imstande wäre, durch einen Vergeltungskrieg seine ehemalige Macht und seinen Rang wiederzugewinnen. Sie glauben, dass das Strohfeuer der Begeisterung alle Widerstände vernichten und dass sie selber, die bisher nichts als verworrene Gedanken und misstöniges Geschrei nebst törichten und absurden Massnahmen zutage gefördert haben, eben durch ihre Torheiten und durch ihr Geschrei ebenso den Sieg an ihre Fahnen heften würden wie sie einen agitatorischen Sieg in einer Reichstagswahl und in einigen bedeutungslosen Nebenwahlen gewonnen haben. Einstweilen werden ihnen noch viele Wahlstimmen zufallen. Jeder aber, der in diesem Sinne wählt, dh. Mann oder Frau, Greis oder Jüngling müsste wissen und bedenken, dass er den Krieg wählt: nicht in dem Sinne als ob er bei dieser jedemaligen Wahl zu entscheiden habe zwischen Krieg und Frieden, wohl aber in dem Sinne dass die Folgen jeder für die sogenannte nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei abgegebene Stimme wenn sie die Wahl eines solchen Abgeordneten im Gefolge hat, dazu beiträgt, alles was bisher zur Sicherung eines dauernden Weltfriedens geschehen ist zunichte zu machen. [3] Freilich bleibt es in erster Linie die militärische Schwäche des deutschen Reiches, die den Krieg unwahrscheinlich macht. Aber schon eine Regierung, die angesichts dieser notorischen und nicht zu beseitigenden Schwäche sich befleissigen würde – wie es eine Hitler-Regierung ohne Zweifel täte – durch lautes Geschrei dies Bewusstsein zu übertönen, würde unserem Vaterlande sicherlich nicht zur Ehre gereichen und vielmehr nach aussen hin sehr grossen Schaden tun ausser dem tiefen Schaden, den sogar jetzt die Führer dieser Bewegung durch Erregung unsinniger und unmöglicher Hoffnungen in den Gehirnen unreifer Jünglinge und wohl auch mancher zu Begeisterungen geneigter Frauen erregen. Schon jetzt wird eine normale politische Entwicklung und Reifung der männlichen Jugend durch den Unverstand und die Verworrenheit jener Partei schwer gehemmt. Die politische Erziehung der Frauen, die eine grosse und wichtige Aufgabe durch die Tatsache des Rechtes geworden ist, dass sie gleiches Stimmrecht durch die Weimarer Verfassung erhalten haben, welche Tatsache noch gewichtiger wird durch den Umstand, dass sie in dem Lebensalter der Wahlfähigkeit die männlichen Wähler um fast drei Millionen übertreffen, ist eine grosse Aufgabe geworden, für deren Erfüllung so gut wie nichts geschehen ist und auch eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht. Das plötzlich so verallgemeinerte Wahlrecht war gemeint im Sinne der Gerechtigkeit, weil im Sinne der Gleichheit, und besonders um die aus dem Kriege heimkehrenden jungen Männer zugleich als vollberechtigte

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[Brünings Rede in Genf]

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Staatsbürger zu empfangen, [..] um die Frauen für die Neuerung des veränderten Staatszustandes empfänglicher zu machen, nachdem [..] an dem alten Staatszustande viele gebildete Damen nur soviel Interesse genommen haben, als einige prominente Persön[4]lichkeiten von hohem Range, als wenigstens einer oder der andere der vielen Höfe ihnen einflösste. Der Dichter Bernhard Shaw hat ein grosses Buch verfasst, das dazu bestimmt ist, intelligente Frauen über den Sozialismus zu belehren und aufzuklären. Näher läge es, wenigstens für unsere deutschen Verhältnisse, in weitesten Kreisen die intelligenten Frauen und auch solche, die nur eines gesunden Menschenverstandes sich erfreuen, über die elementaren politischen Begriffe zu belehren und ihre Bedeutung, die ihre Stimmabgabe hat, also über die Folgen ihrer politischen Handlungsweise zu belehren. Denn man kann wohl sagen: keine 20 % wahrscheinlich noch viel weniger derer die eine Stimme für eine Umsturzpartei hergeben, wenn diese mit dem wohlklingenden Beinamen des Nationalismus sich schmückt, will wirklich und vermutet auch nur den drohenden Umsturz und seine schrecklichen Folgen, für die sie doch sich mit verantwortlich macht. Ja man wird zu sagen wagen: keine 5 % wollen den Krieg, am wenigsten den Bürgerkrieg, der von jeher auch denen die meinen, dass auch der Krieg – der auswärtige – seine Ehre habe, als verabscheuungswürdig mit gutem Grunde gegolten hat. Und doch steht dieses grausige Gespenst dicht hinter den Gestalten derer, die sie als ihre patriotischen Führer verehren zu müssen glauben.

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Staatabürger zu empfangen, [..]: Vmtl.: und. nachdem [..]: im Original fälschlich „man“. grosses Buch: Vgl. Shaw 1928 und [1928a].

[Marxismus und Christentum] [Thesen zum Vortrag von Herrn Professor D. Emil Fuchs, Kiel]

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Zu 1: ist nicht besonders charakteristisch für Marx sondern allg. Tendenz der kulturgeschichtlichen Forschung. Zu 2: Die Bedeutung der Werkzeuge und dgl. ist ebenfalls allgemein anerkannt. Der Satz: „Je mehr von Gerechtigkeit erfüllt die Organisation, desto mehr von Gerechtigkeit, Liebe und geistiges Sein ist in der Masse möglich, wogegen dann gesetzt wird: „Regiert wie heute ein Rechenprozess im harten Mechanismus die Masse, so muss das geistige Sein der Masse dann erstickt werden, wozu einige Sätze aus dem Kommunistischen Manifest zitiert werden, die vermutlich von Engels herrühren, der damals stark unter dem Einflusse von Carlyle stand. Jener erste Satz aber ist jedenfalls nicht marxistisch. Immerhin wird man von dem letzten Satz sagen können, dass er in dieser Hinsicht echt ist. Zu 3: Hier kommen wir auf den für das Thema wichtigsten Punkt. Was darin ausgesprochen wird, mag alles richtig sein. Es ist aber eine Erwägung die bei Marx nicht im Vordergrunde steht. In seiner letzten und reifsten Periode legte Marx, wie in seiner eigenen Theorie so auch für die Denkungsart der Arbeiter bei weitem am meisten Gewicht auf das Bewusstsein der Zweckmässigkeit der Assoziation oder Koalition, auf die

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[Marxismus und Christentum]: Textnachweis: SHLB, TN Cb 54.34:31. Textentstehung: 1932. Manuskript (in 4°, Bl. 1−8) von Schreiberhand (Ernst Jurkat) ohne Überschrift mit gelegentlichen eigenh. Einfügungen und Korrekturen von Tönnies. Dem Manuskript liegt bei die maschinenschriftliche Vervielfältigung der Thesen eines Vortrages von Emil Fuchs vor dem Republikanischen Klub in Kiel am 4. Januar 1932 (Typoskript), auf die der Text von Tönnies sich bezieht. Das Thesenpapier besteht aus 3 Blättern in 4° mit der Überschrift: „Marxismus und Christentum. Thesen von Herrn Professor D. Emil Fuchs, Kiel“. Ein eigenh. Zusatz von Tönnies unter dem Kopftitel des Thesenpapiers bekundet, dass er Kenntnis von demselben hatte. – Weiteres zur Textentstehung sowie die Wiedergabe des Thesenpapiers von Emil Fuchs’ Vortrag siehe den Edit. Bericht, S. 645−649. Der Satz: Vgl. hier im Edit. Bericht S. 646 (These 2). wogegen dann gesetzt wird: Vgl. hier im Edit. Bericht S. 646f. (These 3).

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Erfüllung jenes Satzes, worin das Manifest seinen Abschluss gefunden hat: „Arbeiter aller Länder vereinigt Euch!“[2] Im März 1871 schrieb Marx an Bolte, der damals Mitglied des Zentralkommite’s der 1. Internationale und des Federalrats war, über Bakunin, der erst im J. 1866 in die Internationale eingetreten war: dessen Programm sei ein rechts und links oberflächlich zusammengeraffter Mischmasch: „Gleichheit der Klassen! Abschaffung des Erbrechts als Ausgangspunkt der sozialen Bewegung (St. Simonistischer Blödsinn), Atheismus als Dogma den Mitgliedern vordiktiert usw. und als Hauptdogma (Proudhonistisch) Abstention von politischer Bewegung.[.] Um diese Zeit gab Marx dem Utopismus endgültig den Abschied. Er schreibt im Oktober 1877 an Sorge nach Amerika: Es ist natürlich, dass der Utopismus, der vor der Zeit des materialistisch kritischen Sozialismus letzteren in nuce in sich barg, jetzt wo er post festum kommt, nur noch albern sein kann, albern, fad und von Grund aus reaktionär. Er nennt den utopischen Sozialismus das „Phantasiegespiel über den künftigen Gesellschaftsbau.“ In einem späteren Briefe an Sorge 5. XI. 80. kommt er auf die anarchistischen Russen zurück, die gegen alle politisch revolutionäre Aktion seien „Rußland soll durch einen Salto mortale ins anarchistisch-kommunistisch atheistische Millenium springen. Im Juni [3] 1881 schreibt er über Henry George und dessen Anhänger, es handle sich dabei nur um einen sozialistisch verbrämten Versuch die Kapitalistenherrschaft zu retten und in der Tat auf noch weiterer Basis als der jetzigen neu zu begründen. In dem Briefe vom 19. X. 77 spottet Marx über die ganze Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doktores, die dem Sozialismus eine höhere ideale Wendung geben wollen, d. h. die materialistische Basis zu ersetzen strebt durch moderne Mythologie mit ihren Göttinnen der Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und Fraternité. Hier und in dem Drängen auf politische Aktion, gesetzliche oder revolutionäre, spricht der Marx in seiner letzten und reifsten Phase am deutlichsten sich aus. Bedeutete dieser Unwille, der sich hier äussert, dass er von jenen Göttinnen überhaupt nichts wissen will, denen zu huldigen er für seine Person doch niemals aufgehört hat? Nein es bedeutet im Zusammenhange

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„Arbeiter aller Länder vereinigt Euch!“: Vgl. Marx 1932: 557. Abstention von politischer Bewegung[.]: Vgl. Sorge 1906: 39. (Brief an Bolte vom 23. 11. 1871) Fehlendes Anführungszeichen am Zitatende. Phantasiegespiel über den künftigen Gesellschaftsbau: Vgl. ebd.: 159. In einem späteren Brief: Vgl. ebd.: 172. über Henry George: Vgl. ebd.: 175 f.

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mit der beigefügten Anmerkung, dass die Basis ernstes, objektives Studium erheische, wenn man auf ihr operieren wolle, eine radikale Abneigung gegen die Phrase, zu der so leicht solcher Idealismus entartet. Es bedeutet, dass Marx das Hauptgewicht auf das ökonomische [4] Studium legt, wenn denn auch im gleichen Briefe er über einige Nummern des Vorwärts klagt, worin ein Bursche, der nicht das ökonomische ABC kenne, groteske Enthüllungen über die Gesetze der Krisen zum Besten gebe. In Marx Sinne ist es allerdings zu lehren, dass die durch das Proletariat zu gestaltende und wenigstens in den fortgeschrittenen Ländern wahrscheinliche Überwindung des Kapitalismus, eine neue Gestaltung des sozialen Lebens auf klassenloser Basis zur notwendigen Folge habe. Jene Überwindung aber sei nicht sowohl die Wirkung der Arbeiterbewegung als vielmehr der Bankrott des Kapitalismus, der an seinen eigenen inneren Widersprüchen zugrunde gehen müsse. Allerdings solle die organisierte Arbeiterbewegung sowohl ökonomisch als politisch dazu mitwirken, die ökonomische und politische Macht des Kapitals zu brechen, teils im wirtschaftlichen Leben z. B. durch das Gewinnen eines Streiks, teils im politischen Leben, z. B. durch Erringung des 8-Stundengesetzes. Immer weist er, wo er am ernstesten redet auf die Allmählichkeit der Entwicklung hin, wie in der Vorrede zum Kapital von 1867. Seine offenbare Meinung ist, dass die Aufklärung über die ökonomisch. [5] Gesetzmässigkeiten, über die in jeder Krise zutage tretende Katastrophe für den Kampf der Arbeiterklasse viel bedeutsamer und wertvoller sei als die religiöse Aufklärung für die er nie auch nur 1 Wort der Ermutigung hat. Er hat sie teils als erledigt betrachtet, wie sie in der Theorie es allerdings schon damals war, teils dürfte er die Meinung gehegt haben, dass sie sich von selber um so mehr ergeben werde in dem Maasse als die Erneuerung des wirtschaftlichen Lebens sich durchsetze und damit ein befriedigendes Leben für alle erreichbar werde. Ich finde daher, dass der Satz in These III das Zerbrechen dieser religiösen Vorstellung … ist also eine der wichtigsten Aufgaben des Befreiungskampfes durchaus nicht als marxistisch anzuerkennen ist. These IV will dann sagen, dass die dem religiösen Leben völlig ablehnend gegenüberstehende Gedankenwelt Züge enthalte, die sie wieder im Tiefsten mit dem verbinden, was Christentum von Jesu Worten her ist. Und in These VI soll das stärkste, was Marx mit der christlichen Frömmigkeit verbinde, in dem verhüllt sein, was er die Dialektik nenne; Er könne aber nicht darauf verzichten, für die ganze Reihe dialektischen Ablaufs ein Ziel zu sehen und zu setzen: 30

Aufgaben des Befreiungskampfes: Vgl. hier im Edit. Bericht S. 647.

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die Überwindung jeder Klassengesellschaft usw. [6] Diese meint Hr. Fuchs, weise keine Wissenschaft nach sondern es sei der Glaube, den er der Masse gegeben habe. Man mag dies zugeben, wird aber solchen Glauben streng von jedem religiösen Glauben unterscheiden müssen, der niemals umhin kann, mit übersinnlichen, übernatürlichen Wirkungen zu operieren, daher mit dem wissenschaftlichen Bewusstsein nicht verträglich ist. Was dann in These VII gesagt wird dass die dem Marxismus innewohnenden unbewussten religiösen Einstellungen bewusst entwickelt werden müssen und dass wir durch Kenntnis unserer Verantwortung für unsere Mitmenschen und für die menschliche Gesellschaft aufgerufen werden, eine solche Erneuerung der Gesellschaft zu schaffen, wäre völlig zu billigen, wenn statt von religiösen Einstellungen von ethischen oder lieber noch von ethisch-politischen geredet würde, denen die Richtung auf Humanität die auch im Christentum wenn auch erst in einem sehr späten und aufgeklärten, zu einer gewissen Geltung gelangt, immanent ist, d. h. sich von selbst versteht. Hr. Fuchs meint, es sei – nach These VIII – durch den Optimismus, dass die neue Gesellschaft von selber komme, verhindert worden, dass der Sozialismus alle Kräfte ethischer u. religiöser Erneuerung mit eingesetzt habe, [7] und dass dadurch unmöglich geworden sei, der politischen und wirtschaftlichen Bewegung des Sozialismus eine geistige Bewegung zur Seite zu stellen und dadurch seien die von der Revolution erschütterten Massen ausserhalb des Arbeiterstandes, ihm wieder entglitten. Ich behaupte, dass diese Massen ihm niemals angehört haben. Das Wort Marxismus hat freilich einen Zauber gewonnen und ihn auch behalten für jene unreifen Köpfe, die dem Phantasiegespiel huldigen, wie immer es gestaltet sein mag, wenn es nur ihnen zusagt. Man kann von dem Gedanken erfüllt sein, dass der echte Sozialismus ein nationales Gepräge tragen müsse und dass die SPD diesen notwendigen Charakter immer, und zumal seit sie mitverantwortlich geworden sei für die politischen Geschicke bewusster und schärfer hätte betonen müssen dennoch wird man den sogenannten Nationalsozialismus als durch und durch utopistisch im Sinne der Ausdrücke, die Marx darauf anwandte erkennen. Dass nach These X der Marxismus für christliche Frömmigkeit heute der Ruf zur Selbstbesinnung sei, wird auch wer ausserhalb alles christlichen Glaubens und Meinens steht, gern denen, innerhalb dessen stehen, überlassen. Dass die [8] christliche Gläubigkeit insbesondere die an die Formen der alten Kirche sich hält, mit einer entschiedenen klassenkämpferischen Haltung wenigstens im ökonomischen Kampfe verträglich ist, lehrt die Haltung der christlichen Gewerkschaften, die freilich innerhalb einer Partei,

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die mit Erfolg beflissen ist, Katholiken aller Stände oder Klassen in sich zu vereinen, sich politisch niemals voll wird entfalten können; es ist eben eine grosse Frage wichtiger und aussichtsreicher als die zukünftige Haltung der evangelischen Geistlichkeit, wie lange jene Partei sich ungebrochen wird halten können, die doch nur einen Teil der deutschen Katholiken wirklich vertrtitt, nach Hrnn. Mulerts sorgfältiger Untersuchung hat knapp die Hälfte der Katholiken die zur Wahl gingen, für das Zentrum oder die bayrische Volkspartei gestimmt hat.

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sorgfältiger Untersuchung: Vgl. Mulert 1927: 331 f. gestimmt hat: Irrtümlich dazugesetzt: hat.

[Die Reichspräsidentenwahlen 1932] [2] sich stellt. Es war also das Mehr der Stimmen, die auf Hindenburg fielen, gegenüber der Zahl der Stimmen, die den Hitler wählten in 5

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I. Ostpr. II. Berlin III. Potsd. II. IV. Potsd. I. V. Frkft.a.O. VI. Pommern VII. Breslau VIII. Liegn. IX. Oppeln X. Magdbg. XI. Merseburg XII. Thüring.

25,4 96,7 35,2 35,5 20,9 -7,8 34,3 22,9 99,8 34,2 49,0 12,7

XIII. Schlesw. Hol. XIV. Weser-Ems XV. Osthannov. XVI. Südhannov. XVII. Westf.Nord XVIII. Westf.Süd XIX. Hessen-Nass. XX. Köln-Aachen XXI. Kobl.Trier XXII. Düsseld.O. XXIII. Düsseld.W. XXIV. Oberb.Schwab.

-58,8 72,3 46,4 28,5 172,7 172,0 44,5 290,0 170,7 107,2 77,6 160,1

XXV. Nied. Bayern XXVI. Franken XXVII. Pfalz XXVIII. Dresd.Bautz XXIX. Leipzig XXX. Chemn.Zwick. XXXI. Württemb. XXXII. Baden XXXIII. Hess.Darm. XXXIV. Hamburg XXXV. Mecklbg.

215,0 45,7 279,0 82,5 91,6 -15,9 130,0 32,5 52,7 120,1 32,6

Es gibt also nur drei von den 35 grossen Wahlkreisen, die ein entgegengesetztes Verhältnis aufweisen, nämlich eine Überlegenheit der Stimmen für den Hitler über die Stimmen für den gegenwärtigen Reichspräsidenten: es sind die preussischen Provinzen Pommern und Schleswig-Holstein und der Wahlkreis Chemnitz-Zwickau. Schleswig-Holstein steht in dieser Beziehung voran. Das Missverhältnis ist hier am meisten auffallend. Dies sonst sehr ruhige und friedliche Land hat sich in trauriger, ihm schwer zur Unehre gereichender Weise, durch unsinnige und gemeingefährliche Bombenattentate vor wenigen Jahren berufen gemacht. Pommern ist das Land des ausgeprägten Grossgrundbesitzes, das auch bisher immer in den Verhältnisziffern der altpreussischen Stimmen die sich deutsch-national nennen, hervorragte. Dies Verhältnis aber hat sich in den letzten Wahlen stark vermindert. Es

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[Die Reichspräsidentenwahlen 1932]: Textnachweis: SHLB, TN Cb 54.34:48. – Das Typoskript (in 4°) ist ein Fragment, es fehlt die Anfangsseite; es ist eigenh. unterzeichnet mit: „Ferdinand Tönnies“; zudem an einigen Stellen eigenh. Korrekturen. Der Text dürfte nach dem 13. März 1932 (Beginn der Reichspräsidentenwahl) und vor den Reichstagswahlen vom 31. Juli 1932 verfasst worden sein, da letztere noch keine Erwähnung finden. Bei der Reichspräsidentenwahl kandidierten Hindenburg, Hitler, Ernst Thälmann und Theodor Duesterberg, wobei im ersten Wahlgang auf Hindenburg 49,6%, auf Hitler 30,1% der Stimmen entfielen. Der zweite Wahlgang (am 10. April) steigerte den Anteil Hindenburgs auf 53%, den Hitlers auf 36,8%.

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fielen hier auf die deutschnationale Volkspartei am 7. Dezember 1924 noch 49,1 ausserdem noch 4,2 auf die damals so sich nennende nationalsozialistische Freiheitsbewegung. Am 20. Mai 1928 war das erste [3] Verhältnis auf 41,6, das zweite auf 1,5 der gesamten Stimmenzahl gefallen. Am 14. September 1930 hingegen war das erste auf 24,7 vermindert, das andere der (nun so sich nennenden) nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei war auf 24,3% angewachsen. Zusammen hatten also die beiden Parteien noch 49,1, genau so viel wie am 7. Dezember 1924 die deutschnationale Volkspartei auf sich allein versammelt hatte. Auch Schleswig-Holstein ist wenn auch nur zu einem sehr geringen Teile, und nur im Osten Gebiet des landwirtschaftlichen Grossbetriebes. Hier ist nun merkwürdig, dass von den Kreisen, die in dieser Hinsicht am meisten charakteristisch sind, nur einer (Kreis Eckernförde) ein erhebliches Übergewicht der Hitlerstimmen, nämlich (in Hunderten) 93 gegen 74 aufweist, dagegen ist im Kreise Oldenburg ein geringes Übergewicht der Hindenburg-Stimmen und im Kreise Plön nur ein schwaches der Hitler-Stimmen. Alle drei Kreise haben gleichzeitig mehr als 2000 Thälmann-Stimmen. Betrachten wir endlich den Wahlkreis XXX. Chemnitz-Zwickau, so ist hier bisher noch nichts Näheres bekannt. Es ist das Gebiet der sächsischen Textilindustrie, ein Gebiet, das ohne Zweifel von der grossen Krise in empfindlichster Weise heimgesucht wird. So hatte hier von den abgegebenen Stimmen Hitler mehr als 40%, Thälmann fast 20%, während auf Hindenburg nur ca 34% gefallen sind. Aus der Zusammenstellung dieser drei grossen Wahlkreise, in denen Hitler die Mehrheit gegen Hindenburg aufweist, leuchtet deutlich genug die bekannte Methode der Agitation dieser Partei hervor darauf berechnet, die politisch unkundigen und ungeschulten Wähler und Wählerinnen um sich zu versammeln. Wo sie am meisten Erfolg haben sind die Wähler und Wählerinnen entweder wie in Pommern Landarbeiter oder wie in Schles[4]wig-Holstein Bauern – Gross- und Kleinbauern und deren Anhang von Landarbeitern, oder endlich wie in Chemnitz-Zwickau Heimarbeiter und andere ökonomisch sehr schwache Kleinbürger nebst einem proletarischen Anhang, dem es gleich gilt, ob Nazi oder kommunistisch; aber „es muss anders werden“. Man ersieht auch hieraus, wie diese Propaganda verfährt: der Stimmenfang ist der absolute Zweck geworden; jedes Mittel taugt dafür und jedes wird gewählt, das gerade in der betroffenen Gegend zu wirken verspricht. Es ist das Prinzip der Reklame, rücksichtslos auf die Politik angewandt. – Werfen wir noch einen Blick auf die Wahlkreise, in denen das Übergewicht Hindenburgs am schwächsten ist, so finden wir als solche 1. Thüringen (XII) mit 12,7, 2. Frankfurt a. O. (V) mit 20,9 3.

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Ostpr. (I) mit 25,4, 4. Liegnitz (VIII) mit 22,9, endlich 5. Süd-Hannover (XVI) mit 28,5. Es sind also in summa 8 von 35 Wahlkreisen, in denen das Übergewicht Hindenburgs negativ oder schwach ist, in allen übrigen ist es mehr als 30% stark und erreicht seinen Gipfel in Wahlkreis XX. Köln-Aachen und in XXVII. Pfalz. [..] Schon durch diese grobe Vergleichung, wenn ihr einige andere Tatsachen hinzugefügt werden, wie das für den Hitler sehr ungünstige Ergebnis in sämtlichen Grossstädten, wird soweit ersichtlich, dass es um eine ausserordentlich gemischte Menge und sehr mannigfache Ursachen sich handelt, die unter dem Druck der Agitation sich zusammengefügt haben, um die Hitlerbewegung so stark werden zu lassen, wie sie im Augenblicke erscheint. Dass diese Ursachen: ländliche Interessen sehr verschiedener Art kleinbürgerlich-kleinstädtische Interessen ebenfalls verschiedener Art, und unsicher schwankende proletarische [5] Denkungsart, auf die Dauer zusammenhalten, kann nicht für wahrscheinlich gehalten werden.

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Pfalz. [..]: Vmtl.: 27,9%.

An die „Intellektuellen“

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Ihr werdet, Lehrer und Gelehrte, so wenig wie andere erwachsene und gereifte Menschen, euch vorschreiben lassen, so oder so ein Stimmrecht auszuüben. Aber eine freundliche und achtungvolle Beratung werdet ihr euch gefallen lassen: wenigstens die jüngeren unter euch, und manche Frauen, die uns offen sagen, daß sie den politischen Angelegenheiten und Streitfragen bisher allzu wenig Aufmerksamkeit zugewandt haben. Auch den Männern unter euch, die ihr Denken und Studium anderen Gegenständen widmen, und wenig Zeit übrig haben, außer durch Lesen „ihrer“ Zeitung, von den Eigenschaften der politischen Parteien gehörige Kenntnis zu nehmen, darf man wol zurufen: „Seid auf der Hut!“ „Laßt euch nicht ins Verderbliche locken, nicht in die Nähe eines Abgrundes, in den euch einige gern hinunter stoßen möchten“. Jeder Denkende will gern folgerichtig denken. Aber er kann es mitunter nicht weil er nicht sieht wohin der Weg führt, weil er die Ziele nicht kennt.

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„An die Intellektuellen“: Textnachweis: TN, Cb 54.34.50 – Fragment eines Manuskriptes in 4°, 1 S. Wohl der Anfang eines Aufrufs (Wahlaufrufs?) für eine Zeitung oder dgl.. Der Text ist auf einem Briefbogen mit dem Briefkopf geschrieben: Ferdinand Tönnies / Kiel Niemannsweg 61, und auf den 2. November 1932 datiert. achtungvolle Beratung: Unsichere Lesart.

[Erinnerungen an Altona]

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Die Güte und Aufmerksamkeit die mir von dieser Stadt aus schon zu mehreren Malen, und jetzo durch den Altonaer Geschichts- und Heimatschutzverein erwiesen wird, begründet ein echtes Verhältniß, nämlich ein solches von gegenseitiger Natur. Denn ich habe schon in früher Jugend eine besondere Zuneigung für Altona gehegt, die freilich nicht sowol ein individuelles als ein solches meiner nordfriesischen Heimat besonders der Landschaft Eiderstedt war, in der man oft von Altona mit einigem Stolze und mit der Sympathie sprach, die man einem guten Oheim oder einer besonders verehrten Tante zollt. Wenn die Herzogtümer S. H. nicht nur in ein nördliches und ein südliches Land sich unterscheiden, sondern zugleich – heute wie ehemals – offenbar aus einer östlichen und zur Ostsee hinstrebenden Hälfte, und einer westlichen auf die Nordsee und über sie hinaus auf den Ozean hinweisenden bestehen, so gibt es für jenen, für den Osten 2 führende Städte: Flensburg und Kiel, für den Westen aber nur die eine: Altona, deren Schönheit und Glanz nicht dadurch verliert, daß ‚bei‘ ihr bekanntlich nichts Geringeres als die Weltstadt Hamburg liegt, „was auch eine schöne Gegend“ ist. – Für meinen Knabensinn aber ist Altona zunächst wol darum bedeutend gewesen, [2] weil sie damals die volkreichste der Städte unseres Landes war, denn seine etwa 50 000 Einwohner in meiner Kindheit wurden von Kiel noch lange nicht erreicht. Dazu kam daß der „Altonaer Merkur“ die erste deutsche und große Zeitung gewesen ist die ich kenne und bewundern lernte: der Eindruck den ich von ihr empfing, hat sich nie ganz verloren. [3] Als ich im J. 1894 von Kiel aus mich verheiratet hatte, nahm ich meinen Wohnsitz in Hamburg. Ich steckte damals in sehr ausgedehnten Forschungen über Verbrechertum, Vagabondage, Verwahrlosung, in ihren Zusammenhängen mit anderen sozialen Erscheinungen, wie Vererbung,

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[Erinnerungen an Altona]: Textnachweis: SHLB, TN Cb 54.15:02. – Das eigenh. Manuskript (in 4°) eines Vortrages aus dem Jahr 1932 trägt keine Überschrift. Am Ende des Manuskriptes stehen folgende Blaustiftnotizen: 1 Thomsen silb Hochzeit im Februar / 2 Mein Geburtstg 26. Juli / 3 Tod des Königs im Oktober. – Näheres zur Textgeschichte im Edit. Bericht S. 649.

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Wanderungen, großstädtischen Lebensverhältnissen u. dgl. Diese Studien führten mich nach Hamburg. Sie unterlagen sehr großen Schwierigkeiten und ich habe sie bei weitem nicht in dem Umfange wie ich damals wollte, durchführen können. Sie begegneten zu geringem Verständniß, ich begegnete ungerechtfertigtem Mißtrauen. Indessen, davon will ich schweigen. Wie die Dinge sich gestalteten konnte ich ebensogut in Altona wie in Hamburg wohnen, ich erkannte und ergriff diese Gelegenheit aber erst nach fünf Jahren und nahm dann Wohnung in der Mathildenstr. 21, wo damals noch ein hübscher Garten der Vorderseite gegenüber lag. In derselben Straße wohnte mein älterer Freund, Professor Friedrich Reuter, Oberlehrer am Christianeum, der vielleicht einigen meiner geehrten Zuhörer noch als ihr Klassenlehrer in Erinnerung geblieben. Er war ein bedeutender Mann, ein ausgezeichneter Schenker literarischer und historischer Bildung, übrigens mit Eigenheiten und Sprödigkeiten behaftet, wie ein alter Junggeselle sie zu haben pflegt. Weiter abseits am Ende der Palmaille, wohnte mein hochgeschätzter eigener Lehrer von Husum her, wo er 22 Jahre lang gewirkt hatte, Otto Kallsen, mit seiner trefflichen Frau Christine geb. Schenk, aus Elmshorn; sie war die Nichte des berühmten Pariser Tiermalers Schenk, von dem ein herrliches Schafe-Bild in der Kieler Kunsthalle prangt. Zwei Schwestern von Kallsen, wohnten mit ihrer Mutter, auch in der Mathildenstr., sie waren einige Jahre in Brasilien als Gouvernanten tätig gewesen, die eine, Luise Schenk, hatte sich durch Skizzen und Novellen, „aus Brasilien“ einen Namen gemacht, [4] es waren sehr gute Sachen darunter Gustav Freitag hatte sie gelobt. Ich habe meinem treuen alten Lehrer Otto Kallsen ein Denkmal gesetzt in der kurzlebigen Hamburgischen Wochenschrift „Der Lotse“, die in jenen Tagen von Carl Mönckeberg und Siegfried Heckscher herausgegeben wurde, war ein ziemlich eifriger Mitarbeiter daran. Diese Bekanntschaften verschafften uns – meinem Freund und mir – Eingang in das schöne Haus Albert Warburg’s u. seiner jetzt in Hamburg noch lebenden, in Amsterdam gebürtigen, liebenswürdigen und in Förderung künstlerischer Bestrebungen und Talente unermüdlichen Frau Gerta Warburg. So wurden wir auch mit Herrn Dr. Siegfried Warburg u. Gemahlin bekannt, eine Bekanntschaft die ich noch im vorigen Jahr erneuern durfte. Die erste Vermittlerei durch die Schenk-Dinner geschah durch ein Fräulein Agnes Warburg, die zu den Hamburger Warburgs gehörte. Dagegen war ein Oheim der Herren Albert 13 22 24

Schenker: Unsichere Lesart. „aus Brasilien“: Vgl. Schenk 1887. ein Denkmal: Vgl. Tönnies 1901.

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und Siegfried der gleichfalls an der Palmaille wohnende alte Herr Pier Warburg, Freund Klaus Groth’s, Freund und Begünstiger von Poesie und Musik; ich hörte ihn klagen daß er von Jugend auf an die Börse habe gehen müssen, das Geschäft mutete ihn nicht an. Noch während wir Altonaer waren, haben wir der Bestattung des verehrten Mannes beigewohnt. P. W. hat auch in der Kommunal-Verwaltung lange als Bürgerworthalter und Mitgl. des Provinzialausschusses gewirkt. Dagegen habe ich s. Bruder, den Justizrat der Altona viele Jahre im Pr. Hause der Abgeordneten vertreten hat nicht mehr persönlich gekannt – In einer anderen Sphäre verweilte und wohnte auch in einer anderen Gegend, unweit des Holstenbahnhofs, mein langjähriger Freund Bleick Max Bleicken, früher Landvogt in Bredstedt, der erste und vorletzte Bürgermeister von Ottensen. Er war ein origineller, weithin denkender, in Jurisprudenz, Geschichte, Sozialwissenschaft reich belesener Mann; entschiedener Sozialreformer von seinem juridischen Studium aus, aber mit einer religiös-theologischen Note, von persönlicher Anmut und großer Überredungsgabe durch seine tiefbegründete Überzeugung: „Das deutsche Volk muß zu seinem Rechte kommen“ und dies Recht sah er in der Wiederherstellung eines richtigen Familienlebens, das richtige Familienleben aber hielt er für bedingt durch gesunde und normale Wohnungen. Bleicken, der sonst nicht gerade ein praktischer Mann war, hatte als Bürgermeister v. Ottensen früh die Zweckmäßigkeit ja Notwendigkeit der Verbindung mit Altona erkannt. Von dem großen Bericht über die Gemeinde-Verwaltung der Stadt Altona in den Jahren: 1863−1900 der in 3 starken Bänden 1889 bis 1906 erschien – den ich dank dem behördlichen Wohlwollen dieser Stadt besitze – hat noch F. Adickes den ersten Band herausgegeben und eingehende Mitteilungen über seinen Ottensener Collegen Bleicken den er den eigentlichen Träger der Vereinigungs-Idee in Ottensen nennt, gemacht. Er gedenkt ausführlich der von Bleicken verfaßten Denkschrift des Ottensener Magistrats und der 1883 erschienenen Schrift Bleickens „Über die Vereinigung der Städte Altona und Ottensen und der umliegenden ländlichen Ortschaften zu 1 Gesamtgemeinde in [5] sozialpolitischer Beziehung“: im Anschluß und auf Grundlage der von Bleicken mehrfach ausgeführten eigenartigen Grundanschauungen über die bedrohlichen Seiten der neueren Entwicklung u. d. Aufgaben der Zeit in Bezug auf Gestaltung des Verhältnisses v Kapital und Arbeit, Vermittlung u. Beherrschung des 12 22 31

vorletzte: Unsichere Lesart. großen Bericht: Bericht über die Gemeindeverwaltung der Stadt Altona, 1889 / 1906. „… Beziehung“: Vgl. Bleicken 1883.

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Realkredits durch die polit. Gemeinde, und Neuordnung des Personalkredits im Anschluß an die Gemeinde: Stabilisierung der Wohnungsverhältnisse habe Bleicken die vorbildliche Bedeutung einer guten Organisation des in Bildung begriffenen großstädtischen Komplexes Altona-Ottensen-Bahrenfeld-Othmarschen dargelegt u. s. f. – Bleicken, mit dem ich viele sozialpolitische und geschichtsphilosophische Gespräche geführt habe, wurde mir und seinen übrigen Freunden schon im Februar 1900 durch den Tod entrissen. Ich habe auch Adickes wohl gekannt, durch Vermittlung seines Bruders Erich, meines jüngeren Kollegen in Kiel, der nun auch schon vor einigen Jahren als Professor der Philosophie in Tübingen von uns geschieden ist. Adickes hat wie den Zuhörern bekannt sein dürfte noch viele Jahre als Nachfolger Miquels in der Führung der Stadt Frankfurt am Main gewirkt und sich auch als allgemeiner Sozialpolitiker einen bleibenden Namen geschaffen; es braucht nur an die lex Adickes und den Gedanken der ZonenEnteignung erinnert zu werden. Das Jahr 1863 hatte in der Geschichte Altona’s durch Ende der dänischen Herrschaft – wie Adickes sich ausdrückt – völlig umwälzend gewirkt, bald auch in Bezug auf das Verhältniß zu Hamburg. Und noch am Schluß des Jahrhunderts zitterte wie die Erregung der Großstadtfrage, so und noch mehr die des letzten Aktes der Zollvereinsgeschichte wie sie Treitschke genannt hat, die nach Adickes so aufregend und reich an stürmischen Auftritten und dramatischen Wirkungen sich abgespielt hatte, im Gemüte Altonas ab. [6 ] Sei es mir nun gestattet im Anschluß an d. Jahr 1863 noch meine persönlichen Erinnerungen an dies und die ihm folgenden 3 Jahre Ihnen, hochgeehrte Zuhörer, vorzutragen.

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lex Adickes: D. i. ein preuß. Sondergesetz gegen Bodenspekulationen bei Neubausiedlungen. Adickes war von 1890 bis 1912 Oberbürgermeister von Frankfurt am Main, vordem (seit 1883) hatte er dieses Amt in Altona inne. erinnert zu werden: Bleistiftnotiz am Rand: Oberbürgerm Dr. Giese. 1863: Heiligabend 1863 marschierten dt. Truppen in Altona ein u. beendeten die dän. Herrschaft.

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Die Siegesgewissheit gilt mit Grund als eine Stimmung, die zur Erlangung eines Sieges günstig wirken kann. Es liegt klar auf der Hand, dass diese Zuversicht den Mut erhöht und durch den Mut die Anspannung der Kraft. Kein Wunder, dass diese Wahrheit nicht selten übertrieben wird, als ob zum Siegen weiter nichts gehöre als der Siegeswille und als ob der Siegeswille wie sonst ein guter Wille in einem gewissen unmöglichen Sinne frei wäre, so dass es von der Güte und das würde wieder gleichviel bedeuten wie: vom guten Willen des Menschen abhinge, ob er diesen erwünschten Willen habe oder nicht, so dass also der böse Wille darin offenbar werde, dass man ihn nicht habe. Diese Vorstellung selber in ihrer ganzen logischen Widerspruchhaftigkeit kann zugunsten dieses guten Willens wirken und darum von Erziehern und von Führern jeder Art gepflegt werden, um eben den erwünschten guten Willen hervorzurufen oder zu stärken. Die Wirkung solcher Mittel ist aber naturgemäss beschränkt. So ist es eine alte Erfahrung, dass wenigstens mit gemieteten Soldaten – die Begeisterung für die Verteidigung des Vaterlandes oder für eine Sache, die aufrichtige Herzen als die ihrige erfüllt, ist ein Moment, das viel schärferen Widerstandes fähig ist – dass also mit Soldaten, wie sie bis zur französischen Revolution und unseren Befreiungskriegen die Regel waren, gegen den Hunger keine Siegeszuversicht standhält, aber auch nicht gegen [2] eine offenbare verzweifelte Lage, die auch der gemeine Soldat als solche erkannt hat. Auch in Parteikämpfen, die bekanntlich zuweilen in inneren Krieg ausarten spielt die Siegesgewissheit eine nicht geringe Rolle. Auch hier wird ihr Wert leicht höher geschätzt als er ist. Ebenso wie in einem wirklichen Kriege ist diese Stimmung oder Meinung oft genug auf beiden Seiten vorhanden und etwa auch in gleicher Stärke auf jeder. Wenn sie wirklich zum Siege führte, so müsste demnach oft die eine Seite wie die andere siegreich aus dem Streite hervorgehen, und nicht selten ist ja, dass den Erfolg einer

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Siegesgewissheit: Textnachweis: TN, Cb 54.34:84. – Typoskript in 4°, 6 S., mit eigenh. Korrekturen, auf Briefpapier mit Briefkopf: „Ferdinand Tönnies / Kiel, den / Niemannsweg 61“. – Entstanden 1932 aus Anlass der immer gewaltsamer werdenden Parteiauseinandersetzungen am Ende der Weimarer Republik.

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Schlacht beide Heere oder wenigstens ihre Häupter für sich in Anspruch nehmen. Ob immer mit Überzeugung, also in aufrichtiger Weise, ist eine andere Frage. Andererseits gibt es ja auch Siege, die zwar unzweifelhaft sind, deren Wiederholung aber eine Niederlage bedeuten würde („noch ein solcher Sieg“!). Bei der hohen und wie gesagt übermässigen Schätzung der subjektiven Siegesgewissheit ist es nicht zu verwundern, dass sie gerade, wenn sie von Führern absichtlich und scheinbar mit vollstem Vertrauen zur Schau getragen wird, nicht immer echt ist. Sie kann sogar gegen die wahre Meinung dessen, der sie zur Schau trägt, als ein Mittel gebraucht werden, das den Glauben an den Sieg zu stärken bestimmt ist. Ihre Wirkung ist nicht durch die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit des Führers, mit der es ohnehin oft genug schlecht bestellt ist, bedingt. Freilich kann der Zweifel hier wie immer verderblich, ja tötlich wirken; und der Zweifel wird sich melden, sobald die Per[3]sönlichkeit dessen, der die Trompete bläst, nicht von unbedingter Lauterkeit ist, wird sich auch melden – wie im Kriege – wenn die wahre Lage der Dinge auch für eine einfache Intelligenz offenbar genug die scheinbare Sicherheit Lügen straft. Am 6. August des vorigen Jahres, also drei Tage vor dem Volksentscheid in Preussen, erschien in der „Kieler Zeitung“ die, vor 10 Jahren noch im Sinne der damaligen Deutschen-Demokratischen Partei geleitet, neuerdings ein Ableger des Völkischen Beobachters geworden ist, ein Leitartikel von Freiherr von Freytagh-Loringhoven MdR., der wahrscheinlich in vielen Zeitungen gleicher Richtung erschienen ist: er war überschrieben: „Ja, aber …“. Darunter stand noch: „Ein Wort zum Volksentscheid“. Der Artikel begann mit dem Satze: „Niemand bestreitet heute, dass für den Volksentscheid die denkbar besten Aussichten bestehen, ja dass sein Gelingen so gut wie sicher ist“ und führt dann weiter aus, dass die guten Aussichten in erster Reihe auf dem stürmischen Anwachsen der nationalen Bewegung begründet seien. Die Mitgliederzahl allein der Deutschnationalen habe in den letzten Monaten und Wochen reissend zugenommen (es wird sorgsam verschwiegen, dass diese Mitglieder kurz vorher in Scharen 5

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(„noch ein solcher Sieg“!): Pyrrhos, König von Epirus, rief nach seinem Sieg über die Römer in der Schlacht bei Ausculum (279 v. Chr.): „Noch einen solchen Sieg über die Römer, und ich bin verloren!“. Volksentscheid: Die Wähler, zu denen auch die Einwohner Schleswig-Holsteins als preußischer Provinz gehörten, befürworteten dabei deutlich die Frage: „Soll der preußische Landtag aufgelöst werden?“. „… so gut wie sicher ist“: Vgl. Freytagh-Loringhoven 1931: 1.

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Reissaus genommen hatten; wahrscheinlich genug, dass einige zurückgekehrt waren). Es wird dann weiter behauptet: unter diesen Umständen sei die Beihilfe der Kommunisten nicht von entscheidender Bedeutung. Es solle aber durchaus nicht bestritten werden, dass durch sie der Erfolg endgültig gesichert werde (!!). Es sei „nur“ nicht einzusehen, inwiefern daraus Bedenken erwachsen können. „Die nationale Re[4}gierung, die aus dem Volksentscheid und den Neuwahlen hervorgehen wird, hat den Kommunisten gegenüber in jeder Richtung freie Hand“ – der Schriftsteller betrachtet sie schon als daseiend. Er sagt ferner „Doch auch die Vorsichtigen und Ängstlichen sollten sich sagen, dass die Stimmen der Kommunisten den Sinn des Volksentscheids nicht zu ändern vermögen[.] – das ist sogar gesperrt gesetzt. Der Schriftsteller will dann noch den Einwand widerlegen, dass die doch unstreitig notwendigen Verhandlungen mit dem Auslande erschwert würden. Auch dieser Einwand stamme aus dem Schatzkästlein der „Voss“ und des „Berliner Tageblatts.“ Aber wenn er aus ihrem Munde begreiflich ist, so ist es unfassbar wie nationaldenkende Leute diesen Einwand wiederholen können. Es folgt dann das übliche Gerede über Pazifismus und Internationalismus. Um es ganz zu würdigen, müsste man länger, als es wenigstens im Augenblicke erspriesslich scheint, bei der Persönlichkeit dieses Schriftstellers verweilen. Die Hauptsache ist bekannt: Herr v. Freytagh ist ein ehemaliger russischer Gardeleutnant, gebürtig in Livland. Er hat sich eines umfangreichen Kommentars zur Weimarer Verfassung schuldig gemacht, in dessen Vorwort man den Satz findet: „Wer die Rettung Deutschlands nur von der Wiederaufrichtung der Monarchie und der Verwirklichung des völkischen Gedankens erhofft, wird die von republikanisch-demokratischen und internationalistischen Grundsätzen getragene Weimarer Verfassung verwerfen“. Das ganz dicke Buch bedeutet demgemäss eine Feindschaft gegen die Verfassung, die er gleichwohl „kennen, verstehen und richtig beurteilen“ lehren will. Denn der neue Reichstag – die Vorrede ist im März [5] 1924 geschrieben – werde darüber zu entscheiden haben, ob die Weimarer Verfassung fortbestehen solle. Dieser getreue ehemalige Untertan des Zarismus bekennt also hier offen, dass er im Deutschen Reich der Gastfreundschaft sich erfreut und sogar eine ordentliche Professur des Staatsrechts auf Grund von Schriften

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„… zu ändern vermögen[.]: Fehlendes Abführungszeichen. Verfassung verwerfen“: Vgl. Freytagh-Loringhoven 1924: V.; das folgende Zitat ebd.: VI. im März: Erst am 4. Mai 1924 waren Reichstagswahlen.

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über russische Verhältnisse (grossenteils in russischer Sprache verfasst) bekleidet – dass er als Staatsbürger der Deutschen Republik lebt, mit der bewussten Absicht, sie zu zerstören oder zu untergraben, und mit der vollen Zuversicht dass ihm dies gelingen werde. Unzweifelhaft glaubte er ehrlich an das Gelingen des Volksentscheides, und glaubte vielleicht sogar, dass dieser die Folge haben werde, auf gesetzlichem Wege, also durch eine Mehrheit von zweidrittel des Deutschen Reichstages, die ihm verhasste Verfassung des Landes, in dem er als Fremder das Gastrecht geniesst, zu zerstören. Der Ausgang des Volksentscheides hat ihm freilich nicht Recht gegeben. Ungeachtet der dem geehrten Herrn so wertvollen Unterstützung durch die Kommunisten bejahten im ganzen nur 9,79 Millionen Stimmen den Wunsch und Willen des Herrn Freiherrn v. Freytagh-Loringhoven. – Am 16. Februar 1932 hat die Kieler Zeitung auf ihrer ersten Seite wiederum an derselben Stelle einen Leitartikel, dessen Überschrift lautet: „Zum Kampf gezwungen, des Sieges gewiss“. Und in diesem Stile ist bekanntlich alles gehalten, was von dieser Seite kömmt Sie reden, als ob wirklich Adolf Hitler, der nicht einmal Gendarm werden konnte im Deutschen Reiche schon der Präsident dieses Reiches wäre. [6] Es dürfte dieselbe Gewissheit haben, wie die Gewissheit des gelehrten und vermutlich des Denkens nicht unkundigen Breslauer Professors aus Arensburg in Livland.

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„… des Sieges gewiss“: Vgl. Freytagh-Loringhoven 1932: 1.

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Der gegenwärtig tatsächliche, wenn nicht rechtmäßige Reichskanzler hat versucht das unglaubliche Vorgehen gegen die preußische Regierung zu rechtfertigen. Diese versuchte Rechtfertigung ist in erster Linie eine Anklage der KPD. Sie enthält nichts Neues. In anderer Linie ist sie eine Anklage der anderen Parteien, die wie er behauptet, mit der KPD eine „Einheitsfront“ gegen die linke [..] „aufstrebende Bewegung“ der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei darstelle. Diese Einheitsfront ist ausschließlich in der Phantasie des Herrn von Papen vorhanden. Daß sie nicht besteht, sich nicht schaffen läßt, so dringend sie erforderlich wäre, ist die beständige Klage und Sorge nicht nur aller Rep.aner sondern auch aller derer, die ebenso wie Herr von Gayl, (gegenwärtig tatsächlicher Reichsminister) das Streben nach Wiederherstellung der Monarchie, sogar wenn man diese sonst für wünschenswert hält, unter obwaltenden Umständen als ein Uebel erkennt das zu ertragen man unserem Volke nicht zumuten dürfe. Die NSDAP strebt nach Wiederherstellung der Monarchie! Das ist der einzige Sinn in ihrem durch und durch unklaren, von Widersprüchen gesättigten Trachten, ihren wüsten Versprechungen, die gewissenlos bleiben wie sie

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Rechtfertigung?: Textnachweis: TN, Cb 54.34:81. – Eigenh. Manuskript (Fragment), 5 Seiten in 4°, auf Briefpapier mit Briefkopf („Ferdinand Tönnies / Kiel, den / Niemannsweg 61). Kopftitel: „Rechtfertigung?“. Darunter eigenh.: „Von Ferdinand Tönnies“. 1932 verfaßt. – Der politisch-historische Hintergrund, der den vorliegenden Text veranlaßt hat, ist folgender: der Zentrumspolitiker Franz von Papen, der am 1. 6. 1932 als Nachfolger Heinrich Brünings deutscher Reichskanzler geworden war und gegen den Widerstand der Reichstagsmehrheit ein überparteilich konservatives Präsidialkabinett gebildet hatte, betrieb die Amtsenthebung der preußischen Regierung Braun-Severing und wurde, nachdem der Staatsstreich („Preußenschlag“) am 20. 7. 1932 geglückt war, Reichskommissar für Preußen. nicht rechtmäßige Reichskanzler: D. i. Franz von Papen. gegen die linke [..]: unsichere Lesart. Rep.aner.: unsichere Lesart, lies wohl: Republikaner. Herr von Gayl: (DNVP) war Reichsinnenminister und am Staatsstreich in Preußen vom 20. 7. 1932 maßgeblich beteiligt. in ihrem: Darüber handschriftlich: dem.

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sind, aber „nachher“ getrost der Monarchie und ihrer gottbegnadeten Weisheit zur Achtung oder Nichtachtung übergeben und überlassen werden. Der „Faschismus“ ohne Monarchie ist unmöglich und ohne Sinn – das hat auch Mussolini erkannt. Ob ein so gedankenarmer, [2] unkundiger Agitator wie Hr Adolf Hitler, es erkennt, ist für die Sache gleichgültig. Die Logik der Dinge würde ersetzen, was der Logik dieses unwissenden Mannes fehlt. – Die Tatsache daß die NSDAP die bestehende und geltende Verfassung unablässig mit Schmähungen verfolgt, müßte genügen, um ihre Bezichtigung für einen Reichspräsidenten der diese Verfassung zu wahren beschworen hat, unmöglich zu machen. Der sogenannte Führer dieser Partei sagt jetzt öffentlich in Wahlreden – wie er so etwas immer gesagt hat –, daß sämtliche Regierungen der Deutschen Republik „getan haben was getan werden konnte um Deutschland zu vernichten!“ Man merke wohl: zu vernichten, sagt das Lästermaul. Warum verklagen nicht sämtliche noch lebende Mitglieder dieser Regierungen den Menschen wegen böswilliger Verläumdung? Mit diesen böswilligen Verläumdungen belohnt der sinnlose Unpolitiker diese Regierungen dafür daß keiner von ihnen die Ausweisung des sehr lästig gefallenen Ausländers bewirkt oder bei der Regierung Bayerns durchgesetzt hat! – Herr von Papen muß in den letzten Jahren im Ausland oder auf dem Mond gewohnt haben, so wenig Verständniß für die politischen Zustände und Ereignisse verrät seine Rechtfertigung. Die Einheitsfront für Erhaltung der bestehenden Verfassung des Reiches, die der Kanzler dieses Reiches beklagt und fürchtet, indem er sie unnatürlich nennt, ist wie gesagt, ein Gebilde seiner Einbildungskraft. Der geehrte Herr sieht nicht, daß die Kommunisten aus ihren eigenen Beweggünden die republikanische Staatsform verneinen und darum jede Regierung innerhalb dieser Form bekämpfen müssen. Er sieht nicht daß sie in dieser Hinsicht gerade der „aufstrebenden“ [3] – sollte heißen: der heillos widerstrebenden – Bewegung der Nazi am nächsten steht, so daß ja fortwährend Wechsel von der einen rebellischen Partei zur anderen stattfinden! Neben den blutigen Kämpfen die von dem Augenblick an sich entwickelten als das Uniformenverbot der Hitler’schen Privatarmee gefallen war. „Staatsfeindlich“ nennt Herr Papen den Kommunismus. Ungenauigkeit und Unklarheit charakterisiert immer den unklaren und unwissenschaftlichen Geist. Der Kommunismus russischer Prägung, der auch das Ideal der deutschen Kommunisten darstellt, ist nicht prinzipiell staatsfeindlich: wie könnte er sonst den wirtschaftlich omnipotenten Staat aufrichten, an dem er 37

wirtschaftlich: Unsichere Lesart.

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nun 15 Jahre lang gebaut hat?! Zu diesem Bau hält er nur eine Staatsform befähigt, die „Diktatur des Proletariats“ d. h. eine Minderheitsregierung die sich auf die vermutete Willenseinheit der Arbeiterklasse und der Bauern stützt, ohne durch einen erklärten Willen sich zu beglaubigen. Diese Staatsform ist historisch betrachtet, ein Novum. Sie verneint alle bisherigen Staatsformen, ganz besonders auch die demokratische Republik, in der die bisherigen Revolutionen des Staates mündeten, die auch das Ergebnis der konstituirenden deutschen Nationalversammlung von 1919 gewesen ist. Es ist eine grobe Ungenauigkeit, den „Kommunismus“ darum schlechthin staatsfeindlich zu nennen. Es ist aber auch unklar, ob dies gemeint ist, oder ob eben gemeint ist: eben der demokratischen Republik feindlich weil sie auch der sozialdemokratischen, wie jeder anderen Partei, Möglichkeit und eventuelles Recht gibt, in der Regierung mitzuwirken, ja, wenn sie die gehörige Mehrheit hat, die Regierung zu bilden. Ungücklicherweise sind die Parteien auf die Herr von Papen und der Reichspräsident sich stützen, ebenso entschiedene Gegner und Feinde dieser Staatsform, die sie zu verdrängen und durch die monarchische Staatsform zu ersetzen beflissen sind, auch werden sie [4] zunächst dafür kein besseres Mittel wissen, als dem Kommunismus die Wege zu bahnen, durch Beseitigung des Hindernisses das in Gestalt der SPD diese Wege bisher mit großen Erfolgen blockiert hat. Es ist eine offenbare Tatsache der auch ein wirklicher weil innerlich berufener Staatsmann, Dr Brüning, Ausdruck gegeben hat: wer die verfassungsgetreue, durchaus gesetzmäßige Haltung der SPD zu zerstören unternimmt, reißt die stärkste Schutzwehr nieder, die bisher den Fortschritt des Kommunismus aufgehalten hat. Das aber ist die Handlungsweise der gegenwärtig sogenannten Reichsregierung. Sie wird treffend charakterisiert in einem Artikel der „Vossischen Zeitung“ v. 22sten Juli Abends: „Geht es nach den Worten der Reichsregierung, so handelt es sich um einen Feldzug gegen die Kommunisten. Geht es nach ihren Taten, so handelt es sich um ein Vorgehen gegen die Republikaner.“ Der Vorwurf dieser Zweideutigkeit ist ein sehr schwerer Vorwurf. Es wäre im Interesse der Republik daß alle aufrichtigen Republikaner ihn kennten und ihre Haltung darauf einrichteten! –

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weil sie auch der sozialdemokratischen: Überschrieben: die auch der sozialdemokratischen. auch werden sie: Von Hgg. korrigiert, im Original versehentlich: auch waren sie. „… Vorgehen gegen die Republikaner.“: Vgl. C. M. 1932; dort keine Hervorhebung von „Worten“ und „Taten“.

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Wir müssen das Bewußtsein hegen, daß wir d. i. die 3 Weimarer Parteien in bezug auf die Reichsverfassung, also die Staatsform heute die Konservativen sind. Die anderen Parteien sind mehr oder weniger ungewiß und unbestimmt. Die „deutsch-nationale“ Partei hat anfangs durch den Zusatz „Volkspartei“ irreführen wollen; bald aber hat sie offen als monarchistisch sich bekannt, wie es bis dahin nur durch Verleugnung der „neuen“ – in Wahrheit viel älteren – Reichsfarben geschehen war. Hätte sie von Anfang an sich monarchistisch genannt – es wäre ihr nichts in den Weg gelegt worden – und nicht durch den – historisch betrachtet fast komischen – Anspruch auf alleinige Geltung des nationalen Namens alle die außerhalb ihrer Partei am Kriege teilgenommen und sonst durch ihn gelitten hatten, roh vor den Kopf gestoßen, […][5] Von der „Einheitsfront“ die gebildet werden müsse, habe die SPD. gesprochen. Sehen denn die Herren nicht, fühlen sie nicht, was diese Einheitsfront bedeuten würde? Daß sie nichts geringeres bedeutet als die „Kommunisten“ auf den Boden einer verfassungsmäßigen, die Verfassung bejahenden oder ehrenden Haltung zurückführen? wie es durchaus mit einzelnen, sogar hervorragenden Angehörigen jener Partei schon gelungen ist? Daß also diese Einheitsfront ihr innigst zu wünschen, daß sie ein dringendes Interesse des bestehenden Reiches und seiner Länder wäre? – Wir wissen wohl, sie halten vielmehr Wachstum und Gedeihen der dem bestehenden Staatswesen bis aufs Messer feindlichen Nazi-Partei für notwendig und heilsam. Das Wort „Republik“ wird nicht ausgesprochen, wenn Hr von Papen den Staaat in den Mund nimmt, so meint er den Staat Wilhelms II, der nicht mehr besteht, den wiederherzustellen die gegenrevolutionären wählenden Kräfte emsig bemüht sind. Ist das alles unbewußt oder bewußt? Meint man wirklich dem Staate zu dienen, wenn man seinen erbitterten Feinden hilft? –

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die 3 Weimarer Parteien: Das sind SPD, Zentrum und DDP (Deutsche Demokratische Partei). Reichsfarben: Die Flaggenfarben der Weimarer Republik und der bürgerlichen Revolution von 1848 waren Schwarz-Rot-Gold; die Farben des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Kaiserreiches ab 1871 und damit der Monarchie waren Schwarz-Weiß-Rot. […]: Satz unvollständig. Da die folgende Seite mit einem neuen Satz anfängt, ist darauf zu schließen, daß mindestens eine Seite des Textes nicht überliefert ist. durchaus: Unsichere Lesart. ihr innigst: Unsichere Lesart.

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Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst war ein Staatsmann von hohem Ruf als Haupt der liberalen Partei und Vorkämpfer der deutschen Reichseinheit in Bayern. Er wurde im Jahre 1894 Reichskanzler und schrieb am 15. Dezember 1898 im Jagdschloss Springe, wohin er einer Einladung des Kaisers gefolgt war, in sein Journal: „Wenn ich so unter den preussischen Excellenzen sitze, so wird mir der Gegensatz zwischen Norddeutschland und Süddeutschland recht klar. Der süddeutsche Liberalismus kommt gegen die Junker nicht auf. Sie sind zu zahlreich, zu mächtig, und haben das Königtum und die Armee auf ihrer Seite … Alles, was ich in diesen vier Jahren erlebt habe, erklärt sich aus diesen Gegensatze. Die Deutschen haben recht, wenn sie meine Anwesenheit in Berlin als eine Garantie der Einheit ansehen. Wie ich von 1866 bis 1870 für die Vereinigung von Süd und Nord gewirkt habe, so muss ich hier danach streben, Preussen beim Reich zu erhalten. Denn alle diese Herren pfeifen auf das Reich und würden es lieber heute als morgen aufgeben.“ Es ist an der Zeit, dieses denkwürdigen Ausspruches sich zu erinnern. Durchaus nicht wahrscheinlich ist es, dass die so scharf bezeichnete Lage des Verhältnisses der echt preussischen Leute zum Reiche sich wesentlich geändert hat. Aber die Lage der echt preussischen Leute selber hat sich allerdings verändert. In der neuen Reichsverfassung haben sie von Rechtswegen die Macht nicht mehr, die sie in der alten, wie Hohenlohe betont, gehabt haben. Gleichwohl haben sie im Augenblicke wieder durch eine Verkettung vom Umständen, unter denen die ungeheuerliche Wirtschaftskrise der schlimmste ist, die wirkliche Macht im Reiche. Sie haben es verstanden, aus der wirtschaftlichen Krise, die uns schwer [2] genug belastete, auch eine politische Krise zu machen, oder vielmehr diese erst zu schaffen, um die 1

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[Die Harzburger Front]: Textnachweis: TN, Cb54.34:71. – Typoskript, eigenh. korrigiert, 4 S. (in 4°), Fragment. Auf der Rückseite des Schlussblattes handschriftlicher Vermerk von Else Brenke: „ungedruckt“. – Entstanden 1932 oder Anfang 1933; vgl: zur Datierung Edit. Bericht S. 650. in sein Journal: Vgl. Hohenlohe-Schillingsfürst 1907: 534, Hervorhebungen von Tönnies. neuen Reichsverfassung: D. i. die Weimarer Verfassung von 1919.

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trüben Gewässer, in denen wir schwammen, zu vermehren, wenn auch – wie wir glauben dürfen – ohne bestimmte dahingehende Absicht. Weite Kreise der Nation besonders solche, die man zuweilen als die „Intellektuellen“ zusammen begreift, gingen Hand in Hand mit jenen Gegnern des Reiches, die Hohenlohe so scharf gezeichnet hat. Auch sie verneinten die neue Reichsverfassung, wenn auch aus anderen Beweggründen als jene. Jene haben von Anfang an nach der Restauration gestrebt, wenn auch mehr um des preussischen Königtums als um des deutschen Kaisertums willen. Der Unterschied und Gegensatz besteht noch heute. Das Endziel ist auch für die sog. Nazi die Restauration. Nur wenige unter ihren Führern wissen, wohin die Reise geht. Der herzlich unbedeutende Häuptling hat es verraten, als er vor dem Reichsgericht von den Novemberverbrechern und von den Strafen sprach die er über sie verhängen werde, wenn er die Macht habe, und die Macht – hat er oft versichert – werde er bald haben. Er wird sie vielleicht gewinnen, wenn die vermeintlich von ihm geweckten Deutschen nicht endlich die Erkenntnis gewinnen, dass sie in den Sumpf gelockt werden. Denn ein unermessliches Verderben müsste daraus entspringen, wenn zu irgend einer Zeit der nächsten Jahrzehnte ein ernster Versuch gemacht würde, die tote Monarchie wieder ins Leben zu rufen. Alle Kräfte, die den Staat, d. h. in erster Linie für uns, die wir wirklich national denken und nicht an der Phrase unsere Feuer entzünden, das Reich, erhalten wollen, müssen die Republik erhalten wollen, also die Weimarer Verfassung. Wenn es ihnen darum Ernst ist, so können sie – die Intellektuellen – für keine andere Partei als für eine der drei Parteien stimmen, die man mit gutem Grunde die Weimarer Parteien nennt. Sie müssen die Vorurteile, wie sie etwa gegen eine der drei Parteien oder gegen alle drei hegen, ablegen. [3] Die heutige Jugend weiss von dem Ringen um die deutsche Einheit wenig oder nichts mehr. Sie meint wohl gar, der Reichsbanner sei die Parteifahne der „Marxisten“. Diesem Wahn liegt wenigstens die Wahrheit zugrunde, dass auch Karl Marx und seine Freunde wie alle Demokraten ihrer Zeit, für die deutsche Einheit gewirkt haben. Marx warnte freilich schon am 17. August 12 22

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Novemberverbrechern: Damit sind die Revolutionäre vom 9. November 1918 gemeint. die Weimarer Verfassung: Der gesamte Satz im Original in [ ] gesetzt. Am Rand handschriftlich ein Ausrufezeichen. der Reichsbanner: D. i. Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, 1924 gegründeter Verein zur Verteidigung der Weimarer Republik. Schwarz-Rot-Gold sind die dt. Farben, die sich nach den Befreiungskriegen ab 1818 als Symbol der Einigungsbewegungen und der republikanischen Verfassungsbestrebungen durchgesetzt haben. Einheit gewirkt haben: Die letzen drei Sätze von Tönnies handschriftlich in [ ] gesetzt.

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1870 brieflich vor dem „Elsass-Lothringen-Gelüst“ und der Annexion. „Es wäre das grösste Unglück, welches Europa und ganz spezifisch Deutschland treffen könnte.“ Sein Freund Engels spottete über Liebknecht, der „am liebsten die ganze Geschichte seit 1866 rückgängig machen“ wolle, weil sie ihm nicht gefalle. Diese Meinung nannte er Blödsinn. „Wenn das die allgemeine Meinung in Deutschland wäre, hätten wir bald wieder den Rheinbund, und der edle Wilhelm [Liebknecht d. Ae.] sollte einmal sehen, was er in dem für eine Rolle spielte, und wo die Arbeiterbewegung bliebe.“ (Engels an Marx 15. August 1870).[4] Man sagt, die Staatsform stehe nicht zur Debatte und durch die Reichsreform den Weg zur Restauration bahnen, wolle man nicht. – Die Deutschnationale Volkspartei hat sich immer offen zur Monarchie bekannt. Sie hat nur verkannt, dass diese Offenheit sie zur Regierungsführung einer Republik untauglich und unberufen macht. Das werde ihr zugute gehalten. Nicht zugute halten wollen wir ihr den Namen, mit dem sie sich geschmückt hat: er war eine Beleidigung und Kampfansage gegen alle Volksgenossen, die für die deutsche Sache gekämpft und gelitten hatten: Millionen hatten den Tod, der als Heldentod gefeiert wurde, andere hatten schwere Schäden für ihr Leben davongetragen: wenn solche in anderen Parteien dem Vaterlande und dem Volke besser zu nützen meinten als in jener scheinbar neuen Partei, deren Träger die historischen Feinde der deutschen Einheit und Freiheit waren, so wurden sie nun als „international“ verklagt. Auch die Nazipartei hat oft ihren Hass gegen die Republik bekannt, aber nie offen das Banner der Monarchie entfaltet. Ohne Zweifel war das taktisch klug – mit offenem Visier hätte sie kaum den dritten Teil ihrer Anhänger gewonnen. Ihr Erfolg beruht in der Vieldeutigkeit ihrer Bestrebungen. Als ein wahrer Idealist maskiert sich Adolf Hitler. Sein einziges Ideal ist seine Macht. Er weiss längst, dass nur ein Kaisertum ihm Macht geben wird. Ohne Zweifel bereitet diese Partei den Boden für Wilhelm des II. Rückkehr

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„… Deutschland treffen könnte: Vgl. Marx / Engels 1931: 369. sie ihm nicht gefalle: Vgl. ebd.: 366. [Liebknecht d. Ae.]: Von Tönnies selbst im Original handschriftlich in eckigen Klammern zugefügt. (Engels an Marx 15. August 1870): ebd. – Die folgende Seite 4 ist ohne originale Paginierung. Da der Text ein Fragment ist und die vorige Seite 3 mit einem von Tönnies gestrichenen Absatz endet (vgl. Edit. Bericht S. 650), kann nicht ausgeschlossen werden, dass die hier wiedergegebene Seite an eine spätere Stelle unter den nicht überlieferten Blättern des Texts gehört. Macht: die letzten fünf Sätze handschriftlich in [ ] gesetzt.

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vor; und zwar wenigstens dem Scheine nach volkstümlicheren Boden. Dieser Schein ist ihre Stärke. So stehen zwei der Republik feindliche Parteien nebeneinander, aber auch gegeneinander. Ihre gemeinsame, die „nationale Front“, ist ein Gegenstand des Gelächters geworden. Die Deutschnationalen machten den Nationalsozialisten zuliebe den Staatsstreich, ob nach Verabredung oder als Morgengabe für die junge Ehe ist gleichgültig. Die Ehe hat in einem Skandal ihr rasches Ende gefunden. Beide Parteien werden nie ein Wort für die Republik, der

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für die Republik, der: Ende der S. 4 und der überlieferten Seiten des Textfragments. – Umseitig handschriftlicher Vermerk „ungedruckt“ von Else Brenke sowie spätere Anmerkungen von Wilhelm Kähler (vgl. Edit. Bericht S. 650).

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Benediktus de Spinoza, dessen Andenken vor wenigen Monaten die gesamte Kulturwelt bis in den fernen Orient gefeiert hat, verfaßte noch in jungen Jahren seine theologisch-politische Abhandlung, die im Untertitel ausspricht, daß sie einige Erörterungen enthalte, durch welche gezeigt wird, daß die Freiheit des Philosophierens nicht nur unbeschadet der Pietät und als mit der Erhaltung des öffentlichen Friedens verträglich, eingeräumt werden könne, sondern nur zugleich mit dem öffentlichen Frieden und zugleich mit der Pietät selber sich beseitigen lasse. Diese Abhandlung rief in der damaligen theologischen Welt ein großes Entsetzen hervor, fand hingegen in der schon zahlreichen und starken Menge der anderen Gelehrten die größte Aufmerksamkeit und vielfache Zustimmung, die auch darin zum Ausdruck gelangte, daß sie mehrfach unter falschen Titeln nachgedruckt wurde, nachdem sie in der dritten Ausgabe mit Beschlag belegt war. [1a] Es liegt Spinoza hauptsächlich an dem Beweise, dass Religion keine Macht hat über die Einsicht, weil sie selbst kein Erkenntnissystem sei und bei richtiger Selbsterkenntnis nicht sein wolle. In Wahrheit liege ihr Wesen und ihr Wert garnicht in irgendwelchen äußeren Handlungen sondern in der Schlichtheit und Wahrhaftigkeit des Herzens. Wenn die Religion sich die Herrschaft über die Philosophie d. h. die Wissenschaft anmasse, so trete zugleich fanatischer Glaubenseifer zutage und mit dem Frieden ist es zuende. Die Grundlagen

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[Die Lehr- und Redefreiheit]: Textnachweis: SHLB Nachlass Eduard Georg Jacoby – Cb 156.6 / 164: Manuskript, überwiegend Else Brenke, im übrigen Ernst Jurkat diktiert, mit eigenh. Korrekturen von Tönnies. 21 Blätter in 4°. – SHLB, TN, Cb54.34:96: Typoskript, Blatt 1−16 (+1a), 4°. Vortrag verfasst 1933. Erstveröffentlichung postum unter dem Titel „Über die Lehr- und Redefreiheit“ (1955); erneut in: Clausen / Schlüter 1991a: 297−307. Näheres s. Edit. Bericht S. 650−652. dessen Andenken: Am 24. 11. 1932 war Spinozas 250. Geburtstag. theologisch-politische Abhandlung: 1670 anonym veröffentlich, dt. 1787. Der lat. Untertitel lautet: continens dissertationes aliquot, quibus ostenditur libertatem philosophandi non tantum salva pietate, et reipublicae pace posse concedi: sed eandem nisi cum pace reipublicae, ipsaque pietate tolli non posse. mit Beschlag belegt war: Hier zwei Blätter eingeschoben, die Ernst Jurkat diktiert wurden mit Randbemerkung: MS Jurkat (einzufügen).

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des Staates werden also untergraben. Das Hauptmerkmal des Menschlichen im menschlichen Leben sei die Vernunft und der beste Staat werde sowohl Freiheit des religiösen Glaubens als Freiheit zu philosophieren gestatten. Es gebe viele Übel im sozialen Leben, die man gerne los sein möchte und die man alle Ursache habe zu bekämpfen aber nicht unterdrücken könne, wie Luxus, Habsucht, Neid, Alkoholismus. – Spinoza weiss sehr wohl, dass die Freiheit zu denken sich nicht unmittelbar unterdrücken lasse, wohl aber die Freiheit, seine Gedanken kundzugeben. Welches größere Übel könne es für einen Staat oder eine Regierung geben als ehrenwerte Leute wie Verbrecher ins Exil zu schicken, nur weil sie anders denken und ihre Gedanken nicht verstellen wollen. Ein Ruhm für solche zu sterben für eine gute Sache, [1b] die Sache der Freiheit. Denn Wahrheit und Gerechtigkeit lasse sich nicht realisieren ohne Gedanken- und Redefreiheit. Alle Menschen in einem Staate müssen so übereinstimmen, dass sie als eine Seele und einen Leib sich fühlen, indem jeder für das gemeinsame Wohl aller strebt. Wer durch die Vernunft sich führen lässt, begehrt nichts für sich, was er nicht allen übrigen gönnen wollte. Er ist gerecht, treu, aufrichtig. Der junge Spinoza schloß in der Rechts- und Staatslehre eng an seinen großen Vorgänger Thomas Hobbes sich an; der damals noch am Leben war. Hobbes freilich hat die Absolutheit des Staates gelehrt als zum Wesen dieser Einrichtung gehörig. Darum muß er dem Staat auch die Befugnis einräumen zu beurteilen, welche Meinungen [2] und Lehren dem öffentlichen Frieden feindlich sind, und deren Lehre zu verbieten. Er hat dazu die Anmerkung gemacht in seiner 2. Ausgabe der Schrift über den Staatsbürger: „Es gibt fast keine Lehrmeinung, weder in bezug auf die Gottesverehrung, […] woher nicht Meinungsverschiedenheiten, sodann Zwietracht, Beschimpfung und nach u. nach Krieg entspringen können. Und das kömmt nicht von der Unrichtigkeit der betroffenen Lehrmeinung, sondern von der Beschaffenheit der Menschen, die sich selber weise vorkommen, und ebenso allen erscheinen wollen; obschon nun derartige Dissense in ihrer Entstehung nicht verhindert werden können, so können sie doch durch Ausübung der höchsten Gewalt so gehemmt werden, daß sie den öffentlichen Frieden nicht stören. Er schließt dies besonders aus den Erfahrungen, die man an den neueren

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gerecht, treu, aufrichtig: Ende der eingeschobenen Blätter; danach wieder Handschrift Else Brenkes. Gottesverehrung […]: Zu ergänzen nach Hobbes (1918: 142; in anderer Übersetzung): noch auf die Wissenschaften vom Menschen. „… Frieden nicht stören: Vgl. ebd. Abführungszeichen fehlen.

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Staaten, an der römischen Kirche und ihren Bischöfen gemacht habe. Er folgert daraus, daß niemand dem Staate bestreite, zu beurteilen, was zu seiner Verteidigung und zum Frieden notwendig sei, und daß gewisse Meinungen den Frieden des Staates nahe angehen: es müsse zum Bereiche des Staates gehören, die Meinungen zu prüfen, ob sie in diesem Sinne verderblich seien oder nicht. Trotz dieser autoritativen Grundsätze aber lehrt Hobbes immer, daß Freiheit [3] neben Wohlstand zu den Dingen gehöre, die der Staat dem Volke verschaffen müsse. Freiheit bedeute, daß die natürliche Freiheit nicht weiter eingeschränkt werde, als für das Wohl des Ganzen notwendig, und daß wohlmeinende Leute nicht unversehens in Gesetzen wie in Schlingen sich verfangen sollen. In dem Buche über den Staatsbürger, das den Weltruhm dieses Philosophen begründet hat, heißt es: „Wie ein Gewässer, wenn auf allen Seiten durch Ufer eingeschlossen, stagniert und verdirbt; wenn auf allen Seiten offen, sich ausbreitet und um so freier strömt, je mehr Ausgänge es findet – so die Bürger im Staate: wenn sie ohne Druck von den Gesetzen nichts tun können, so werden sie erstarren, wenn alles, verwildern; und je mehr durch die Gesetzgebung unbestimmt gelassen wird, um so größere Freiheit genießen sie. Wo es mehr Gesetze gibt, als daß wir uns leicht ihrer erinnern können, und wo durch sie verboten wird, was die Vernunft an und für sich nicht verbietet; da ist es unvermeidlich, daß man aus Unkunde ohne allen bösen Willen in die Gesetze hineinfällt wie in Fallen.“ „Nichts“ – heißt es in einer anderen Schrift, die unter dem Regiment Cromwells verfaßt wurde – „ist mehr geeignet Haß zu erzeugen, als die Tyrannei über Vernunft und Verstand“, und er zweifle nicht, sagt Hobbes hier, dass [4] eine derartige Tyrannei, wie sie von der Kirche ausgeübt wurde, eine große Ursache gewesen ist, daß die Menschen gearbeitet haben, wenn auch durch Aufruhr und Uebeltaten sie abzuschütteln. Bündig heißt es endlich in dem späten Werke über den englischen Bürgerkrieg und die Revolution: „Ein Staat kann Gehorsam erzwingen, aber keinen Irrtum überzeugen, kann ferner nicht die Gesinnungen derer verändern, die einmal meinen, daß sie die besseren Vernunftgründe für sich haben. Unterdrückung von Lehren hat nur die Wirkung zu einigen

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„… wie in Fallen.“: Vgl. ebd.: 222 f. (Anmerkung). „Nichts“: Vgl. Hobbes’ „Of Liberty and Necessity“ (1839 / 1845: 4. Bd.: 204): „… for nothing is more apt to beget hatred, than the tyrannizing over men’s reason and understanding“. in dem späten Werke: Vgl. in Hobbes’ „Behemoth“ den 2. Dialog (Lips 1927: 158); der folgende Absatz im Original am Rand in der Handschrift von Ernst Jurkat.

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und zu erbittern, d. h. sowohl die Bosheit als auch die Macht derer, die schon an diese Lehren glaubten, zu vermehren.“ Die beiden großen Denker stimmen in der Hauptsache durchaus überein. Sie leugnen nicht, dass der Staat das Recht habe, in die Redefreiheit einzugreifen, aber sie warnen eindringlich jede Staatsregierung davor, von diesem Recht Gebrauch zu machen, und zwar um des Staates selber willen, weil er sich selber am meisten schade durch Intoleranz irgendwelcher Art. Sie lassen durchblicken, dass sie auch die Staatsmänner in der Regel nicht für berufen halten, sachlich den Wert der Meinungen zu kennen und zu erkennen, so dass ganz in ihrem Sinne der französische Staatsmann Guizot in seinen Memoiren auf Grund einer langen Praxis aussprechen lässt: „De toute le rigueurs de l’opinion publique envers les souverains celles qui portent sur leur caractère personel sont pour eux les plus dangereuses et de nos jours malgré la frivolité de nos moeurs il y a une part de considération dont le pouvoir ne saurait longtemps se passer.“ Die Verkündigung der allgemeinen Menschenrechte – es hieß anfangs: der Rechte des Menschen und des Bürgers – hat nicht zufällig zu ihrer Zeit einen großen Jubel ausgelöst. Sie entsprang der zu jener Zeit noch allgemein anerkannten Lehre des Naturrechts. Unter dem Namen der Grundrechte waren die Menschenrechte auch in der Verfassung des Deutschen Reiches von 1849 enthalten, dagegen in der Bismarckschen Verfassung waren sie getilgt. Wir haben ihre Auferstehung erlebt in der Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Daß hier den Grundrechten die – Grundpflichten hinzugefügt worden sind, kann wohl gebilligt werden, obwohl es sich von selbst verstehen [5] sollte, daß in subjektiven Rechten wenigstens moralische Pflichten enthalten sind. Übrigens ist von Redefreiheit und Lehrfreiheit in dieser unserer Verfassung nicht die Rede: dies hat seinen natürlichen Grund in dem förderalistischen Zustand des Reiches, da es sich um staatliche Hoheitsrechte handelt, die den Freiheiten der Individuen gegenüber stehen. Das Verständnis für allgemeine Menschenrechte ist mit dem Verständnis für das Naturrecht tief gesunken. Hobbes hatte es wohl. Er läßt durchaus gelten, daß der Mensch als Staatsbürger nicht ohne allen Vorbehalt der Gesetzgebung und Gewalt des Souveräns, möge dieser ein 11

aussprechen lässt: [frz]: Von allen Unnachsichtigkeiten der Öffentlichen Meinung gegen die Herrschenden sind diejenigen, die sich auf deren persönlichen Charakter beziehen, für die Machthaber die gefährlichsten; und es gibt für die heutige Zeit trotz der Freizügigkeit der Sitten einen Gesichtspunkt bei der Rücksichtnahme (auf die Öffentliche Meinung), den die (politische) Macht nicht lange aus den Augen zu lassen versäumt. – Vgl. Guizot 1858−1867. Das Zitat konnte nicht ermittelt werden.

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Monarch oder eine Versammlung sein, sich preisgebe, sondern er hält einen Vertrag, seinen eigenen Körper nicht zu verteidigen, für nichtig. Ebenso habe man das Recht, den Gehorsam zu verweigern, wenn einem befohlen werde, sich selber zu töten, zu verwunden oder zu beschädigen; oder denen nicht Widerstand zu leisten, die einen tätlich angreifen, oder des Gebrauches von Nahrung, Luft, Medizin oder von irgend etwas anderem, ohne das der Mensch nicht leben kann, sich zu enthalten zwingen. Ferner könne niemand vertragsmäßig verpflichtet werden, sich selber anzuklagen, oder irgend jemand zu töten. [6] Auch könne zwar die Verpflichtung bestehen, auf staatlichen Befehl eine gefährliche oder nicht ehrenwerte Handlung zu begehen, aber man habe das Recht, sie zu verweigern, wenn diese Weigerung dem Zweck, für den die höchste Gewalt eingerichtet wurde, nicht zuwider ist. Ebenso sei es sogar nicht unbedingte Pflicht, als Soldat gegen den Feind zu gehen, z. B. wenn einer einen hinlänglichen Ersatzmann stelle; auch müsse auf natürliche Furchtsamkeit nicht nur der Frauen, sondern auch vieler Männer Rücksicht genommen werden. Wer sich drücke vor der Schlacht, möge ein Feigling genannt werden, aber nicht ein Verbrecher; etwas anderes sei es nur mit dem, der sich als Soldat engagiert habe. Dieser dürfe nicht davonlaufen ohne Erlaubnis von seinem Hauptmann. Auch im Falle des Hochverrats geschehe zwar Unrecht durch den Akt selber, aber nicht dadurch, daß nachher die Delinquenten sich verbinden, um einander beizustehen und zu verteidigen. Bei alledem wollte aber Hobbes das natürliche Menschenrecht, nach Belieben zu reden und zu lehren nicht gelten lassen, vielmehr der höchsten Gewalt, also auch der Gesetzgebung vorbehalten, der natürlichen Freiheit auch in diesem Falle Schranken zu ziehen. Er hält aber diese Schranken in aller Regel für unzweckmäßig, [7] ja für schädlich. Im eigenen Interesse des Staates sei mithin eine solche Hemmung zu vermeiden. Die Theorie in der Hobbes und Spinoza einig sind, vertritt tatsächlich den vorwaltenden Standpunkt jeder vernünftigen und besonnenen inneren Politik, und darin beruht die praktische Unantastbarkeit der Redefreiheit und Lehrfreiheit, wo und wann immer diese gewahrt wird. Denn nicht selten gibt es Staatsregierungen, die ihrem eigenen Interesse und somit wenigstens mittelbar dem Interesse des Staates selber zuwiderhandeln, die also Rede- und Lehrfreiheit beschränken, weil sie selber mit ihren Dienern uneingeschränkte Freiheit z. B. frühere Regierungen mit Schmach zu bedecken genießen wollen, die Freiheit, tyrannisch zu reden wie zu handeln und, Lehren zu verkünden, ohne Widerspruch gewärtigen zu müssen, die jedem klaren und sicheren wissenschaftlichen Bewußtsein entgegen sind, ja durch ihre offenbare Absurdität sich lächerlich machen.

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Die Rechtslage war nicht immer so eindeutig, wie sie heute ist; Artikel 118 der geltenden Reichsverfassung lautet in seinem ersten Absatz: „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Recht darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.“ Natürlich bedeutet dies in erster Linie, daß auch Staat und Gemeinde ihn nicht hindern sollen und dürfen. Das Recht gilt aber ausdrücklich nur für Deutsche. [8] Ein Österreicher hat demnach, solange er nicht naturalisiert ist, dies Recht nicht, kann sich aber allerdings der Duldung erfreuen und diese gebrauchen oder mißbrauchen, wie immer man es deuten mag. Die festgesetzte Schranke der „allgemeinen Gesetze“ hat zu bedeutenden Schwierigkeiten der Deutung geführt. Nach Hentzschels Deutung sind allgemeine Gesetze hier diejenigen Gesetze, die ohne Rücksicht auf die gerade herrschenden geistigen Strömungen, Anschauungen und Erkenntnisse, das menschliche Leben in seiner Allgemeinheit regeln. Es gebe auch ein Sonderrecht gegen die Meinungsfreiheit in Rechtssätzen, die eine an sich erlaubte Handlung allein wegen ihrer geistigen Zielrichtung und der dadurch hervorgerufenen vermutlich schädlichen geistigen Wirkung verbieten oder beschränken. – Das deutsche Reichsgericht hat neuerdings dieser Deutung sich angeschlossen. Demnach, erklärt der Staatsrechtslehrer, sei auch im alten Republikschutzgesetz nur das nach den allgemeinen Rechtsnormen für geistige Kundgebungen jeder Art verbotene Beschimpfen, Verächtlichmachung u. s. w. darum verboten, weil diese ihre Formen nicht notwendig zur Überzeugungskraft einer Meinungsäußerung gehören, dagegen werde das Recht des sachlichen Redens, für die Monarchie oder gegen die Republik dadurch nicht eingeschränkt. – Man wird [9] also sagen dürfen, daß die Freiheit nach seiner Ansicht z. B. auch über den Wert einer Regierung des Reiches oder eines Einzelstaates mit schärfster Kritik sich auszulassen bisher noch gut geschützt ist, und daß die Meinung der Verfassung unzweifelhaft dahin geht, es sicher zu stellen, ja als prinzipiell über alle Regierungen erhaben, zu verkünden. Dies bedeutet den großen Erfolg der öffentlichen Meinung und des in ihr festgewordenen Liberalismus, nachdem lange für und wider

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Ein Österreicher: Anspielung auf Adolf Hitler, der allerdings am 25. 2. 1932, also vor Abfassung dieses Textes, mit seiner Ernennung zum braunschweigischen Regierungsrat dt. Staatsbürger geworden war Hentzschels Deutung: Nicht ermittelt.

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ihn gekämpft worden ist. Diese Bestandteile des Liberalismus würden auch durch eine sozialistische Grundtendenz der Gesetzgebung nicht vermindert und nicht beeinträchtigt werden. Im Gegenteil. Ein durch großes Gesamtund Nationaleigentum stark gewordener Staat könnte unbeschadet seiner Autorität und Würde der Meinungsfreiheit und Redefreiheit viel weiteren Spielraum gewähren, als ein solcher Staat vermag, der fortwährend durch mächtige Erwerbsinteressen des Grundbesitzes oder des Kapitals bedroht und tatsächlich gehemmt wird und eine Regierung des Reiches oder eines Staates, die in fortwährender Gefahr ist, auch ohne in Worten beschimpft und verächtlich gemacht zu werden, dem Publikum in einem ungünstigen Lichte zu erscheinen, wenn sie offenbar der im stillen fortwuchernden Kritik und etwa sogar der Geringschätzung aller ernstlich denkenden Beurteiler sich nicht zu erwehren vermag, sondern vielmehr darauf angewiesen ist, gleich[10]zeitig die Gunst der reichen und mächtigen Staatsbürger sich zu erhalten, und doch nicht umhin kann, auf die Zufriedenheit oder Unzufriedenheit der großen Menge zu achten und sich zu erinnern, daß sie auch von dieser – obschon in anderem Sinne – abhängig ist; eine solche Regierung wird leicht in Notstände geraten. Die Redefreiheit bedeutete in der hergebrachten Sprache des Staatsrechts nur das Privileg oder Vorrecht der Abgeordneten einer gesetzgebenden Körperschaft, daß sie wegen ihrer Meinungsäußerungen innerhalb einer solchen oder ihrer Abstimmungen weder gerichtlich noch disciplinarisch verfolgt und auch sonst außerhalb der Versammlung dafür nicht zur Verantwortung gezogen werden dürfen. Dies Privileg gehörte schon der ersten sogenannt. Bismarckschen Reichsverfassung, Artikel 30 an. Und dieser Artikel ist als Artikel 36 mit Ausdehnung auf die Mitglieder aller Landtage in die neue Verfassung übergegangen. Freilich unterscheidet sich nun die Redefreiheit im Sinne des Grundrechtes von dieser parlamentarischen Redefreiheit nicht nur dadurch, daß sie auch der gesetzlichen Begrenzung und Hemmung durch den Präsidenten der Körperschaft nicht unterliegt, es sei denn, daß auch in einer privaten Versammlung dem Vorsitzenden oder dem Vorstande solche Befugnis beigelegt werde; sondern auch zu ihrem Nachteil dadurch, daß der Reichspräsident nach Art. 48 dieses und andere Grundrechte vorübergehend ganz oder zum Teil außer Kraft setzen darf. Freilich müssen sie wiederum [11] auf Verlangen des Reichstags, den der Reichspräsident unverzüglich von einer solchen Maßnahme zu unterrichten verpflichtet ist, widerrufen werden; ja, es kann eine solche Maßnahme also z. B. zum Schaden der Redefreiheit gemäß dem gleichen Artikel auch von einer Landesregierung für ihr Gebiet getroffen werden,

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jedoch nur bei Gefahr im Verzuge. Auch solche Maßnahmen aber sollen auf Verlangen, sei es des Reichspräsidenten oder des Reichstages, zurückgenommen werden. So ist im allgemeinen in der Verfassung die Superiorität des Reichstages der, wie man weiß, die Volkssouveränität repräsentieren soll, gewahrt. Denn es kann ja auch, was als Notverordnung aus dem Büro des Reichspräsidenten hervorgeht, als bedingt durch die Genehmigung des Reichstages gedacht werden. Die Urheber der Verfassung haben, wie es scheint, nicht an die Möglichkeit eines reaktionären Reichstages auf Grund des freisinnigsten Wahlrechtes gedacht. Eine solche ist in der Tat auch heute noch nicht vorhanden, weil (gerade diejenigen Kreise, deren Verbindung mit den Trägern der altpreußischen Reaktion, deren Wahlspruch bekanntlich war „und der König absolut, wenn er unsern Willen tut“, zeitweilig [12] in Preußen wenigstens die blau-schwarze Reaktion genannt wurde) heute zu den Trägern des republikanischen Gedankens und der Sozialreform gehören, die naturgemäß trotz allen trügerisch-lockenden Parteinamen den Trägern der Reaktion ebenso wie die Republik, ein Greuel ist. Es darf für ziemlich wichtig gehalten werden, diese spezifisch preußische Reaktion in ihrem Wesen richtig zu erkennen. Auch sie hat einmal eine Glanzzeit gehabt – man könnte es auch ihr klassisches Zeitalter nennen – diese Zeit, die etwa von 1850 bis zu Beginn der neuen Ära auf ihrer Höhe war, und nur abgeschwächt fortdauerte oder immer wieder erwachte. Sie wurde in der auswärtigen Politik durch das Olmützer Abkommen vom 29. November 1850 eingeleitet, das den Sieg Österreichs als der Vormacht des deutschen Bundes und also die Wiederherstellung des Bundes bedeutete. Wenn hier das Motto war: „Der Starke weicht einen Schritt zurück“, nämlich vor dem Stärkeren, so bedeutete dies für die innere Politik Verkündigung einer rücksichtslosen Willkür gegen die Schwächeren, gegen das Volk. Es war das Ministerium Manteuffel, das hier im Vordergrund stand und mit seinen Ministern Westphalen, dem Schwager von Karl Marx, für das Innere, und Herrn von Raumer als Minister für die geistlichen und Unterrichts-[13] Angelegenheiten, das Ziel verfolgte, die Verfassung für den preußischen Staat vom 31.1.1850, die der König Friedrich Wilhelm IV., nachdem er sie beschworen hatte, gern wieder aus dem Wege geräumt hätte, zwar nicht direkt zu beseitigen, aber auf verfassungsmäßigem Wege unwirksam zu 23

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Olmützer Abkommen: In der sog. „Olmützer Punktation“ wurde die Gefahr eines Krieges zwischen Österreich und Preußen beseitigt. Dabei musste Preußen seine Politik einer Vereinigung der deutschen Fürsten unter preußischer Vorherrschaft aufgeben. Ministerium Manteuffel: Amtierte von Dezember 1850 bis November 1858.

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machen, eine Methode die uns nicht schlechthin fremd vorkommen kann. Jene Verfassung verkündete im Artikel 20: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei und stellt in Artikel 22 jedem frei, Unterricht zu erteilen, auch Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten, der seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung den betreffenden Staatsbehörden nachgewiesen habe. Sie (die Verfassung) enthielt auch im Artikel 27 dasselbe, was Artikel 118 der gegenwärtigen Reichsverfassung darbietet, nur in kürzerer Fassung: „Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern.“ Nach dem Verbot der Zensur folgt dann, daß jede andere Beschränkung der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung erfolgen soll. Die folgenden Artikel gewähren auch grundsätzliche Versammlungs- und Vereinsfreiheit und das Petitionsrecht als allen Preußen freistehend. Die Reaktion hat nun mittels der Fiktion (wie der preußische Geschichtsschreiber Hans Prutz sich ausdrückt), daß die im Titel 2 der Verfassungsurkunde enthaltenen Artikel – dazu [14] gehören die jetzt erwähnten Artikel sämtlich – nur theoretisch gemeint seien, und würden erst durch Spezialgesetze praktisch, – mittelst dieser Fiktion – sagt Prutz – die wichtigsten liberalen Verfassungsbestimmungen faktisch aufgehoben: so die Gleichheit vor dem Gesetze, die Beseitigung der Standesvorrechte, die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und die in der Verfassung ausdrücklich vorgesehene Möglichkeit der Bildung neuer Religionsgesellschaften mit öffentlicher Religionsausübung, die Aufhebung der gutsherrlichen Polizei u. a. m. wurden faktisch aufgehoben „und damit der Weg geöffnet“ – so schreibt Prutz – „für eine dem Geiste der Verfassung zuwiderlaufende reaktionäre Gesetzgebung, der eine zunächst an kein Gesetz gebundene Verwaltungswillkür planmäßig vorarbeitete“. Der Geschichtsschreiber fährt dann fort: „Gegen liberale Einrichtungen und Personen galt alles für erlaubt: für sie gab es bald kein Recht und kein Gesetz mehr, wenn, was die herrschende Partei als Recht des Staates oder als für dessen Wohlfahrt förderlich bezeichnete, durchgeführt werden sollte.“ Prutz klagt das Demoralisierende dieser „staatsrettenden Anarchie“ an. Auch die gesellschaftliche Ächtung liberaler Persönlichkeiten durch das servile Beamtentum und die ihm nacheifernden Kreise sei keine seltene Erscheinung gewesen. Die über das ganze Land [15] verzweigten Preußenvereine und der sogen. Treuebund, die ihre Parole zumeist von der 17 27

sagt Prutz: Vgl. 1902: 314. fährt dann fort: Vgl. ebd.: 314 f.; ebd.: 315: staatsrettende Anarchie“.

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Kreuzzeitung empfingen, waren beflissen, ihre gute Gesinnung augenfällig zu betätigen. Sogar der Prinz von Preußen, der spätere König und Kaiser Wilhelm, hat den Ministerpräsidenten gewarnt davor, gegen die auch ihm verhaßten Demokraten „nur Polizeistaatliches“ wirken zu lassen. Diebstähle wurden, wenn auch nicht im direkten Auftrage der Regierung, ausgeführt, die zuweilen – sagt Prutz – „einen erschreckenden Einblick in die sittliche Verkommenheit der herrschenden Polizeiwirtschaft eröffneten“. Die Uneinigkeit der Reaktionäre untereinander ging dabei bis zum bittersten Haß. Der Berliner Polizeipräsident v. Hinkeldey schritt, einer vertraulichen Weisung des Königs folgend, gegen adlige Spielhöllen ein; er wurde darum zur Rede gestellt und unterließ es (was ihm Ehre macht), durch den Befehl des Königs sich zu decken. Er wurde daraufhin von einem Herrn v. Rochow im Duell erschossen, am 10. März 1856. Daß es unter diesen Verhältnissen mehr eine Redegebundenheit als eine Redefreiheit gegeben hat, ergibt sich von selbst. Wenn die Redefreiheit immer den besonderen Sinn gehabt hat und behalten hat, daß die Abgeordneten eines Parlamentes nicht für ihre öffentlichen Äußerungen verantwortlich gemacht [16] werden sollen, so hat auch die Lehrfreiheit den besonderen Sinn, daß sie für die Lehrpraxis der Hochschulen vorzugsweise gelten will. Friedrich Paulsen hat sie das Grundrecht der Universitäten genannt. Rudolf Smend, der darauf hinwies, führt den Satz der altpreußischen Verfassung auf die Paulskirche zurück. Er geht dort zurück auf Dahlmann und Albrecht, von denen die Freiheit der Wissenschaft in den Siebzehner Entwurf hineingebracht worden sei, und zwar im Sinne der Gegenwirkung gegen die Karlsbader Beschlüsse, also im Sinne der akademischen Freiheit. Es habe in der ersten 1

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Kreuzzeitung: D. i. die Berliner Tageszeitung „Neue Preußische Zeitung“, nach dem Eisernen Kreuz im Titelkopf genannt; 1848 gegründet, war es das führende Blatt der preuß. Konservativen und der Deutschkonservativen Partei. 1911 wurde der Titel in „Neue Preußische (Kreuz-)Zeitung“, 1929 in „Neue Preußische Kreuzzeitung“ geändert. 1932 ging die Zeitung in den Besitz des „Stahlhelm“ über und erschien unter dem Titel „Kreuzzeitung“ bis zur Einstellung 1939. „… Polizeiwirtschaft eröffneten“: Vgl. hier u. folgend Prutz 1902: 316. v. Hinkeldey: Siehe zu ihm ebd.: 283, 311, 316 f., 320 u. 330. v. Rochow: Siehe dazu ebd.: 317. Rudolf Smend: Vgl. Smend 1927 u. 1928. Siebzehner Entwurf: Unsichere Lesart. Vielleicht ist „Entwurf“ der „Göttinger Sieben“ gemeint und Jurkat, der die Diktatstelle niederschrieb, hat sich verhört. Karlsbader Beschlüsse: Das sind die nach der Ermordung Kotzebues am 23. 3. 1819 in Karlsbad gefassten Beschlüsse gegen die nationalen und liberalen Bewegungen mit der Überwachungen der Universitäten und der Pressezensur; sie wurden am 2. 4. 1848 aufgehoben.

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dtsch. Nationalversammlung schwierige Verhandlungen über das Wort Lehrfreiheit gegeben. Tatsächlich sei Lehrfreiheit seitdem in dem uns allen überkommenen und selbstverständlichen Sprachgebrauch die akademische Lehrfreiheit; so sei noch in den Erörterungen über die lex Arons und deren Beseitigung gemeint gewesen. Smend meint sie sei eine Erbschaft des dtsch. Idealismus, die Ausgangspunkte ihrer eigentlichen Geschichte seien bekanntlich Jena und Fichte. Gewiß hat Prof. Smend damit Recht, aber auch der dtsch. philosophische Idealismus obschon er von Engels als Vater der sozialdemokratischen Partei [16a] nicht ohne Grund gerühmt wird, ist doch ganz und gar Sohn oder Enkel des Zeitalters der Aufklärung, mithin auch des Liberalismus und des damals an allen Hochschulen gelehrten Naturrechts, mithin auch der französischen Revolution und ihrer Folgen. Seitdem sagt Smend ferner sei die Lehrfreiheit ein selbstverständliches Stück der idealistischen Universitätsreform, und noch neuerdings habe Karl Jaspers für die Freiheit der Forschung geltend gemacht die Freiheit des einzelnen Gelehrten bis zur Willkür sei Bedingung seiner produktiven Geistigkeit und werde auch durch die Irrationalität und Unkontrollierbarkeit des produktiven Vorganges durch die von C. H. Becker formulierte Tatsache gefordert und gedeckt, dass alle grossen Erkenntnisse in der Regel nachträglich bewiesene Intuition sind. In diesem Sinne hat Max Weber vom Hazard des fruchtbaren Einfalles gesprochen. Die Lehrfreiheit sei die Voraussetzung auch der uns aufgegebenen sittlichen Haltung. So verwahrt sich Smend gegen die liberale Deutung des akademischen Grundrechtes. Es sei vielmehr in der Weimarer Verfassung mit Recht von den individuellen und sozialen Freiheitsrechten getrennt, mit denen es doch ideengeschichtlich nahe zusammenhinge getrennt und in die erste Reihe der öffentlichen Institutionen des vierten Abschnitts gestellt. Der Staatsrechtsgelehrte hebt dann noch die wesentlichen Auswirkungen des akad. Grundrechtes hervor ebenso aber auch die bestehenden Schranken, deren Schwierigkeit er zur Geltung bringt. Um zum Schlusse und ganz kurz auf die berufene preußische Reaktion um 1856 herum zurückzugreifen, so kann kein Zweifel bestehen, daß damals zu jener Zeit ein schwerer Druck auf diesem akademischen Grundrecht gelegen hat, und zwar so, daß dieser Druck wieder einmal von der alten Feindin der natürlichen Wissenschaften der katholischen und der protes-

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lex Arons: 1898 verabschiedete der Preußische Landtag ein Gesetz, das Privatdozenten der staatlichen Disziplinargewalt unterwarf. Dadurch konnte Leo Arons wegen seiner Mitgliedschaft in der SPD am 20. 1. 1900 die Lehrbefugnis entzogen werden. fruchtbaren Einfalles: Vgl. Weber 1973: 590.

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tantischen Theologie ausging, die sich beide für die legitimen Vertreter des Christentums ausgaben, obgleich sie ja etwas sehr Verschiedenes darunter verstanden und jede Richtung die Deutung der anderen heftig anklagte und als unchristlich bekämpfte. Aber auch politische Beschränkung der Lehrfreiheit durch die Regierungen sind manche vorgekommen, obschon die Gelehrten sich redliche Mühe gegeben haben, solchen vorzubeugen. Übrigens ist die Praxis der Fakultäten und ist die der Kultusministerien im Verkehr mit den Fakultäten bisher noch nicht aktenmäßig untersucht. Die Regierungen hatten sich auf diesem Gebiete mehr gegen die Studierenden, d. h. gegen ihr Streben nach einem einigen und freien Deutschland gewandt, als gegen die Professoren und anderen Dozenten. Indessen sind auch da einige merkwürdige Fälle vorgekommen: so die Absetzung ohne Pension des Dichters August [17] Heinrich Hoffmann von Fallersleben wegen seiner „unpolitischen Lieder“, die anstößige Grundsätze und Tendenzen enthalten sollten. Dies war eine vormärzliche Maßregelung im vierten Jahr der Regierung Friedrich Wilhelms IV. Sie ist um so interessanter, weil eben ein Jahr früher (1842) auf der Insel Helgoland, die bekanntlich zu England gehörte, das Lied „Deutschland, Deutschland über alles über alles in der Welt“ gedichtet worden war, das neuerdings von preußischen Prinzen zu ihrem Lieblingslied ernannt worden ist; offenbar in Verbindung damit, daß überhaupt die sogenannten nationalen Kräfte, Parteien, Regierungen das seltsame Schauspiel uns gewähren, daß sie die von ihnen ehemals leidenschaftlich bekämpfte nationale Bewegung so darstellen, als ob sie von ihnen gerade und gar nicht von den Liberalen und Demokraten ins Leben gerufen und gefördert worden wäre. Diesen wird, obwohl wir doch alle gleichmäßig im Weltkriege und durch ihn, sei es als Heimkrieger oder an der Front gestritten und gelitten haben, das Wort „national“ wie ein Knochen dem Hunde vorgeworfen und dadurch zum Partei-Schema erniedrigt. Man kann dies nicht anders als unwahrhaftig und unsittlich nennen. Übrigens ist diese Manier nach außen hin geradezu schädlich, da sie den Schein einer viel tieferen politischen Uneinigkeit erwecken muß, als tatsächlich besteht. [18] Getrösten wir uns der Tatsache, daß Redefreiheit und Lehrfreiheit, ob ihnen gleich Gefahren und Mißbräuche anhängen, theoretisch schlechthin 18

das Lied: Fallerslebens „Das Lied der Deutschen“ (1841 u. ö.). Vgl. Hoffmann von Fallersleben 1841.

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unanfechtbar dastehen, und daß sie auch, wenn man ihnen eine Anwendung zum Vorwurf gemacht, die als unnational und international gebrandmarkt wird, bei uns im deutschen Reiche wie in anderen Staaten für das deutsche Volk ganz und gar unentbehrlich sind, und die ihm jedenfalls immer mehr nützen als schaden werden. Und hegen wir das Vertrauen, so sehr ihm auch der Schein entgegen sein möge, daß wenigstens das, was relativ wahrer ist, schließlich immer über das, was relativ minder wahr, vollends über das, was unzweifelhaft unwahr und etwa sogar erlogen ist, siegreich sein wird, und daß zu diesem Siege nur die freie Rede und die freie Lehre in einem Staate helfen kann, der prinzipiell keine andere Partei nehmen darf als die Partei der Freiheit, der Wahrheit und des gesunden Fortschritts der Kultur.

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Der politische Liberalismus ist viel älter als sein Name, denn er ist so alt wie die Liebe zur Freiheit und die Hochschätzung dieses Gutes; und er ist so mannigfach wie die Arten der Freiheit, die man kennt oder nach denen man Verlangen trägt. Da ist zuerst das Verhältnis von Herrn und Knecht, das Verhältnis von Herrscher und Untertan. Die Dienenden werden immer frei sein wollen oder doch freier als sie sich fühlen. Dennoch ist der politische Liberalismus verhältnismässig jung, besonders insofern als er parteibildend gewesen ist und darauf geht doch eigentlich unser politisches Interesse an der Idee des Liberalismus. So war in Deutschland schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. von Liberalismus in der Politik viel die Rede, und der Appell den in einem Drama des jungen Schiller Marquis Posa an Philipp II. richtet fand begeisterten Widerhall, weil er eben politisch gemeint war und an einen Selbstherrscher sich wandte; denn von einem Selbstherrscher regiert zu werden war man ja gewohnt, und wenn man auch den Despotismus verabscheute, so hatte doch Friedrich von Preußen einen zu bedeutenden Eindruck gemacht, als dass man ihn des Despotismus hätte anklagen wollen. Diese Anklage ging überhaupt weit mehr gegen die kleinen Fürsten und man rühmte zuweilen die großen, wenn sie über die Köpfe der kleinen hinweg es mit dem Volke zu halten schienen. Immerhin gab es, ehe man in Deutschland ein wirkliches politisches Leben kannte, schon einen Gegensatz und Streit zwischen konservativen und liberalen Tendenzen und Gesinnungen. Göthe meint (in den Sprüchen in Prosa No. 229), Gesinnungen seien selten liberal, „weil die Gesinnung unmittelbar aus der Person, ihren nächsten Beziehungen und Bedürfnissen hervorgeht“. Er fügt vielsagend hinzu: „Weiter schreiben [2] 1

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Der Liberalismus als politische Idee: Textnachweis: SHLB, Nachlass Eduard Georg Jacoby, Cb 156.6 / 154. – Der Text liegt zum Teil (S. 1−7) als Typoskript (mit eigenh. Korrekturen von Tönnies) und als Manuskript (S. 8−14 in Schreiberhand von Else Brenke) vor. Beide Vorlagen in 8°. Der Aufsatz ist zwischen dem 28. 1. und 31. 1. 1933 verfasst. Die zum Text gehörige „Skizze“ sowie Näheres zur Textentstehung s. Edit. Bericht S. 652f. der Appell: Vgl. Schillers „Don Karlos“ (1869: 315, 3. Akt, 10. Szene): „Geben Sie Gedankenfreiheit!“. Friedrich: D. i. Friedrich II. (der Große).

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wir nicht; an diesem Massstab halte man, was man tagtäglich hört“. An einer anderen Stelle dieser Sprüche, ebenso wie in einem Gespräch mit Eckermann meint Göthe: Was von seiten der Monarchen in den Zeitungen gedruckt wird, nimmt sich nicht gut aus; denn die Macht soll handeln und nicht reden. Was die Liberalen vorbringen, lässt sich immer lesen; denn der Uebermächtigte, weil er nicht handeln kann, mag sich wenigstens redend äussern. Lasst sie singen, wenn sie nur bezahlen, sagte Mazarin, als man ihm die Spottlieder auf eine neue Steuer vorlegte. So gab es in Deutschland eine liberale Partei ehe es ein politisches Leben, ausser etwa in den noch überlebenden ständischen Staaten gab. Sonst war sie immer übermächtigt und musste in der Tat sich ans Reden und Singen halten, worin sie auch nicht wenig geleistet hat; denn was an politischer Literatur ans Licht treten und von der Zensur verschont bleiben konnte, war fast alles liberal. Unter den liberalen Forderungen aber spielte die „Pressfreiheit“ eine Hauptrolle. Ungestüm und radikal war wie sonst auch damals die Jugend; aber sie gab nicht wegen des Liberalismus eigentlich Anstoss, denn dieser wagte nur selten mit radikalen Forderungen sich heraus, sondern es war die Gefährdung ihrer Souveränität, die von den deutschen Fürsten, grossen und kleinen, allgemein gefürchtet wurde und die man nicht ohne Grund hinter dem liberalen Verlangen nach der deutschen Einheit witterte. Dennoch erfolgte der Triumph dieser Bestrebungen 1848. Man stand wie ich noch von Zeitgenossen vernommen habe, geistig auf dem Kopf, als so plötzlich im eigenen Lande die Klänge der Freiheit laut wurden. Es war ein Triumph des Liberalismus. Und wenn auch die Revolution, die ganze Bewegung, kläglich scheiterte und eine Reaktion zur Folge hatte, in der die gegenwärtige sich spiegeln kann, wenn sie gern sich schöner vorkommen will als sie ist, so blieben doch die liberalen Strömungen lebendig, und wurden mehr und mehr das Evangelium der öffentlichen [3] Meinung. Aber gleichzeitig verlor die politische Idee des Liberalismus an Idealismus und wurde etwas gemeiner, indem sie fast nur noch auf Verwirklichung dessen, was sie wirtschaftliche Freiheit nannte, bestand. Hier kamen also die von Adolph Wagner so genannten sozialen Freiheitsrechte zu ihrer Geltung als welche dieser grosse Gelehrte beschreibt: erstens Recht der Eheschließung, zweitens das Zugrecht oder die Freizügigkeit, drittens das Aus- und Einwanderungsrecht, viertens das Reiserecht. Über allen aber schwebt was Wagner hier nicht direkt behandelt, das Recht des freien

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„… tagtäglich hört“: Vgl. Goethe 1881: 2. Bd., 536 („Maximen und Reflexionen“)

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Handels, dem schon der Zollverein in Deutschland eine Bahn gebrochen hatte, auf der die kapitalistische Entwicklung rüstig fortschreiten konnte, besonders nachdem 1840 der Romantiker den preussischen Thron bestiegen hatte; denn die Romantik ist immer beflissen gewesen, den Schein der Freiheit zu wahren, also sich mit einem liberalen Kleide zu schmücken. In England ist der Name des Liberalismus für eine der beiden historischen grossen Parteien erst um die Mitte des 19. Jahrh. aufgekommen, während die alten Parteinahmen Tory und Whig eigentlich nur aus gegenseitiger Beschimpfung hervorgingen und beide waren in Wirklichkeit Namen für zwei verschiedene Cliquen der Aristokratie, die sich freundschaftlich bekriegten und über die Hauptsache einig waren, nämlich darüber, dass sie als Aristokratie berufen, wenn möglich gar durch unseren Lord, den lieben Gott dazu eingesetzt sei zu herrschen. Die Tory waren ursprünglich die Partei des kleinen Adels; sie waren, was wir wohl Krautjunker nennen, also eigentlich mittelalterlich: zum squire als dem Grundherrn gehörte der geistliche Herr der parson als seine linke Hand[4] während dieser selbst im Glauben, in der Einfalt der Menge besonders auf dem Lande seine starke Stütze hatte, wogegen die überwiegend liberale Öffentliche Meinung einen schweren Stand hatte und mit dem sie im ganzen vergebens rang. Die Whigs waren in jeder Hinsicht die modernere Partei. Ihre Grössen waren die Herren, die sich an den Klosterländereien (Abbeylands) bereichert hatten und aus diesem Grunde bis zum politischen Ende der Stuartfamilie (1745) nichts mehr verabscheute als die so lange drohende Restauration der Stuarts und des Papismus. Übrigens waren sie die Partei, die alles neuere und freiere begünstigte, also auch die neue und freie Industrie, die Geldwirtschaft und den Kapitalismus förderte. Darum war sie auch schutzzöllnerisch gesinnt, beschränkte also das Postulat des freien Handels wie es im allgemeinen in allen Ländern für die leitenden Geister der Industrie charakteristisch ist, auf das Inland; während, was sich ebenfalls in allen Ländern wiederholt, die Vertreter des agrarischen Interesses auch für den freien auswärtigen Handel eintraten, denn dieser bedeutete für sie hauptsächlich die Konkurrenz der französischen Kunstgewerbe und anderer Industrien, mit denen der englische und schottische Fleiß und Kunstsinn es nicht aufnehmen konnte. Ziemlich einig waren beide Parteien auch in

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Zollverein: Zusammenschluss dt. Staaten (1. 1. 1834) zur Bildung einer Wirtschaftseinheit, die bis zur Gründung des Deutschen Reiches (1871) bestand. der Romantiker: D. i. der 1858 entmündigte Friedrich Wilhelm IV., der gegen die liberale Bewegung das „monarchische Prinzip“ („Thron und Altar“) durchzuhalten versuchte.

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der Unterdrückung Irlands und in der Kolonialpolitik, für die Pitt d. Ä., der doch seinem Ursprunge nach ein Whigminister war, das Schlagwort ausgab, es dürfe in den Neuenglandstaaten kein Nagel gemacht werden, den man in England machen könne. Übrigens haben die Whigregierungen und die zu ihrer Hilfe kommende Öffentliche Meinung den liberalen Charakter der Literatur vielfach gefördert: sie waren nicht nur entgegenkommender gegen die Schotten, [5] also weniger schroff dem presbyterianischen Kirchensystem gegenüber, sondern auch nachsichtiger gegen den einheimischen dissent, mit anderen Worten die Sekten oder nonconformists, d. h. die besonders in den grösseren Städten immer mehr ausgebreiteten gläubigen Christen, denen die Kirche von England und ihr System nicht genug tat, weil dies System seine Aufgabe hauptsächlich darin erblickte, die korrekten Formen zu erfüllen und auf die Politik der Squire-archie den Segen des Herrn herabzuflehen. Sie waren bei weitem nicht so mit der Kirche verbunden wie die Torys, und beehrten innerhalb der Kirche die liberalere Broadchurchparty, später die Latitudinarians genannt, mit ihrer Gunst, ja waren zum Teil auch der Lowchurchparty geneigt, die immer Fühlung mit dem Dissent suchte und fand. Ich schweige hier vom politischen Liberalismus in Frankreich und anderen Ländern, obgleich die politische Idee des Liberalismus vielleicht ihre wärmste Heimat bei den Franzosen gefunden hat; wenigstens haben sie am stärksten auf das politische Leben in Deutschland gewirkt. Ihre grosse Revolution war der grosse Sieg dieses Liberalismus, wenn auch zunächst fast niemand an Zerstörung des Königtums gedacht hat: nur der Gang der Ereignisse brachte eine republikanische Partei hervor, die dann die Trägerin des Liberalismus wurde. Hier hat der Liberalismus ebenso wie unter uns schon seit der burschenschaftlichen Bewegung und in der grossen politischen Praxis seit 1866 seine Ehe geschlossen mit dem Nationalismus, sodass auch in Deutschland der Nationalliberalismus als das echte Kind dieser Ehe die herrschende Form des bürgerlichen politischen Bekenntnisses geworden ist, das seine kurze Hochblüte nach dem französischen Kriege bis zur grossen Wandlung in der Handelspolitik fand, die auch eine [6] heftige Polemik der ganzen vom Grosskapital inspirierten Presse gegen das Prinzip des Gehenlassens sofern es als Tendenz zum Freihandel wirkte eingeleitet hat und ihren ersten Widerhall in der wie immer bei Geistern niederen Ranges populären Judenhetze fand, die durch die Excesse der Spekulation und des Gründerwesens während der guten Jahre teilweise gerechtfertigt erschien; ganz so wie heute die Juden vielmehr und viel heftiger wegen solcher Excesse in den Jahren nach einer schweren Niederlage angeklagt werden,

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wie damals nach dem gänzlichen Siege. Es ist bekannt und allzu natürlich, dass die Juden als Vertreter des Handels besonders des Bankwesens und des Kapitalismus schlechthin, immer eine leicht angreifbare Position innehaben, und dass man sie angreift auch um das kapitalistische System zu retten, das sich leicht idealisieren lässt in den kurzsichtigen Augen eines urteilslosen Publikums unter einer irrealen Voraussetzung, der Voraussetzung nämlich, dass die Juden darin fehlen oder zur Ohnmacht verurteilt am Boden liegen. Diese Idealisierung ist freilich einfältig, aber eben das Einfältige ist auch leicht zugänglich. Der Liberalismus als politische Idee hat zwei grosse Ausdrücke seines Wesens: erstens denjenigen der formalen Gestaltung des modernen Staates, das ist des eigentlichen Staates; zweitens in der Wechselwirkung des Staates mit dem wirtschaftlichen Leben. In beiden Anwendungen hat diese politische Idee von der Öffentlichen Meinung getragen ihre kräftigen Wirkungen gehabt. Was die Staatsform betrifft, so ist sie erst neuerdings nach verschiedenen Anläufen im 19. Jahrhundert siegreich geworden als Gestaltung der Republik; denn die Republik ist die rationale Gestalt des Staates. [7] Und der Liberalismus hat auch als politische Idee eine intime Verwandtschaft mit dem Rationalismus also mit der Wissenschaft, deren Lebensprinzip jener ist. Aber dies Ergebnis ist Ergebnis eines langes Ringens, und zum guten Teil der Aufnahme eines neuen Elements, wozu der Liberalismus sich genötigt fand. Man muss sich der Tatsache erinnern, dass der Liberalismus als politische Idee einen nahen und engen Zusammenhang hatte mit dem sogenannten Absolutismus, das heißt der Selbstherrschaft von Monarchen; zumal in deren jüngster der aufgeklärten Phase die in den preussischen und den anderen Ländern förmlich bis zum Jahre 1848 gedauert hat. Dieser nahe und innige Zusammenhang war nicht zufällig. Denn unter den vom sogenannten Mittelalter her in die Neuzeit hineinragenden politischen Mächten war die Monarchie die einzige, die wie an allem jungen Werden, so auch am Aufstieg der Wissenschaft somit also auch am Emporkommen des Neubürgertums, besonders der Grossstädte, aber auch sonst der gebildeten Klasse, sogar unter Bauern, ein natürliches teilnehmendes Interesse hatte; denn dies Interesse war gegenseitig. [8] Man wird daher mit Recht sagen dürfen, dass der politische Liberalismus seine früheste Phase erlebt hat als Schützling des absoluten Fürstentums oder der absoluten Monarchie; wenn auch diese immer Neigung hatte, mit den alten Mächten: der Kirche und dem Adel lebhafte Fühlung zu behalten 33

[8]: Ende des Typoskripts; danach als Manuskript.

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und dem, was man seine Bestimmung nennen kann, diese Mächte zugunsten der staatsbürgerlichen Freiheit und Gleichheit niederzuhalten und zu dämpfen, untreu zu werden. Merkwürdig ist nun aber, wie diese Mächte selber das Vorgehen der Monarchie gegen sie als Störung und Zerstörung ihrer Freiheiten – der Libertäten, worauf die Stände des Heiligen Römischen Reiches sich so viel zugute taten [..] ; die politische Freiheit der Kirche war ohnehin ein für diese sich von selbst verstehendes Postulat, das sie jedenfalls in einer ständischen Verfassung besser als in einer neueren konstitutionellen für gesichert hielt. Es ergaben sich also verschiedene Kampfstellungen: die eine zugunsten des liberalen Bürgertums unter Schutz u. Mitwirkung der Monarchie gegen die überlieferten Herrenstände; die andere, eben dieses Liberalismus gegen die verbündeten Mächte: Monarchie und alte Stände; die dritte endlich des Bürgertums und der alten Stände gegen den Absolutismus, wenn dieser, aus welchen Ursachen auch immer, als Feind der gemeinen Freiheit gebrandmarkt wurde. So ist eben die grosse Revolution in Frankreich eigentlich entstanden als ein Wiederaufleben der Fronde und als Erneuerung der ständischen Verfassung, die viel weniger als die absolutistische in die Rechnung des Liberalismus hineinpasste. Inzwischen aber war der Dritte Stand so stark geworden, dass er schon durch die Forderung der Verdoppelung [9] seiner Zahl die alte Verfassung sprengte; vollends dadurch, dass er diese Forderung auch durchsetzte. Er wurde dann in jenem Lande siegreich, wenn auch mit schweren Unterbrechungen und Reaktionen teils der Herrenstände, teils des absolutistischen Regimentes, wenngleich es sich nun imperialistisch nannte, während er sein Wesen als Repräsentanten und Vorkämpfers der Bourgeoisie nur umso freier entfaltete. Gefördert wurde diese Entwicklung stark durch den Umstand, dass der Dritte Stand mehr und mehr zu einer herrschenden Klasse sich entwickelte, nicht sowohl dadurch, dass sie auch in den grossen Grundbesitz eindrang, als durch die Macht des Geldes schlechthin und deren enorme Steigerung nicht nur durch die Vermehrung u. Ausbreitung des Welthandels u. des grossen Bankwesens, als vielmehr durch die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und dessen, was W. Roscher die plutokratisch-proletarische Volkskrankheit nennt. So ist in Deutschland die nationalliberale Partei, die sich seit der Revolution Deutsche Volkspartei nennt, entstanden, die zum Teil aus ehrlichen und idealistischen Liberalen bestand, die ganz besonders aber der Gunst und Unterstützung durch die Führer der grossen

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zugute taten [..]: Wohl zu ergänzen: betrachteten.

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Industrie sich erfreute, unter denen sehr wahrscheinlich auch jene Liberalen vertreten waren, die aber in der Hauptsache aus solchen Männern des Geschäftes bestanden, die allen Ansprüchen der Arbeiterklasse ein starres Nein entgegensetzten und den „Herr-im-Hause“-Standpunkt vertraten. Der politische Liberalismus hat infolge [10] seines Zusammenhangs mit der Plutokratie immer einen oligarchischen Charakter gehabt, und dieser prägt sich hauptsächlich darin aus, dass der Zensus das Wahlrecht bestimmte, und ein Wahlsystem dieser Art haben wir bekanntlich noch bis 1918 im Preussischen Staate gehabt. Das Bismarcksche Urteil darüber ist bekannt; aber durchaus nicht unparteiisch; sogar im 3. Bande von Brockhaus’ Konversations-Lexikon von 1901 liest man, „Dass dies System nach verschiedenen Richtungen eine ungeheure Ungerechtigkeit und ein ganz beklagenswertes Privileg des Geldes enthält, ist nicht zu leugnen“. Der Verfasser dieses Artikels ist nicht etwa ein Sachwalter des Proletariats, er betont vielmehr die Notwendigkeit, dem Abhängigen, in seiner Verwilderung unberechenbaren Proletariat keinen direkten Einfluss auf die öffentlichen Angelegenheiten zu verstatten. Freilich ist es nur eine Frage der Ausdehnung und Erweiterung der liberalen politischen Idee, die zum heutigen Demokratismus führt; und für diesen ist das allgemeine gleiche u. geheime Wahlrecht das notwendige Element seines Daseins, wie in Deutschland, wo dies Wahlrecht freilich schon 1848 vielfache Anwendung fand, zuerst Lassalle erfolgreich vertreten hat. Dies Wahlrecht ist freilich auch das Wahlrecht des Bonapartismus, also des cäsaristischen Systems, und als solches hat auch Bismarck es in die Verfassung des Norddeutschen Bundes u. des Deutschen Reichs [11] eingeführt. Ja, den diktatorischen Tendenzen kann das Wahlrecht nicht weit genug ausgedehnt sein: je weniger urteilsfähig u. ihres wirklichen Interesses bewußt die Wähler sind, umso leichter lassen sie in einem Sinne, der ihren Herren genehm ist, sich beeinflussen, ja sich kommandieren. Wir erleben das heute gerade, wohin das Wahlrecht zwanzigjähriger junger Männer u. Frauen geführt hat. Dieser ganze Gedankengang führt uns in das andere Gebiet, auf dem die Bedeutung des Liberalismus als politischen Prinzips von eminenter Bedeutung ist, nämlich in das Verhältnis des Staates zur Volkswirtschaft. Ich behaupte nicht, dass der Liberalismus notwendig auf den Gedanken

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liest man: Vgl. [o. V.] 1901. cäsaristischen Systems: Darunter versteht Tönnies (siehe z. B. 1917: 210; TG 10) eine „Staatsform, worin sich ein Volksführer (in der Regel ein Heerführer) zum Alleinherrscher aufwirft (illegitime oder unregelmäßige Monarchie)“. Vgl. hierzu auch Zander 2001.

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führen muss, auf den er tatsächlich eine so grosse Bedeutung gewonnen hat, aber die Tatsachen bedingen die historische Stellung. Die liberale politische Denkungsart hat den Staat hergestellt, den sie auch den Rechtsstaat nennt. Unser BGB ist ebenso wie der Code Civil des ersten Napoleon, oder vielmehr wie seine fünf codes, ihr Werk, ebenso wie die andere grosse Leistung, die den Rechtsstaat im engeren Sinne ausmacht: die Unterwerfung der Verwaltung unter das Gericht. Diese beruht in einer uralten germanischen Auffassung des Rechtes, wie sie in England sich erhalten hat u. auch in die Vereinigten Staaten übergegangen ist: dass nämlich jeder Staatsangehörige [12] bei den ordentlichen Gerichten gegen die Handlungsweise jedes Beamten eine Klage habe; aber die liberale Erneuerung setzt an die Stelle des ordentlichen das besondere Verwaltungsrecht. Die liberale Theorie aber ist auch prinzipiell gegen die Ausdehnung und Erweiterung der Verwaltung, also der Staatsgewalt in ihrer eigentlichen Sphäre; denn das Recht gehört seinem Wesen nach zu dem, was Hegel die Gesellschaft im Unterschied zum Staate nennt; u. Hegel selber hat das richtig erkannt –. Die liberale Theorie hat ihren klassischen Ausdruck in der physiokratischen Formel gefunden: lasset es gehen, lasset es passieren, die Welt geht von selbst ihren Gang! in einer Formel, die ohne Zweifel in dem Sinne gemeint war, dass dies das zweckmässigste System ergebe, insbesondere volkswirtschaftlich das zweckmässigste. Man hegte das unbedingte Vertrauen in die Freiheit der Individuen, ihr eigenes wirtschaftliches Wohl zu erkennen und danach vernünftig zu handeln. Man war überzeugt, dass dadurch für das allgemeine Wohl am besten gesorgt sein werde, denn der freie Wettbewerb sei insbesondere im Interesse der Konsumenten, indem er jedem die Aufgabe stelle, dadurch seinen Erfolg zu gewinnen, dass er seine besten Kräfte anwende, um dem Publikum, so gut er es vermöge, zu dienen, also die möglichst gute u. möglichst billige Ware zu liefern. Die freie Konkurrenz ist die Basis der liberalen Volkswirtschaftslehre, [13] und diese ist der Kern des politischen Liberalismus überhaupt. Er ist ein Feind der Monopole, privater sowohl als staatlicher. Jede volkswirtschaftliche Tätigkeit des Staates hält er für unheilvoll. Der Staat soll sich auf seine notwendigen Aufgaben beschränken: auf Eigentum und die Person, also die Freiheit zu schützen u. die Einhaltung der Verträge zu erzwingen. Dies war es, was Ferdinand Lassalle die Nachtwächteridee nannte; er hätte vielleicht besser gesagt: die Schutzmannsidee. Dass diese Einschränkung des Staates, also die Nichtintervention und die freie Betätigung der wirtschaftlichen 4

Code Civil: D. i. seit 1804 das Gesetzbuch des Bürgerlichen Rechts in Frankreich.

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Kräfte das allein richtige System sei, ist noch heute die Grundüberzeugung des Bürgers, wenigstens dessen, der es zu etwas gebracht hat, oder auch hofft, es zu etwas zu bringen; m. a. W., des Kapitals und Kapitalismus im Gegensatz zur Arbeit […] Sozialismus. Der Klassenkampf ist nicht eine Erfindung des Marxismus, sondern er ist ein Ergebnis der tatsächlichen, zum guten Teil durch den Liberalismus geleiteten Entwicklung. Er hat nicht nur die Arbeit gegen Kapital u. wenigstens den grossen überbäuerlichen Grundbesitz, sondern auch das kleine Kapital mit den Resten des Handwerkes, ja sogar einen grossen Teil des leichteren u. verarbeitenden Kapitals gegen das schwere Kapital aufgebracht; er hat auch dahin gewirkt, dass kein denkender Staatsmann mehr im eigensten Interesse des Staates in den staatlichen Finanzen, deren Gedeihen wesentlich vom Kapital u. grossen Grundbesitz abhängig ist, umhin kann, im Interesse des öffentlichen Lebens [14] eine erträgliche Lebenshaltung der grossen Menge des Volkes als den hauptsächlichen Gegenstand seiner Aufgabe zu erkennen. Aus Schäffle, Bau u. Leben II p. 120.121 „Wir glauben daher nachweisen zu können, dass der realisierbare Sozialismus einen bedeutenden Schritt weiter auf der Bahn individueller Freiheit vollziehen … muss, als der herrschende Kapitalismus der Gegenwart.“ – „Andererseits schliesst die Geltung und dynamische Bedeutung freier Individuen nicht aus, dass diese zugleich in Privatverbände und in öffentliche Anstalten als wirkende Kräfte und als Schutzgenossen und Pfleglinge eingegliedert seien. Individualisierung ist nicht Isolierung und soll nicht in solche ausarten. Vielmehr verlangen die höchsten Stufen der Civilisation allgemeinst die grössten körperschaftlichen und anstaltlichen Collectivkräfte und den Anteil jedes Individuums an den letzteren. Im andern Fall ist der moderne Bürger so friedlos und rechtlos und schutzlos wie derjenige, der in der Urzeit ausserhalb des Verbandes einer Sippe oder Hundertschaft stand, oder muss er das Leben um den Preis einer factischen Knechtschaft gegen die Mächtigen und Besitzenden erkaufen. –“

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im Gegensatz zur Arbeit […]: Wohl zu ergänzen: und zum. Bau u. Leben II p. 120.121: Vgl. Schäffle 1875 / 78; eine Angabe, ob und wo das Zitat im Text einzufügen wäre, fehlt.

Erklärung [Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 27. Dezember 1933]

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Hiermit übertrage ich gemäss Vorschrift der Satzung in der MitgliederVersammlung die Rechte und Obliegenheiten des Präsidiums an den rechtmässig erwählten Nachfolger Herrn Geheimrat Prof. Dr. Sombart. Mit meinem Danke für das mir bisher geschenkte Vertrauen verbinde ich die Zuversicht, dass die Gesellschaft in gleichem Geiste wie bisher sich betätigen werde, nämlich im Geiste einer strengen und ausschliessenden Wissenschaftlichkeit gemäss dem bei ihrer Begründung deutlich ausgesprochenen Willen, gemäss der Erneuerung dieses Willens nach Unterbrechung ihrer Tätigkeit und ihrer Neubegründung, endlich gemäss aller bisheriger Praxis besonders bei Gelegenheit der Soziologentage. Ich habe im Jahre 1910 dem vorzugsweise von den Herren Max Weber und Sombart ausgesprochenen Grundsatz des Ausschlusses von Werturteilen aus unserer Wissenschaft mit der ausdrücklichen Deutung mich angeschlossen, dass ich ohne eine Entscheidung der Frage in Anspruch zu nehmen, ob auf diesem Gebiete praktische Theorien wissenschaftlich möglich seien, insbesondere also Ethik und Politik, dass wir jedenfalls diese vom Bereiche unserer Tätigkeit ausschliessen wollten. [2] Dieser Richtlinie gemäss habe ich mich zu verhalten für verpflichtet erachtet und hege das Vertrauen, dass sie ferner eingehalten werde. Jede Vermischung halte ich für verderblich und durfte mich überzeugt halten, dass dieses auch die weit überwiegende Meinung in der gesamten Mitgliedschaft gewesen ist. Demgemäss berührte mich keine Veränderung der Staatsregierung auch nicht der Staatsform, in meiner Eigenschaft als

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Erklärung: Textnachweis: TN, Cb 54.61:2.2,17 – Typoskript, 2 Seiten in 4°. Verfasst 1933; über dem Titel: Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. 27. Dezember 1933. Erstveröffentlichungen in: Bickel / Zander 1991 und Rammstedt 1991; dort auch weitere Ausführungen über die Umstände der Stillegung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und des Rücktritts ihres Präsidenten Ferdinand Tönnies. Siehe auch Edit. Bericht zu „Zum 8. Soziologentage, 1933“, S. 653f. Deutung: Vgl. Tönnies 1911.

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Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Auch als einfaches Mitglied werde ich von nun an diesen Grundsatz mit aller Entschiedenheit vertreten.

Zum 8. Soziologentage, 1933

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Als vor etwa 100 Jahren zuerst von Frankreich her das Gerücht von Sozialismus und Kommunismus über die Grenze drang, fand es nur bei erlesenen Geistern Gehör; ja, später noch als zuerst 1842 Lorenz Stein seinen Beitrag zur Zeitgeschichte darüber verfasst hatte, schlugen diese Reden, die W. Roscher bekundet hat, noch fremdartig an die deutschen Ohren oder vielmehr an die Gedanken der Leser. Um die Soziologie steht es heute noch nicht viel anders, wenn man auch an das Wort sich gewöhnt hat. Es ist eine Erfindung des geistvollen Auguste Comte, der unter diesem Namen, [..] unter dem Einfluss seines alten Meisters St. Simon in ihm nachwirkte, in zwei Bänden seines „Cours de Philosophie Positive“ eine gewissen Grundgedanken über die Entwicklung des menschlichen Geistes, die sein System bezeichnen, angepasste Philosophie der Geschichte verfasst hat: sie hat später [..] dem vierbändigen Werke „Systeme de Politique positive ou Traite de Sociologie, instituante la Reunion de l’humanitee“ eine neue Gestalt empfangen, mit der der Philosoph also als Religionsstifter auftrat, aber nur eine Schule begründete, von der noch heute in verschiedenen Ländern Reste geblieben sind, die sogar in der Geschichte dieser Länder, z. B. der Türkei, Portugals, wohl auch Spaniens deutliche Spuren gezogen haben. Es sind wohl die einzigen Organisationen, die sich dazu bekennen, ausschliesslich auf dem Boden positiver Wissenschaft das politische und das geistige Leben der Nationen gestalten zu wollen. Einen ähnlichen Geist, aber viel bestimmter von der allgemeinen Theorie der Entwicklung und der besonderen der menschlichen Abstammung her hat [2] Herbert Spencer, ein grosser Philosoph, in drei starken Bänden seine Prinzipien der 1

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Zum 8. Soziologentage, 1933.: Textnachweis: TN, Cb 54.61:2.2,08. – Typoskript in 4°, 6 S. mit eigenh. Korrekturen. Entstanden vermutlich in der 2. Jahreshälfte 1932 bis Frühjahr 1933. Näheres zur Textgeschichte s. Edit. Bericht S. 653f. seinen Beitrag: Vgl. Stein 1842. [..]: unleserliche Korrektur für urspr.: die. „Cours de Philosophie Positive“: Vgl. Comte 1830 / 1842. sie hat später [..]: Wohl zu ergänzen: in. vierbändigen Werke: Vgl. Comte 1851 / 1854. Abstammung: Im Original: Anstammung. seine Prinzipien: Vgl. Spencer 1893−1896.

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Soziologie dargestellt. Sie sind ganz und gar von den alten Gedanken des Liberalismus erfüllt und betrachten die menschliche Entwicklung unter diesem Gesichtspunkte, wenn gleich er sowohl in Gewerkschaften als auch in wirtschaftlichen Genossenschaften Anwendungen des Liberalismus erkennt, die ihm Fortschritte bedeuten. Auch seine Wirkung ist, besonders in den nicht britischen Gebieten der englischen Sprache bedeutend. Diese grossen Werke haben aber keine eigentliche Fundierung der Soziologie als Wissenschaft geschaffen. Freilich sah Comte deutlich, dass in den Staatslehren, die im klassischen Altertum und nachher immer von grosser Bedeutung gewesen sind, so etwas wie Soziologie enthalten war. Er erledigte diese Vorgänger einfach seinen Grundlehren gemäss, indem er sie für falsch und zuerst theologisch, teils und besonders in jüngeren Bildungen als metaphysisch bezeichnete, denen gegenüber nun seine Politik positiv sein sollte, und als Politik verstand er ausschliesslich, um es kurz zu sagen, das Theorem vom besten Staate. Es lag ihm fern, die politischen und sozialen Erscheinungen unter jenem objektiven Gesichtspunkte zu betrachten, unter dem Spinoza sich vorgesetzt hatte, alles menschliche nicht mit Jubel oder mit Tränen aufzunehmen, sondern zunächst ausschliesslich zu verstehen. Und eben diese Maxime gilt es auf die Tatsachen des sozialen Lebens anzuwenden. Ich habe dies versucht, indem ich zunächst von der Sozialbiologie und der Sozialpsychologie, die oft auch unter dem Namen Soziologie befasst werden, die wirkliche Soziologie unterscheide und diese dann in die reine oder begriffliche [3] die angewandte und die empirische Soziologie einteile: die zuletzt genannte hat neuerdings als Soziographie vielfach Anerkennung gefunden, sodass der bevorstehende Soziologentag ihr eine besondere Gruppe widmet, von der eine Förderung der Sache erwartet werden darf. Mein Gedankengang beruhigte sich nicht bei dem sozialen Leben und seinen mannigfachen Gestaltungen, seinen Widersprüchen und Kämpfen, seinen Veränderungen und Entwicklungen. Alle diese Betrachtungen der dynamischen Tendenzen gehören auch und zum guten Teil der biologischen und psychologischen Ansicht des Lebens, und also auch des Zusammenlebens der Menschen an. Darum fand ich, dass die besondere soziologische Fragestellung unmittelbar auf die Gründe, und zwar die Beweggründe, die den Gestalten des Zusammenlebens ihren so verschiedenen Charakter geben

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und betrachten: Im Original: betrachtet. Charakter geben [..]: Prädikat fehlt; zu ergänzen wohl: zurück führt.

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[..]. In dieser Hinsicht hatten die Theoretiker des Staates ein grosses Beispiel gegeben, wenn auch das Problem vor Hobbes kaum einem Denker ganz aufgegangen war. Dieser fingierte einen natürlichen Zustand der Anarchie, ohne jede zwingende Gewalt: einen Zustand der Individuen, wie er tatsächlich noch – wenn auch schwach verhehlt und verschleiert – der Zustand zwischen den Staaten ist. Er selber deutet mehrfach auf diese Analogie hin und meint, es sei ein permanenter Kriegszustand, wenn auch ein latenter. Und ganz so, wie wir es neuerdings erleben, und wie eine gewisse Tendenz dahin schon längst bemerkbar geworden ist, so konstruiert er sich den Übergang aus dem potentiellen Kriegszustand in einen dauernden und gesicherten Zustand des Friedens. Er kennt auch die schwächeren Arten des Überganges [4] wie eine solche einem grossen Teile der Staaten [..] jetzt der Völkerbund darstellt; aber er hält sich kaum der Beachtung wert im Vergleiche mit der rationalen Begründung des richtigen d. i. selber rationalen Staates. Die Vernunft denkt Hobbes wesentlich bewegt, ja bedingt durch das Streben nach Selbsterhaltung, mithin durch die Liebe im Leben und die Furcht vor dem Tode. Genährt werden diese beiden durch die Erfahrung der Greuel des Krieges, also des vorgestellten Krieges aller gegen Alle, wie eines wirklichen Krieges, etwa unseres Weltkrieges. Längst ehe man diesen ahnen konnte, waren Erfahrungen dieser Art überstark vorhanden. Ich habe auf Grund des Hobbes-Studiums das Problem verallgemeinert zum Problem der sozialen, d. h. friedlichen Zusammenhänge zwischen den Menschen überhaupt, also der gegenseitigen Hilfe und Förderung, des Zusammenwohnens und Zusammenwirkens. So gestaltete sich mir die Lösung dieses Problemes als eine zwiefache: durchaus als die des Wollens, aber nicht wie bei Hobbes ausschliesslich des reflektierten, auf den eigenen Nutzen abzielenden Wollens, sondern auch des naiven, in Trieben und Gefühlen, oder, wie ich begriffen habe, in Gefallen, Gewohnheit, Gedächtnis – z. B. als Dankbarkeit beruhenden Wollens. Hieraus erwuchs der Unterschied und Gegensatz der Begriffe Wesenwillen und Kürwillen als der beiden Typen des Willens von denen der eine dem soziologischen Typus Gemeinschaft der andere den Typus Gesellschaft zu Grunde gelegt wurde. Diese Lehre ist heute nicht eben zur allgemeineren, aber doch zu einer in Deutschland, und mehrfach auch im Auslande, Geltung gelangt. Indem ich dies schrei[5]be empfing ich [..] in vlämischer Sprache verfasste Ausgabe einer These: F. Tönnies et la sociologie 12 34 35

einem grossen Teile der Staaten [..]: zu ergänzen vmtl.: sich. empfing ich [..]: Wohl zu ergänzen: eine. Ausgabe: Vgl. Leemans 1933.

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contemporaine en Allemagne, womit Herr Victor Leemans vor der Pariser faculté de droit promoviert hat. Ich selber habe erst nachher deutlich erkannt, dass zur Grundlegung der reinen Soziologie noch die Bestimmung und Auseinanderlegung ihres Gegenstandes fehlte. Zwar hatte ich schon in meinem Werke von 1887 die Unterscheidung von sozialen Verhältnissen und sozialer Verbindung hervorgehoben, aber ohne diese Begriffe selber festzulegen und auszugestalten. Wir hatten schon seit 1875−1878 das für jene Zeit bedeutende Werk Albert Schaeffles das sich Bau und Leben des sozialen Körpers nennt, aber auch in späteren verkürzten Ausgaben hat dies Werk von der Unklarheit des Begriffes sozialer Körper den es unbedenklich mit der menschlichen Gesellschaft gleichsetzt sich nicht befreien können. Es versucht eine gleichsam naturwissenschaftliche Lehre durch Wiederaufnahme des alten Parallelismusses zu befestigen; die Vergleichung des sozialen mit den organischen Körpern als Lebewesen – wovon alles was der Sozial-Biologie angehört, und auch manches was wir in die SozialPsyschologie verlegen, nicht nur brauchbar, sondern erhellend ist, aber unter eigentlicher Soziologie geht dieser Organizismus vorbei, denn sie setzt denkende Menschen voraus und diese haben in der übrigen Natur kein Analogon. Ich hatte das sichere Bewusstsein, dass es (ausser und zwischen den Verhältnissen und Verbänden, oder Körperschaften) eine dritte soziale Wesenheit geben müsse, weil der logische Abstand zwischen einem bloßen [6] Verhältnis und einer Organisation, deren Subjekt mit einem Willen nach Art des Einzelmenschen ausgestattet mithin auch als denkend, als einer Person vorgestellt und gedacht wird, eine zu weite Kluft offen legt. So bin ich – erst nach Jahren – auf den Begriff der nichtorganisierten Einheit gekommen und habe sie auf den Namen Samtschaft getauft: immer in den Gedanken verharrend, dass es bei jeder sozialen Wesenheit um die es sich handelt […] was in erster Linie die dazugehörigen menschlichen Individuen selber setzen, d. i. denkend bejahend, sei es im Sinne der Gemeinschaft oder in dem der Gesellschaft. Der gemeinsame Charakter aller sozialen Wesenheiten wird dadurch ausgedrückt, dass sie aktiv sind und Individuen in Bezug auf sich d. h. in bestimmten Wechselwirkungen mit diesen stehen. Auch der bescheidenste Verein, verlangt einen gewissen Beitrag, das einfachste Verhältnis eine gewisse, zum mindesten eine negative Leistung. Der Verein hat sogar die Fähigkeit – die das Verhältnis nicht hat, es kann nur

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Werke von 1887: Vgl. Tönnies’ „Gemeinschaft und Gesellschaft“. handelt […]: Wohl zu ergänzen: darum geht.

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sich entzweien oder auseinander gehen – ein Mitglied, das diesem Anspruch nicht gerecht wird von sich auszuschließen, zu exkommunizieren. Diese Fähigkeit, die leicht als ein Recht sich gestaltet, schließt unmittelbar an die anderen Fähigkeiten, negativ auf das einzelne Mitglied zu wirken, sich an. Für ausführliche Darstellung der positiven Wirkungen aller Hemmungen individueller Freiheit darf ich auf mein 1931 erschienenes Buch „Einführung in die Soziologie“ hinweisen.

[Die Verteilung der Geburten nach Monaten]

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Ob man die Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechtes in der Geburt, dem Tode und der Fortpflanzung desselben als ein göttliche oder als eine natürliche Ordnung auffasst, begründet keinen wesentlichen Unterschied: Jedenfalls ist eine solche Ordnung vorhanden, wenn auch viele Unordnung in ihr enthalten ist, wie kaum je wieder so lebendig dargestellt worden ist, wie es durch den trefflichen Johann Peter Süssmilch zu seiner Zeit geschehen ist; sein klassisches Werk wäre noch heute einer Gesamtbetrachtung des Gegenstandes, die von damals bis heute durch zwei Jahrhunderte gehen würde, zugrunde zu legen. Diese Absicht zu erfüllen, sind wir freilich nicht imstande, wohl aber lassen sich einzelne Gegenstände, die schon seiner Prüfung unterlagen, herausgreifen und auch in das Licht neuerer Erfahrung setzen. Verhältnismässig wenig ist die Ordnung der Geburten kritisch untersucht worden. Man hat zwar seit langem beständig zwischen ehelich und ausserehelich geborenen Kindern, zwischen lebendgeborenen und totgeborenen unterschieden und man weiss, dass die ehelich lebendgeborenen fast überall mehr oder weniger die weit überwiegende Erscheinung sind, die also auch als die normale betrachtet werden kann. Es ist aber auch bekannt, dass eine grosse Zahl von Kindern, die in der Ehe geboren werden, ausser, also vor der Ehe empfangen worden sind, und zwar so, dass eben die Empfängnis Ursache der Ehe wird, indem sie teils von der Mutter verlangt, teils auch von dem Vater als seine Pflicht empfunden wird, wenn er nicht ausserstande sich weiss oder gewissenlos genug ist, sich dieser Pflicht zu entziehen. Über diese Erscheinung ist bisher sehr wenig erforscht worden und bisher auch nicht die dazu nötigen Grundlagen geschaffen worden. Mir ist nur eine Art von Enquète [2] über diese Sache, die vor einigen Jahrzehnten in Dänemark angestellt wurde,

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[Die Verteilung der Geburten nach Monaten]: Textnachweis: TN, Cb 54.34.62. – Typoskript in 4°, Bl. 1−10, mit eigenh. Korrekturen und Ergänzungen. Ohne Kopftitel, auf der Rückseite von Blatt 1 jedoch (mit Rotstift) eigenh.: „M. S. Empfängnisse nach Monaten“. Text unvollendet, vermutlich 1934 entstanden. sein klassisches Werk: Vgl. Süßmilch 1741. Art von Enquéte: Konnte nicht nachgewiesen werden.

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bekannt geworden. Ich gedenke aber nicht dabei zu verweilen, sondern eine allgemeinere Betrachtung zugrunde zu legen und zu versuchen diese für einen speziellen Zweck, der ein kulturelles Interesse in Anspruch nimmt, zu verwerten. Ich meine die Verteilung der Geburten nach Monaten, worin ein offenbares Stück göttlicher oder natürlicher Ordnung zutage liegt. Man könnte zunächst annehmen, dass die Geburten eines Jahres zu annähernd gleichen Teilen also etwa nur nach der Länge der Monate verschieden auf die Jahreszeiten und Monate verteilt sind und dass auf den Tag berechnet auch die Verschiedenheit der Monatslänge hinwegfiele und nur kleine zufällige Differenzen verblieben. Dem ist aber nicht so. Der Tagesertrag an neugeborenen Kindern ist Jahr für Jahr in jedem Monat verschieden und ist neuerdings auch in der Statistik des deutschen Reiches berechnet worden. Ich habe diese Berechnung auf die ganze Zeit seit Bestehen des Statistischen Reichsamtes bis in die jüngsten Tage fortgesetzt, und zwar auch auf die verschiedenen Geburten von männlichen und weiblichen Wesen ausgedehnt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung aber werden erst bei späterer Gelegenheit dargestellt werden. Für den gegenwärtigen Zweck genügt es auf die übereinstimmenden Ergebnisse der Forschung, die in dem berühmten Bande 44 der St. d. D. R. der Bewegung der Bevölkerung deutscher und fremder Staaten in den Jahren 1872−1880 gewidmet ist und auf die jüngsten Ergebnisse, wie sie im St. Jahrb. f. d. D. R. für die Jahre 1930 / 32 hinzuweisen. Diese Ergebnisse lassen sich im grossen und ganzen dahin charakterisieren, dass nicht nur jeder Monat seine eigene Regel hat, sondern dass, wenn je drei Monate im Quartale zusammengefasst werden, regelmässig das erste [3] Quartal des Jahres am höchsten steht und jedes folgende Quartal einen geringeren Ertrag aufweist. Dies Ergebnis ist oft behandelt worden, auch von G. v. Mayr, schon in der ersten und einzigen Auflage seines zweiten Bandes über die Bevölkerungsstatistik Auch im Bande 44 ist, wie früher schon von einzelnen Forschern z. B. von Villermé im 5. Bande der Annales d’Hygiène publique (1834) richtig betrachtete Erscheinung unter dem gleichen Gesichtspunkte erörtert worden: unter dem Gesichtspunkte nämlich, dass alle Geburten eine Eigentümlichkeit haben, die mehr und regelmässiger als eine der übrigen Erscheinungen

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Band 44: Vgl. Statistik des deutschen Reiches 1892. 1930 / 32: Vgl. ebd.: 1933 u. 1934 Bevölkerungsstatistik: Vgl. Mayr 1897. Annales d’Hygiène publique (1834): Vgl. Villermé 1831, nicht 1834!

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der Bevölkerungsbewegung auf ihre Ursache zurückweist, nämlich auf die Empfängnis der neugeborenen Kinder, wo mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit ein Zeitraum von dreiviertel Jahren als normal auch gesetzlich angenommen wird, der im deutschen B. G. B. Art. 1591 / 93 durch den 181. und 302. Tage vor dem Tage der Geburt des Kindes begrenzt wird. Dieser Begrenzung entspricht die Erfahrung, dass auch lebensfähige Kinder geboren werden, die nachweislich eine erheblich kürzere Zeit als die normale von 9 Monaten oder 40 Wochen im Mutterschosse geruht haben. Indessen behält trotz dieser Fälle, deren Häufigkeit nur mangelhaft erkannt worden ist, die Regel durchaus ihren Wert, um für eine grosse Zahl als massgebend zu gelten. In diesem Sinne hat man nun längst die Bedeutung der Jahreszeit, also auch der Temperatur erkannt und also grössere Häufigkeit der Geburten im ersten Quartal auf das zweite Quartal des Vorjahres bezogen, d. h. auf die Frühlingszeit. In auffallender Weise spricht dafür, dass diese Ordnung, d. h. gerade die grössere Häufigkeit der Fälle im ersten Quartal des Jahres erheblich mehr bei den ausserehelich geborenen Kindern zu[4]tage tritt als bei den ehelich geborenen; ebenso natürlich die mindere Ergiebigkeit des dritten und vierten Quartales, deren Geburten durchaus auf den Winter als die Zeit ihrer Empfängnis hinweisen. So entfielen im Jahre 1930 ehelich geborene Kinder auf jeden Tag des ganzen Jahres 2801,1, unehelich geborene 386,3. Dieses Mittel wurde aber im 1. Quart. des Jahres von den ehelich geborenen mit einem Durchschnitt von 2984 oder um 183 = 6,5 % übertroffen; uneheliche aber ergab für das 1. Quart. ein Mittel von 422, wodurch also das allgemeine Mittel um 36,5 = 9,2 % übertroffen wird. Entsprechenderweise ist in beiden Fällen das Sinken fast regelmässig, sodass das Mittel des letzten Quartales sich auf 2581 stellt, also hinter dem allgemeinen Mittel um 220 = 7,8 % zurückbleibt; hingegen die entsprechenden Verhältnisse bei den unehelich geborenen ergeben ein Tagesmittel im letzten Quartal von 355,2 oder 31,1 = 8,5 % unter dem allgemeinen Mittel: eine um 0,% grössere Differenz Das Ergebnis in bezug auf diesen Unterschied ist für das Jahr 1931 fast genau dasselbe, wie hier für das Jahr 1930. [5] Es stellt sich also hier heraus, dass die Empfängnisse ehelich und ausserehelich im 2. Quart. des Jahres am häufigsten sind und im ersten Quartal des Jahres am wenigsten häufig; dass aber dieser Unterschied bei unehe25

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übertroffen wird: Gestrichen u. stattdessen von Tönnies handschriftlich eingefügt: höher als das allgemeine ist. Die Korrektur ist schwer lesbar. eine um 0,% grössere Differenz: Unsichere Lesart.

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lichen Konzeptionen viel deutlicher ist was der allgemeinen Erwartung entspricht, dass diese mehr den natürlichen als den in Kultur und Sitte gelegenen Bedingungen unterliegen. In dieser Hinsicht ist noch ein ferneres Moment schon oft bemerkt worden. Während nämlich in der gesamten zweiten Jahreshälfte der Tagesertrag an geborenen von Monat zu Monat sich vermindert, bilden dagegen in beiden Kategorien die Tage des Septembers eine Ausnahme, die regelmässig eine Steigerung aufweisen. Man pflegt diese Steigerung auf die Bedeutung zurückzuführen, die der Dezember in der Christenheit und über diese hinaus durch das Weihnachtsfest gewonnen hat, und man dürfte vielleicht den damit so nahe verbundenen Jahreswechsel verbinden, um eine solche Wirkung auf das Familienleben zu vermuten. Es wird durch diese Erwägungen wahrscheinlich, dass auch diese Wirkung stärker bei den ehelich als bei den unehelich geborenen zur Geltung kommt. Diese Erwartung aber täuscht. Umfangreiche Vergleichungen habe ich in der Weise angestellt, dass ich den Tagesertrag des September mit demjenigen des Quartals, dem der September angehört, vergleiche, um danach die Steigerung gegenüber den beiden vorausgehenden Monaten festzustellen. Es ist offenbar, dass selbst bei völliger Gleichheit der Monate höchstens ein Drittel der Summe auf den September fallen würde. In Wahrheit sind es mehr als 36 % bei ehelichen und bis 39 % bei unehelichen Kindern. Dies zu erklären ist nicht ganz leicht: es mag aber angeführt werden, dass in der ärmeren Menge zumal des [6] ländlichen Volkes die elementaren Erregungen wie sie auch durch Festzeiten als solche die der Freude gewidmet sind, sich kundgeben unmittelbarer zur Wirkung gelangen als in den mehr reflektierenden Schichten, die einen stärkeren Anteil an der Bildung und den dadurch bedingten Gefühlen und Vorstellungen haben. Einigen Anhalt gewinnt diese Vermutung durch die Aufstellungen die wir in dem mehr genannten Bande 44 St. D. R. S. 303 finden, wo auch für 15 Gebietsgruppen des deutschen Reiches die durchschnittliche Tagesmenge der einzelnen Monate unter der Voraussetzung errechnet worden ist, dass durchschnittlich an jedem Tage des Jahres 1000 uneheliche Kinder geboren würden. Hier ragen nämlich durch Zahlen, die über 1000 liegen folgende Gebietsgruppen hervor: 1. Provinzen Pommern und Schleswig-Holstein, beide Mecklenburg, Lübeck, Hamburg, Provinz Brandenburg ohne Berlin, Königreich Sachsen und Thüringen, Provinz Sachsen, Braunschweig, Anhalt, Hannover, Rb. Münster, Herz. Oldenburg, Bremen; endlich HessenNassau, Rb. Minden, Gr. Herz. Hessen, Waldeck, beide Lippe. Während freilich neben Stadt Berlin auch andere und vorwiegend ländliche Bezirke weit dahinter zurückbleiben. Dagegen ergibt der September für die ehelich

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geborenen aller 15 Gebietsgruppen lauter Ziffern, die über 1000 hinausgehen (mit der Voraussetzung, dass täglich 1000 ehelich geborene Kinder geboren werden. Diese Zahlen gelten für die Jahre 1872 bis 1880. Ich habe nun meine Beobachtung in andere Richtung gelenkt, indem ich die Frage stelle, ob in den Geburtsmonaten von Personen – das sind der Natur der Sache nach in erster Linie männliche Personen – die durch ihre Leistungen sich öffentlich bemerkt gemacht haben, insbesondere soweit dies im Gebiete der Kunst, an dem aber auch Frauen beteiligt sind, geschehen ist, auch vor ihrer Geburt schon etwas Bemerkenswertes auffällt. Es darf [7] vermutet werden, dass die Mütter solcher Personen vorzugsweise geeignet sind, ihre psychischen Eigenschaften auf ihre Kinder überhaupt, besonders vielleicht die männlichen zu übertragen; und dass sie oft wie ihre Söhne durch mehr oder minder hervorragende Leistungen, ihrerseits durch einen lebhafteren und beweglicheren Geist vor anderen sich auszeichnen; und dass auch für die Empfängnis diese psychischen Elemente mitwirken, dass also in dieser Hinsicht die verschiedenen Jahreszeiten auch mehr oder minder günstig wirken. Freilich wird man dabei solche Wirkungen fast ganz und gar in das Gebiet des unbewussten Seelenlebens verlegen müssen, und wird diesem nahekommen, wenn man der Stimmung eine besondere Sphäre einräumt, die wie man weiss durch äussere und innere Erlebnisse je nachdem erweitert oder verengert wird. – Wenn man an diese Voraussetzung sich hält, so darf man wohl an eine Forschung sich wagen, die bisher meines Wissens nicht versucht worden ist: nämlich ob in der Verteilung einer grösseren Anzahl von Personen, die auf einem bestimmten Gebiete sich ausgezeichnet haben, auf ihre Geburtsmonate, etwas Bemerkenswertes, Besonderes und Abweichendes hervortrete. Von einer solchen Idee aus habe ich nun zunächst 406 Dichter betrachtet. Der Begriff des Dichters ist hier zunächst auf deutsche, d. h. Dichter in deutscher Sprache beschränkt worden, übrigens aber ziemlich weit genommen, sodass aus ihrer Heranziehung nicht auf ihre Qualität geschlossen werden darf. Manche werden manchem völlig unbekannt sein und sind in der Tat vergessen, manche auch während sie lebten ohne grosse Bedeutung gewesen, wenn sie auch einen gewissen Kreis von Verehrern gehabt haben, der gerade für gefällige Verse zumal wenn sie gedruckt wurden, leicht erreichbar ist. Da es [8] also um eine bunte Menge sich handelt, so werde ich am Schlusse dieser Erörterung immer noch denen die durch eine anerkannte Grösse ihre dauernde Stellung im Andenken wenigstens des deutschen Volkes errungen haben, eine besondere Rücksicht angedeihen lassen. Ich teile aber zunächst die gewonnenen Zahlen, so wie sie auch manche von minderer Bedeutung umfassen, mit.

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Es sind nämlich geboren: Im Monat Januar Februar März April Mai Juni Juli August September Oktober November Dezember

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Es sei noch hinzugefügt, dass die Geburtsjahre einzelne Fälle noch ins 16. u. 17. Jahrhundert fallen, die meisten ins 18. und 19. und zwar in folgendem Verhältnis. Nach dieser Rechnung entfallen also auf das erste Quartal 64, auf das 2. Quart. 43, auf das 3. Quart. 46 und auf das 4. Quart. 41. Diese Verteilung entspricht wie man sieht nahezu der Verteilung der Geburten in einem einzelnen Jahr. [9] Immerhin ist das Übergewicht des 1. Quart. noch weit auffallender und unter den übrigen drei Quartalen zeichnet das 3. das eigentliche Sommerquartal noch mehr sich aus. Denn wenn für die Gesamtheit der ehelichen Geburten in den Jahren 1925−1931 die Durchschnitte genommen werden, von denen die einzelnen Jahre wenig abweichen, so zeichnet das 1. Quart. nur durch ein geringes Plus gegenüber den ihm sozusagen zukommenden 25 % sich aus, nämlich durch 26,2 %; das 2. Quart. noch weniger, nämlich mit 25,9 %; während das 3. mit 24,4 % und das 4. mit nur 23,5 % zurückbleiben. Unter den 194 Dichtern aber, die wir hier aufgezählt haben, sind 64 gleich 33,0 % im ersten Quartal geboren, 43 gleich 23,2 % im 2., aber 46 gleich 23,7 % im 3. und nur 41 gleich 21,1 % im 4. Quartal. Wenn man diese Verteilung der Geburten auf die Verteilung der Empfängnisse zurückführt und diese nach den Jahreszeiten benennt, so stehen immer an der Spitze die Frühlingsempfängnisse und unter den Dichtern folgen dann diejenigen des Herbstes und stehen die des eigentlichen Winters am tiefsten. Es ist also im Unterschiede von der allgemeinen Verteilung der Herbst hier bevorzugt, denn in der allgemeinen Verteilung

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folgen als Empfängnismonate aufeinander: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Um ein Urteil über mögliche oder wahrscheinliche Zusammenhänge zu gewinnen, müssen noch mehrere andere Gruppen verglichen werden: so von Philosophen, Musikern, Malern und andern Künstlern. Kehren wir zu den Dichtern zurück und sehen wir auf die Verteilung der Grössen ersten Ranges, so kommen als solche im 1. Quart. wohl nur die Dramatiker Grillparzer und Hebbel in Betracht, neben ihnen freilich eine Reihe ausgezeichneter anderer Dichter: so Bürger, Chamisso, Lingg, Matthisson, Achim v. Arnim, Hinrich Voss, Freiherr von Zedlitz, Wilhelm Jensen, Otto Ludwig, Hölderlin, [10] Eichendorff, Ewald v. Kleist. Im 2. Quart. sind die bedeutendsten Namen: Uhland, Immermann, Rückert, Leisewitz, Carl Hauptmann, Halm, Vischer, Dingelstedt. Das 3. Quart. aber zeigt in erster Linie Namen von höherer Art: Klopstock, Goethe und Herder, aber als achtungswerte Gefährten noch Claudius, Kinkel, Leuthold, Wilbrandt, Lenau, Ludwig Pfau, Gellert, Rosegger, Gustav Freytag, Leopold Schäfer in den Monaten Juli und August; im September stehen neben Wieland eine Reihe der feinsten Lyriker und Erzähler: so Justinus Kerner, Theodor Körner, Eduard Mörike, Theodor Storm, Hugo v. Blomberg, Wilhelm Raabe, Marie v. Ebner-Eschenbach, dazukommen noch Heyden, Wilhelm Hertz, Brentano, A. W. Schlegel, v. d. Traun. Das letzte Quartal endlich enthält Namen wie: Schiller, Gerhard Hauptmann, Platen, Heinrich v. Kleist, Wilhelm Hauff, Freiliggrath, Ernst-Moritz Arndt, Hölty, Schenkendorf, Heine, Grabbe, Ferdinand Avenarius, Fritz Reuter, Herrmann Kurz, Richard Dehmel, Geibel, Georg Büchner, Stifter, C. F. Meyer. Ehe wir versuchen, die Merkwürdigkeiten zu deuten, müssen in gleicher Weise noch andere, wenn auch kleinere Gruppen verglichen werden.

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Hinrich Voss: D. i. Johann Heinrich Voss. Leopold Schäfer: D. i. Leopold Schefer. Gerhard Hauptmann: D. i. Gerhart Hauptmann. Freiliggrath: D. i. Ferdinand Freiligrath.

Im Oktober 1934 [Bericht über die „Gründe“ meiner Entlassung aus dem Amte am 29. Septbr 1933]

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Es ist jetzt schon mehr als ein Jahr vergangen seit ich durch eine Mitteilung aus dem Ministerium überrascht wurde, die dahin ging, dass ich nach § 4 eines neuen mir unbekannten Gesetzes vom 1. 1. 1934 ab meines Amtes entsetzt sei. Ich war schon im Jahre 1916 von meinen Verpflichtungen entbunden worden, hatte aber dann im Jahre 1921 einen besonderen Lehrauftrag für Soziologie erhalten, den ich, weil er dem von mir gepflegten Fache galt, dankbar angenommen hatte. Er lautete auf Vorlesungen und Übungen. Vor einigen Jahren hatte ich gebeten, von der Pflicht, Vorlesungen zu halten, mich zu befreien und auf Übungen mich beschränken zu dürfen; was von Herrn Minister Becker gern bewilligt wurde. Die Art meiner Entlassung und die „aus Gnade“ auf zwei Jahre mir bewilligte Pensionierung, die mir manche Bedürfnisse zu befriedigen nicht gestattet, die jeder Gelehrte als für einen Mann meines Alters und Ansehens 2

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[Bericht über die „Gründe“ meiner Entlassung aus dem Amte am 29. Septbr 1933]: Textnachweis: TN, Cb 54.15:03. – Unter dieser Signatur befinden sich zwei im wesentlichen textgleiche Typoskripte. Das eine trägt die eigenh. Überschrift „Im Oktober 1934“ und besteht aus 5 Blättern in 4°. Das andere Typoskript hat – gleichfalls eigenh. – zur Überschrift den Titel: „Bericht über die ‚Gründe‘ meiner Entlassung aus dem Amte am 29. Septbr 1933“ (Umfang: 4 Blätter in 4°, mit eigenh. Korrekturen). Entstanden sind beide Typoskripte 1934, es scheint jedoch, dass die erstgenannte Fassung (Fassung A) – die der Edition zugrunde gelegt wird – später als die andere (Fassung B) entstanden ist, deren Überschrift allerdings den Inhalt des Textes besser zum Ausdruck bringt: daher wurde sie als Untertitel dem Titel der hier wiedergegebenen Fassung (A) hinzugefügt. ein Jahr vergangen: Wahrscheinlich deswegen die Titel-Überschrift „Im Oktober 1934“. mir unbekannten Gesetzes: D. i. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Im TN (unter obiger Signatur) befinden sich die Tönnies betreffenden Kopien der Akten des Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung samt ausgefüllten Fragebogen. Verfügt wurde die Entlassung aus dem Staatsdienst, außerdem, dass „die Zahlung der Dienstbezüge mit Dezember 1933 einzustellen“ sei. Die Akten heben hervor, dass Tönnies keinen Frontdienst geleistet, dem Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der SPD und der Liga für Menschenrechte angehört habe. Seine ‚arische‘ Abstammung wird festgehalten.

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dringende und wesentliche Bedürfnisse anerkennen wird, wird überdies von mehreren mir nahe stehenden Juristen in dem Sinne beanstandet, dass entweder die Entpflichtung von 1916 als Übergang in den Ruhestand zu beurteilen, daher ausserhalb der Anwendung des Gesetzes falle, oder aber ich sei nicht blosse drei bis vier Jahre, sondern ununterbrochen seit 1913 also 21 Jahre lang Ordinarius gewesen, habe daher auch auf die ordentliche Pension des höheren Beamten, wenn der ordentliche Professor diesen gleichgeachtet würde, Anspruch. Ich war freilich in der Meinung aufgewachsen und Professor geworden, dass ein Universitätslehrer überhaupt nicht pensioniert werde und glaubte dies für einen feststehenden Satz des Preussischen [2] Staatsrechtes halten zu sollen gemäss dem Gesetze vom 21. 7. 1852. Vergl. Handbuch der Verfassung und Verwaltung in Preussen und dem Deutschen Reiche von Graf Hue de Grais S. 443. Ich selber sehe von diesen formellen Gründen der Kritik des Verfahrens, das gegen mich geübt worden ist, ab. Dagegen lassen mir die vorgegebenen sachlichen Gründe, die mich als national unzuverlässig erscheinen lassen, keine Ruhe. Ich habe schon in frühester Jugend, nämlich im Gegensatz zu der damals in meiner Heimat, dem Herzogtum Schleswig gebietenden dänischen Regierung ein deutsches Nationalbewusstsein gehegt und gepflegt, wie ich leicht erhärten kann. Als Knabe stand ich freilich 1866 mit der grossen Mehrheit meiner Landsleute auf österreichischer weil der herzoglichen Seite, umso unzweifelhafter aber 1870 / 71 auf der Seite des Norddeutschen Bundes. Vollends konnte mein inneres Verhältnis im Jahre 1914 keinem Zweifel unterliegen. Ich trat eben das 60. Lebensjahr an, konnte also an eine aktive Teilnahme nicht denken, da meine Dienstzeit durch Krankheit unterbrochen und ich zur Disposition gestellt war. Folglich war ich nicht Reserve-Offizier geworden. Mein erster Gedanke war dagegen, meine Fähigkeiten dem damaligen Reichskanzler zur Verfügung zu stellen, wobei ich an eine Tätigkeit dachte, wie sie 1870 und in den folgenden Jahren Herr Moritz Busch für den Fürsten Bismarck geübt hat. Indessen fehlte mir journalistische Übung und auch eine allgemeine Schüchternheit hielt mich ab, meine Dienste anzubieten. Dagegen habe ich dann noch mehrere Jahre über die Kriegsjahre hinaus meine Feder in den Dienst der nationalen Sache gestellt. Eine damals schon jahrelang ge-

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Handbuch der Verfassung: Vgl. Hue de Grais 1930: 443. damals: Am Rand handschriftlich: 19. Jahrh. meine Dienstzeit: In Fassung B: (Militär) Dienstzeit ca (1874). Reichskanzler: D. i. Bethmann Hollweg.

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Im Oktober 1934

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pflegte grosse [3] Arbeit, über die ich schon einen Verlagsvertrag im Jahre 1907 geschlossen hatte, wurde deswegen abgebrochen. Ich begab mich in Begleitung eines Freundes und Kollegen, des Prof. Baron v. Brockdorff nach Skandinavien, wo wir in Verkehr traten mit dem damaligen Gesandten am dänischen Hofe, dem Grafen v. Brockdorff-Rantzau, und in Stokholm ausser mit der Gesandtschaft mit der gesamten deutschen Kolonie durch einen Vortragsabend, an dem die Beteiligung stark war. Auf dieser Reise fasste ich den Plan zu einer Schrift: Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung, zu deren Vollendung ich noch in Begleitung meiner Frau etwa 10 Tage in Berlin verweilte. Sie ist dann in etwa 6000 Exemplaren an die Front gegangen, nebst einer kleinen Zusatzbroschüre „Deutschlands Platz an der Sonne“ In den folgenden Jahren habe ich, ebenfalls zum Behufe der Förderung des deutschen Interesses zweimal allein eine Reise nach Holland gemacht, einmal (1915) aus eigenem Antriebe, das andere Mal (1916) auf Veranlassung des damaligen Direktors des Instituts für Weltwirtschaft hieselbst, Prof. Dr. B. Harms und habe die Ergebnisse meiner Bemühung in einer Schrift niedergelegt über die N. O. T., d. i. über eine Gesellschaft, die das englische Handelsinteresse in den Niederlanden vertrat und zu diesem Zwecke begründet war. (Die Niederländische Übersee-Trust-Gesellschaft (Kriegswirtschaftliche Untersuchungen aus dem Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft H 12)). – Übrigens habe ich dann fortwährend eine grosse Anzahl von Artikeln für die Feldpost verfasst, die mir dafür sehr dankbar gewesen ist, wie sie durch das Geschenk eines vollständigen Exemplares ihrer denkwürdigen Zeitung zu erkennen gab. Inzwischen habe ich fortwährend im Verkehr mit dem A. A., insbesondere mit [4] der neu begründeten Stelle für den Auslandsdienst in 1

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Arbeit: D. i. Tönnies’ „Kritik der öffentlichen Meinung“, die 1922 erschien; vgl. den Editorischen Bericht in TG 14 (Tönnes 2002a). Baron v. Brockdorff: In Fassung B zusätzlich: nach Rücksprache mit dem Staatssekretär Herrn Zimmermann. Grafen v. Brockdorff-Rantzau: D. i. Ulrich v. Brockdorff-Rantzau, ab 1919 Reichsaußenminister und Leiter der deutschen Friedensdelegation in Versailles. zu einer Schrift: D. i. „Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung“ von 1915a (TG 9: 11−109). Zusatzbroschüre: D. i. ein mit diesem Titel von Tönnies hg. „Briefwechsel englischer Politiker aus dem Jahre 1915“ (Tönnies 1915), siehe dazu das Vorwort in TG 9: 561−563. die Ergebnisse: Vgl. Tönnies 1916 (TG 10). für die Feldpost: Siehe dazu Tönnies 2000b (TG 9) u. TG 10 f. wie sie: In Fassung B handschriftlich hinzugefügt: mir auch.

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Verbindung gestanden, besonders durch meinen Schüler, den jetzigen Professor in Würzburg, Dr. iur. Wolgast und dann durch einen von mir empfohlenen Verwandten, Dr. iur. Jess. Ich nehme noch das Verdienst in Anspruch, als der erste oder doch einer der ersten die Kriegsschuldfrage im nationaldeutschen Sinne erörtert zu haben: 1. durch eine Broschüre, von der das 1. Tausend rasch vergriffen war (Verlag Georg Stilke), 2. durch das erste nach dem Kriege erschienene Buch „Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914,“ das mir in keiner Weise einen Lohn einbrachte, sondern nur Kosten verursacht hat. Übrigens hatte ich inzwischen schon, und noch während des Krieges das Buch verfasst „der englische Staat und der deutsche Staat“, das vom A. A. in einer grossen Zahl von Exemplaren bestellt und für das zweite Handels-U-boot nach Amerika bestimmt war, wo dieses bekanntlich leider nicht angekommen ist. Ich füge noch hinzu, dass ich weder für meine Reisen noch für meine übrige Tätigkeit jemals eine Vergütung bezogen, vielmehr alle Kosten aus meinem eigenen Einkommen bestritten habe. Eine Ausnahme bildete nur die zweite holländische Reise, die ich im Interesse und auf Kosten des Instituts für Weltwirtschaft unternahm. Nach dem Ende des Krieges habe ich das Verdienstkreuz für Kriegshilfe erhalten. Auch empfing ich ungefähr um die gleiche Zeit den finnländischen Freiheitsorden 3. Klasse, eine Auszeichnung, die sich auf meine Schrift, die bei einer zweiten Reise in Schweden entstand und s. T. „Frei Finnland“ erschien, bezog. Ich füge noch hinzu, dass ich noch bis vor wenigen Jahren der „Kriegsschuldfrage“ eine anhaltende Aufmerksamkeit gewidmet habe. Ich verweise dafür auf die Zeitschrift, die unter diesem Namen erschien, später unter dem verkürzten Titel: Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung. Ich habe lange an dieser Zeitschrift mitgearbeitet, wie dies in einem besonderen Hefte mit meinem Bildnis dargestellt wurde als Ehrung eines Mannes, der mit einer Reihe anderer bekannter Schriftsteller zusammengestellt wurde. 3 5

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Dr. iur. Jess: D. i. ein im Auswärtigen Amt tätiger Neffe von Tönnies. Broschüre: D. i. „Die Schuldfrage. Rußlands Urheberschaft nach Zeugnissen aus dem Jahre 1914“ von 1919 (TG 12). erschienene Buch: Vgl. Tönnies 1922a (TG 12); das nächst genannte Buch erschien 1917 (TG 10). Instituts für Weltwirtschaft: D. i. das Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel (vormals Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft an der Universität Kiel). „Frei Finnland“: Vgl. Tönnies 1917a (TG 10). an dieser Zeitschrift mitgearbeitet: Vgl. Tönnies 1925a, 1929c. besonderen Hefte: 1929c, 7. Jahrgang, Heft 6, S. 588.

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An den Vorbereitungsausschuss des 8. Internationalen Philosophenkongresses in Prag [Grußwort]

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Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie, der ohne Zweifel der Kongress dienen wird, halte ich nicht für wesentlich verschieden von derjenigen, die immer ihre Aufgabe gewesen ist und die ihr den Namen einer Königin der Wissenschaften verschafft hat. Mehr denn je aber dürfte es ihr obliegen, ihren Einfluss nach beiden Seiten hin auszuüben: sowohl nach den Natur- wie nach den Kulturwissenschaften oder wie immer man diese nennen mag: sie werden immer mehr in der Vordergrund rücken, je mehr die Krise des gesamten Kulturlebens deutlich bewußt wird; richtig verstanden hat sie schon seit 4 Jahrhunderten sich entwickelt und mehr und mehr auch die gesamte Denkungsart erfasst, sodass der Konflikt zwischen der überlieferten und wohl für die grösste Zahl ihrer Anhänger noch geheiligten Religion und der in vielen Bestandteilen teils in der bescheidensten Volksschule schon gelehrten teils durch die allgemeine Publizität sich ausbreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis lebhafter und gefährlicher wird. Die Philosophie wird immer berufen sein, eine gewisse vermittelnde Rolle insofern geltend zu machen, als sie das gegenseitige Verständnis zu fördern berufen ist und dadurch etwa die Bahn der Entwicklung glatter und leichter zu machen in der Lage ist. – Bemühungen dieser Art darf man auch hinter dem neuerdings sich bemerklich machenden Irrationalismus [2] und der hinter ihm wartenden Neuromantik vermuten, ohne genötigt zu sein, mit diesen Erscheinungen zu sympathisieren. Die Philosophie darf das Ideal der wissenschaftlichen Klarheit und Deutlichkeit nicht fahren lassen. Sie braucht darum auch ein gewisses Pathos künstlerischer Empfindung nicht

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[Grußwort]: Textnachweis: TN Cb 54.34:58,1. Unter dieser Signatur befindet sich die erste Fassung eines Schreibens an den VIII. Internationalen Philosophenkongress in Prag dar (2.−7. September 1934), zu dem die Kongressleitung Tönnies aufgefordert hatte (Näheres im Edit. Bericht S. 654f.). Das Typoskript in 4° umfasst 3 S. mit eigenh. Korrekturen. Das als Grußwort gedachte Schreiben beginnt mit der Kopfzeile: Kiel, den 27. Juli 1934. Der Text endet mit der eigenh. Unterschrift: Ferdinand Tönnies. zu sympathisieren: Handschriftliche Anmerkung am Rand: die vielmehr von der Ph[ilosophie] durchaus abgelehnt werden müssen, wenn sie ihren Anspruch, Wege zu weisen aufrecht erhalten will.

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zu scheuen, wird vielmehr an Plato immer wieder einen Leiter und ein schimmerndes Vorbild finden, als an dem Philosophen, von dem besonders die Jugend immer von Neuem unendlich viel zu lernen hat. Im übrigen muß die Philosophie nie des Bewusstseins sich entschlagen, dass sie in dem Strom der grossen Entwicklung gehört, der im Sinne der Aufklärung des Volkes im 17. und 18. Jahrh eine glanzvolle Entwicklung nahm und die Erziehung, d. i. in erster Linie immer die Jugenderziehung als eine neue und höchst wichtige Problematik allen denkenden Häuptern eines Volkes vor Augen gestellt hat, die für solche Häupter insbesondere eine strenge Selbstkritik und Zucht zur heiligen Pflicht macht. Eine solche Aufgabe macht vor allem eine weitgehende Freiheit des Denkens und Gewissens, also auch der Philosophie schlechthin notwendig, sodass alle Anfechtungen, die dieser Freiheit gefährlich und schädlich werden, unbedingt abgelehnt werden müssen. Der Staatsmann hat nur in beschränktem Masse die Erlaubnis, sich um des vermeintlichen Gemeinwohls [3] willen über die Philosophie zu erheben und dann auch die Wissenschaften zu kontrollieren, von denen er in der Regel wenig oder nichts verstehen wird. Tatsächlich ist in manchen Ländern heute die innere Politik mit ihren parteiischen, oft durch Wahn-Wunschbilder bestimmten Richtungen für eine solche Entwicklung gefährlicher als es heute die Kirche und das Glaubensbekenntnis einer Denomination werden kann. Mit diesen wird auch eine rationalistische Philosophie wenigstens auf dem Gebiete der Ethik, mithin auch der theoretischen Politik, die Philosophie eher in freundschaftlichem Verständnis sich begegnen und darf eines wohlwollenden Empfanges von ihnen gewärtig sein, als sie im Trubel der politischen Parteikämpfe irgendwelche Förderung erhoffen darf. Allerdings wird die Zukunft der Philosophie wie ihre Vergangenheit am unmittelbarsten bedingt sein durch die Persönlichkeiten derer, die in ihrem Namen reden und ihrer Nation ja der Menschheit bekannt sein werden. Und bei diesen liegt alles an der Gesamtpersönlichkeit, nicht nur an ihrer Intelligenz sondern auch in ihrem Charakter. Solche Persönlichkeiten und ihre Einflüsse zu fördern, ist eine allgemein menschliche und auch im ethischen Sinne eine humane Aufgabe, an die man niemals genügend erinnern kann. Möge ihrer auch der 8. Philosophenkongress eingedenk sein.

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denkenden Häuptern: Aus „denkenden Führern“ handschriftlich zu „denkenden Häuptern“ geändert, ebenso das nachfolgende „solche Häupter“ (ursprünglich „solche Führer“).

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Die „Geistige Arbeit“ enthielt in ihrer Nummer vom 5. Juni einen Beitrag von Prof. Arnold Bergsträsser, auf dessen Bedeutung ich nicht nur hinweisen möchte, sondern der mich auch anregt, einige kritische Bemerkungen daran zu knüpfen. Ich halte den Grundgedanken für richtig und sehe ein Verdienst darin, da wir zufällig gerade in einer Zeit leben, die vor begrifflichen Erörterungen eine nicht geringe Scheu hat, eine wichtige Erörterung dieser Art in den Vordergrund zu stellen. Ich bejahe die meisten einzelnen Sätze, die Herr B. geltend macht und mache nur einige Vorbehalte. Wenn Verf. um die Verwandtschaft der beiden Objekte näher zu bestimmen, nicht ausgehen zu dürfen meint von einem Wissenschaftsbegriff, der nach seiner Ansicht nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, weil er die Fachgebiete in säuberlicher Abgrenzung nebeneinander stelle, so muss ich hingegen allen Wert darauf legen, von einem klaren und scharf gefassten Begriffe der Wissenschaft auszugehen. Und von diesem aus behaupte ich, dass in der Soziologie die Tendenzen der Wissenschaft stark, in der Volkskunde schwach sind. Man mag sagen, das sei schon in den Namen dieser Fächer ausgedrückt. Ich bin weit entfernt davon, die Volkskunde darum geringer zu schätzen. Wissenschaft ist nicht in jeder Hinsicht das höchste, es besteht immer ein gewisser Antagonismus zwischen Wissenschaft und Kunst. Die Volkskunde steht der Kunst näher und hat darin ihre eigene Würde. Gut, sagt B., die Romantik habe in Gegenwirkung gegen den Geist der Aufklärung den Blick für das echte volkstümliche und gewachsene geschärft, das Volk im Bilde des Organismus als Lebensträger der geschichtlichen Welt gesehen und zu Achtung und Pflege schöpferi-

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Soziologie und Volkskunde: Textnachweis: TN, Cb 54.34:85. – Typoskript in 4°, 6 S., mit eigenh. Korrekturen, Zusätzen und Überschrift. Unter der Überschrift: von Ferdinand Tönnies. Daneben am linken Rand, gleichfalls eigenh.: (Verwandtschaft und Verschiedenheit – Kunst und Wissenschaft – Romantik und Wissenschaft des Organischen). – Der Text ist 1934 entstanden, veranlasst durch den im folgenden genannten Aufsatz Arnold Bergsträssers. Vermutlich sandte Tönnies seinen Beitrag der Zeitschrift „Geistige Arbeit“ zu, die sich möglicherweise aber wohl an die allgemein gegen Tönnies geübte politische Ächtung hielt und den Text nicht aufnahm. Bergsträsser: „Volkskunde und Soziologie“ (Bergsträsser 1934).

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scher Ursprünglichkeit erzogen. [2] Durch diese wahrere und umfassende Betrachtung (der menschlichen Gesellschaft) werde die rationale soziologische Methode eingeschränkt auf den notwendigen Bereich sinnvoller Leistung für den sie nicht zu entbehren sei. Meiner eigenen Stellung zu diesen Problemen kommt der Verfasser schon dadurch nahe, auch hat er schon vorher hervorgehoben, es sei von mir in einem Werke, von dem er sagt, es sei zum Ausgangspunkte für die neuere soziologische Wissenschaft geworden, versucht worden, die beiden Ströme in methodisch grundsätzlicher Erklärung zu verbinden. Dies heisst offenbar, dass der eine Strom durch den Begriff der Gemeinschaft, der andere durch den der Gesellschaft ausgedrückt werde. Dies ist wohl richtig, ich wollte aber (und will heute noch) in der Verbindung auf das dauernde und notwendige in beiden „Strömen“, die ich zugleich als Gestaltungen des spezifisch menschlichen Willens darstelle, hinweisen, und behaupte, dass der von B. so bedeutend gezeichnete Gegensatz dadurch einen anderen Charakter erhalte. Alles Organische leistet der Wissenschaft einen viel energischeren Widerstand als die mechanischen Phänomene und darum auch als ein grosser Teil der menschlichen Artefakte. Dies ist der letzte Grund, warum Volkskunde und Soziologie niemals zusammenfallen können: die Volkskunde wird nicht zur Soziologie, die Soziologie darf nicht zur Volkskunde werden. Die Volkskunde verlangt so etwas wie einen poetischen Sinn. Der Verf. meint, die Soziologie gehöre neben der Volkskunde den geschichtlichen Wissenschaften an. Er gibt aber zu (wenn ich es so ausdrücken darf), dass für die Volkskunde ursprünglich ein anderes Verhältnis zum Gegenstande massgebend gewesen sei: es handele sich für sie nicht in erster [3] Linie um die Deutung, sondern um die Anschauung des Volkslebens, sie gehöre zu den gesunden Reaktionserscheinungen gegen die Zerspaltung des menschlichen Lebens und seine zunehmende Entleerung durch den Geist des 19. Jahrh. und die von ihm geschaffenen Daseinsformen. Ich lasse das Werturteil über die romantischen Reaktionserscheinungen unterwegs, obschon man oft aus mir ein ebensolches, ebenso gerichtetes Urteil herausgelesen hat. Freilich war ich ein sehr junger Mann, als ich die hier in Frage stehende Schrift verfasste, und meine fernere Entwicklung ist allerdings wie diejenige des mir nahe stehenden Max Weber, immer mehr in die Richtung der objektiven also über die Werturteile sich erheben wollenden Betrachtung gegangen, wenngleich sie schon aus meiner ersten Vorrede von 1887 unverkennbar hervorleuchtet. Ich habe mehr und mehr gelernt, die gesamte 7

Ausgangspunkte: D. i. Tönnies’ Hauptwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von 1887.

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Entwicklung – ich kann sie auch die Entwicklung der Neuzeit nennen – nach Art eines grossen Naturprozesses aufzufassen und zu begreifen, gegen den in bleibender und entscheidender Weise kein menschliches Wünschen und Wollen etwas vermag, der vielmehr das so oft angerufene Schicksal in eigener Person ist. Wenn Gemeinschaft soviel schwerer wissenschaftlich sich denken und begreifen läßt als Gesellschaft, sofern sie, wie ich mich bemüht habe, in einfache rationale Vorgänge aufgelöst werden kann – so lassen alle ihre Erscheinungen umsomehr dem Gefühle, der Intuition, der irrationalen Erkenntnis ein weites Feld offen. Indessen kann Soziologie als Wissenschaft dies Feld nicht ohne weiteres der Volkskunde überlassen. Es geht damit ähnlich wie es im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr und mehr dem wissenschaftlichen Denken überhaupt ergangen ist, je mehr es sich auf das organische Leben im allgemeinen und auf das menschliche Leben im besonderen erstreckt hat. Vor allen [4] Dingen muss da überall die Erkenntnis sich bescheiden, sie steht immer unmittelbar nahe den Pforten des Unerkennbaren und sieht sich genötigt, weil die Begriffe fehlen oder unzureichend sind, mit Worten, die wenigstens Andeutungen zu geben vermögen sich zufrieden zu geben. Ein solches Wort ist – schon durch seine negative Form bezeichnet – das „Unbewusste“ mehr und mehr geworden, dem ja offenbar die irrationalistische Denkungsart, von der auch unser Verf. tiefdringend redet, nur ein Korrelat darstellt. Eben das Unbewusste ist der rationalen Erklärung so wenig zugänglich wie Gemeinschaft und Wesenwille. So wenig – will sagen nicht schlechthin unzugänglich. Die Zugänge lassen sich aber nur erweitern durch wissenschaftliche Arbeit, also durch Rationalismus. Es ist mir immer fast ein wenig komisch vorgekommen, dass manche Leser meines Buches gemeint und z. T. an der Behauptung festgehalten haben, die Meinung dieses Buches sei romantisch d. h. es gehe dahin, der Mensch könne und solle, wie im privaten Leben nach dem Guten, so im öffentlichen Leben nach Gemeinschaft streben: etwa in dem Sinne wie es eine Zeit lang wenigstens in Deutschland gewissermassen zum guten Ton gehörte „sozial“ zu sein und sich zu betätigen; was ich gleich vielen anderen gern als löblich anerkannt habe. Ich habe aber niemals gemeint, man könne so etwas wie Gemeinschaft – im Sinne meines Begriffes – durch gesetzgeberischen, überhaupt politischen guten Willen ins Leben rufen und durch geeignete Redensarten gleichsam anblasen, um dies Leben zu fördern und zu erhalten. Vielmehr habe ich immer als notwendige Folgerung aus meiner Denkungsart geltend gemacht, dass Gemeinschaft sogar in bescheidenstem Umfange, vollends im grossen öffentlichen Leben nur unter besonders güns-

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tigen Bedingungen leben, also auch wachsen und gedeihen könne, dass man also mehr wie ein Gärtner und ein [5] anderer Landwirt wartend und wenn es geboten ist hegend und pflegend zu einer zarten Pflanze sich verhalten könne und solle als gleich einem mechanischen Arbeiter aus einem gegebenen Stoff die Sache zu machen unternehmen dürfe. Ich habe daher auch innerhalb der Arbeiterbewegung zwar auch ihre politischen Bestrebungen unterstützt, sofern sie auf eine vernünftige und friedliche Organisation innerhalb einer rechtlich befestigten Verfassung ausgingen; vielmehr aber habe ich die Bestrebungen des gemeinsamen Wirkens und der Selbsthilfe mir angelegen sein lassen, wie sie im gesamten wirtschaftlichen und sozialen Gebiete mehr und mehr hervortraten und stark wurden: also in Gewerkschaften und Genossenschaften konkrete Gestalt gewonnen hatten. – Allgemein darf ich sagen: ich habe immer den Liberalismus und das politische Denken, das ihm entsprach bejaht und niemals wie auf intellektuelle oder moralische Irrtümer auf seine Prinzipien und seine Wirkungen hinabgeschaut, habe daher auch [..], wie etwa durch Marx und seine geschworenen Anhänger geschah, alle diese Tendenzen als Werk der Bourgeoisie verachtet und in den Staub gezogen: dass dies geschah zu verstehen war nicht schwer, aber es verstehen und es billigen und daran teilnehmen war und ist zweierlei. Ich habe es immer für geboten gehalten, auch wenn man solche Gefühle in sich trug, sie zurücktreten zu lassen und vielmehr diese gegebene Basis des gesamten heutigen öffentlichen Lebens in allen Ländern Europas und zum guten Teile der anderen Erdteile anzuerkennen und das Bewusstsein zu erwerben, dass nur auf diesem gegebenen Boden Neues gebaut werden könne. In der Tat bin ich niemals mit einem älteren Freunde, dessen Pathos mich zuweilen hingerissen hat, darüber einig geworden dass es – wie er (B. Bleicken) mit aller Emphase behauptete – gelte, den verfehlten Schritt, den das deutsche Volk durch die [6] Rezeption des römischen Rechtes getan habe, ungeschehen zu machen und etwa – wie ja auch Gierke, in dessen Spuren Bleicken’s Denken ging, meinte – durch unser B. G. B. zu verbessern und zu berichtigen – als ob damit etwa die Ergebnisse einer 500jährigen Entwicklung wieder aufgehoben werden könnten und sollten. Ich habe vielmehr immer den Gedanken vertreten, dass gerade in der Entwicklung des reinen Rechtsbegriffes, wie das Römische Recht sie angebahnt hat, alles was an heutigem Sozialismus etwa sich herstellen und in die Formen von Gesetzen sich giessen lässt, auf den heute gangbaren Wegen weitergeführt werden müsse, um zu haltbaren Zielen zu gelangen. Dass der 16

daher auch [..]: Wohl zu ergänzen: nicht.

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ältere Liberalismus in seinen politischen Gestaltungen diese Aufgabe sich leichter vorgestellt hat als sie ist, macht keinen Unterschied. Wir dürfen ihre Verdienste darum nicht geringer schätzen, die Verdienste höchst ausgezeichneter Männer auf dem Gebiete der Philosophie, der Jurisprudenz, der Staatslehre, der Soziologie. Dies eingehend zu begründen, würde über die Grenzen dieser Erörterung hinausgehen, und ich darf sagen, auch wenn es mir nicht mehr vergönnt sein wird, meine Auffassung eingehender zu begründen und zu verteidigen, so darf ich mich doch der Zuversicht getrösten, dass der Fortschritt der Dinge, in die gleiche Richtung weist, und dass sie schliesslich auch die widerstrebenden Meinungen entscheidend zwingt: allen anders gesonnenen Richtungen und – Illusionen zum Trotze.

[Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft] Für Earle Eubank

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Der Ursprung meiner soziol. Begriffe liegt in dem für Deutschld. bedeutenden Gegensatz der historischen gegen die rationalistische Auffassung; ein Gegensatz, der u. a. als Überwindung des rationalistischen Denkens durch das historische aufgefaßt wurde u. wird. Diese Entgegensetzung trat am auffallendsten in der Theorie d. Rechts zutage u. führte dazu, das Gewohnheitsrecht als ein normales Gebilde des Volksgeistes höher zu schätzen als alles, was im Gebiete des Rechtes aus der Vernunft abgeleitet werden kann oder nachweislich aus der Vernunft eines Gesetzgebers hervorgegangen ist. Ich habe Jahre hindurch über diese Begriffe gedacht u. mich dabei vorzugsweise an das berühmte kl. Buch von Savigny: „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft“ gehalten, sodann auch den Reflex dieser Schrift in Sir Henry Maine’s: „Ancient Law“ zur Vergleichung herangezogen. Das Ergebnis meines Denkens liegt in den Begriffen Gm & Ges oder gemeinschaftlicher Verhältnisse auf der einen

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Für Earl Eubank: Textnachweis: TN, Cb 54.34:105. – Unter dieser Signatur befinden sich 3 Texte: (1) Ein Manuskript (Handschrift Else Brenke) in 4°, S. I-VII., mit wenigen eigenh. Korrekturen von Tönnies (gegen Ende des Textes). Ohne Kopftitel, lediglich Überschrift (mit Farbstift) von der Hand Else Brenkes „Für Earl Eubank“, desgleichen Paginierung und ein Randvermerk (S. 1): „ob in Amerika gedruckt?“. – (2) Ein Typoskript in 4°, S. 1−4, als maschinenschriftliche Übertragung der S. I−IV des Manuskripts mit stärkeren, im wesentlichen sprachlichen Veränderungen, gleichfalls von Else Brenke (mit Farbstift) überschrieben: „Für Earl Eubank“. Mit eigenh. Korrekturen und Zusätzen von Tönnies. – (3) Typoskript (2 Blätter in 4°) mit der Überschrift (in Bleistift von der Hand Else Brenkes): „Evtl. Einschachtelung zu Eubank“. Auch dieses Textstück ist von Tönnies eigenh. korrigiert. Die unter (1) und (3) genannten Texte liegen der nachfolgenden Edition zu Grunde. – Entstanden 1935 / 1936. Erstveröffentlichung in anderer und gekürzter Form in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie unter dem Titel „Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft“. Titel von der Redaktion hinzugefügt (1955a). – Weiteres zur Textentstehung und Quellenlage s. Edit. Bericht S. 655f. kl. Buch: Vgl. Savigny 1840. „Ancient Law“: Vgl. Maine 1866.

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Seite, gesellschaftlicher auf der anderen vor. Ich war nämlich dahin gekommen, zu bemerken, daß Verhältnisse, die ihr Wesen in gegenseitiger Hilfe od. in beiderseitigem Nutzen haben, einerseits ihre natürliche Wurzel im Gefühl, in der Gesinnung, im Gemüte haben, u. solche Verhältnisse sind jedem bekannt: Zunächst als solche der natürlichen Verwandtschaft, also in elementarer Gestalt als das zwischen Mutter u. Kind; sodann als dasjenige zwischen Mann u. Weib od. zwischen erwachsenen Personen verschiedenen Geschlechtes; endlich als das Verhältnis zwischen Geschwistern, nämlich Brüdern & Brüdern, Schwestern & Schwestern, Brüdern & Schwestern od. Geschwistern untereinander. Diese Verhältnisse dehnen sich mannigfach aus u. vermindern sich freilich dadurch in ihrer Kraft, behalten aber ihr Wesen durch Gefühl u. Gewohnheit u. durch das Wissen, die Kenntnis, unbewußt insbesondere durch gemeinsame Sprache. Ich unterscheide demnach als gemeinschaftliche Verhältnisse 1.) solche der Verwandtschaft [2] 2.) solche der Nachbarschaft 3.) solche der Freundschaft oder verwandten Denkungsart u. der Genossenschaft, die darin beruht u. etwa als religiöse od. ihr irgendwie ähnliche Verbrüderung zwischen Männern & Männern, Frauen & Frauen od. Männern & Frauen ihre soziale Bedeutung gewinnt. In starkem u. offenbaren Gegensatz zu allen Verbundenheiten dieser Art stehen solche, deren Prinzip u. Grund in erster Linie der Tausch u. – was nur eine Modifikation des Tausches bedeutet – die Gegenseitigkeit der Leistungen – Verhältnisse also, die z. T. in den Verhältnissen der anderen, gemeinschaftlichen Art beruhen, aber auch zwischen Freunden, ja zwischen Feinden sich bilden können durch die vernünftigen Willen der beteiligten Individuen: wo als Individuen auch Verbände, Kollegien, mithin auch Gemeinwesen und Staaten sich geltend machen u. als Individuen gerechnet werden können. Das Wesen aller solcher Verhältnisse u. Verbindungen ist enthalten im Bewußtsein des Nutzens, den der Mensch für den Menschen hat od. haben kann u. wird, wenn ihm Nutzen gewährt wird. Diese Verhältnisse sind also durchaus rationaler Beschaffenheit u. haben darin sowohl ihre Stärke wie ihre Schwäche. Ich fand nun bald u. erkannte die große Bedeutung, die diesem Gegensatz für das Verständnis der historischen Entwicklung zukömmt. Denn offenbar ist der Faktor des Denkens u. also der Vernunft in jeder Kulturentwicklung wie in der geistigen Entwicklung des einzelnen Menschen das dynamische Element, d. h. es gestaltet in einer zunehmenden Weise das Handeln wie das Denken selber der einzelnen Menschen, zumal des Mannes, als auch der Menschen als Gruppen u. Verbände in ihrem Zusammenwirken u. gemeinsamen Wollen. Die Steigerung der Vernünftigkeit ist die Steigerung der

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Gesellschaft, die z. T. in Harmonie mit der Gemeinschaft als der ursprünglichen, älteren Gestaltung des Zusammenlebens, z. T. aber im entschiedenen Gegensatz dazu sich entwickelt. Unter diesem Gesichtspunkt wird der Unterschied zwischen Gewohnheit u. Satzung, [3] also auch zwischen Gewohnheitsrecht od. Sitte auf der einen, Gesetzrecht u. Kodifikation auf der anderen Seite, einfach erklärt – der Gegensatz, der Savigny’s eigentliches Thema bedeutete. Ihm treten eine ganze Reihe verwandter Unterschiede u. Gegensätze zur Seite, die alle darin beruhen, daß die Menschen teils als Verwandte, Freunde, als Genossen, wenigstens der Sprache u. des Volkes, andererseits als Fremde, sogar als Feinde einander berühren, mit einander verkehren, u. wenn sie anders wollen, auch zusammen wirken können. Die hier zugrunde gelegte Denkungsart will u. muß auf jeden historischen Zustand sich anwenden lassen, mithin auch auf die Entwicklung historischer Zustände, zumal sofern eine solche Entwicklung stattfindet von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Formen u. Inhalten. Dies ist nun nicht allein im Rechte bemerkbar, sondern erstreckt sich auf die Gesamtheit des Zusammenlebens, wie es schon durch die Verschiedenheit der örtlichen Zusammengehörigkeit sich charakterisiert. Menschen in einsamen Heidedörfern od. noch größerer Isolierung sind anders geartet od. verhalten sich anders zueinander als Menschen, die in großen Städten, zumal Weltstädten, zusammenleben u. zum guten Teile auch zusammen wirken, sei es daß sie nur Geschäfte miteinander machen, oder daß sie – freiwillig od. unfreiwillig – an dem gleichen Werke, der gleichen Aufgabe, tätig sind. Ich habe immer das verschiedene Verhältnis zwischen einem Ganzen u. seinen Teilen gekannt u. anerkannt, so daß ich nicht nötig hatte, es von einem jungen Östreicher zu lernen, der hieraus in üblicher Weise die Minderwertigkeit der von ihm als individualistisch gebrand[4]markten u.

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von einem jungen Östreicher: D. i. vmtl. der Soziologe Othmar Spann, gegen dessen universalistische Theorie Tönnies eine starke Antipathie hatte. Das gespannte Verhältnis zwischen Tönnies und Spann fand u. a. Ausdruck beim Austritt Spanns aus der DGS 1930. Tönnies (als Präsident der Gesellschaft) schrieb hierzu an den Schriftführer Leopold von Wiese: „Ich vermute, dass [Spann] einen besonderen Kreis gestalten will, der ihn und den Universalismus anbeten soll, was wir ihm gönnen mögen“ (vgl. TN, Cb 54.61: 2.1.14). Etwas eigentümlich berührt allerdings die Beschreibung Spanns als eines „jungen Östreichers“. Zwar war Tönnies während der Abfassung vorliegenden Textes schon über 80 Jahre alt, Spann aber immerhin auch schon 58-jährig. – Dass etwa Adolf Hitler gemeint sein könnte, ist aus zwei Gründen unwahrscheinlich. Zum einen passt Tönnies’ Beschreibung eher auf einen Theoretiker als auf einen Politiker, zum anderen hat Tönnies nach seiner Verfemung die publizistische Konfrontation mit NS-Größen gemieden.

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den höheren Wert der von ihm sogenannten universalistischen Verhältnisse u. Verbände ableitete. Auch soziologisch hat dieser Unterschied einige Bedeutung. Aber die strenge Theorie geht es nicht an, weil diese eben soziologisch sein muß, um den Tatsachen gerecht zu werden. Ich habe immer alle Versuche, durch Machtgebot od. Gesetz das Wesen dieser Entwicklung aufzuheben u. sozusagen aus dem Handgelenk eine Volksgemeinschaft zu schaffen, für verfehlt u. unbedacht gehalten, um so mehr, mit je größeren Ansprüchen sie auftreten. Der großstädtische Typus des Zusammenlebens dehnt sich aus auf ganze Länder u. ihre Einwohnerschaften, endlich auf die Ökumenen als auf die Einwohnerschaft des Erdballes. Was hingegen geschehen kann u. der natürliche Gegenstand einer sozialen Politik sein muß, ist die Ausdehnung des Wesens der Gesellschaft auf die weitesten Volkskreise, also insbesondere im Staate auf sämtliche Staatsbürger durch die Beseitigung aller Ungleichheiten u. Abhängigkeiten, soweit solche nicht in der Natur begründet sind, wie das Verhältnis von Eltern u. Kindern u. in viel geringerem Maße zwischen Alten u. Jungen überhaupt. Diese gesamte Gleichheit ist nicht ein Erzeugnis der Natur, die vielmehr immer nur Ungleichheiten schafft, wenn auch nur eine solche durch alle Lebensalter u. durch alle Schichten eines Volkes hindurchgeht: die des Geschlechtes. Auch diese Ungleichheit kann als soziale Ungleichheit in einem gewissen Maße vertilgt werden: Die Unterworfenheit der Frauen als ausgeprägt im Rechte war u. ist teilweise noch eine Tatsache, der man versucht hat, durch Verbindung allgemeiner u. gleicher, aktiver u. passiver, Wahlrechte [5] in Staat u. Gemeinde abzuhelfen. Indessen ist dies bisher nicht in genügender Weise geschehen. In diesen Gebieten tritt die Verschiedenheit des männlichen u. des weibl. Geistes so stark zutage, daß daraus eine gewisse Unterordnung der Frauen, zwar nicht der individuellen Frauen, wohl aber ihrer Mengen u. Gesamtheiten, abgeleitet werden muß. Immer werden die Frauen für ungenügend zur kriegerischen Betätigung gehalten werden. Die politische Betätigung ist im Grunde eine Begleiterscheinung der kriegerischen. Gleichwohl kann den Frauen u. von ihnen wählbaren Körperschaften eine weite Sphäre der Beratung auch politisch wichtiger Angelegenheiten, insbesondere solcher, die der Erziehung u. dem Unterricht dienen, eingeräumt werden, worin sie teils als Mutter, teils berufsmäßig als Lehrer mit schönsten Erfolgen sich betätigen, wodurch sie auch auf die eigentlichen 3

Bedeutung: Am Rand handschriftl. Vermerk von der Hand Else Brenkes: ‚Abschrift‘. – Gemeint ist das in Anmerkung 1 unter (2) angegebene Typoskript, welches sich bis hier erstreckt.

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politischen Probleme einen höchst bedeutsamen Einfluß gewinnen, wie sie solchen auch von jeher durch die Ehe u. durch freundschaftlichen Rapport mit Männern, sogar durch den Salon u. die im Sinne der Salons sogenannte Gesellschaft auszuüben in der Lage gewesen sind. [6] Es bleibt mir noch übrig, einige Begriffe zu erläutern, die mit der Theorie nahe zusammenhängen, ja für sie wesentliche Bedeutung haben. Da ist 1. der Begriff der sozialen Wesenheiten: Ich verstehe darunter die besonderen Dinge oder Phänomene, die aus dem sozialen Leben u. nur aus ihm hervorgehen. Sie sind Erzeugnisse menschlichen Denkens u. nur für ein solches vorhanden, zunächst nur für die so Verbundenen selber, die ihrer Verbundenheit einen besonderen Namen [..] u. es als ein Etwas, letzten Endes als eine wollens- u. handlungsfähige Person vorstellen. Das Dasein eines solchen Etwas, u. zuhöchst einer sozialen Person kann auch von außerhalb stehenden Menschen, mögen sie isoliert oder selber verbunden sein, erkannt u. anerkannt werden, u. zwar wird daraus möglicher Weise eine neues, im Wesen gleichartiges Etwas, mithin auch eine neue soziale Person, die ein mächtiges soziales Dasein gewinnen kann, wie etwa ein Staatenbund oder ein Bundesstaat, die zunächst von ihren Gliedern als solche gesetzt werden, aber auch von den Bürgern der einzelnen Staaten als Individuen; u. so kann neben dem Dasein eines Bundesstaates als des Gesamtstaates über den verbundenen Gliedstaaten auch ein unmittelbares Verhältnis der „Reichsbürger“ zum Reich als einem durch sie gesetzten Staate bestehen – wenn auch Schwierigkeiten daraus entspringen können, daß diese Begriffe nicht streng voneinander unterschieden werden. 2. Eine Unterscheidung der sozialen Wesenheiten von den sozialen Gestalten habe ich bisher nicht vorgenommen. Ich mache sie aber geltend in dem Sinne, daß die Gestalt die Einheit bedeutet u. betont, während in der Wesenheit mehr die Vielheit sich ausdrückt. Ein berühmtes Beispiel des Unterschiedes ist eben der in der dtsch. Wissenschaft gründlich behandelte Unterschied der Begriffe vom Staatenbund u. vom Bundesstaat. [7] Ein ähnlicher Unterschied läßt sich auf alle föderalistischen Gebilde übertragen, z. B. auf Kartelle und Syndikate. 3. lege ich Gewicht darauf, den Begriff der Samtschaft gebildet zu haben als einer Wesenheit, die sozusagen zwischen dem Verhältnis u. dem Verbande oder Bunde steht: wenn nämlich Verband od. Bund u. dergl. als willens- u. handlungsfähige Person, somit als eine besondere Art von Individuum gedacht wird. Die

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besonderen Namen [..]: Zu ergänzen ist sinngemäß: geben.

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Gesamtschaft ist keine solche, obschon sie zu einer solchen sich verdichten od. konstituieren kann. Ich verstehe als Samtschaft alle Einheiten menschlichen Zusammenwollens u. Zusammenlebens, die zwar als solche bewußt sind, aber eben nicht als Personen gedacht werden: wie etwa „die Christenheit“, die „Sprachgenossenschaft“ u. manche andere aber ähnlich geartete Gesamtheit von Menschen. Ihre Bedeutung im sozialen Leben ist nicht gering, ja sie übertrifft oft die Bedeutung der großen Körperschaften. So bezeichnet der Begriff der Nation insbesondere in ihrer Abwandlung als Nationalität eine Samtschaft, die in ausgesprochenem Gegensatz gegen den Staat od. die Staaten, denen sie etwa angehören, treten kann, sei es, weil sie widerwillig diesem Staate angehören, wie es bisher bei einem großen Teil der Nationalitäten der Fall war, die zusammen das Kaisertum Österreich u. das Königreich Ungarn bildeten – sei es, daß die Nation wenigstens für sich nach einem eigenen Ausdruck strebt u. übrigens die bestehenden Staaten unangefochten läßt. So war zumeist das Verhältnis der dtsch. Nation in ihrem Streben nach Einheit gegenüber den noch verbliebenen vielen Staaten (1814−1866): eine Gestaltung, an die auch der Versuch einer Umgestaltung der vielen Monarchien in eine Republik, wie sie 1918 als Ausdruck der Trübsal u. Enttäuschung versucht wurde, nicht zu rühren gewagt hat. Ich selber habe in erster Linie versucht, meine Begriffe auf das Phänomen der „öffentlichen Meinung“ anzuwenden, weil ich in diesem eine ausgeprägte Gestalt des sozialen Willens und zwar überwiegend im gesellschaftlichen Sinne erkannte, obschon in Wirklichkeit Motive oft darin vertreten sind. Aus diesen Erwägungen ist die „Kritik der öffentlichen Meinung“ hervorgegangen und im Jahre 1922 als Buch von VIII + 583 Seiten im Verlage von Geb. Springer – Berlin erschienen. Die nächste Anwendung habe ich „Geist der Neuzeit“ genannt, und davon ist bereits im vorigen Jahre (1935) der erste und allgemeine Teil herausgekommen. Ich hoffe, daß ich die drei übrigen Teile: 1.) Über die ökonomische Entwicklung, 2.) über die politische und 3.) über die geistig-moralische Entwicklung der Neuzeit noch werde erleben können, da ein erheblicher Teil davon im Manuskript

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zu rühren gewagt hat: Ende des Manuskriptes. Darunter nachträglich mit Bleistift (Handschridt Else Brenkes?): Schluß. – Nachfolgend zwei beiliegende Typoskriptblätter, die (mit Farbstift von der Hand Else Brenkes) überschrieben sind: Evtl. Einschachtelung zu Eubank. – An welcher Stelle des Manuskripts bzw. Typoskripts der Zusatz einzuschachteln wäre, ist dort durch keine Kennzeichnung ersichtlich. Dem Aufbau der Abhandlung nach zu urteilen, dürfte die „Einschachtelung“ am besten an deren Ende passen.

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schon vorliegt. Das gesamte Werk werde ich nennen, wie ich schon den ersten Teil genannt habe: „Geist der Neuzeit“. Zugleich bin ich unablässig beflissen die Theorie weiter zu entwickeln und im Einzelnen auszubauen. Dem dient auch das inzwischen (Stuttgart Ferdinand Enke 1931) erschienene kleine Werk „Einführung in die Soziologie“, woraus wohl als die einfachste und leichteste Weise der gesamte Gegenstand erkannt werden kann. Ich lege Wert darauf, das Gebiet in 1. Das der reinen, 2. Das der angewandten, und 3. Das der empirischen Soziologie zu zerlegen. Die empirische Soziologie nenne ich auch – nach dem Vorgange von R. Steinmetz – Soziographie und habe darin mit vielem Eifer u. a. durch eine Untersuchung über den Selbstmord in SchleswigHolstein gearbeitet.

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kleine Werk: Vgl. Tönnies 1931a (TG 21). gearbeitet: Vgl. Tönnies 1927a, 1927b u. 1931.

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Meine Beziehungen zu Harald Höffding verdanke ich, wie so vieles, was mich gefördert hat, meinem treuen und stets beflissenen Freunde Friedrich Paulsen, der zwar 9 Jahre älter als ich aber schon durch unsere engste Landsmannschaft, da wir beide aus Nordfriesland, also aus dem Herzogtum Schleswig stammen, mir verbunden war. Paulsen, der mit manchen Erscheinungen der philosophischen, deutschen Literatur wenig zufrieden war – nur Wundts Verdiensten wurde er immer gerecht – rühmte an einer Schrift Höffdings, die er im Original gelesen hatte, die streng empirische Basis und die Klarheit des Gedankens. Ich weiß nicht, ob mich dies ermutigt hatte mein im Sommer 1887 erschienenes Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ Höffding zu überreichen; denn ich weiß nicht einmal, ob dies wirklich geschehen ist. So weiß ich nur, daß ich bald von dem dänischen Philosophen ein mir wertvolles Schreiben erhielt, das wie darin ausgesprochen wurde durch eine Äußerung, die ich selber damals in der Vorrede gewagt hatte, veranlaßt war. Ich ließ mir sehr angelegen sein, diesen Brief eingehend zu beantworten, wenn es auch ziemlich lange dauerte, bis ich damit fertig wurde. Dieser Austausch war der Anfang einer Freundschaft, die mich dann bis zu Höffdings Ende mit ihm verbunden hat. Ich lernte ihn persönlich im Jahre 1896 kennen in Zürich, wo damals eine Versammlung mit einem Cyklus von Vorträgen durch die Gesellschaft für ethische Kultur bewirkt worden war, um deren Gelingen namentlich Herr Gustav 1

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[Meine Beziehung zu Harald Höffding]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:95. – Typoskript in 4°, 3 S., mit eigenh. Korrekturen. Der Text, der Ende 1935 oder Anfang 1936 entstanden sein dürfte, sollte die Einleitung zur geplanten Ausgabe des Briefwechsels Tönnies-Höffding sein, den Tönnies selbst und Hans Höffding, der Sohn Harald Höffdings, zusammen herausgeben wollten. Tönnies’ Tod 1936 und darauf (1937) der von Hans Höffding vereitelten das Vorhaben. Erstveröffentlichung in Bickel / Fechner (1989), S. 28−30. Wundts: D. i. Wilhelm Wundt. Wundts Frau war eine Cousine von Ferdinand Tönnies. eingehend zu beantworten: Im Text eingefügt: (I) [nach „wertvolles Schreiben erhielt“]) und (1) (nach „zu beantworten“). Dies waren Ziffern zur Bezeichnung der Briefe im geplanten Briefwechsel. Dieser Austausch: Vgl. den Briefwechsel in Bickel / Fechner 1989. Gesellschaft für ethische Kultur: Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur. Tönnies war Mitbegünder der Gesellschaft. Vgl. in TN: Akten der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur (Cb 54. 62).

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Maier, der damals in der Schweiz wohnte, sich verdient gemacht hatte. Wir wohnten zusammen in einem hochgelegenen Pensionat, das nahe genug bei Zürich und unserer Versammlungsstätte lag. Höffding begegnete mir in herzlicher Weise. Da ich damals schon leicht im Schlafe gestört wurde und in dem mir angewiesenen Zimmer unter irgendwelchen Geräuschen litt, erbot sich Höffding in freundlichster Weise, das Zimmer mit mir zu tauschen, was ich mir dankbar gefallen ließ. Unser Zusammensein war übrigens behaglich: besonders trug Paul Pochhammer, der schon damals von Dante erfüllt war, den er später übersetzt hat, durch seinen Humor und eine nicht immer freiwillige Komik dazu bei, unsere gemeinsamen Mahlzeiten zu würzen. Indessen ich greife hier durch eine Skizze meines Verhältnisses zu Höffding weit vor und füge nur die äußeren Daten noch hinzu. Im Jahre 98 besuchte ich Höffding in Kopenhagen, wo ich einige Tage im Hotel wohnte aber Höffdings regelmäßig geladener Gast zu den Mahlzeiten war. Höffding lebte schon lange als Witwer, hatte aber offenbar eine Haushälterin, die sich eine gemütliche Häuslichkeit für ihn angelegen sein ließ. Ich lernte manche andere dänische Gelehrte bei dieser Gelegenheit kennen und habe auch das Bedeutende der Hauptstadt gesehen, auch im Theater als Höffdings Gast mehrere Opern und ein Schauspiel genossen. Im Jahre 1907 hat Höffding begleitet von Dr. Thomsen und dessen junger Frau, einer gelehrten Jüdin, meinen Besuch erwidert, indem er nach Eutin kam, wo er ebenso wie ich in Kopenhagen, nicht als mein Hausgast aber als regelmäßiger Gast unserer Mahlzeiten etwa 10 Tage verweilte, während seine Freunde – Thomsen hatte ein Stipendium dafür erhalten – ihre Reise nach Wien fortsetzten, wo ich im Herbste dieses Jahres sie wieder sah. Während des Weltkrieges bin ich dann noch zweimal mit Höffding in Kopenhagen zusammen gewesen. Er legte großen Wert auf seine Neutralität und suchte sie durch eifrige Tätigkeit für die Gefangenen ohne Unterschied der Nation zu bewähren, wenn man auch von deutscher Seite ihm zum Vorwurfe gemacht hat, daß er die Franzosen begünstige: die Zahl der Gefangenen war eben hier die viel größere. Über meine ferneren Beziehungen zu ihm geben die hier vorliegenden Briefe hinlänglich Auskunft, die ich aber durch einige Anmerkungen zu diesen Briefen, noch 1

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Maier: Als Herausgeber der Monatsschrift „Ethische Umschau“ veranstaltete Maier 1896 die „Züricher Reden“, bei denen Tönnies Vorträge „Ueber die Grundthatsachen des socialen Lebens“ (veröffentlicht 1897) hielt. lange als Witwer: Höffdings erste Frau Emmarenzia Lucie Pape lebte von 1843−1877. Dr. Thomsen: D. i. ist Anton Ludvig Christian Thomsen. dessen junger Frau: D. i. Olga Eggers (1875−1945).

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zu ergänzen beflissen sein werde. Sein Andenken bleibt für mich höchst wertvoll. Die Verschiedenheit unserer Nationalität hat uns niemals gestört. Er hat in seinen Erinnerungen, die gegen seine frühere Bestimmung, noch zu seinen Lebzeiten erschienen, mehrfach freundlich meiner gedacht. An dem schweren Schicksal, das ihn bald nach seiner verspäteten zweiten Heirat, zuerst durch die Erkrankung, dann durch den Tod seiner jungen Frau betraf, habe ich mit tiefem Bedauern teilgenommen, wie an den nicht geringen Erzeugnissen seines Geistes, die er noch als Greis hervorgebracht hat. Er ist 88 Jahre alt geworden und war mehr und mehr ein Held seines Volkes geworden, das auch sein Andenken treu bewahrt und ehrt.

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seiner jungen Frau: D. i. Greta Sofia Maria Ellstam, geboren 1900 in Michigan, USA, gestorben 1930 in Roskilde, mit Höffding seit 1924 verheiratet.

Vorrede zur achten Auflage [„Gemeinschaft und Gesellschaft“]

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Das hier von Neuem, in neuem Verlage, an die Oeffentlichkeit tretende Werk blickt seit seinem frühesten Erscheinen auf fast ein halbes Jahrhundert zurück. Wenn es auch mahnt, jener Zeit lebhaft sich zu erinnern, so hat dies doch nicht den Sinn, dass die Entstehung des Buches mit den Ereignissen und Stimmungen jener Epoche nahe zusammenhinge. Dies ist nur insofern der Fall, als schon früh in meiner Jugend die „soziale Frage“, d. h. die gesamte grosse Kulturkrise des Jahrhunderts die damalige Literatur und Politik stark in Anspruch genommen und daher auch meinem Denken und Fühlen sich lebhaft vorgestellt hatte. So habe ich schon im Sommersemester 1878 an das erste Lesen des Karl Marx’schen Werkes (Kapital Bd. 1) und der ergänzenden kleinen Schriften von Friedrich Engels mich herangewagt, ohne dass jedoch diese Studien eine unmittelbare Bedeutung für meine eigene Gedankenarbeit gewannen. Eingehendere Auskunft als in der 1. Vorrede (1887) habe ich in der viel späteren zur 2. Auflage (1912) über die Entwicklung meines Systems, wenn man es so nennen will, gegeben. Diese Darstellung ist in der ersten Sammlung meiner „Soziologischen Studien und Kritiken“ (Jena 1925) S. 45 / 57 abgedruckt worden. Ich gebe die Hauptzüge daraus für den wohlgesinnten Leser wieder. Mein Studium war seit 1872 philologisch, seit 1877 philosophisch, wobei aber die Philosophie für mich die gesamten Staatswissenschaften, besonders auch die Elemente der Jurisprudenz und als solche die Grundlagen der Rechtsphilosophie 2

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Vorrede zur achten Auflage: Textnachweis: TN, Cb 54.32:1.06 B. – Typoskript in 4°, 9 S., mit eigenh. Korrekturen, Anmerkungen und Unterschrift am Ende des Textes (einige Fremdkorrekturen sind wahrscheinlich). Verfasst um den Jahreswechsel 1934 / 35. Eine etwas frühere und kürzere Fassung der „Vorrede“ befindet sich unter der Sign. Cb 54.32: 1.06A gleichfalls in TN: sie hatte Max Graf zu Solms vorgelegen, der seine Bedenken und Änderungsvorschläge in dem Typoskript vermerkt hat. Tönnies hat schließlich keines der beiden Typoskripte veröffentlicht und ein sehr kurzes, völlig neues Vorwort abdrucken lassen. Erstveröffentlichung der zurückgezogenen „Vorrede“ (in bearbeiteter Form) durch Jacoby in: Jacoby (1971). – Näheres zur Textgeschichte und Quellenlage s. Edit. Bericht S. 657f. für den wohlgesinnten Leser wieder: Der Satz ist im Original – vermutlich von fremder Hand – nachträglich durchgestrichen.

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mit einschloss. Meine philoso[2]phische Entwicklung hatte fast von ihrem Beginne her der Anregung durch den Freund und Meister Friedrich Paulsen sich erfreut, die aber mehr auf die Logik und Erkenntnistheorie als auf die Rechts- und Staatslehre sich bezog. Gleichwohl hatte ich schon im Jahre 1876 die Elementa Philosophica de Cive des Thomas Hobbes erworben und mit grossem Eifer mir zu eigen gemacht. Dies bedeutende Werk bestimmte auch ferner die Richtung meines Denkens, das nun durch zunehmende Bekanntschaft mit vielen Schriften ethnologischen und dadurch auch der (damals noch selten so genannten) „soziologischen“ Literatur sich bereicherte. In dieser wurden mir schon durch ihre angenehme Form besonders wertvoll die meistens aus Vorlesungen hervorgegangenen Schriften des Sir Henry Sumner Maine, zuerst des Ancient Law, sodann The village Community in the East and West, Early History of Institutions and The Dissertations of Early Law and Custom; woran sich noch die Four Essays Popular Government anschlossen, die eine bedeutende Kritik der modernen Demokratie enthalten. Endlich noch die knappen Vorlesungen über das Völkerrecht, wovon ich ein Exemplar erst aus dem Nachlass meines weiland Freundes Harald Höffding erworben habe (durch die Güte seines Sohnes). Durch diese und andere Schriften, von denen allen (ausser dem Buch über die Demokratie) es keine deutsche Uebersetzung gibt (oder erst in jüngster Zeit) fand ich mich schon früh zurückgewiesen auf die in der Tat bedeutungsvolle deutsche Kontroverse zwischen dem gerade im deutschen Sprachgebiet einst zu hoher Geltung emporgewachsenen „Naturrecht“ und der durch die beiden deutschen Gelehrten Ritter Hugo und F. C. v. Savigny begründeten und zu fast aus[3]schliesslicher Geltung gelangten „historischen Schule“. Es hatte sich ein vollkommener Sieg der historischen Jurisprudenz in der Theorie ergeben, obschon auf der Seite des liberalen Staatsgedankens die grosse Autorität Immanuel Kants lange nachgewirkt hat. So wurde denn der Historismus praktisch zu einer Parteisache, indem er der konservativen Tendenz als Schutz- und als Angriffswaffe zu dienen taugte. Und dennoch ist die Entwicklung des Staates und der Gesetzgebung in Deutschland wenigs5 11 18 20 20

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Elementa Philosophica de Cive: Vgl. Hobbes o. J. Schriften: Vgl. Maine 1866; 1875, 1883, 1885, 1888, 1890. (durch die Güte seines Sohnes): Gemeint ist Hans Höffding. die Demokratie: Vgl. Maine 1887. (oder erst in jüngster Zeit): Durch mehrfache Korrekturen ist das Satzgefüge nicht sicher festzustellen. Ritter Hugo: Gemeint ist der Jurist Ritter Gustav Hugo. („Ritter“ war ein bayerisches Adelsprädikat).

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tens in der 2. Hälfte des Jahrhunderts überwiegend liberal gewesen, und dies bedeutete zugleich eine fortschreitende Verallgemeinerung des Römischen Rechtes, das zwar schon seit Jahrhunderten seinen Eingang in die überlieferten Gewohnheitsrechte gefunden hatte und, ausser wo eine Kodifikation von staatswegen geschehen war, im Gemeinen Rechte so etwas wie einen Kompromiss mit jenem eingegangen war. Nicht ohne Einfluss der historischen Schule, in der eben damals die Juristen und Staatsmänner ausschliesslich gebildet waren, fand das Römische Recht einen grossen Ausdruck im deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch und es begegnete diesem daher die lebhafte Kritik und Opposition derer, die – eben im Sinne der historischen Schule – für Erhaltung und Pflege der germanischen Rechtsdenkmäler, ja für die Uebertragung ihrer Institutionen in die heutige Welt gestritten hatten; bisher ohne Erfolg, aber eine neuere Regierung hat der Sache jüngst sich angenommen und einer „Akademie für Deutsches Recht“ die Bestimmung gegeben, der deutschen Gesetzgebung vorzuarbeiten, die in diesem Sinne offenbar auch das B. G. B. [4] umgestalten soll. Die Entwicklung der Dinge wird lehren, welche Wirkungen aus diesen Bestrebungen hervorgehen. Eine vollkommene Umkehrung der ganzen bisherigen Entwicklung, die teils im Naturrecht, teils im Römischen Recht niederschlug, das selber in seiner besten Zeit in dem griechischen Naturrecht, das die Stoa ausgebildet hatte, seine stärkste Förderung erfuhr, ist nicht zu erwarten, obschon diese Tendenzen mit der allgemeinen Kritik der Ergebnisse des Liberalismus, die in der Arbeiterbewegung und im Sozialismus wurzelt, sich zu verbinden beflissen sind und jedenfalls dadurch erhöhte Stärke gewinnen. Obwohl aber diese Verbindung verhältnismässig neu ist, so ist doch die nähere Verwandtschaft mit den Tendenzen der Romantik und Gegenrevolution, also der Feindseligkeit gegen den „Beruf unserer Zeit für – rationale – Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“ unverkennbar, und diese Verwandtschaft ergibt keine günstige Prognose für ihre dauernden Erfolge. Ich stand als Nicht-Jurist, und damals ohne ausgesprochenen politischen Standpunkt, völlig ausserhalb der Kontroverse und hatte ein Recht zu diesen Dissensen mich streng objektiv als Beobachter zu verhalten. Meine Theorie ist oft dahin verstanden worden, als ob sie der „Gemeinschaft“ zur Empfehlung dienen und die Gesellschaft habe anklagen wollen. Es war ein Missverständnis, als ob ich einen ethischen und zugleich 9 24 24 27

Bürgerlichen Gesetzbuch: B.G.B. von 1900, mit vielen Änderungen noch 2005 in Kraft. beflissen sind: im Original: beflissen ist. gewinnen: im Original: gewinnt. „… Gesetzgebung und Rechtswissenschaft“: Vgl. Savigny 1840.

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politischen Traktat hätte verfassen wollen; dies lag mir in den Anfängen meiner Gedankenbildung nicht ferne, aber im Laufe der neun Jahre, die bis zum Erscheinen dieser Schrift vergingen, war es völlig in den Hintergrund getreten, und zwar gemäss meiner bewussten Absicht, die mir die Idee als schlechthin unmöglich und sinnlos [5] erscheinen liess, etwa für das Mittelalter gegen die Neuzeit Partei zu ergreifen, weil allerdings jenes offenbar mehr in Gemeinschaft beharrte, während, wie ich es auch ausgesprochen habe, die Neuzeit offenbar die Entwicklung der Menschheit in gesellschaftlicher Richtung auf eine bis dahin unerhörte Höhe geführt hat, so dass sie nur in einer ihr homogenen Richtung weitergeführt werden kann. Wenn dies im objektiven Rechte vielleicht am deutlichsten zutagetritt, so lässt sich doch das Recht als Kulturprodukt nicht isoliert betrachten und es gilt nicht nur, den Zusammenhang des Rechtes mit den Erscheinungen des ökonomischen – und also des sozialen – Lebens zu erkennen, sondern das Recht muss auch immer mit anderen Ausdrücken des sozialen Wollens, die mit ihm konkurrieren, verglichen und daran gemessen werden. In diesem Sinne habe ich mein soziologisches Denken immer am Rechte orientiert und mich bemüht, in einer ganzen Reihe von Abhandlungen diese Zusammenhänge offenbar zu machen: von Abhandlungen, die in den drei Sammlungen meiner „Studien und Kritiken“ – die vierte steht noch aus – neu herausgegeben wurden, nachdem sie in verschiedenen Zeitschriften früher erschienen waren. Endlich habe ich dann durch die Unterscheidung von Ordnung, Recht und Moral und durch meine Lehre von den sozialen „Wesenheiten“ und den sozialen Normen eine verstärkte Einheit in die Theorie bringen wollen, die dann erst vor einigen Jahren, durch die „Einführung in die Soziologie“ (Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart 1931) niedergelegt worden ist, so dass ich diese, zumal in Verbindung mit den früheren Abhandlungen wohl als einen erschöpfenden Kommentar zu meinen [6] Grundbegriffen der Soziologie bezeichnen darf; wobei mir freilich gänzlich fernliegt zu wähnen, dass ich ein zu dogmatischer Geltung berufenes System geschaffen habe, sondern ich habe immer hervorgehoben, dass ich meine: die Entwicklung der theoretischen Soziologie steht noch in den Anfängen; und ich habe mehrfach meiner Sympathie mit dem regen Eifer Ausdruck gegeben, der gerade in Deutschland in den Jahren 1918 bis 1932 nicht ohne einsichtige Förderung durch mehrere Regierungen zutage getreten war, wenn auch durch die allgemeine immer noch sehr schwierige Lage gehemmt, um deren 19 25

drei Sammlungen: Vgl. Tönnies 1925−1929; Sammlung IV ist nicht erschienen. Einführung in die Soziologie: Tönnies 1931a (TG 21).

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Verbesserungen jene Regierungen unablässig bemüht sein mussten. Dass die neueste Entwicklung jenen Tendenzen nicht günstig gewesen ist, liegt auf der Hand. Darüber zu richten ist nicht meine Sache, und ich erwarte nicht eine Veränderung von wesentlicher Bedeutung in einem anderen Sinne noch zu erleben. Dass ich aber in gegenwärtiger Frist durch das Entgegenkommen eines aufstrebenden Verlegers noch in der Lage bin, diese neue Auflage einem deutschen und internationalen Publikum vorzulegen, gereicht mir zu persönlicher Genugtuung, die in meiner Dankbarkeit gegen liebe Schüler und Freunde wie gegen den Verleger sich ausdrücken will. In diesem Sinne sage ich diesem meinem Buche wie meinen gelehrten Freunden, die von Anfang an her oder später an ihm teilgenommen haben, Lebewohl. Jene Freunde von ehemals sind freilich fast alle geschieden; und insofern wird der Greis immer in einer ihm fremd gewordenen Welt leben, so viel auch an Aufmerksamkeit und Ehre ihm entgegengebracht werden mag. Denn einigermassen gilt unter allen Verhältnissen das Wort: „Was man in der Jugend [7] sich wünscht, hat man im Alter die Fülle, worin die Kritik des Alters wie der Jugend eingeschlossen liegt. Indessen gilt nach wie vor auch der alte Satz: Die Jugend hat immer recht, den ein gegen sich selber kritischer Greis immer gern auf sich anwenden wird. Dies Buch war für Jung und Alt, für Männer und Frauen bestimmt und ist es auch heute. Denn es beruht in dem Gedanken, dass die grössere Klarheit der Geister über das Wesen und die Formen des sozialen Lebens, die etwa daraus gewonnen werden kann, in jeder Beziehung für gereifte Menschen nützlich sei, wie die Erkenntnis überhaupt. Wie immer man über den Wert des Intellektualismus überhaupt denken möge, er ist eine notwendige Lebensbedingung im Wettstreit des täglichen Lebens von heute, der Parteien untereinander und der Nationen untereinander längst geworden. Und in diesen Wettstreiten ist der Fortschritt immer bedingt durch die Beschaffenheit, die Denkungsart und den Mut der Jugend, so dass in dieser Hinsicht das Buch von sich sagen kann, es sei für die Jugend geschrieben wie es zu seiner Zeit einen noch recht jungen Mann zum Verfasser gehabt hat. Darum hatte er im Bewusstsein der ungeheuren Schwere, mit der das 4

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noch zu erleben: Die beiden letzten Sätze – vermutlich von fremder Hand – durchgestrichen. aufstrebenden Verlegers: D. i. Hans Buske. hat man im Alter die Fülle: Vgl. das Motto in Goethes „Dichtung und Wahrheit“ (1998: 9. Bd., 217). immer gern auf sich anwenden wird: Die beiden letzten Sätze – vermutlich von fremder Hand – durchgestrichen.

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Schicksal nach dem opferreichen und unglücklich beendeten Weltkriege auf die Seelen der jungen Männer und dadurch auch auf die der jungen Frauen sich gelegt hatte, eine neue Auflage, die 4. und 5. der schaffenden deutschen Jugend gewidmet, und er möchte am liebsten diese Widmung wiederholen, obschon sie heute viel[8]leicht nicht ganz den gleichen Sinn noch hätte, da die hohen Ansprüche, die an den mitlebenden, mittätigen Menschen gestellt werden, nicht nur im Deutschen Reiche, sondern auch in den Ländern, die des Endsieges sich erfreuen durften und auch in dem vorbesiegten Russland, dem unmittelbaren Urheber des Weltkrieges, schon in das allgemeine Bewusstsein, das man wohl das der Welt nennen darf, übergegangen sind. – So wenig wie einen ethischen hat dies Buch einen politischen Charakter tragen wollen. Was der Verfasser hier und in späteren Schriften über den Staat ausgesprochen hat, unterliegt der Voraussetzung und dem Verständnis dafür, dass es in Anlehnung an den Begriff gemeint war, den ein Mann wie Max Weber mit grossem Erfolge als Idealtypus charakterisiert hat; nachdem ich selber schon viel früher die Sache gedacht und dafür das Wort Normalbegriff eingesetzt hatte, um ihn dann in Anlehnung an Weber, um aber Missverständnissen zu wehren, den „ideellen Typus“ nenne, nachdem solche Missverständnisse schon ans Licht getreten waren. Der Begriff des ideellen Typus Staat erfüllt alles was ich über den Staat gedacht und geschrieben habe, und bedeutet nicht das Ideal des Staates, sondern den ideellen d. h. nicht realen Typus, nach dem die Entwicklung sozusagen sich richtet. Dieser Typus ist vor 300 Jahren mit ungeheurer Kraft von Thomas Hobbes entworfen worden und hat sogar in England, das eine kurze Epoche des absoluten Königtums durch eine konservative Revolution siegreich überwunden hat – wenn auch nicht auf Hobbes zurückgeführt –, vermöge der Erfahrungen und Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts in dem Sinne sich durchgesetzt, dass man [9] prinzipiell darauf verzichtet hat, der Macht des Staates und seinen Befugnissen rechtliche Schranken zu ziehen: was soviel heisst als die sittlichen Schranken desto schärfer zu betonen: dahin hat der tiefe Einfluss, den Jeremy Bentham und in seinen Spuren John Austin, die beide in den Spuren des Hobbes gingen, auf die engli-

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die 4. und 5.: Vgl. die Widmung in der 4. und 5. Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1922): Der schaffenden deutschen Jugend im Reiche und in Oesterreich und im Auslande gewidmet. – Unter Oesterreich ist in kleinerer Schrift gesetzt: (dem neuen und alten). „ideellen Typus“ nenne: Vgl. Tönnies 1931a: VI.

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sche Staatslehre und daher auch auf die innere Politik gewonnen haben, gewirkt. Dabei ist jedoch immer des Umstandes zu gedenken, dass die tiefere Ursache der Wirkungen, die von Schriftstellern oder Theoretikern ausgehen, stets in den Tatsachen den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Menschen, ihrer Zeitgenossen auf die sie eben treffen, gelegen ist: was deutlich in der Ausdehnung der Gesetzgebung auf das Arbeitsleben, insbesondere das industrielle, in allen Staaten der Welt, neuerdings mit gesteigerter Intensität zutagetritt. Dies bedeutet, wie ziemlich allgemein bekannt ist, das Ende der berühmten altliberalen Maxime, die durch das Geheiss laissez faire laissez passer bezeichnet wird; mithin die fortwährende Steigerung der Beherrschung des sozialen, also in erster Linie des wirtschaftlichen Lebens, durch das öffentliche Recht und die öffentlichen Körperschaften, unter denen der „Staat“ wahrscheinlich nicht dauernd das Übergewicht behalten wird. Dass dies den Ideen die sich an den Begriff der Gemeinschaft knüpfen, zugute kommen wird, bin ich nicht zu leugnen gesonnen, sondern halte es im Sinne der zukünftigen Menschheit für eine erfreuliche Aussicht. Ferdinand Tönnies.

[Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1935 an Kindheit, Schulzeit, Studium und erste Dozententätigkeit (1855−1894)]

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Ich fühle mich nicht nur berechtigt, sondern auch in einigem Maße als Greis, der viele Jahre lang mit Wort u. Schrift seinen Zeitgenossen etwas zu sagen sich bemüht hat, verpflichtet, heute sozusagen ein letztes Wort ihnen zu hinterlassen. Ich weiß zwar sehr wohl, dass die Zeitgenossen eine fließende Masse sind, die zwar mit gutem Grunde für eine Reihe von Jahren als eine u. dieselbe gelten kann, allmählich aber doch so sich verändert, dass man im Wahne sein kann, man spreche noch zu der gleichen Menge, vor der man noch vor zwanzig u. dreißig Jahren einen Widerhall gefunden hatte, wohingegen man aber gewahr werden muss, dass die Schar eine ganz andere geworden ist: Einige wenige überleben, u. unter ihnen sind noch wenigere, die an dir teilnehmen – muss man sich sagen – die meisten sind u. bleiben dir fremd u. wollen schwerlich etwas von dir wissen. Trotzdem will ich es sagen. Seit frühester Jugend habe ich mich mit der sozialen Frage beschäftigt. Aus dem Jahre 1871, da der 16jährige durch den Krieg u. Sieg der deutschen Heere u. der deutschen Nation tief bewegt war, stammen meine ersten Aufzeichnungen, pathetisch u. sehr allgemein gehalten. Auch während meines philologischen Studiums, das im folgenden Jahre begann, habe ich meine Aufmerksamkeit oft diesen Problemen zugewandt: Schon der Umstand, dass Ferd. Lassalle ein großes Werk über Herakleitos den Dunklen verfaßt hatte, war mir höchst wunderbar u. fast geheimnisvoll. Er gab meiner Beschäftigung mit den alten Philosophen von Anfang an eine ziemlich intensive Richtung, die auch in das Studium des Plato, besonders seiner Republik, mündeten. [Ib]

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(1855−1894): Textnachweis: TN, Cb 54.15:01. – Manuskript (Else Brenke diktiert), in 5 Heften (Schulheften in 8°) mit 4 eingelegten Schreibmaschinenseiten. Der Text, der keinen originalen Kopftitel enthält, beginnt mit 2 in Heft I eingelegten Schreibmaschinenseiten. Entstanden um 1935. Erstveröffentlichung durch Rainer Polley (1980). Der von Polley hinzugefügte Kopftitel wurde übernommen. Weiteres s. Edit. Bericht S. 658f. großes Werk: Vgl. Lassalle 1858.

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In der Tat, legte das Studium des klassischen Altertums die soziale Frage nahe genug. Die unablässigen inneren Kämpfe in jeder der vielen organisierten Stadtgemeinden, vor allem auch in Athen u. in Rom, entwickelte sich nicht um die schöne Nase einer Göttin oder das gewaltige Beinwerk eines Gottes, sondern es lagen ihnen Kämpfe um das Mein u. Dein zugrunde, wovon uns auch nicht wenige Spuren übriggeblieben sind: so die populäre Bezeichnung der Reichen Mitbürger als der [..], was man durch das Wort Mastbürger füglich übersetzen kann. Es handelte sich bei diesen Kämpfen natürlich zunächst um die politische Macht, wie auch in viel späterer Zeit in den oberitalienischen Städten, unter denen Florenz hervorragt. U. Kämpfe dieser Art – möge man sie Ständekämpfe oder Klassenkämpfe nennen – haben auch in den deutschen und anderen Kommünen, insbesondere im Übergang des Mittelalters zur Neuzeit stattgefunden, auch wenigstens zum Teil, mit schweren materiellen und moralischen Folgen für die beteiligten Kämpfer. Einen deutlichen Unterschied zwischen diesen Ereignissen der Vergangenheit und den neueren Entwicklungen, worauf die Volksredner sich bezogen, die, seitdem die Herzogtümer in Preußen einverleibt waren, auch hierzulande mit größerem oder geringerem Erfolge, tätig waren habe ich als Knabe nicht wahrzunehmen vermocht, weil eben nur das Neue mein Bewusstsein in Anspruch nahm. Mit meiner inneren Teilnahme am Schicksal des Proletariats hing es allerdings zusammen, dass ich mich, nachdem mir die Promotion als Philologe gelungen war, mich dem gleichzeitigen Studium der Philosophie und der Nationalökonomie – oder wie wir damals (1877) noch lieber sagten: der Politischen Ökonomie – mit einigem Eifer mich zuwandte. Das philosophische Studium, das ich sogar schon vor meinem Abiturientenexamen einigermaßen ge[1] Wenn man auf seine frühe Jugend gealtert zurückblickt, so muss man auf der Hut sein, die Jugendzeit u. die Vergangenheit nicht zu sehr zu vergolden. Das kann in mannigfacher Weise geschehen. Ich halte es für geboten, zuerst von dem Boden zu reden, „darin unseres Lebens Wurzeln stehn“; dies hat vielleicht um so mehr Interesse, zumal für jüngere Leser, wenn dieser Boden von dem Boden, der ihnen vertraut ist, sehr verschieden ist. 7

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Mitbürger als der [..]: große Lücke im Text, vermutlich für das gr. Wort für ‚Mastbürger‘ (möglicherweise Timokraten) offengelassen, das ein Alphabet erforderte hätte, welches auf der Schreibmaschine nicht zur Verfügung stand. Promotion: Im Juni 1877 in Tübingen, siehe hier auch S. 539f. ge[1]: Textabbruch Ende von Seite 1b. Danach Text aus Heft 1, S. 1. Offensichtlich ist Text unbekannten Umfanges verlorengegangen. Wenn: Nunmehr Heft 1 in Schreiberhand (Else Brenke).

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In diesem Falle befinde ich mich nicht allein dadurch, daß es ein ländlicher Boden ist, sondern besonders auch, weil es ein solcher von eigener Art war: die Marsch des westlichen Schleswig, also geologisch betrachtet, die jüngste Formation der Erde, die aus Anschwemmungen des Meeres gewonnen [2] u. durch künstlich gebaute Deiche vor den Launen des Meeres geschützt worden ist. In der Landschaft Eiderstedt freilich, die jetzt den kleinsten Kreis des Freistaates Preußen bildet u. eine kleine Halbinsel darstellt, geht die Entstehung dieser Köge zum größten Teil in historisch unvordenkliche Zeiten zurück, u. das Gebiet hieß lange die Dreilanden. Es waren drei Inseln, von denen nur die größte u. östlichste Eiderstedt hieß, offenbar weil die Mündung des Flusses Eider an ihr vorbeiging, während „Everschop“ u. „Utholm“ weiter nördlich u. östlich lagen. Diese drei Inseln sind erst im Jahre [..] vereinigt u. landfest geworden. Eiderstedt war ein Teil des alten Nordfriesland u. erfreute sich noch mehr als dieses großer Vorrechte, nicht nur der persönlichen Freiheit aller ihrer Einwohner, sondern auch eines hohen Maßes von Selbstregierung, an deren Spitze die zwölf erwählten Ratmänner standen, denen auch die hochnotpeinliche Gerichtsbarkeit zustand, von der jedoch nur seltener Gebrauch gemacht wurde. Wenn ich nun auch an die Zeit meiner frühen Kindheit zurückdenke, so muß ich sogleich der politischen Verhältnisse mich erinnern, die nicht nur seit Jahrhunderten durch das Verhältnis der „Herzogtümer“ (die ja auch die Elbherzogtümer hießen) zum Königreich Dänemark u. ihrem Monarchen, der zugleich Herzog in diesen Herzogtümern war, besonders für Schleswig, sich schwierig entwickelt hatten, sondern durch die jüngsten Ereignisse sich schwer verdüstert hatten. Sehr bald bin ich dessen innegeworden, daß wenige Jahre vor meiner Geburt die Empörung der Herzogtümer ein für sie trauriges Ende genommen hat, obschon sie[6] Ich gedenke nun meiner lieben Eltern. Die väterliche Familie gehörte den eingewanderten „Holländern“ an, die wohl in mehreren Zügen ins Land gekommen waren, hauptsächlich um als Erbauer der Deiche, worin ihre Heimat ohne Zweifel fortgeschritten war, arbeitend u. lehrend zur Geltung zu kommen. Von da aus machten sie als Gewerbetreibende sich nützlich u. blieben wohl bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts ohne Konnubium 12 13

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östlich: Nach Polley: westlich. Jahre [..]: im Original Lücke, wohl zur späteren Ergänzung der Jahreszahl 1489 offen gelassen; vgl. auch Polley 1980: 192. trauriges Ende: Gemeint die Erhebung Schleswig-Holsteins, die zum Krieg mit Dänemark führte und 1852 in der militärischen Niederlage der Herzogtümer endete. obschon sie[6]: Textabbruch.

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mit den einheimischen Hausleuten um so mehr beflissen, ihre Habe zu verbessern, offenbar [8] nicht ohne Erfolg. So hatte der Urgroßvater meines Vaters die Posthalterei in „Oldenswort-Straße“, wo auch Kirche u. Schule unseres Kirchspiels vorhanden waren. Hier also lag der Mittelpunkt unseres Lebens; von hier aus war das Städtchen Tönning, das den Hauptort der ganzen Landschaft darstellte, nur eine kleine Meile entfernt. Mein lieber Vaterbruder Onkel Geert, ohne den ich mir meine ganze Kindheit u. meine Jugend bis zu seinem Scheiden 1883 nicht denken kann, hat mir erzählt, sein Großvater habe als kleiner Junge, die Post [10] aus Tönning abholen müssen, wofür er jedesmal einen Schilling bekam. Ich vermute, daß diese Abholung nur zwei x in der Woche stattgefunden hat. Dieser mein Urgroßvater – das Jahr seiner Geburt lag gerade 100 Jahre vor dem der meinen – war offenbar auch der Begründer des Vermögens, denn er hat nicht weniger als drei Marschhöfe hinterlassen. Ich weiß nicht, wieviel von diesem Vermögen er seiner Heirat verdankte, aber er freite die Tochter eines der alten einheimischen Geschlechter m. N. Peters u. wurde wohl haupt[12]sächlich dadurch selber in diese Geschlechter aufgenommen: es war ja im 18. Jahrhundert, als man überall minder streng über diese Verhältnisse dachte. Er wurde Ratmann u. soll sich nebst seinem Bruder, der dieselbe Würde empfing, als solcher ausgezeichnet haben. Mein Vater war gewissermaßen ein Städter, weil der Hof seines Vaters unmittelbar – zehn Minuten Entfernung – hinter dem Städtchen Garding liegt, so daß die Kinder die städtische Schule besuchten, die Knaben auch über die Schulzeit hinaus noch [14] ein Jahr lang in die Lateinschule gingen, die ja in allen oder doch den meisten Städten herkömmlich war. So kam es, daß der Vater größeren Wert auf die Bildung legte, als im allgem. landesüblich war. Im gleichen Sinne wirkte auch der Umstand, daß die Mutter Tochter eines holsteinischen Geistlichen Johann August Mau (A. d. B.) war: die Verbindung hatte auch einen politischen Hintergrund. Im Jahre 1846 war die elfte Versammlung deutscher Land- u. Forstwirte offenbar absichtlich nach Kiel berufen worden, die Wellen der Meinungen gingen [16] damals hoch im Sinne der Herzogtümer gegen die dänische Tendenz, Schleswig dem Königreich einzuverleiben, wie sie gerade in diesem Jahre durch den Brief Christians VIII. einen allgemeinen Unwillen in deutschen Landen hervorgerufen hatte. Die Eiderstedter Jugend rechnete es sich zur Ehre, in dieser Versammlung stark vertreten zu sein: ich finde in dem offiziellen Bericht die Namen von …, die Namen …, meines Vaters u. seines 28

Johann August Mau: Mau war Hauptpastor in Schönberg.

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Bruders Geert Cornils. An die Versammlung schlossen sich Ausflüge, u. so wurde das nicht große Gut [18] Projensdorff am alten schleswig-holsteinischen Kanal wie für eine Musterwirtschaft gehalten, wie der Eigentümer Herr Trummer, ein Hamburger, für einen reichen Mann galt. Er hatte in zweiter Ehe, eine der älteren Schwestern meiner Mutter, zur Frau. Meine Mutter war oft zu langen Besuchen auf dem Gute, so auch im Jahre 1846. Mein Vater hatte sich in sie verliebt u. bald nachher um sie angehalten. Die Verlobung fand aber erst im Januar 1849 u. die Hochzeit am 27. Juli dieses Jahres statt, also während der Krieg noch dauerte. Die Eiderstedter waren [20] nicht kriegsdienstpflichtig, hatten aber im Jahre 1848 aus eigenen Mitteln ein Reiterbataillon gestellt, ich sah noch oft als Kind nicht ohne Andacht den Dragonersäbel des Vaters. Der Höchstkommandierende der improvisierten Armee Prinz von Noer wußte mit diesem Reitercorps nichts anzufangen u. hat es bald heimgeschickt. Er schenkte aber als Ausdruck seiner Anerkennung der Landschaft einen silbernen Tafelaufsatz, der noch heute gelegentlich zum Vorschein kommt. – Der mütterliche Großvater galt für eine Zierde der holsteinischen Geistlichkeit. [22] Er war ein Freund u. Gesinnungsgenosse des noch angeseheneren Claus Harms, der auch ihn bei seinem Amtsjubiläum 1854 zuerst vor dem Altar begrüßt u. wahrscheinlich veranlaßt hat, daß die Kieler Fakultät ihm die Würde eines Doktors der Theologie verlieh, die nach ihm sowohl ein Sohn als ein Enkel empfangen hat. Noch heute sind mehrere Urenkel unter den Geistlichen des Landes. Meine Mutter geboren 1826 gehörte zu den jüngeren Kindern der Familie. Sie war ganz u. gar eine Holsteinerin, u. sie hat die Anmut des alten Vater[24]hauses u. der unfernen Ostsee wie die schöne Lage von Projensdorff niemals vergessen. Indessen fand sie auch bei den Verwandten u. Freunden des Vaters eine freundliche, ja herzliche Aufnahme.

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Von dem Leben meiner Eltern, während sie mit uns, die wir bis zur Zahl von sieben Kindern anwuchsen, in Eiderstedt wohnen blieben, habe ich teils noch eine lebendige Erinnerung, zum anderen Teile belehren mich darüber die Briefe meiner Mutter an ihre Schwester Frau Trummer–Projensdorf. 5 16 32

älteren Schwester meiner Mutter: D. i. Charlotte Dorothea geb. Mau. Der mütterliche Großvater: D. i. Johann August Mau. Frau Trummer: Unsichere Lesart; d. i. vmtl. Charlotte Dorothea Trummer geb. Mau.

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Für ihren Verkehr kamen zuallererst nahe Verwandte u. [26] Nachbarn in Betracht. In Osterende, einem Teil des Kirchspiels Oldenswort, eine kleine halbe Stunde von unserer Hauberg entfernt, wohnte die ältere Schwester meines Vaters schon seit langem mit ihrem Mann, dem Ratmann Thomsen, der durch seine politische Tätigkeit zuerst in der schleswigschen Ständeversammlung, dann auch im Reichsrat zu Kopenhagen als ein Vorkämpfer für das Deutschtum Schleswigs sich Ruhm erworben hat. Er ist viel später noch Mitglied des Preußischen Hauses der Abgeordneten gewesen, mußte aber wegen eines zunehmenden [28] Gehörleidens die politische Tätigkeit aufgeben. Mein Vater war sein vertrauter Freund, u. so war der Verkehr lebhaft, der sich auch auf Thomsens Schwager, den Ratmann Hanken, erstreckte, der im gleichen Kirchspiel viel weiter entfernt wohnte, näher bei Tönning. Außerdem pflogen die Eltern näheren Verkehr mit den beiden Pastorenhäusern, dem des Hauptpastors u. des Diakonus; beide Häuser waren auch für uns Kinder, besonders durch ihre schönen Obstgärten, Gegenstände der Verehrung. Überdies gab es immer einigen, auch häuslichen Verkehr [30] mit den beiden Städten. In Garding wurde wenigstens einmal zu ihrem Geburtstage die dort noch wohnende Großmutter geb. Matthiesen besucht, von der ich eine deutliche Erinnerung habe. Sie scheint eine eifrige Leserin gewesen zu sein u. besaß allerhand Bücher: Ich habe noch aus ihrem Nachlaß Gellerts „Moralische Vorlesungen“. Andere Verwandte wohnten in beiden Städtchen. Der Verkehr mit den kleinen Leuten war durchweg freundlich. Es war üblich, dem Arbeiter auf dem Felde oder bei der schweren Arbeit des „Kleiens“ (Erneuerung der Gräben zwischen den Fennen) [32] ein „Gott help“ zuzurufen, was dankbar aufgenommen wurde. In der Straße“ gab es immer hülfsbedürftige Familien u. manche arme Frau, die gelegentlich zu Diensten herangezogen wurde: die eine als Wartefrau, die andere als Amme zu gelegentlicher Aushilfe (sie hatte selber immer kleine Kinder), die dritte, ein schwer verwachsenes älteres Fräulein, war in jedem Jahre wochenlang im Hause als Gehilfin der Mutter bei der Anfertigung der Kleidungsstücke für uns Kinder. Dies war Tine Tee (sie hieß wohl eigentlich anders), eine notwendige Gestalt meiner Kindheit. Sie sprach plattdeutsch wie alle, konnte aber [34] ein Märchen in hochdeutscher Sprache erzählen, das vom Rotkäppchen, u. mußte uns von Zeit zu Zeit damit erfreuen. 4 11 21 26

mit ihrem Mann: Das sind Catharina Thomsen und Adolf Theodor Thomsen. Ratmann Hanken: Gemeint ist Heinrich Hanken. „Moralische Vorlesungen“: Vgl. Gellert 1770. In der Straße: Gemeint ist Oldenswort-Straße. Anführungszeichen fehlt i. O.

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Wenn ich mich in die ganze damalige Umgebung zurückversetze, so gewinne ich das Bild eines stillen behaglichen, ja fast idyllischen Lebens, das für mich vielleicht ein zu frühes Ende genommen hat. Ich war noch in meinem fünften Jahre in die Kirchspielschule gekommen, da ich schon zu Hause durch die liebevolle Sorge einer Magd, Gretchen Schulz, lesen gelernt hatte; so mußte ich bald den „Kleinen“ helfen, es zu lernen, u. ich wurde gleichzeitig mit meinem Bruder Wilhelm in [36] die zweite mittlere Klasse versetzt. Herr Deethmann war ein milder Lehrer. Um zu strafen, ließ er das ungezogene Kind an sein Pult kommen u. schlug in die Hand mit einem gespaltenen Lineal, was uns natürlich Töne angeblichen Schmerzes entlockte, in Wirklichkeit aber wohl kaum wehtat. Die Mutter schrieb an ihre Schwester Lotte am 21. März 1861 von Erkrankung ihres Säuglings, dann folgte: „Die anderen Kinder sind gottlob sehr gesund, die drei Knaben sind den ganzen Winter in jedem Wetter zur Schule gegangen. Der kleine Ferdinand wird doch im Juli erst sechs Jahre, er liest ganz fertig u. hat es [38] im Rechenbuch schon zum Dividieren gebracht, einen merkwürdigen Eifer zeigt das Kind, er kümmert sich nicht um Lämmer u. Kälber etc., sondern wenn die anderen draußen sind, sitzt er hier u. liest oder rechnet.“ Eine deutliche Erinnerung habe ich daran, daß ich sehr frühzeitig aufgefallen bin durch meine Fähigkeit, verhältnismäßig rasch Multiplikationen u. Divisionen im Kopfe zu vollziehen, was von den guten Landleuten, denen der Vater mich zuweilen vorführte, bewundert wurde. – In diesen sanften Strom des Lebens schlug dann das Jahr 1863 hinein, das für die Meinen u. für meine kleine Person [40] wie für unser Land so große Veränderungen herbeiführte. Es ist mir durch nicht weniger als vier Erlebnisse merkwürdig geworden, von denen ich darum hier berichten werde. Das erste Erlebnis war die silberne Hochzeit meines Oheims Thomsen u. der Tante Tine, der Schwester des Vaters. Mir ist noch gegenwärtig, welchen großen Eindruck die glänzende Beleuchtung des Saales u. die Gesellschaft auf mich machte, die wir dort schon versammelt fanden: auf der einen Seite, wenn ich richtig erinnere, der weibliche Teil, auf der andern der männliche, das Ehepaar in der Mitte. Mein Bruder Wilhelm u. ich waren in eine bäuerlich sein sollende Tracht (die es sonst im Lande nicht gab) gekleidet u. hatten plattdeutsche Verse herzusagen, die eine Tönninger Dame für uns [42] gedichtet hatte. Sie bezogen sich auf die von uns überbrachten Äpfel aus Vaters Garten u. auf die Tätigkeit unseres Oheims als Volksvertreter „de för unse Rech so striden u. uns Land vertreden kann“. Wir machten 11

Mutter schrieb: Der Brief ist in TN nicht überliefert.

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viel Glück, u. am Ende der ganzen Feier hatte ich, der siebenjährige Knabe, noch mit zwei großen Flügeln angetan, von einem erhöhten Sitze aus, einen Pfeil auf das Paar abzuschießen, was den Enthusiasmus der anwesenden weiblichen Jugend erhöhte, der von mir nachher durch heftiges Abstoßen ihrer Liebkosungen schlecht belohnt wurde. Das zweite Erlebnis war mein achter Geburtstag (26. Juli), an dem eine Anzahl von anderen Jungen zugegen war. Es war ein Sonntag, u. zufällig kamen grade eine Reihe [44] befreundeter Familien zu meinen Eltern, wahrscheinlich ungeladen, aber wie immer willkommen. Am Abend fand eine Bewirtung statt, an der wir Kinder an einem Nebentischchen auch etwas abbekamen. Da müssen es wohl die größeren Jungen gewesen sein, die mich anstachelten, ein Hoch „auf den Herzog“ auszubringen. Unser anerkannter Herzog war damals der dänische König. Ich verstand aber richtig u. sprach einige Worte zum Preise Herzog Friedrichs VIII., von dem ich schon allerhand gehört haben muß, wenn auch nur heimlich von ihm gesprochen werden durfte: sein Name allein bedeutete schon „Los von Dänemark u. Deutschtum“ – das Ziel der Insurrektion von 1848. Ich war dreist u. dumm genug, den Spruch herzusagen u. machte Sensation. Man nahm mich an die große Tafel [46] heran u. rühmte mich; nur ein alter Pfarrer des benachbarten Kirchspiels Uelvesbüll, dessen Kinder auch zugegen waren, warnte mich, indem er sagte: Junge, Junge, der Gendarm kommt hinter Dich! Dieser würdige Mann war ein Jahr später nicht mehr im Amte: Die Gemeinde hatte ihn als Dänischgesinnten abgesetzt. Zum Gendarmen muß ich noch bemerken, daß dieser die einzige Gestalt war, worin der Staat oder das Regiment uns wenigstens von ferne bekannt war, denn von den „dänischen Beamten“ in den beiden Städtchen kannten wir höchstens die beiden Namen. Das dritte Erlebnis war nun das eigentlich entscheidende: der Tod des Königs Friedrich VII. am 15. November. Ich erinnere mich des Tages, als wir Jungen aus der Kirchspielschule nach Hause kamen u. an den Mittagstisch herantraten, wo wir die mit dickem schwarzem [48] Rande versehene Flensburger Zeitung fanden u. atemlos die Nachricht in uns aufnahmen, nachdem wohl der Vater schon den Inhalt uns mitgeteilt hatte. Das vierte Erlebnis war ein ganz häusliches u. ohne Verbindung mit den anderen. Der Vater hatte wohl schon seit einiger Zeit mit dem sich Gedanken getragen, einen Hauslehrer für uns anzunehmen u. hatte vielleicht schon 14

Herzog Friedrichs VIII.: von Augustenburg, der 1864, unterstützt von der öffentlichen Meinung, die Herrschaft in Schleswig-Holstein beanspruchte.

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angefangen, zu diesem Behuf zwei Zimmer in unser Wohnhaus hineinzubauen: ein Schulzimmer, das zugleich der Lehrer bewohnen sollte, u. ein Schlafzimmer. Ich erkenne daraus, daß er damals noch nicht daran dachte, seinen Wohnsitz von der Hauberg zu trennen. Wenn ich nicht irre, trat der Hauslehrer Herr Kandidat Husmann noch vor dem Ende dieses bewegten Jahres an. Meine Brüder hatten freilich schon die Anfänge des [50] Latein beim Prediger erlernt, ich selber kam ihnen bald nach. Der Lehrer war ein tüchtiger, aber leider recht kränklicher Mann; er blieb ein Jahr lang bei uns u. wurde dann zum Prediger in Holstein gewählt, wo viele Stellen frei geworden waren, weil die bisherigen Inhaber, die infolge der Umwälzung vakanten besser dotierten Stellen im Schleswigschen gewonnen hatten. Die Jahre, die nun folgten, waren historisch bedeutende Jahre, nicht nur für unser Land u. für Dänemark, sondern auch für das große Deutschland u. so auch für ganz Europa. Auch in unseren Familien u. insbesondere unseren Knabenschicksalen reflektierten sich diese großen Wandlungen stark. Zunächst erlebten wir den Schluß des Jahres 1863. Noch wurden in den zahlreichen Kirchen der Landschaft Eiderstedt 2x täglich, wenn ich nicht irre, die Glocken zu Ehren des verstorbenen Königs geläutet. Wir sind wohl ein oder das andere Mal mit den Eltern nach einem der Städtchen gefahren, u. dann hörte man wohl mehrere Male das gleiche ernste Geläute. Inzwischen hatte Herzog Friedrich, dessen alleiniges Recht auf die legitime Erbfolge von den meisten Staaten des deutschen Landes anerkannt wurde, unter dem Motto: „Mein Recht ist [53] Eure Rettung! an die Schleswig-Holsteiner sich gewandt u. sozusagen die Regierung angetreten, nachdem die Bundeskommissare die bisherige holsteinische Regierung in Plön aufgehoben u. eine herzogliche Landesregierung in Kiel eingerichtet hatten: Die schon vorher beschlossene Exekution des Bundes gelangte noch kurz vor Weihnacht zur Ausführung; sie war dem König von Hannover u. dem von Sachsen übertragen. Diesen Truppen folgte unmittelbar der neue Herzog, der in Kiel mit großem Jubel begrüßt wurde. Vorher hatte man schon überall Friedrich VIII. nicht nur in Holstein, sondern auch im südlichen Schleswig als den rechtmäßigen Landesherrn ausgerufen, oder wie gesagt wurde: proklamiert. Vom dänischen Standpunkt war dies

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Kandidat Husmann: D. i. wohl Friedrich Wilhelm Christian Husmann. gewonnen hatten: Ende Heft 1. Herzog Friedrich: D. i. Friedrich VIII. König von Hannover und dem von Sachsen: D. i. Georg V. sowie der Wettiner Johann I.

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offene Rebellion, u. es gehörte einiger Mut dazu. In Eiderstedt wurde mein Oheim, der Ratmann Thomsen, stark [55] dadurch in Anspruch genommen, so daß der Akt in unserer Straße durch seinen Schwager, den wir Onkel Hanken nannten, geschah. Wir Jungen waren natürlich in der Volksmenge u. beteiligten uns stark an den Hochrufen, die auch anderen Personen galten, sofern solche besonders als Patrioten galten. Zu diesem Behuf zog man durch den kleinen Ort, u. man kam auch an dem Hause eines Krämers vorbei, der als dänischgesinnt eine Verwünschung erfuhr; ich erinnere mich nicht, in welcher Form dies geschah. – Inzwischen waren auch ein preußisches u. ein östreichisches Heer in Schleswig eingerückt, die bestimmt waren, das Herzogtum als Pfand in Besitz zu nehmen, nachdem Dänemark die Zurücknahme der am 18. November aufs neue in Kopenhagen erlassenen Satzung für die gemeinsamen Angelegenheiten [57] Dänemarks u. Schleswigs. Dies „Grundgesetz“ wurde mit Recht als eine Vorbereitung zu der längst geplanten Einverleibung des Herzogtums Schleswig gedeutet. Am 1. Februar 1864 überschritten die östreichischen u. preußischen Truppen in der Zahl von 45 000 die Eider, u. nun erst begann der offene Krieg, der mit der Abtretung der Herzogtümer an die beiden verbündeten Großmächte sein Ende nahm im Wiener Frieden (als ob diese Herzogtümer jemals dem Königreich Dänemark „gehört“ hätten!). Für meine Brüder u. mich war dieses unser Hauslehrer-Jahr auch ein Jahr, das viel Neues brachte. Zwar war der Kriegsschauplatz uns ziemlich fern; aber es fanden mehrfache Truppendurchzüge statt, u. so gab es Einquartierung, bald östreichische, bald preußische. Auf unserem Hof haben mehrfach Offiziere Quartier genommen u. waren immer willkommen, wenn auch die Mutter, die bald ihr siebentes Kind erwartete, stark dadurch in Anspruch genommen wurde. Im Volk erfreuten sich die östreichischen Soldaten einer größeren Beliebtheit als die preußischen. Merkwürdig wurde für uns, daß mein ältester Bruder, der ein flotter Reiter war, in Begleitung preußischer Offiziere, die sich die Genehmigung des Vaters zu sichern wußten, nach Flensburg reiten durfte, wo er mit diesen Offizieren photographiert wurde, was damals noch nicht alltäglich war. An der Spitze dieser Offiziere stand der spätere Corpskommandant Herr [..]. Übrigens waren unter ihnen Herren von bekannten Namen: ein Graf Yorck v. Wartenburg, ein Herr

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Onkel Hanken: D. i. wohl Heinrich Hanken. Dänemarks u. Schleswigs: Fehlendes Prädikat; wohl: ablehnte. mein ältester Bruder: D. i. Gert Cornils Johannes Tönnies. Corpskommandant Herr [..]: Name fehlt.

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v. Haxthausen, ein Herr v. d. Schulenburg als Offiziere der Landwehr. Ich erinnere mich wohl, daß diese Herren alle, mit Ausnahme des Hauptmanns, am Abend [61] vor ihrem Ausmarsch, bei uns bewirtet wurden, u. daß ich mit Staunen u. Andacht ihren Gesprächen lauschte. Es mag ein Irrtum meiner Erinnerung sein, aber ich bilde mir ein, daß ich die Kanonen von Düppel aus der Ferne dumpf vernommen habe. Wir lebten natürlich in fortwährender gespannter Erwartung u. lebhaftester Teilnahme an den Ereignissen. Für die großen Ferien im Juli waren wir Knaben von den lieben Verwandten nach dem schönen Gut Projensdorf geladen worden; dahin zu reisen, war ein großes Fest für uns. Die Reise ging zuerst nach Neumünster wo die Eltern unseres Lehrers besucht werden sollten die uns eine freundliche Aufnahme gewährten; von da nach Kiel. Schon die Fahrt nach Neumünster nahm damals noch viele Stunden in Anspruch. Zuerst gab es einen Aufenthalt von vielen Stunden in Ohrstedt, dem damaligen Knotenpunkt (später wurde es Jübek)[63]. Das Jahr 1864 war für uns ein in jeder Hinsicht bedeutungsvolles. Wir Knaben machten gute Fortschritte, in Latein, u. lernten sogar die Anfangsgründe des Griechischen. Auch kam ich zuerst in Berührung mit einem Gegenstande, der mir immer mehr wichtig geworden ist, der statistischen Geographie, wenn ich auch längst nicht mehr, was heute Statistik heißt, als eine Wissenschaft anerkenne. Ich lernte damals die Einwohnerzahlen sämtlicher englischen Städte mit Begeisterung auswendig. Das Jahr wurde aber noch bedeutungsvoller durch den Entschluß meines Vaters, der zunächst uns Knaben galt: da er daran verzweifelte, einen Ersatz für unsern Hauslehrer zu finden, denn es war die günstigste Konjunktur für die Kandidaten der Theologie. Noch im Dezember wurden wir in Husum geprüft, u. im Januar sollte der Älteste von uns in die Quarta, Bruder Wilhelm u. ich in die Quinta aufgenommen werden. Ich freue mich noch heute, daß ich nicht, wie einige Lehrer des Gymnasiums wollten, von meinem guten treuen Wilhelm getrennt wurde, der natürlich etwas darunter gelitten hat, daß er zeitweilig hinter mir zurückblieb, bis er mit dem Zeugnis für Obersekunda, um Landwirt zu werden, die Schule verließ. Die letzten Monate des Jahres bis zur Geburt meines jüngsten Bruders im November brachten uns noch erneute Einquartierung, u. zwar diesmal von Unteroffizieren, vier an der Zahl. Es waren östreichische 6 33 34

Düppel: Am 18.4.1864 stürmten die Preußen die Düppeler Schanzen. Monate des Jahres: D. i. 1864. jüngsten Bruders: D. i. August Tönnies.

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Soldaten, aber Lombarden; die Lombardei gehörte ja damals noch zu Östreich. Die Mutter meinte ihnen unsere Schulstube [67] einräumen zu müssen, so daß wir dann mit dem Lehrer in die drei kleinen Schlafzimmer [..], die es im Frontispice des Hauses noch gab. Wir Knaben saßen oft mit den Soldaten zusammen u. lernten einige italienische Brocken, während wir zugleich ihrem Deutsch aufhalfen. Diese edlere Art des Tausches trat an die Stelle des sonst von uns gepflogenen, bei dem wir ebenso unerlaubt handelten wie die Soldaten: Wir gaben Äpfel, sie Patronen, von denen wir dann Feuerwerk machten. So wurden die letzten Monate auf dem Lande recht heiter für uns, aber bald sollten wir die Husumer Schule beziehen, nämlich gleich nach Neujahr, worüber wir uns wenig Gedanken machten. Der Amtmann in Husum, unser Oheim, hatte ein Quartier für uns besorgt bei einem [69] Kolonialwarenhändler am Markte. Die Husumer Gelehrtenschule war unter der Autorität der Provisorischen Regierung bald im Jahre 1864 wieder aufgebaut worden, nachdem die Dänen 1852 sie hatte eingehen lassen, für die deutschen Bedürfnisse schien ihnen im Herzogtum die Schleswiger Domschule zu genügen, freilich blieb auch das Flensburger Gymnasium als deutsch-dänisch gemischte Anstalt. Nach Husum kamen eine Reihe von tüchtigen Lehrern. F. Lübker übernahm die Leitung des Schulwesens im Herzogtum, nach Husum berief er als Rektor den Hofrat Wilhelm Gidionsen, der von den Dänen, ich glaube, als Kombattant ausgeschlossen war u. zuerst eine Stelle im Oldenburgischen bekommen hatte, dann in die Hauptstadt Oldenburg als Erzieher des Herzogs Elimar gezogen war. Die neue Schule ging nur bis zur Sekunda einschließlich, u. ich war nicht wenig stolz, [71] als ich bei Gelegenheit unserer Prüfung (an die mich auch heute noch eine Photographie von uns drei Knaben erinnert) verspätet von einer Wanderung durch die Stadt zum Mittagessen ins Schloß – die Wohnung des Amtmannes – kam u. berichten konnte, daß ich – einen Sekundaner gesehen hatte. – Unter den Lehrern waren noch bemerkenswert Eugen Petersen, der später in vielen Stellungen als archäologischer Professor war u. erst vor wenigen Jahren in Berlin gestorben ist. Ich nenne ferner noch Ludwig Matthießen, der später Professor in Rostock geworden ist u. sich besonders durch seine physikalischen Studien über die Augen von Tieren einen Namen gemacht hat. Einem besonders liebenswerten Lehrer, Dr. Otto Kallsen, der aber erst im Herbst 1865 bei der Einrichtung der Prima berufen wurde, habe ich nach 3 12

kleinen Schlafzimmer [..]: Verb fehlt; wohl zu ergänzen: zogen. unser Oheim: D. i. Adolf Theodor Thomsen.

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seinem Tode 1901 einen eingehenden Nachruf in der damaligen Hamburger Zeitschrift [73] „Der Lotse“ gewidmet. Eugen Petersen, der auch unserer Familie näher stand, ging schon im Jahre 1869 od. 1870 nach Plön; er hätte sonst vielleicht Bedeutung für mein Leben gewonnen, da er meinen Vater verständig u. wohlwollend beriet. Er war nicht eine Persönlichkeit, Knaben für sich zu gewinnen, da er die nicht ungewöhnliche Herbigkeit des Philologen an sich hatte. Aber er war auch als solcher ein trefflicher u. auf seine Art bedeutender Mann. Die folgenden Jahre waren gleich diesen zwei ersten geeignet, auf das Herz eines aufgeweckten Jungen starken Eindruck zu machen. Das Jahr 1865 war ein Jahr gespannter Erwartung: Das Land erwartete die endliche Einrichtung eines Herzogtums Schleswig Holstein unter seinem Herzog Friedrich VIII., der in der Tat mehrmals mit Herrn v. Bismarck verhandelt hat u. vergebens zu großen Einräumungen an die Krone Preußen sich bereit erklärte. Die Dinge kamen dann anders, als wir erwarteten u. wünschten. Am 14. August 1865 wurde in Wildbad-Gastein die Gasteiner Konvention zwischen Östreich u. Preußen abgeschlossen: Die Herzogtümer wurden geteilt, indem die Verwaltung von Holstein auf den Kaiser von Östreich, die von Schleswig an den König v. Preußen überging, während gleichzeitig der König v. Preußen auch Herzog von Lauenburg wurde, wofür eine kleine Entschädigung an Östreich gezahlt wurde. Es begann nun im Schleswigschen das Gouvernement Manteuffel, über das wir Knaben uns empörten. Wir hatten schon unsere Unzufriedenheit offen kundgegeben, als die gemischte Zivilbehörde die Feier des herzoglichen Geburtstages am 6. Juli untersagte, ja, wir demonstrierten dadurch, daß wir zu Hause blieben. Manteuffel ging gleich mit [77] großer Strenge vor. Da unser Oheim Thomsen, obschon er wohl im Herzen preußisch dachte (ein Sohn, war in der preußischen Marine u. hat es in der späteren deutschen zum Admiral gebracht), infolge davon sein Amt niederlegte, ist schon erwähnt worden. Auch andere Verwaltungsbeamte teilten seine Ansicht, daß die von dem Gouverneur ihnen zugemutete Verfolgung der Agitation zugunsten des Herzogs mit dem Eide nicht vereinbar sei, den sie dem Herzog geleistet hatten. Bald genug brachte der Krieg von 1866 die Lösung dieser Spannung, u. im folgenden Jahre, schon im Januar, fand die Einverleibung 1 27 33

Nachruf: Vgl. Tönnies 1901: 591−597. ein Sohn: D. i. August Friedrich Thomsen. Krieg von 1866: D. i. der sog. Deutsche Krieg um die Vorherrschaft in Deutschland zwischen Preußen und kleineren norddt. Staaten einerseits und Österreich, Bayern, Hannover u. a. andererseits.

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der zwei Herzogtümer in Preußen statt. Dies war für alle alten schleswigholsteinischen Patrioten, die viel dafür getan u. gelitten hatten, ein großer Kummer. Erschwerend wirkte, daß die preußischen Regierungsmethoden, militaristisch wie sie waren, den schleswig[79]holsteinischen Gewohnheiten nicht entsprachen u. unserer Denkungsart widerstritten. Der Gegensatz hat sich natürlich im Laufe der Jahre abgeschwächt, ist aber nicht erloschen. Zur Abschwächung wirkte schon der Krieg gegen Frankreich 1870, nachdem der Empfang des Königs Wilhelm I. noch recht kühl gewesen war. Vorher schon hatte die festliche Einweihung unseres neuen Schulgebäudes stattgefunden: Bei dieser Gelegenheit erlitt ich einen kleinen Schaden, der freilich ernste Folgen hätte haben können. Am Vorabend fand so etwas wie ein Kommers der ehemaligen Schüler statt, u. die beiden Klassen Prima u. Sekunda waren dazu geladen. Ich als neugebackener u. zwölfjähriger Sekundaner erreichte durch Bitten von meinem Vater, daß ich teilnehmen durfte, worauf ich stolz war. Mir gegenüber saßen zwei reifere Primaner, u. ich glaube, daß mein Vater, der selbst gegenwärtig war (obwohl kein alter Schüler), diesen einen Wink gegeben hatte, auf mich zu achten. Denn [81] ich merkte bald, daß sie mich beobachteten, u. es war ihnen wohl mein mutiges u. heftiges Biertrinken aufgefallen. Sie gaben mir also einen Wink, ich solle zu ihnen hinüberkommen. Ich ging um den Tisch herum u. stellte mich hinter ihnen auf, wollte über die hohe Banklehne klettern. Sie faßten mich an, um mich hinüberzuheben. Als sie mich hochgehoben hatten, bekam wohl mein Oberkörper das Übergewicht, u. ich fiel von oben in ein Bierglas, das in viele Stücke zersprang u. mir eine Wunde in der linken Augenbraue verursachte, die stark blutete. Mein Vater war bald zugegen mit seinem Jugendfreund Pastor Feddersen von Drelsdorf (einem Schwager Theodor Storms) u. mit dem trefflichen Dr. Storm. So wurde ich nach Hause geschafft, u. Dr. Storm legte mir drei Nadeln in die Wunde. Man scherzte über meinen ersten „Schmiß“. – Die Feier verlief in würdiger Weise. Ich habe dann auch die gedruckte Rede unseres Rektors Gidionsen gelesen, habe sie oft gelesen u. war immer davon angetan. [83] Übrigens vergingen mir die vier Halbjahre in der Sekunda normal u. nicht unerfreulich. Unser Klassenlehrer Otto Kallsen war ein kundiger u. in seiner ruhigen Art enthusiastischer Lehrer der Geschichte. Es wurde 9 26 27

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Vorher schon: Am 18. Oktober 1867. Pastor Feddersen: D. i. Harro Feddersen. trefflichen Dr. Storm: D. i der Arzt Aemil Ernst Wilhelm Storm, Theodor Storms dritter u. jüngster Bruder. gedruckte Rede: Vgl. Gidionsen 1867.

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damals der Grund einer Freundschaft zwischen uns gelegt, die bis zu seinem Lebensende im Januar 1901 gedauert hat. Im Herbst 1869 wurde ich in die Prima versetzt. Wie ich aus einem Brief der Mutter höre, waren Stimmen laut geworden, daß ich zu jung für diese Versetzung sei. Eugen Petersen aber hatte geltend gemacht, es tauge nicht, mich jetzt zurückzuhalten, man solle es lieber später tun, wenn ich ans Studium gelangt sei. Der gute Freund bedachte nur nicht u. sah nicht voraus, daß er selber nicht immer gegenwärtig sein würde, u. daß meine Eltern seinen Rat bald entbehren würden. Der Übergang in die Prima wurde auch dadurch für mich bedeutsam, daß er die zufällige Veranlassung ergab zu meiner näheren Bekanntschaft mit unserem Dichter Theodor Storm. Dessen Sohn Ernst Storm, der erst später mein naher Freund wurde, war [85] im mündlichen Abiturientenexamen, dessen Ausgang ich mit Spannung erwartete. Als ich die Treppe des Stormschen Hauses hinaufging, begegnete mir schon Ernst mit vergnügtem Antlitz. Er war durch u. hatte Eile, zu seinen Genossen zu kommen, um das Ergebnis zu feiern. Man behielt mich dort zum Abendessen, u. der Dichter hatte eben die ersten Korrekturbogen seines „Hausbuches aus deutschen Dichtern seit Claudius“ empfangen, er las mehreres daraus vor, auch aus Herders „Stimmen der Völker“ die ernste Geschichte von dem Schotten Edward u. seiner Mutter. Theodor Storm sagte, er werde seinen Sohn, der ihm manche Hilfe geleistet habe, vermissen – ob ich nicht seine Stelle einnehmen wolle, das Hausbuch zu korrigieren. Ich glaube, daß ich die Bedeutung der Druckkorrektur noch nicht kannte, aber ich willigte mit Freuden ein. So kam ich denn, bis das Buch fertig wurde, oft in das mir interessante Haus, u. da Storm mir immer die Originalbände der Dichter mit den Korrekturbogen ins Haus gab, so erlangte ich dadurch, [87] was man auf der Schule nicht lernte: eine für meine Jugend erhebliche Kenntnis der deutschen Lyrik, u. manche belehrende Zwiesprache mit einem Manne, der neuerdings wohl allgemein als eines ihrer Häupter anerkannt wird. Auch sonst waren diese ersten Semester in der Prima für mich außerordentlich wertvoll. Den Rektor gewann ich als meinen Lehrer lieb, wir lasen bei ihm Platons Apologie des Sokrates u. den Dialog Kriton, ferner Sophokles’ Ajas u. im Lateinischen Tacitus’ Agricola. Das war ein gewaltig fördernder Bildungsstoff, besonders durch die oft tiefgehenden Erläuterungen, die uns Gidionsen dazu gab. Ich habe noch manche Notizen aufbewahrt, die ich mir damals machte. Er sprach auch einmal über 17 19

Hausbuches: Vgl. Storm 1870. Stimmen der Völker: Vgl. Herders „Stimmen der Völker in Liedern“ (1807).

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Sozialismus u. Kommunismus u. ohne Verachtung über die französischen Theorien; vielleicht hat er auch Lassalles Erwähnung getan, von Marx war jedoch noch keine Rede. Bald war das Jahr 1870 da. Wir schritten nun zu Platons Phädon vor, u. der Rektor gab uns auch seine Horaz-Stunden, die er durch [89] manchen Humor u. Witz würzte. Mit meinem Altersgenossen u. Freunde Ludwig Kaspers, dem Sohn des Propsten u. Nachbarn, hatte ich eine Flußwanderung ins östliche Holstein verabredet, u. am 1. Juli machten wir uns auf, u. sie führte uns nach Plön u. nach Eutin, von da an die schönen Seen, den Dieksee, Kellersee u. den Uklei, endlich fuhren wir noch nach Lübeck mit dem Postwagen; die Eisenbahn ging noch nicht auf diesem Wege dahin, u. auf irgendeine Weise, die mir nicht enträtselt wurde, kam ich um acht Talerscheine, die ich bei mir trug; wahrscheinlich sind sie dem Schlummernden entfallen. Kaspers hatte ohnehin nicht viel Geld mitbekommen, u. als wir im berühmten Ratskeller, der damals noch seine alte Gestalt bewahrte, uns gütlich getan hatten, machten wir die Entdeckung, daß unsere Wegzehrung zu schwach war. Entschlossen begaben wir uns ins Postamt, u. ich telegraphierte nach Husum, wo einige Bestürzung erregt ward, man erinnerte sich der Nähe von Travemünde u. der dort noch blühenden Spielbank, aber mit [91] Unrecht. Hingegen kam ich auf den Gedanken, meinen lieben u. kinderlosen Oheim, Herrn Pastor Sörensen, zu besuchen, seine Frau war die jüngste Schwester der Mutter. Das holsteinische Kirchdorf war in erreichbarer Nähe von Lübeck, u. wir wanderten am nächsten Abend dahin. Eine freundliche, ja herzliche Aufnahme wurde uns zuteil, u. ich hatte die ernste Absicht, das Geld, dessen wir bedurften, von dem wohlwollenden (übrigens auch wohlhabenden) Onkel mir auszubitten. Im letzten Augenblick aber versagte mir der Mut. U. so zogen wir ab wie die dummen Jungen, die wir am Ende ja auch waren. Auch waren wir ja ziemlich zuversichtlich, das nötige Geld in der Marlesgrube in Lübeck anzutreffen wo wir in einem freundlichen kleinen Gasthof wohnten, in dem auch Schüler des Katharineums ihre Mahlzeiten einnahmen. Für uns hieß es nun aber die Heimreise antreten. Die Eisenbahn von Lübeck nach Hamburg war schon vorhanden. Es erschien uns aber als unerlaubt teuer, [93] über Hamburg nach Husum zu fahren, zumal, da wenigstens ich sehr wünschte, noch nach Kiel zu gelangen, wo ich wußte,

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Kaspers: Auch: Caspers. Propsten u. Nachbarn: D. i. Andreas Jürgen Christian Caspers. Pastor Sörensen: Gemeint ist Heinrich Johann Friedrich Sörensen. holsteinische Kirchdorf: D. i. Klein-Wesenberg.

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bei Onkel u. Tante Thomsen am Jägersberg willkommen zu sein. So faßten wir denn den Entschluß, von Lübeck nach Plön fünfeinhalb deutsche Meilen zu Fuß zu wandern, u. wir traten am nächsten Tage diese Wanderung an. Es war ein langer u. anstrengender Weg auf der chaussierten Landstraße, den wir bei gutem Wetter u. nur mit einem kurzen Aufenthalt in Ahrensboek mühsam fertigbrachten, ich fuhr dann am Abend noch nach Kiel, wohin mein Kamerad Kaspers sich begab, erinnere ich nicht. In Kiel u. im Hause meines politischen Oheims wurde ich rasch ein lebhafter Zeitungsleser. Denn nun hing man in der äußersten Spannung an den Vorgängen in Bad Ems. „König Wilhelm saß ganz heiter.“ Wenn ich nicht irre, erlebte ich noch das Eintreffen der französischen Kriegserklärung, während ich noch in Kiel verweilte. Die Ereignisse hätten genügt, das Verlangen nach Hause in mir unwiderstehlich zu machen; überdies [95] aber war das Ende der Ferien nahe herbeigekommen. Als ich das Vaterhaus betrat, wurde ich vom Vater selber empfangen, u. als ich ihm die vielsagenden Worte entgegenrief: „Ich will mit!“, lohnte er diesen Ausspruch patriotischer Gesinnung dem Knaben, der gerade das fünfzehnte Lebensjahr vollendet hatte, mit einer gelinden Ohrfeige. Er selber war in nicht geringer Aufregung, u. so blieben wir ja dann ein halbes Jahr lang, während die Aufregung immer mehr in eine Stimmung des Jubels u. der Befriedigung überging. August u. September waren wohl die erhebendsten Monate für Alt u. Jung. Zwei Vettern, die ich gut kannte, u. von denen der eine mit vierundachtzig Jahren noch lebt, während ich dies schreibe, nahmen an der Belagerung von Metz teil; auch zwei oder drei von meinen Kameraden der Prima waren an der Front. Die alle Tage am Rathaus angehefteten Telegramme, zumeist vom König Wilhelm an die Königin, wurden mit Heißhunger verschlungen, u. man glaubte bald, der Krieg werde ein frühes Ende nehmen. Diese Erwartung [97] u. Stimmung steigerte sich bis zur Siedehitze, als die Nachricht von Sedan u. der Gefangenschaft des französischen Kaisers kam, dem oder mehr noch der Kaiserin Eugénie, man allgemein die Schuld am Kriege zuschob. Es war ein bewegter Tag. Zum erstenmal war die Bewegung so groß, daß unser würdiger Rektor Wilhelm Gidionsen seine Unterrichtsstunde mit den

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deutsche Meilen: In heutige Maßeinheit umgerechnet 40,8 Kilometer. Ahrensboek: Heute (2005): Ahrensbök. „König Wilhelm saß ganz heiter“: Anfang eines auf Wolrad Kreusler zurückgehenden Spottgedichtes. Kriegserklärung: Vom 19. 7. 1870. Nachricht von Sedan: Dort dt. Sieg am 1. 9. u. Gefangennahme von Napoleon III.

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freundlichen Worten eröffnete: „Nun, meine jungen Freunde, heute kann ich Sie wohl nicht hier zurückhalten. Kaum war das gesagt, da befanden wir uns auch schon draußen. In dem damals angesehenen Gasthof „Zur Stadt Hamburg“ fanden wir uns wieder u. mußten natürlich den Tag durch einen kräftigen Frühschoppen feiern. Die Lage der Dinge wurde atemlos besprochen. Es war auch ein Student in unserer Mitte: er war erst im Herbst vorher abgegangen, ein begabter, aber leider pathologisch stark belasteter Studierender der Mathematik, der wohl nicht kriegsdienstfähig war. Er war sehr begeistert u. gab seine Begeisterung dadurch kund, [99] daß er, in der Ecke eines großen Diwans sitzend, unablässig u. unermüdlich vor sich hin sang oder vielmehr vor sich hin summte: Was kraucht denn in dem Busch herum? Ich glaub, es ist Napolium, Napi pa polium. Wenn ich richtig unterrichtet bin, so stammen diese schönen Verse noch aus der Zeit des ersten Bonaparte. Der Krieg ging bekanntlich weiter, u. einige mir bekannte junge Männer kamen erst ins Feld, darunter, eben erst Student geworden, mein guter Freund u. Liebling unseres Hauses, in dem er einen Freitisch hatte, Fritz Nissen, der erst vor etwa zwölf Jahren als Prediger in Flensburg verschieden ist. Er war ein Jüngling von unverwüstlichem Humor, auch sonst von lebhaftem Geist u. Verstand. Wir hatten oft getrieben, was wir nicht ohne Selbstironie Philosophieren nannten, hatten aber eine ehrliche Wißbegier miteinander gemein. Vielleicht mehr noch aber beschäftigten uns unsere Verliebtheiten, die bei ihm immerhin seinem Alter angemessen, bei mir ganz verfrüht waren. [101] Ich erhielt von Nissen auch einige Briefe aus seiner Soldatenzeit. Einer davon war aus Reims geschrieben, u. darin befand sich ein kleines Bildnis der Kathedrale: Diesen Brief habe ich erst vor kurzem einer Tochter meines Jugendfreundes überreicht, der trefflichen Frau des trefflichen Doktor Harms, Arztes in Eutin. Dies Jahr (1870) gewann noch eine besondere u. schwerwiegende Bedeutung für meine Entwicklung. Einige Erinnerungen an die Lehrtätigkeit unseres Rektors Gidionsen habe ich früher in einer Selbstdarstellung, die einer von Raymund Schmidt herausgegebenen Sammlung einverleibt wurde 20

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vor etwa zwölf Jahren: Fritz Nissen starb 1909, d. h. vom Februar 1935, der mutmaßlichen Zeit des Diktats aus gesehen, vor 26 Jahren. Erinnerungen: Vgl. Tönnies 1922.

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(Verlag Felix Meiner, Leipzig), mitgeteilt, auch nicht verhehlt, daß ich an dem Verlust dieses mir verehrten Lehrers gelitten habe. Sein Nachfolger Karl Heinrich Keck war auch ein sehr begabter u. bewanderter Mann, der freilich auch oft Zweifel wachrief, aber als Lehrer in Husum bei seinen Schülern lebhafte Anerkennung fand. Ich setzte ihm anfangs einen lebhaften Widerstand entgegen, wie er in der Klasse wohl auch von einem oder dem andern Schüler bemerkbar wurde. [103] Dieser Widerstand ließ aber allmählich nach, weil der neue Direktor, der i. a. ein lebhaftes u. heiteres Wesen hatte, mir entgegenkam, u. weil ich auch mit seinem Sohn, der leider als hoffnungsvoller junger Gelehrter ein vorzeitiges Ende in Griechenland fand, befreundet wurde. „Karl Heinrich“, wie wir ihn oft nannten (er hatte auch unter diesem Namen gedichtet), wußte uns die griechische Tragödie interessant zu machen. Aber während ich immer dem Konrektor Otto Kallsen treu blieb, von dem ich gesagt habe, daß er mit dichterischem Sinne u. jenem Enthusiasmus, den Goethe preist, in der Geschichte lebte, auch in seiner treuherzig ernsten Art uns Schülern etwas von seiner Empfindung für die Herrlichkeit der mittelalterlichen deutschen Städte einzuflößen wußte; doch ich kam um diese Zeit unter einen ganz anderen Einfluß, von dem ich an der bezeichneten Stelle schon gesprochen habe, den Einfluß J. H. Schmidts, in dessen Wohnung ich dann viele für mich sehr anregende Stunden verlebt habe. Ich wurde trotz meiner Jugend so etwas wie ein Mitarbeiter für ihn in seinen Vorarbeiten für die griechische Synonymik.[105] Er war ein sehr merkwürdiger Mann: groß u. stark, originell, war er in ziemlich jungen [..] nach Amerika ausgewandert u. hatte dort in ziemlich dürftiger Weise sein Brot verdient, z. B. als Verkäufer von Traktätchen. Er hatte aber sein Griechisch nicht vergessen, das er, soviel ich weiß, an einem Mecklenburger Gymnasium – denn aus diesem Lande knorriger u. humorvoller Menschen stammte er – […]. Heimgekehrt, hatte er dann in unglaublich kurzer Zeit als Extraneus das Abiturientenexamen bestanden, einige Semester in Rostock studiert, dann promoviert u. das Examen für das höhere Lehramt gemacht. Ungefähr um die gleiche Zeit muß der erste 7 10 14 19 23 25 29

bemerkbar wurde: Danach Beginn von Heft III. Sohn: D. i. Otto Keck. von dem ich gesagt habe: Vgl. Tönnies 1922: 3 (205). schon gesprochen: Vgl. ebd.: 4 (206). Synonymik: Vgl. Schmidt 1876 / 1886. ziemlich jungen [..]: zu ergänzen: Jahren. stammte er […]: zu ergänzen: gelernt hatte.

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Band seines Werkes „Die Kunstformen der griechischen Poesie“ herausgekommen sein. Dieser Band enthielt schon seine an Rudolph Westphal sich anlehnende Theorie der kritischen Rhythmik, von der er immer behauptet hat, daß sie auch Westphal gegenüber durchaus seine eigene Schöpfung sei. Auch ich habe diese These lebhaft vertreten, nehme aber längst kein Urteil mehr darüber in Anspruch. Schmidt hatte in Husum einige [107] Gepflogenheiten, durch die er auffiel: Insonders benutzte er die Schulferien, um seine umfangreichen naturgeschichtlichen Sammlungen zu pflegen. So rühmte er sich, daß er mit nackten Beinen im Wattenmeer bei Ebbe herumwatete u. die Diatomeen sammelte; es machte ihm Ehre, daß er schon auf die Bedeutung dieser einzelligen Lebewesen aufmerksam geworden war, wovon man im übrigen damals noch wenig wußte. Schmidt nannte seine Arbeiten seine Erholung. Mein Verkehr mit ihm war durchaus privat u. für mich sehr belehrend. Einmal aber war er auch mit der Sophokles-Stunde bei uns Primanern beauftragt, die sonst Keck’s eigenes Departement war. Schmidt nahm auch an der Geselligkeit teil; zumal soweit sie öffentlich war. Er tanzte gern, u. zwar am liebsten mit anmutigen jungen Mädchen; als Grund seiner Tanzneigung erzählte er ihnen dann wohl, das Tanzen sei seiner Gesundheit zuträglich, worauf ein junges Mädchen geantwortet haben soll, sie danke dafür, sein Kamillentee zu sein. Das gesellige Leben war [109] übrigens ziemlich lebhaft u. heiter. In ziemlich weitem Kreise bewegte es sich durch die Konzerte des von Theodor Storm geleiteten Gesangvereins. An diesem habe ich auch mit meinem jugendlichen Tenor im Kriegswinter 1870 / 71 teilnehmen dürfen. Wir sangen u. a.: „Kein schön’rer Tod ist in der Welt als der vom Feind erschlagen …“ Auch das siebenbürgische Jagdlied, das ich später als Student von neuem kennenlernte, wurde von uns gesungen. In der „Gesellschaft“ gab es auch ein Kränzchen, worin unter Teilnahme mehrerer Lehrer des Gymnasiums mit verteilten Rollen klassische Dramen gelesen wurden; meine Mutter schreibt zuweilen sehr befriedigt darüber an meine Schwester. Daran durfte auch ich frühreifer Jüngling zuweilen teilnehmen. Auch lasen wir in einem ganz männlichen Kreise von Schülern mit verteilten Rollen u. nicht geringem Pathos, abwechselnd in unseren Wohnungen. Aber die Chronologie dieser Übungen ist mir 1 3 10 24 30

Band: Vgl. Schmidt 1869; der 2. Band folgte 1872. kritischen Rhythmik: Korrekt wohl: griechischen Rhythmik. Diatomeen: Kieselalgen. wir sangen u. a.: Auf Jakob Vogel (um 1620) zurückgehendes „Schlachtlied“. an meine Schwester: Wohl richtig: an ihre Schwester. Gemeint ist vielleicht Charlotte Dorothea Mau, Tönnies’ Tante.

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nicht im klaren Bewußtsein geblieben. Etwas mehr kann ich erzählen von dem Sophokles-Verein, zu dem wir Primaner – eine kleine Schar – schon [111] im Kriegswinter zusammenkamen. Die Seele dieser Zusammenkünfte war ein unter uns aufgetauchter Mitschüler, der, vierzehn Jahre älter als ich, damals neunundzwanzig, schon in jungen Jahren, wenn ich nicht irre, Primaner gewesen war, u. dann die Vorbereitung zum Studium abgebrochen hatte, um eine lange Reihe von Jahren hindurch in Hamburg-Eimsbüttel zu wirken u. das Geld zur Fortsetzung seiner Laufbahn zu verdienen. Er war ein reifer u. ein eifriger, wenn auch wohl nicht eben orthodoxer protestantischer Theologe. Ich stelle mir noch gern vor, wie er schon mit seinem etwas gebeugten Körper in seinem Zimmer redend – oder soll ich sagen predigend – auf u. ab ging u. mich unreifen u. ungläubigen Knaben für seine Gläubigkeit zu gewinnen suchte. Zuweilen wurde auch in unserem Sophokles-Verein lebhaft über Politik gesprochen, wovon Großkreuz – so hieß der junge Mann, u. er war aus Husums Nachbarort, Friedrichstadt, gebürtig – jedenfalls viel mehr als wir verstand. Wir hielten zusammen die Brockhaus’sche Zeitschrift „Unsere Zeit“, die wohl als Materialansammlung für das Konversationslexikon diente; vom 1. Januar 1871 ab dann die neu erscheinende [113] Konkurrenz für die „Grenzboten“, genannt „Im neuen Reich“ – auf dies Wochenblatt hatte Gustav Freytag seine ganze Tätigkeit als Journalist übertragen, während der Herausgeber Alfred Dove später ein Professor der Geschichte geworden ist. Ich bewahre noch die ersten Bände dieser Zeitschrift, die etwa noch fünfzehn Jahre lang herausgekommen ist. Großkreuz ist, nachdem er 1871 Student der Theologie geworden war, als solcher bald gestorben. Er hatte schon lange an Epilepsie gelitten. Ich gedenke seiner gern, weil ich von seiner Redlichkeit überzeugt war. Ich konnte schon im Herbst 1871, wie Karl Heinrich oft betonte, als Maturus abgehen. Er wollte mich aber gern noch ein halbes Jahr in der Prima behalten, damit ich, wie er manchmal sagte, wie ein reifer Apfel vom Baume fiele. Das Abiturientenexamen, in das ich mit vier Kameraden ging, von denen einer nach dem schriftlichen Examen zum Rücktritt veranlaßt wurde, fand im Februar 1872 statt. Nachdem es bestanden war, erhielt ich einen Urlaub, wie ich denn auch schon im Sommer 1871 einen Urlaub von fünf bis sechs Wochen, woran sich die Sommerferien [115] anschlossen, genossen hatte. Beide willkommenen Privatferien verlebte ich bei meinem 3 14 27

Kriegswinter: D. i. 1870 / 71. wovon Großkreuz: D. i. Christian Großkreutz. wie Karl Heinrich: D. i. Karl Heinrich Keck.

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lieben Verwandten Jeß auf dem Gut Probsteierhagen, dessen Pächter mein Oheim war. Er war ein ausgezeichneter Landwirt u. fühlte sich durch die Kündigung, mit der die Verwaltung des großen Fideikomisses ihn bedacht hatte, tief gekränkt, u. genötigt, noch im gleichen Jahr 1872 nach Kiel zu ziehen, wo er noch mehr als zwanzig Jahre gelebt hat. Inzwischen war der Tag meines Abganges bestimmt worden, für den ich einen Vortrag „über literarische Bewegungen, die der Reformation vorangingen“, angemeldet u. inzwischen ausgearbeitet hatte. Er bezog sich hauptsächlich auf Sebastian Brandt, Geiler von Kaysersberg u. andere Geister, die vorzüglich im Elsaß ihre Heimat hatten. Ich benutzte dafür stark das damals neue Werk von Ottokar Lorenz u. Wilhelm Scherer. Zum erstenmal machte ich bei dieser Gelegenheit Gebrauch von einer großen öffentlichen Bibliothek, der mir auch heute noch zur Verfügung stehenden Kieler Universitätsbibliothek. Ich stand nun auf einer Höhe, die für mein Alter etwas zu hoch war. Meine Mutter charakterisierte mich treffend, wenn sie damals an ihre Schwester schrieb: Ferdinand ist ja in gewisser Beziehung recht selbständig, aber noch so unerfahren u. jung. Hier hat er sich die Liebe aller Lehrer erworben, u. so wird er sich auch dort seinen Weg bahnen. Empfehlungen hat er mehrere, u. a. eine vom Dichter Storm an den Professor Max Müller, aus Oxford nach Straßburg gegangen. In dem gleichen Briefe schrieb sie, es sei nicht leicht u. mache dem Mutterherzen viel Sorge, einen so jungen Menschen von sechzehneinhalb Jahren so weit fort in das Studentenleben gehen zu lassen. Von diesen Sorgen ist [119] damals nichts an mich herangetreten, u. ich hätte sie schwerlich auf mich wirken lassen. Andererseits darf ich sagen, daß ich nicht geschwollen war: das Kritische u. Skeptische in meiner Natur war schon angelegt, wenn auch noch wenig entwickelt; ich dachte überhaupt kaum darüber nach, so daß auch das glänzende Abiturientenzeugnis, das ich erhielt – „vorzüglich“ in vier Hauptfächern u. „gut“ in allen übrigen – mir keinen großen Eindruck machte. Die Hauptsache war mir zunächst Straßburg – dahin rief mich meine Gesinnung, u. diese hatte ich nach dem Geiste des Tages gebildet, so daß ich mir damit wichtig vorkam. Übrigens schien es sich von selbst zu verstehen, daß ich

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dessen Pächter: Gemeint Adolf Jeß. Fideikomisses: Unveräußerliche, nur als Ganzes vererbliche Vermögensmasse. neue Werk: Vgl. Lorenz / Scherer 1871. an ihre Schwester schrieb: Der Brief in TN nicht überliefert.

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klassische Philologie mit dem Hauptgewicht der kritischen Dichtung studieren wollte. Dahin wirkten nicht nur meine Leistungen in der Prima, sondern mehr noch mein Umgang mit J. H. Schmidt, der mich fesselte. Schmidt steht auch heute noch vor mir als ein außerordentlicher Mensch, wie in seiner äußeren Erscheinung, so seinem inneren Wesen nach: Er imponierte mir, u. ihm nachzueifern, wenigstens in einem der Gebiete [121] seiner Tätigkeit erschien mir als eines ehrlichen Strebens wert. In der Tat hatte ich schon angefangen, Stellen besonders aus Sophokles für seine Synonymik zu sammeln, worüber er später im vierten Band seiner „Kunstformen („Metrik“) u. im ersten Band seiner „Synonymik der griechischen Sprache“, der i. J. 1876 erschien („Durch manche andere Stellen, namentlich aus Sophokles, die mir vielleicht entgangen wären, unterstützte mich F. Tönnies“) berichtet hat; er sprach dann noch von den Leistungen eines Mitschülers u. Freundes Otto Keck, s. o. u. spricht von den beiden ihm teuren Husumer Schülern, welche auch auf der Universität mir ihre freundliche Gesinnung bewahrten u. durch Talent u. ernstes Streben zu den besten Hoffnungen berechtigen. Ich könnte sagen, daß ich mit tausend Masten in die Welt hinausgefahren sei – denn Deutschland war damals für uns noch die Welt u. fing erst mit Hamburg an. Ich hatte aber keineswegs das Gefühl, mit tausend Masten zu segeln. Ich wurde durch alles Neue zu sehr in Anspruch genommen. Mein lieber Vater begleitete mich u. nahm zugleich [123] seine beiden älteren Söhne mit nach Hamburg, wo mein ältester Bruder seine kaufmännische Lehre beendet u. eine Stelle bei einer anderen Firma angenommen hatte; ebenso wollte Wilhelm, der die Landwirtschaft erlernt hatte, eine neue Stellung, u. zwar bei unserer Tante auf Projensdorf antreten. Ich erinnere mich noch, mit welchen bewundernden Augen ich zu der Halle des damaligen recht bescheidenden Dammtorbahnhofs im Hamburg emporsah. Ich fand ein gutes Quartier in der Wohnung, die mein ältester Bruder innehatte, während Wilhelm mit dem Vater in einem der großen Hotels am Jungfernstieg übernachtete. Dem Vater machte es Vergnügen, uns alle in einem der berühmten Beefsteakkeller am Jungfernkeller zu bewirten, wo es einen guten Rotwein gab; wahrscheinlich ist es Wilckens’ Keller gewesen, der später in Gestalt eines großen Restaurants erhöhtes Ansehen gewann u. zeitweilig 1 10 23 26 32

der kritischen Dichtung: Gemeint wohl griechische Dichtung. („Metrik“): Vgl. Schmidt 1872 u. 1876; die folgende Widmung ders. 1876: 1. Bd., XV. ältester Bruder: D. i. Gert Cornils Tönnies. bei unserer Tante: D. i. Charlotte Trummer. Jungfernkeller: Korrekt wohl: Jungfernstieg.

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von einer Aktiengesellschaft geführt wurde. Ich blieb noch einige Tage bei meinem Bruder in Hamburg, während Vater u. der andere [125] Bruder je in ihre Heimstätte zurückkehrten. Mein Bruder Johannes versah mich mit guten Lehren u. auch mit einigen wohlerhaltenen Kleidungsstücken, die er in Hamburg glaubte ablegen zu müssen, die ich mir gern zueignete. Ich reiste dann mit einer durchgehenden Fahrkarte, die aber verlängerte Geltung hatte, nach Straßburg ab, in zweiter Klasse, wie es mir damals sich von selbst zu verstehen schien. Die erste Nacht verbrachte ich in Kassel, die zweite in Frankfurt. In Kassel erhielt ich einen großen Eindruck von der holländischen Malerei, besonders von Rembrandt, wohlvorbereitet wie ich war durch die früher erwähnten Stunden bei Aldenhoven. In Frankfurt a. M. begegnete meiner Unerfahrenheit u. Dummheit ein ärgerlicher Unfall, indem ich durch ein kleines Kollegium von Taschendieben, oder wie ich sie nennen soll, zu einem Spielchen (Gimmelblättchen) verführt wurde, das mich um ein ganzes Bündel der schmutzigen Talerscheine, mit denen man [127] damals reiste, erleichterte. Wahrscheinlich hatte man mich vorher durch ein unschädlich schmeckendes milchartiges Getränk betäubt, Szene ein einsamer Wirtschaftsgarten, es war ja noch früh in der Jahreszeit. Trotz dieses großen Ärgernisses, das mich durch das ganze Semester umsomehr verfolgte, da ich mich scheute u. schämte, es meinem Vater zu gestehen, darum durch Sparsamkeit versuchte, den Verlust wieder einzubringen – dessen ungeachtet genoß ich lebhaft die Bekanntschaft mit der Krönungsstadt u. der Heimatstadt Goethes, genoß ich dann ebenso Heidelberg, wo ich an einem schönen Frühjahrsnachmittag eintraf u. in Schrieders Hotel abstieg. Ich war von Heidelberg entzückt u. lernte auch bei einem Ausflug am anderen Tage einige mir sympathische Studenten kennen, die wenigstens zum Teil ebenso wie ich grüne Anfänger waren. Mein Unternehmen, nach Straßburg zu gehen, fand den Beifall dieser Kameraden. [129] In Straßburg suchte ich den einzigen deutschen Gasthof auf u. hatte noch eine kurze Weile vor dem Feste Muße genug, den Münster zu besteigen, um die damals nicht gerade anmutige Stadt – sie trug überall noch die Spuren der langen Belagerung – neugierig zu betrachten. Die Feier des ersten Mai war höchst würdig u. verfehlt ihres Eindruckes auf mich nicht. Es waren auch einige Professoren der ehemaligen französischen Hochschule geblie-

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Aldenhoven: D. i. Karl Aldenhoven, während der Berichtszeit Lehrer am Husumer Gymnasium. vor dem Feste: Das sind die Feierlichkeiten zur Neugründung der nunmehr dt. KaiserWilhelm-Universität Straßburg.

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ben u. nahmen an der Feier teil. Die Studentenschaft des gesamten neuen Reiches hatte eine Auslese gesandt, in der ich einige Bekannte wiederfand, andere bald kennenlernte: Mitglieder von Burschenschaften Corps u. anderen Verbindungen. Nachdem die Feier vorüber war, bemühte ich mich zunächst um eine neue Bude u. fand dabei zunächst die Unterstützung eines anziehenden jungen Mannes, des Herrn von Beaulieu-Marconnay, eines Oldenburgers, der gleich vielen seiner Herkunft der berühmten Germania zu Jena angehörte. Wir hatten keinen Erfolg. Ich quartierte mich zunächst in [131] einem der Zelte ein, die für die Studenten hergerichtet waren u. habe dort noch mehrere Nächte geschlafen. Inzwischen wuchs mein Entschluß rasch, Straßburg, noch ehe das Semester im Gange war, mit einer anderen Universität zu vertauschen. In meinem Sinne u. in einem für mich hellen Licht lag Jena, wovon ich durch mehrere Vettern, die zur Mau-Vetteria gehörten, viel Schönes gehört hatte. Etwas trug auch dazu bei die von mir im Winter vorher gelesene Novelle meines Landsmannes Wilhelm Jensen; ich glaube, es war die zweite der „Drei Sonnen“. Überdies befand sich ein leiblicher u. längst bekannter Vetter Friedrich Mau unter den Studierenden, die das Straßburger Fest zierten; er war als Abgeordneter der Kieler Teutonia aus Jena, wo er, schon ein Student der Theologie höheren Semesters, verweilte, hergekommen. Mit ihm war für die Arminia auf dem Burgkeller ein gleichfalls etwas angejahrter Mediziner Christian von Harbou, Sohn des fürstlich Reußischen Ministers, der wegen einer [133] entfernten Verwandtschaft sich auch zu der Vetteria rechnete, da er umsomehr auch mir sein Wohlwollen schenkte. Auf der Reise verweilten wir noch in Heidelberg, wo wir einem Kneipabend der Alemannia beiwohnten, welcher Burschenschaft später auch Max Weber angehört hat; für meinen Geschmack war dieser Abend u. das Zechen etwas zu stürmisch; es waren viele „Füchse“ aus Ostpreußen vorhanden, darunter ein Sohn des bekannten freisinnigen Abgeordneten v. Saucken-Tarputschen. Um nach Jena zu kommen, mußte man noch in Apolda aussteigen, um sich dann in den „Bummler“, einen etwas gebrechlichen Omnibus, verladen zu lassen, der in etwa zweieinhalb Stunden uns, wenn meine Erinnerung

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„Drei Sonnen“: Vgl. Jensen 1873. Arminia: Burschenschaft in Jena; vgl. Kaupp 1996: 56 ff. des fürstlich Reußischen Ministers: Gemeint ist Adolf von Harbou. da er umsomehr: Richtig wohl: daher umsomehr auch mir. v. Saucken-Tarputschen: Gemeint ist Kurt von Saucken-Tarputschen. Ende von Heft III. Am Anfang des folgenden Heftes IV steht: Angefangen 28. Januar 1935.

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richtig ist, durch das Johannistor führte. Jedenfalls sah ich bald die roten Mützen u. schwarz-rot-goldenen Bänder, die mich lockten. Es war ein schöner Sommerabend, dieser Tag meiner Ankunft. Ich lernte bald einige von den Arminen kennen. Es waren zumeist Neulinge (Füchse) wie ich selber. Schnell lernte ich die Reize des Bummels um den Fürstengraben kennen u. begegnete dort zuerst zwei stattlichen Jünglingen, die sich mir als Landsleute vorstellten: die Brüder Carl u. Hermann Nissen, von denen Carl, der ältere, der Medizin, Hermann wenigstens dem Namen nach der Jurisprudenz beflissen war. Sie waren zwar ihrer Herkunft nach SchleswigHolsteiner, hatten aber das Lübecker Katharineum absolviert, u. der Vater war Rechtsanwalt in Grevesmühlen (Mecklenburg). Von Anfang an waren sie mir natürlich etwas näher als die Thüringer, an deren Wesen u. Umfangsformen [137] der Norddeutsche sich erst gewöhnen muß. Ich hatte ein vorläufiges Quartier in der Bude meines Vetters Friedrich Mau, der noch einige Tage länger auf sich warten ließ u. mir diese Gastfreundschaft angeboten hatte. Er hätte eigentlich als Kieler Teutone bei den Jenenser Teutonen Kneipgast sein müssen, denn es bestand schon damals das sog. süddeutsche Kartell. Er zog es aber vor, nur 1x in der Woche dahin zu gehen, im übrigen aber sich an den Burgkeller zu halten, zu dem er ebenso wie ich schon eine Beziehung zu haben meinte, er durch seinen Bruder u. die Vettern Jeß. Ich machte in seiner Bude Bekanntschaft mit seinen Studien, die er damals wohl nicht mit Eifer betrieb. So las ich nicht ohne einen gelinden Schauder den Hutterus, der ja von Karl Hase unter dem Titel „Hutterus redivivus“ als Kompendium der altlutherischen Dogmatik erneuert war. Ich selber hing noch mit der Theologie insoweit zusammen, daß ich meinte, gleich meinem längst verstorbenen Oheim, dem ältesten Bruder meiner Mutter, mich in den beiden Fakultäten, der philosophischen u. der theologischen, immatrikulieren lassen zu sollen. Es hatte wohl eine Portion Eitelkeit ihren Teil daran, denn ich hatte keine Neigung, die Theologie näher kennenzulernen. Vielmehr [139] belegte ich bei Kuno Fischer die Logik morgens um sieben bis acht Uhr, setzte aber den Besuch nicht lange fort u. hatte irgendwo sein gedrucktes Lehrbuch gefunden, in dem ich dann Ersatz suchte. Auch belegte ich lateinische Grammatik bei Nipperdey, habe aber auch davon nur wenig genossen. Ich gab mich dem

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durch seinen Bruder und die Vettern Jeß: Das sind Heinrich Mau sowie Karl und Theodor Jeß. Hutterus redivivus: Vgl. Hase 1829. meinem längst verstorbenen Oheim: D. i. Heinrich August Mau.

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Studentenleben hin, freilich gehemmt durch Knappheit meiner Mittel, nachdem ich nicht gewagt hatte, meinem lieben Vater den selbstverschuldeten Ausfall, der mir in Frankfurt am Main zuteilgeworden war, zu bekennen. Unter meinen Gefährten waren einige sehr respektable ältere Semester, von denen mehrere erst vor einem Jahr aus dem Feldzug heimgekehrt waren, darunter der bekannte spätere Staatsminister Karl Rothe. Aber auch unter meinen Konfüchsen war wenigstens einer, der den Feldzug mitgemacht hatte: es war Paul Herpich aus Berlin, er stammte aus der bekannten Pelzfirma u. war wohl, wie man seinem greisen Vater, den ich später kennenlernte, es ansah, israelitischer Herkunft; ihm selber war davon nichts anzumerken, außer seiner geistigen Lebhaftigkeit u. einem ebenso freundlichen wie intelligenten Wesen. Sein späteres Schicksal aber ist nicht heiter gewesen. Mit ihm u. Hermann Nissen [141] wurde ich bald befreundet. Ja, wir drei ließen uns zusammen abbilden unter dem von Nissen erfundenen Namen: das Rehaugen-Kartell, welcher Name der Bewunderung für die Rehaugen meiner schönen zweiten Kusine Thomsen aus Tönning galt, an der eben Nissen nichts so anbetungswürdig fand als ihre Augen u. in seiner Art dafür schwärmte. Übrigens aber galt mein täglicher Umgang, durch Nachbarschaft vermittelt, mehr einem anderen Kameraden, der mir im Lebensalter erheblich, aber auch sonst durchaus überlegen war. Er hieß Ludolf Weidemann, war ebenfalls vom Lübecker Gymnasium, ebenfalls Holsteiner, u. Theologe. Er hat bis in hohes Alter als Pfarrer in Südholstein – Kirchspiel Quickborn – gelebt, nachdem er viele Jahre lang nach einem anderen Beruf sich umgesehen u. auch als Dichter sich versucht hatte. Ich besuchte ihn ziemlich oft in seiner Bude auf der Lachenbrücke, nachdem ich selbst Stube u. Kammer im Hause des Seilers Artus gefunden hatte, der außer seinem Handwerk einen Laden in allerhand nützlichen Waren betrieb. Meine Wohnung, in einem neuen Hause, war stattlicher als die gewöhnlichen jenaischen Studentenbuden jener Zeit. Durch Weidemann [143] wurde mein Interesse für theologische Kontroversen gesteigert. Ich war schon mitten darin, nachdem ich als mulus aus Büchern meines Oheims Jeß u. Zeitschriften, die er gehalten hatte, Kunde von F C Baur u. der Tübinger Schule empfangen hatte. Das

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Karl Rothe: 1922 widmete Tönnies ihm seine „Kritik der öffentlichen Meinung“. Vgl. Tönnies 1922b u. 2002a (TG 14). mulus: [lat.] Maultier, hier der scherzhafte Ausdruck für den angehenden Studenten zwischen Reifeprüfung und Studienbeginn. Oheims Jeß: Gemeint ist wohl Adolf Jeß.

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Neueste auf diesem Gebiet aber nahm meine Aufmerksamkeit sehr in Anspruch: David Friedrich Strauß, Der Alte u. der Neue Glaube, welches Buch nebst dem bald folgenden „Ein Nachwort als Vorwort zu den späteren Auflagen“ ich käuflich erwarb. Auch suchte u. las ich mit Eifer viele Besprechungen, die ich bald im Museum, einem Leseraum, suchte u. fand. Von den Arminen war ich wohl der einzige, der dort abonniert war; der Bund hatte früher die Zugehörigkeit obligatorisch gemacht; nach dem Kriege begnügte er sich damit, einige Zeitungen auf dem Burgkeller zu halten: Die Geldverhältnisse waren offenbar schlechter geworden. Ich lernte im Museum zuerst die Frankf. Zeitung kennen, die meinen politischen Verstand erheblich bildete u. mich besonders den Kulturkampf Preußens, dem ich mit Eifer meinen Beifall gegeben hatte, von einer andren Seite beurteilen lehrte. Übrigens stand ich mit allen Interessen dieser Art ziemlich allein. Am ehesten fand [145] ich einen gewissen Anschluß an den ziemlich rechtgläubig sich gebenden, wenn nicht gesinnten Privatdozenten für Theologie, Dr. Edmund Spieß, der mir immer freundlich entgegenkam, während seine Persönlichkeit mir mehr u. mehr unsympathisch wurde: Er war eine problematische Natur, ein altes Mitglied des Burgkellers aus der Reformzeit, der aber auch an dem gegenwärtigen Treiben ziemlich lebhaften Anteil nahm. Daß ich nun durch diese verschiedenen u. z. T. entgegengesetzten theologischen Einflüsse stark bewegt worden wäre, kann ich nicht von mir sagen. Wenn ein Einfluß Bedeutung für mich hatte, so war es der von Strauß, für dessen Denkungsart ich vorläufig sozusagen gewonnen war, da sie auch gegen den liberalen Protestantismus mich kritisch stimmte. Übrigens machte ich schon in diesem meinem ersten Semester auch die Bekanntschaft mit Namen u. Werk des Thomas Hobbes: Ich besuchte nämlich oft mit Weidemann die Nachmittagsvorlesung Kuno Fischers über Geschichte der neueren Philosophie, die mich mehr als seine Logik fesselte u. vor allem auch bequemer lag, denn am frühen Morgen mußte ich [147] auch meine Fechtstunde einhalten. Die Darstellung, die Kuno Fischer von Hobbes gab, machte einen starken Eindruck auf mich durch ihre offenbar von dem rhetorischen Professor unterstrichenen Paradoxien, an denen aber die politische Seite mich damals nur schwach in Anspruch nahm. Auch dem viel reiferen Weidemann lag es damals gänzlich fern. – Ich beging meinen siebzehnten Geburtstag unter liebenswürdiger Teilnahme mancher Bundesbrüder, bei denen ich als der Kleine, „Lütter“, auch zu2 3

Der Alte und der Neue Glaube: Vgl. Strauß 1873. dem bald folgenden: Vgl. ders. 1875.

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weilen Martin Luther, oder auch als „Minimum“ oder unter anderen Benennungen, vielen freundlichen Anteil genoß. Von den damaligen lebt wohl nur noch im höchsten Alter der ehemalige Staatsminister Johannes Hunnius, damals ein hurtiger u. redegewandter Jüngling, der vielfachen Neckereien begegnete, aber doch einer stillen Achtung genoß: wie sein jüngerer Bruder, mit dem ich noch, als ich in Hamburg wohnte, öfter verkehrt habe, ein achtenswerter Mann. Dieser Bruder, Geh. Medizinalrat, ist schon vor etwa zwanzig Jahren in Wandsbek gestorben. [149] Die großen Ferien waren mir sehr willkommen. Sie führten mich zu den Penaten nach Husum zurück. Bald vernahm ich dort die erschütternde Nachricht, daß auch die zweite meiner Kusinen Trummer, deren Hochzeit wir im Jahre vorher mit dem mecklenburgischen Offizier Herrn Ernst von Bülow-Wamckow gefeiert hatten, gestorben sei. Sie starb nach der Geburt eines Sohnes, des noch lebenden, in mecklenburgischen Staatsdienstes m. W. stehenden Herrn Ferdinand von Bülow-Trummer, welchen Namen später sein Vater zum Andenken an die so lange vor ihm geschiedene Frau angenommen hatte. Er heiratete noch ziemlich spät wieder eine geb. v. Maltzan, u. aus dieser Ehe muß noch ein Sohn entsprossen sein, dessen Name – ebenfalls Bülow-Trummer – mir als der eines Privatdozenten in der Rechtsfakultät wenn ich nicht irre, der von Greifswald noch vor einigen Jahren begegnet ist. Die Ferien im elterlichen Hause wurden bald etwas belebt durch Hamburger Besucher, die mein ältester Bruder bei seinen [151] Eltern einführte, nachdem er selbst, wenigstens bei den Eltern des einen, Hugo Mestern, viele Freundschaft genossen hatte, u. der andere war noch Primaner des Johanneums. Sein Name war Max Predöhl, später Rechtsanwalt u. dann Senator, u. endlich auch Bürgermeister der Freien u. Hansestadt. Mit diesem befreundete ich mich damals rasch; diese Freundschaft hat aber später kaum irgendwelche Folgen für mich gehabt. Es verstand sich für mich von selbst, daß ich nun Mitglied der Arminia a. d. Burgkeller geworden war, u. die feierliche Aufnahme, nachdem ich emsig die ziemlich umfangreiche Verfassungsurkunde gelesen hatte, auch versprechen mußte, über das was ich in dem Bunde erleben u. hören würde, Verschwiegenheit bewahren würde, hat mir einen dauernden Eindruck gemacht. Das Semester war, wie andere Fuchssemester, großenteils dem 11 18 18

zweite meiner Kusinen Trummer: D. i. Elisabeth Trummer. v. Maltzahn: Gemeint ist Mathilde von Maltzahn. noch ein Sohn: D. i. Ferdinand von Bülow-Trummer.

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Vergnügen gewidmet; indessen hemmte mich der Umstand, daß ich schon viel Geld auf der Reise verbraucht hatte, auch (in Frankfurt a. M.) etlichen Bauernfängern in die Hände gefallen war u. ihnen einen für mich nicht unerheblichen Betrag lassen mußte; ich befliß mich um so mehr einer ängstlichen Sparsamkeit. In der Universität waltete noch die imponierende, aber nicht sympathische Gestalt Kuno Fischers, bei dem ich die Logik belegt hatte, aber der frühen Morgenstunde halber bald zu besuchen aufhörte. Dagegen besuchte ich öfter mit Weidemann des großen Mannes Nachmittagsvorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie, nachmittags vier bis fünf Uhr, in der ich zuerst den Namen des Thomas Hobbes vernahm, der später so große Bedeutung für mich gewonnen hat. Kuno gab eine tendenziös gefärbte grausige Darstellung von den erschrecklichen Meinungen dieses Philosophen. Die Philologen waren Nipperdey u. Moritz Schmidt. Ich glaube, daß ich bei N. überhaupt nicht, u. bei M. Sch.in diesem Semester nicht belegt habe. Anders war es im zweiten Semester, in dem ich ein eifriger Zuhörer des trefflichen Adolf Schmidt wurde, der in vier Stunden über Geschichtsphilosophie [155] las, u. zwar im ersten Teil die Geschichte dieser Disziplin in einer anziehenden Schilderung darbot. Dies war schon damals stark in meiner Linie, u. ich hätte, wenn ich dazu ermutigt worden wäre, gern in dieser Linie mich fortbewegt, also Philosophie u. Geschichte betrieben, nachdem ich mit beiden Fächern schon als Primaner nicht ohne Eifer mich beschäftigt hatte; besonders las ich in der dänischen Stunde gern in Schweglers Lehrbuch u. begeisterte mich etwas für Fichte, insbesondere für den Atheismus-Streit, der ja auch durch den Ort, an dem er spielte – es war eben Jena – für mich merkwürdig war. Dies zweite Semester ist mir in besonders lieber Erinnerung. Es traten zwei neue Füchse aus Magdeburg ein, die beide als Achtziger, während ich dies schreibe, noch leben: Beide sind geschätzte Ärzte geworden u. waren damals gute „Schläger“. Ich selber bestand meine erste Mensur mit leidlichem Erfolge, [157] nachdem ich schon am Schluß des ersten Semesters mit allen Konfüchsen rezipiert worden war, also nun Bursch hieß. Ich erinnere mich gern unseres liebenswürdigen „Fuchsmajors“, der Anton Paulssen hieß u. aus Weimar war. Neben ihm war eines der Häupter im Bunde Karl Rothe, der später viele Jahre den Weimarischen Staat regiert hat u. das volle Vertrauen des Großherzogs Karl Alexander genoß. Ich bin erst viele Jahre später des öfteren sein Gast gewesen. Er ist schon 1921 plötzlich gestorben, seine liebe 16 23

Adolf Schmidt: Gemeint ist Wilhelm Adolf Schmidt. Schweglers Lehrbuch: Vgl. Schwegler 1848.

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Frau geb. Eggeling folgte ihm bald. – Mein drittes Semester in Jena verlief auch für mich in erfreulicher Weise. Ich faßte das philologische Studium etwas fester an, indem ich bei Herrn Moritz Schmidt Enzyklopädie der Philologie belegte u. auch regelmäßig hörte. Gegen Ende des Semesters holte ich mir einen Schmiß auf der Stirn, der unter dem (studentischen) Paukarzt langsam heilte. Ich hatte nunmehr genügend Semester, [159] um die auswärtige Mitgliedschaft zu erwerben. Ich wählte als nächsten Ort für mein Studium die Universität Leipzig, wo die Arminia, auch die Bubenruthia, ziemlich stark vertreten war. Die Veränderung war aber für mein Gemüt recht unerfreulich. Um so mehr wußte ich den Wert für das Studium zu würdigen: Denn noch lebte Friedrich Ritschl, noch lebte Georg Curtius, dessen Werk über die griechische Etymologie ich schon als Sekundaner, vollends als Primaner, begierig studiert hatte. Curtius las aber griechische Literaturgeschichte, worüber ich ein gutes Heft geführt habe, ich hatte auch einen guten Platz in der Nähe des Katheders in dem stark besetzten Auditorium. Dies galt auch für die Ritschlsche Vorlesung über lateinische Grammatik: Auch diese habe ich eifrig nachgeschrieben. Ich hörte ferner „Deutsche Grammatik“ bei Friedrich Zarncke, der dermals mit Geschick das noch blühende „Literarische Zentralblatt“ leitete. Von [161] Curtius bin ich auch eingeladen worden u. habe an seinem Seminar teilgenommen, wo in einem nicht großen Kreise die Phoinissen des Euripides gelesen wurden, u. ich hatte einmal ein Referat in lateinischer Sprache zu leisten, welche Aufgabe ich ganz ordentlich erfüllte. Am Studentenleben nahm ich nicht mehr teil, kam aber durch den Beistand, den ich meinem ehemaligen Jenaischen Konfuchs Hermann Nissen, dem später berühmten Schauspieler, leistete, in die Lage, noch einmal zu fechten, u. zwar mit der mir ungewohnten Leipziger Waffe, der „Glocke“. Die Mensur wurde „ausgepaukt“. – Im SS in Leipzig zu bleiben, hatte für mich keinen Reiz, lieber ging ich nach Bonn, für das ich schon längst eine Schwärmerei gehegt hatte. Ich wurde hier Gast bei der Alemannia, deren Lob ich oft gehört hatte. Ich fand auch eine gute Gesellschaft z. T. aus Kneipgästen anderer Universitäten bestehend, u. ich lernte etwas von dem katholischen Leben kennen, sonntags auch von dem heiteren Leben auf dem Rhein, da fast regelmäßig Fahrten unternommen wurden, bei denen das Trinken einer Bowle üblich war. Übrigens nahm ich auch das Studium ernster, besonders indem ich in das 9 12

Leipzig: Zum Wintersemester 1873 / 74. dessen Werk: Vgl. Curtius 1869.

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historische Seminar bei Prof. Schäfer eintrat u. eine Arbeit über Lysandros auf mich nahm, die mir wohl nicht übel gelungen ist. Ich hatte ein Interesse gefaßt an der historischen Quellenforschung u. hätte diese gern unter derselben Leitung fortgesetzt, aber zu meinem Unglück verlautete, daß Schäfer für etwa 1 Jahr abwesend sein werde. Es schien mir also keinen Zweck zu haben, nach Bonn zurückzukehren. Zu Hause in Husum nahm ich Rücksprache mit meinem alten Arzt Dr. Storm, dem Bruder des Dichters, der mit Rücksicht darauf, daß ich wieder über häufige Kopfschmerzen klagte, den Rat gab, ich solle zunächst meinen einjährigen [165] Dienst abmachen. Ich entschloß mich, sehr zum Schaden meines Studiums, in diesem Sinne. Es war mir auch eine erwünschte Gelegenheit, obgleich es töricht war, wieder nach Jena zu gehen; es war töricht, denn der Einjährige hatte es zweifellos besser als in der Universitätsstadt, zumal wenn ihn hier seine Verbindung, oder wie jetzt gesagt wird, sein „Bund“ in Anspruch nahm, was in meinem Falle freilich viel mehr meine eigene Schuld, als die des Bundes war. Ich fand die Rekrutenzeit ganz erträglich u. erhielt nach 1 / 2 Jahre wie üblich die Knöpfe des Gefreiten, obwohl inzwischen schon eine Katastrophe bei mir eingetreten war: bei Gelegenheit des Winterkommerses, an dem ich beurlaubt einen lebhaften Anteil nahm, habe ich durch einen unvorsichtigen Trunk um eines närrischen Zweckes willen (Erwerb des „großen Kannenordens“) mich schwer beschädigt, indem ich davon ein Leiden mir zugezogen habe, das mich [167] viele Jahre lang bedrückt hat: anfallsweise auftretende heftige Schmerzen im Hinterkopf. Unser alter Arzt in Eiderstedt, der Physikus Dr. Thomsen, dem meine Eltern davon erzählt hatten, war, wie diese berichteten, der Meinung, es sei die Folge meiner allzufrühen u. raschen Entwicklung; ein anderer Arzt hat mir später ausgesprochen, es werde wohl ein kleines Blutgefäß gesprungen sein. Wenn dies der Fall war, so bin ich ja noch verhältnismäßig gut weggekommen, habe aber an den Folgen viel gelitten. Mein Freund Oskar Vogt hat mir gegenüber die Ansicht vertreten, ich habe es diesem Unfall zu verdanken, daß ich seitdem vorsichtig u. behutsam gelebt habe. Nachdem ich im Sommer 1875 daheim u. durch einen Badeaufenthalt in Scheveningen – bei welcher Gelegenheit ich zuerst die von mir als stammverwandt empfundenen Niederlande kennenlernte – […], fühlte ich mich ermutigt, das Wintersemester in Berlin zu verleben. Es war 1 24 34

Prof. Schäfer: Gemeint ist Arnold Dietrich Schäfer. Dr. Thomsen: Gemeint ist Heinrich Christian Thomsen. Niederlande kennenlernte – […]: Wohl zu ergänzen: mich erholt hatte.

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für mich folgenreich, weil ich dort bald mit Friedrich Paulsen bekannt wurde u. eine Freundschaft eröffnete, die bis an sein Ende gewachsen ist u. in meinem Herzen [169] dauert. Es war das 1. Semester seiner akademischen Lehrtätigkeit, die später so reich wurde. Ich belegte seine Übungen über Kants Kr. d r. Vernunft, nachdem ich schon während meines Einjährigenjahres in Jena das berühmte Werk zu lesen versucht hatte, zu gleicher Zeit auch Schopenhauers Abhandlung über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. Wie ich an anderer Stelle erzählt habe, pflegte unsere Sitzung regelmäßig mit einer Nachsitzung beschlossen zu werden, die Paulsen mit seinen 2 schleswig-holsteinischen Landsleuten, Kuno Francke († 1930) u. mir verplauderte. Paulsen hielt damals am meisten von John Stuart Mill u. dem reinen Empirismus, worin ich ihm nicht ganz folgen konnte. Außerdem las er damals nicht ohne einigen Enthusiasmus Ferdinand Lassalles kleine Schriften. Außerdem interessierte er sich sehr für Malthus u. erwartete von der Anwendung ebenso wie die damaligen liberalen Ökonomen eine heilsame Wirkung auf die Arbeiterfrage, zugunsten nämlich der Lohnerhöhungen. Leider war ich immer genötigt auf mein Befinden [171] zu achten, u. aus Scheu vor dem Berliner Sommer verbrachte ich das nächste Semester an meiner Landesuniversität in Kiel. Mein Kopfleiden wurde freilich auch hier nicht besser, so daß ich auf den Rat eines befreundeten Arztes das S unterbrach, um mich nach dem Schwarzwald zu begeben, wo ich einige Wochen in … verlebte. In Kiel hatte ich Philologie wenig getrieben, mehr war ich auf die Geschichtsforschung zurückgekommen unter C. A. Volquardsen, der in seinen Übungen die Quellen der Alexanderzüge nach Arian u. Curtius behandelte, woran ich gern teilnahm. Für den Winter hatte ich wieder Berlin ins Auge gefaßt u. inzwischen schon an einer Dissertation über Jupiter Ammon in lateinischer Sprache gearbeitet. Mein Mißgeschick in Berlin war nun von Anfang an bei diesem zweiten Aufenthalt ein zweifaches. Erstens war Ernst Curtius, der mich doch zu der Arbeit angeregt hatte, durch seine Olympiasorgen u. Verhandlungen mit der griechischen Regierung in Anspruch genommen, also den ganzen Winter hindurch abwesend. Zum andern [173] war 6 7 8 21 25 26 27

das berühmte Werk: Vgl. Kant 1781. Abhandlung: Vgl. Schopenhauer 1891 (zuerst 1813). an anderer Stelle: Vgl. Tönnies 1922: 8 (210). das S: Lies: das Semester. Curtius: Gemeint ist Quintus Curtius Rufus. Für den Winter: D. i. 1876 / 77. Dissertation: Vgl. Tönnies 1877 (TG 1).

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mein guter Paulsen bald am Typhus erkrankt, u. diese schwere Krankheit entzog ihn mir für die ganze Zeit. Dennoch hatte ich den Mut, meine Dissertation zu vollenden, abschreiben zu lassen u. der philosophischen Fakultät einzureichen. Fast zu meiner Überraschung wurde sie angenommen, denn ich hatte verwegene Konjekturen gewagt u. war schon damals kritisch genug gegen mich selber, die Berechtigung dafür anzuzweifeln. Viel kürzer als ich erwartet hatte, war die Frist, nach deren Ablauf ich zum mündlichen Examen eingeladen wurde. Die traurige Folge war, daß ich es nicht bestand. U. diese Niederlage war nicht unverdient, denn für den Standpunkt der gelehrten Herren hatte ich in der Tat keine genügenden gelehrten Kenntnisse. Ich hatte auch bei keinem der Examinatoren gehört, war in keinem Seminar gewesen u. hatte so gut wie gar nicht repetiert. Ich hatte meiner Neigung nach Mommsens Römisches Staatsrecht eingehend gelesen u. exzerpiert – das nützte mir gar nichts. Ich hatte emsig die griechische Mythologie mir zu eigen gemacht, hauptsächlich nach Welcker, auch dies war für das Examen wertlos. Ich hatte, um auch einem der Berliner Professoren gerecht zu werden u. zugleich um im Herodot Bescheid zu wissen, die große Herodotische Arbeit von Adolf Kirchhoff fleißig studiert. Auch dies kam in keiner Weise zur Geltung. Dennoch habe ich, wie gesagt, keinen Augenblick das Urteil für ungerecht gehalten. Aber es tat mir sehr weh: Der Kontrast gegen meine Schulerfolge war zu stark. Indessen fand ich bald den Entschluß, im Sommer nach Tübingen zu gehen, hauptsächlich um mein historisches Studium noch aufzubessern als Schüler A. v. Gutschmid’s, an den mein viel älterer u. weiserer Freund Friedrich Reuter mich oft verwiesen hatte. Dort in Tübingen ließ ich die Dissertation drucken, weil ich wohl glaubte, man könne dort auch noch ohne Drucklegung promovieren, u. dies wollte ich vermeiden. Gutschmids Vorlesungen über orientalische Geschichte u. Tacitus’ Annalen habe ich beide mit Vorteil gehört, wenn ich auch an des Lehrers ausgesprochen sächsischem Dialekt mich etwas stieß. Meine Dissertation wurde wiederum angenommen u. bald folgte auch die mündliche Prüfung, [177] die ich nun mit dem Prädikat Nummer zwei (bene) bestand; sie stellte allerdings schon der Zeit nach geringere Anforderungen als in Berlin. Ich begab mich nun bald, ohne den offiziellen Schluß des S abzuwarten, in die Schweiz, wo – das

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Römisches Staatsrecht: Vgl. Mommsen 1871. nach Welcker: Vgl. Welcker 1857−1864. Herodotische Arbeit: Vgl. Kirchhoff 1869. ohne Drucklegung: Sinn unklar.

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wußte ich – der genannte Friedrich Reuter nach einer schweren Krankheit als Genesener in der behaglichen u. wohlfeilen Pension Suter sich erholte. Die lebhafte u. freudige Aufnahme, die ich dort fand, hatte ich erwartet. Es gab wie überall in der Schweiz, dort viele Engländer, besonders Damen, die recht liebenswürdig waren. Mehrfache schöne Ausflüge habe ich dann am Vierwaldstätter See gemacht, 2x haben wir den Pilatus bestiegen, das eine Mal im Geleit der schon erwähnten Damen, nicht ohne eine kleine Liebelei harmloser Art. I. g. war das ein sehr befriedigender Aufenthalt, u. ich erlebte noch mit Reuter ein volkstümliches Fest ob Sempach. [179] Mein Entschluß war schon vorher gefaßt, nunmehr das philologische Studium an den Nagel zu hängen u. mit allem Ernst das philosophische, mit besonderer Richtung auf die ökonomischen u. Sozialwissenschaften aufzunehmen. Ich hatte schon im Jahre 1876 ein feines Exemplar der Elementa philosophica De cive, Amsterodami s. a. erworben, das in sehr zierlicher Schrift das Exlibris E. M. Bohnenberger S. S. theol. stud. 1757 [..], u. hatte es mit Liebe gelesen. Da ich nun diese Fächer weiter studieren wollte, so wäre es weise gewesen, wieder an eine Universität zu gehen, etwa nach Straßburg, wo ich Schmoller, oder irgendwohin, wo ich Wagner genießen konnte; aber ich setzte meine Ehre darin, die ferneren Kosten meinen Eltern zu ersparen u. zu versuchen, auf eigene Faust das Nötige zu lernen. Ich verkannte den großen Wert, den auch für mich der persönliche Verkehr mit einem älteren Gelehrten haben konnte u. ohne Zweifel gewonnen hätte, wenn ich zugleich als fleißiger Scholar mich bewährt hätte. Ich zog es vor, im Elternhaus u. in der Vaterstadt Husum zu bleiben: Hier hatte ich noch als väterlichen Freund Theodor Storm u. als älteren Ge[181]fährten seinen Sohn Ernst, der als Referendar ebenfalls bei seinen Eltern lebte. Es waren außerdem noch zwei Referendare dort beim Gericht, die Herren Spethmann u. … Wir bildeten einen kl. Zirkel von vier jungen Leuten, wanderten zuweilen nach dem Nachbarort Mildstedt, wo wir einem soliden Whistspiel oblagen. Übrigens studierte ich nun mit Eifer politische Ökonomie u. Philosophie: jene, indem ich den Wealth of Nations im Original las u. zugleich den deut-

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Pension Suter: Am Vierwaldstätter See. feines Exemplar: Vgl. Hobbes o. J. [1647]. 1757 [..]: Zu ergänzen: trug. Wealth of Nations: Vgl. Smith 1786.

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schen Auszug benutzte, den als Zeitgenosse Sartorius von Waltershausen verfaßt hat, u. den ich in meiner alten Schulbibliothek entdeckte. Diese hauptsächlich in der englischen Ausgabe des Leviathan nach dem großen Folioband der Moral + Political Works von 1750, den ich aus der Kieler Univers.bibl. entlieh; aber auch in lateinischer Sprache nach einem nicht vollständigen Exemplar der Opera, quae latine scripsit omnia u. nach dem lateinischen Leviathan, der mit dem Tractatus theologicus-politicus zusammengebunden gleichfalls in der Bibliothek des Gymnasiums zu haben war. So wurde das WS gut ausgefüllt. Im SS 1878 las ich teils Ricardo in dtsch. Übersetzung, teils mit noch größerem Eifer den (damals noch einzigen) 1. Band des Marxischen Werkes „Das Kapital“. [183] In den Ferien sodann begab ich mich zum ersten Male nach London, indem ich dahin meinen ältesten Bruder begleitete, der, noch aktiv in einem großen Geschäft, zu einem längeren Besuch sich in Husum aufgehalten hatte. Mein Besuch in London galt natürlich nicht in 1. Linie den gewaltigen Sehenswürdigkeiten der gewaltigen Stadt, sondern in 1. Linie der Hobbes-Forschung, die ich unverzüglich im Reading-Room des Bristish Museum in Angriff nahm. Ich machte hier alsbald Entdeckungen, die nicht gering waren: vor allem die des Kurzen Traktats (wie ich ihn benannt habe) u. der Handschriften von Elements of Law natural and politic, die mir alsbald den Wunsch erweckten, die erste vollständige Ausgabe mit Verbesserung der Fehler in den alten, auch in der Ausgabe von Molesworth, herauszugeben. Ich bemühte mich um den Verlag der Firma Trübner, wurde auch nicht entmutigt, aber ersucht, mich um ein Gutachten des damals noch [185] lebenden G. H. Lewis zu bemühen. Da er aber damals nicht in London anwesend war u. ich zum Semester nach Berlin gehen wollte, so habe ich leider die Gelegenheit, den bedeutenden Mann kennenzulernen, versäumt. Auch Georg Croom Robertson, dem ich durch unseren mit mir übrigens persönlich verwandten

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Sartorius von Waltershausen: Vgl. Sartorius 1806. Leviathan: Vgl. Hobbes 1750. Die Bücher sind in der Husumer Schulbibliothek nicht mehr zu ermitteln. omnia: Vgl. Hobbes 1839 / 45. Tractatus theologicus-politicus: Vgl. Spinoza 1870 / 71[1670]. (In der Husumer Bibliothek i. J. 2000 nicht ermittelt). „Das Kapital“: Vgl. Marx 1890 [1867]. Kurzen Traktats: Vgl. Hobbes 1889a. natural and politic: Vgl. Hobbes 1889b. Ausgabe von Molesworth: Vgl. Hobbes 1839 / 45. G. H. Lewis: Gemeint ist George Henry Lewes.

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Wilhelm Wundt empfohlen war, war damals abwesend, ich hörte später, daß es um seine Gesundheit schlecht stand. – In Berlin wollte ich hauptsächlich meine Kenntnisse in der Statistik vermehren u. verbessern. Ich wurde daher Mitglied des Preußischen Seminars u. hörte die Vorlesungen Ernst Engels, Richard Böckhs u. des medizinal-statistischen Referenten …; wohnte auch den Übungen bei Adolf Wagner bei u. nahm für diese Übungen eine Arbeit über die soziale Frage im alten Griechenland an, die Wagner wohlwollend beurteilte. Mit ihm bin ich später, bis an sein Ende, innig verbunden gewesen. Die Vorlesungen u. Übungen dauerten bis ins Sommersemester hinein u. wurden mit einem einfachen u. gemütlichen Abendessen beschlossen. Bei allen diesen Gelegenheiten gab es vielfache u. für mich anregende Gespräche über die soziale Frage. Es war das erste Jahr des Sozialistengesetzes, u. die Erregungen in der Arbeiterfrage waren stark, haben aber nicht zu irgendeinem Ausbruch geführt. Ich beschäftige mich lebhaft mit der Sozial- u. Moralstatistik Berlins u. des (damaligen) Königreichs Sachsen, wodurch ich meine Kenntnisse der sozialen Lage des Proletariats stark vermehrte. Dazu trugen auch die Vorlesungen Engels u. Böckhs nicht unerheblich bei. An diesen wie auch an Wagners Übungen nahmen mehrere interessante Leute teil, darunter 2 Amerikaner, die beide in ihrer Heimat zur Geltung gelangt sind: der eine Adams, der andere […] ist mir noch neuerdings durch Schriften u. Korrespondenz bekannt geworden. Ferner nenne ich unter den damaligen [189] Teilnehmern Ludwig Elster, der später ja bekannt wurde als Ministerialreferent im Preuß. Ministerium unter Althoff. Die folgenden Jahre 1879 bis etwa 1883 waren für mich bedeutend, zunächst äußerlich, indem in diese Jahre meine Habilitation in Kiel gefallen ist (1882): Sie erfreute sich der Unterstützung durch Herrn Professor Benno Erdmann, obgleich dieser der Philosophie u. Naturwissenschaft

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In Berlin: Im Wintersemester 1878 / 79. des Preußischen Seminars: Korrekt: Statistischen Seminars. Gemeint das Statistische Seminar beim Königlich Statistischen Büro in Berlin. verbunden gewesen: Ende Heft IV. Die Vorlesungen u. Übungen: Anfang Heft V. Auf dem Umschlag steht:“ „17. Nov. 1935“. Es sind die Vorlesungen und Übungen Adolph Wagners gemeint. der andere […]: Lücke im Text wohl für späteren Nachtrag; „der eine“ ist Henry Carter Adams; „der andere“ ist Arthur Twining Hadley. Siehe Tönnies 1922: 11. unter Althoff: An dieser Stelle am Blattrand: siehe Fortsetz. auf den losen Blättern. – Es folgen zwei maschinenschriftliche Seiten mit handschriftlichen Korrekturen von Tönnies, die an dieser Stelle eingefügt sind.

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als Schüler von Helmholtz u. Zeller in ganz anderem Sinne beflissen war als ich. Er hatte doch Verständnis für meine Weise, die wir mehrfach auf weiten Spaziergängen erörtert haben. Ohnehin war ich selber in diesen Jahren beflissen meine naturwissenschaftlichen Kenntnisse zu verbessern u. zu fördern. Ich hatte mich längst für die Abstammungslehre intensiv interessiert u. suchte meine Kenntnisse unter anderem durch eingehendes Studium des Werkes von Nägeli, der seine Theorie eine mechanisch-physiologische nennt – ich hatte dies Buch käuflich erworben –, emsig zu verbessern. Es sind manche Gedanken darin enthalten, die dem später so berühmt gewordenen Mendelismus die Wege bereitet haben. Übrigens war mein eigenstes Studium vorzugsweise der Jurisprudens gewidmet: teils der ethnologischen, wobei mir die Werke Sir Henry Sumner Maine’s besonders nützlich u. erfreulich gewesen sind durch die prachtvolle Schlichtheit u. Durchsichtigkeit seiner Darstellung, die auf Vorlesungen beruht u. ja auch sonst oft die englischen Autoren auszeichnet. Besonders das erste Werk, das ich schon im Jahre 1880 angeschafft hatte, ist auch das berühmteste geblieben (Ancient Law: its connection with the early history of society and its relation to modern ideas). Noch nach Maine’s Tod ist dieses Buch von meinem verehrten Gönner, Sir Frederick Pollock mit Einleitung u. Anmerkungen neu herausgegeben u. mir gütigst überreicht worden. Die ferneren Schriften Maine’s (Village Communities in the East and West (1876), Lectures on the early History of Institutions, Dissertations on Early Law and Custom (1883), endlich das politisch polemische Popular Government (1885)) habe ich sämtlich käuflich erworben u. mit Eifer studiert. Ebenso lernte ich damals ein verwandtes Werk von Sir Alfred Lyall (Asiatic Studies religious and social (1882) zu meiner großen Erbauung kennen. Übrigens war ich zu gleicher Zeit mit Eifer bemüht, wenigstens den Kern des römischen u. des deutschen Rechts kennenzulernen: des römischen hauptsächlich durch die Holtzendorffsche Encyklopädie, des deutschen vorzugsweise durch das Studium von Gierkes Genossenschaftsrecht, das mir in seinen drei Bänden sehr viel geboten hat, nachdem ich schon sein Buch über Althus u. die Entwicklung der Staatstheorie kennen u. schätzen gelernt hatte, das mir von Hobbes her nahelag; ich knüpfte auch, wennschon viel später,

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Werkes von Nägeli: Vgl. Nägeli 1884. Ancient Law: Vgl. Maine 1866. Die nachfolgenden Titel ders. (1875; 1883; 1885). Alfred Lyall: Vgl. Lyall 1882. Holtzendorffsche Encyklopädie: Vgl. Holtzendorff 1877 / 81. Genossenschaftsrecht: Vgl. Gierke 1873 u. 1880.

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eine persönliche Verbindung mit dem großen Gelehrten an u. verdankte dem noch mehrere Gaben von seiner Hand, so die neueren Ausgaben des „Althus“ u. den vierten Band des Genossenschaftsrechts. Immerhin bin ich nicht ein fremder Laie auf dem Gebiete der Jurisprudens geblieben u. habe meine Vorlesungen mit einer solchen über das Naturrecht im Jahre 1882 eröffnet, die freilich mangelhaft u. unvollständig war. Immerhin hatte ich einen kleinen Kreis aufmerksamer Jünger um mich versammelt: darunter war Herr […]. So war dies die erste Angelegenheit, die mich als Fortsetzung meiner bisherigen Studien fortwährend in Anspruch nahm. Die andere bestand in der Erweiterung dieser Studien, worauf ich schon hingedeutet habe. Nun kam aber eine 3. hinzu, die mich auf ein ganz anderes Feld führte. Ich hatte mich schon längst für die Anwendung der Statistik auf moralische Probleme u. folglich hauptsächlich auf minder moralische Personen, also für das Gebiet, das man Moralstatistik zu nennen pflegt, interessiert, auch ehe ich von Quételet’s Leistungen mehr als eine oberflächliche Kenntnis gewonnen hatte. Es schien mir, daß man durch das Leben am Orte einer großen Strafanstalt eine gute Kenntnis von den größten Verbrechern müßte gewinnen können, u. ich fühlte mich in dieser Meinung bestärkt dadurch, daß ich um diese Zeit (1880) das Buch von Maudsley … [190] gelesen habe, worin sich folgende Stelle befindet: … So begann ich denn die Arbeit, die meine Kraft für viele Jahre in Anspruch genommen hat, über „Die schwere Kriminalität in Schleswig-Holstein.“ Ich habe von Anfang an hier unterschieden zwischen a) den Heimgeborenen, d. h. in Sch.-H. Geborenen, u. den Fremdgeborenen, allen denen, die sonst innerhalb des Dtsch. Reiches u. irgendwo auf dem Erdball beheimatet sind. b) unterschied ich innerhalb beider Kategorien die Stadtgebürtigen u. die Landgebürtigen u. wagte sogar, auch zwischen den verschiedenen Geburtsorten, städtischen u. ländlichen, nach ihrer ungefähren Größe zu unterscheiden. c) habe ich dann insbesondere bei den Schleswig-Holsteinern, zwischen den Kreisen unterschieden, aus denen die Delinquenten stammten, u. ich

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neueren Ausgaben: Vgl. Gierke 1902 / 1913. war Herr […]: Ende der eingelegten Blätter. das Buch von Maudsley …: Vgl. Maudsley 1867. „Die schwere Kriminalität in Schleswig-Holstein“: Vgl. Tönnies 1929b; bereits vorher Tönnies 1895, 1897 u. 1924a.

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konnte die sehr verschiedene Belastung der [191] Kreise in dieser Hinsicht feststellen. d) habe ich dann die Delinquenten nach anderen Merkmalen, so nach dem Alter, der Familienherkunft – ehelich, unehelich, frühe Verwaisung u. geschieden – eingeteilt, u. einen erheblichen Teil der Ergebnisse meiner Forschungen hauptsächlich im Archiv f. Sozialwiss. u. Sozialpolitik, wie jetzt der Titel lautet, bekanntgegeben, sodann auch einen Teil in einer besonderen Broschüre, die im Verlage … erschienen ist. Es steht noch aus die Einteilung „meiner Verbrecher“ nach ihren Berufsarten od. Gewerben, die sich auch, soweit es möglich war, auf ihre Väter erstreckte. In beiden Rücksichten bin ich dann erst später dazu vorgeschritten, auch Gefängnis-Gefangene, unter denen mir die jugendlichen, noch nicht zuchthausfähigen Leute die wichtigsten waren, heranzuziehen, u. zwar habe ich nur in zweiter Linie darauf Bedacht genommen, auch die charakteristischen Daten für Frauen zu gewinnen. – Ich muß noch hinzufügen, daß ich besonders für die Sprößlinge dieses meines Landes [192] (Schl.-H.) mich nach mehreren anderen Strafanstalten hauptsächlich für den Vollzug von Zuchthausstrafen umzusehen, da es natürlich auch viele Schleswig-Holsteiner gibt in anderen Teilen des Reiches u. nicht wenige im Auslande. Als Ausland kam für mich hauptsächlich Dänemark in Frage, das nicht nur durch die Nachbarschaft, sondern auch durch starke historische Momente, mit den Herzogtümern verbunden war; als Nachbarschaft kamen natürlich die nördlichen, jetzt wieder abgetretenen Distrikte des Herzogt. Schleswig in Frage. Hierfür ist mir nun das dänische Ministerium schon vor etwa 30 J. (1906 ff.) freundlich entgegengekommen. Mit Hilfe der Leiter der großen Strafanstalten des Landes habe ich in dieser Hinsicht mein Material ergänzen können, wenn auch natürlich Vollständigkeit in dieser Hinsicht ausgeschlossen ist. Es ist mir erfreulich u. auch eine Pflicht, öffentlich meinen Dank für diese Liebenswürdigkeit einer ausländischen Regierung auszusprechen. [193] Gemäß dem Charakter unseres Landes sind die hier in Frage kommenden Personen fast alle in der evangelisch-lutherischen Landeskirche erzogen (oder nicht erzogen); u. übrigens sind ja auch die Fremdbürtigen mit wenigen Ausnahmen in diesem Lande straffällig geworden u. haben 9

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die im Verlage …: 1930 erschien von Tönnies in der Verlagsbuchhandldung Ernst Wiegandt „Uneheliche und verwaiste Verbrecher“. umzusehen: Richtig wohl: umsah, oder es fehlt: bestrebt war. Dänemark: Vgl. im Briefwechsel mit Höffding Tönnies’ dortige Bemühungen (Bickel / Fechner 1989: 48−51, 60).

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die Zahl der Delinquenten, die anderen Bekenntnissen angehören, wenig vermehrt. Die gemeine Kriminalität wird offenbar erheblich vermehrt durch die Nähe der Großstadt Hamburg, die mit ihren Nachbarörtern, unter denen die holsteinische Stadt Altona hervorragt eine Bevölkerungsmasse von [..] Einwohnern darstellt, unter denen wie in jeder großen Stadt ihre produktivsten, rüstigsten Jahrgänge überwiegen. Außerdem mag der moralische Einfluß als unmoralischer sich weit ins Land hinaus erstrecken, wie denn neben Hamburg-Altona-Wandsbek in dieser Hinsicht das nach amerikanischen Dimensionen gewachsene Kiel ein modernes Mustergebilde darstellt, was die Mischung mannigfacher Volksstämme u. besonders die Ansammlung jugendlicher Elemente, männlicher u. weiblicher, betrifft, die ohne Zweifel zur Vermehrung [195] moralisch minderwertiger u. sogar gefährlicher Elemente stark beiträgt. Diese Eigenheiten u. ihr Kontrast gegen den soliden Grund eines gesunden u. i. g. ziemlich wohlhabenden Bauerntums reizten mich zu untersuchen, wie sich die einzelnen Teile des Landes, insonderheit die Kreise nach der preußischen Einteilung, zueinander verhielten; u. es hat sich als Ergebnis meiner Forschungen herausgestellt: […].[197] Meine neue Würde als Privatdozent gewährte mir wenig Befriedigung. Einerseits fühlte ich mich nicht mehr frei genug u. fühlte, daß ich von würdigen Personen mit einigem Mißtrauen beobachtet wurde; andererseits fühlte ich selber etwas Ungewisses u. Unsicheres in meiner Stellung: Ich wußte oder glaubte zu wissen, daß ich zwischen den Fächern schwankte, denn ich war einerseits Philosoph, u. ein Philosophieren, das sich wesentlich auf das soziale Leben bezog, hatte keine großen Chancen, weder in der öffentlichen Meinung, noch – u. zwar noch weniger – in der Weisheit von Regierungskreisen. Ich fühlte, daß meine Lehrtätigkeit unter dieser Zwiefachheit litt, zumal da ich sie mehr u. mehr auf das Gebiet der polit. Ökonomie [..] (wie ich immer noch geneigt war, dies Anziehende, aber auch in mancher Hinsicht schwankende Gebiet zu benennen). Ich machte Versuche, meine Lehrtätigkeit in Übungen, die ich schon lange den moralstatistischen Problemen zugewandt hatte, auch auf die Methoden u. die [199] fragwürdige Dogmatik der Nat.ök. zu erstrecken. Der Erfolg war nicht unbefriedigend, was die (freilich geringe) Zahl u. die Qualitäten der Teilnehmer betrifft, so daß wir z. B. in mehreren Semestern mit Adam Smiths 5 18 29

Bevölkerungsmasse von [..]: Fehlende Zahlenangabe. herausgestellt [..]: Ergebnis nicht genannt. Ökonomie [..]: Prädikat fehlt; zu ergänzen wohl: abstellte.

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berühmtem Werk uns eingehend beschäftigten. Man versuchte um diese Zeit mir ein Extraordinariat für „Soziologie u. Statistik“ zu verschaffen, das den Eifer meiner Lehrtätigkeit allerdings erhöht haben würde; aber ein dahin gehender Antrag der Fakultät, der wohl von Wilhelm Hasbach ausging, da dieser merkwürdige Gelehrte mir je zuweilen einiges Interesse u. Verständnis entgegenbrachte, fand im Ministerium, d. h. bei dem wohl oder übel berufenen Herrn Althoff kein Gehör, auch nicht, nachdem dieser viel versprechende Mann dem Professor der Philosophie Aloys Riehl, der hier in Kiel einige Semester gelehrt hatte, als dieser bei Gelegenheit seiner Berufung an eine süddeutsche Universität mir etwas bieten zu sollen meinte, zugesagt hatte, er werde mir eine außerordentliche Professur für Soziologie an der Berliner Univers. geben; dies würde [201] mir lieber sein als manches andere. Die Berufung erfolgte nicht, u. meine akademische „Karriere“ war damit so gut wie zu Ende. Was mir später noch zuteil wurde, verdanke ich teils der immer regen Bemühung des Professors Bernhard Harms, teils mir selber u. dem Wohlwollen der preußischen Kultusminister Becker u. Grimme. Im Jahre 1880 reiste ich von Leipzig in die Schweiz u. war einige Tage Gast des leider so jung verfallenden Prof. Richard Avenarius u. seiner mir ebenfalls sehr sympathischen Frau geb. Semper. Ich habe dann noch eine Reihe von Wanderungen ins Gebirge unternommen, nachdem ich in Zürich noch mit Grüßen von Theodor Storm dem prächtigen Gottfried Keller einen Besuch, der etwa 1 Stunde dauerte, gemacht hatte. Seine Schwester u. Hüterin empfing mich nicht eben freundlich. Keller selbst war am Sonntagmorgen ziemlich munter u. öffnete sein Fenster, um mir die Schönheit des Züricher Sees zu zeigen. Er lobte seinen Freund, unsern Petersen (Regierungsrat in Schleswig), weil dieser den Grundsatz ausgesprochen hatte, „zu Hause zu bleiben“. Er pflegte an jedem Sonntagmorgen, wenn das Wetter es ge[203]stattete, mit seinen Kindern in den Wald zu gehen. Keller klagte ein wenig, daß er zu isoliert lebe, was bei seiner lispelnden Aussprache etwas komisch klang. „Es gibt hier ja auch allerhand Schriftsteller u. Kerls, aber sie gehen mich wenig an“. Er hatte wohl genug an seiner täglichen Genossenschaft in der Weinschänke, deren Adresse mir entfallen ist. – Im Jahre 1883 erlebte ich den Kummer, meinen teuren Vater, der einige Jahre an Diabetes gelitten hatte, durch den Tod zu verlieren, u. fast zu gleicher Zeit seinen Bruder Gert, der eine Wohnung in unserem Husumer Hause seit fünf Jahren innehatte u. mir immer ein guter Oheim u. 27

Petersen: Gemeint ist Wilhelm Petersen.

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Freund gewesen ist. – Im gleichen Jahre erneuerte ich meine Bekanntschaft mit Dr. Paul Rée u. wurde durch ihn auch mit Fräulein Lou Salomé in gewisser Weise befreundet. Sie fuhren in die Schweiz, wohin ich ihnen bald nachkam. Zuerst waren wir einige Tage in …, wo wir bald verschrien wurden als russische Nihilisten, später verweilten wir noch zusammen in Celerina u. teilweise in Sils Maria. Ich habe in meiner Selbstdarstellung aus d. J. 1922 erzählt von dem Verhältnis meiner beiden Gefährten zu ihrem ehemaligen Freunde Friedrich Nietzsche. Ich habe, als ich jene Schrift verfaßte, bedauert, Nietzsche damals nicht kennengelernt zu haben. Heute bedauere ich es nicht mehr. Zurückblickend finde ich, daß Nietzsche um diese Zeit nicht mehr der Mann gewesen ist, mit dem mich auszusprechen, wertvoll für mich gewesen wäre, wenn er auch wohl einige Sympathie für mich übrig gehabt hätte. Im folgenden Jahr trat ich meine zweite Reise nach England an, die der Edition beider von mir wiederhergestellten Werke des Thomas Hobbes gewidmet war, aber durch das gänzliche Versagen des Verlegers für mich die Ursache vielen Kummers geworden ist. – Berichtet habe ich auch, daß diese Angelegenheit mich zu mehreren erneuten Reisen nach London veranlaßte, u. daß ich dann auch Gelegenheit nahm, nach Paris zu gehen, wo ich ein eifriger Besucher der bibliothèque nationale wurde [207] u. einige für mich wertvolle Entdeckungen machte, die alle mit der Korrespondenz des Hobbes zusammenhingen. In den folgenden Jahren setzte ich meine Vorlesungen fort u. wurde in Kiel mehrfach der abendliche Gast einer alten Dame, bei der ich vor Jahren 1x einen Sommer hindurch gewohnt hatte. Sie wohnte in einem feinen alten Hause mit schönem Garten: beides seitdem im Strudel der Großstadt untergegangen. Ich sah hier gern ein durch Schönheit ausgezeichnetes, aber nicht mehr ganz junges Mädchen, der die alte Dame ihre Haushaltung übergeben hatte: sie war die Tochter eines nicht mehr lebenden Gutspächters, dessen Ökonomie unter den schlimmen Zeiten der Jahre 1880−90 in Verfall geraten war. Ich habe mich mit diesem jungen Mädchen, das zehn Jahre jünger war als ich, im Jahre 1893 verlobt, u. im folgenden Jahr haben wir unsere Hochzeit gefeiert, der meine Mutter u. ihre ihr sehr nahestehende, obschon 10 J. ältere Schwester Frau Charlotte Trummer beiwohnten u. von 7 14

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von dem Verhältnis: Vgl. Tönnies 1922: 16. der Edition: Vgl. Hobbes 1889a und 1889b; zum Versagen des Verlegers siehe Tönnies 1922: 16, 19. Berichtet habe ich auch: Vgl. Tönnies 1922: 19 (221). Korrespondenz des Hobbes: Vgl. Tönnies 1889c. die Tochter: D. i. Marie Sieck.

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seiten der jungen Frau ein Oheim [209] u. noch mehrere Verwandte u. Freunde. Meine Abneigung, in Kiel meinen Hausstand zu begründen, war so stark, daß ich mich entschloß, eine bescheidene Wohnung in Hamburg zu suchen, wo ich mich mit der Absicht trug, Studien über die physische, moralische u. intellektuelle Beschaffenheit der Zöglinge des Waisenhauses, im Zusammenhang mit meinen anthropologischen Studien über Verbrecher, in Angriff zu nehmen. Es ist daraus wenig geworden, u. ich wurde bald der Tatsache inne, daß die Behörde diese Forschungen eher hemmen als fördern werde. So habe ich denn in diesen Jahren nur in Fuhlsbüttel, dem Ort sämtlicher Hamburgischen Strafanstalten, gearbeitet, nicht ohne die Gunst der Behörden, aber mehr begünstigt durch den Arzt dieser Anstalten, den mir bald liebgewordenen Dr. med. Gustav Meyer.

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Die von Ihnen vorgelegte Frage ist schwer zu beantworten, wenn man nicht einen sicheren Begriff der Rasse zu Grunde legt. Dies ist nach dem heutigen Stande der Forschung durchaus erschwert, denn man versteht heute in der Regel als Rasse eine Gesamtheit von Menschen, die nicht deutlich abgegrenzt ist gegen andere, sodaß die Mischung dieser Rassen nicht eine Ausnahme, sondern eine durchaus häufige Erscheinung ist. Wenn man die gegenwärtige Bevölkerung Europas als eine Rasse oder als einer Rasse angehörig betrachtet, so besteht die Gefahr, daß sie durch andere Rassen verdrängt wird, nicht und also ist die Stärke oder Schwäche der Natalität keine Rassenfrage. Anders ist es, wenn man innerhalb der Bevölkerung mehrere große Rassen unterscheidet. Und dies scheint geboten zu sein, wenn man erwägt, daß die germanischen Volksstämme, die slavischen und die keltischen seit vielen Jahrhunderten von einander geschieden sind und bleiben, daß sie verhältnismäßig wenig Ehen mit einander eingehen oder sich sonst geschlechtlich miteinander verbinden und 1

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[Geburtenüberschuss und Rassenfrage]: Textnachweis: TN, Cb 54.34:16. – Typoskript in 4°, 4 Bl. (Briefpapier mit Briefkopf: Ferdinand Tönnies, Kiel, den […] Niemannsweg 61 Postscheckkonto Hmb. 752 42), mit wenigen eigenh. Korrekturen. Das erste Blatt enthält die Datumsangabe: 17. III. 1936 sowie im Adressenfeld An die […]. Der Empfängername selbst fehlt, desgleichen eine Überschrift. Vorveröffentlichung des Textes mit erläuterndem Vorwort des Herausgebers in: Tönnies 2000: 53−57. – Der Text – allem Anschein nach die letzte von Tönnies verfasste Arbeit überhaupt – ist offensichtlich durch eine Anfrage veranlasst, die aber im Wortlaut eben so wenig ermittelt ist wie der Fragesteller, der ja mit dem unbekannten Empfänger identisch ist. Es dürfte sich kaum um eine Privatperson handeln, sondern um eine Institution („An die …“), die 1936 nur eine politisch kontrollierte Einrichtung des NS-Staates gewesen sein kann. Vielleicht war die Anfrage über Tönnies’ Schwiegersohn Rudolf Heberle vermittelt worden, der sich auf bevölkerungssoziologische Themen spezialisiert und Beiträge für das „Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik“ in Leipzig geliefert hatte. Die Frage selbst, wie immer sie genau lautete, war für die NS-Ideologie von wesentlicher Bedeutung. Die Aufklärung, warum der politisch verfemte Tönnies – von wem auch immer – um eine Stellungnahme zu diesem Thema gebeten wurde, ist von nicht geringem Interesse. Sollte ihm eine Chance gegeben werden? 1936 lief die ihm nach der amtlichen Verstoßung ausnahmsweise gewährte kleine „Gnadenpension“ aus. Er starb am 9. 4. 1936. Natalität: Fruchtbarkeit.

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daß man daher von ausgeprägten Merkmalen dieser Völkerschaften als von Rassen sprechen kann. Da ist denn allerdings die Verschiedenheit der Natalität oder genauer des Geburtenüberschusses oder des Gegenteils eine wenigstens für diese Völker bedeutsame Angelegenheit, und man kann sie alsdann wirklich als eine Rassenfrage auffassen. Daß die Völker der germanischen Rasse sich schwach vermehren ist längst beobachtet worden und bildet im 18. Jahrhundert den Gegenstand staatsmännischer Sorge. An die Stelle dieser schwachen Vermehrung ist aber mit dem 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der kapitalistischen Produktion und des dadurch [2] beförderten Verkehres eine entgegengesetzte Bewegung getreten, besonders nachdem die ehemaligen Hemmungen der Eheschließung mehr und mehr gefallen sind: Die Nachfrage nach Arbeitern machte eine vermehrte Entstehung von solchen notwendig und sie stellte sich zur Verfügung, vorzüglich in großen Städten und anderen Orten der Großindustrie. Aber schon seit Jahrzehnten ist in dieser Hinsicht ein großer Rückstrom eingetreten: nicht erst seit gestern, sondern seit einigen Jahrzehnten wird in Deutschland wie in England über den Rückgang der Natalität und folglich trotz des gleichzeitigen Rückganges der Sterblichkeit über den verminderten Zuwachs der Bevölkerung geklagt, und nach dem Weltkriege sind diese Klagen lauter und dringender geworden. Der Weltkrieg hat so viele junge Männer vertilgt, daß schon dadurch eine Verminderung der jungen Ehen und der Wiegen naturgemäß erfolgt ist. Tatsächlich ist auch mehr und mehr die Verehelichung in ein höheres Lebensalter verschoben worden, wenn auch neuerdings diese Entwicklung aufgehört hat. Die durchschnittliche Zahl der Kinder, die innerhalb der Ehen geboren werden, hat aber fortwährend sich vermindert. Zum Teil ist es die Folge davon, daß eine wachsende Zahl von Familien in den Großstädten ihren Wohnsitz nimmt, denn schon längst war man in den Großstädten bemüht, die Familien klein zu erhalten, teils aus allgemeinen nationalen Gründen, teils schon wegen der Schwierigkeit für große Familien sich zu behausen. Wenn man dies als ein Übel beklagt, so ist es ein Übel, das jedenfalls nicht durch wohlgemeinte und moralisch ermunternde Reden heilbar ist, weil die Ursachen viel zu tief liegen, um dadurch berührt zu werden. Die Tatsache steht fest, daß die Völker germanischer Herkunft, oder wenn man will, germanischer Rasse, heute mehr und mehr zu einer Ebbe ihrer natürlichen Vermehrung gelangt sind, obgleich die Sterblichkeit nach wie vor geringer wird und die [3] Auswanderung insbesondere die überseeische keine erhebliche Rolle mehr spielt. Der Geburtenüberschuß ist tatsächlich in diesen Ländern, wenn die Niederlande ausgenommen werden, die keine

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große Zahl bedeuten, aber sich nach wie vor stattlich vermehren, in den germanischen Ländern verhältnismäßig gering, verglichen mit demjenigen in den slavischen Ländern: So finden wir im Deutschen Reich 1932 einen Überschuß auf 1000 Einwohner von 4,3, in Dänemark von 6,6, in Schweden von 3,0, in Norwegen 1931 von 6,0; in England und Wales 3,3, nur Schottland und Irland erheben sich auf 5,1 und 5,8. Der irische Staat aber nur auf 4,5; auch Frankreich ist längst durch eine geringe Vermehrung bekannt: Auch die Annexion von Elsaß und Lothringen hat daran nichts geändert, obgleich dieses Gebiet etwas günstiger in dieser Hinsicht dasteht und früher im Deutschen Reiche zu den fruchtbarsten Gebieten gehörte. Dagegen waren die ehemaligen überwiegend polnischen Provinzen Preußens längst durch ihren Kinderreichtum bekannt und da auch von der Regierung der Sterblichkeit besonders derjenigen der Säuglinge entgegen gearbeitet wurde, so war auch ihre natürliche Vermehrung erheblich. Auch jetzt weist das wiederhergestellte Polen für das Jahr 1932 einen Geburtenüberschuß von 13,7 auf; Jugoslawien kömmt für 1929 mit 12,2 dem nahe während die Tschechoslowakei mit 6,9 immer noch dem Deutschen Reiche wie England überlegen ist. Auch die neuen Staaten wie Estland hat nur einen Geburtenüberschuß von 3,7 hingegen Bulgarien 1931 von 12,2, Litauen 1932 von 12,1 (ohne das Memelgebiet) endlich Rußland übertrifft alle mit einem Geburtenüberschuß von 25,0 1928 und noch 17,0 1929 in den ukrainischen Gebieten sodaß es dadurch die Anklagen der fremden Beobachter schlägt, die nichts als Elend und Verwahrlosung in diesem großen Lande zu sehen vermögen. [4] Es kann also in der Tat in Europa von einer Rassenfrage in diesem Sinne gesprochen werden, und daß die germanische Rasse, die sich selbst naturgemäß für die bessere hält, im Wettbewerb mit der slavischen einstweilen zurückbleibt. Ob dies eine Dauererscheinung ist, kann nur die Erfahrung lehren, aber man muß einräumen, daß es nicht unwahrscheinlich ist. Denn es ist ein Ausdruck derselben Beobachtung, die man längst im Verhältnis der großen Städte zur Landbevölkerung gemacht hat. Das zukünftige Schicksal Europas wird allerdings dadurch mitbedingt sein; und man mag eine Mahnung darin finden an die so bedrohten Völker vor neuer gegenseitiger Zerfleischung sich zu hüten. Eine eindeutige Antwort auf die vorgelegte Frage, ob es um eine Rassenfrage sich handelt, vermag ich also nicht zu geben. Ich muß allerdings die Frage bejahen, wenn sie so gemeint ist, wie ich versuchsweise sie auslege.

III. Rezensionen

Das Elend des Deutschen Reiches [Statistisches Reichsamt (Hg.), Deutschlands Wirtschaftslage unter den Nachwirkungen des Weltkrieges] I 5

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Von Frankreich her tönt uns immer wieder die Behauptung entgegen, das Deutsche Reich unterlasse nur aus bösem Willen die schuldigen Zahlungen in dem Umfange zu machen, wie Frankreich sie erhalten müsse und berechtigt sei, sie zu verlangen. Den Beweis dafür, dass die deutsche Volkswirtschaft zu solchen Leistungen fähig sei, ohne völlig zu Grunde zu gehen, bleiben die französischen Politiker schuldig; sie scheinen das Problem nicht einmal zu kennen. In vielen gründlichen Einzeldarstellungen ist die elende Lage Deutschlands und der mit ihr verbundene, durch sie mitverursachte Zusammenbruch der Weltwirtschaft geschildert worden. Eine knapp zusammenfassende, auf sicher beglaubigte Daten sich stützende Gesamtdarstellung der deutschen Notstände hat bisher gefehlt. Sie liegt heute vor in Gestalt einer Abhandlung, die im statistischen Reichsamt unter Verwendung von amtlichem Material verfasst worden ist.1 Ausser diesem Vorzug hat sie noch die folgenden Vorzüge: 1. Sie sammelt die Tatsachen so vollständig als möglich und stellt sie bis in die jüngste Zeit hinein dar; 2. sie ordnet diese Tatsachen in einer scharfen und durchsichtigen Gliederung; 3. sie bedient sich einer knappen, aber leicht verständlichen 1

Deutschlands Wirtschaftslage unter den Nachwirkungen des Weltkrieges. Zentralverlag G.m.b.H. Berlin W. 35. März 1923.

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Das Elend des deutschen Reiches: Textnachweis: TN, Cb 54.36:06. – Typoskript in 4°, S. 1−15 (ab S. 7−15) ursprünglich andere Zählung: 1−9). Mit zahlreichen eigenh. Korrekturen und Zusätzen. Entstanden 1923 als Rezension der Schrift „Deutschlands Wirtschaftslage unter den Nachwirkungen des Weltkrieges. Berlin 1923“ (hg. vom Statistischen Reichsamt). die schuldigen Zahlungen: Gemeint sind die im Versailler Vertrag auferlegten Reparationen.

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Rezensionen

Form; 4. sie macht ihren Inhalt anschaulich durch Karten und zahlreiche graphische Darstellungen. Dadurch werden sie auch für den, der nicht gewohnt oder nicht geneigt ist, statistische Zahlen zu lesen, unmittelbar verständlich. Der Inhalt ist in drei grosse Abschnitte eingeteilt. [2] Der erste Abschnitt verzeichnet die Leistungen Deutschlands auf Grund der Zwangsverträge. Durch die Landabtretungen, die mehr als ein Achtel der Fläche, rund ein Zehntel der Einwohner einbüssen liessen, hat das Deutsche Reich insbesondere seine besten landwirtschaftlichen Überschussgebiete verloren: es ist mehr als zuvor städtischer und Industrie-Staat geworden. Es hat aber auch ein Viertel bis drei Viertel der wichtigsten Rohstoffe (Eisenerze, Kohle, Zink, Kali) verloren; es hat seine Handelsflotte bis auf einen winzigen Rest, dazu auch seine eben einträglich werdenden Kolonien abgeben müssen. Aber auch in dem ihm verbliebenen Gebiete ist dem Reiche die Ausübung seiner Hoheit nicht gegönnt. Zu dem nach formalem Rechte besetzten Gebiet ist das ohne einen Schimmer von Recht besetzte Gebiet hinzugekommen: der fünfte Teil der Reichsbevölkerung muss heute das Joch der Fremdherrschaft tragen. Unser Heft geht alsdann in genauen Nachweisungen auf die Sach- und Barleistungen, insbesondere die schon geschehenen Reparationsleistungen ein, die teils aus vorhandenen Beständen (ausser den Schiffen z. B. Lokomotiven und Wagen), teils aus laufender Produktion, vornehmlich Kohlen und Koks, sodann Maschinen, Tieren, Geräten usw., die für den Wiederaufbau geliefert wurden, endlich den Barleistungen bestehen – alle zusammen werden auf fast 43 Milliarden Goldmark berechnet. Hinzu kommen massenhafte andere Leistungen, unter denen die Besatzungskosten hervorragen: Lieferungen an Möbeln, vom Herbst 1920 bis Sommer 1922 z. B. gegen 20 000 Zimmer, 624 000 Küchen, 18 000 Teppiche, massenhafte Leinwand, massenhafte Tassen, Gläser usw. Hinzu kommen die abgelieferten Kriegsmaterialien, die Werte des Reichs- und Staatseigentums in den abgetretenen Gebieten und viele andere Leistungen, die mittelbar oder unmittelbar durch die Verträge abgenötigt wurden. Im zweiten Abschnitt erscheinen die Wirkungen auf die deutsche Volkswirtschaft. Die Schmälerung der Ernährungsbasis, [3] Schmälerung der Rohstoffbasis, Schmälerung der Arbeitskraftbasis. Die Anbaufläche, besonders die für Roggen und Kartoffeln, also für die wichtigsten Nahrungsmittel ist um nicht viel weniger als ein Fünftel verringert (gegen 1913), der Ernteertrag pro Hektar im letzten Jahr, das besonders ungünstig war, etwa um ein Drittel kleiner! Futtermittel mussten zum grossen Teil vom Auslande eingeführt werden. Die Einfuhr der vor allem wichtigen Futtergerste ist

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fast auf die Hälfte zurückgegangen, die Milchproduktion beträgt heute wenig mehr als die Hälfte. Der Verlust an Vieh ist ebenso wie der Verlust an Anbaufläche erheblich grösser als der an Gebiet und Bevölkerung. Auch die Versorgung mit künstlichen Düngemitteln ist stark verschlechtert. – Die ungeheuren Einbussen an Eisen- und anderen Erzen wurden schon erwähnt: die an Eisen betragen 20 %, die an Zink 34 %, an Blei 8 v. H. (ihrem Metallgehalt nach) der gesamten europäischen Eisenproduktion. Und doch musste schon das frühere Reich grosse Mengen von Erzen einführen! Jetzt müssen auch verhüttete Erze eingeführt werden: die EigenProduktion an Roheisen und Rohstahl ist nicht viel mehr als die Hälfte derjenigen von 1913. Ferner ist Deutschland aus einem Kohlenausfuhrland Kohleneinfuhrland geworden: die Kohlennot hat unaufhörlich zugenommen. Dass auch die Arbeitskraftbasis bedeutend verringert worden ist, versteht sich von selbst. Zu den Ursachen, die in dieser Hinsicht auch in den andern Kriegsländern gewirkt haben, kam die Hungerblockade und die neuerdings stark zunehmende Unterernährung, kam auch der seelische Druck hinzu, um Arbeitskraft und Arbeitslust zu vermindern. – Das natürliche Ergebnis dieser Ursachen ist die Verschlechterung der Handels- und vollends der Zahlungsbilanz, ist die schwere Zerrüttung des Reichshaushaltes, die ungeheuerliche Ausdehnung des Papiergeldumlaufes und die allzu bekannte Entwertung des deutschen Geldes. – Ein besonderes Kapitel unserer Schrift ist der Scheinblüte und Verarmung gewidmet. Es wird darauf hingewiesen, worin der trügerische Schimmer besteht und worin er seine Ursachen hat, der manche Ausländer in den Wahn versenkt, als lebten die Deutschen herrlich und in Freuden. In Wahrheit ist zum Beispiel der gesamte Fleischverbrauch in Preussen auf den Kopf [4] der Bevölkerung, obgleich diese eine viel grössere Zahl mitverzehrender Ausländer enthielt, im Jahre 1921 fast um ein Drittel geringer gewesen als 1913, der Brotverbrauch im Erntejahr 1921 / 22 27 v. H. weniger als 1913 / 14, der an Kartoffeln ist um die Hälfte zurückgegangen. Ähnlich hat sich natürlich der Gebrauch altgewohnter Genussmittel wie Kaffee, Tee, Bier erheblich vermindert, besonders der von Kaffee ist als „Bohnenkaffee“ ein seltener Luxusgenuss geworden. So ist denn auch die Einfuhr aller solcher Dinge, noch mehr aber die von Produkten und Fabrikaten, welche als Gegenstände des Luxus anzusprechen sind, mit einzelnen Ausnahmen sehr stark zurückgegangen; eine Ausnahme macht die Einfuhr von Kakao, die bedeutend zugenommen hat, wie denn die Fabrikation von Schokoladen sich vermehrt hat, deren Genuss vielen einen kleinen Ersatz für den mangelhaften Vorrat an den sonst üblichen Nahrungsmitteln gewährt.

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Im ganzen spielt die Einfuhr von Luxuswaren fast nur noch eine Rolle, soweit diese nicht im Inlande verbraucht werden; und sogar im Inlande haben Ausländer starken Anteil am Verbrauche. Besonders schwer trifft das allgemeine Elend die jungen Haushaltungen: es fehlen etwa 1,4 Millionen Wohnungen; und wenn man eine bescheidene Wohnung erlangt hat, so fehlt es allzu oft an Möbeln, Betten u. s. w., deren Anschaffung ungeheure Summen erfordert. Charakteristisch ist ferner die Nivellierung der Löhne und Gehälter: der gelernte Arbeiter verdient heute kaum 10 v. H. mehr als der ungelernte. In ähnlicher Weise stehen die höheren Beamten zurück: die Kosten des täglichen Brotes sind massgebend: dessen bedarf eben jeder! Auffallend sticht dagegen ab was auf Kosten des Deutschen Reiches Militär und Beamten der fremden Mächte beziehen, nämlich 5−10 mal so viel allein an Zulagen (ausser ihrem heimischen Gehalt) als an gesamten Diensteinkommen die ihnen im Range gleichstehenden deutschen Militärpersonen und Beamten beziehen. Am meisten zerstörend und direkt pauperisierend hat aber die Vernichtung des Geldwertes auf die Rentner gewirkt. Besonders Wittwen und unverheiratete Damen sind in grosser Menge aus Wohlstand, ja Reichtum in völlige Armut versunken. [5] Ferner ist ein besonders trauriges Kapitel die Not der geistigen Arbeiter und die Lage der Studentenschaft. Jene – die Not der Anwälte, Aerzte, der freien Schriftsteller, der Künstler, bildete im Herbst 1922 den Hauptgegenstand der Verhandlungen des „Vereins für Sozialpolitik“ der unter diesen traurigen Umständen seinen 50sten Geburtstag in Eisenach feierte. Ein allgemeines Ergebnis ist die Verschlechterung des Gesundheitszustandes, die durch rasche Zunahme der Tuberkulose bezeichnet wird. Öffentliche und private Organisationen des Versicherungswesen und der Wohlfahrtspflege sind mehr oder weniger bankerott. – Besondere Betrachtungen widmet unsere Schrift erstens noch der angeblichen Verschwendung im Reichshaushalt durch die grosse Zahl von Beamten –, zweitens der steuerlichen Belastung des deutschen Volkes. Es ergibt sich, dass die Ausgaben für die eigentliche Verwaltung wenig mehr als 2 v. H. der 2

Von diesen Ausgaben für Beamte könnten im alleräussersten Falle höchstens 10 % erspart werden, das würde eine Ersparnis von weniger als 10 Millionen Goldmark ergeben = 2 Tausendstel des gesamten Etats (des Reiches)!

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„Vereins für Sozialpolitik“: Der „Verein für Socialpolitik“ (so noch 2005) war eine Vereinigung von Wirtschaftswissenschaftlern und Praktikern des Wirtschaftslebens mit dem Zweck der wissenschaftlichen Erörterung wirtschaftlicher und sozialer Probleme; 1872 von Gustav Schmoller gegründet.

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gesamten Ausgaben des Reiches betragen, und weniger als 3 v. H. der Ausgaben, die der sogenannte Friedensvertrag notwendig macht. Was die Steuern betrifft, so ergibt sich bei sachlich richtiger Vergleichung, dass der Steuerdruck in Deutschland viel schwerer ist als in England, Frankreich, Italien und Amerika, wenn man nämlich das Zusammenwirken von Besitz-, Verkehrs- und Verbrauchsbesteuerung beachtet. – Der dritte Hauptabschnitt behandelt die Wirkungen des Vertrages von Versailles auf das Ausland. Insbesondere also die Weltwirtschaftskrisis, den Rückgang der Weltproduktion und des Welthandels, zum guten Teil in Folge der zusammengeschrumpften Konsumkraft der Einwohner Deutschlands und Mitteleuropas überhaupt. In den wohlhabend gebliebenen Ländern ist die Arbeitlosigkeit um so schlimmer gewesen, und dauert, wenn auch vermindert, noch fort. Ganz irrtümlich ist, wie das letzte kurze Kapitel über „dumping“ ausführt, die Meinung, dass die deutsche Ausfuhr den Weltmarkt verdorben habe. Tatsächlich ist die deutsche Produktion, also auch der Export, verglichen mit dem Zustande vor dem Weltkriege, ausserordentlich verringert, ist mithin garnicht in der Lage, den Weltmarkt mit Waren zu überschwemmen. Aber Deutschland und ebenso die anderen Valuta-schwachen Länder sind ausser Stande zu kaufen, gewähren also [6] dem Auslande geringen Absatz für seine Produkte. Der Blutumlauf stockt im Körper der Weltwirtschaft. – Dies ist das Gemälde, welches uns das kleine, aber inhaltreiche Heft darbietet. Eine Tragödie in Zahlen, die, wo sie nicht völlig zuverlässig sind, eher noch ein zu günstiges als zu ungünstiges Bild der Wirklichkeit gewähren. Manche Verluste lassen sich ziffernmäßig nicht vollständig beschreiben. Auch die Leiden und Nöte, die in unzähligen einzelnen Familien zu Hause sind, werden von der Statistik nicht erfasst, die Statistik gibt nur ein Gerippe. Wer im Lande lebt und das tägliche Leben des Volkes, besonders das des ehemaligen Mittelstandes beobachtet, umkleidet dieses Gerippe mit Fleisch und Blut, um sich schaudernd abzuwenden.[7]

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schaudernd abzuwenden: Die Seite 6 ist im Original dreimal vorhanden. Anscheinend wollte Tönnies den vorliegenden Text mit dieser Seite abschließen und zeichnete die Seite in der Urfassung am Blattende handschriftlich: „Kiel – Ferdinand Tönnies“ Diese Urfassung arbeitete er aber beim Korrigieren stark um. Im Verlauf dieser Umarbeitung entschloss er sich, den Aufsatz fortzusetzen, und war daher genötigt, die ursprüngliche Abschlußseite (6) so zu verändern, dass Teil II (S. 7) an sie anschließen konnte. Erst in der 3. Fassung von Seite 6 war der Anschluß und Übergang zu Seite 7 gelungen.

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II. Der hier geschilderte Zustand war der Zustand um die Jahreswende. Er hat sich seitdem nicht verbessert, sondern sehr erheblich verschlechtert. Auf allen Gebieten tritt dies hervor. Die Ursachen sind jedem bekannt, der die letzten Monate erlebt hat. Der gegenwärtige Zustand lässt sich noch nicht nach allen Richtungen übersehen. Am auffallendsten ist, dass die Entwertung der Reichsmark fast bis zu ihrer völligen Wertlosigkeit fortgeschritten ist. Der gänzliche Verfall der Finanzen des Reiches, der Staaten und der Gemeinden, der Stiftungen, der Versicherungsanstalten und vieler Unternehmungen, also eines grossen Teiles des nationalen Kapitals ist eine notwendige Folge dieses Untergangs einer ehemals auf Gold beruhenden Währung. Schlimmer aber noch ist die Folge, dass der auswärtige Handel immer mehr zurückgehen musste. Die Hemmung der Einfuhr durch das Sinken des Wechselkurses versteht sich von selbst. Und doch blieb ein gewisses Mass von Einfuhr an Lebensmitteln und Rohstoffen notwendig, wurde teilweise sogar in erhöhtem Maasse notwendig durch die Absperrung des Ruhrgebietes; dies gilt besonders von Kohle und Koks, die von Steinkohlen war in den Monaten Juli und August mehr als die doppelte des monatlichen Durchschnitts von 1922, die von Kohle sogar die 8−9fache der Menge nach. Stark abgenommen hat vor allem die Einfuhr von Lebensmitteln und Getränken, aber auch die von Baumwolle, von Eisenerzen, Schwefelerzen und andern Erzen, von Roheisen, Kupfer, Blei und Zinn. Die ganze Einfuhr hat in viel geringerem Maasse durch die Ausfuhr bezahlt werden können. Besonders ist natürlich der Export aller aus Eisen und anderen Metallen ange[8]fertigten Waren und aller Arten von Maschinen zurückgegangen, aber auch der von Farben und Farbwaren und anderer chemischer und pharmazeutischer Produkte. Offenbare Wirkung dieses Missverhältnisses ist die Abnahme der Produktion und folglich steigende Arbeitslosigkeit: die Verringerung der Beschäftigung, die schon seit dem April zugenommen hatte hat im September und Oktober immer mehr sich ausgedehnt, wie auch die Fälle von Verkürzung der Arbeitszeit. Beides betraf hauptsächlich die Industrien der Metallarbeit, der Bekleidung, der Bauten und des Verkehres und die grosse Masse der Lohnarbeit wechselnder Art. So betrug denn die Zahl der aus öffentlichen Mitteln unterstützten Erwerbslosen (darunter auch geistige Arbeiter) am 15. August 147 000, am 15. September fast 356 000; die der unterstützten Kurzarbeiter hat noch doppelt so stark (1 : 4) zugenommen: Mitte August 210 500, war sie Mitte September auf 844 000 gestiegen. Die steigenden Kosten der

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Ernährung durch die unentbehrlichen Auslandszufuhren bedeuten auch, dass die Löhne eine immer grössere Quote der gesammten Produktion in Anspruch nehmen, wodurch das Geschäft für die Unternehmer sich immer ungünstiger gestaltet. Daraus folgt das Bestreben von Seiten dieser auf die Löhne zu drücken. Infolgedessen ist eine lebhafte Agitation im Gange, die auch von Männern der Wissenschaft unterstützt wird: die Arbeitszeit zu verlängern in allen solchen Betrieben, die durch Verringerung ihrer Produktionskosten ihren ausländischen Absatz heben zu können erwarten. Dabei scheut man sich nicht, zugleich mit schonungsloser Abstossung mindergeeigneter Arbeitskräfte zu rechnen. Das Problem die Arbeitslosen produktiv zu beschäftigen wird dadurch für das Reich, für die Staaten und die Gemeinden immer dringender und zugleich immer schwieriger. Natürlich leisten die Gewerkschaften der Arbeiter heftigen Widerstand gegen den drohenden Verlust des Achtstundentages, den sie ausser der republikanischen Verfassung als die grosse Errungenschaft [9] der Revolution schätzen. Der Streit ist noch in der Schwebe. Der Entwurf eines Gesetzes über die Arbeitszeit stellt ein Kompromiss dar: wenn es angenommen wird so dürfte eine wenn auch geringe Besserung des gegenwärtigen Zustandes dadurch erzielt werden. Minder wahrscheinlich wird aber eine solche Besserung durch den Umstand, dass in jüngster Zeit die Krise des gesammten politischen Zustandes sich ausserordentlich verschärft hat. Auf der einen Seite droht die Erneuerung und Verstärkung der Revolution, die eben (während dies geschrieben wird) ihren 5. Geburtstag feiert – auf der anderen Seite ist die Gefahr der Gegenrevolution noch mächtiger angewachsen. Der Bürgerkrieg scheint vor der Tür zu stehen: soweit man voraussehen kann würde er das letale Ende des im Jahre 1871 begründeten, an Ausdehnung, Macht und Wohlstand schon so sehr verringerten deutschen Reiches bedeuten.

III.

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Es ist interessant die Wirkungen des Krieges und der neuen Lebensverhältnisse auf die Bevölkerung wahrzunehmen. Das deutsche Reich erfreute sich von 1871 bis 1914 eines starken Wachstums seiner Volksmenge: von zirka 41 war sie auf beinahe 68 Millionen gestiegen. Diese Vermehrung war zum weitaus grössten Teile natürliche Vermehrung. Zwar hatte die Zahl der Geborenen im Verhältnis zur Bevölkerung und zu den stehenden Ehen sich merklich vermindert; die Gesamtzahl, die von 1898 bis 1909 mehr als zwei Millionen betragen hatte, war seitdem trotz der ferneren

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Zunahme der Bevölkerung um etwa 100 000 unter dies Niveau gefallen. Zu gleicher Zeit hatte aber auch (und zum Teil infolge der geringen Zahl von Säuglingen die zur Sterblichkeit bekanntlich immer einen so starken Beitrag liefern) die Sterblichkeit sich ungemein vermindert, so dass der Überschuss der Geborenen über die Gestorbenen kaum merklich verringert war. Er betrug auch 1913 noch 1 ¼ auf 100. Hinzu kam ein nicht unerheblicher Gewinn durch Einwanderung: denn es wur[10]den während der letzten Jahre vor dem Kriege mehr als eine Million ausländischer Arbeiter im deutschen Reiche beschäftigt, besonders in der Landwirtschaft und im Bergbau. Dagegen hatte die überseeische Auswanderung, die noch 1881 über 200 000 Personen betragen hatte, seitdem sich fortwährend vermindert bis auf etwa 1 / 10 dieser Zahl. Die Gesammtvermehrung trat gemäss der Natur der wirtschaftlichen Verhältnisse vorzugsweise durch das Anschwellen der Volksmassen in den Städten, besonders den grössten Städten und ihren Vororten, aber auch in Fabrikdörfern, die mit ihren Volksmengen den Grosstädten immer ähnlicher wurden, zu tage. – Dies ganze ziemlich einheitliche Bild ist nun seit 1914 völlig verändert. Die Zahl der Eheschliessungen, die seit 1907 mehr als eine halbe Million betrug und seitdem nur in zwei Jahren (1909 und 1910) geringer war, sank 1915 und 1916 unter 280 000, also auf wenig mehr als die Hälfte, die der Geburten fiel 1917 und 1918 unter eine Million, also auf die Hälfte der sonst gewöhnlichen Zahl. Die Menschenverluste des Landheeres und der Kriegsmarine – d. i. der Gefallenen, an Wunden und infolge von Krankheiten, auch der in Kriegsgefangenschaft Gestorbenen haben rund 2 Millionen betragen, wenn die Nachwirkungen auf die Sterblichkeit der Folgejahre eingerechnet werden. Die Sterblichkeit aus anderen Ursachen war naturgemäss durch die geringere Zahl der kleinen Kinder günstig beeinflusst; ungünstig aber durch die allgemeinen Kriegsnöte und die immer schlechter werdende Ernährung, die noch mehr als ein Jahr lang nach dem Ende des Krieges unter der Aushungerungsblockade gestanden hat. Das Gesammtergebnis ist eine Verminderung der Volksmenge gewesen, die von 1915−1918 auf rund eineinhalb Millionen geschätzt werden muss. Dann trat die Verstümmelung des territorialen Gesammtkörpers ein, die einen Bevölkerungsverlust von etwa 6 ein halb Millionen zur Folge hatte. Die Bewegung der Bevölkerung im gebliebenen Torso des Reiches ist [11] naturgemäss seit 1919 wieder normaler geworden. Zunächst trat als notwendige Gegenwirkung gegen die schwere Unterbrechung ein mächtiges Anwachsen der Eheschliessungen ein: die jährliche Zahl, die in diesem Restgebiet vor 1914 keine halbe Million betrug, wuchs in den Jahren 1919 und 1920 auf

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850 000−900 000, um 1921 sich noch über 700 000 zu halten. Naturgemäss hat sich auch die Zahl der Geborenen gehoben, aber nicht in entsprechender Weise: die Zahl (die noch nicht in allen Teilen feststeht) bleibt jedenfalls noch um 3−400 000 hinter dem schon damals gesunkenen Durchschnitt der Jahre 1910−1914 (im gleichen Gebiet) zurück. Zum Teil erklärt sich dies schon aus der abweichenden Qualität der Ehen: während nämlich in den letzten Jahren vor dem Kriege von den heiratenden ledigen Männern regelmässig ein Drittel unter 25 Jahren und nur etwas mehr als ein Fünftel über 30 Jahre alt war, so sank schon im Jahre 1917 der Anteil dieser Altersschicht unter 30 und in den beiden folgenden Jahren auf 26 und 24 v. H. (wobei freilich der an Polen abgetretene Teil der Provinz Posen nicht eingerechnet ist, die Polen heiraten aber jung; indessen ist auch ElsassLothringen nicht eingerechnet wo die jungen Ehen immer unter dem Reichsdurchschnitt standen). Dagegen haben sich (bei gleicher Rechnung) die im Alter von mehr als 30 Jahre heiratenden ledigen Männer 1918 auf fast 30 und 1919 auf mehr als 34 v. H. vermehrt. Wichtiger noch für die natürliche Vermehrung ist das Lebensalter der Frauen; und hier begegnet uns die gleiche Erscheinung: die Zahl der über 25jährigen Mädchen war 1910−1913 377 auf 1 000 heiratende ledige Frauen; sie stieg 1918 auf 475 und 1919 auf 517 von tausend. Dass diese Altersverhältnisse einen starken Einfluss auf die mittlere Kinderzahl, die aus den neuen Ehen hervorgeht, aus[12]übt ist von vornherein höchst wahrscheinlich und wurde in exakter Weise durch den norwegischen Statistiker Kjaer unwiderleglich erwiesen. Dazu kommt, dass eben die ledigen Männer und die ledigen Frauen unter der Gesammtzahl der Heiratenden weniger geworden sind. Vor dem Kriege waren es 90 v. H. der heiratenden Männer, 93 der heiratenden Frauen – 1919 waren beide Verhältnisse auf 86 gefallen. Dagegen haben sowohl die Ehen von Witwern als auch die von verwitweten Frauen (hier kamen natürlich Kriegswitwen zu starker Beteiligung) bedeutend zugenommen. Vor dem Kriege waren nur 5 v. H. der heiratenden Frauen Witwen, 1919 waren es mehr als 12 v. H. Es liegt auf der Hand, dass auch hier durchweg ein höheres Lebensalter und folglich geringere Fruchtbarkeit der Ehen zu erwarten ist. Die Zunahme der Witwer- und Witwenehen ist um so bemerkenswerter da diese Ehen in Deutschland wie in allen Ländern ähnlichen Kulturstandes ungefähr seit hundert Jahren fortwährend verhältnismässig seltener geworden waren. – Auch die Sterblichkeit hat sich in den Nachkriegsjahren auf mässiger Höhe gehalten, hauptsächlich wie 23

Statistiker Kjaer: Vgl. Kiaer 1904 / 05.

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schon bemerkt wurde für die Kriegszeit selber, infolge des geringeren Anteils der Säuglingssterblichkeit, die guten Teils durch die Häufigkeit der Geburten mitbedingt wird. Eine bedeutende Zunahme weist die Sterblichkeit der älteren Kinder und junger Menschen, männlicher und weiblicher, auf und wiederum die der alten (über 60jährigen) Männer und Frauen. Hauptsächlich wirkt hier fortwährend die erneute Zunahme der Tuberkulose und anderer Krankheiten, die durch den schlechten Ernährungsstand gefördert werden. – Eine nicht geringe Zunahme hat die Einwohnerzahl des gegenwärtigen deutschen Reiches durch vermehrte Einwanderung erfahren: Einwanderung teils von Deutschen aus den Gebieten, die sonst Inland waren, teils von Deutschen aus den Gebieten, die schon [13] früher Ausland waren: Vertriebene und Bedrängte in grosser Zahl. Ferner aber Einwanderungen von Nichtdeutschen, die wohl meistens sich nur als Reisende betrachten: sehr gross ist die Zahl der Russen unter diesen, die besonders in der Reichshauptstadt sich niedergelassen haben. Schon im Frühling 1922 gab es drei Zeitungen in russischer Sprache, mehrere Buchdruckereien und andere Betriebe, auch Kaffeehäuser und Läden von Russen für Russen in Berlin. Dieser unnatürlichen Vermehrung der Bevölkerung stand bisher nur eine geringe Auswanderung gegenüber. Neuerdings hat aber die immer ungünstiger werdende wirtschaftliche Lage die Lust zur Auswanderung stark belebt. Während 1920 von Hamburg, Bremen, Amsterdam, Rotterdam kaum 8 500 Deutsche über See gegangen sind ist diese Zahl 1921 auf 23 250 und 1922 über 36 500 gestiegen. Diese Zahl hat sich im laufenden Jahre 1923 noch sehr erheblich vermehrt: das erste Halbjahr weist die Ziffer 40 600 auf, die dann folgenden 2 Monate (Juli und August) allein 16 500, so dass die Jahresziffer wenig unter 100 Tausend zurückbleiben dürfte. Eine fernere Zunahme wird um so gewisser eintreten wenn in den Vereinigten Staaten die Menge der zugelassenen Deutschen vermehrt werden sollte wie es erwartet werden darf. Innerhalb Europas findet eine ziemlich lebhafte Auswanderung besonders von jungen Mädchen nach den Niederlanden und nach den skandinavischen Ländern statt. –

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IV. Dass die sittlichen Volkszustände unter den Wirkungen des Krieges und mehr noch unter seinen Folgen gelitten haben, versteht sich von selbst. Freilich ist es schwer ein richtiges Bild davon zu gewinnen. Man darf nicht ausschliesslich auf Grund vieler einzelner Vorfälle von Einbrüchen und

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Raubanfällen, betrügerischen Handlungen, die täglich in den Zeitungen berichtet werden, urteilen. Denn teils haben solche Verbrechen auch sonst sich ereignet, teils sind die polizeilichen Hemmungen und die gerichtlichen Sanktionen schwächer geworden. Viele solcher Missetaten fallen verhältnismässig wenigen Personen zur Last. Man darf auch nicht aus den Begebenheiten der grossen Städte auf das gesammte Volk schliessen. Auch stehen den schweren sittlichen Übeln der Verwilderung [14] und Verwahrlosung die auch in der Schwelgerei und der Üppigkeit einer dünnen Schicht von reich oder reicher gewordenen Händlern, aber auch Landwirten und Industriellen zu Tage tritt, manche erfreuliche Erscheinungen gegenüber. Es ist nicht bloss das Wort „Gemeinschaft“, das wohl hundert mal öfter gesprochen und geschrieben wird, als es vor 10 Jahren geschah – es betätigt sich auch ein Bewusstsein, der Familien-Gemeinschaft, der VolksGemeinschaft und der Menschenliebe in ausgedehnterem Maasse als zuvor. Der sittliche Ernst wächst durch die Verbreitung und Vertiefung der Kenntnis des wirklichen Elends. Besonders machen immer von neuem die Mitteilungen angesehener Ärzte Aufsehen und nehmen das Mitgefühl in Anspruch. Schon vor Jahresfrist, also vor dem französischen Raubzug, konstatierte ein amtliches Gutachten des Geheimen Obermedizinalrates Dr. Krohne, dass aus vierundzwanzig preussischen Regierungsbezirken über die Unterernährung von Kindern insbesondere Schulkindern Berichte vorlagen, und es sei die Unterernährung, mehrfach bei mehr als der Hälfte dieser Kinder angetroffen worden: Hundertausende von Kindern erhielten keinen Tropfen Milch mehr; Hautkrankheiten und zunehmende Seuchengefahr seien Folgen des Wäschemangels, der Verteuerung der Seife, massenhafte Erkältungskrankheiten seien auf den Kohlenmangel zurückzuführen. Eigentliche Hungerkrankheiten seien nicht selten, auch Todesfälle am Verhungern kämen vor; Selbstmorde aus Verzweiflung und Hunger würden häufiger. Zwölf v. H. der Krankenanstalten, 15 v. H. der Säuglingsheime und 45 v. H. der Krippen waren schon damals geschlossen, ein grosser Teil des Ärztestandes war schon damals proletarisiert. In allen kommunalen Einrichtungen, auch in den Schulen, machte die Heiznot und die Unmöglichkeit bestehende Schäden auszubessern sich verhängnisvoll geltend. Man muss diese Zustände, wie sie gerade gegen Ende des Jahres

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französischen Raubzug: Gemeint ist die Besetzung des Ruhrgebietes durch frz. und belg. Truppen am 11. 1. 1923, veranlasst durch das Ausbleiben dt. Reparationsleistungen. Mit Generalstreik u.v.a.m. beantwortet, mit entspr. Repressalien („Ruhrkampf“). amtliches Gutachten: Konnte nicht nachgewiesen werden.

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1922 mehr als früher offenbar wurden, kennen und sich gegenwärtig halten, um die Anklage: das deutsche Volk habe Lieferungen verweigert, die es zu machen „verpflichtet war in ihrer ganzen Seelenlo[15]sigkeit zu würdigen. Unter der wirtschaftlichen Katastrophe besonders der letzten Monate muss der bisher nur mühsam erhaltene Gesundheitszustand des Volkes und damit seine Leistungsfähigkeit unaufhaltsam und unwiederbringlich zusammenbrechen“ hiess es in einem Aufrufe der deutschen Ärzteschaft im Dezember 1922. Furchtbar waren die Mitteilungen, die alsdann in einer grossen Versammlung der Ärzte in Berlin […], an der die berufensten Vertreter aus dem ganzen Reiche teilnahmen. Der geheime Sanitätsrat Dr. Dippe aus Leipzig fasste den Notstand dahin zusammen: „Wir hungern und müssen Vieh abgeben. Wir frieren und müssen täglich Unmengen von Holz und Kohlen an das Ausland liefern!“ Es war die Stimmung dumpfer Verzweiflung aus der das deutsche Volk dem grausamen Einfall der Franzosen einen passiven Widerstand entgegensetzte. Es war eine tiefere Verzweiflung, die zur Aufgabe des Widerstandes nötigte, tiefere Verzweiflung über einen tiefen und allgemein gewordenen Notstand.

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Aufrufe: Konnte nicht nachgewiesen werden. der Ärzte in Berlin […]: Wohl zu ergänzen: gemacht wurden. Quelle konnte nicht nachgewiesen werden. dahin zusammen: Quelle konnte nicht nachgewiesen werden.

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Arbeiter-Probleme in norwegischer Beleuchtung (Norwegische Arbeitslehre) [Bosse, Ewald, Det ökonomiske Arbeide. En genetisk Analyse] 5

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Die „Arbeit“ ist ein so wichtiger Gegenstand des wirtschaftlichen und des allgemeinen sozialen Lebens, dass sie immer auch für die Theorie, mithin für die Wissenschaft, die wir Nationalökonomie nennen, einen hervorragenden Gegenstand bilden muss. Darnach darf es Wunder nehmen, dass sie nicht eigentlich Mittelpunkt dieser Theorie geworden ist, wie man wohl hätte erwarten mögen. Freilich ist die Arbeit mehrfach, und auch in vorzüglichen deutschen Schriften, im Zusammenhang mit der Arbeiterfrage behandelt worden. Aber dies ist doch nur eine, wenn auch seit mehr als hundert Jahren die bedeutsamste Angelegenheit geworden, die aus der modernen wirtschaftlichen Entwicklung sich erst ergeben hat. Auch das grosse Werk des Norwegers Prof. Ewald Bosse3 beruht in seinen tieferen Gründen in der Arbeiterfrage. Der Verfasser nennt sein Werk eine genetische Analyse: seine Behandlung will nicht bloss sozialökonomisch sein, sondern auch als soziologisch aufgefasst werden, sofern sie ein Bild zu geben sucht vom Träger der Arbeitskraft als einem Sozialindividuum, dessen Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft in verschiedenen Epochen und die Rolle, die er in Entstehung und Untergang jeder Epoche gespielt hat, im Vordergrunde steht. Dies ist ein grosses Programm, und 3

Handschriftlich von Tönnies hinzugefügte Fußnote: Det ökonomiske Arbeide En genetisk Analyse Bind I und Bind II. Nye Nordiske Forlag. Oslo 1927, I. XXII und 410 S. II 411− 1048 S.

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(Norwegische Arbeitslehre): Textnachweis: SHLB, TN Cb 54.45:36:09. Textentstehung 1934. – Typoskript (in 4°, Originalpaginierung Seite 1−18). Kopftitel eigenh., darunter gleichfalls eigenh.: von Ferdinand Tönnies. Danach, wieder eigenh., stichwortartige Angabe des Inhaltsverzeichnisses des rezensierten Werkes: (Arbeiterfrage – Freiheit und Unfreiheit der Arbeit – Liberalismus und Sozialismus – engl. Entwicklung – Dependente und famulatorische Arbeitsform? Laborismus? – [..] Entwicklung – der Ideen). Näheres zur Textentstehung s. den Edit. Bericht S. 659f.

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die Energie, womit der Gelehrte ihm gerecht zu werden sich bemüht hat, verdient die höchste Anerkennung, auch dessen der im einzelnen manches anders beurteilt. Die nordischen Sprachen sind in Deutschland so wenig bekannt, dass auch leichtere Bücher wenig Aussicht haben, im Originale gelesen zu werden; vollends ein streng wissenschaftliches Werk, das auf diesen Charakter hohen Wert legt. Jedenfalls einer [2] sorgfältigen Prüfung würdig ist. Die zwei grossen Bände behandeln in fünf Hauptabschnitten die verschiedenen „Arbeitsformen“, die in der Geschichte sich vorfinden. Sie heissen in der Terminologie des Verfassers: 1. die servistische; 2. die dependente; 3. die sozietäre; 4. die famulatorische; 5. die paritäre. Die Kunstausdrücke verraten schon einen grossen Teil der eigenen Arbeitslehre, die in dem Werke vorgelegt wird, und übrigens mit umfassender Kenntnis der Literatur, wie auch sonst mit grosser Sorgfalt und eindringlichem Fleiss das grosse Thema erörtert. Es ist durch den Gang der persönlichen Entwicklung des Verfassers noch mehr als durch die Nachbarschaft der Nationen bedingt, dass die deutsche Literatur in seinem Werke am meisten zur Geltung gelangt. Denn Bosse ist mehrere Jahre hindurch in Kiel Honorarprofessor gewesen und wäre auch heute wohl fähig, an einer deutschen Hochschule seine Arbeitslehre mit Erfolg vorzutragen, nachdem er nunmehr vor etlichen Jahren in sein Vaterland zurückgekehrt ist. Die Übersicht über sein Werk, die wir ihm schuldig zu sein glauben, werde einstweilen noch etwas weitergeführt, um wenigstens dem Leser, der mit den nordischen Sprachen nicht bekannt ist, eine Vorstellung von diesem bedeutenden Werke mitzuteilen und demjenigen, der die dänisch-norwegische Schriftsprache kennt oder sie sich anzueignen vermag, die Anregung zu geben, sich eingehender mit der vorliegenden Lehre dieses Schriftstellers zu beschäftigen. [3] Die Folge der Arbeitsformen meint der Verfasser offenbar als eine historische Folge. So ist es denn nicht zu verwundern, dass sein Werk ihm unter den Händen zu einer vollständigen Wirtschaftsgeschichte geworden ist, wenn er auch durch mannigfache Erörterungen systematischer Art die historische Darstellung unterbricht, besonders durch Hinweisung auf sozialistische Kritik, die sich natürlich vorzugsweise auf die neueren noch jetzt bestehenden Arbeitsformen bezieht. Übereinstimmung besteht ja wohl heute zwischen den sonst sich unterscheidenden und nach der Partei unterschiedenen Auffassungen über die Grundzüge der Entwicklung; wenn auch diese Übereinstimmung vorzugsweise die liberale und die sozialistische Auffassung verbindet, sodass in dieser Hinsicht die heute in Deutschland üblich gewordene und in einem negativen Sinne fast obligatorische Zu-

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sammenstellung „liberal-marxistisch“ gerechtfertigt erscheinen möchte, sofern eben der allgemeine Gang als der Weg von der Unfreiheit zur Freiheit verstanden wird, und dieser Weg gerade die soziale Stellung der Arbeit vorzugsweise bezeichnet. Auch pflegt ja hierin der Hauptunterschied und Gegensatz der antiken und der modernen Kultur gesehen zu werden, obgleich schon hieran Streitfragen sich knüpfen. Bosse behandelt eingehend diese Streitfragen: so die Frage über den Anteil den die freie Arbeit auch in der Antike, besonders in der spätrömischen Zeit gehabt, und über die Wirkungen, die in dieser Hinsicht die Annahme der christlichen Religion zur Folge gehabt habe. Sein Urteil über dies letzte Problem ist sorgfältig begründet. und unterscheidet streng zwischen ökonomischen Wirkungen einerseits, ethischen und sozialen andererseits. Die ökonomischen Ursachen, unter denen das Teurerwerden [4] der Sklavenarbeit eine Hauptrolle spielt, kommen dabei in den Vordergrund, wenn auch die ethische (höhere) Schätzung, in der das Christentum an die vorwaltende Philosophie sich anschloss, richtig gewürdigt wird. Umso mehr muss es auffallen, dass das Werk in diesem ersten Hauptabschnitt gar nicht auf die grosse Renaissance der Sklaverei in einer höchst modernen und durchaus christlichen Gestaltung des Lebens zu sprechen kommt: ich denke an die Negersklaverei in den Vereinigten Staaten, die in den spanischen und portugiesischen Kolonien ihren Vorläufer hatte. Der Verfasser kommt darauf nur in einem Anhang zum 4. Hauptabschnitt, der überschrieben ist: die famulatorische Arbeitsform. Er nennt sie bis zu einem gewissen Grade einen Atavismus in der Entwicklung der Arbeit. Sie repräsentiere zwar die altservistische Form, wie sie in der Antike angetroffen werde aber sie liege nicht so völlig ausserhalb des arbeitstechnischen Zustandes in der Zeit, wie man zu meinen pflege. „Die Institution hatte Parallelen in der europäischen Gesellschaft und mehrere Länder können sich nicht rühmen, die persönliche Sklaverei bei sich selber abgeschafft zu haben, obgleich sie sich lebhaft beteiligten an der Agitation für die Aufhebung der Negersklaverei.“ Die nähere Ausführung, die der Verfasser seinem Urteile gibt, weist einerseits daraufhin, dass die rote Sklaverei der schwarzen vorangegangen ist und dass auch in Europa es immer Sklavenmärkte, also auch immer Sklaven gab, und zwar vielfach auch in Gestalt der jüngeren Leibeigenschaft, ein Zustand den z. B. auch Knapp als nicht wesentlich verschieden vom Besitze der Menschen als einer Ware bezeichnet hat. Bosse widmet auch dem Ende der Negersklaverei in Amerika eine kurze Betrachtung. Ich glaube doch, 30

„… Aufhebung der Negersklaverei“: Vgl. Bosse 1927: 1. Bd., 395.

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dass die ganze Angelegenheit eine tiefere Auffassung und Darstellung verdient hätte in ihrer prinzipiellen Bedeutung. Ein soziologisches Werk [5] über die Arbeit und ihre soziale Bedeutung hätte etwa die verschiedenen Arten und Grade der Unfreiheit, und nicht minder die verschiedenen Arten und Grade der Freiheit der Arbeit zunächst systematisch an die Spitze stellen können, um danach die historische Entwicklung zu beurteilen, die ohne Zweifel mehrfach eine entschiedene Reaktion, also eine Art von Rückkehr zur unfreien Arbeit aufweist und auch heute noch nicht als schlechthin unmöglich geworden behauptet werden darf, wenn auch das 19. Jahrhundert in dieser Hinsicht radikal dachte: der neuerdings fast zur Mode gewordene Widerstand gegen die Denkungsart des 19. Jahrhunderts ist verdächtig. Aber er hat offenbar unserm Verfasser noch fern gelegen und hat seine allgemeine Anschauung vom Fortschritt der menschlichen Entwicklung nicht modifiziert. Übrigens zeigt sich in dieser Frage wie im ganzen Gebiete der Wirtschaftsgeschichte die grosse Schwierigkeit einer schlechthin allgemeinen Darstellung. Auch hat der Verfasser sich genötigt gesehen, der englischen Entwicklung in den drei ersten seiner Arbeitsformen: der servistischen, der dependenten und der sozietären, einen besonderen Abschnitt zu widmen, der beachtenswert ist. [6] Die Einteilung der „Arbeitsformen“ steht im Vordergrunde der Systematik in dieser Arbeitslehre. Sie ist wie gesagt originell und wie es scheint geistiges Eigentum des Verfassers. Da fällt uns dann gleich der 2. Hauptabschnitt und die Bezeichnung „dependente Arbeitsform“ auf. Hier behandelt Bosse das ganze Städtewesen, daher auch das Zunftwesen mit guter Sachkenntnis. Die Arbeitskraft – meint er – sei im grossen und ganzen in dieser Periode, sowohl in ihrem Verhalten zum Kapital als in ihrer Eigenschaft als Produktionsfaktor stark abhängig gewesen, wenn auch das Handwerk sich eine bedeutende Stellung im Produktionsprozess erkämpft habe. Man wird diese Charakteristik besser verstehen, wenn man sogleich die im 3. Hauptabschnitt dargestellte „sozietäre Arbeitsform“ vergleicht. Hier wird schon die Arbeitskraft in neuen Formen betrachtet, besonders als Hausindustrie (wir pflegen in Deutschland seit geraumer Zeit das Verlagsystem lieber Heimindustrie zu nennen, zum Unterschiede von der Hausindustrie als einer naturwüchsigen und nicht wesentlich kommerziellen Gestaltung) und als Fabrik, oder wie manche mit Marx es vorziehen, die frühkapitalistische Methode zu charakterisieren, als 23 30

dependente Arbeitsform: Vgl. ebd.: 91: Den dependente arbeidsform. sozietäre Arbeitsform: Vgl. ebd.: 190: Den societaere arbeidsform.

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Manufaktur. Der industrielle Grossbetrieb kündigt in diesem Zeitalter sich an. Der Verfasser will dem gerecht werden, indem er als 4. Kapitel den modernen Kapitalismus behandelt, dessen Entstehung er aber dahingestellt sein lässt. Hier liegt ein offenbarer Mangel in Bosse’s Auffassung zugrunde. Die fundamentale Veränderung im Verhältnis der Arbeit zum Kapital kommt nicht gehörig zu ihrem Rechte. Sie besteht darin, dass das Kapital die entscheidende Bedeutung gewinnt, die wenigstens in der Industrie bisher die Arbeit gehabt hatte. Freilich weiss der Verf. wohl, dass die Dispersonifizierung der Arbeit als gemeinsames Merkmal [7] der Heimindustrie und der Manufaktur diese Periode charakterisiert, und dass deren Folge ein höheres Mass von Ungebundenheit der Arbeit sein musste. Und eben darin meint er den Grund zu gewinnen für sein Urteil, dass nunmehr die Arbeitskraft nicht mehr in dem absoluten Verhältnis der Unterordnung stehe, worin es Jahrhunderte lang gestanden habe. Ich sehe hierin die Konsequenz der Auffassung des Bürgertums und des Zunftwesens, die mir als nicht genügend erscheinen. Der Verfasser verkennt den tiefen Unterschied, den ich nach meinen Begriffen als den von Gemeinschaft und Gesellschaft behaupte. Für das soziale Verhältnis zwischen Arbeitern und andren abhängigen Menschen einerseits, den Herren des Bodens oder Kapitals auf der anderen Seite war das wichtigste Kriterium immer persönliche Unfreiheit oder persönliche Freiheit jener. Persönliche Unfreiheit verneint das Dasein des so gezeichneten Menschen als eines Faktors im sozialen Leben überhaupt. Nur auf den freien Menschen bezieht sich jene begriffliche Unterscheidung die der Abhängigkeit in der Gemeinschaft einen völlig verschiedenen Stempel gibt, verglichen mit der Abhängigkeit gesellschaftlicher Art die den besitzlosen Arbeiter dem Kaufmann oder anderen Vertretern des Besitzes unterordnet. Hier ist nun der Fall des Bauern oder Landarbeiters darum von so besonderer und leicht missverstandener Art, weil hier vielfach die Unfreiheit so weit in persönliche Freiheit übergeht, dass sie auch als Abhängigkeit in Gemeinschaft sich darstellen kann, während sie andererseits durch die Allgemeinentwicklung in die gesellschaftliche Abhängigkeit hinübergedrängt wird. Bosse selber betont die Ungleichheit der ländlichen Abhängigkeiten, die er im allgemeinen vor dem 19. Jahrh. noch durch Leibeigenschaft hinlänglich zu charakterisieren meinte. Er legt Wert darauf zu betonen, dass dem Bauern viel allgemeine Sympathie besonders die der Regierungen zuteil wurde, während sie den städtischen Formen der Arbeit [8] noch beinahe fremd blieb. Dies ist durchaus richtig, aber nur für die Neuzeit, und hat aber seine Ursache darin, dass einmal noch die städtischen Autonomien z. T. innerhalb der

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Territorial-Regierungen (in Deutschland), zumal der freien Reichsstädte, sich zu erhalten vermochten, und ferner darin, dass die modernere Industrie gegenüber dem Handwerk nur auf wenigen Gebieten und sehr langsam Boden gewann: ihre Erscheinungen und etwaigen Misstände fielen nicht in die Augen, am wenigsten vielleicht bei der am weitesten verbreiteten Gestalt des Frühkapitalismus: dem Verlagssystem oder der Heimindustrie. Einen neuen und auffallenden Kunstausdruck führt der Verfasser auch ein für die „ungebundene Arbeitskraft“ in der liberalistischen Epoche“: er nennt die dadurch geschaffene 4. Arbeitsform die „famulatorische“ und leitet ihre Besprechung ein durch ein Kapitel über das Verhältnis der Maschinen zur menschlichen Arbeitskraft – einen Gegenstand, der bekanntlich eine sehr ausgebreitete Behandlung wissenschaftlicher und populärer Art von – man darf wohl sagen – Gelehrten und Politikern aller Länder erfahren hat. Origineller ist daher das 2. Kapitel über die psychischen Kräfte, die auf die Stellung der Arbeitskraft Einfluss üben. Bosse unterscheidet hier zwei „Gruppen“ nach den äusseren Umständen, die in dieser Hinsicht zutage getreten sind: 1. die politischen: hier wird vorzüglich der Liberalismus dargestellt und auch das „Recht auf Arbeit“, dem derselbe Verfasser seitdem eine besondere Darstellung gewidmet hat kommt zur Geltung; 2. die wissenschaftliche: Theorien, die „in einem gewissen Grade an der Entwicklung der Arbeit teilhatten die man ihre Befreiung genannt hat“. Daran schliesst sich naturgemäss das Kapitel über die Geburt der freien Arbeit, worin die beschleunigende Wirksamkeit der Regierungen vorangestellt [9] wird und neben den politischen und wissenschaftlichen auch die ökonomischen Beweggründe gewürdigt werden. Die Ergebnisse dieser „ungebundenen Periode“ sind nicht eben das tausendjährige Reich, sondern „es trat in mehreren Gesellschaften ein Elend ein, das kaum je grösser gewesen war“. Dies Kapitel leitet hinüber zu einer besonderen Darstellung der englischen Gesellschaft als eines Paradigmas für die famulatorische Arbeitsform. Vorangestellt wird als ein mächtiger Faktor die sozialökonomische Wissenschaft, und innerhalb ihrer neben Adam Smith die Theorien des Robert Malthus; daran schliesst sich dann Ricardo und die klassische politische Ökonomie – aber auch die Sozialpolitik als Reaktion 8

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ungebundene Arbeitskraft: Vgl. ebd.: 252: Den famulatoriske arbeidsform. Den ubundne arbeidskraft i den liberalistiske epoke. eine besondere Darstellung: Vgl. Bosses „Av arbeidslaeren: Retten til Arbeide“ (1933); siehe dazu TG 22: 428−442 (Tönnies 1998). „… Befreiung genannt hat“: Vgl. Bosse 1927: 1. Bd., 269. „… grösser gewesen war“: Vgl. ebd.: 292 f.

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gegen die Ergebnisse des laisser faire. Hier findet man auch Owen’s grosse Bestrebungen anerkannt, und ferner alles was vom Hause der Gemeinen aus dem 19. Jahrh. als Arbeiterschutz Epoche gemacht hat. Als soziologische Veränderung hebt Bosse die Losreissung vom Boden hervor, die in keiner damaligen Gesellschaft so ausgeprägt bemerkt wurde wie in England. Er meint, man müsse sich wundern, dass diese nicht eine ganz andere und politisch weniger konservative Arbeiterklasse mit bedeutend erhöhter internationaler Einstellung zur Folge gehabt habe. Hier hätte auch ausgeführt werden können, dass eine solche Einstellung dem Engländer überhaupt nicht anders sympathisch ist als insofern er der Herr in der Welt bleibt und dass der Unterschied zwischen konservativer und liberaler Politik bis auf die neuere Wendung zum Emporkommen der Arbeiterpartei immer verstanden werden muss als ihrem Wesen nach teils durch die Willensrichtung des Grundbesitzes einer- der Industrie andererseits, teils durch den Unterschied und Gegensatz von Kirche und dissent bestimmt. Der Verfasser lehrt uns nun noch als letzte und für die […] [10] mehr in ihrem Werden als in ihrem Sein betrachtet wird eben weil sie noch im Werden ist. Ihrer Bedeutung gemäss aber wird sie in so ausführlicher Weise behandelt, dass sie den ganzen erheblich stärkeren 2. Band des Werkes erfüllt. Glücklich werden hier zwei grosse Kapitel vorangestellt, nämlich 1. über den Einfluss psychischer Kräfte auf die Stellung der Arbeitskraft, wo die Behandlung der Systeme, d. h. zum grossen Teil der sozialistischen oder kommunistischen Gedankenrichtung den breitesten Raum einnimmt. Hier treten neben den althergebrachten mit den religiösen Vorstellungen verwobenen Theorien des Kommunismus unter dem Prädikat Egalismus hauptsächlich die französischen, unter dem Stichwort Laborismus hauptsächlich deutsche Denker und Forscher auf, an deren Spitze Rodbertus und Marx stehen, und eine längere Ausführung über den Bolschewismus beschliesst den Abschnitt, dem aber noch ein besonderer § über philosophisch soziologische Systeme angeschlossen wird: das sind interessante Erörterungen über „die historische Forschung und die ökonomische Entwicklung“ „die wirtschaftlichen Betriebe und die Gesellschaft“ „Teleologie und Kausalität“.

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dissent: Von der Landeskirche abweichend. und für die […]: Folgend Textverlust von vermutlich einer Zeile, da das Seitenende erreicht war und das verwendete Kohlepapier den unteren Blattrand nicht mehr überdeckte. besonderer §: Vgl. Bosse 1927: 2. Bd., 508: Filosofisk-sociologiske systemer. Teleologie und Kausalität: Vgl. ebd.: 512: Teleologi og kausalitet. – Die beiden unmittelbar vorausgehenden Zitate ebd.: 508 u. 511.

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Endlich kommt hier auch die „materialistische“ Auffassung der Geschichte zur Geltung, der Bosse eine Vermittlung zwischen den Klassikern und den neueren Theorien über die soziologische Entwicklung zuschreibt und der er besser gerecht wird als es heute zumal in Deutschland üblich ja erlaubt (!) ist. Seine eigene Ansicht aber scheint der Verfasser in drei folgenden Stücken über „die ökonomische Wissenschaft“ vorzustellen, wo 1. England – nach Smith, Malthus und Ricardo, 2. Deutschland – da geht die Entwicklung bis auf die Cameralisten zurück, und 3. Frankreich in seinen neueren Erscheinungen wie Charles Gide, Rambaud u. a. je eine angemessene [11] Charakteristik erfahren. 2. das andre Kapitel wird überschrieben: die Arbeiterbewegung. Voran gehen zwei kurze Paragraphen, die offenbar darauf beruhen, dass immer die soziale Bewegung in England dem Verfasser als typisch vorschwebt, denn ihre Gegenstände sind eben spezifisch englisch: A. die Bewegung zugunsten der „shop-stewards“, B. diejenige, die als GildenSozialismus viel von sich reden machte. Die Arbeiterbewegung wird in zwei grossen Abschnitten, erstens als Assossiationsbewegung, zweitens unter dem Titel öko-organische Ansprüche oder Forderungen erledigt. Dann schliesst als 3. Kapitel die Erörterung des Einflusses staatlicher Organe auf die Stellung der Arbeitskraft sich an. Und zwar zuerst allgemein in England, Deutschland und Frankreich, auch das Verhalten dieser Organe zu Handwerk und Ackerbau. Sodann wird das Armenrecht ausschliesslich im englischen Verhältnis; endlich aber das Arbeitsrecht unter den Merkmalen: Kollektiv-Vertrag, Recht auf Arbeit, Gesetzgebung für Minimallohn, ausführlich dargestellt. Es folgt ein langer Abschnitt über die sozialpolitische „Gruppe“: hier wird zuerst die nationale Sozialpolitik Englands, dann auch diejenige Deutschlands dargestellt und insbesondere die Bedeutung der Sozialversicherung gehörig hervorgehoben. Das Problem der Arbeitslosigkeit kommt dann zur Geltung und schliesslich wird die bekanntlich noch sehr unzureichende internationale Sozialpolitik vor und nach dem Versailler Frieden dargestellt, mit allem was sich an Illusionen und Enttäuschungen daran angeschlossen hat; besonders in der Konferenz zu Washington: Die Diskussion über das Problem des Acht-Stunden-Tages. 6 11 15 32

die ökonomische Wissenschaft: Vgl. ebd.: 529: Den oekonomiske videnskap. die Arbeiterbewegung: Vgl. ebd.: 592: Arbeidernes aktion. „shop-stewards“: [amerik.] (auch chairmen) svw. Betriebsobleute. Konferenz zu Washington: Vom 29. Oktober bis 29. November 1919. Vgl. Bosse 1927: 2. Bd., 956.

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Wiederum wird ein allgemeines Kapitel über die Wirkungen der Politik und ihren Wert für die Wirkung der Arbeitskraft speziell für England und Deutschland gleichsam als Muster empfohlen. Endlich wird [12] noch die Bedeutung der Kooperation zuerst begriffsmässig, und zwar in den beiden Gestaltungen als Produktiv- und als Konsumentenorganisation dargestellt, sodann in den besonderen Erscheinungen wie die grossen Staaten England, Deutschland und Frankreich sie aufweisen. Wir hatten schon auf die merkwürdige Terminologie, die Bosse anwendet, hingewiesen. Er kommt zum Schlusse auf die „paritäre“ Arbeitsform zurück. Er habe mit diesem Ausdruck sagen wollen, dass in dieser Epoche die Arbeitskraft auf Grund eines verschiedenen inneren und äusseren Verhaltens an die Seite des Kapitals als ihm gleiches Element sich erhoben habe. „Das Charakteristische für diesen Abschnitt in der ökonomischen Entwicklung ist diese Gleichstellung zwischen den beiden Produktionsfaktoren, die dahin wirkte, es ausgeschlossen sein zu lassen, dass das Kapital in der Ausdehnung wie früher die Arbeitskraft sich unterwerfen konnte“. Diese Gleichstellung freilich habe sich nicht auch geltend gemacht mit Hinsicht auf die Repräsentanten der beiden Faktoren in der Gesellschaft: in dieser Hinsicht habe da immer ein sehr grosser Unterschied geherrscht und herrsche auch noch. Übrigens aber sieht er in dem Zeitpunkt nach Abschluss des Weltkrieges den Übergang zu einem neuen Abschnitt für die Arbeitskraft in ihrer ökonomischen und soziologischen Stellung, in und mit dieser stehe die Arbeit auf einem Punkte – wenn seine Prognose richtig sei, – von dem aus sie der dominante unter den Produktionsfaktoren werde und seine Repräsentanten die Gesellschaft, worin sie leben, beherrschen werden. – An dieser Stelle macht es sich bemerklich, dass das Werk mehrere Jahre vor der jüngsten Umwälzung im deutschen Reiche abgeschlossen worden ist (1927) Denn wenn diese Aussicht bestanden hat, so mag sie in anderen Ländern auch noch bestehen, in Deutschland besteht sie seit mehr als einem Jahre nicht, und [13] die gegenwärtig herrschende Partei hat ohne Zweifel fanatisch – um ein Lieblingswort ihres Führers anzuwenden – dahin gewirkt, jede solche Aussicht abzuschneiden. Das bedeutet freilich nicht viel auf lange Sicht. Aber es hängt damit zusammen, dass unser Verfasser überhaupt die Wirkungen der neueren Sozialpolitik und der Denkungsart von der sie gefördert wurde, höher als sie verdiente, geschätzt hat. Ich nehme auch darum 16 29

„… unterwerfen konnte“: Vgl. ebd.: 1015. seit mehr als einem Jahre: Hinweis zur Datierung des vorliegenden Textes: 1934, ein Jahr nach dem Machtantritt Adolf Hitlers und der NSDAP.

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Anstoss an der Benennung dieser Arbeitsform, weil ich, was sich verändert hat, nur als eine Durchführung dessen schätze, was prinzipiell schon in der liberalen Auffassung soweit sie zugleich die Eigenschaft einer gerechten und humanen Auffassung ausprägen wollte, vollständig angelegt war. Es handelt sich im wesentlichen um die Gleichheit im Arbeitsvertrage: die Gleichheit des Rechts, der Association und die Gleichheit dem Staate gegenüber. Daher hatte auch der bestehende oder in der Entwicklung begriffene Zustand den entschiedenen Beifall solcher Beobachter, die gegenüber dem Sozialismus ihren liberalen Individualismus in aller Strenge festhielten: ich denke dabei an meinen neulich leider verstorbenen Freund Otto Baumgarten, mit dem ich auf dieser Basis in vollkommener Übereinstimmung mich befand. Ich halte an diesem Standpunkte fest und missbillige daher auch Bosse’s Meinung, es sei deutlich, dass die liberalistische Richtung, die im Anfang des 19. Jahrh. so vorherrschend war, längst durch eine autoritäre abgelöst worden sei, die im ausgemachten Streit mit den individualistischen Gesellschaftsprinzipien stehe. Ich behaupte, dass dies ein Missverständnis und zwar ein solches ist, das durch den Schein, und zwar gerade durch den Schein unserer jüngsten Erlebnisse begünstigt wird. Ich halte es für ganz unmöglich, und wenn es möglich werden sollte, für ein ungeheures Übel, wenn wirklich in dauernder Weise die Prinzipien [14] auf denen die grosse Entwicklung der modernen Gesellschaft in Europa und jenseites des Meeres seit dem Beginn der Zeit, die wir die neue Zeit nennen, geruht hat, zerstört und aufgegeben würden. Diese meine Ansicht hinlänglich zu begründen, wäre hier nicht am Platze, und ist ohnehin schwierig, sofern es eine bessere Einsicht in die Zukunft voraussetzt, als man im allgemeinen und im besonderen in Anspruch nehmen kann. Die grosse Erkenntnis, die im 19. Jahrhundert als die historische sich entwickelt hat und durch die biologische Entwickelung und Abstammungslehre eine bedeutsame Stärkung erfuhr, steht in einem merkwürdigen und tiefen Gegensatz zu der sonst das gesamte Zeitalter beherrschenden Denkungsart: dass es nur vom vernünftigen Denken und dementsprechendem Wollen abhänge, wie sich die Zukunft in sozialen und kritischen Dingen gestalte – sodass in jedem Augenblick gleichsam ein neuer Anfang geschehen könne, wenn nur richtige Einsicht und richtiges Wollen vorhanden sei. Diese Meinung liegt so tief in der menschlichen Natur, dass es von vorneherein unwahrscheinlich ist, sie sei gänzlich überwunden. Aber wissenschaftlich ist sie in ihrer alten rationalistischen Gestalt nicht mehr haltbar. Sie lag bisher mehr oder minder ausgesprochen, allen Revolutionen zugrunde, und solche können daher im strengen Sinne nicht mehr gerechtfertigt

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werden, wenn jene Voraussetzung verlassen wird. Das neue Prinzip ist dagegen: stetige Entwicklung, von der Überzeugung geleitet, dass doch nur an verhältnismässig wenigen Punkten eine totale Veränderung der Lebensverhältnisse und ihrer Bedingungen möglich ist. Und zwar auch dann nur allmählich geschehen kann. Und dass im übrigen der gesamte Körper der Zustände die in einem gegebenen Augenblick das Zusammenleben der Menschen bedingen und bestimmen, [15] in einem Sinne sich entwickelt, der in erster Linie von seinem gegenwärtigen Wesen, in anderer Hinsicht von seiner Vergangenheit abhängig ist. Es ist unverkennbar, dass durch diese Erkenntnis der revolutionäre Wille eher geschwächt und gedämpft als ermutigt und gestärkt wird. Das hat auch der revolutionäre Marx gewusst, der daher immer unrichtig verstanden und beurteilt wird, wenn man diese Elemente seines Geistes verkennt, das für ihn in der Hegel’schen Philosophie eine Gestalt gewonnen hatte, die er abzustreifen und „umzustülpen“ beflissen war, um sie sozusagen naturwissenschaftlich möglich zu machen; ohne dass er doch sie in dieser Richtung völlig zu modernisieren fähig gewesen ist – wenn er ein Jahrzehnt länger gelebt hätte, so wäre es ihm wahrscheinlich gelungen. In Anwendung auf die Arbeiterbewegung müsste es nämlich heissen: von dem fortschreitenden Leben dieser Bewegung in ihren verschiedenen Ausdrücken verhältnismässig viel, von den Wirkungen der Gesetzgebung verhältnismässig wenig erwarten. Diese Entwicklung der Ideen war in Deutschland und anderswo während der letzten Jahrzehnte, wenn auch erst lange nach dem Tode des Denkers Marx, im Gange und machte als Revisionismus gegen die starre Form, in der die Dogmatik der parteiverbindenden Lehre erstarrt war, um eben dadurch mehr gesicherten Einfluss zu gewinnen, sich geltend. Es ist unter allen Umständen ein Irrtum, im günstigsten Falle eine grosse Illusion zu glauben, es lasse von Politik und Gesetzgebung aus ein ganzes der bisherigen Entwicklung, die etwa vier Jahrhunderte lang gedauert hat, entgegengesetztes Prinzip nicht nur sich aufstellen, sondern in dauernder Wirkung erhalten, das auf völlig neuen 14

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„umzustülpen“: Vgl. Marx 1890: XVIII: „Die Mystifikation, welche die Dialektik in Hegels Händen erleidet, verhindert in keiner Weise, daß er ihre allgemeinen Bewegungsformen zuerst in umfassender und bewußter Weise dargestellt hat. Sie steht bei ihm auf dem Kopf. Man muß sie umstülpen, um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken“. als Revisionismus: D. i. die seit den 1890er Jahren von Eduard Bernstein gegründete gemäßigte Richtung innerhalb der dt. Sozialdemokratie, die die Ziele der Arbeiterbewegung nicht durch Revolution, sondern auf evolutionäre Weise, durch Sozialreformen umsetzen wollte.

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Voraussetzungen beruhe, wenn auch diese Voraussetzungen zum grossen Teil eine Rückkehr zu Anschauungen und Lebensbedingungen enthalten, die vor etwa ebensovielen Jahrhunderten in [16] unbestrittener Geltung gewesen sind, tatsächlich aber nur noch antiquarischen Wert haben, wie eine kostbare alte Münze, die etwa wieder in Verkehr gebracht und nach ihrem Metallwert aufs neue geschätzt wird, bis einmal ein Besitzer entdeckt, dass sie als Antike in ein Museum gebracht erheblich höheren Wert habe, als sie auf dem Markte je gewinnen könne, – dies ist das Schicksal das immer solchen Dingen bevorsteht, die in den natürlichen Gang der Entwicklung nicht hineinpassen. Aus der Art wie der geschätzte Verfasser des Werkes „Det ökonomiske Arbeide“ diese Probleme berührt, glaube ich schliessen zu dürfen, dass er bisher ihre Problematik nicht völlig zuende gedacht hat, dass er also – mit anderen Worten ausgedrückt – eine Umkehrung der Evolution zu leicht und zu wahrscheinlich sich vorstellt, die ja freilich als Involution in jedem organischen Körper sich einstellt, als solche aber nicht mehr dem Leben, sondern dem Sterben dient, was ihr freilich nicht bewusst zu werden pflegt.

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–––––––––––––––––– Wie ich schon im Eingange dieser Besprechung angedeutet habe, ist ihre Meinung nicht, das Werk irgendwie zu verneinen und zu erledigen, sondern in erster Linie es zu empfehlen. Es gereicht der skandinavischen Literatur zur Ehre und hat offenbar in ihr bisher nicht seinesgleichen. Wie stark die in ihm dargestellte Entwicklung des Wirtschaftslebens und speziell der sozialen Frage, die in unserem Zeitalter bisher so gewaltige Wellen geschlagen hatte, gerade im deutschen Sprachgebiete mit aller deutschen Gründlichkeit verarbeitet worden ist, davon zeugt Bosse’s Werk so lebhaft wie möglich selber durch die z. T. seitenlangen Wiedergaben von Ausführungen deutscher Autoren, die in den Anmerkungen des Werkes sich finden. Ohnehin wissen wir, [17] dass eben die mindestens 50 Jahre lang herrschend gewesene Richtung der akademischen Lehre in der Nationalökonomie nach ihrem historischen Charakter genannt wurde und dass sie an weitreichender

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bewusst zu werden pflegt: Der folgende Textabschnitt ist durch größeren Abstand und dazwischengezogene Spiegelstriche abgesetzt. Richtung: D. i. die von Wilhelm Roscher begründete „Historische Schule der Nationalökonomie“.

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Erkenntnis fruchtbar gewesen ist. Wir verdanken ihr naturgemäss gerade für die Wirtschaftsgeschichte ausserordentlich grosse Fortschritte; auch dass die allgemeine oder Weltgeschichte immer mehr von ihr abhängig geworden ist: man vergleiche etwa Lamprecht’s mit Ranke’s oder gar mit Schlosser’s Geschichtsschreibung. Auch hat gerade die Wirtschaftsgeschichte von deutschen Gelehrten eine vielfache Pflege und Förderung gefunden. Ich denke dabei nicht nur an die grossen Leistungen ihrer Meisters Gustav Schmoller, die in dessen „Grundriss der allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ uns ein Denkmal hinterlassen hat, das mehr ist als ein Denkmal, ein Werk voll von unendlicher Anregung, die auch in seinem hinterlassenen Buche über die soziale Frage nachklingt und nachwirkt. Wir haben ausserdem die Sammlung von Wirtschaftsgeschichten einzelner Länder, die Georg Brodnitz veranlasst und geführt hat, selber durch die englische Wirtschaftsgeschichte einen glücklichen Anfang machend, dem aber im gleichen Sinne hervorragende Gelehrte des Auslandes folgten, unter denen der Russe Kulischer auch gewagt hat, die allgemeine Wirtschaftsgeschichte darzustellen. Ungefähr gleichzeitig ist auch in 4 Bänden die allgemeine Wirtschaftsgeschichte des langjährigen Herausgebers der sozialdemokratischen Wochenschrift „Die neue Zeit“, des ausgezeichneten Gelehrten Heinrich Cunow erschienen, und – was für die Weltliteratur noch mehr bedeutet – die 2. Auflage des Sombart’schen Werkes „Der moderne Kapitalismus“, das in den zwei Bänden „über das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus“ seine Vollendung gefunden hat. [18] Diese Fülle bedeutender Leistungen auf dem gleichen Gebiete macht es nicht wahrscheinlich, dass neben ihnen eine deutsche Bearbeitung des norwegischen Werkes noch Boden gewinnen könne. Es wäre dazu am meisten geeignet eine Ausscheidung und besondere Darstellung dessen was der Verfasser selber die Soziologie oder doch die soziologische Behandlung des gesamten grossen Problemes der Arbeit und der Arbeiterfrage nennt. Ihr würde das posthume Werk des ehemaligen theologischen Professors Karl Dunkmann, der mit so grosser Energie seinen Geist in diese Fragen, die uns alle aufregen, versenkt hatte („Die Soziologie der Arbeit“), entgegenkommen. Die gesamte Erörterung 5 7 12 15 16 20 29

Schlosser’s Geschichtsschreibung: Vgl. Schlosser 1844. großen Leistungen: Vgl. Schmoller 1900 / 04 u. 1918. Georg Brodnitz: Vgl. z. B. Brodnitz 1902. der Russe Kulischer: Vgl. Kulischer 1928 / 29. allgemeine Wirtschaftsgeschichte: Vgl. Cunow 1926 / 31. 2. Auflage: Vgl. Sombart 1916 / 17. posthume Werk: Vgl. Dunkmann 1933.

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könnte dadurch gewinnen, und der skandinavische Verfasser, der sich doch auch als deutscher Gelehrter schätzen lässt, würde an dieser Erörterung sicherlich freudigen Anteil nehmen.

Soziale Spielregeln [Pieper, Josef, Grundformen sozialer Spielregeln – Eine soziologisch-ethische Grundlegung der Sozialpädagogik]

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Es wird kaum zum ersten Male geschehen sein, dass man die mannigfachen Normen, Vorschriften, Gesetze, denen das menschliche Zusammenleben und Zusammenwirken in allen seinen Gestalten unterworfen ist, mit den Regeln eines Spiels verglichen, ja sie durch diese Vergleichung besser zu begreifen und zu erläutern gemeint hat, weil ja eine Spielregel schon Kindern bekannt ist und ihren Sinn selber erklärt, wenn auch die sehr ernsten Gegenstände des Zusammentuns und Zusammenlebens die Gleichstellung mit einem Spiel sich gefallen lassen müssen. In der vorliegenden Schrift wird nun der Versuch gemacht, dem Begriff eine wissenschaftliche Ausprägung zu geben, und dadurch die reine Soziologie neu zu begründen. Freilich nicht dadurch allein; denn es spielen andere Theoreme hinein, die teils an mein Werk, teils und besonders an dasjenige Johann Plenge’s sich anreihen und auch auf manche Erscheinung, wesentlich der deutschen Soziologie sich erstrecken. Der Verfasser, auch sonst der Genauigkeit durchaus beflissen, will nicht versäumen genauer zu umschreiben, was er als soziale Spielregel verstanden haben wolle: er meint, man werde es etwa für zweckmässiger halten, von den ‚Gesetzen‘ als von den ‚Spielregeln‘ der Gemeinschaft zu reden. Er bemüht sich zu begründen, warum er den Spielregeln den Vorzug gäbe, als der in einem bestimmten zwischenmenschlichen Verhältnis unmittelbar gegebenen, ihm immanenten Norm des wechselseitigen Verhaltens 1

Soziale Spielregeln: Textnachweis: SHLB, TN Cb54.36:11. – Das Typoskript (in 4°) enthält unter dem Kopftitel eigenh.: Von Ferdinand Tönnies und die stichwortartige Angabe des Inhaltsverzeichnisses des rezensierten Werkes: (Terminologie – Hafttiefe – Spielregeln der Gemeinschaft, der Gesellschaft, der Organisation – das Heer – Spielregeln der Masse, des Gliederungsgefüges, des Kräftesystems). Entstanden 1933 oder 1934. – Tönnies hatte die Rezension dem Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik angeboten, dessen Redaktionsleiter Alexander von Schelting ihm den Text zurückgab, „mit nicht wenigen Redensarten“, wie Tönnies am 2. Mai 1934 an Max Horkheimer schrieb (TN Cb 54.51: 6,25). Möglicherweise versuchte er – jedoch erfolglos – die Rezension nun in Horkheimers in Paris erscheinender Zeitschrift für Sozialforschung unterzubringen.

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der Partner zueinander. Hier scheint die Norm als der allgemeine Begriff zugrunde gelegt zu werden. Zugleich aber wird die Spielregel auf die Eigenschaft beschränkt, mit einem bestimmten Verhältnis unmittelbar gegeben zu sein und ihm inne zu wohnen. Dadurch scheint mir das was mit der Begriffsbildung ins Auge gefasst war, wieder zu verschwimmen. Pieper will sein Verfahren sogleich, und ein für alle Mal, gegen einige Missdeutungen sichern, die er nicht ungefährlich [2] nennt: 1. Erinnert er an die Unterscheidung, die er schon früher begründet hatte von histologischer und organologischer Betrachtungsweise. Seine Absicht gehe nur auf bestimmte Zusammenhänge des sozialen Grundgewebes, darum seien die Spielregeln nicht in ihrer Bedeutung zu verallgemeinern. Es sei z. B. beim Familienleben nur an eine Seite, die histologische gedacht. 2. Es solle mit der Hinweisung z. B. auf die Familie als Gemeinschaft, nicht gesagt sein, dass deren Zusammenleben einzig durch die Spielregeln der Gemeinschaft bestimmt werde; freilich aber sei ihr die prävalent bestimmende Geltung gemeinschaftlicher Spielregeln eigen. – Nachdem diese Voraussetzungen ihre Darstellungen gefunden haben, werden zunächst die Spielregeln der Gemeinschaft, die der Gesellschaft und die der „Organisation“ in grösseren Abschnitten dargestellt und alsdann die Notwenigkeit der konkreten Verschränkung von gemeinschaftlicher, gesellschaftlicher und organisatorischer Spielregel behauptet, um endlich noch in Kürze und auf Grund einer andern Einteilung die Spielregeln der Masse, des Kräftesystems und des Gliederungsgefüges zu erörtern. Diese Terminologie führt uns eine Reihe von Begriffen vor, die zugleich mit der Systematik bekannt machen, die hier zugrunde liegt. Denn diese ist inzwischen mit zwei kurzen Abschnitten vorgestellt worden: nämlich 1. mit einem Überblick über das Schrifttum. Hier wird zuerst Sombart’s Lehre von den „Grundformen des menschlichen Zusammenlebens“ als „für unsere Zwecke ungeeignet“ abgelehnt; ebenso Wiese’s Tafel der menschlichen Beziehungen und seine Einteilung der Gebilde. Dagegen wird Gemeinschaft – Gesellschaft anerkannt: die Unterscheidung scheine zwei der soziologisch erheblichsten Erziehungsgrundformen zu treffen. Es folgt noch eine längere Ausführung über die hieran angeschlossenen

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schon früher: Vgl. Pieper 1933: 8 f. „Grundformen des menschlichen Zusammenlebens“: Vgl. Sombart 1931: 221−239. für unsere Zwecke ungeeignet: Vgl. Pieper 1933: 14: „für unsere Zwecke kein möglicher Anhaltspunkt“. Wiese’s Tafel: Vgl. von Wiese 1924 / 29: Teil 1, 51−56.

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Theoreme Vierkandt’s, Schmalenbach’s, Geiger’s [3] und des Grafen Solms. Plenge’s Lehre von den Grundformen der Mehrschaften tritt in den Vordergrund: diese Lehre scheint dem Verfasser das geeignete Fundament für die eigene Fragestellung zu bieten. Hier erscheinen an erster Stelle Plenge’s Unterscheidungsfundamente: die Gesichtspunkte der ‚Hafttiefe‘ und des ‚Artmomentes‘. Und daran angeschlossen erscheinen sechs Grundformen der Gesinnung, indem die Gebilde grösserer und geringerer Hafttiefe als Kreise und Gruppen überschrieben worden sind. Die Grundgestalten des Kreises seien Gemeinschaft, Gesellschaft, Organisation; Formen der Gruppe Masse, Kräftesystem, Gliederungsgefüge. – Diese Systematik gibt uns nicht wenig zu denken auf. Pieper hat als Schüler Plenge’s sich streng an dessen Lehre angeschlossen. Mir erscheint in diesem System am wichtigsten die Unterscheidung dessen, was Hafttiefe genannt wird. Ohne Zweifel ist es richtig, dass alle Arten von Verbundenheit der Menschen, wenn sie als psychische verstanden werden, von sehr verschiedener Intensität sind. Dies gilt auch für solche, die durch Sitte und durch Recht als besonders starke und innige gestempelt und wenn man will geheiligt werden, wie es wenigstens überall, wo die Monogamie durchgedrungen ist, mit diesem Verhältnis zwischen je einem Manne und je einer Frau der Fall ist; nicht minder jedoch in allen Arten der Genossenschaft und des Zusammenwirkens auch solchen für die es kein anbefohlenes und als normales sich empfehlendes Schema gibt, z. B. die Verhältnisse zwischen Brüdern, Gefährten und Kameraden, zwischen Herren und Dienern, Frauen und Mägden und unzählige andere. Die Wichtigkeit dieser Unterscheidungen darf nicht verkannt werden. Aber sie gehört nicht in die Begriffsbildung und geht die Systematik nichts an. Es wäre als ob man die Unterschiede der Temperaturgrade wie sie von den Sprachen als Wärme und Kälte einander entgegengesetzt werden zu Fundamenten der Wärmelehre machen wollte. Ich tue es nicht, ob ich gleich [4] Wert darauf lege, dass die Motive von Gemeinschaft und die Motive von Gesellschaft auch dadurch sich unterscheiden, dass jene als warm, diese als kühl, ja als kalt bezeichnet werden können. Denn man kann andererseits auch die Grade der Intensität, und folglich die der Wärme an meinen Begriffen Verhältnis, Samtschaft, Verband messen, und doch mache ich sie nicht zu den charakteristischen Merkmalen dieser Arten der Verbundenheit. – Befremdend ist für mich der dritte Begriff, der im Plenge’schen System meine Begriffe 1

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Grafen Solms: Vgl. Pieper 1933: 18−23; Vierkandt 1928; Schmalenbach 1922; Geiger 1928 u. Solms 1929. Plenge’s Lehre: Vgl. Pieper 1933: 2 u. Plenge 1928: 8 f.

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ergänzen soll: die Organisation. Pieper scheint sie als eine notwendige Folgerung aus Plenge’s Artmomenten abzuleiten, als welche das Allgemeine, das Einzelhafte und das Besondere eingeführt werden; wenn er auch sagt, dass erst aus der Verschränkung der beiden Gesichtspunkte: Hafttiefe und Artmoment ineinander die drei Formen der Gruppe und die drei Formen des Kreises sich ergeben. Er bestimmt dann Gemeinschaft und Gesellschaft im engen Anschlusse an meine Darstellung, auf die er sich mehrmals ausdrücklich bezieht – die Organisation sei dann die Zusammengliederung zu gemeinsamem Werk nach den besonderen Anlagen und den besonderen Funktionen. Ich habe nach Plenges Urteil die bedeutenden Wirkungen der ‚Organisation‘ auch im sozialen Leben nicht hinlänglich hervorgehoben: sie macht sich aber – muss ich entgegnen – erst in der dritten meiner Verbundenheiten, dem eigentlichen Verband vollständig geltend, und der Verband ist entweder gemeinschaftlich oder gesellschaftlich, oder doch eine Mischung von beiden, wobei der eine oder der andere Charakter überwiegt. Wo Pieper eingehend meine Begriffe erörtert, bemerkt er treffend, dass ich nicht wie der Botaniker Gräser und Bäume, also empirisch konkrete Gegenstände in jenen Begriffen unterscheiden wolle, sondern eher wie der Chemiker verfahre, dem es um die das konkrete konstituierenden Elemente zu tun ist: Gemeinschaft und Gesellschaft seien eben einmal als immer wiederkehrende, immer gegenwärtige Grund[5]formen der Verbindung von Menschen überhaupt, andererseits aber als Strukturen historisch-empirischer Stufen der Sozialgeschichte zu denken. Man dürfe mein Buch nicht unter dem einen oder dem anderen Aspekt begreifen wollen; er selber lasse den zweiten – bei ihm ersten – Stufenaspekt bewusst beiseite. Es sei dabei aber nicht zu vergessen, dass ich ohne ihn nicht zu verstehen sei, er gebe sogar zu, dass diese Betrachtungsweise das eigentlichste meines Werkes sei. Es handele sich kurz gesagt für mich um Modalitäten der Verbundenheit. Ich anerkenne diese Ausführung als richtig. Das eigentliche Hauptstück des Büchleins wird nun durch die Abschnitte über die Spielregeln von Gemeinschaft, von Gesellschaft und die der Organisation gebildet. Im Prinzip wende ich gegen die beiden ersten Kategorien nichts ein, wohl aber gegen die Spielregeln der Organisation, die der Verfasser absichtlich „in wenigen Worten“ darstellen will. Es sei nichts weiter nötig als die Tatsache zu betonen, dass die Individuen in der Organisation einander als Funktionsträger gegenübertreten – was doch immer nur von den Beamten

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„in wenigen Worten“: Vgl. Pieper 1933: 88.

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oder Funktionären oder Vorstehern gelten kann. Es kommt darauf an, eben die Funktionen auseinander zu halten „und sie ins Axiologische, ins Energetische, ins Imperativische zu übersetzen“. – Ich leugne, dass es ein besonderes Merkmal des Verbandes ist, die einzelnen als Funktionsträger einander gegenübertreten zu lassen. Dies geschieht vielmehr in jedem Kreise, auch nach meiner Auffassung, die den Kreis soziologisch als die vorgestellte Einheit mehrerer verschiedener Verhältnisse bestimmen will. Z. B. die Familie, oder etwa eine Tischgesellschaft, die regelmässig zusammen kommt, eines Vorsitzenden sich erfreut und worin jeder seinen bestimmten Platz regelmässig einnimmt, einer etwa als Führer der kleinen Kasse für Strafgelder, ein anderer die Rolle übernimmt, Neulinge in die Spielregeln des Kreises einzuführen usw. Wenn aber Pieper fortwährend auf das Heer exemplifiziert, so behaupte ich, dass es sich hier um [6] eine Institution handelt, auf die der Begriff der Spielregeln, wie ihn Pieper bildet, nicht mit gutem Sinne anwendbar ist. Denn man soll diese doch sonst als Regeln verstehen, die aus dem Kreise oder wie immer der Verband heissen mag, spontan hervorgehen, deren moralischer Urheber und Träger eben diese Gesamtheit ist, die darin ihre Freiheit, ihre Autonomie betätigt. Das Heer aber erhält gleich manchen anderen von aussen her eingerichteten Verbänden auch von aussen her seine Regeln, sie werden ihm auferlegt, und das Gehorchen beruht nicht auf einem freiwilligen Entschlusse, sondern auf dem Müssen, auf der Nötigung, deren Träger der selbst unter einer solchen stehende Vorgesetzte ist. Die Bemerkungen des Verfassers zeigen übrigens auch hier, dass er ein guter Beobachter des sozialen Lebens ist, und er hat vielleicht nur etwas zu einseitig seine Arbeit auf Plenge’s Mehrschaftslehre aufgebaut. Auf den letzten Seiten seines Büchleins (Nachträge und Konklusion) erklärt er als das was allen drei Formen – des Kreises – gemeinsam sei die Bejahung des Partners und der Verbundenheit mit ihm. Aber diese Bejahung sei für jede der drei Beziehungsformen verschieden. Im gemeinschaftlichen Verhältnis werde der Partner als Bruder und Freund bejaht, im gesellschaftlichen als Vertragspartner und Fremder, im Organisationsbestimmten als Mit-Glied und Funktionär. Die Spielregeln der Organisation werden hier wie schon früher mit dem einzigen Satze ausgedrückt: Dienst ist Dienst. Das Wort Dienst sagt mir deutlich genug, dass alle die unter solchen Regeln stehen, in soweit als es der Fall ist, unfrei sind. Die Organisation dieses Sinnes liegt also in einer Ebene, die ausserhalb derjenigen der Gemeinschaft sowohl als derjenigen der Gesellschaft liegt. Zur Vollständigkeit dieses Berichtes gehört es noch, auch der auf wenigen Seiten erörterten Spielregeln der Masse, des Gliederungsgefüges, des

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Kräftesystems zu gedenken. Von diesen [7] kann ich jetzt nur sagen, dass ich sie zu verstehen mich bemühen will und dass es mir bisher wohl nicht gelungen ist. Das gescheite Buch könnte noch zu vielen Anmerkungen Anregung und Gelegenheit geben. Wir haben einen der erheblichsten Beiträge vor uns, die bisher zur reinen oder theoretischen Soziologie bekannt geworden sind. Dass dieser Beitrag die Leistungen Plenge’s in ein besonderes und starkes Licht setzt, dürfen wir willkommen heissen.

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Apparat

Editorischer Bericht Erster Teil: Allgemeines Die von Ferdinand Tönnies unveröffentlicht nachgelassenen Schriften befinden sich bis auf wenige Ausnahmen im Tönnies-Nachlass (TN) in der Handschriftenabteilung der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel (SHLB). Auch die Ausnahmen befinden sich hier, und zwar im Nachlass Eduard Georg Jacobys (1904−1978), eines der letzten Schüler von Tönnies. Die genaue Beschreibung jedes Manu- bzw. Typoskripts liefert die Anfangsanmerkung zu jedem Originaltext. Die Bestandteile des Tönnies-Nachlasses als Gesamtheit und seine Überlieferung an den gegenwärtigen Standort werden weiter unten dargestellt. Dort werden auch die Kriterien diskutiert, nach denen die Nachlasstexte für die vorliegende Edition ausgewählt wurden, sowie die Regeln erläutert, nach denen die Transkription der Handschriften und ihre Transformation in die Druckform vorgenommen wurden. Zunächst aber sollen allgemeine editorische Prinzipien der TG und das Zusammenwirken der verschiedenen Komponenten im Aufbau des vorliegenden Bandes vorgestellt werden. Originaltext und editorische Hilfen zum Textverständnis Die genannten „editorischen Richtlinien der TG“ sehen für den Originaltext eine von editorischen Zusatz-Zeichen unbeeinträchtigte Wiedergabe vor: praktisch also die Wiederholung des Drucktextes, wie er seinerzeit von Tönnies selbst autorisiert worden war. Dies ist bei der Edition von Manuskripten verständlicher Weise so nicht möglich, weil diese Texte (meist haben sie zudem einen mangelhaften Ausreifungsgrad) erst einmal transkribiert und in die Druckform übertragen werden müssen, und zwar nicht vom Verfasser (Tönnies), sondern von einem ihm unbekannten Dritten. Der Herausgeber, der diese Transformation vom Manuskript zum Drucktext zu bewerkstelligen hat, kann (und sollte) dem Leser nicht ersparen, ihn die Werkzeuge, mit denen die Transkriptionsarbeit geleistet wurde, sehen zu lassen. Nur wenn die bei der Transformation vorgenommenen

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handwerklichen Griffe klar sind, kann eine authentische Wiedergabe der handschriftlichen Vorlage geliefert werden. Insoweit also sind editorische Zusatz-Zeichen im Original-Text unvermeidlich. Dies betrifft insbesondere die Verwendung eckiger Klammern […]. Wenngleich die formalen Vorschriften, die von den „Editorischen Richtlinien der Tönnies-Gesamtausgabe“ gefordert werden, bei der Handschriftenedition nur eingeschränkt angewendet werden können, so finden sie jedoch bezüglich der editorischen Hilfen, die den Originaltext systematisch aufschließen, volle Anwendung. Die erläuternden Anmerkungen am Fuß jeder Seite sollen dem Verständnis einzelner Textpassagen dienen, und zwar immer dann, wenn wahrscheinlich ist, dass die dort von Tönnies verwendeten Begriffe, sachlichen oder theoretischen Zusammenhänge u. dgl. m., bei einer durchschnittlichen Allgemeinbildung des Lesers nicht vorausgesetzt werden können. In diesem Anmerkungsapparat werden außerdem die im Text auftauchenden direkten Zitate nachgewiesen (Hinweis auf die Quelle im Literaturverzeichnis (‚Bibliographie‘) nach amerikanischer Zitierweise). Mit dem Nachweis der Quelle, der das Zitat entstammt, ist eine Prüfung seiner Übereinstimmung mit dem Original verbunden. Indirekte Zitate werden nur nachgewiesen, wenn ein besonderer Grund hierfür vorliegt. Schließlich sind die Anmerkungen am Fuß jeder Seite auch der Ort, wo die mit der Transkription der Manuskripte zusammenhängenden Angaben und Erläuterungen gemacht werden. Hierzu gehören auch die sprachlichen Unregelmäßigkeiten graphischer, orthographischer und syntaktischer Art, die häufig genug semantisch unverständliche Textpassagen (Textverderbnisse) produzieren: In diesen Fällen versuchen die Herausgeber Vorschläge zum Textverständnis zu machen. Die im Originaltext auftauchenden Personennamen werden in aller Regel im Personenverzeichnis am Ende des Bandes erläutert. Der inhaltlichen Erschließung der Texte dient zunächst ein Inhaltsverzeichnis nach „Sachgebieten“ am Anfang des Bandes, sodann ein sog. ‚denkendes‘ Sachregister (am Ende des Bandes). Die hier verwendeten Schlagwörter stellen nicht einfach die wörtliche Wiedergabe von aus dem Originaltext entnommenen Sachbegriffen dar, sondern stehen im Kontext terminologischer Überlegungen. Ausführliche Angaben hierzu sind dem Sachregister vorangestellt. Bei vielen Texten hat es sich als notwendig erwiesen, jeweils einen eigenen editorischen Bericht anzufügen: die Informationen zur textgeschichtlichen Überlieferung, zum Zustand oder den Besonderheiten des Textes wären

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zu umfangreich gewesen, um sie in den Anmerkungsapparat am Fuß des Originaltextes aufzunehmen. In diese editorischen Einzelberichte (vgl. ab S. 614 „Editorischer Bericht – Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten“) ist auch Zusatzmaterial (Briefe und andere Texte) aufgenommen, das als hilfreich zum Verständnis der jeweiligen Nachlassschrift angesehen werden kann. Die vorstehenden Ausführungen über die ‚editorischen Hilfen zum Textverständnis‘ dürfen nicht ohne eine allgemeine editionskritische Anmerkung hinsichtlich der Objektivität bleiben, zu der der Herausgeber einer ‚kritischen‘ Werkausgabe verpflichtet ist. Wer von der kritischen Edition eines kultur- oder geisteswissenschaftlichen Werkes erwartet, dessen Herausgeber müsse sich in seinen Erläuterungen und Kommentaren jeglicher Interpretation enthalten, macht sich nicht klar: die besagten Werke können – weil sie nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Beobachtung sind – überhaupt nur als Objekt des Verstehens und Deutens Gegenstand der Erkenntnis sein. Nichts anderes ist Interpretation. Sie ist daher nichts Anstößiges, sondern Grundzug der Methode. Anstößig ist nur die Absicht des Interpreten, das Werk – statt es im Sinn seines Verfassers zu deuten und also die Einsicht und das Verständnis zu mehren – für die eigenen Zwecke, Werte und Ziele zu gebrauchen. Das recht verstandene Interpretieren ist vielmehr – neben der Befähigung zu den einschlägigen, für die Edition notwendigen Hilfswissenschaften – die eigentliche Leistung des Herausgebers. Aus diesem Grund kann es verschiedene Ausgaben desselben Werkes geben, die alle gleich gut und wertvoll sind: weil eben die Kommentierung und Erläuterung des Textes eine je eigene Ausleuchtung ihres Objekts vornimmt. Der editionskritische Anspruch wird vom Herausgeber nur dann eingelöst, wenn er das von ihm edierte Werk in aller Sorgfalt ‚deutend versteht‘. Kriterien zur Auswahl der Nachlasstexte für die Edition In den Nachlassbänden der TG werden nur solche Texte ediert, die zu Lebzeiten von Tönnies – also von diesem selbst – nicht publiziert worden sind. Würde indessen nur diese Definition zur Auswahl der Nachlasstexte zugrunde gelegt, würde der weitaus größere Teil des Tönnies-Nachlasses zu edieren sein, denn nur ein geringer Teil des Nachlasses besteht aus Manu- bzw. Typoskripten, die als Druckvorlage (oder als Variante einer solchen) zu seinerzeit publizierten Werken anzusehen sind. Da eine NachlassEdition solchen Umfangs aber nicht Ziel und Aufgabe einer Werk-Ausgabe ist, müssen zu dem eben angeführten Kriterium, dass nur das seinerzeit

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unveröffentlichte Schriftgut ediert wird, noch weitere Auswahlkriterien definiert werden, durch die sich die möglichen Nachlasstexte weiter eingrenzen lassen. Nachfolgend sollen diese Auswahlkriterien erörtert und dargestellt werden. Im Konzept einer Werk-Ausgabe wird mit dem Begriff Werk bereits eine bestimmte Art von Texten eines Autors definiert und von möglichen anderen Textarten aus seiner Feder sicher abgegrenzt. Dies lässt sich durch nichts so gut verdeutlichen wie durch einen Blick auf die Textmengen, die überhaupt sich im Nachlass eines Autors vorfinden. Ein Großteil der Manuskripte dient zur Selbstverständigung seines Denkens, wie zum Beispiel die meisten Notizbucheintragungen oder Exzerpte aus den vom ihm gelesenen Werken anderer. Eine Menge anderer Texte ist mnemotechnisch motiviert, ihr Verfasser will das Niedergeschriebene für das eigene Gedächtnis sichern, wie etwa (ursprünglich jedenfalls) Tagebücher oder Reisenotizen. Der – oft sogar – größte Teil eines schriftlichen Nachlasses besteht aus Briefen (von diesen sind die meisten die empfangenen Briefe, die eigenen – wenn sie sich erhalten haben – liegen beim Adressaten): bei diesen Texten ist deren Entstehungsgrund meistens ein privater Anlass. Neben solchem und ähnlichem Schriftgut im Nachlass finden sich schließlich die Werkmanuskripte, die teils als Druckvorlage der seinerzeit vom Verfasser publizierten Arbeiten anzusehen sind, teils aber unpubliziert blieben und vielleicht nur einen geringen Ausreifungsgrad aufweisen, vielleicht nur fragmentarisch geblieben sind. Bei diesen soeben genannten Texten – den Werkmanuskripten – ist das gemeinsame Merkmal, dass der Verfasser sich in ihnen an eine Öffentlichkeit zu wenden gedachte. Er ist damit genötigt, Formen zu verwenden, die der Allgemeinheit vertraut, ja Kommunikationsformen zwischen ihm und dem Publikum sind: literarische Formen, die – unabhängig von ihm vorhanden – ein selbständiges Dasein in der Kultur einer Sprachgemeinschaft haben. Der Anspruch des Verfassers, sich in der Abfassung seines Textes an ein Publikum zu wenden, ist ein Anspruch auf literarische Selbständigkeit dieses Textes und lässt den niedergelegten Gedanken in den literarischen Formen in Erscheinung treten, die den Kanon der Literaturgeschichte bilden (im Fall der wissenschaftlichen Literatur: Aufsätze, Reden, Vorlesungen, Rezensionen, Monographien usw.). Solche im Nachlass vorliegenden Texte machen diese Absicht, diesen Anspruch auf literarische Selbständigkeit durch die bereits hier schon in Erscheinung tretende literarische Form erkennbar, unabhängig davon, ob das Manuskript tatsächlich publiziert worden ist, ob es vollendet wurde, ob es einen Kopftitel zur Überschrift

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hat oder ob es sprachlich vollkommen ausformuliert wurde. Insofern lassen sich Nachlassmanuskripte, die als Werkmanuskripte anzusehen und daher in eine Werkausgabe aufzunehmen sind, an diesem Anspruch auf literarische Selbständigkeit relativ leicht aus den Textmengen des gesamten Nachlasses auswählen. Gleichwohl sind auch bei den unpublizierten „Werkmanuskripten“ des Nachlasses noch weitere Einschränkungen als Auswahlkriterien für die hier vorliegende Edition angebracht. Diese betreffen ihren Ausreifungsgrad und den Grad ihrer Vollständigkeit. Insbesondere in den zahlreichen Notizbüchern des Nachlasses gibt es häufiger Texte, die zwar erkennen lassen, dass sie das Anfangsstadium einer Arbeit mit Anspruch auf literarische Selbständigkeit darstellen: aber es bleibt bei Stichwörtern und stichwortartigen Phrasen. Ein solch embryonaler Zustand eines (möglicherweise auch vom Verfasser alsbald selbst verworfenen) „Werkes“ lässt seine Publikation in einer Werkausgabe nicht angeraten erscheinen. Dasselbe gilt für Fragmente von Werkmanuskripten, von denen so wenig Text erhalten geblieben ist, dass eine thematische Zuordnung nicht mehr möglich ist. Es kann bei der Publikation von unveröffentlichten Werkmanuskripten in einer Werkausgabe eben nicht darum gehen, den Nachlass selbst und Forschungen an ihm überflüssig zu machen: dies um so mehr, da die vorgelegte Tönnies-Gesamtausgabe (TG) keine Edition mit historisch-kritischem Anspruch ist und daher nicht die Aufgabe hat, mit der Vorlage kleinster Textfragmente und embryonaler Frühstufen die Entwicklung einzelner Werke zu dokumentieren. Die hiermit definierten Kriterien zur Auswahl von Nachlasstexten für die vorliegende Edition lassen sich wie folgt zusammenfassen: Kriterien zur Auswahl von Nachlasstexten für die Edition: 1. 2. 3. 4.

Der Text ist von Tönnies zu seinen Lebzeiten nicht publiziert worden Der Text läßt den Anspruch auf literarische Selbständigkeit erkennen Der Text ist über den embryonalen Ausreifungsgrad hinaus entwickelt Der Erhaltungs- und Überlieferungszustand des Textes ist nicht so fragmentarisch, dass seine thematische Zuordnung unmöglich ist

Gemäß diesen Ausführungen sind auch Briefe in eine reine Werk-Ausgabe nicht aufzunehmen: Sie halten sich normalerweise ursprünglich innerhalb einer privaten Sphäre und erhalten – wenn überhaupt – erst nachträglich und

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durch zusätzliche Motive den Rang eines literarischen Dokuments. Dadurch begründet sich ihre Veröffentlichung in einer Brief-Ausgabe parallel zur Werk-Ausgabe. Eine Ausnahme freilich bilden die sogenannten „Offenen Briefe“, die zum Adressaten die Öffentlichkeit haben. Solche Briefe hat auch Tönnies geschrieben (z. B. den „Anderen Brief an Dr. Brüning“), und sie sind natürlich in den vorliegenden Nachlassband aufgenommen.1 Nachweis der Authentizität und Kriterien der Textbestimmung Der Nachweis, dass ein im Nachlass erhaltener unveröffentlichter Text tatsächlich von Ferdinand Tönnies stammt, also authentisch ist, gestaltet sich eben dadurch schwieriger, weil er nicht publiziert ist. Die Publikation einer Schrift zu Lebzeiten ihres Verfassers schließt in der Regel die Autorisierung zur Drucklegung durch den letzteren ein. Dies also entfällt naturgemäß bei einem unveröffentlichten Nachlasstext. Der Nachweis muß daher durch den Herausgeber gesichert werden. Eine der sichersten Kriterien für die Echtheit ist das Autograph: das eigenhändig niedergeschriebene Manuskript. Nicht selten beurkundet sich der Verfasser selber noch zusätzlich, dass er seinen Namenszug am Anfang oder am Ende des Manuskripts hinzusetzt. Kommen noch eigenhändige Korrekuren und Randbemerkungen hinzu, dürfte ein Zweifel an der Echtheit des Textes ausgeschlossen sein. Diese Sicherheit des Befundes beginnt zu schwanken, wenn der Text diktiert wurde – bei Tönnies nicht selten der Fall. Eine gewisse Gewährleistung für die Echtheit stellt es aber dar, wenn die Schreiberhand, der diktiert wurde, bekannt ist und im biographischen Umfeld des Verfassers sicher einzuordnen ist. Bei Tönnies ist ein der Hand Else Brenkes, Eduard Georg Jacobys, Ernst Jurkats oder Franziska Tönnies-Heberles diktierter Text mit hinreichender Sicherheit eine echte Arbeit von Tönnies, wenn eigenhändige Korrekturen desselben darin enthalten sind. Bei Typoskripten, die ja nicht einer identifizierbaren Schreiberhand, sondern in die Maschine diktiert wurden (Tönnies scheint selber keine Maschine benutzt zu haben), besteht nun der wesentliche Anhaltspunkt für die Authentizität des Werkes nicht nur darin, dass eigenhändige Korrekturen und Zusätze des Verfassers darin 1

Eine Brief-Ausgabe mit Tönnies’ Korrespondenzen würde – auch als Auswahl-Ausgabe – leicht mehrere Bände füllen, da Tönnies ein intensiver Briefschreiber war. Sie würde – neben und unabhängig von der Werk-Ausgabe – eine bedeutende zeitgenössische Quelle darstellen.

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vorkommen, sondern auch wie diese Korrekturen in den Text eingebracht sind. Wie wohl jeder Autor, so hat auch Tönnies eine charakteristische Art zu korrigieren, die schon aus seinen autographen Manuskripten her bekannt ist. Der problematischste Fall tritt ein, wenn ein (möglicherweise nur fragmentarisches) Typoskript (vielleicht fehlen gerade die Anfangsseiten mit der Überschrift), ohne alle eigenhändigen Spuren vorliegt. Die Zuweisung zu Tönnies als Autor muss sich nun auf sekundäre Merkmale stützen, von denen das erste ist, dass die Arbeit in seinem Nachlass überliefert worden ist. Weitere Stützen ergeben sich durch Textzeugen: Möglicherweise hat der Autor sich in einem Brief über den fraglichen Text geäußert. Oder durch stilistische Überlegungen: Glücklicherweise hatte Tönnies einen sehr individuellen Sprachstil, der in einer von ihm verfassten Schrift schnell den Verfasser verrät. Aber auch in der Art zu denken ist Tönnies für den Kenner relativ leicht nachzuweisen. Diese Kriterien zur Sicherung der Authentizität einer nachgelassenen Arbeit werden in der vorliegenden Edition in der Hauptanmerkung (der Anmerkung am Anfang jedes neuen Textes) in der bibliothekarischen Beschreibung des Originaltextes, wie er im Nachlass vorliegt, mitgeliefert. Außerdem werden in der Anfangsanmerkung weitere wesentliche Angaben zur Textbestimmung gemacht. Zuerst die individuelle Signatur, die dem Text bei der Erschließung und Katalogisierung des Nachlasses gegeben worden ist und seine Identität bibliothekarisch sichert sowie seine eindeutige Auffindung als Quelle gewährleistet. Angegeben werden sodann Seitenumfang des Originals und Format (Blattgröße) des beschriebenen Papiers. Außerdem wird versucht, Informationen zur Entstehung des Werkes zu geben: hierbei ist die wichtigste Angabe die Datierung, die ein besonderes Problem darstellt: Denn so sehr es bei gedruckten Werken die Regel ist, das Erscheinungsdatum zu nennen, so sehr ist es bei nachgelassenen Manuskripten nicht die Regel. Bibliothekar oder Herausgeber sind daher meist genötigt, den Text anhand äußerlicher oder auch inhaltlicher Gesichtspunkte zu datieren. Äußerliche Gesichtspunkte können das verwendete Papier, der graphologische Befund zur Schriftentwicklung sein, die übrigens bei Tönnies eine gute Abschätzung des Alters ermöglicht, in welchem er sich bei der Niederschrift befand. Inhaltliche Merkmale liefern verwendete und zitierte Literatur, thematisierte Ereignisse, Personennennungen, Textzeugen in der Korrespondenz u. dgl. m. Gleichwohl ist eine exakte Datierung oft nicht möglich. In diesen Fällen scheint es besser, Toleranzgrenzen

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anzufügen, um Fehlangaben zu vermeiden. Auch ohnedies werden spätere Forschungsergebnisse den in der vorliegenden Edition gemachten Datierungen noch genügend Irrtümer nachweisen. Bei Texten, in denen die Hauptanmerkung nicht zur Darstellung der Entstehung oder der Datierung ausreicht, wird dies im Editorischen Einzelbericht nachgetragen. Probleme der Transkription und editorische Kriterien zur Herstellung der Drucktexte Charakteristika des Tönniesschen Manuskripts Zunächst sei Tönnies’ Handschrift betrachtet, die als außerordentlich wechselhafte und teilweise sehr schwer lesbare Schrift bezeichnet werden muss. In jungen Jahren, bis über die Abfassung seines Hauptwerkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) hinaus, ist der Schriftzug groß, regelmäßig, die Buchstaben sind deutlich und wohlgeformt, unabhängig davon, ob er sich der lateinischen oder der deutschen Schreibschrift („Sütterlinschrift“) bediente. Er verwendete überwiegend die deutsche Handschrift, doch sind nicht wenige Texte in lateinischer Handschrift niedergeschrieben. Mit zunehmendem Alter jedoch verkleinerte sich Tönnies’ Schrift, bekam einen flüchtigen Charakter mit sehr, sehr unregelmäßiger Buchstabenbildung und geradezu kapriziösen Ligaturen (Buchstabenverbindungen). Besonders die Anbindung an vorausgehende i- oder Umlautpunkte gefährdet die korrekte Lesbarkeit. Dazu kam die Tendenz, beim Schreiben Buchstaben gleichsam zu verschlucken, was noch verstärkt wurde durch die schon in der Jugend ausgeprägte Neigung zu Abkürzungen. Auch benutzte Tönnies im fortgeschrittenen Alter gerne Bleistifte mit weicher Mine, die mit breitem Strich schrieben und die immer kleiner werdenden Buchstaben kaum noch unterscheidbar erscheinen lassen. Autographen von Tönnies nach 1930 machen auf den ersten Blick den Eindruck einer Ansammlung aufgereihter Punkte. Diese Entwicklung seiner Handschrift dürfte mit dazu beigetragen haben, dass Tönnies bereits vor der Jahrhundertwende immer häufiger seine Texte einer „Schreiberhand“ diktierte oder schon geschriebene Texte – besonders wenn sie zum Druck gehen sollten – noch einmal abschreiben ließ. Anfangs war ihm seine Frau diese Schreibhilfe, später kam Tönnies’ älteste Tochter Franziska hinzu, die dann – gegen Ende des Ersten Weltkrieges – mehr und

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mehr von Else Brenke abgelöst wurde, die auch mit der Schreibmaschine umzugehen verstand, was Tönnies nie versucht zu haben scheint. In den Jahren der Weimarer Republik hat Tönnies ausgesprochen gern seinen Schülern Eduard Georg Jacoby und Ernst Jurkat diktiert. Auch die Art, wie Tönnies seine Manu- bzw. Typoskripte korrigiert, ergänzt, mit Anmerkungen und Zusätzen versieht, verdient hinsichtlich der Transkriptionsprobleme einige Beachtung. Nicht selten korrigiert er in den Text hinein, ohne die ungültig gewordenen Textstücke eindeutig zu eliminieren. Bei umfangreicheren Korrekturen werden Ränder oder Rückseiten des Blattes benutzt, aber nicht immer sind Einfügungszeichen vorhanden, die die Stelle der Korrektur genau bezeichnen. Ein weiteres Transkriptionsproblem stellt sich dem Herausgeber durch Tönnies’ sprachlichen Stil. Wie fast alle älteren deutschen Schriftsteller nutzt er die der deutschen Sprache eigentümliche Kraft der Hypotaxenbildung (Schachtelsätze) und begibt sich natürlich in die in dieser syntaktischen Form liegenden Gefahr, die darin besteht, dass die Einschübe und Einschachtelungen nicht korrekt im Hauptsatz abgeschlossen werden. In den von Tönnies zu seinen Lebzeiten selbst veröffentlichten Texten ist diese Gefahr in der Regel schon dadurch behoben worden, dass beim Korrekturlesen vor der Drucklegung solche Satzfehler auffielen und korrigiert wurden. Bei unpublizierten Manuskripten entfällt diese Kontrolle und wird zum Problem des Herausgebers, der bei der Transkription natürlich keine Rückfragen beim Verfasser mehr stellen kann. Der Herausgeber weiß: Wenn er in seiner Transkription den Syntaxfehler so belässt, wie er im Original gegeben ist, wird der Leser stolpern, da das Verständnis des im Satz gemeinten Sinns gestört ist. Diese Satzbildungsmängel sind in Tönnies’ Manu- und Typoskripten häufig vorhanden. Schon relativ geringe syntaktische Zerrüttungen – es fehlt beispielsweise ein Prädikat, oder das Prädikat hat nicht die von seinem Subjekt geforderte Endung – blockieren ganz plötzlich für den gesamten betroffenen Satz das Sinnverständnis des Lesers. Dabei würde die einfache Ergänzung des fehlenden Verbs genügen, um die Blockade zu vermeiden. Was darf, was soll der Herausgeber hierbei tun? Bei weitem nicht so gravierend für das Sinnverständnis sind Mängel der Orthographie, die oft gar keine Mängel, sondern der Rechtschreibung einer bestimmten Zeit geschuldet sind. Tönnies’ schriftstellerisches Leben umfasst die Zeit von 1876 bis 1936, also sechzig Jahre, in denen die deutsche Sprache – außer von der großen Rechtschreibreform vor dem Ersten Weltkrieg – laufend von Veränderungen in der Orthographie betroffen war.

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Da Tönnies zäh und mit Inbrunst an der Sprache und Orthographie seiner jüngeren Jahre festhielt, ergibt sich in seinen späteren Manuskripten, erst recht in den Typoskripten, die er diktierte und danach handschriftlich korrigierte – ein wunderliches Gemisch verschiedener Sprachstände. Bei Typoskripten kommt noch hinzu, dass die älteren Schreibmaschinen in ihrem Schrifttypensatz wenig standardisiert waren: die einen verfügten über das ‚ß‘, die anderen erlaubten stattdessen nur ‚ss‘; die einen hatten die Umlaute ‚ä‘, ‚ü‘, ‚ö‘, die anderen erlaubten nur ‚ae‘, ‚ue‘, ‚oe‘ – was darf, was soll der Herausgeber hierbei tun? Von geradezu künstlerischer Freiheit geprägt ist Tönnies’ Umgang mit der Zeichensetzung. Besonders beim Weglassen der eigentlich geforderten Kommata verliert Tönnies in seinen Manuskripten nicht selten jedes Maß. Dies führt wirklich in manchen Fällen zu einer ähnlichen Blockade des Satzverständnisses wie bei den zuvor erwähnten Syntaxmängeln. Wie hat der Herausgeber sich hier zu verhalten? Ein weiteres Problem in Tönnies’ Manuskripten liegt häufig in den Strukturen der äußeren Ordnung. Dies fängt an bei der originalen Paginierung der Seiten. Bisweilen fehlt sie, ein anderes Mal treten verschiedene Paginierungen auf dem selben Blatt auf, oder die Kontinuität der Seitenzählung ist durchbrochen. Das Problem setzt sich fort, indem bei Texten, die in verschiedene Punkte mit gezählter Reihenfolge gegliedert sind, die Kennzeichen der Reihenfolge (a / b / c / …; 1. / 2. / 3. / …; I. / II. / III. / …) durcheinandergeraten. Eine besondere Schwierigkeit bei der Transkription und Edition Tönniesscher Texte ergibt sich durch die Art, wie er aus anderen Schriften zitiert. Das auch bei seinen gedruckten Texten bekannte Problem verschärft sich bei den ungedruckt gebliebenen Manuskripten dadurch, dass eine Überprüfung der Zitate durch den Verfasser oder Verlagslektoren hier natürlich nicht stattfand. Insbesondere bei längeren Zitaten pflegt Tönnies sehr lax zu verfahren: er unterbricht sie, um eigene Gedanken einzuschieben, vergisst aber häufig die An- oder Ausführungszeichen, durch die die wörtliche Wiedergabe kenntlich wird. Noch komplizierter wird es, wenn er, um Zitate nicht in voller Länge wörtlich wiederzugeben, den Inhalt in eigenen Worten wiedergibt, dies aber nicht deutlich macht. Dies kann so weit führen, dass der zitierte Autor und Tönnies’ eigene Überlegungen nicht mehr auseinander zu halten sind.

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Regeln zur Transkription Im Gegensatz zu einer Lese-Ausgabe muss in einer kritischen Ausgabe der originale Textzustand festgestellt und festgehalten werden. Eine LeseAusgabe kann zur bequemeren Lesbarkeit mehr oder weniger starke Eingriffe vornehmen, solange Sinn und Bedeutung des Textes erhalten bleiben. Nicht so die Wiedergabe einer nachgelassenen Schrift innerhalb einer kritischen Werk-Ausgabe. Hier gilt selbstverständlich dasselbe, was auch für die kritische Edition der seinerzeit vom Autor publizierten Schriften vorgeschrieben ist: nämlich den Originaltext dem Leser so darzubieten, wie er dem Herausgeber vorliegt. Das kann nun aber nicht bedeuten, dass in der textkritischen Edition überhaupt keine Veränderungen vorgenommen werden dürfen (eine solche Forderung wäre streng genommen nur durch eine Faksimile-Wiedergabe der Vorlage zu erfüllen). Was jedoch erwartet werden darf, ist eine Wiedergabe, in der der originale Textbefund für den Leser stets mühelos und zweifelsfrei erkennbar ist. Wenn es sich während der Transkription als notwendig erweist, in der Wiedergabe des Textes vom Original abzuweichen, müssen diese Abweichungen getreulich zusammen mit der Angabe des Originalbefundes protokolliert werden. Wie der Herausgeber das bewerkstelligt, ist von untergeordneter Bedeutung: auf die treuliche Wiedergabe der originalen Vorlage (selbstverständlich durch Autopsie derselben) kommt es an. Freilich sollten solche Veränderungen gegenüber dem Originaltext nur im Notfall eintreten und von einem editorischen Motiv geleitet sein, das der Herausgeber guten Gewissens vor seinem Leser vertreten kann. Es kann ja nicht der Sinn einer kritischen Edition sein, die Lektüre der Texte zu erschweren. Vielmehr darf der Leser vom Herausgeber Hilfe bei der Lektüre erwarten. Handelt es sich nun gar um nachgelassene Manuskripte, so befindet sich der Herausgeber in der Verpflichtung nicht nur dem Leser gegenüber, sondern auch gegen den Verfasser des nachgelassenen Textes, der – wenn er noch selber die Gelegenheit zur Publikation gehabt hätte – natürlich sein Manuskript in einer normalen Leseerwartungen genügenden Form zum Druck befördert hätte: Womit eine Revision und Korrektur des Manuskripts in sprachlicher Hinsicht verbunden gewesen wäre. Aufgrund dieser doppelten Verantwortung sehen sich die Herausgeber vorliegenden Bandes berechtigt, dem Leser immer dann Hilfestellung bei der Lektüre zu bieten, wo der Text sprachlich so gestört oder gar zerstört ist, dass er unverstehbar wird.

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Aus alledem folgt, dass bei einem kritisch edierten Text – und insbesondere bei der Transkription eines Manuskripts – der Herausgeber in irgendeiner Weise in Erscheinung treten muß. Hierfür hat sich traditionell ein Hilfsmittel gebildet, durch welches originaler Text und die Zusätze des Herausgebers eindeutig unterschieden sind. Gemeint ist die Verwendung eckiger Klammern […] innerhalb des Originaltextes. Die Verwendung eckiger Klammern bedeutet streng genommen noch nicht einmal eine Veränderung des Originaltextes. Denn dieser Klammerausdruck entspricht einer Konvention und ist daher gleichsam eine Verabredung zwischen Herausgeber und Leser, dass beim Eintritt eckiger Klammern nunmehr der Herausgeber sich zu Worte meldet. Insofern ist ihre Einfügung keine Veränderung des edierten Textes, sondern lediglich eine Veränderung seiner Optik; diese aber ist stets schon grundsätzlich verändert, solange man dem Leser nicht einfach ein Faksimile des Originaltextes darbietet. Die Herausgeber vorliegenden Bandes haben zur Anwendung der eckigen Klammern so oft gegriffen, als es ihnen tunlich erschien. Da dies über die Regeln hinausging, deren Einhaltung die Editorischen Richtlinien der Tönnies-Gesamtausgabe vorschreiben, wurde von den Gesamtherausgebern eine besondere, nur für die Nachlassbände geltende Regel zum Einsatz der eckigen Klammern eingeräumt. Hiernach sollen eckige Klammern, die stets in allen Bänden der TG erlaubt sind, in normalem Schriftgrad auftreten […], hingegen sollen die eckigen Klammern, die nur in den Nachlassbänden vorkommen, einen sichtbar kleineren Schriftgrad haben […]. Im einzelnen heißt dies: die eckigen Klammern mit normalem Schriftgrad werden innerhalb des Textkorpus angewendet – bei der Angabe des Seiten- bzw. Blattwechsels des Manuskripts; dabei wird nach Möglichkeit die Originalpaginierung von Tönnies benutzt. Fehlen im Original die Seitenzahlen, wird die pagina eingefügt, die auf der Seite oder dem Blatt gemäß der Reihenfolge der Blätter zu stehen hätte. Bei versehentlich falscher Seitenzählung im Original wird die korrekte Seitenzahl eingesetzt. – bei unleserlichen Zeichen, Wörtern oder Textstellen, wenn keinerlei zusätzliche Angaben oder Hilfen seitens der Herausgeber dazu im Anmerkungsapparat erfolgen. – bei Überschriften oder Kopftiteln, soweit diese nicht von Tönnies selbst, sondern von den Herausgebern stammen. In allen übrigen Fällen werden eckige Klammern mit kleinerem Schriftgrad verwendet und geben den Herausgebern beliebige Möglichkeiten zur Hilfestellung, Ergänzung und für Erläuterungen.

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Den übrigen oben angesprochenen Transkriptionsproblemen wird auf folgende Weise begegnet: (a) Sofern im Manuskript Schreibfehler vorliegen, die ohne jeden Zweifel als reine Flüchtigkeitsfehler erkennbar sind, werden diese stillschweigend vom Herausgeber berichtigt. ‚Stillschweigend‘ bedeutet: die vorgenommene Korrektur wird auch im Anmerkungsapparat nicht registriert. Beispiele dafür wären etwa: Der Verfasser hat einen Satz korrekt mit Punkt beendet, schreibt danach aber klein weiter. Oder: Der Verfasser beginnt einen neuen Satz korrekt mit großem Anfangsbuchstaben, hat aber den Punkt am Ende des vorangegangenen Satzes vergessen. Oder: Er hat ein Wort verschrieben (hunderfach statt hundertfach; poltisch statt politisch). Die oben genannten Freiheiten und Eigentümlichkeiten der Tönniesschen Zeichensetzung fallen allerdings nicht unter diese stillschweigende Korrektur von Flüchtigkeitsfehlern. (b) Wie schon bemerkt, neigt Tönnies bei handgeschriebenen Texten zu Abkürzungen. Es handelt sich hierbei nicht nur um allgemein gebräuchliche, standardisierte Abkürzungen wie ‚vgl.‘, ‚usw‘, ‚u. dgl. m.‘, die unaufgelöst im Text stehen bleiben und am Anfang des Bandes in der Liste der Abbreviationen und Siglen aufgeführt werden, sondern um individuelle, in der konkreten Textumgebung entstehende Abkürzungen, z. B. im Aufsatz „Die Gotteslästerung“ statt ‚Gotteslästerung‘: ‚Gottesl.‘. Warum sollte die aus Zeitnot des Verfassers entstandene Verkürzung abgekürzt transkribiert werden, wenn eindeutig feststeht, welche Buchstaben oder Silben entfallen sind? Der dem Leser gebotene Text muss doch nicht ohne Not schlecht oder holperig lesbar sein. Es scheint allerdings sinnvoll, solche Ergänzungen des Originaltextes im Anmerkungsapparat anzugeben. (c) Die jeweils von Tönnies verwendete Orthographie wird selbstverständlich unverändert in der Transkription beibehalten, desgleichen bei Umlauten gegebenenfalls statt ä, ö, ü: ae, oe, ue. Auch in die Zeichensetzung wird – wie schon gesagt – nicht eingegriffen. Falls jedoch durch ein fehlendes Satzzeichen der Sinn des Satzes zerstört zu werden droht, wird entweder an der entsprechenden Stelle des Originals durch [.] darauf aufmerksam gemacht und das fehlende Zeichen im Anmerkungsapparat nachgetragen oder das Satzzeichen wird gleich in den Originaltext eingefügt und die Einfügung im Anmerkungsapparat protokolliert. (d) Zitate und Zitatmängel bleiben in der Transkription unverändert so stehen, wie sie im Original vorliegen. Alle auf das Zitat gerichteten Hinweise und Klärungen erfolgen im Anmerkungsapparat.

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Apparat

(e) Wenn Tönnies Wörter oder Textteile besonders hervorheben will, unterstreicht er sie in der Regel ein oder zwei Mal. Bisweilen greift er aber auch zur Schlangenlinie oder weiteren Arten der Hervorhebung. In der Transkription wird jedoch nur die Kursive für Hervorhebungen des Originaltextes benutzt. (f) Der von Tönnies gelegentlich nach Überschriften gesetzte Punkt wurde im Druck grundsätzlich fortgelassen. Zur Überlieferung und Struktur des Nachlasses von Ferdinand Tönnies Der in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel aufbewahrte Ferdinand-Tönnies-Nachlass (TN) lässt in der Geschichte seiner Überlieferung an diesen Standort alle Wirren und Katastrophen der jüngeren deutschen Geschichte erkennen. Wenn er heute in Umfang und Vollständigkeit auch nicht mehr der Bestand ist, der er ursprünglich bei Tönnies’ Tod in dessen Haus im Niemannsweg 61 in Kiel gewesen war, so ist doch – nach mancherlei Teilungen und Transporten innerhalb und außerhalb Deutschlands – ein Großteil des Nachlasses wieder zusammengeführt. Dass dies möglich wurde, zeugt von einem außergewöhnlichen Maß an gutem Willen, Großzügigkeit und Vernunft aller an der Restitution des Bestandes beteiligten Personen. Bibliothekare bedienen sich zur Charakterisierung von schriftlichen Nachlässen gewisser Fachausdrücke, unter denen die Bezeichnungen „echter Nachlass“ und „vollständiger Nachlass“ von besonderer Bedeutung sind. Als echten Nachlass bezeichnet man die schriftlichen Hinterlassenschaften, die sich beim Tod des Nachlassers in seinem Haus, seiner Wohnung befinden und danach im ganzen oder in Teilen und ohne weitere Eingriffe in möglichst sicheren Gewahrsam, am besten wohl in öffentlichen Besitz übergehen, wo der Nachlass alsdann nach festen, rechtlich fixierten Regeln verwaltet wird. Wird der Nachlass im ganzen übergeben, so ist er ein vollständiger Nachlass, ansonsten spricht man von „Teilnachlässen“. Insbesondere ist der Terminus echter Nachlass von nicht zu unterschätzender Bedeutung, denn es geht bei schriftlichen Hinterlassenschaften um wissenschaftliche Quellen ‚sui generis‘, deren Informationsgehalt durch keine andere Quelle erbracht werden kann: Der Wahrheitsgehalt dieser Quelle setzt ihre Unverfälschtheit, ihre Authentizität voraus, und eben dieses meint der Terminus „echter Nachlass“. Freilich wird mit den Begriffen des echten und des vollständigen Nachlasses ein idealer Anspruch erhoben, der nur bei seltenen Ausnahmen

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von Nachlassüberlieferungen, in Reinheit wohl nie wirklich erfüllt ist. Wie weit der Nachlass von Ferdinand Tönnies der Erfüllung dieser Ansprüche nahe kommt, lässt sich nur durch die Geschichte seiner Überlieferung an den jetzigen Aufbewahrungsort in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel zeigen. Am 9. April 1936 war Ferdinand Tönnies, politisch verfemt, gestorben, im Jahr darauf seine Frau, Marie Tönnies. Im Haus wohnten nun von der Familie noch die älteste Tochter Franziska mit ihrem Mann Rudolf Heberle und ihren Kindern. Bevor sie 1938 aus politischen Gründen in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierten, übergaben Franziska und Rudolf Heberle den „literarischen Nachlass“ von Tönnies dem Institut für Weltwirtschaft in Kiel, dem Tönnies seit seiner Gründung durch Bernhard Harms eng verbunden gewesen war. Im April 1938 wurde ein Vertrag „zur Verwahrung“ des literarischen Nachlasses von Tönnies abgeschlossen, in dem Regeln zur Benutzung der Papiere vereinbart wurden: Es sollten möglichst nur Bücher und Manuskripte benutzt werden, nicht die Kisten mit Briefen. Es sollte nur innerhalb des Institutes geschehen und nur nach vorheriger Genehmigung durch die Familie. Im Institut für Weltwirtschaft, das damals von Andreas Predöhl geleitet wurde, arbeitete Dr. Lotsch, ein mit Tönnies und der Familie befreundeter Archivar, und dies versprach den Erben den größtmöglichen Schutz vor politisch unliebsamer Einsichtnahme des Nachlasses, zumal da Lotsch ein Gegner des NS-Regimes war. Mit dem „literarischen Nachlass“ war nur ein Teil der schriftlichen Hinterlassenschaft von Tönnies ins Institut gelangt.2 Familienbriefe, Personaldokumente und Dokumente mit besonderer persönlicher Bedeutung für die in Deutschland und im Ausland lebenden Mitglieder der Familie kamen in deren Besitz oder begleiteten sie in die Emigration. Diese relativ übersichtliche Nachlasssituation änderte sich nach Kriegsausbruch. Tönnies’ Sohn Jan Friedrich, der am Hinforschungsinstitut in Berlin-Buch beschäftigt war, brachte den im Institut für Weltwirtschaft verwahrten „literarischen Nachlass“ nach Berlin und deponierte ihn dort, wahrscheinlich in seiner Garage, wo er ihn 1943 zurücklassen musste, weil politische Gründe ihn zum Weggang aus der Stadt nötigten. Wie aus einem späteren Brief von Franziska Tönnies (1968) zu entnehmen ist, 2

Im Nachlass Tönnies befindet sich eine Reihe zeitgenössischer Unterlagen und Verzeichnisse, die den Bestand bei Tönnies’ Tod registrieren und die darauf folgende Aufteilung beleuchten (TN, Cb 54.91/92). So auch ein Verzeichnis, das den als „Literarischen Nachlass“ bezeichneten Teil in mehr oder weniger groben Umrissen darstellt.

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fand der Bruder „nach dem Krieg die Kisten erbrochen und durchwühlt [vor] und es fehlt sicher Vieles, was ich bei unserer Auswanderung dem Archivar des Instituts für Weltwirtschaft [Dr. Lotsch] … zur Aufbewahrung gegeben hatte“. Nach dem Krieg kehrte der Bestand, den Jan Friedrich Tönnies nach Berlin ausgelagert hatte, zusammen mit anderen Familienpapieren, die schon zuvor in seinen Besitz gekommen waren, ans Institut für Weltwirtschaft in Kiel zurück: Jedenfalls schrieb Rudolf Heberle aus den USA im August 1955 an Dr. Fehling, den Kurator der Kieler Universität, der das Institut für Weltwirtschaft zugeordnet ist, dass die Eigentumsrechte der Familie am Nachlass von Ferdinand Tönnies neu geregelt werden müssten. Da mittlerweile ein Institut für Soziologie an der Universität errichtet worden sei, so wäre es besser, die Verwaltung des Nachlasses diesem Institut zu übertragen. Es wird vereinbart, dass der am Soziologischen Institut tätige Volkswirtschaftler Dieter Kappe den Bestand sichten, auflisten und das Ergebnis dem inzwischen in Freiburg im Breisgau lebenden Jan Friedrich Tönnies berichten möge. Nachdem dies geschehen war, wurden persönliche Dokumente des Nachlasses (Tagebücher, Fotos, Familienbriefe) ausgesondert und zu Jan Friedrich Tönnies nach Freiburg geschickt, während der als wissenschaftlicher Nachlass angesehene Teilbestand im Soziologischen Institut in eigens dafür angeschafften Schränken untergebracht wurde. Dieser Zustand währte bis 1963. Im August dieses Jahres richtete der Direktor der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel, Olaf Klose, in einem Brief an den Leiter des Seminars für Soziologie, Gerhard Wurzbacher, die Frage, ob es nicht besser sei, den Nachlass Tönnies in der Handschriftensammlung der Bibliothek, in der sich berühmte Nachlässe wie der von Theodor Storm befanden, zu verwalten und aufzubewahren. Wurzbachers Rückfrage bei Franziska und Rudolf Heberle in den USA ergab, dass diese mit der Übergabe einverstanden waren. Darüber hinaus entschlossen sie sich – im Einvernehmen mit den übrigen Angehörigen der Familie Tönnies – zur endgültigen Übereignung des in Kiel liegenden Bestandes an die Landesbibliothek. Am 10. August 1964 wurde die Schenkung vertraglich geregelt, jedoch sollten einige Stücke entnommen werden: Noch vorhandene Familienbriefe wurden nach Freiburg zu Jan Friedrich Tönnies abgegeben, Dokumente aus der Kinder- und Schulzeit von Ferdinand Tönnies kamen ins Nissenhaus in Husum, wo ein TönniesGedenkzimmer eingerichtet wurde. Mit der Schenkung des Nachlasses hatte die Familie der Landesbibliothek die Bedingung auferlegt, dass der Bestand nunmehr sorgfältig nach biblio-

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thekarischen Regeln erschlossen, geordnet und katalogisiert werden müsse. Diese Aufgabe wurde Heinz Rautenberg übertragen, einem Historiker, der lange Jahre im Dienst der Bibliothek gestanden hatte und nun – nachdem er offiziell seinen Ruhestand angetreten hatte – in einem von der DFG geförderten Projekt seine Erschließungsarbeiten am Nachlass Tönnies aufnahm. Ein weiterer glücklicher Umstand war die Verbindung, in die der nach Neuseeland emigrierte Soziologe und Demograph Eduard Georg Jacoby, der zu Tönnies’ wichtigsten Schülern zählte und zudem sein Assistent gewesen war, zur Landesbibliothek getreten war: Jacoby hatte zusammen mit Olaf Klose und der Bibliothekarin Irma Fischer den in der Landesbibliothek liegenden Briefwechsel zwischen Tönnies und dessen Freund Friedrich Paulsen publiziert, und seitdem hatte er wegen weiterer Forschungsvorhaben am Werk seines Lehrmeisters ständigen Kontakt mit der Bibliothek, der der Nachlass schließlich vermacht worden war. Rautenberg und Jacoby ergänzten sich aufs beste: Jacoby führte Rautenberg, für den das Fach Soziologie Neuland war, in das Denken und die Arbeit von Tönnies ein und wurde seinerseits mit Informationen über die Details des Bestandes auf dem laufenden gehalten. Hinzu kam, dass Jacoby enge Verbindungen zur Familie Tönnies und anderen Soziologen der Vorkriegszeit hatte. Dies hatte zur Folge, dass die weiteren ursprünglich in Tönnies’ Wohnung im Niemanswg 61 vorhanden gewesenen Teile des Nachlasses wieder in den Blick gerieten und in den Horizont der Rautenbergschen Ordnungsarbeiten einbezogen wurden. So gelang nach und nach eine immer genauere Kenntnis über den Verbleib der restlichen versprengten Nachlassteile, und mit der Kenntnis setzten die Bemühungen ein, diese Stücke dem in der Landesbibliothek verwahrten Kern zu integrieren. Aus dem Soziologischen Seminar der Kieler Universität kamen 1970 die restlichen dort noch liegengebliebenen Werkmanuskripte in die Landesbibliothek, aus dem Institut für Weltwirtschaft eine Reihe von Korrespondenzen sowie Personalurkunden von Tönnies. Ebenfalls 1970 trafen aus Freiburg von Jan Friedrich Tönnies ein großer Bestand an Familienbriefen, Fotos und die schmerzlich vermisste wissenschaftliche Korrespondenz der Buchstabengruppe S-Z ein. 1974 wurden aus dem Soziologischen Seminar von dessen Direktor, Lars Clausen, als letzter dort noch verbliebener Rest Tönnies’ Handexemplare seiner eigenen Schriften der Landesbibliothek übergeben. Bis auf eine Reihe von Familienbriefen dürfte auch das meiste dessen, was von Tönnies’ Hinterlassenschaft in den Besitz von Franziska und Rudolf Heberle gekommen und dann nach Baton Rouge in die USA gelangt war, nach und nach der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek übergeben worden sein. So hatte sich der schließlich in

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der Landesbibliothek zusammengetragene Tönnies-Nachlass in Umfang und Bestandteilen Schritt um Schritt dem Zustand angenähert, den Tönnies’ schriftliche Hinterlassenschaft bei seinem Tod in seinem Haus gehabt hatte. Gleichwohl muss festgestellt werden, dass eine beträchtliche Menge von Stücken teils verschollen sind, teils sich an anderen privaten oder öffentlichen Stellen befinden. Wie weit die verschollenen Bestandteile dem oben erwähnten Einbruch in Jan Friedrich Tönnies’ Garage in Berlin zum Opfer gefallen oder auf andere Weise abhanden gekommen sind, lässt sich einstweilen, vielleicht aber auch niemals mehr klären.3 Schon in seinen letzten Lebensjahren hatte Tönnies begonnen, unterstützt von der Tochter Franziska und von Else Brenke, einer Lehrerin, die der Familie Tönnies eng verbunden war und seit dem Ende des Ersten Weltkriegs Ferdinand Tönnies für Schreib- und Schreibmaschinenarbeiten zu Verfügung gestanden hatte4, seinen Nachlass zu sichten und zu ordnen: Die vom NS-

3

4

So ist beispielsweise ein Großteil der Werkmanuskripte, die die Druckvorlage zu Tönnies’ publizierten Werken bildeten, verschwunden. Sie waren laut Listen bei Tönnies’ Tod in seinem Haus vorhanden – es handelt sich hierbei um Hunderte von Manuskripten. Ein nie geklärtes Problem ist der Verlust der Manuskripte des letzten großen Werkes „Geist der Neuzeit“. Nur die Vorlage zum 1. Band, der 1935 erschien, befand sich im Niemannsweg, ist aber nicht mehr vorhanden. Die nachweislich vollendeten Manuskripte zu den weiteren, nicht mehr publizierten Teilen, sind nie aufgefunden worden. Sie sind vermutlich in Berlin bei Ernst Jurkat verblieben, und nach dessen überstürzter Flucht aus Deutschland (1938) in Berlin dem Bombenkrieg zum Opfer gefallen. Manches ist durch Eduard Georg Jacobys Emigration nach Wellington (Neuseeeland) gelangt und zum Teil mit seinem Nachlass später (1998) nach Kiel in die SHLB gelangt. Leider konnte das, was sich nach dem Tod von Rudolf (1991) und Franziska Heberle (1998) an Tönnies-Relikten noch in deren Haus in Baton-Rouge (Louisiana) befand, weder für den Tönnies-Nachlass in Kiel geborgen noch auch nur in seinen Bestandteilen gesichtet werden. Was die umfangreiche PrivatBibliothek von Tönnies in seinem Haus im Niemannsweg angeht, so musste der größte Teil noch vor dem Krieg von der Familie veräußert werden. Glücklicherweise aber wurde der Buchbestand vorher (wohl von Else Brenke) aufgelistet. Das Verzeichnis befindet sich beim Nachlass. Die geringsten Verluste sind wohl in den umfangreichen Korrespondenzen (den wissenschaftlichen wie den privaten und familiären Briefen) zu verzeichnen. Es scheint, dass Else Brenke ihren Anschluss an die Familie von Ferdinand Tönnies als Verlobte von dessen Schüler Kurt Marcard gefunden hatte, der im Ersten Weltkrieg fiel (vgl. Polley 1980, 189). Wahrscheinlich hatte sie sich dann mit Tönnies’ Töchtern, insbesondere mit Franziska Tönnies angefreundet. Da Else Brenke mit der Schreibmaschine vertraut war, fertigte sie wohl die meisten der im Nachlass erhaltenen Typoskripte an (vorher – also vor Ende des Ersten Weltkriegs – sind Tönnies’ Texte fast durchweg von Hand geschrieben). Die handschriftlich angefertigten Manuskripte, soweit nicht eigenhändige Autographe von Tönnies, stammen ab der Weimarer Zeit teils auch von ihr oder von Franziska Tönnies, ab Mitte der 20er Jahre dann vorwiegend von Ernst Jurkat und Eduard Georg Jacoby,

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Regime erzwungene Vertreibung aus Amt und wissenschaftlicher Tätigkeit gab ihm unfreiwillig genügend Zeit dazu. Die Ordnungsarbeiten fanden ihren Niederschlag in Listen und Verzeichnissen, die Else Brenke anfertigte. Diese Auflistung konzentrierte sich zwar auf die in Tönnies’ Wohnung vorhandenen gedruckten Texte und Separatdrucke seiner eigenen Werke (‚Handexemplare‘) und mündete in die in der Festschrift zu Tönnies 80. Geburtstag 1935 publizierten Primärbibliographie (Brenke 1936). Gleichwohl entstand aber auch ein Verzeichnis von unveröffentlichten oder möglicherweise unveröffentlichten Nachlasstexten (Manuskripten und Typoskripten), welches nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben werden soll: [Aus der zeitgenössische Auflistung in Tönnies’ Wohnung (Auswahl):] Verzeichnis II: Manuskripte, von denen Ort und Zeit des Druckes nicht festgestellt werden kann. Nr. 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720 721 722 723 724 725

Solidarität? Rezension Andreas-Salomé: Menschenkinder Lord Roseberys Halbheiten. „Frieden“ Deutsch und englisch. Rede zur Enthüllung von Theodor Storms Denkmal in Husum? Nachruf für Richard Penzig Der Soziologen Kongress in Paris „Zum Wohle der Allgemeinheit“ Hobbes’ Lehren über Religion und Kirche im Verhältnis zu seiner Philosophie. Das gute Gewissen. Die Krise der Sozialplitik. Die nationale Opposition. Harald Höffding und der grosse Humor. Soziologie und Volkskunde. Der Weg ins Freie.

denen Tönnies, dem das Schreiben zunehmend schwer fiel, seine Texte diktierte. Else Brenkes Familienanschluss – wie der nicht weniger anderer, die Tönnies in wirtschaftlich schwerer Zeit durchzufüttern versuchte – war sehr eng. Gleichwohl hatte sie auch außerhalb Kiels und Schleswig-Holsteins mancherlei freundschaftliche Verbindungen, so zu Ricarda Huch.

610 726 727 728 729 730 731

Apparat

Kritisches und Positives. (Gutachten zum Parteiprogramm von Normannus). Ist es wirklich so schlimm? (Nach 1920) An die Schriftleitung der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung. Soziologie Zu Harald Höffdings Gedächtnis. Moral und Kapitalismus.

Verzeichnis III: Vermutlich ungedruckte Manuskripte Nr. 732 Was lernen wir aus den Prinzipien der Deszendenztheorie in Beziehung auf die innerpolitische Entwicklung und Gesetzgebung der Staaten. 1902 733 Nietzsche-Vorlesung. 734 Vortrag über das Herzogtum Schleswig. 735 Der Wahlkampf. 736 Wetzlar. Zusammenkunft auf Einladung der pädagogischen Abteilung für Völkerbund 5.−7−VIII. 1919 737 Das deutsche Reichsblatt (Husum). Eine Warnung. 738 Die Logik des Generals Ludendorff. 739 Marxomania. 1892. 740 Das tragische in unserem Verhältnis zur Religion. 741 Das Elend des deutschen Reiches. Etwa 1923. 742 Über das Wachstum der politischen Stellungen des preussischen Finanzministers. 743 Über Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland. 744 Vortrag über Gesellschaft. 745 Weltfriede und Volksfriede. Offener Brief an den Bürgermeister in Stockholm 1918. 746 Lessing. Vortrag im Gymnasium 1926. 747 MS. Ferdinand Hansen. Deutsch und englisch. 748 Ansicht der neueren Geschichte. 749 Brief über die Rassenfrage. 1936. 750 Der Ursprung meiner soziologischen Begriffe. Für Earl Eubank. 751 Wunderglaube und Wissenschaft in der sozialen Frage. 752 Bemerkungen zu den Thesen eines Vortrages über Marxismus und Christentum 753 Lebensart und Umgangsform. 754 Skandinavische Reiseeindrücke.

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755 756 757 758 759 760 761 762 763 764 765 766 767 768 769 770 771 772 773 774 775 776 777 778 779 780 781 782

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Die natürliche Religion des Geistes und der Arbeit. (Ursprünglich amerikanische Preisschrift 1920). Reformation. Die moderne Demokratie. Ein Säkular-Sylvestermärchen. Deutsches Reich – U. S. A. 1918. Der Dichter im sozialen Leben. Entwurf. Brief an eine Zeitung über Dienstpflicht im Kriege. Eine Rede in Altona. Reformen der Strafgerechtigkeit. (Altes umfangreiches M. S.). Friedensappell. 1910 / 11, deutsch und englisch. Wilson. Die Bewegung der Bevölkerung 1931. Versuch über die Entwicklung sozial-ökonomischer Verhältnisse im griechischen Altertum. Rundfunkvortrag 1929. Die Tatsache des Wollens. Frohschammer-Preisaufgabe. Deutsch u. Englisch. Vortrag im Rep. Klub. 1926 über Demokratie (der) als Staatsform. Die Tatsache des Wollens in der Sprache. Kleines M. S. Rede über das staatswissenschaftliche Studium. Neueres M. S. Kleines M. S. in englischer Sprache. Rezension Ernst Schultze: Japan, 2x. Gurewitsch: Die Entwicklung der menschlichen Bedürfnisse und die Gliederung der menschlichen Gesellschaft. 1902? Rezension Bosse: Arbeiterprobleme in norwegischer Beleuchtung. Rezension Piper: Soziale Spielregeln. Rezension Francke: The disintegrations of imperial Germany. Rezension Hessing: Spinoza – Festschrift. Die Besudelung Prof. Baumgartens. Benedictus de Spinoza. [handschriftlich von E. Brenke später nachgetragen:] Ungedrucktes 1933 u. später Fach IV, mit einem roten + bezeichnet.

Aus heutiger Sicht lässt sich feststellen, dass auf dem hier wiedergegebenen zeitgenössischen Verzeichnis erstens eine Reihe unveröffentlichter Texte, die sich heute im Nachlass in der Landesbibliothek in Kiel befinden, nicht angegeben sind; und zweitens, dass viele der bei Else Brenke notierten

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Apparat

Textüberschriften und Titel sich nicht eindeutig den erhaltenen Originalen zuordnen lassen, weil diese entweder ohne Kopftitel sind oder aber eine Überschrift enthalten, die nicht oder nur ungefähr mit den Angaben bei Brenke übereinstimmen. Eine exakte Aussage darüber, wie viele der ursprünglich vorhandenen unveröffentlichten Nachlasstexte sich nicht erhalten haben, lässt sich also nicht machen. Man kann aber davon ausgehen, dass es nicht viele sein dürften, die verloren gegangen sind. Nach diesen Ausführungen zur Überlieferung des Tönnies-Nachlasses nun noch einige Angaben zu seiner Struktur: Die Struktur eines schriftlichen Nachlasses hängt davon ab, in welche Ordnung man die vorhandenen Textmengen bringt. Eine gewisse Ordnung pflegen Nachlässe schon in der Wohnung des Nachlassers durch diesen selbst zu haben. Jede postume Verzeichnung und Registrierung des Bestandes greift die vorhandene Ordnung auf oder greift in die vorhandene Ordnung ein, falls die Inventarisierung nach eigenen Ordnungskategorien erfolgt. Wenn Nachlässe in öffentlichen Besitz beispielsweise einer Bibliothek oder eines Archivs gelangen, erfolgt die Verzeichnung und Katalogisierung des Bestandes nach einem vorgeschriebenen Regelwerk, das an der allgemeinen Benutzbarkeit des Nachlasses durch die Öffentlichkeit orientiert ist und seine Bestandteile nach formalen Kriterien ordnet. In einer solchen Ordnung liegt auch der Tönnies-Nachlass in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel vor.5 Die professionelle Erschließung und Katalogisierung von Handschriften nach einem präzisen bibliothekarischen Regelwerk erfordert jahrelange aufwendige Arbeiten. Im Fall des Tönnies-Nachlasses mussten große Mengen von Briefen, Manuskripten, Notizbüchern, Personaldokumenten usw. als Einzelstücke erfasst, beschrieben, signiert und schließlich benutzungstechnisch einwandfrei verwahrt werden. Immerhin hat der Nachlass einen Umfang von nahezu 100 Archivkartons. Die zunehmende Erblindung Heinz Rautenbergs führte zu einem Abbruch dieser Arbeiten, die erst Jahre später durch Jürgen Zander, den einen der beiden Herausgeber des vorliegenden Bandes, zu Ende gebracht wurden. Der Tönnies-Nachlass gliedert sich in der endgültigen systematischen Ordnung in folgende Teile:

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Vgl. den gedruckten Katalog des Bestandes (Zander 1980).

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Ordnung des Tönnies-Nachlasses in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek:6 Biographisches und Autobiographisches Literarisches (Gedichte u. dgl.) Wissenschaftliche Arbeiten Wissenschaftliche Materialsammlungen (Notizbücher u. dgl.) Briefwechsel Korporationsakten (Deutsche Gesellschaft für Soziologie u. dgl.) Über Tönnies (Würdigungen, Rezensionen seines Werkes u. dgl.) Handexemplare seiner gedruckten Werke

6

In Spitzklammern < > die Schlüsselnummer zur Kennzeichnung der Systemstelle innerhalb der systematischen Ordnung des Nachlasses. Die Schlüsselnummer ist zugleich Bestandteil der Signaturen der Nachlasstexte. Die Signaturen setzen sich zusammen aus dem Code für den Nachlass Tönnies (= Cb 54), dann folgt die Schlüsselnummer einer Systemstelle (z. B. bezeichnet ‚56‘ innerhalb der Rubrik „Briefwechsel“ den Briefeingang, also die Briefe an Tönnies). Die danach anschließende Zahlenkombination – ihr geht ein Doppelpunkt voraus – kennzeichnet ein bestimmtes hierhergehöriges Einzelstück. So trägt beispielsweise der Brief von Oscar Haering an Ferdinand Tönnies vom 1. 3. 1903 die Signatur: Cb 54.56: 317,01

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Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten

Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten Neue Botschaft (hier S. 3−75) Textüberlieferung Der Text „Neue Botschaft“ ist im Nachlass Tönnies in verschiedenen Vorlagen überliefert. Zunächst entstand ein eigenhändiges Manuskript, dessen Schlussblätter verlorengegangen sind. Es trägt die Nachlass-Signatur Cb 54.34:34. Sodann ist ein Typoskript vorhanden mit der Signatur Cb 54.34:38, in dem der Text sich vollständig erhalten hat. Die dritte Vorlage ist gleichfalls ein Typoskript, das erst nachträglich in den Nachlass gelangt ist. Es handelt sich dabei um eine Abschrift, die der Tönnies-Schüler Eduard Georg Jacoby nach dem 2. Weltkrieg von dem zuvor genannten Typoskript angefertigt hat, ohne dass ihm das eigenhändige Manuskript von Tönnies vorgelegen hat. Jacobys Abschrift, die keinerlei Abweichungen von Cb 54.34:38 enthält, trägt die Signatur Cb 54.34:39. In diesen Vorlagen lassen sich zwei deutlich zu unterscheidende Bearbeitungsschichten des schließlich mit „Neue Botschaft“ betitelten Textes fassen. Diese Schichten, die auch im Wechsel der Überschriften und Titel ihren Ausdruck finden, sind nur darzustellen, wenn man den Anlass der Textentstehung vor Augen führt. Der an der University of St. Andrews (Scotland) eingerichtete WalkerTrust schrieb im Januar 1919 eine Preisaufgabe unter folgendem Titel aus: „Spiritual Regeneration as the basis of World Reconstruction“. Eine gedruckte Einladung zur internationalen Beteiligung wurde an Interessenten verschickt und enthielt präzise inhaltliche und formale Vorgaben, die bei der Abfassung des Essays eingehalten werden sollten. So wurde beispielsweise die Länge auf maximal 20000 Wörter begrenzt, die Sprache wurde grundsätzlich freigestellt – es wurde jedoch dringend um eine Synopsis des Inhalts in englischer Sprache gebeten, falls der Beitrag nicht in englischer Sprache abgefasst war („synopsis of contents“). Wie bei Preisfragen üblich, wurde zum Zweck der Anonymisierung des Verfassers um ein Motto als Kennwort auf dem Titelblatt gebeten. Die Bedingungen zur inhaltlichen Bewältigung des Essays waren gleichfalls sehr genau und lauteten folgendermaßen: „The Walker-Trustees, desiring to stimulate thought as to the attitude, the preparations and the conditions that must precede and lead up to the realisation of the highest social, educative and reconstructive ideals, invite

Zweiter Teil: Zu einzelnen Texten

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essais on: – ‚Spiritual Regeneration as the basis of World Reconstruction.‘ Sympathising with the present aspirations after a better social and international order, and believing that realisation of the highest ideals of humanity will depend essentially on an awakening to spirituals truths which will permeate and inspire all thought, the Trustees desire the essayists to concentrate their attention primarily on the nature and the necessity of spiritual regeneration, and on the methods by which it may be attained.“ Im Nachlass von Ferdinand Tönnies befinden sich keine Unterlagen, die seinen Kontakt mit dem Walker-Trust dokumentieren, außer der gedruckten Information (1921) über das Ergebnis der Preisaufgabe: Es waren 679 Essays in 17 Sprachen eingegangen. Der Hauptpreis war Henry T. Hodgkin in London zuerkannt worden, unter den übrigen dann namentlich aufgeführten Preisträgern befindet sich Tönnies nicht. Nachfragen bei der University of St. Andrews Library im September 1998 haben ergeben, dass in den archivierten Unterlagen über diese Preisaufgabe – soweit sie sich heute noch erhalten haben – die Beteiligung von Tönnies nicht zu dokumentieren ist. Gleichwohl lässt sich an den im Nachlass erhaltenen Vorlagen des Textes, den Tönnies für den Wettbewerb verfasste, an den Titelblättern, Anhängen u. dgl.7 rekonstruieren, wie seine Teilnahme an der Preisaufgabe verlaufen ist. Man kann sicher davon ausgehen, dass Tönnies die oben erwähnte gedruckte Einladung des Walker-Trustes von 1919 erhalten hat, wenn er nicht sogar – durch seine guten Kontakte nach England – über noch detailliertere Informationen zur Preisaufgabe verfügte.8 Der Hergang seiner Teilnahme stellt sich folgendermaßen dar: Er verfasste zunächst das Manuskript, und zwar in der für Tönnies charakteristischen Form: er ließ bei der Niederschrift den Rand des Papiers in ca. einem Drittel der Blattbreite leer. Auf diesem Rand fügte er – wie gewöhnlich – Ergänzungen und Korrekturen hinzu. Alsdann ließ er dieses Manuskript (Cb 54.34:34) mit den Randzusätzen – vielleicht von seiner

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Die Quellen zu „Neue Botschaft“ im Nachlass Tönnies sind unter folgenden Signaturen zu finden: Cb 54.34: 34/35/38/39. Den Herausgebern wurde auf Anfrage (1998) in der University of St. Andrews Library noch ein anderes Schriftstück mit sehr viel ausführlicheren Angaben zur Ausführung der Preisaufgabe zugänglich gemacht. Der Vergleich dieser detaillierteren Vorstellungen der Walker-Trustees mit Tönnies’ Bearbeitung des Themas legt die Vermutung nahe, dass er auch diese Details kannte. Es handelt sich dabei um ein 4-seitiges Typoskript mit der Überschrift: „Walker Trust. Memorandum on spiritual Regeneration“.

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ältesten Tochter Franziska – mit Schreibmaschine abschreiben. Das nun entstandene Typoskript (Cb 54.34:38) korrigierte Tönnies auf der Grundlage des Manuskriptes, da sich eine beträchtliche Anzahl von Lesefehlern beim Abschreiben der nicht leicht lesbaren Handschrift von Tönnies ergeben hatte. Am Kopf der ersten Seite sowohl des Manuskripts als auch des Typoskripts erscheint folgender Titel: „Der Wiederaufbau der menschlichen Gesellschaft auf dem Grunde einer geistig-sittlichen Wiedergeburt“. Das Typoskript, mit diesem Titel, wurde unter Hinzufügung der schon genannten Inhalts-Synopse in englischer Sprache („Contents“) sowie einem im Nachlass wahrscheinlich nur teilweise erhaltenen Literaturverzeichnis („Books quotetd or silently referred to.“) nach St. Andrews geschickt. Der Sendung lag das geforderte Deckblatt mit dem Motto bei, durch welches der Verfassername verschlüsselt war. Das Deckblatt, das eigenhändig, nicht maschinenschriftlich verfasst ist, lautet folgendermaßen: „‚Veni Creator Spiritus‘ ‚Walker Trust-Essay on Spiritual Regeneration‘ Grosser Preis.“ Das Blatt enthält einen nachträglich mit blauem Farbstift aufgetragenen Vermerk – eine Zahlengruppe, die wohl die Registriernummer für den Eingang der Sendung in St. Andrews war: 92 G – 23 / 2 / 20. Tönnies’ Beitrag dürfte also am 23. Februar 1920 eingegangen sein, kurz vor Ablauf der Einsendefrist, die am 1. März 1920 festgesetzt war. [1] 92G 23 / 2 / 20 „Veni Creator Spiritus“ „Walker Trust-Essay on Spiritual Regeneration“ Grosser Preis. Das nach St. Andrews geschickte Typoskript (Cb 54.34:38), das ja eine von Tönnies autorisierte Abschrift seines Manuskripts war, wie es zum Zeitpunkt der Abschrift vorlag, enthält diejenige Textgestalt, die der Verfasser zur Teilnahme an der Preisaufgabe vorgesehen hat. Insoweit stellt sich also in diesem Typoskript eine abgeschlossene Arbeit dar, die sich gegenüber der späteren Bearbeitung als Ursprungsfassung manifestiert. Bevor

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nun von Tönnies weiterer Beschäftigung mit dem Text als der Bearbeitung der Ursprungsfassung berichtet wird, folgen der Vollständigkeit halber die Inhaltsangabe und das fragmentarisch überlieferte Literaturverzeichnis, die dem nach St. Andrews gesandten Essay beigefügt waren und zur Ursprungsfassung gehören: Contents Page 1 Introductory. The problem is delineated. 3 I. Progress and crisis. Capitalism. Class struggle. Individual interests. Rottenness of civilization. Lack of moral education. 6 II. Complaints of decay. Attack and defence of progress. Country and town. People and aristocracy. Past and present. The middle ages and recent times. 10 III. The two parties. Controversy to be decided upon by sociological interpretation. Saint-Simon and Comte. Herbert Spencer. Tendency of synthesis. Hegelianism. 14 IV. Economical view and synthesis. Marx and Marxism. Dialectical charakter of development. Private property and communistic property. Double meaning of synthesis. Lewis H. Morgan. 16 V. Truth and error in the economical interpretation of history. How is a regeneration of mental and moral energy possible? 17 VI. Its necessity as an object of knowledge and purpose. Religious sanction of enthusiasm. Restoration of solidarityfeeling. Faith and brotherhood. The reign of God. Present state of religious disposition. 20 VII. Church and state. Revival of christian dogmatism possible? External and internal culture of mind? Problem of a universal religion. The human sentiment. Cooperative movement and cooperative feeling. Socialism and the moral point of view. 23 VIII. Eternity and the Infinite. Spinozism. Is Spinozism atheism? Is it pantheism? Natura naturans and natura naturata. Pre-Spinozism in ancient German mysticism und neo-Spinozism in recent German metaphysics. 26 IX. Spinozism not a religion. Seven points of view for the palin-genesis of religion. A serious reflection with respect to Christianity. The field of the time to come lies open before us.

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X. (A) Idea of a Religion of the Holy Spirit. Tripartite sanctity in Nature, Humanity and the Individual Mind. Leges Spermatikes. The meaning of the fine arts. Musical expression of sublime sentiment. XI. (B) A religious community. Veneration of the Holy Spirit. Influence of womankind. The signity of the female mind and its moral significance. XII. (C) A scientific investigation of the nature and causes of moral good and evil. Results achieves and to be achieved. Mental and moral education of the people. University extension. A secular priestheed and social paedagogics. XIII. (D) The meaning of Art again. The True, the Good and the Beautiful. The Sublime. Nature and Art. Art and Morality in conflict and in harmony. XIV. (E) Exemples more powerful than doctrines. Severity of manners and customs. The significance of the marriage tie, Family life and family spirit. Dangers and corruption. Cooperation again. The housing question. XV. (F) Catholicity of Spirit-Religion. Love of mankind. Humanity. Estrangement of nations. Carlyle quoted. XVI. (G) Piety (pietas) and reverence. Their meaning in private life. Sociological value of piety. Piety towards the past. Historical way of thinking. A religion of irreligious? The faith of the sceptic. XVII. (Conclusion) The Eternal Gospel. Abbat Joachim. The order of the Franciscans. The Parakletes. The dogma of Trinity. Lessing and The Education of Mankind. The third age. The whole Eternity is ones.

Books quoted or silently referred to. Das Neue Testament Plato, politeia (Republik). Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Kant, Kritik der Urteilskraft. Hegel, Logik Hegel, Vorlesungen über Philosophie der Religion. Marx, Das Kapital Marx, Zur Kritik der politischen Oekonomie. Saint-Simon, Oeuvres. Darin „Le nouveau christianisme“. Doctrine de Saint-Simon. Exposition. Première année.

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Comte, Cours de philosophie positive. Comte, Système de politique positive. Carlyle, Past and present. Tylor, Die Anfänge der Kultur. Uebersetzt von Spengel und Peske. Lewis Morgan, Ancient Society. Spencer, H. Ecclestical Institutions. Fechner, Zend-Avesta oder Ueber die Dinge des Himmels und des Jenseits. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Potter, The cooperative movement. Staudinger, Die Konsumgesellschaft. Hollmann, Die Volkshochschule und die geistigen Grundlagen der Demokratie. Natorp, Sozialpädagogik. Höffding, Ethik. Zweite Auflage der deutschen Ausgabe. Schiller, Gedichte. Schiller, Ueber Anmut und Würde. Goethe, Gedichte. Goethe, Sprüche in Prosa. Goethe, „Ausländische Literatur.“ Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts. Lessing, Nathan der Weise. Die weitere Textgeschichte stellt sich auf der Grundlage der im Nachlass vorhandenen Quellen wie folgt dar. Nach der erfolglosen Teilnahme an der Walker-Trust-Preisaufgabe und dem Rückerhalt seiner Unterlagen aus St. Andrews unterzog Tönnies den eingesandten Text einer weiteren Bearbeitung. Diese Bearbeitung bestand inhaltlich in vergleichsweise unerheblichen Ergänzungen, die er eigenhändig auf dem breiten, leer gelassenen Blattrand des ursprünglichen Manuskripts (Cb 45.34:34) vornahm und die sich von den früheren schon in der Ursprungsfassung vorgenommenen Ergänzungen nur dadurch unterscheiden lassen, dass sie in der Maschinenabschrift des Manuskripts (also dem Typoskript Cb 54.34: 38) fehlen. Diese späteren Ergänzungen bestehen lediglich aus Wörtern, Halbsätzen, sehr selten aus ganzen Sätzen, die zu der Ursprungsfassung, und zwar im wesentlichen ohne Streichungen an deren Text, hinzugefügt worden sind. Die Ursprungsfassung ist also in der Bearbeitung voll enthalten. Da die Bearbeitung nur in den genannten wenigen Ergänzungen, nicht aber

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in strukturellen Veränderungen der Textgestalt von der Ursprungsfassung differiert, sollte besser nicht von einer neuen Fassung, sondern eben nur von einer Bearbeitung der Ursprungsfassung gesprochen werden. Gleichwohl beruht die Bearbeitung auf einer geänderten Absicht des Verfassers und machte eine neue Beschäftigung mit der Schrift erforderlich. Diese Absichtsänderung wird zunächst in einem wohl nur psychologisch zu verstehenden Umstand ersichtlich: Tönnies nahm die Ergänzungen, die die Bearbeitung ausmachen, nicht auf dem nach St. Andrews gegangenen Typoskript, sondern auf dem breiten, leer gelassenen Blattrand des ursprünglichen Manuskripts vor. Vielleicht hat er bei der Bearbeitung diese Vorlage der anderen auch deswegen vorgezogen, weil hier für die neuen Ergänzungen einfach mehr Platz am Rand war als im Typoskript, doch konnte dieser Vorteil so schwer nicht wiegen, da er im Manuskript zwischen die alten Korrekturen und Ergänzungen der Ursprungsfassung hineinschreiben musste. So dürfte das psychologische Moment doch eine Rolle gespielt haben, sich mit dem Werk auf den Blättern wieder zu beschäftigen, auf denen die erste Niederschrift erfolgte: also den Manuskriptblättern, die ja nicht in die Hände der Juroren des Walker-Trusts gelangt waren. Gewichtiger als die Ergänzungen und signifikanter für die neue Absicht, das Werk vom ursprünglichen Anlass seiner Entstehung zu befreien, erscheint in der Bearbeitung die Änderung der Titel. Zuerst wurde sowohl im Manuskript als auch im Typoskript der Ursprungsfassung der für die Beteiligung an der Preisaufgabe gewählte Kopftitel („Der Wiederaufbau der menschlichen Gesellschaft auf dem Grunde einer geistig-sittlichen Wiedergeburt“) gestrichen: Statt dieses durchgestrichenen Titels entstanden auf einem separaten, eigenhändig geschriebenen Titelblatt [2] folgende zwei neue Titel, von denen der erste rot durchgestrichen ist: „Geistig-sittliche Wiedergeburt durch die Religion des Heiligen Geistes.“ „Die natürliche Religion des Geistes und der Arbeit.“ Dieses Blatt enthält aber einen weiteren Text, der nicht wie die Titel in blauer, sondern in schwarzer Tinte geschrieben ist: Von Ferdinand Tönnies. „Veni Creator Spiritus.“ „Der herrliche Kirchengesang: Veni Cretor Spiritus ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; weswegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht“ Goethe. [2]

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Geistig-sittliche Wiedergeburt durch die Religion des Heiligen Geistes. Die natürliche Religion des Geistes und der Arbeit. Von Ferdinand Tönnies. „Veni Creator Spiritus.“ „Der herrliche Kirchengesang: Veni Creator Spiritus ist ganz eigentlich ein Appell ans Genie; weswegen er auch geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht“ Goethe

Dieser ältere Textteil ist wohl zeitgleich mit dem oben wiedergegebenen Code-Blatt [1] entstanden, auf dem das Motto ‚Veni creator spiritus‘ für den anonym bleibenden Verfasser nach St. Andrews geschickt worden war. Es muss sich also bei diesem anderen nachträglich zum ‚Titelblatt‘ umfunktionierten Blatt [2] um das Gegenstück zu jenem Code-Blatt handeln, das Gegenstück, durch das der Bewerber in der Verbindung des Code-Wortes (= Motto) mit seinem Namen den Juroren den Verfasser des eingesandten Essays preisgab. Doch sollten die beiden nachträglich auf das Decodierungsblatt gesetzten Titel nicht die letzten bleiben. Es entstand ein weiteres separates Titelblatt [3], das Tönnies eigenhändig mit blauem Farbstift anfertigte. Es trägt folgenden Text: [3] Eigentum von Ferdinand Tönnies Kiel, Niemannsweg 61

Neue Botschaft Von * * * 1920−1925 ungedruckt 17.I.1936 nach Ang. d. Vfs. v.

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Am Fuß des Blattes ist später mit Rotstift in der Handschrift von Tönnies’ Helferin Else Brenke hinzugesetzt worden: „ungedruckt“, und ein Bleistiftzusatz von Rudolf Heberle fügt hinzu: „nach Angabe des Verfassers vom 17.I.1936“. „Neue Botschaft“ ist also der letzte von Tönnies gewählte Titel für den ursprünglich zum Wettbewerb an der Preisaufgabe des Walker-Trusts entstandenen Text. Dieser letzte Titel gilt für die nachträgliche Bearbeitung der Ursprungsfassung, sonst hätte Tönnies auf das letzte Titelblatt nicht den Zeitraum 1920−1925 als Entstehungszeit der Schrift angegeben. Man darf also die Bearbeitung als die letztwillige Gestalt seiner Schrift ansehen, und in dieser Gestalt und mit diesem Titel ist sie in dem vorliegenden Band ediert. Entfallen (und nur hier im Editorischen Bericht wiedergegeben) sind Inhalts-Synopse und Literaturverzeichnis, da sie in der gegebenen Form nur für die Preisaufgabe gedacht waren und daher zur Ursprungsfassung gehören. Beibehalten wurde in der vorliegenden Edition allerdings die Orthographie des Typoskripts der Ursprungsfassung. Dies aus folgendem Grund: Im Manuskript benutzt Tönnies (noch 1920!) weitgehend die Orthographie des 19. Jhdts. Er schreibt Verben wie ‚gratulieren‘, ‚stagnieren‘, ‚halbieren‘ noch: ‚gratuliren‘, ‚stagniren‘, ‚halbiren‘; Lehnwörter wie ‚Prozess‘, ‚Konzept‘ noch: ‚Process‘, ‚Concept‘ usw. Selbstverständlich hat der Abschreiber, der die Maschinenabschrift anfertigte, alles in neue Orthographie gebracht, und da Tönnies dieses Typoskript korrigiert hat, ohne dabei diese Orthographieveränderungen zu beanstanden, darf man seine Billigung der 1920 gültigen Rechtschreibung auch für die Bearbeitung unterstellen. Werkbiographische Zuordnung des Textes So viel zu den textphilologischen Nachweisen. In inhaltlicher Hinsicht fällt die krasse Ausnahmestellung des Textes innerhalb des Gesamtwerkes von Tönnies auf, die ihn geradezu als Fremdkörper erscheinen lässt, solange nicht zu der textphilologischen die werkbiographische Begründung hinzutritt. Diese macht zugleich deutlich, dass die „Neue Botschaft“ alles andere als eine bloße Gelegenheitsschrift aus Anlass der Preisfrage des Walker-Trusts war und vielmehr eine Schlüsselstellung in Tönnies’ Schaffen einnimmt – woraus auch die jahrelange spätere Beschäftigung mit dieser Schrift, die zu ihrer Bearbeitung führte, erklärlich wird. Es scheint hilfreich, die Entstehung von Tönnies’ „Neue Botschaft“ mit der Entstehung jener epochemachenden Preisschrift zu vergleichen, durch

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die Jean-Jacques Rousseau seinen wissenschaftlichen Ruhm begründete. Denn in biographischer und werkbiographischer Hinsicht – also bezogen auf den Stellenwert in der geistigen Entwicklung und im Werk ihrer Autoren – zeigt die „Neue Botschaft“ eine deutliche Verwandtschaft mit Rousseaus Schrift als Antwort auf die Preisfrage, die die Akademie von Dijon 1749 gestellt hatte: „Hat der Fortschritt der Wissenschaften und Künste zum Verderb oder zur Veredelung der Sitten beigetragen?“ Bekanntlich las Rousseau die Preisfrage in einer Zeitschrift auf seiner Wanderung von Paris nach Vincennes, wo er den dort inhaftierten Diderot besuchen wollte. Es war am Mittag eines glühendheißen Sommertages, daß sein Blick auf das Inserat fiel und ihn in einen an Wahnsinn grenzenden Erregungszustand versetzte. „Sobald ich diese Zeile gelesen, sah ich rings um mich eine andere Welt und ward ein anderer Mensch“ (Rousseau 1971: 493). Wenn eine von außen herantretende Fragestellung einen Menschen wie ein Blitz trifft und derart eruptive Wirkungen hervorruft, wie es bei Rousseau der Fall war, so muss sein Geist schon lange und ganz zentral von einem Problemkomplex beherrscht gewesen sein, ohne ihn bewältigt und gelöst zu haben und seiner Herr geworden zu sein. Das Problem, das Rousseau schon lange vor der Preisfrage gefesselt hatte, war seine Überzeugung, in einer verfehlten menschlichen Verfassung, genannt Kultur, zu leben, ohne dass er die tiefsten Gründe verstand oder kannte, durch die die Menschen in diesen verfehlten Zustand geraten waren. Die Preisfrage der Dijoner Akademie lenkte Rousseaus angespannten Geist auf einen Zusammenhang, der für ihn die Lösung seiner Frage nach den Ursachen der Kulturentstehung bedeutete: Wenn Künste und Wissenschaften die Menschen moralisch verderben können, so können sie auch Ursache für die verhängnisvolle Verbindung sein, in der die Menschen in Gestalt von Gesellschaft und Kultur zusammenleben. Danach jedoch hatte die Dijoner Akademie nicht gefragt, die Genese von Kultur und Gesellschaft war nicht ihr, sondern Rousseaus Problem. Aber in der Fragestellung der Akademie lag eben die Blickrichtung darauf, dass Wissenschaft und Künste möglicherweise auch eine verderbliche Wirkung hervorrufen könnten. Und mit dieser Blickrichtung wurde Rousseau blitzartig sein ureigenes, schon lange mit sich herumgetragenes Problem lösbar. Die Preisaufgabe des Walker-Trusts wird auf Tönnies, der damals immerhin schon etwa 65 Jahre alt war, nicht im entfernten so elektrisierend gewirkt haben, wie dies seinerzeit bei Rousseau der Fall war, aber in biographischer und werkbiographischer Hinsicht trat eine ähnlich klärende Wirkung ein. Die in der Fragestellung der ‚Trustees‘ liegende Verbindung der

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Wörter ‚Geist‘ und ‚Wiedergeburt‘ („spiritual regeneration“) lenkten seinen Blick auf das Problem, das ihn seit jungen Jahren beherrschte, ohne dass er es für seine Arbeit geklärt, geschweige denn gelöst hätte: das Problem einer Konzeption des menschlichen Intellekts und Geistes, die Tönnies’ wissenschaftlichen, politischen und ethischen Anliegen genügt hätte. Dies bedarf einer Erläuterung. Der Intellekt als Werkzeug Frühe und intensive Studien der Philosophie Schopenhauers hatten Tönnies zu einer Auffassung des Intellekts gebracht, in welcher der Intellekt durch sein Verhältnis zum Willen, und innerhalb dieses Verhältnisses durch die Funktion definiert ist, ein bloßes Werkzeug des Willens zur Erreichung von dessen Zielen zu sein (Zander 1996: 4-13). Die etwas später einsetzende Beschäftigung mit Thomas Hobbes hat diese Auffassung des Werkzeugcharakters des Intellekts affirmiert. Auf dieser Konzeption – im übrigen in begriffslogischer Hinsicht ja äquivalent der Methodik und dem Paradigma der Naturwissenschaften – fußt das ‚Theorem Gemeinschaft und Gesellschaft‘, in welchem der Schritt von der Gemeinschaft zur Gesellschaft durch die Entpuppung des Intellekts als eines Werkzeugs des handelnden Menschen stattfindet. Da der erkennende Geist in dieser instrumentellen Charakteristik vom Anschaulichen der empirischen Umgebung zur begrifflichen Abstraktion und zur analytischen, nur noch zerlegenden Bearbeitung des empirisch Gegebenen fortgeht, zeigt sich die gesellschaftliche Entwicklung, soweit sie von dieser Geistkonzeption abhängt, als ein Zerfall. Dies war die bittere Einsicht, von der Tönnies’ wissenschaftliches Denken zeitlebens geprägt war, und noch sein letztes Werk „Geist der Neuzeit“ (1935) zeigt diese negative Entwicklungsform als das Paradigma vergangener und künftiger Kulturen, die aus Gemeinschaft in Gesellschaft zerfallen, weil der sie tragende Geist einen bloßen Werkzeugcharakter hat. Beruhigt hat Tönnies sich bei dieser pessimistischen Richtung seines Denkens nie. Er fühlte, dass das Problem mit der von ihm verwendeten instrumentellen Konzeption des Intellekts zusammenhing: Sonst wäre er nicht stets für andere Konzeptionen offen und an ihnen interessiert gewesen. Insbesondere seine Beschäftigung mit Spinoza hatte ihn sehr früh mit einer Konzeption des Geistes vertraut gemacht, die – frei von Schopenhauers prägnanter Charakteristik des Intellekts als eines bloßen Werkzeugs des Willens – vielmehr die Einheit von Wille und Intellekt behauptet, in dieser

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Einheit die Fähigkeit zur Erkenntnis Gottes und in ihr die Erkenntnis von allem in allem („dritte Erkenntnisart“). Ein Geist und Intellekt, der nicht Werkzeug, sondern Selbstzweck ist; der nicht beschränkt, sondern zum Ganzen und zur Einheit führt, stellt demnach eine Gegenkonzeption dar, an der Tönnies stets interessiert war. Dass es sich um eine Gegenkonzeption zum diskursiven Verstand handelt, wusste er aus der Philosophie Kants, der diese Möglichkeit unter dem Begriff „anschauender Verstand“, „intellectus intuitivus“, „intellectus archetypus“ ausgiebig diskutiert, für eine objektiv verfahrende Wissenschaft allerdings verworfen hatte. Die romantische Philosophie indessen hatte die begriffslogische Figur des ‚anschauenden Verstandes‘ voll in ihren Dienst genommen, und natürlich waren Tönnies Schellings oder Hegels Werke gut bekannt, ohne dass er methodologisch diesen anderen Weg einschlagen konnte. So schätzte er beispielsweise die ‚dialektische‘ Konzeption des Intellekts bei Hegel oder Marx wegen ihres synthetischen Charakters zwar hoch, konnte ihr aber in dem entscheidenden Punkt nicht folgen: nämlich in der Annahme, dass ein aus Widersprüchen, Gegensätzen, Kämpfen hervorgehender Endzustand – die Schlusssynthese – auch ein Friedenszustand sein würde, der „von allem Streit befreit“ sein würde. An einen kommunistischen Schluss der Geschichte glaubte er nicht und sagte das in seinem Buch über Karl Marx unumwunden mit den Worten: „Was Marx aber nicht sieht, ist die Erscheinung, daß solche Widersprüche [sc. Klassenkämpfe] zugleich den Tod einer Kultur, eines in Gemeinschaften vergeistigten Volkslebens bedeuten“ (Tönnies 1921: 142). Hingegen wird es an Spinozas Konzeption des Intellekts als Selbstzweck – dem Erkennen „sub specie aeternitatis“ – dessen kontemplativer Charakter gewesen sein, der Tönnies Grenzen der praktischen Verwendung dieses Erkenntnisbegriffs setzte. In der Themenstellung des Walker-Trusts wurde nach der Möglichkeit einer neuen Geistesverfassung für die Menschen gesucht: Sie sollte die in Krieg und Selbstzerstörung geratene Kultur Europas vor dem Ruin retten. Diese Forderung war ersichtlich das Gegenteil dessen, was Tönnies in seinem Theorem „Gemeinschaft und Gesellschaft“ in Aussicht stellte. An dieser Gegensätzlichkeit muss Tönnies die Notwendigkeit und Beschaffenheit einer Gegenkonzeption des Intellekts gegenüber der in seiner soziologischen Theorie verwendeten instrumentellen Konzeption klar geworden sein. Als diese Gegenkonzeption musste der Intellekt 1. Selbstzweck sein, um eine rettende Geistesverfassung herbeizuführen; er musste 2. aktiv sein, um diese neue Verfassung als einen wirklichen Geisteszustand zu schaffen; und er durfte 3. nicht in der bloßen Aufhebung von Widersprüchen und

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Konflikten bestehen, sondern musste Frieden als eigene Substanz in sich bergen, um ein wirklicher Endzustand zu sein. Für die Erfüllung dieser Forderungen fand Tönnies – und das ist eigentlich die Überraschung in seinem Gesamtwerk – die Gestalt des creator spiritus, des „Heiligen Geistes“ aus der christlichen Religion. Doch danach hatten die ‚Trustees‘ nicht gefragt, die universale Dimension, die Tönnies der Preisaufgabe gab, war nicht ihr, sondern Tönnies’ eigenes Anliegen, in welchem sein ureigenes Problem einer adäquaten Konzeption des Intellekts lag. Die Preisaufgabe des Walker-Trusts hatte aber eine geistige Selbstkonfrontation in Tönnies ausgelöst, mit dem Resultat, einmal ein Werk mit der Anwendung einer Konzeption des Intellekts zu wagen, in der dieser nicht bloßes Werkzeug, sondern Selbstzweck ist. Als dieses Wagnis steht „Neue Botschaft“ wie ein Fremdkörper – und doch zugleich als seine persönlichste Schrift – im Werk des Ferdinand Tönnies.9 Wenngleich die Einführung des „creator spiritus“ in sein Werk eine Überraschung ist, so muss doch festgestellt werden, dass Tönnies diese Geistgestalt nicht in christlich-orthodoxem Sinn verwendet: Er weitet vielmehr eine ihm schon in jungen Jahren wichtig gewordene Sichtweise aus, nämlich die künstlerische Welterkenntnis, sofern diese die gegebene Wirklichkeit als Bild, als Figur, als Symbol, als Gleichnis auffasst. Auch das war ein bis in Tönnies’ Alter fortwirkendes Erbe seiner frühen Beschäftigung mit Schopenhauers Philosophie, die mit aller Entschiedenheit lehrt, dass nicht die Wissenschaft zum adäquaten Erkennen der Welt fähig sei, sondern nur die Kunst: die Kunst ist die Norm aller Erkenntnis (Schopenhauer 1977a). Tönnies hat diesen Gedanken bewahrt und in der Beschäftigung mit anderen klassischen Autoren weiterverfolgt, insbesondere mit Lessings Werk, das er stets bewunderte. Hier fand er die Verknüpfung des bildlichen Verstehens der Wirklichkeit mit dem Ideal der Aufklärung als einer 9

Es ist aufschlussreich, dass in engem zeitlichen Zusammenhang mit der vorliegenden Schrift „Neue Botschaft“ ein weiterer gleichfalls unveröffentlichter Text entstand („Der Tatbestand Gewissen“: vgl. S. 77−111), in dem gegen Ende eine parallele Gedankenführung über das Verhältnis von Religion und Moral stattfindet. Der auffallende Unterschied zu den diesbezüglichen Ausführungen in der „Neuen Botschaft“ ist jedoch, dass „Der Tatbestand Gewissen“ sich rein in der Perspektive wissenschaftlicher Analyse des Problems hält. Die Parallelität der beiden Texte mit ihrer auffallend unterschiedlichen Behandlung teilweise gleicher Inhalte beweist geradezu, dass „Neue Botschaft“ gegenüber dem gesamten wissenschaftlichen Werk von Tönnies diejenige Schrift ist, die seinen persönlichen Glauben enthält. Man könnte auch sagen, dass sich in der hier zu Tage getretenen Konstellation dokumentiert, dass und in welcher Art es auch für Tönnies die von Max Weber geforderte „Wertfreiheit der Wissenschaft“ gab.

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Vernunft, die zu Tage tritt, indem sie sich aus einer bildnis- und gleichnishaft aufgefassten Wirklichkeit entpuppt und enthüllt. Bei Lessing spätestens fand Tönnies den Hinweis auf jene von Joachim von Floris im Mittelalter entwickelte Umdeutung des „creator spiritus“. Inwiefern nun eine aus dem bildlichen Verstehen der Wirklichkeit entstandene Konzeption des Intellekts denselben als Selbstzweck zugrunde legt, wäre abschließend – und im vorliegenden editorischen Bericht wenigstens ansatzweise – zu zeigen. Erkenntnis als Offenbarung Im bildlichen, gleichnishaften, symbolischen Verständnis wird ein unbekannter Bedeutungsgehalt in einer anderen, bekannten und in sich selbständigen Ebene dargestellt: Ein Landmann geht über den Acker und streut Saatkörner über den Boden. Dies ist ein ganz natürlicher, aus sich selbst verständlicher Vorgang, und so genommen kein Bild. Dieser selbe Vorgang kann aber als Bild verstanden werden, und dann ist – gemäß dem Verständnis der Evangelien, wo dieses Bild verwendet wird – der Sämann der Heiland, die Saatkörner die frohe Botschaft und der Erdboden die verlorenen Menschen, in denen ein neuer Glaube an Gott zum Keimen gebracht werden soll. In allen Elementen des bekannten natürlichen Vorgangs sind unbekannte Bedeutungselemente verschlüsselt, und die Entschlüsselung des nunmehr bildlich zu nehmenden Vorgangs lässt die unbekannte Bedeutung zu Tage treten: macht sie offenbar. Entschlüsselung ist per se ein Erkenntnisvorgang, Offenbar-Sein aber ein Erkenntniszustand, auf den es in der Entschlüsselung ankommt (revelatio). Da dieser Zustand der Offenbarung aus der Entfernung des Verbergenden hervorgeht, ist Offenbar-Sein der Sinn der Entschlüsselung und Erkenntnis ihr Ziel: Womit der Selbstzweckcharakter dieser Konzeption des Intellektes gegeben ist. Der Geist offenbart, was in der Realität, der Wirklichkeit steckt, wenn sie als Figur, als Bild, als Gleichnis genommen wird, und dieser Geist ist der heilige Geist: creator spiritus – spiritus sanctus. Tönnies hat sich zu seiner Schrift „Neue Botschaft“ zwar nur verdeckt, dafür aber sehr bedeutungsvoll geäußert, nämlich in seiner Autobiographie (1922: 37 f.), die mit folgenden Sätzen ausklingt: Während der letzten Jahre habe ich öfter und lieber als früher mit den Tatsachen der Ewigkeit und Unendlichkeit mich beschäftigt; das Rätsel des Ich ist es zugleich, das mir keine Ruhe läßt. […] Ich glaube, daß die klar und besonnen Denkenden aller Religionen zu einer Pflege und Verehrung des

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Allgeistes, den ich gern mit dem Apostolicum den heiligen Geist nenne, sich vereinigen sollten, auch die Vertreter des sogenannten Monismus würden wohl daran tun, von dem poetischen und anderen künstlerischen Gehalt der religiösen, zumal der christlichen Überlieferung, so viel in sich aufzunehmen und pietätvoll gelten zu lassen, um über die kahlen Formeln einer rein wissenschaftlichen und doch auch nicht erschöpfend wissenschaftlichen Ansicht sich zu erheben; […]. Daß wir die Schranken des Christentums aller Bekenntnisse durchbrechen, von der Religion des Sohnes zur Religion des Geistes fortschreiten müssen, aber alles Edle, Schöne und Gute der christlichen Religion, vor allem ihre geistliche Musik, ja ihre gesamte Kunst, auch die Kunst der Seelenführung und ihre ethische Erfahrung, ehren und retten sollten, um unser Gemüt auch in ihrem Sinne zu erheben und zu erbauen, während wir eine wahrere und weitere Weltanschauung ausbilden – das ist eine Überzeugung, die sich mit zunehmendem Alter und Studium immer tiefer in meinem Herzen befestigt hat. Ich habe ihr – aus den Stimmungen, die dem Ende des Weltkrieges folgten – Ausdruck in einem Manuskript gegeben, von dem ich noch zweifelhaft bin, ob es bei meinen Lebzeiten ans Licht treten wird, wenn es überhaupt dessen wert sein sollte. Dieses Manuskript ist die hier unter dem Titel „Neue Botschaft“ erstmals edierte Schrift.

Der Tatbestand Gewissen (hier S. 77−111) Der Anlass zur Entstehung des Textes konnte nicht ermittelt werden. Die am Kopf des Typoskripts vorhandene eigenhändige Anweisung an den Setzer lässt darauf schließen, dass eine Publikation geplant war. Else Brenkes bibliographische Verzeichnisse im Nachlass von Tönnies vermerkt unter der Überschrift „Manuskripte von denen Ort und Zeit des Druckes nicht festgestellt werden kann“ unter der laufenden Nummer 720 einen Text mit dem Titel „Das gute Gewissen“. Möglicherweise ist damit die vorliegende Schrift „Der Tatbestand Gewissen“ gemeint. Der Text nimmt inhaltlich Gedanken aus der dem Walker-Trust eingereichten Schrift „Neue Botschaft“ auf, was darauf schließen lässt, dass beide Texte in etwa der gleichen Zeit entstanden sind. Der äußeren Form nach erinnert „Der Tatbestand Gewissen“ an andere kleinere als Monographien verfasste Texte, wie etwa „Die Sitte“ (Tönnies 1909) oder die für die Preisaufgabe der Frohschammer-Stiftung eingereichte Schrift „Die Tatsache des Wollens“ (Tönnies 1982), die gleichfalls an den Hauptteil der

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Ausführungen einen „Exkurs“ anhängt. Überhaupt legt die ganze Anlage des vorliegenden Textes die Vermutung nahe, dass er einem äußeren Anstoß sein Entstehen verdankt.

Ein anderer Brief an Herrn Dr. Brüning (hier S. 113−145)

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Am 22. 10. 1931 richtete Tönnies einen Brief an „die Frankfurter SozietätsDruckerei Frankfurt a. M.“ mit folgendem Wortlaut (TN, bei Cb 54.34: 01): Ich habe einen „anderen Brief“ an Herrn Dr. Brüning, den Reichskanzler verfasst, der eine Kritik des Hitlerschen offenen Briefes enthält. Das Manuskript ist zu umfangreich geworden, um in eine Zeitung aufgenommen zu werden. Dagegen wäre es wohl geeignet für eine Broschüre und ich glaube, dass der Verlag Sozietätsdruckerei geeignet wäre, eine solche Broschüre, wenn sie billig genug würde, zu verbreiten. Es erscheint mir als dringend notwendig offensiv und mit der allergrössten Schärfe gegen das Hakenkreuz vorzugehen, und zwar bald genug, um noch für die preussischen Landtagswahlen wirksam zu werden. Denn ohne Zweifel werden die Nazi ihre Anstrengung darauf konzentrieren, wie sie es schon durch den Volksentscheid versucht hatten, die Oberhand in Preussen zu gewinnen, um von da aus das Reich für sich zu erobern. Und es gibt in der Tat starken Grund für die Besorgnis, dass ihnen dies gelingen würde, wenn das erste gelänge. Dass eben dies erste gelingt, lässt sich noch verhüten und es darf nichts unversucht bleiben, wenn man dies unermessliche Übel im Deutschen Reiche abwenden will. Mein MS. umfasst einige 20 Seiten je ca 300 Wörter. Bitte mir Ihre prinzipielle Geneigtheit und etwanige Bedingungen mitzuteilen. Hochachtungsvoll … Über den Erfolg seines Angebotes an die Frankfurter Sozietätsdruckerei – ein zur „Frankfurter Zeitung“ gehörender Betrieb – erfährt man Näheres aus Tönnies’ Brief an Berthold Maurenbrecher vom 5. 11. 1931 (TN, Cb 54.51:12,20). Dieser Brief, der zugleich einen wichtigen Textzeugen für den ‚anderen Brief an Herrn Dr. Brüning‘ darstellt, gibt Aufschluss auch über das weitere Schicksal der Streitschrift:

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Sehr verehrter Herr Kollege Maurenbrecher mit Vergnügen denke ich an die Frühlingstage in München und also an den Nachmittag bei Ihnen zurück. Wir ahnten damals nicht die ungeheuer gesteigerte Wirrsal, der wir entgegengingen. Mich bewegt das Gespenst der Gegenrevolution, das ich deutlich kommen sehe. Bei Ihnen in München hat es ja seinen sicheren Sitz. Da sitzt die Kreuzspinne auf der Lauer. Mir lässt die Sache keine Ruhe. Darum kaufte ich neulich den völkischen Beobachter und fühlte mich durch das Lesen des unverschämten Hitlerbriefes bewogen, einen „anderen Brief“ an Brüning zu verfassen, den ich der Vossischen Zeitung anbot, die sonst schon öfter meine Expektorationen aufgenommen hat. Meine Ausführungen waren ihr aber zu lang geworden und man schrieb mir, keine Tageszeitung werde sie drucken können. Ich habe dann einen Versuch gemacht durch den Frankfurter Sozietätsverlag, der ja der Fr[ankfurter] Zeitung gehört, die Sache als Broschüre herausgeben zu lassen und habe sie zu diesem Behuf noch erweitert, damit ein gehöriger Umfang für eine Broschüre herauskommt. Der Verlag behielt mein MS mehr als 10 Tage und sandte es dann zurück mit dem Bedauern, es lasse sich nicht ermöglichen. – Nun möchte ich mir erlauben, Sie zu fragen, ob Sie in München einen Verleger wissen, der geneigt und geeignet wäre, diesen meinen sehr scharfen Angriff zu publizieren. Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, mit den schärfsten Mitteln gegen das Hakenkreuz vorzugehen! – Vielleicht können Sie die Sache mit Herrn Dr. Heuer und mit meinem vortrefflichen Landsmann Timm in Erwägung ziehen, es wird aber geboten sein, zu einem raschen Entschluss zu kommen. Ich darf erwarten, dass die Herren Ihres Kreises sich meiner freundlich erinnern und bin mit besten Grüssen und Parteigruss Ihr ergebener … Da die weitere Korrespondenz mit Maurenbrecher im Nachlass nicht überliefert ist, lässt sich über den Fortgang der Verhandlungen zur Publikation des ‚Anderen Briefes‘ nichts mehr berichten. Das Ergebnis aber liegt auf der Hand: Der Text ist unveröffentlicht geblieben und stellt das umfangreichste und ausführlichste Dokument von Tönnies’ Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus dar. Es scheint höchst aufschlussreich, dass der ‚Andere Brief‘ schon Ende 1931 in Deutschland nicht mehr publiziert werden konnte, denn zu diesem Zeitpunkt war Tönnies ein prominenter und von den Verlagen gefragter Autor. Gab es vielleicht in den Medien schon eine gewisse instinktive Vorsicht oder gar Furcht, in der Ahnung des nahe bevorstehenden NS-Regimes?

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Entsprechend den verschiedenen und stockenden Versuchen zur Publikation des ‚Anderen Briefes‘ ist der Text in verschiedenen Varianten im Nachlass überliefert. Zunächst hatte Tönnies ein Typoskript von 18 Seiten verfasst (Cb 54.34:01). Dieses erweiterte er um einige Seiten und um das „Nachwort an die Leser“, so dass der neue und nun im vorliegenden Band publizierte Text auf insgesamt 42 Seiten anwuchs (Cb 54.34:01a). Diese Endfassung enthält ihrerseits noch zahlreiche Korrekturen und handschriftliche Beifügungen, die selbstverständliche in die vorliegende Transkription und Publikation übernommen wurden.

[Zusammenkunft der pädagogischen Abteilung der Liga für Völkerbund] (hier S. 177−181) Die Deutsche Liga für Völkerbund in Berlin hatte durch ihre Pädagogische Abteilung zu einem Treffen eingeladen, das in Wetzlar / Lahn vom 5.−7. August 1919 stattfand und die „ethischen Voraussetzungen dauernden Friedens“ zum Thema hatte. Tönnies scheint in Begleitung seiner Tochter Franziska an dem Symposion teilgenommen zu haben, jedenfalls erfährt man durch einen Brief (seine leere Rückseite benutzte Tönnies als Anfangsblatt für sein im vorliegenden Band ediertes Manuskript über die Tagung), dass die Briefschreiberin Ilse Brachmann, eine Freundin von Tönnies’ späterer Sekretärin Else Brenke, ihn und seine Tochter anlässlich der Reise nach Wetzlar nach Marburg einlädt. Ein anderer Brief, den die Liga für Völkerbund am 10. 9. 1919 an Tönnies richtet, beschäftigt sich nachträglich mit der Tagung (auch dieser Brief hat sich nur als Rückseite eines Manuskripts von Tönnies erhalten, nämlich des Aufsatzes „Die Logik des Generals Ludendorff“ [TN: Cb 54.33:08, S. 1 / 2]). Der von dem Sekretär der Pädagogischen Abteilung, Steuk, unterzeichnete Brief hat folgenden Wortlaut: „Wir möchten Ihnen heute eine vorläufige Abfassung des Protokolls der Wetzlarer Tagung, soweit Sie persönlich dabei in Betracht kommen, zuschicken mit der herzlichen Bitte, Ihre Ausführungen zu prüfen, zu berichtigen und zu ergänzen, damit wir dann ein möglichst vollständiges und einwandfreies Protokoll zusammenstellen können, das wir dann allen Teilnehmern und einigen Freunden der Sache zugänglich machen wollen. Wir bitten Sie daher, die Durchsicht möglichst bald vorzunehmen und uns Ihre Ausführungen bis spätestens Mittwoch, den 17. September zurückzusenden.“

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Die von Steuk versprochene Endfassung des Protokolls hat sich im Nachlass Tönnies, falls er sie überhaupt bekommen hat, nicht erhalten. Es lässt sich aber vermuten, dass er bei Durchsicht des ihm von Steuk zugeschickten Diskussionsbeitrages auf dessen Mängel aufmerksam wurde und dadurch zur Abfassung des im vorliegenden Band publizierten Textes angeregt wurde, in dem er die in Wetzlar geäußerten eigenen Gedanken nachträglich deutlicher darstellen konnte. Das nur als Fragment überlieferte Manuskript der Zusammenkunft der pädagogischen Abteilung der Liga für Völkerbund ist in Else Brenkes Liste der „Vermutlich ungedruckten Manuskripte“ unter der Nr. 736 verzeichnet: „Wetzlar. Zusammenkunft auf Einladung der pädagogischen Abteilung der Liga für Völkerbund 5.−7. VIII. 1919“.

[Über Entwicklung der Sozialpolitik in Deutschland. Fragment] (hier S. 189−198) Im Dezember 1922 war vom Reichswirtschaftrat das Arbeitszeitgesetz verändert worden (vgl. o. V. 1922:1). Hierzu nahmen Ludwig Heyde (1922) und insbesondere Heinrich Herkner in seinen Artikeln „Sozialpolitische Wandlungen in der wissenschaftlichen Nationalökonomie“ (Herkner 1923) und „Zur Kritik meiner Kritiker“ (Herkner 1923a) Stellung. Auszüge daraus erschienen in Herkner (1923b). Danach wurden die Ansichten Herkners von verschiedenen Autoren der Zeitschrift „Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt“ während des gesamten Jahres 1923 aufgegriffen, z. B. von Charlotte Leubuscher, Lujo Brentano oder Heinz Marr (Brentano 1923; Leubuscher 1923; Marr 1923). Ergänzungen seiner Ansichten gab Herkner (1923c) in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 6. April 1923 u. d. T. „Massenwohlstand und Gewerkschaftspolitik“; vgl. auch: Tönnies’ „Sozialreform ehedem und heute“ (2000: 571−581 u. 703−711). Der Schlusssatz von Tönnies’ Aufsatz sticht von den vorausgegangenen sozialpolitischen Ausführungen und ihrer sachlich bedingten Nüchternheit durch ein gewisses Pathos merklich ab und verdient besondere Aufmerksamkeit: Die herangezogene Metaphorik mit dem Bildgegensatz von Hochgebirge und Wattenmeer sucht ihresgleichen in Tönnies’ Werk. Dieter Haselbachs Beurteilung dieser Stelle (Tönnies 2000a: 711) muss als sachlich unzutreffend zurückgewiesen werden. Tönnies war – obgleich Schleswig-Holsteiner durch Geburt und tiefe lebenslange Heimatliebe – sehr wohl mit dem Hochgebirge vertraut, das er als junger Mensch, durch längere

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Aufenthalte in der Schweiz und zeitweise in denkwürdiger Gesellschaft von Lou Andreas-Salomé und Paul Rée erlebt hatte. Paul Rée, bei dessen Tod Tönnies (1904) einen Gedenkartikel verfasste, ist bei einer Bergwanderung, von einem Hochweg abstürzend, ums Leben gekommen. Die herangezogene Bildlichkeit ist aber auch eine unübersehbare Reminiszenz an Tönnies’ frühe Begegnung mit Schopenhauers Werk. Hier findet sich Schopenhauers Beurteilung der Aufgabe und der Schwierigkeit wahrer Philosophie in dem großartigen, schon früh niedergeschrieben Bild: „Die Philosophie ist eine hohe Alpenstraße, zu ihr führt nur ein steiler Pfad über spitze Steine und stechende Dornen: er ist einsam und wird immer öder, je höher man kommt, und wer ihn geht, darf kein Grausen kennen, sondern muß alles hinter sich lassen und sich getrost im kalten Schnee seinen Weg selbst bahnen. Oft steht er plötzlich am Abgrund und sieht unten das grüne Thal: dahin zieht ihn der Schwindel gewaltsam hinab; aber er muß sich halten und sollte er mit dem eigenen Blut die Sohlen an den Felsen kleben. Dafür sieht er bald die Welt unter sich, ihre Sandwüsten und Moräste verschwinden, ihre Unebenheiten gleichen sich aus, ihre Mißtöne dringen nicht hinauf, ihre Rundung offenbart sich. Er selbst steht immer in reiner, kühler Alpenluft und sieht schon die Sonne, wenn unten noch schwarze Nacht liegt“ (zit. nach Hübscher 1985: 14).

Erklärung [Erwiderung auf Robert Michels] (hier S. 221−222) Am Ende seines Berichtes über die Soziologie in Italien kam Robert Michels (Michels 1924: 248) auf das Verhältnis der deutschen zur italienischen Soziologie zu sprechen und stellte die letztere über die deutsche Soziologie, in der nur Max Weber ein Werk hervorgebracht habe, das den herausragenden Leistungen der Italiener – etwa dem Werk Paretos – gleichrangig sei. Dann kommt Michels auf „große und bedeutende Werke deutscher Gelehrter über Soziologie“ zu sprechen, zum Beispiel Franz Oppenheimer, die „so gut wie völlig an den gewaltigen Leistungen der italienischen soziologischen Wissenschaft“ vorübergingen. Erst jetzt fällt der von Tönnies inkriminierte Satz: „Auch Ferdinand Tönnies hat keine Ahnung von der tüchtigen italienischen Literatur …“. Man dürfte kaum fehlgehen, wenn man annimmt, dass Tönnies nicht nur von der unterstellten Unkenntnis gereizt wurde, sondern auch durch Bewertung und Rangfolge, die Michels zum einen zwischen italienischer und deutscher Soziologie vornahm, zum anderen zwischen Max Webers

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und Tönnies’ eigenem Werk, welch letzteres mit dem von Oppenheimer auf eine Stufe gestellt wurde. Die nun erfolgende „Erklärung“ sandte Tönnies an Leopold von Wiese, den Schriftführer der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und Mitherausgeber der Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, der seinerseits „pflichtgemäß den Wortlaut“ der „Erklärung“ an Michels weiterleitete, mit der Bitte, „doch möglichst von einer Replik abzusehen. Er glaubt indessen, das nicht tun zu können …“10. Von Wiese, der einen endlosen Streit befürchtet, schickt Tönnies Michels’ „Replik“ und fragt ihn dabei, ob er nicht auf die „Erklärung“ verzichten wolle, weil damit auch Michels’ Antwort verschwände. Den folgenden Briefen von Wieses an Tönnies ist zu entnehmen, dass letzterer die Angelegenheit durch eine „Duplik“ auf Michels’ „Replik“ beenden wollte, und zwar offensichtlich so, dass von Wiese diese Duplik Michels zur rein internen Kenntnisnahme schicken und damit die Angelegenheit ohne Publikation beigelegt sein sollte. „Ich warte nun seine Antwort ab, nehme aber als selbstverständlich an, daß er nunmehr auf Ihr dankenswertes Entgegenkommen hin auch seinerseits die Sache als erledigt ansehen wird.“11 Tatsächlich entfiel die Publikation der Kontroverse. Die „Duplik“ selber ist im Nachlass Tönnies nicht überliefert, sondern lediglich Michels’ „Replik“ (TN, Cb 54.34:109, Typoskript in 4°): Replik Ich gestehe, daß ich die Erwiderung Prof. Tönnies’ nicht ohne Verwunderung lese, umso mehr als die beiläufige Erwähnung seines letzten Werkes als eines der Beispiele für die geringfügigen (übrigens beiderseitigen) Kenntnisse der deutschen und italienischen Kollegen über die Erzeugnisse der Soziologen der anderen Länder, nicht feindlich gemeint war. Zur Sache verstehe ich nicht recht, ob Prof. Tönnies behaupten will, zur Behandlung des Gegenstandes der „öffentlichen Meinung“ sei die Kenntnis der einschlägigen italienischen Literatur nicht von Nöten, oder aber, ob er behaupten möchte, sie sei zwar von Nöten, aber in seinem Werke auch erbracht. Im ersteren Falle gestatte ich mir nochmals auf die auf S. 234 meines Aufsatzes verwiesene Literatur aufmerksam zu machen (die nur das Allerwichtigste enthält). Im zweiten Falle kann ich leider nur wiederholen, daß Prof. Tönnies eben die vorhandene wertvolle Literatur nicht benutzt 10

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Brief von Leopold von Wiese an Ferdinand Tönnies vom 2. 7. 1924, TN, Cb 54.61: 2.1.23 Von Wiese an Tönnies vom 17. 7. 1924, ebd.

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hat, und zwar weder die Vorkriegs- noch die Nachkriegsliteratur (auch von dem von ihm selbst angegebenen Werke von Bonucci finde ich in seinem Werke keine Spur). In dem dem doch wirklich dicken Bande beigegebenen Autorenverzeichnis, das, wenn ich richtig zähle, an die 760 Namen umfaßt, steht nur den [gemeint wohl: steht mit dem] einzigen italienischen Namen (überdies Machiavelli), ein doch wirklich im Verhältnis zur Bedeutung der italienischen wissenschaftlichen Leistungen auf unserem Gebiete allzu disproportionierter Bruchteil. Für diese ist seine in der Einleitung enthaltene Bemerkung, auf die mich Tönnies verweist, die Literatur über die öffentliche Meinung habe in Deutschland und anderen Ländern einen großen Umfang gewonnen, doch ein etwas gar zu magerer Ersatz, auch wenn die Entwicklungsgeschichte der Lehrmeinungen erst in einem Anhang behandelt werden soll. Die seltsame Insinuation Tönnies’, daß ich sein Buch gar nicht gelesen habe, muß ich mir verbitten, da ich die Gewohnheit habe, die Bücher zu lesen, bevor ich von ihnen spreche. Ich kann sogar versichern, daß ich aus seinem Bande trotz mancher Bedenken im Einzelnen (über die ich mich hier nicht zu äußern habe) manche Belehrung schöpfte. Robert Michels An die löbl. Schriftleitung der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung“ (Text nur hier im Editorischen Bericht) Bei dem nachfolgend wiedergegeben Text handelt es sich um einen Leserbrief, den Tönnies an die „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung“ anlässlich eines Berichts der Zeitung über eine Tagung der Gesellschaft für Rassenhygiene gerichtet hat. Der Bericht konnte trotz intensiver Suche nicht ermittelt werden. Da der Leserbrief ohne die Heranziehung des Artikels das ihn stützende Komplement verliert, wird er nicht in den Teil der Originaltexte aufgenommen, sondern nur im Editorischen Bericht dokumentiert. Der Leserbrief ist zweifelsohne von Tönnies verfasst, das vierseitige Typoskript in 4° (TN, Cb54.34:69) enthält zahlreiche eigenhändige Zusätze und Korrekturen. Am Ende befindet sich seine eigenhändige Unterschrift „Ferdinand Tönnies. Professor, Dr phil, Dr jur. h. c.“. Aus dem Text ist zu entnehmen, dass auf der Tagung der „Gesellschaft für Rassenhygiene“, die dem „Naturwissenschaftlichen Verein“ angegliedert war und der Tönnies als Mitglied zugehörte, der Kinderarzt und Sanitätsrat Peter Hansen einen Vortrag gehalten hatte. Auf ihn bezieht sich Tönnies’ Leserbrief. Der Text kann nicht vor 1922 entstanden sein: Tönnies nennt sein Buch

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„Kritik der öffentlichen Meinung“ (2002, zuerst 1922 erschienen) und ist bereits Ehrendoktor der Universität Hamburg. Die „Schleswig-Holsteinische Volkszeitung“, ein der Sozialdemokratie nahestehendes Blatt, wurde sofort nach dem nationalsozialistischen Machtantritt 1933 verboten. In Tönnies’ Zuschrift spielt diese Bewegung aber noch keine führende Rolle, so dass die Entstehung des Textes um 1925 angesetzt werden darf. An die löbl. Schriftleitung der „Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung“ Als zweiter Vorsitzender der Gesellschaft für Rassenhygiene, und als Leser der S. H. Volkszeitung, bedaure ich, erst vor wenigen Tagen von dem Bericht Kenntnis genommen zu haben, der in Ihrer Zeitung über den Vortrag des Sanitätsrat Dr. Hansen am 20. Februar erschien, wie von der sich daran anschließenden Polemik, die in ihrer N° vom 26sten wiedergegeben wird. Ich spreche mich aber darüber ohne jeden Auftrag, durchaus nur in eigenem Namen aus – Wenn der Bericht den ganzen Vortrag als eine Provokation bezeichnet, so halte ich dies für unrichtig. Wenn er die wissenschaftliche Seite des Vortrags für schlecht erklärt und die Berichte, über die Wirkungen der Kriege auf Volksseuchen als selbstverständlich hinstellt, so werden diese Urteile dem Vortrag durchaus nicht gerecht. Was Herr Dr. Hansen mitteilte, waren Ergebnisse langjähriger emsiger Studien; ihr Hauptergebnis war ein anderes: daß diese Epidemien insofern eine auslesende Wirkung haben, als sie nach den Kriegen für eine lange Zeitdauer nicht auftreten. Zu entscheiden, ob dies richtig ist, würde eine mühevolle Nachprüfung der gegebenen Daten voraussetzen, wozu von den Zuhörern niemand in der Lage war. Ich habe selber in der Besprechung gerügt, daß Dr. Hansen zu vielerlei an seine Erörterung anknüpfte und besonders gerügt, daß er parteiisch-politische Töne dabei anschlug. Sanitätsrat Hansen ist seit vielen Jahren als ein emsiger Forscher auf dem Gebiete der Volksgesundheit, besonders des Säuglingschutzes und der allgemeinen Kinderpflege rühmlich bekannt, darum habe ich ihm seine Abschweifung, die auch mir durchaus nicht in die Gesellschaft für Rassenhygiene hineinzugehören schien, zugute gehalten. (Die Gesellschaft ist nur eine äussere Kassenverbindung mit dem Naturwissenschschaftlichen Verein eingegangen, ist ihm gegenüber in Organisation und Vorstand durchaus selbständig geblieben*). Ob Herr Hansen „ein deutsch-völkischer Held * Die Einladungskarten haben durch Missverständnis eine Ueberschrift erhalten, die künftig wegfallen wird.

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und Mitarbeiter nationalistischer Zeitungen und Winkelblätter“ ist, geht mich so wenig an wie die Frage, ob er Kaffee oder Thee oder Kakao zum Frühstück trinkt. So wenig wie ich dies weiß, habe ich jenes gewußt. Der Berichterstatter behauptet es zu wissen. Dies scheint aber auch alles zu sein, was er von dem verdienten Kinderarzt Peter Hansen weiß. Ich halte es unter allen Umständen nicht für schicklich, mit einer herabsetzenden Bemerkung über die Person des Vortragenden den Bericht über einen Vortrag zu eröffnen. Der Bericht ist auch sonst durchaus unsachlich. Die Worte, die er in Anführungszeichen setzt und als einen hetzerischen und hinterlistigen Gedanken bezeichnet, sind ganz gewiß so nicht gesprochen worden. Was Herr Hansen selber über den Wortlaut einer Stelle mitteilt, mißbillige auch ich, ebenso wie ich die geheimen und offenen Kräfte mißbillige, von denen er sagt, daß sie in einem Sinne wirksam sind, den nicht nur er für verderblich hält, der vielmehr vor 12−14 Jahren grade von sozialdemokratischer Seite sehr heftig bekämpft wurde. Die nähere Erörterung gehört nicht hierher. Wenn der Berichterstatter das was er für den „Grundgedanken“ des Vortrages gehalten hat, unter ausschliesslicher Benutzung des von Dr. Hansen „im Verlauf des Abends“ (!) gebrauchten Wendungen „sinngemäss“ formuliert haben will, so ist das ein durchaus unzulässiges und gehässiges Verfahren; der Grundgedanke des Vortrages wird geradezu sinnwidrig dadurch entstellt. Auch ist von dem ausgezeichneten Kaiser ganz gewiss nicht gesprochen worden, auch nicht von den Sozialdemokraten als gemeinen heuchlerischen Verbrechern. Wenn er ferner die Wissenschaftler ganz allgemein „Kreise“ nennt, die wenig politische Fähigkeiten haben, so liegt darin eine recht dreiste Behauptung. Daß viele ausgezeichnete Männer der Wissenschaft, und an ihrer Spitze grade viele Mediziner, die sich um das Volkswohl unmittelbarer als andere Gelehrte verdient machen, politisch ähnlich urteilen wie Herr Dr. Hansen, ist eine Tatsache, die weder dadurch erklärt noch aus der Welt geschafft wird, daß man über sie schilt oder sie beklagt. Sie zu erklären, ist hier nicht angemessen. Ich habe in meinem Werke „Kritik der öffentlichen Meinung“, S. 210, darauf hingewiesen, daß der Einfluß des Arztes die moderne Denkungsart gestalten und also die Öffentliche Meinung (im Sinne der Naturwissenschaft) bilden half, und füge in unverhohlener Anspielung auf die bezeichnete Tatsache hinzu: „Wenn er unter besonderen Umständen auf die Seite vergangener oder vergehender Mächte und Gesinnungen sich stellt, so wird er einer zeitweiligen Strömung der öffentlichen Meinung untertan, anstatt sie zu beherrschen. Er gefährdet dadurch die soziale Grundlage seines geistigen Daseins und wird bald sich

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beklagen, daß er die von ihm gerufenen Geister nicht mehr loswerde“. Grade über die soziale Frage haben viele bedeutende Ärzte frühzeitig tiefergehende Erkenntnisse gehabt und sich kraft ihrer kritischen Denkungsart über die Ansichten zu erheben gewußt, die eine dem Kapital dienende Presse alle Tage ihren Lesern und Leserinnen zu Gemüte führt. Die hier zugrundeliegenden Zustände des Zeitungswesens sind neuerdings Gegenstand eingehender und scharfer Kritik von Kennern dieses Wesens geworden, die sonst keineswegs zu den entschiedenen Kritikern des Kapitalismus gehören: wie Professor Karl Bücher und Herr Ernst Posse, langjähriger Hauptschriftleiter der Kölnischen Zeitung. Die Gelehrten, die ihre Politik ausschließlich aus ihrer Zeitung beziehen, pflegen von diesen Kritiken keine Ahnung zu haben. Posse sagt u. a.: der von Wilhelm Feilinger hervorgehobene Nachteil, daß das Erwerbsinteresse des Zeitungsverlegers notwendig zur Sensationspresse als der rentabelsten Form der Zeitungsunternehmung führe, sei nicht der einzige Schaden; ein anderer bestehe darin, daß in den unbedingt und ausschließlich öffentlichen Interessen vorbehaltenen allgemeinen Teil gegen Bezahlung auch private Interessen eingeschmuggelt werden, indem den Lesern vorgetäuscht werde, es handle sich um öffentliche Interessen. Ich würde als dritten und Hauptschaden den bezeichnen, daß allzuoft Zeitungen anstatt zur Aufklärung, zur Verdunkelung und Verderbnis des Urteils wirken; wie es z. B. neulich in der allerübelsten Weise geschehen ist, als es sich um die Ehre des Reichspräsidenten handelte, dessen Wert und Bedeutung anzuerkennen nunmehr sogar Minister sich gezwungen sehen, denen zu ihrem Ministerium zu verhelfen jene gewissenlosen und dreisten Anschuldigungen bestimmt waren. Ferdinand Tönnies. Professor, Dr phil, Dr jur. h. c.

Thesen über den Begriff der Revolution (hier S. 269−274) Das Typoskript des vorliegenden Textes enthält keinerlei eigenhändige Korrekturen oder Anmerkungen, durch die Tönnies zweifelsfrei als Autor manifest würde; es ist überhaupt ohne alle über die Maschinenschrift hinausgehenden Zusätze. Für die Zuordnung zu Tönnies als Verfasser spricht außer stilistischen Merkmalen zunächst einmal der Umstand, dass der Text sich in seinem Nachlass befindet und dem äußeren Befund nach sich nicht von den anderen unbezweifelbar authentischen Typoskripten unterscheidet.

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Aber auch die stilistischen Merkmale weisen auf Tönnies als Verfasser. Sowohl im sprachlichen Stil sind seine Eigentümlichkeiten erkennbar als auch im Denkstil: Die typische Art, einen Begriff oder Gedanken zu entwickeln, die Art, wie zitiert wird, oder wer zitiert wird (im vorliegenden Text die für Tönnies charakteristische Berufung auf Karl Marx), lässt keine Zweifel an Tönnies’ Autorschaft aufkommen. Schwieriger gestaltet sich die Datierung der „Thesen über den Begriff der Revolution“. Der Text ist zweifellos nach Ende des Ersten Weltkriegs verfasst, weil vorher Tönnies seine Arbeiten nicht in Typoskripten abzufassen pflegte. Dem Schriftbild nach lässt sich die verwendete Schreibmaschine bei seinen Texten in den späteren Jahren der Weimarer Republik wiederfinden. In inhaltlicher Hinsicht fällt auf, dass die deutsche Revolution von 1918 nicht angeführt wird, was die Vermutung nahe legt, dass der Text nicht unmittelbar unter dem Ereignis des Kriegsendes entstanden sein dürfte, eher später, da eine relativ abgeklärte Analyse des ‚Begriffs der Revolution‘ vorgenommen wird. Vermutlich ist die Schrift in den Jahren um 1925 verfasst worden. Möglicherweise ist der Text – wie schon sein Titel nahe legt – als Thesenpapier für eine Diskussionsveranstaltung in der Universität entstanden. Hinzuweisen ist ferner auf das Manuskript „Zur Soziologie der Revolution“, das Cay von Brockdorff – Schüler und Weggefährte von Tönnies – im Zusammenhang mit seiner Kriegsvorlesung „Soziologie der Revolution“ im Sommer 1944 verfasste und sich in seinem Nachlass befindet. In Brockdorffs nachgelassenem Manuskript12 (Zander 1996:) finden sich deutlich Tönnies’ Gedankengänge zum Wesen der Revolution wieder, so dass die Vermutung nahe liegt, Brockdorff habe der oben unterstellten Veranstaltung, für die die „Thesen über den Begriff der Revolution“ entstanden waren, beigewohnt.

[Gotthold Ephraim Lessing] (hier S. 275−290) Das Manuskript ist nur fragmentarisch erhalten, es fehlen nach der originalen Paginierung die Anfangsseiten 1−4 f, vermutlich also mindestens 10 Seiten, da die erste überlieferte Seite mit der pagina 4g beginnt. Tönnies 12

Ein Teil von Brockdorffs Nachlass befindet sich unter der Signatur Cb 15 in der SchleswigHolsteinischen Landesbibliothek in Kiel, das Manuskript „Zur Soziologie der Revolution“ trägt die Signatur Cb 15.33:77

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diktierte den Text seinem Schüler Ernst Jurkat und korrigierte und ergänzte danach eigenhändig die Handschrift an vielen Stellen. Zeit und Anlass der Entstehung des Textes sind dem Manuskript selbst nicht zu entnehmen. Else Brenke macht in ihrem maschinenschriftlichen Verzeichnis, in welchem die Druckschriften und Manuskripte inventarisiert sind, die sich kurz vor Tönnies’ Tod in seiner Wohnung befunden haben, die kurze Angabe: „Lessing. Vortrag im Gymnasium 1926“ (s. o. S. 610 die Liste: „Vermutlich ungedruckte Manuskripte“). Wie zuverlässig diese Angabe ist, muss dahin gestellt bleiben. Tönnies’ eigenhändige Korrekturen im Text zeigen die kleine, brüchige Handschrift des hohen Alters und lassen daher auch eine spätere Datierung zu. Hierfür ließe sich auch folgendes Argument geltend machen: Tönnies hat gerne Gestalten der Geistesgeschichte, die für sein Denken maßgeblich waren, an ihren Jahrestagen und Jubiläen gewürdigt (beispielsweise Spinoza, Hobbes, Schiller oder Storm). So könnte Lessings 150. Todestag 1931 oder sein 200. Geburtstag 1929 der Entstehung des vorliegenden Textes zugrunde liegen. Obwohl Tönnies in dem Manuskript nachträglich Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen hat, trägt der Text alle Kennzeichen einer Rohfassung: Orthographie, Interpunktion oder Syntax hätten auf dem Weg zur Publikation auf jeden Fall noch starke Eingriffe erforderlich gemacht. Hobbes’ Religionsphilosophie (hier S. 301−343) Am 27. September 1929 hielt Tönnies in Oxford einen Vortrag über Hobbes’ Religionsphilosophie. Der Anlass war der bevorstehende 250. Todestag des Thomas Hobbes, der auch das Motiv zu einer Initiative für Tönnies und Cay von Brockdorff gewesen war, eine Hobbes-Gesellschaft ins Leben zu rufen, und zwar zeitgleich als Internationale Hobbes-Gesellschaft von Oxford und als nationale Sektion für Deutschland von Kiel aus. Ein im Tönnies-Nachlass erhaltenes Foto zeigt die in Oxford zur Hobbes-Feier versammelten Forscher, unter ihnen im Vordergrund Ferdinand Tönnies. Von dem in Oxford gehaltenen Vortrag publizierte Tönnies einen kurzen Abriss in der Zeitschrift „Ethische Kultur“ (Tönnies 1929a). Der Vortragstext selbst existiert im Nachlass in zwei Fragmenten, deren eines und früher entstandenes ein Ernst Jurkat diktiertes Manuskript ist und den Anfangsteil enthält. Einem danach entstandenen Typoskriptfragment fehlt der Anfangsteil. Beide Fragmente überlappen sich im Mittelteil, aber nicht

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so, dass beide Fassungen an einer bestimmten Stelle genau zusammenstoßen und sich dann wiederholen. Der Grund dafür ist, dass die Typoskriptfassung schon eine Bearbeitung des Manuskriptes darstellt, beide Fragmente also Varianten des Werkes darstellen. Der Vortrag als ganzer lässt sich mithin nur dadurch aus dem Nachlass edieren, dass beide Fragmente vollständig wiedergegeben werden. Am Rand des Manuskriptfragmentes hat Rudolf Heberle später – wohl nach Tönnies’ Tod – notiert: „Herrn Jurkat diktiert ca. 1925“. Diese Angabe muss schon deswegen irrtümlich sein, weil sich auf der Rückseite von S. 51 einige mit Schreibmaschine geschriebene Wörter befinden, die nur den Schluss zulassen, dass Tönnies ursprünglich auf diesem Bogen einen Brief schreiben wollte: „Kiel, am 19. August 1929. [An] Löbl. Scientia in Turin“. Das offensichtlich zu diesem Zweck nicht mehr gebrauchte Blatt Papier wurde nun rückseitig zum Diktat für den Vortrag verwendet – was 1925 doch nicht möglich gewesen wäre.

[Über Eigentum und Enteignung] (hier S. 345−346) Die Vorlage, auf der der Text überliefert ist, wurde wahrscheinlich vom Tagungsbüro des „Norddeutschen Heimstättentages“ oder der Redaktion der Zeitschrift „Bodenreform“ angefertigt, die von Adolf Damaschke geleitet wurde. In der Ausgabe vom 24. 11. 1929 (o. V.) wurde unter der Überschrift „Der norddeutsche Heimstättentag am 7. November [1929] in Kiel“ berichtet und dabei auch Tönnies’ Beitrag zitiert, der über Adolf Damaschkes Schrift „Entwurf zu einem Wohnheimstättengesetz“ sprach. Die Textüberlieferung von Tönnies’ Beitrag, wie sie im Typoskript (TN, Cb 54.34:112) vorliegt, wird von einem Absatz eingeleitet, der vielleicht von der Redaktion der „Bodenreform“ verfasst wurde und nicht in der Zeitschrift zum Abdruck kam. Der Absatz lautet: „Nordische Heimstättentagung Herr Geh. Rat Prof. Dr. Tönnies lobt die von Herrn Dr. Damaschke verfaßte Schrift, die den Entwurf eines Wohnheimstättengesetzes mit der Begründung enthält, nebst einem Anhang der hauptsächlich vom „Eigentum handelt; dieser Abschnitt sei für ihn als Soziologen besonders interessant. Er finde darin so bedeutende Namen wie Adolf Wagners und Friedrich Naumanns, die er beide als seine Freunde hochgeschätzt hat.“ In dem in der „Bodenreform“ gedruckten Bericht über Tönnies’ Beitrag heißt es u. a. (ebd.: 393 f.):

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„Er [Tönnies] wolle Damaschke eine Freude machen, indem er ihn auf einen bisher übersehenen wichtigen Zeugen für seine Auffassung über das Eigentum hinweise, auf I. Kant! Wie unhaltbar der Begriff des „freien“ Eigentums am Boden sei, zeige folgende Überlegung: Ein amerikanischer Milliardär kann in Schleswig-Holstein mit seiner Dollarmilliarde mehr als 80 000 deutsche Bauernhöfe erwerben und so deutsches Landvolk im eigenen Vaterlande zu Mietlingen machen – von Rechtswegen!“

Hobbes und Spinoza (hier S. 359−372) Unter demselben Titel publizierte Tönnies zwei Aufsätze, den einen 1931, den anderen 1932 (1931a u. 1932). Der letztere ist ein nur kurzer Artikel von zwei Seiten und kann hier unberücksichtigt bleiben, während der erstgenannte Aufsatz – für eine Tagung der Spinoza-Gesellschaft entstanden und in deren ‚acta conventus‘ gedruckt – im Umfang dem im vorliegenden Band publizierten Nachlasstext näher kommt. Auch inhaltlich fällt eine Entsprechung auf, allerdings eine Entsprechung komplementärer Art: Während der Nachlasstext die Wirkung der Philosophie des Hobbes und Spinoza auf deren Zeitgenossen und die darauffolgenden Jahre thematisiert – also eine frühe Rezeptionsgeschichte skizziert – wird in dem in der Spinoza-Gesellschaft publizierten Beitrag nur kurz und im Anfang darauf eingegangen, während das Hauptgewicht auf dem Vergleich des Denkens der beiden Frühaufklärer liegt. Diese komplementäre Absicht bei der Bearbeitung des Themas Hobbes und Spinoza legt eine zeitliche Nähe für die Entstehung beider Texte nahe, wie andererseits unter diesem Gesichtspunkt komplementärer Behandlung auszuschließen sein dürfte, dass es sich bei den beiden Arbeiten um bloße Varianten eines und desselben Aufsatzes handelt. Man kann sich allerdings fragen, ob der Nachlasstext vollständig oder nur ein Fragment ist. Ungewöhnlich sind abrupte und prosaische Abschlüsse – wie im vorliegenden Nachlasstext – bei Tönnies nicht, doch könnte wohl möglich sein, dass Seiten verlorengegangen sind oder sein Verfasser weiter daran zu arbeiten gedachte. Die genannte Komplementarität zum veröffentlichten Aufsatz schließt auch nicht aus, dass beide als Teile einer größeren Arbeit gedacht waren, es dann aber bei der Publikation nur eines Teiles blieb. Das Typoskript – obwohl es von Tönnies korrigiert und handschriftlich ergänzt worden ist – zeigt große sprachlich-syntaktische wie orthographi-

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sche Mängel. Dass sie ihrem Verfasser bei der Durchsicht nicht mehr auffielen, lässt auf das höhere Alter von Tönnies schließen. Um 1930 – dies die wahrscheinlich zutreffende Datierung für die Entstehung – war er etwa 75 Jahre alt und seine Konzentrationskraft – wie wir aus anderen Texten dieser Zeit wissen – begann deutlich nachzulassen.

Vorwort [zur geplanten Neuausgabe der Schrift: „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung“] und: Die Bewegung der Bevölkerung (hier S. 387−388 und S. 397−402) Zu Beginn des 1. Weltkrieges hatte Tönnies seine Untersuchung „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung“ (Tönnies, 1914) in dem von Max Weber herausgegebenen „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ publiziert (siehe auch die Neuausgabe in Tönnies 2000b: 419−478). Tönnies, der von der Wichtigkeit dieser seiner Arbeit überzeugt und von der mangelnden Aufnahme in Fachkreisen enttäuscht war, beabsichtigte gegen Ende der Weimarer Republik eine erneute Publikation in bearbeiteter Form. Zu diesem Zweck trat er zuerst im Februar 1932, dann erneut am 31. Juli 1933 an Hans Buske heran, der in Leipzig einen neuen Verlag gegründet hatte. Da dieser Brief wesentliche Informationen zu den im Nachlass überlieferten Texten enthält, zudem von nicht geringer Aussagekraft über das Verhältnis Max Webers zu Tönnies ist, sei er nachfolgend vollständig im Wortlaut wiedergegeben,13 wobei zu bemerken ist, dass Tönnies bei Abfassung bereits ein von der NS-Regierung politisch verfemter Mann war:

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Löbl. Verlagsbuchhandlung Hans Buske Leipzig Veranlassung zu folgender Offerte gibt mir erstens der Umstand, daß Sie schon mehrere Beiträge zu Konjunkturfragen verlegt haben, zweitens die Tatsache, daß Sie Schriften aus dem Verlag Braun-Karlsruhe übernommen haben, z. B. die meines Freundes des Grafen Solms. Ich habe vor zwanzig Jahren eine Schrift verfaßt, der ich zunächst den Titel gab: Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung. Sie handelt aber außer von den Eheschließungen im Deutschen Reiche von 13

Ferdinand Tönnies an Hans Buske (Verlagsbuchhandlung in Leipzig), datiert: 31. Juli 1933. TN, Cb 54.51:2,13.

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mehreren etwa acht ökonomischen Erscheinungen, die für Konjunktur und Krise charakteristisch sind, und stelle dann alle diese Erscheinungen in Parallele zueinander. Die Arbeit ist gedruckt worden im Archiv für Sozialwissenschaft Bd. 39, Heft 1 (Juli 1914) und Heft 3 (Juli 1915). Diese Zeitpunkte der Publikation in einer Zeitschrift waren so ungünstig wie möglich für das Bekanntwerden der Sache. Herr Prof. Max Weber, der damals persönlich die Redaktion führte, schrieb mir nach Empfang des ersten Stückes am 2. Juni 1914: „Die höchst eigenartigen, mich sehr überraschenden Resultate Ihrer Untersuchung halte ich für schlüssig dargetan, ohne jeden Vorbehalt. Nun bin ich auf die Deutung außerordentlich begierig. Aber mir ist vor allem höchst erfreulich und wichtig, daß einmal wieder eine Probe der Leistungsfähigkeit Ihrer Gruppierungsmethode vorgelegt wird, von welcher Sie ja vom Philosophenkongreß 1908 her wissen, wie originell und durchdacht ich sie finde. Ich habe die Tabellen aufmerksam durchgelesen und den Text damit aufmerksam verglichen, und kann nur ausschließlich und allein sagen: es ist so, wie Sie sagen.“ Was die Methode betrifft, so handelt es sich eigentlich um eine zwiefache: erstens meine Methode der Inkremente und Dekremente, zweitens um meine sehr einfache aber brauchbare Korrelationsmethode. – Am 15. Oktober 1915 hatte Weber den Rest empfangen und antwortete darauf: „Die Ergebnisse finde ich erstaunlich interessant und, soviel ich sah, überzeugend.“ Ich habe nun den Text etwas erweitert und dem ganzen Argument einen neuen Titel gegeben, demnach auch eine neue Einführung. Es wird nun heißen: Konjunkturen und Krisen im Deutschen Reich und in der Weltwirtschaft, besonders 1872 bis 1913. Offensichtlich handelt es sich bei dem im vorliegenden Band publizierten Nachlasstext „Vorwort […]“ um die Einleitung der Hans Buske angebotenen Bearbeitung der Schrift von 1914 / 1915. Eine genauere Datierung lässt dieses Textstück selber nicht zu. Der bearbeitete Haupttext war im Nachlass Tönnies (TN) nicht aufzufinden, so dass man nur Vermutungen darüber anstellen kann, wie weit er bei Abfassung des Briefes an Buske schon gediehen und ob er eventuell bereits als Manuskript beigefügt war. Genau so schwierig gestaltet sich die Zuordnung des anderen nunmehr publizierten Nachlasstextes „Die Bewegung der Bevölkerung“. Es ist kaum anzunehmen, dass er bei der Wahl dieses Titels in gar keiner Beziehung zur beabsichtigten Neuausgabe der Schrift von 1914 / 15 stehen sollte. Ist

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er Teil der Neubearbeitung? Warum ist dann der Titel nachträglich von Tönnies’ eigener Hand, zusammen mit seinem Namen („Von Ferdinand Tönnies“) hinzugefügt worden? Dies deutet auf die Absicht einer selbständigen Veröffentlichung des kleinen Textes hin. Andererseits heißt es im „Vorwort […]“ über die Neuausgabe: „Es ist die neue Ausgabe einer früher publizierten Untersuchung, die hier vorgelegt wird. Nicht nur Berichtigungen und Streichungen sind im Texte vorgenommen worden, sondern es ist auch neuer Text hinzugekommen, der zur Erläuterung und Ergänzung dient. Auch wird auf die seit dem Ausbruch des Weltkrieges verflossenen unter völlig veränderten Bedingungen stehenden Jahre ein Blick geworfen.“ Könnte der Text „Die Bewegung der Bevölkerung“ nicht doch einen Teil der Neuausgabe darstellen, der dann, als deren Publikation sich zerschlagen hatte, als selbständiger kleiner Artikel veröffentlicht werden sollte? Der kleine Artikel hätte dann unter demselben Titel gestanden, wie die Zeitschrift, die vom Statistischen Reichsamt bearbeitet wurde und zwischen 1909 und 1942 erschien (Statistisches Reichsamt [Hg.], 1934). Wenn es zutreffen sollte, dass der kleine Text „Die Bewegung der Bevölkerung“ als Teil der Neubearbeitung der Schrift von 1914 / 1915 entstanden war, dürfte die Neubearbeitung selbst kaum vor 1931 stattgefunden haben, da „Die Bewegung der Bevölkerung“ das statistische Ergebnis von 1931 zugrundelegt.

[Marxismus und Christentum] (hier S. 407−411) Die Stellungnahme zu den Vortragsthesen von Emil Fuchs diktierte Tönnies seinem Schüler Ernst Jurkat. Nachträgliche eigenhändige Korrekturen in dem Manuskript (Cb 54.34:31) bestätigen Tönnies als Urheber des Textes. Es ist nicht ermittelt, ob Tönnies dem Vortrag selbst beiwohnte und ob und in welcher Weise die im Manuskript schriftlich vorliegende Stellungnahme vorgetragen wurde. Nachfolgend das Thesenpapier:

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Republikanischer Klub Kiel, den 4. 1. 1932 Marxismus und Christentum Thesen zum Vortrag von Herrn Professor D. Emil Fuchs, Kiel. Am 12. 1. 32 findet eine Aussprache hierüber statt. (Siehe Vortragsfolge für Januar 1932).14 14

Von Tönnies handschriftlich eingefügt: Von D. Fuchs.

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1. Karl Marx rückt die Masse in den Mittelpunkt der Geschichte. Nicht, was die „Großen“, die Führenden, die im Lichte der Geschichte Lebenden sind, macht die Geschichte und Gestalt der Menschheit, sondern was die sind und tun, die im Dunkel die Arbeit leisten, auf der alle Kultur sich aufbaut. 2. Lebensschicksal und geistige Gestalt der Masse aber wird gebildet durch die Arbeitswerkzeuge der Menschheit und die Arbeitsorganisation. Je besser das Werkzeug, desto leichter das Leben der Masse. Je mehr von Gerechtigkeit erfüllt die Organisation, desto mehr Gerechtigkeit, Liebe und geistiges Sein ist in der Masse möglich. Regiert, wie heute, ein „Rechenprozeß“ in hartem Mechanismus die Masse, so muß das geistige Sein der Masse davon erstickt werden. „Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats. Der Proletarier ist eigentumlos, sein Verhältnis zu Weib und Kind hat nichts mehr gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis, die moderne industrielle Arbeit, die moderne Unterjochung unter das Kapital … hat ihm allen nationalen Charakter abgestreift. Die Gesetze, die Moral, die Religion sind ihm eben so viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken“. (Kommunist. Manifest). So schafft die Gesellschaft aus sich selbst die ihrer geistigen Gestaltung entzogene, durch ihre wirtschaftliche Gestaltung in wachsender Erbitterung lebende Masse, die notwendigerweise Träger der Neugestaltung der revolutionären Energie wird. 3. Unterjochung der Masse geschieht immer wieder dadurch, daß der, der die Mittel ihrer Ernährung in Werkzeugen und Leitung der Arbeitsorganisation besitzt, sie beherrscht. Mit Wirtschaftsorganisationen bilden sich Herrschaftsverhältnisse. Durch sie werden immer sich erneuernde Klassenkämpfe bedingt. Diese Notwendigkeiten der Gesellschaftsstruktur sind dem zum Bewußtsein erwachenden, vorwissenschaftlichen Menschen undurchsichtig. Er sieht hinter ihnen, wie hinter den ihn beherrschenden Gewalten und Erscheinungen und Gesetzen der Natur Gottheit. Der Gedanke, daß auch die Gesellschaftsstruktur auf heiligen, von der Gottheit gegebenen Gesetzen beruht, wird in den Klassen[2]kämpfen das wichtigste Mittel der herrschenden Schichten. Durch ihn binden sie die Masse innerlich d. h. sicherer als nur äußerlich. (Opium des Volkes).

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Das Zerbrechen dieser religiösen Vorstellung durch die klare wissenschaftliche Erkenntnis der Gesetze des Gesellschaftslebens ist also eine der wichtigsten Aufgaben des Befreiungskampfes. Nur eine von diesen Vorstellungen der Religion, von ihren Vertröstungen aufs Jenseits innerlich freie Masse wird den Willen haben, sich auf dieser Erde ein wahrhaft menschliches Dasein zu schaffen und wird zu der wissenschaftlichen Klarheit über die Gesetze des Wirtschaftslebens kommen, aus der heraus die Möglichkeit bewußter Gestaltung der Wirtschaft im Sinne der Freiheit und des Wohles aller werden kann. 4. Diese, dem religiösen Leben völlig ablehnend gegenüberstehende Gedankenwelt enthält aber Züge, die sie wieder im Tiefsten mit dem verbinden, was Christentum von Jesu Worten her ist: Die Masse tritt in den Mittelpunkt – nicht nur der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, sondern der Verantwortung der Menschheit. („Was ihr getan habt, dem geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir getan … was ihr nicht getan habt … habt ihr auch mir nicht getan“, sagt Jesus). Die Masse der Verachteten wird zerstörende Macht der Gesellschaft, wie das Christentum das aus der Sünde der Menschheit aufsteigende Gericht verkündet. Die Masse der Verachteten wird Träger der Neugestaltung (Jesus: Selig, ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer“). Hinter dem allem steht in Karl Marx die heiße, glutvolle Verantwortung des Menschen, der vom Schicksal seiner Mitmenschen aufs Tiefste ergriffen ist und gegen das Vernichten ihres Menschentums sich wendet. 5. Damit ist das zweite gegeben, der Ruf zur Verantwortung für diese Massen, den Karl Marx spürte und die Christenwelt nicht spürte und die Klarheit der Erkenntnis, daß dies Schicksal der Masse nicht durch „Ideale“ und individuelle Verinnerlichung gelöst werden kann, sondern nur durch ein Füllen der Lebensformen der Gesellschaften mit Gerechtigkeit, Wahrheit, Freiheit und Verantwortung von Mensch zu Mensch. Hier scheinen mir zwei entscheidende Erkenntnisse zu liegen, die jede religiöse Arbeit kennen muß, wenn sie wirksam sein will. Hier muß die Kirche den Marxismus als wissenschaftliche Erkenntnis in sich verarbeiten. 6. Das Stärkste jedoch, was Karl Marx mit christlicher Frömmigkeit verbindet ist in dem verhüllt, was er die „Dialektik“ nennt und von Hegel übernahm. So sehr er sich müht, nachzuweisen, daß er die Dialektik nur in dem Be-

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dingtsein des einen gesellschaftlichen Vorgangs durch den anderen sieht, also rein materialistisch-kausal, so wenig kann er darauf verzichten, für diese ganze Reihe dialektischen Ablaufens ein Ziel zu sehen und zu setzen, die kommende Befreiung der Masse, Überwindung jeder Klassenherrschaft und Herstellung der klassenlosen Gesellschaft. Keine Wissenschaft weißt [sic] dies nach. Dies ist der Glaube, den er der Masse gegeben hat und das ist seine prophetische Größe, daß er dem [sic] Klassenkampf der Masse um bessere Lebensbedingungen geeint hat mit diesem Glauben an das Ziel einer anderen Gesellschaftsgestaltung und mit dem Wissen von der Verantwortung dieser Klasse, dies Ziel zu schaffen. [3] 7. Hier gerade aber wird auch deutlich, wie sehr der „Marxismus“ die Notwendigkeit fordert, daß die ihm innenwohnenden unbewußten religiösen Einstellungen bewußt entwickelt und mit in die schaffenden Kräfte eingestellt werden, die zur Gestaltung der Zukunft aufgerufen werden. Der Glaube, daß die dialektische Entwicklung des Gesellschaftslebens zum Ziele führe, daß die „Vorgeschichte der Menschheit“ zu Ende gehe und die klassenlose Gesellschaft komme ist ein sträflicher Optimismus, wenn er nicht darauf gegründet ist, daß wir durch die uns fassende Verantwortung für unsere Mitmenschen und für die menschliche Gesellschaft aufgerufen sind, eine solche Erneuerung der Gesellschaft zu schaffen. Nur der Glaube, der Antwort auf einen solchen Ruf zu menschlicher Verantwortung ist, kann an eine solche Erfüllung glauben. Nur er weckt ja auch die Kräfte, die die Erneuerung bringen. 8. Es ist dieser Optimismus, der in den letzten 10 Jahren verhindert hat, daß der Sozialismus alle Kräfte ethischer und religiöser Erneuerung mit einsetzte, den Versuch zu tragen, neue Gesellschaftsordnung auf dem Weg der Demokratie, der Verständigung mit den verständigungsbereiten Kreisen des Bürgertums zu schaffen. Es war dadurch unmöglich, der politischen und wirtschaftlichen Bewegung des Sozialismus eine geistige Bewegung zur Seite zu stellen. Die von der Revolution erschütterten Massen außerhalb des Arbeiterstandes entglitten ihm wieder. „Solidarität“ allein ist eine zu schmale Basis für Gesellschaftsumgestaltung. 9. Lenin, Bolschewismus und Kommunismus mit ihrem Versuch der Verwirklichung des Sozialismus zeigen, wie sehr die Bewegung im Banne des kapitalistisch-imperialistischen Machtglaubens bleiben muß, der ihr im

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Innersten widerspricht, wenn nicht die ihr zu Grunde liegenden religiösen Kräfte bewußt und aktiv lebendig werden. Stärkstes Verantwortungsgefühl und Verzweiflung am Menschen, den man zu seinem Heil zwingen muß durch Gewalt statt durch das Gewissen zu führen, mischen sich hier. 10. Umgekehrt ist der Marxismus für christliche Frömmigkeit heute der Ruf zur Selbstbesinnung und Aufgabe, ohne die Frömmigkeit leer und kraftlos bleibt. Er zeigt, daß Religion für die Masse nicht vorhanden ist, wenn sie nicht die Lebensgestaltung der Gesellschaft mit ihrem Geist durchdringt. Er zeigt die Tatsache des Klassenkampfes als den Zustand unserer Gesellschaft auf und fordert die Überwindung dieses Zustandes. Er stellt die Christenheit vor die Frage, ob sie eine Gesellschaftsgestaltung auf die Dauer ertragen will, die den Menschen um des Geldes willen zertritt, oder ob sie mitarbeiten will, die Achtung vor dem Menschen und seiner Seele im Gesellschaftsleben grundlegend zu machen. Karl Marx bedeutet für den, der ihn kennen lernt, zuerst eine gewaltige Erschütterung seiner religiösen Position und dann eine Vertiefung und Stärkung, in der die Worte, die gesamte Botschaft Jesu in ganz neuer Gewalt in unsere Zeit tritt.

[Erinnerungen an Altona] (hier S. 419−422) Grundlage des Textes ist ein 6-seitiges eigenhändiges Manuskript, das – obgleich von Tönnies durchgängig (1−6) paginiert – aus zwei verschiedenen Schaffensperioden stammt: die beiden ersten Manuskriptseiten dürften nach 1900, die restlichen vier nach dem 1. Weltkrieg entstanden sein. Von diesem Manuskript hat Eduard Georg Jacoby bei seinem Aufenthalt in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek im Oktober 1969 eine Schreibmaschinen-Abschrift hergestellt und an deren Kopf vermerkt, dass es sich bei dem Text um das Manuskript eines Vortrages handelt, den Tönnies am 21. Oktober 1932 im Altonaer Geschichts- und Heimatschutzverein gehalten hat. Die Stichworte am Ende des Manuskripts lassen darauf schließen, dass die weiteren Ausführungen in freier Rede folgten. Auf der Grundlage der Jacoby-Transkription und ihrer Kollation mit dem Originalmanuskript wurde der Text 1995 von Rainer Waßner postum veröffentlicht (Tönnies 1995). Diese Erst-Veröffentlichung wurde für die vorliegende Edition einer kritischen Revision unterworfen.

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[Die Harzburger Front] (hier S. 431−434) Das Textfragment besteht aus 4 Seiten, von denen nur die Seiten 2 und 3 eine von Tönnies eigenhändig vorgenommene Paginierung enthalten. Desgleichen fehlt eine Überschrift bzw. Kopftitel. Der Titel „Die Habsburger Front“ wurde später während der Erschließung und Katalogisierung des Tönnies-Nachlasses hinzugefügt. Wilhelm Kähler, Arbeiter-Intellektueller in Kiel, Tönnies nahestehend und Zeitzeuge der Weimarer Republik und des NS-Regimes, hat 1964 nach Durchsicht des Textes auf die Rückseite der letzten Seite einen handschriftlichen Vermerk gemacht, in dem er das Fragment mit der „Harzburger Front“ und Spannungen in derselben in Verbindung bringt. Kähler datiert den Text auf „Ende 32 – Januar 1933“. Die Harzburger Front bildete sich auf Initiative von Hugenbergs Alldeutschen am 11. 10. 1931 in Bad Harzburg als Neuformierung der nationalistischen Opposition; sie bestand aus der NSDAP, den Deutschnationalen, dem Stahlhelm und dem Alldeutschen Verband. Die SPD, der Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, die Gewerkschaften und Arbeitersportverbände gründeten als Gegenmaßnahme im Dez. 1931 die Eiserne Front. Der letzte Absatz auf S. 3 des Fragments wurde von Tönnies gestrichen. Er soll hier wegen seiner inhaltlichen Bedeutung dennoch ediert werden: „Die Herren sagen ja, die Staatsform stehe nicht zur Debatte und die Reichsreform solle keineswegs den Weg zur Restauration bahnen. Sie wollen uns in Sicherheit wiegen und sie werden damit Erfolg haben, solange als die Deutschen nicht eine vermehrte und verbesserte politische Einsicht gewinnen. Es ist sehr viel Verstand unter unseren Intellektuellen und überhaupt im deutschen Volke. Aber leider sehr wenig politischer Verstand. Manchmal scheint es, als sei es um diesen noch schlechter bestellt unter den Intellektuellen als sonst in der deutschen Nation.“

[Die Lehr- und Redefreiheit] (hier S. 435−447) Der Anlass der Entstehung des Vortrages war ein unter dem Titel „Das freie Wort“ veranstalteter Kongress in der Berliner Kroll-Oper am 19. Februar 1933. Es war eine von linksgerichteten Kräften einberufene Kundgebung, zu der neben anderen auch Tönnies um sein Wort gebeten worden war. Er sprach unter dem Thema „Die Lehr- und Redefreiheit“ nach dem preußischen Kultusminister Grimme, der einen Beitrag von Thomas Mann verlesen

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hatte. Beim Vortrag von Wolfgang Heine über „Meinungsfreiheit“, der mit beißendem Hohn die Nazis angriff, wurde die Versammlung durch den Polizeioberst Lange aufgelöst.15 Der von der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1955 für die Erstveröffentlichung des Textes gewählte Titel „Über die Lehr- und Redefreiheit“ (Tönnies 1955) war eine freie Hinzufügung der damaligen Herausgeber, die als Untertitel gegebene Anmerkung „Wahrscheinlich 1932 zum 300. Geburtstag von Spinoza geschrieben“ ein Irrtum. Beide Textvorlagen sind ohne originale Überschrift als Kopftitel. Der 1955 hinzugesetzte Titel „Über die Lehr- und Redefreiheit“ kann sich unter anderem auf Tönnies’ Brief an Rudolf Olden stützen, in dem Tönnies mitteilt, er gedenke“ über das Thema ‚Rede- und Lehrfreiheit‘ zu sprechen“. Dagegen gibt Kurt R. Großmann in seinem Brief an Franziska Heberle als präzisen Titel „Die akademische Freiheit“ an. Die in der vorliegenden Ausgabe neu vorgelegte textkritische Edition des Vortrages verwendet den Titel, den das seinerzeitige ‚Programm für den Kongress „das Freie Wort“‘ für Tönnies’ Vortrag ankündigte (vgl. Briegleb / Uka 1983, 234). Dass die Entstehung des Textes ohne Bezug zu Spinozas Geburtstag ist, geht aus dem Anlass – die Beteiligung an der Kundgebung in der Kroll-Oper – deutlich genug hervor: Die Kundgebung war von linken politischen Gruppierungen kurz nach dem nationalsozialistischen Machtantritt einberufen worden und sollte – wie Tönnies an Olden schreibt – wohl auch zu dem Ergebnis eines Manifestes gegen die neuen Machthaber führen: ein Ergebnis, das schon durch die vorzeitige Auflösung der Veranstaltung nicht eintreten konnte. – Zu den beiden Textvorlagen noch folgendes: Zunächst wurde Else Brenke und Ernst Jurkat das Manuskript diktiert. Wie der Augenschein ergibt, war es jedoch als Vorlage zum Ablesen während der Veranstaltung völlig ungeeignet. Dies wird wohl der Grund gewesen sein, weshalb Tönnies die Maschinenabschrift anfertigen ließ, die keine weiteren eigenhändigen Korrekturen enthält. Das Typoskript weicht jedoch hin und wieder vom Manuskript ab. Zum einen in orthographischer Hinsicht, was nicht verwunderlich ist, da die in der Eile des Diktats gemachten Flüchtigkeitsfehler in der Abschrift stillschweigend verbessert wurden. Zum anderen in grammatischer und semantischer Hinsicht. Da diese Abweichungen keine Korrekturen von Tönnies selber darstellen 15

Näheres zu den Vorgängen vgl. den Brief von Tönnies an Rudolf Olden vom 12. 2. 1933 (TN); dazu den Brief (Kopie) von Kurt R. Grossmann an Franziska Heberle vom 15. Januar 1968 in TN, Cb 54.34:96; Harry Graf Kessler (1982:749 f.), Briegleb / Uka 1983.

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dürften, sondern dem Abschreiber selber (Else Brenke?) wohl ungewollt unterliefen, wurde für die vorliegende Edition das Manuskript als authentische Vorlage verwendet, allerdings unter Übernahme der Orthographie des Typoskripts.

Der Liberalismus als politische Idee (hier S. 449−457) Der Text hat sich im Nachlass Eduard Georg Jacobys erhalten (SHLB Cb 156.6 / 56), der sich dazu wie folgt äußert: „Unbekannt, auf welche Weise ich in den Besitz des Ms. gekommen bin und es behalten habe: wahrscheinlich indessen, dass ich später eine Unterhaltung mit Tönnies über Liberalismus, die in Wahrheit schon 1925 angefangen hatte, aufgenommen habe, und er mir dies Ms. zur Durchsicht, da es unter den Umständen doch nicht verwendbar sei, überlassen hat.“ Zu dem Aufsatz „Der Liberalismus als politische Idee“ gehört eine „Skizze“, die sich als Manuskript, das Else Brenke diktiert worden war, erhalten hat. Es umfasst 2 Seiten in 4°, ist auf Blatt 1 am oberen Rand auf den „28. I. 33“ datiert und liegt dem ausgeführten Artikel im Nachlass Jacoby bei (SHLB, Cb 156.6 / 154). Zur „Skizze“ selbst bemerkt Jacoby: „Die … als „Skizze“ wiedergegebene Einteilung ist zeitlich das erste Stück, der Gedankengang der Ausführung weicht davon aber ab. … Ich meine, die Tatsache, dass Tönnies vorher eine Skizze angefertigt hat, was er meines Wissens sonst nie zur Vorbereitung eines Aufsatzes getan hat, und die teilweise noch sehr unübersichtliche Satzkonstruktion zeigen, dass Tönnies in jenen Tagen gewissermassen gewaltsam einen kurzen Rechenschaftsbericht über eine der wesentlichen Erscheinungen der Neuzeit hat verfassen wollen: das Thema ist dann im Einleitungsbande des GdN (Tönnies 1935 u. 1998) aufgenommen und – soweit – ausgeführt worden.“16 Nachfolgend der Text der „Skizze“: Der Liberalismus als politische Idee [Skizze] Der politische Liberalismus ist viel älter als der Name. Besonders im späteren römischen Recht, auch im Urchristentum, solche Tendenzen. So ist der Sieg gewisser Grundsätze, was persönliche Freiheit betrifft, gleich

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S. Nachlass Eduard Georg Jacoby (SHLB Cb 156.6/56)

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gewesen. Ein grosser Stern der Öff. Meinung. Der wahre Erfolg aber erst mit dem Zeitalter der Aufklärung. Widerstand von Interessenten überwunden. Bauernbefreiung. Dennoch Bildung der beiden Parteien Konservative u. Liberale, könnte auch heissen: Konservative u. Mutative, oder Antiliberale u. Liberale. Andere Opposition gegen den mehr und mehr durchdringenden politischen Liberalismus auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Gesetzgebung. Das laissez-faire-Prinzip und seine Wirkungen. Und liberale und antiliberale Richtung in der Arbeiterbewegung. Ist der Staat notwendig antiliberal? Antiliberale Wirkung liberaler politischer Prinzipien. Wahlrecht. Die unparteiische Erwägung des ganzen liberalen politischen Prinzips. Bedingtheit 1. durch historische u. Entwicklungstheorie [2] im allgemeinen, 2. durch die sogen. materialistische Ansicht der Geschichte; wesentliches Prinzip unwiderleglich. Folgerungen aus diesem Prinzip. Teilweise Überwindung des Liberalismus durch Sozialismus. Teilweise Rückkehr zu vorliberalen Normen unter der Voraussetzung dass neue Tatsachen neue Gestaltungen des sozialen Lebens die herrschenden Meinungen verändern. Wie weit dies wirklich werden wird, lässt sich nicht im Voraus sagen; es ist aber sehr wahrscheinlich, dass der Grundstock auch des politischen Liberalismus auch in ein ganz neues Zeitalter sich hinüberretten wird, nämlich das Prinzip: alle Beschränkungen der persönlichen Freiheit zu vermeiden, die nicht einen nachweisbaren sittlichen Wert haben, oder als politisch notwendig erkannt worden sind. Entscheidende Bedeutung des zunehmenden Einflusses exakter Wissenschaft auf die Gesetzgebung und die Verwaltung.

Zum 8. Soziologentage, 1933 (hier S. 461−465) Nach dem 7. Deutschen Soziologentag 1930 in Berlin sollte der 8. Soziologentag 1932 in Kiel stattfinden, Tönnies zu Ehren, der der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) seit der Gründung vorgestanden hatte und der nunmehr den Vorsitz in jüngere Hände legen wollte. Sowohl der Vortrag „Zum 8. Soziologentage, 1933“ als auch die „Erklärung“ (vgl. S. 459f.) waren also als Abschschiedsreden gedacht. Die politischen Ereignisse vereitelten indessen die Abhaltung des Kongresses im Herbst 1932, er wurde auf das Frühjahr 1933 verschoben, wo er durch den NSMachtantritt abermals vereitelt wurde: Die DGS wurde von Hans Freyer stillgelegt und erst nach Beendigung des 2. Weltkrieges sollte es wieder

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eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie geben (vgl. Jacoby 1971: 259−252; Lepsius 1979). Nach Eduard Georg Jacoby ist der Text „Zum 8. Soziologentage, 1933.“ lediglich ein Fragment (Jacoby 1971: 309). Es sieht tatsächlich so aus, als ob Tönnies die Rede gar nicht zu Ende geschrieben hat und er sie aufgrund der unruhigen Zeit nur angefangen und dann liegengelassen hat. Die Niederschrift selber scheint für Tönnies’ sonstige Gewohnheiten untypisch verlaufen zu sein: Weder hat er ein eigenhändiges Manuskript geschrieben, noch hat er ein solches seinen damaligen Helfern diktiert, um es danach in Schreibmaschinenschrift übertragen zu lassen, was oft durch Else Brenke besorgt wurde. In vorliegenden Fall scheint er den Text gleich einer Schreibmaschinenkraft diktiert zu haben, und zwar jemanden mit ganz schwachen Kenntnissen der deutschen Orthographie. Dies kann weder Else Brenke gewesen sein, und schon gar nicht Ernst Jurkat oder Eduard Georg Jacoby. Obgleich Tönnies das Typoskript hinterher durchgesehen und mit einigen Korrekturen versehen hat, sind gleichwohl die meisten Orthographiefehler, auch haarsträubende wie „Indivudien“ statt „Individuen“ oder „gestallten“ statt „gestalten“ (von schlimmeren zu schweigen) in seiner Durchsicht unbeanstandet geblieben. Die Herausgeber haben diese offenbaren Orthographiefehler – trotz und wegen ihrer Menge – stillschweigend verbessert und Eingriffe mit [..] nur dann kenntlich gemacht und in den Anmerkungen erläutert, wo Syntax und Semantik des Textes betroffen sind. Beide Texte gehören den im TN enthaltenen Korporationsakten „Akten der Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ an (TN, Cb 54.61).

An den Vorbereitungsausschuss des 8. Internationalen Philosophenkongresses in Prag (hier S. 479−480) Nachdem die Kongressleitung des 8. Internationalen Philosophenkongresses (1934) Tönnies um ein Grußwort gebeten hatte, welches seine eigenen programmatischen Vorstellungen enthalten und zu Beginn der Tagung vorgetragen werden sollte (Tönnies konnte wegen seines schlechten Gesundheitszustandes selber nicht teilnehmen), verfasste er einen allgemeinen und kurzgehaltenen Text, der vom 27. Juli 1934 datiert. Es ist das im Nachlass unter der Signatur Cb 54.34:58,1 erhaltene und hier auf den Seiten 479−480 abgedruckte Typoskript, das aber wohl nicht nach Prag abgesandt worden ist. Denn bald darauf schien ihm diese Stellungnahme

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zu kurz, er verfasste eine neue, die länger war und inhaltlich einen stärkeren Bezug zur politischen Situation der Zeit hatte. Diese sandte er an die Kongressleitung. Indessen erschien ihm diese alsbald zu lang geraten, insofern man um eine kurzes Gruß- und Geleitwort gebeten hatte. So kürzte Tönnies in aller Eile unter Mithilfe seines Schülers und Assistenten Eduard Georg Jacoby den eingesandten Text (vgl. Nachlass Jacoby17) und schickte die gekürzte Fassung am 21. August 1934 nach Prag mit der Bitte, diese zu Beginn der Tagung vorzutragen, die lange und ungekürzte jedoch im Kongressband zu publizieren – was auch geschah (vgl. Tönnies 1998: 465−470). Die gekürzte Fassung befindet sich unter der Signatur Cb 54.34: 58,2 im Nachlass, wird aber als Variante zu dem schon in TG 22 (Tönnies 1998) gedruckten Text hier nicht wiedergegeben.

[Die Entstehung meiner Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft] (hier S. 487−493) Die Entstehung des vorliegenden Textes geht auf die Begegnung zurück, die 1934 zwischen Tönnies und dem amerikanischen Soziologen Earle Edward Eubank stattgefunden hatte. Eubank hatte eine Reise durch mehrere europäische Länder unternommen, um die damals bekanntesten Soziologen des alten Kontinents zu besuchen und ein Interview mit ihnen zu führen, das aus einem vorher angefertigten Fragenkatalog bestand. Am 12. Juli 1934 traf er Tönnies in dessen Haus im Niemannsweg in Kiel (vgl. Käsler 1985: 79−86)18. Es muss eine für Tönnies beeindruckende Begegnung gewesen sein, sonst hätte er nicht einen autobiographischen Text über die Entwicklung seiner Theorie für Eubank verfasst und diesem nach den USA geschickt. Die von Else Brenke sowohl über das Manuskript wie über das Typoskript 17

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Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek (Kiel), Nachlass Eduard Georg Jacoby, Cb 156: 5/242;243. – Jacoby hatte nach dem Krieg beabsichtigt, die obengenannten Texte für den Prager Philosophenkongreß 1934 in eigener Bearbeitung und eingehenden Erläuterungen zu publizieren, und zwar unter den Titeln: „Die Gefahr des Irrationalismus“ bzw. „Die Zerstörung der Vernunft“. Der letztere der beiden Titel macht Jacobys Stoßrichtung deutlich: Er wollte Tönnies’ Beitrag gegen Georg Lukács’ Buch „Die Zerstörung der Vernunft“ wenden, um darzulegen, wie verfehlt es war, wenn Lukács ausgerechnet Tönnies unter die „Zerstörer“ der Vernunft einreihte. Käsler (1985) hatte die Eubank-papers in Chikago aufgefunden und veröffentlichte sämtliche Interviews und die dazugehörigen Besuchsprotokolle.

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geschriebene Überschrift „Für Earle Eubank“ (ein eigentlicher Kopftitel fehlt) ist aber kaum im Sinn einer Widmung oder Zueignung zu verstehen, sondern als bloßer Vermerk auf der Arbeit, die Tönnies Eubank (mit einem begleitendem Brief) zuschicken wollte. Diese Sendung ging am 19. 2. 1936 an Eubank. Das ergibt eine englische Übersetzung des Textes in den Eubank-papers, die später ins Deutsche rückübersetzt und 1985 (S. 82−85) von Käsler publiziert wurde, da sich das deutsche Original nicht mehr im Eubank-archive befand. Der Text war jedoch schon 1955 in Deutschland in der Gedächtnisschrift für Tönnies publiziert (Tönnies 1955a: 463−467) worden, und zwar unter Zugrundelegung der Urschriften, die sich im Tönnies-Nachlass in Kiel befinden. Für die Textentwicklung ergibt sich folgender Befund: (1) Zuerst hat Tönnies – wie er zu dieser Zeit zu tun pflegte – Else Brenke einen 7-seitigen Text diktiert, und dieses an sich vollständige Manuskript endet mit einem nachträglich hinzugefügten Vermerk „Schluß“. Das Diktat fand vermutlich Ende 1935 oder Anfang 1936 statt. (2) Von den Seiten 1−4 des Manuskripts wurde ein Typoskript angefertigt, das inhaltlich der Manuskriptvorlage folgt, aber stärkere sprachliche Veränderungen aufweist. In diesem Typoskript nahm Tönnies eigenhändige Korrekturen und Ergänzungen vor, und es ist möglich, dass danach eine Reinschrift erfolgte, die dem Brief an Eubank beigefügt wurde: Die Rückübersetzung der englischen Quelle im Eubank-archive deckt sich nämlich inhaltlich weitgehend mit diesem maschinenschriftlichen Teilstück des Manuskripts von der Hand Else Brenkes. (3) Schließlich entstanden noch 2 TyposkriptBlätter mit der Überschrift „Evtl. Einschachtelung zu Eubank“, und zwar definitiv erst 1936. Die Erstveröffentlichung des Textes 1955 benutzte für den Anfangsteil das Typoskript unter (2) und übernahm den restlichen Text – allerdings ohne darauf aufmerksam zu machen – aus dem Manuskript, das Tönnies Else Brenke diktiert hatte (1). Die Typoskript-Blätter mit der „Evtl. Einschachtelung zu Eubank“ fielen fort. Die im vorliegenden Band (S. 487−493) erfolgende Edition ist die erste vollständige Publikation des Textes.

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Vorrede zur achten Auflage (hier S. 499−505) Die letzte (8.) Auflage von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ konnte – ebenso wie sein letztes Werk „Geist der Neuzeit“ und die für ihn veranstaltete Festschrift „Reine und angewandte Soziologie“ – aus politischen Gründen nicht mehr in den Verlagen erscheinen, denen Tönnies zuvor verbunden war, sondern nur noch in dem neu gegründeten Verlag von Hans Buske in Leipzig, dem Tönnies sich daher besonders zu Dank verpflichtet fühlte. Buske hatte sich nach der Lektüre des Typoskripts der „Vorrede zur 8. Auflage“ (Cb 54.32:1.06A) an Max Graf Solms gewendet, da er Bedenken wegen einiger Formulierungen in der „Vorrede“ trug. Solms, der daraufhin um Einsicht in den Entwurf gebeten hatte, schlug Tönnies beträchtliche Streichungen vor, zum Schutze sowohl der Person des Verfassers als auch im Interesse seines Werkes „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Diese Streichungen und Veränderungsvorschläge des Grafen Solms haben sich beim Manuskript im Nachlass Tönnies (TN) erhalten und können dort eingesehen werden. Tönnies, der sich wohl nur schwer auf eine Veränderung des Entwurfes der „Vorrede“ einlassen konnte, schrieb eine erweiterte Fassung der „Vorrede“ (Cb 54.32:1.06B), die im vorliegenden Band abgedruckt wird. Auch in diesem Typoskript befinden sich Streichungen, die möglicherweise nicht von Tönnies selber stammen. Wo nicht zweifelsfrei feststeht, dass Tönnies die Streichung vorgenommen hat, haben die Herausgeber die betreffende Textstelle in die Edition übernommen und in einer Anmerkung auf den unsicheren Sachverhalt hingewiesen. – Am Ende jedoch hat Tönnies beide Typoskriptfassungen zurückgezogen und eine kurze, neue Einleitung („Vorwort zur achten Auflage“) verfasst, die dann (1935) zum Abdruck kam. Eduard Georg Jacoby, der in die letzten Arbeiten von Tönnies und deren Veröffentlichung besonders involviert war, besaß von der Kurzfassung der „Vorrede“ (Cb 54.32:1.06A) eine leicht veränderte Maschinenabschrift, die er in die Emigration nach Neuseeland mitnahm. Nach dem Krieg erhielt er aus dem TN in Kiel eine Xerokopie der Langfassung der „Vorrede“ (Cb 54.32:1.06 B) und erarbeitete aus der Zusammensetzung von beiden Fassungen einen Text, den er in seinem Buch (Jacoby 1971: 89−92) veröffentlichte. Die von Jacoby redaktionell veränderten Vorlagen befinden sich in seinem Nachlass (Nachlass Jacoby in der SHLB, Cb 156: 6 / 158). Bei Jacobys Papieren (ebd.: 6 / 56) befindet sich folgende Notiz, die sich auf die „Vorrede zur 8. Auflage“ bezieht und die Umstände ihrer Entstehung in den Jahren 1934 / 35 charakterisiert:

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„Die Vorrede stellt nur einen Entwurf dar (Abschrift nicht zuverlässig, Schreibfehler, keine Absätze usw.). Sie enthält wissenschaftliche Angriffe gegen die Rechtspolitik des Nationalsozialismus und Voraussagen über seine Bestehensaussichten, die von den ersten Lesern (m. W. Dr. Ernst Jurkat und H. Striefler) für gänzlich untunlich gehalten wurden; ich erinnere mich, daß namentlich H. Striefler, der damals in Kiel war, energisch dagegen war, namentlich auch mit Rücksicht auf den buchhändlerischen Erfolg der Auflage. Tönnies hat den Entwurf dann auch zurückgezogen (ich bin später in seinen Besitz gelangt), und hat ein anderes Vorwort geschrieben.“

[Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1935 an Kindheit, Schulzeit, Studium u. erste Dozententätigkeit (1855−1894)] (hier S. 507−550) Die von Rainer Polley in der Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Geschichte im übrigen vorzüglich besorgte Erstveröffentlichung des Textes (Tönnies 1980) war – auch nach der Angabe des Herausgebers – als Leseausgabe beabsichtigt und hat in diesem Sinn eine Bearbeitung erfahren. Abkürzungen wurden aufgelöst, Absatzstruktur und gelegentlich auch Syntax und Wortwahl wurden verändert. Desgleichen gibt es um der besseren Lesbarkeit willen Einschübe in den Text bei den dort auftauchenden Personennamen usw. Diese Eingriffe wurden – nach den Anforderungen an eine textkritische Handschriftenedition – in der hier vorgelegten Ausgabe rückgängig gemacht und der pure Originaltext nach dem Manuskript wiederhergestellt. Tönnies hatte seine Erinnerungen Else Brenke diktiert; ihr ist – wie sicher nachgewiesen werden kann – die Diktathandschrift im Manuskript der ‚Lebenserinnerungen‘ zuzuordnen. Die von Polley (Tönnies 1980: 189) in dieser Hinsicht vorgetragenen Zweifel, die auf einer (wohl schriftlichen) Anfrage bei Franziska Heberle in den U. S. A. beruhen, sind wahrscheinlich einem Missverständnis oder dem damals schon hohen Alter von Tönnies’ Tochter zuzuschreiben. Der Text befindet sich in 5 Heften samt eingelegten Typoskriptblättern. Er bricht beim Jahr 1894 ab und es ist zu vermuten, dass Gebrechlichkeit und Krankheit seine weitere Fortsetzung verhinderten. Er hat keine redaktionelle Durchsicht durch Tönnies mehr erfahren und ist daher im Rohzustand verblieben. Das Diktat ist ausweislich der Vermerke auf Heft IV und V im Jahr 1935 erfolgt, kann aber schon früher begonnen haben. Eine später wohl

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von Franziska Heberle angefertigte Schreibmaschinen-Transkription des Textes hat sich im Nachlass Eduard Georg Jacobys erhalten (SHLB, Cb 156:6 / 61). Inhalt und Textumfang stimmen mit dem Manuskript überein und bestätigen insoweit die Vollständigkeit der überlieferten Urschrift. Das Manuskript enthält keinerlei Titel, der jetzt verwendete Titel ist eine freie Hinzufügung des Herausgebers und wurde in der vorliegenden Edition aus Polleys Erstveröffentlichung übernommen. Nur die relativ kurze Autobiographie von 1922 (Tönnies 1922) ist ein vollständiges Lebensbild seines Verfassers bis zum Zeitpunkt der Niederschrift. Die „Erinnerungen an Altona“ (hier S. 419−422) konzentrieren sich allein auf Tönnies’ Hamburger Zeit. Man möchte vermuten, dass die „Lebenserinnerungen aus dem Jahre 1935“ ähnlich wie die 1922 veröffentlichte Autobiographie als vollständiger Lebensbericht beabsichtigt war, jedoch aber so ausführlich, dass sie die literarische Gattung der ‚Memoiren’ erfüllen. Wenn dies Tönnies’ Plan war, wurde seine Vollendung durch den wenige Monate nach dem letzten Diktat eintretenden Tod verhindert.

Ewald Bosse, Det ökonomiske Arbeide. En genetisk Analyse [Rezension] (hier S. 569−582) Nachdem Ewald Bosse Tönnies’ „Einführung in die Soziologie“ (Tönnies 1931a) durch eine norwegische Übertragung in Norwegen publik gemacht hatte (vgl. Tönnies 1998: 271), fühlte sich Tönnies zu einer Gegenleistung verbunden, „als Gegengabe gegen das Verdienst, das Sie um meine Einführung in die Soziologie sich erworben haben.“. Er werde daher in Schmoller’s Jahrbuch oder in Horkheimers Zeitschrift für Sozialforschung nachfragen, ob Interesse an einer Rezension von Bosses „Det oekonomiske arbeide“ bestehe (Brief von Tönnies an Bosse vom 25. 4. 1933, TN Cb 54.51:2,01). Im Brief vom 24. 7. 1934 (TN Cb 54.51:2,03) teilt er Bosse mit, daß die Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft seine Besprechung von Bosses „Recht auf Arbeit“ (vgl. Tönnies 1998: 428) abgelehnt habe, und auch mit der Besprechung von „Det oekonomiske arbeide“, welche er Schmoller’s Jahrbuch angeboten habe, sei er erfolglos geblieben. Nun will er es bei Horkheimers Zeitschrift für Sozialforschung in Paris versuchen, und er erbittet Bosses Einverständnis dafür. Denn wenn man in der augenblicklichen Lage einen deutschen Beitrag in einer internationalen Zeitschrift unterbringe, riskiere man in Deutschland als „outcast“ betrachtet zu werden. „Ich scheue das nicht, aber Sie tun es vielleicht.“

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Die Briefe zwischen Tönnies und Max Horkheimer ergeben, dass man sich tatsächlich für Beiträge von Tönnies interessierte, der schon 1932 Verbindung zur Zeitschrift für Sozialforschung bekommen hatte. Tönnies wird von Horkheimer um Vorschläge für Beiträge gebeten, von denen aber nur die Besprechung von Bosses „Retten til Arbeide“ erscheint (vgl. Tönnies 1998: 428 und TN, Briefe zwischen Horkheimer und Tönnies unter Cb 54.56:412 / 51:6,25).

Bibliographie Die Namen folgen einander alphabetisch. Die Literaturangaben ohne Verfasser erscheinen in chronologischer Reihenfolge als [o. V.] am Ende. Adelsprädikate und diakritische Zeichen sind nicht berücksichtigt worden (å, ä = a; ç = c; ł= l; ö, ø = o; ü = u); Ligaturen werden aufgelöst (æ= ae; ÿ = ij; -l = l ñ, n¯ = nn; œ = oe; ß = ss). Abkürzungen siehe s. o., S. XIII−XVI. In der Titelei monogrammierte Namen sind hier unausgewiesen möglichst ausgeschrieben; Namensbestandteile und Adelsprädikate sind dem Nachnamen vorangestellt.

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Register der Publikationsorgane Periodika und Hand(wörter)bücher, die in den edierten und erläuterten Texten und Passagen vorkommen, wurden berücksichtigt. Die Wörter folgen einander alphabetisch, grammatikalische Artikel wurden mit eingeordnet.

Arbeitgeber. Zeitschrift der Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände 192 Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 386, 583, 643 f. Berliner Monatshefte für Internationale Aufklärung (Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen) [vormals: Die Kriegsschuldfrage] 141, 441, 478 Der Lotse 420, 519 Deutsche Allgemeine Zeitung 632 Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaften 152 Die Kriegsschuldfrage Berliner Monatshefte Die Morgenzeitung der Provinz Schleswig-Holstein 424, 426 Ethische Kultur. Monatsblatt für sozial-ethische Reformen 495, 640 Kieler Zeitung. Handels- und Schiffahrtsblatt 424, 426 Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 487, 651 Neue Rheinische Zeitung. Organ der Demokratie 155 New York Tribune 156 Reichshandbuch der deutschen Gesellschaft 391, 396 Schleswig-Holsteinische Volkszeitung 610, 635 f. Soziale Praxis und Archiv für Volkswohlfahrt 190, 192, 632 Statistisches Reichsamt 397, 400, 557, 645 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des deutschen Reichstages 374 Wirtschaft und Statistik [Hgg. vom Statistischen Reichsamt Berlin] 125, 144, 397

Personenregister Die Namen folgen einander alphabetisch, unbeachtet der Adelsprädikate. Diakritische Zeichen (s. o. S. 661) sind dabei außer Acht gelassen worden.

Das Personenregister erfasst grundsätzlich alle Namen Lebender oder Toter, die in den edierten und erläuterten Texten und Passagen vorkommen. Gegebenenfalls wurde orthographisch korrigiert, z. B. fremdländische Namen eingedeutscht. Schreibvarianten der Namen stehen in runden Klammern, in eckigen zusätzlich ursprüngliche Personennamen. Adelsprädikate sind den Namen vorangestellt worden, ohne dass die alphabetische Reihenfolge dadurch durchbrochen worden ist. Die Lebensdaten erscheinen kursiv. Dem schließen sich kurze Angaben zum beruflichen Wirkungskreis an; möglichst erstrecken sich die Hinweise auf den Kontext der Ausgabe. Namen, die sich in Bd. 1--26 von Meyers Enzyklopädischen Lexikon (Meyer 1971-81) finden, sind nach ihren Lebensdaten mit einem Asterisk (*) versehen worden. Die Namen der Herausgeber von Sammelwerken oder Verlagsnamen, soweit sie nicht in Tönnies‘ Text auftauchen oder von keinem editorischem Nutzen schienen, sind vernachlässigt worden.

Abraham, Gestalt d. AT (Stammvater der Israeliten, geschichtl. um 1800 v. Chr. aus Mesopotanien nach Palestina eingewandert) 310−313, 330 f. Adams, Henry Carter (1851−1921), amerik. Prof. der Wirtschafts- u. Finanzwissenschaften an der Universität von Michigan (seit 1887). Nahm zusammen mit Tönnies an den Vorlesungen Engels’ u. Böckhs’ teil 543 Adickes, Erich (1866−1928), dt. Kantforscher, Prof. der Philosophie in Tübingen u. zeitweise Kollege Tönnies’. Er war der Bruder von Franz Adickes u. vermittelte die Bekanntschaft Tönnies mit diesem 422 Adickes, Franz (1846−1915), dt. Kommunalpolitiker, 1883 bis 1890 Oberbürgermeister

in Altona, von 1891 bis 1912 Oberbürgermeister von Frankfurt am Main. Tönnies (1935) erwähnt ihn in seinen Erinnerungen an seine Altonaer Zeit als eine guten Bekannten 421 Adler, Georg (1863−1908), dt. Finanzwissenschaftler, Prof. für Staatswissenschaften an der Universität zu Kiel 357 Adolph (Adolf) VIII. (1427−1459)*, Herzog v. Schleswig, Gf v. Holstein 161 Aischylos (Äschylos, Aeschylos) (525/24−456/ 55 v. Chr.)*, der älteste der drei großen athenischen Tragiker 90 Albrecht, Gerhard (1889−1971), dt. Volkswirt u. Sozialpolitiker; arbeitete am Entwurf der altpreußischen Verfassung mit 444

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Apparat

Aldenhoven, Karl (1842−1907), dt. Kunsthistoriker; 1869−1871 Lehrer am Husumer Gymnasium; starb als Direktor des WallrafRichartz-Museums in Köln 530 Althoff, Friedrich (1839−1908), dt. Ministerialdirektor im Preuß. Kulturministerium 543, 548 Althus(ius) (Althaus), Johannes (1557/63− 1638), Staatsrechtler 544 Ancillon, Jean Pierre Friedrich (1767−1837)*, preuß. Staatsmann 204 Andreas-Salomé, Lou → Salomé(-Andreas) Anna (1665−1710)*, Königin von Großbritannien u. Irland aus dem Hause Stuart 239 Arian [Arius von Alexandria] (um 260−336)*, Stifter der Arianer, Presbyter 539 Arndt, Ernst Moritz (1769−1860)*, dt. Dichter 473 (von) Arnim, Achim (Ludwig Joachim) (1781− 1831)*, dt. Dichter 473 Arons, Leo (1860−1919), dt. Physiker; SPDMitglied 445 Artus (bl. um 1875), thüringischer Seiler, bei dem Tönnies Quartier gefunden hatte während seiner Studienzeit 533 Augustinus, Aurelius (354−430)* 28, 102, 255, 366 Austin, John (1790−1859)*, engl. Rechtsphilosoph u. Jurist, Lehrer von John Stuart Mill u. Gründer der von Deutschland beeinflussten Analytic School of Jurisprudence, durch die er in England die allgemeine Rechtslehre einzubürgern versuchte 240, 504 Avenarius, Ferdinand (1856−1923)*, dt. Dichter 473 Avenarius, Maria (geb. Semper) (bl. um 1880), Ehefrau von Richard Avenarius 548 Avenarius [Habermann], Richard (1843− 1896), dt. Philosoph, bei dem Tönnies 1880 einige Tage zu Gast war; seit 1877 Prof. der Philosophie in Zürich 548 Bach, Johann Sebastian (1685−1750)* 44 Bacon (Bako von Verulam), Francis (1561− 1626)*, engl. Philosoph u. Staatsmann 184, 310, 330, 353

Bakunin, Michail Alexandrovic (1814− 1876)*, russ. Sozialist 408 (von) Bar, Karl Ludwig (1836−1913)*, dt. Straf- u. Völkerrechtslehrer 111 Barbarossa → Friedrich I. Barbarossa Bauer, Bruno (1809−1882)*, dt. Theologe u. politischer Publizist 153 f., 157 Bauer, Edgar (1820−1886), dt. Sozialist 153, 157 Baumgarten, Otto (1858−1934), dt. Theologe, 1894−1926 Prof. für Praktische Theologie u. Universitätsprediger in Kiel; 1932 Emeritus, Nachbar u. Briefpartner Tönnies’, erklärter NS-Gegner 373−377, 578, 611 Baur, Ferdinand Christian (1792−1860), ev. Theologe; seit 1826 Professor in Tübingen; Kirchen- u. Dogmenhistoriker in der Abhängigkeit von Hegel u. Semler 533 (von) Beaulieu-Marconnay (bl. um 1871), Corpsstudent (Germania zu Jena) aus Oldenburg; nicht zu den in einschlägigen Verzeichnissen aufgeführten Mitgliedern der Familie Beaulieu-Marconnay gehörend 531 Becker, Carl Heinrich (1876−1933), Orientalist, preuß. Kultusminister 445, 475, 548 (van) Beethoven, Ludwig (1770−1827)* 44 Bellarmin, Robert (1542−1621)*, ital. Theologe, wurde 1560 Jesuit, 1570 Lehrer der Theologie in Löwen, 1570 Rektor des Collegium Romanum in Rom, 1594 Provinzial der Ordensprovinz Neapel, 1599 Kardinal, 1602−1605 Erzbischof von Capua. Hauptwerk: Disputationes de controversiis christiane fidei adversus huius temporis haereticos 322, 337 (von) Below, Georg (1858−1927)*, dt. Verfassungs- u. Sozialhistoriker 376 f. [von Beneckendorf u.] von Hindenburg, Paul (1847−1934)*, dt. Generalfeldmarschall u. Reichspräsident 126, 135, 299, 413−415 Bentham, Jeremy (1748−1832)* 240, 504 Bergstraesser (Bergsträsser), Arnold (1896− 1964), dt. Kulturhistoriker 481 Frhr von Berlepsch, Hans Hermann (1843− 1926)*, preuß. Handelsminister 196

Personenregister Bernstein, Eduard (1850−1932)*, dt. Sozialist 150, 579 Bertholet, Alfred (1868−1951)*, ev. Theologe 103 (von) Bethmann Hollweg, Theobald (1856− 1921)*, dt. Staatsmann 118, 135, 162, 476 Beza [de Bèze], Theodor (1519−1605)*, frz. reformierter Theologe 324, 337 Bickel, Cornelius (1945− ), dt. Soziologe, MitHerausgeber der TG 459, 495, 546 Fs von Bismarck(-Schönhausen), Otto (1815− 1898)*, dt. Reichskanzler 123, 130, 137, 171, 209, 211, 214, 296−298, 379, 384, 386, 438, 441, 455, 476, 519 Bleicken, Bleick Mathias (Max) (1835−1900), dt. Rechtsanwalt, Kommunal- u. Sozialpolitiker; langjähriger Freund von Tönnies. Er wurde 1874 zum 1. Bürgermeister von Ottensen gewählt. 1855 trat er aus Gesundheitsgründen von seinem Amt zurück 421 f., 484 (von) Blomberg, Hugo (1820−1871), dt. Schriftsteller u. Komponist 473 Böckh, Richard (1824−1907), dt. Statistiker; lehrte im WS 1878/79 Statistik in Berlin. Tönnies hörte bei ihm Vorlesungen 543 Böhme, Jakob (1575−1624)* 37, 75, 289 Bohnenberger, E. M. (bl. um 1760), 1757 Student der Theologie. Sein Ex libris zierte Tönnies’ Ausgabe von Thomas Hobbes „Elementa philosophiae“ („De cive“) 541 Bolte, Friedrich (bl. 1872−1874 ), Vertreter der amerik. Arbeiterbewegung, Zigarrenmacher dt. Herkunft; 1872 Sekretär des Föderalrats der nordamerikanischen Sektionen der IAA, Redaktionsmitglied der ‚Arbeiter-Zeitung‘; Mitglied des vom Haager Kongress gewählten Generalrats (1872−1874); wurde 1874 aus dem Generalrat ausgeschlossen 408 Bonucci, Alessandro (1883−1925), ital. Rechtsphilosoph 221, 636 Borah, William Edgar (1865−1940), amerik. Senator aus Idaho 141 (von) Borgo San Donnino, Gerhard (Gherardino; Gerardo) (?−1276) Minoritenmönch, Anhänger des Joachim von Floris 68, 71 f., 285

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Bosse, Ewald (1880−1956), norweg. Soziologe u. Volkswirt, 1914 in Kiel promoviert, 1920 Honorarprofessor für Skandinavisches Wirtschaftsleben an der Universität Kiel 569−580, 611, 659 f. Brachmann, Ilse (bl. 1931), Freundin Else Brenkes 631 Bramhall, John (1594−1663), Erzbischof von Armagh (Irland) 341 Brant, (Brandt) Sebastian (1457/58−1521), dt. Dichter aus dem Elsass 528 Braun, Otto (1872−1955)*, sozialdemokratischer preuß. Ministerpräsident (mit Unterbrechungen zwischen 1920−1932) 427 Brenke, Else (1874−1945), dt. Lehrerin, stand Tönnies nach dem 1. Weltkrieg als Sekretärin zur Verfügung 431, 434−436, 449, 492, 596, 599, 608 f., 611, 622, 631, 651 f., 654, 656, 659 Brentano, Clemens (1778−1842)*, Dichter 473 (von) Brentano, Lujo (Ludwig Joseph) (1844−1931)*, dt. Nationalökonom, Mitbegründer des ‚Vereins für Sozialpolitik‘ 195 f., 632 Briegleb, Klaus (1932− ), dt. Literaturwissenschaftler 651 Bright, John (1811−1889)*, engl. Politiker 219 Baron von Brockdorff, Cay Ludwig Georg Konrad (1874−1946), dt. Philosophiehistoriker 476, 639 (von) Brockdorff-Rantzau, Ulrich (1869− 1928)*, dt. Diplomat, Gesandter in Kopenhagen (1912−1918) 476 Brodnitz, Georg (1876−nach 1913), dt. Volkswirtschaftler 581 Brüning, Heinrich (1885−1970)*, dt. Politiker 113−144, 403−405, 427, 429, 596, 629 f. Bryce, James (1838−1922), engl. Historiker, Jurist, Politiker 222 Bücher, Karl (1847−1930), dt. Nationalökonom, Soziologe 638 Büchmann, Georg (1822−1884)*, dt. Philologe u. Zitatensammler 162 Büchner, Georg (1813−1837)*, dt. Dichter 473

694

Apparat

Buddha (sanskrit ‚der Erwachte‘, ‚der Erleuchtete‘) [Siddhattha, sanskrit: Siddhartha] (um 560 v. Chr.−um 480 v. Chr.)*, Ehrentitel des Stifters der nach ihm benannten Religion des Buddhismus 149 Budowetz (Budovvez), Wenzeslaw, Baron von Budowa (1547−1621), Oberhofmeister 368 Fs von Bülow, Bernhard (1845−1929)*, dt. Staatsmann 375, 379 (von) Bülow-Trummer, Ferdinand (1872− 1935), Dr. jur., dt. Ministerialrat; Sohn von Ernst von Bülow-Wamckow u. Elisabeth Trummer, einer Kusine Tönnies’ 535 (von) Bülow-Wamckow, Ernst (1846−1917), dt. Offizier, nannte sich 1872 in Andenken an seine früh verstorbene Gattin BülowTrummer; Gutsherr auf Wamckow, Ehemann Elisabeth Trummers, einer Kusine Tönnies’ 535 Bürger, Gottfried August (1747−1794)*, dt. Dichter 473 Busch, Moritz (1821−1899)*, dt. Journalist, bekannt durch seine enge Zusammenarbeit mit Bismarck 476 Buske, Hans (1903−nach 1950), dt. Verleger 503, 643 f., 657 Caesar, Cajus Julius (100−44 v. Chr.)*, 236 Calas, Jean (1698−1726)*, frz. port. Kaufmann 167 Calvin (Caulvin), Johann [Jean Cauvin] (1509−1564)*, schweiz. Reformator 261 Campanella, Thomas (1568−1639)*, ital. Philosoph 359 Carlyle, Thomas (1795−1881)*, engl. Schriftsteller 10, 63, 154 f., 407, 618 f. Carstens, Uwe (1948− ), dt. Politologe, Geschäftsführer der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft Kiel XXIII Cartesius → Descartes, René Caspers, Andreas Jürgen Christian (bl. um. 1835), Sohn Ludwig Caspers 522 Caspers, Ludwig (bl. um 1880), Sohn des Husumer Propsten u. Nachbarn Tönnies’, Andreas Jürgen Christian Caspers

(1819−1879), Altersgenosse u. Freund Tönnies’ 522 f. Catilina, Lucius Sergius (um 108−62 v. Chr.)*, röm. Politiker 235 Cavendish, Sir Charles, 2. Earl of Devonhire, (1595−1654), engl. Mathematiker, Parlamentarier, Royalist 311 Celsus (bl. im 2. Jhdt.), Neuplatoniker 371 (von) Chamisso, Adelbert [Louis Charles Adelaide de] (1781−1838)*, dt. Dichter 473 Cephas → Petrus Lord of Cherbury, Edward Herbert (1583− 1648)*, engl. Philosoph, Diplomat u. Schriftsteller 350 f., 362, 365−67, 370 Christian I. (1425−1481)*, dän. König 162 Christian VIII. (1786−1848), dän. König (seit 1839), 1814 Erbkönig von Norwegen (Christian Friedrich). Er erließ am 8. 7. 1846 den Offenen Brief, worin er die dän. Weibliche Erbfolge auch für Holstein festlegen wollte 510 Christian August (1798−1869)*, Herzog von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg 296 Christus → Jesus Christus Cicero, Marcus Tullius (106−43 v. Chr.)*, 170, 193 Earl of Clarendon → Hyde, Edward Clarke, Samuel (1675−1729)*, engl. Theologe 359 Claß (Class), Heinrich (1868−1953)*, dt. Politiker 135 Claudius, Matthias (1740−1815)*, dt. Dichter 473, 521 Clausen, Lars (1935− ), dt. Soziologe, seit 1978 Präsident der FTG, federf. Mit-Hg. der TG, Hg. v. TG 22 XXIII, 435, 607 Cobden, Richard (1804−1865)*, engl. Wirtschaftspolitiker 219 Comte, Auguste (1820−1903)* 20−22, 227, 394, 461 f., 617, 619 Marquis de Condorcet, Marie Jean Antoine (1743−1794)* 20, 227, 394

Personenregister Cramer, Karl Friedrich (1752−1807)*, Orientalist u. Buchhändler in Paris 213 Crassus, Marcus Licinius Dives (um 115−53 v. Chr.)*, röm. Staatsmann 236 Cromwell, Oliver (1599−1658)*, Protektor der engl. Republik 242, 340, 353, 437 Cunow, Heinrich (1862−1936), dt. Soziologe u. Völkerkundler 150, 581 Curtius Rufus, Quintus (bl. um Christi Geburt), röm. Geschichtsschreiber 539 Curtius, Ernst (1814−1896), dt. Historiker, Archäologe u. Philologe, regte Tönnies zu einer Dissertation über Jupiter Ammon in lat. Sprache an 539 Curtius, Georg (1820−1885), dt. Wissenschaftler, lehrte gr. Literaturgeschichte im WS 1873/74 in Leipzig. Sein Werk über die gr. Etymologie (1858 ff.) hatte Tönnies schon als Sekundaner u. Primaner gelesen. Curtius lud Tönnies auch ein 537 Dahlmann, Friedrich Christoph (1785− 1860)*, dt. Historiker u. Politiker, Führer der ‚Göttinger Sieben‘, geistiger Vater der preuß. Schule der Historiographie; Lehrer von H. von Treitschke. Er arbeitete am Entwurf der altpreußischen Verfassung mit 444 Damaschke, Adolf (1865−1935), dt. Volkswirt 641 Dana, Richard Henry (bl. um 1870), amerik. Journalist 156 Daniel (?−nach 536 v. Chr.), alttestamentarischer Prophet 16, 254 Dante Alighieri (1265−1321)* 496 David (etwa 1000−960 v. Chr.), israelitischer König 252 Dawes, Charles Gates (1865−1951)*, amerik. Staatsmann 121 Deethmann, (bl. um 1872), dt. Pädagoge, Grundschullehrer Tönnies’ 513 Dehmel, Richard (1863−1920)*, dt. Lyriker 473 Deichsel, Alexander (1935− ), dt. Soziologe, Begründer der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle der Universität Hamburg, Mit-Hg. der TG, Mit-Hg. v. TG 14 XXIII

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Delbrück, Hans (1848−1929), dt. Historiker 141 Descartes, René (1596−1650)* 277, 347 f., 363, 369 Devonshire → Cavendish Diderot, Denis (1713−1784)*, frz. Schriftsteller 624 Frhr von Dingelstedt, Franz (1814−1881)*, dt. Schriftsteller u. Theaterleiter 473 Dippe, (bl. um 1920), Dr., Geheimer Sanitätsrat 568 Donatello [Donato di Niccolo di Betto Bardi] (1386−1466)*, ital. Bildhauer, Hauptmeister der Frührenaissance 252 Dove, Alfred (1844−1916), dt. Historiker, Hg. des Wochenblattes ‚Im Neuen Reich‘, später Prof. für Geschichte 527 Dreyfus (Dreyfuss), Alfred (1859−1935)*, frz. Hauptmann 167, 173 Duesterberg, Theodor (1875−1950)*, dt. Offizier u. Politiker 413 Duncker, Franz (1822−1888)*, dt. Buchhändler u. Politiker 157 Dunkmann, Karl (1868−1932)*, dt. Soziologe, von Tönnies geschätzt 581 Ebert, Friedrich (1871−1925)*; dt. Politiker 120, 136 Frfr. von Ebner-Eschenbach, Marie (1830− 1916)*, dt. Schriftstellerin 473 Eckermann, Johann Peter (1792−1854)*, dt. Schriftsteller 450 Eggeling, (bl. um 1915), Mädchenname der Ehefrau von Karl Rothe 537 Eggers, Olga (1875−1945), jüdische Ehefrau von Anton Theodor Thomsen 496 Ehrhardt, Hermann (1881−1971), dt. Seeoffizier u. Freicorpsführer („Brigade Ehrhardt“) 135 Frhr von Eichendorff, Joseph (1788−1857)*, dt. Dichter 473 Einstein, Carl (1885−1940)*, dt. Schriftsteller u. Kulturkritiker 199 Elimar (1844−1895), Prinz von Oldenburg 518 Elisabeth I. (1533−1603)*, Königin von England 244

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Apparat

Ellstam, Greta Maria Sofia (1900−1930), Harald Höffdings zweite Frau 497 Elster, Ludwig (1856−1935), Ministerialreferent im preuß. Kultusministerium; nahm mit Tönnies an den Vorlesungen Engels’ u. Böckhs’ teil 543 Engel, Ernst (1821−1896)*, dt. Wissenschaftler, lehrte Statistik im WS 1878/79 in Berlin. Tönnies hörte bei ihm Vorlesungen 543 Engels, Friedrich (1820−1895)* 25, 150−157, 394, 407, 433, 445 Epikur (Epikuros) (341 v. Chr.−271 v. Chr.)*, gr. Philosoph 363 Erdmann, Benno (1851−1921)*, dt. Philosophiehistoriker; unterstützte die Habilitation von Tönnies 38, 543 Erdmann, Johann Eduard (1805−1892)* 283 f. Eriugena → Scotus Erler, Curt (1880−?), dt. Historiker 211 Eubank, Earle Edward (1887−1945), amerik. Soziologe 487, 610, 655 f. Eugénie (1826−1920), Kaiserin der Franzosen, vermählte sich 1853 mit Napoleon III. 523 Euripides (um 480−407 v. Chr.)*, der jüngste der drei großen athenischen Tragiker 85, 537 Fabritius (Fabricius), Johann Ludwig (1632− 1697), Theologieprof. 369 von Fallersleben → Hoffmann von Fallersleben Fechner, Gustav Theodor (1801−1887)* 55 f., 619 Fechner, Rolf (1948− ), dt. Soziologe, wiss. Referent der FTG u. Mit-Hg. der TG, MitHg. v. TG 14 XXIII, 495, 546 Feddersen, Harro (1825−1901), dt. Pastor; Schwager Theodor Storms u. Jugendfreund Tönnies’ 520 Fehling, August Wilhelm (1922−1961), Kurator der Kieler Universität 606 Feilinger, Wilhelm (bl. um 1925), dt. Soziologe u. Zeitungswissenschaftler 638 Feuerbach, Ludwig (1804−1872)*, dt. Philosoph 153

(von) Feuerbach, Paul Johann Anselm (1775− 1833)*, dt. Strafrechtler 199 Fichte, Johann Gottlieb (1762−1814)*, dt. Philosoph 445, 536 Fischer, Irma (bl. um 1960), dt. Bibliothekarin 607 Fischer, Kuno (1824−1907)*, dt. Philosoph; Mitbegründer des Neukantianismus 532, 534, 536 Flacius, Matthias (Illyricus) (1520−1575)*, istrischer Reformator 256 Forster, Georg (1754−1794)*, Natur- u. Völkerkundler; 1793 Abgeordneter der Mainzer Radikalen in Paris 204, 208 Francke, Ernst (1852−1921)*, dt. Sozialpolitiker 196 Francke, Kuno, (1855−1930), seit 1884 Prof. für deutsche Literatur an der Harvard University, Landsmann u. Freund Tönnies’ 285, 539, 611 (von) Frankenberg, Abraham (bl. um 1624), Freund, Schüler u. erster Biograph Jacob Böhmes 75 Franz von Assisi (Franziskus Assisias) (etwa 1181−1226)*, Gründer des Bettelordens der Franziskaner (Minoriten), kath. Heiliger 71 f. Freiligrath (Freiliggrath), Ferdinand (1810− 1876)*, dt. Dichter 473 Freyer, Hans (1887−1969)*, dt. Philosoph u. Soziologe 653 Freytag, Gustav (1816−1895)*, dt. Schriftsteller, Kulturhistoriker u. Journalist 420, 473, 527 Frhr von Freytagh-Loringhoven, Alexander (Axel) (1878−1942), dt.-nationaler Politiker; Staatsrechtler, MdR 424−426 Frick, Wilhelm (1877−1946)*, nationalsoz. Politiker, ab 1933 Reichinnenminister 116, 130, 144 f., 403 Friderikus → Friedrich II. der Große Friedrich von Hohenstaufen → Friedrich II. Friedrich I. (1701−1713), König in Preußen, als Friedrich III. Kurfürst von Brandenburg 264 Friedrich I. Barbarossa (1122/1125−1190)*, dt. König u. röm. Kaiser 297

Personenregister Friedrich II. (1194−1250)*, dt. Kaiser, König von Sizilien u. Jerusalem 363 Friedrich II. (der Große) (1712−1786)*, preuß. König 266, 449 Friedrich III. → Friedrich I. Friedrich VII. (1808−1863), dän. König 296 Friedrich VIII. (1829−1880)*, Herzog zu Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg 296, 514 f., 519 Friedrich Wilhelm (der Große Kurfürst) (1620−1688)*, Kurfürst von Brandenburg 265 Friedrich Wilhelm I. (1688−1740)*, preuß. König 243 Friedrich Wilhelm IV. (1795−1861)*, preuß. König (seit 1840) 442, 446, 451 Fries, Jakob Friedrich (1773−1843)*, dt. Philosoph 204 Fry, Joan Mary (1862−1955), Quäkerin 178 Fuchs, Emil (1874−1971), dt. Theologe, Quäker u. Sozialist 407, 645 Galilei, Galileo (1564−1642)*, ital. Naturforscher 342, 347 f. Garve, Christian (1742−1798)*, philosophischer Schriftsteller 204 Gassend(i), Pierre (1592−1655)*, frz. Philosoph u. Naturforscher 342 Frhr von Gayl, Wilhelm (1879−1945), dt. Politiker, Reichsinnenminister im Kabinett von Papen 427 Geibel, Emanuel (Immanuel) (1815−1884)*, dt. Dichter 473 Geiger, Theodor (1891−1952)*, dt. Soziologe 585 Gellert, Christian Fürchtegott (1715−1769)*, dt. Dichter 473, 512 Georg V. (1819−1878)*, König v. Hannover (1851−1866) 515 George, Henry (1839−1897), engl. Sozialist 408 Ger(h)ard → (von) Borgho San Donnino Gide, Charles (1847−1932), frz. Nationalökonom 576

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Gidionsen, Albrecht Wilhelm (1825−1898), Hofrat, von Lübker als Rektor der Gelehrtenschule in Husum berufen; war als Kombattant von den Dänen ausgeschlossen. Bekam zuerst im Oldenburgischen eine Stelle, war dann als Erzieher des Prinzen Elimar nach Oldenburg gegangen. Tönnies’ Lehrer; Goethe-Interpret 518, 520 f., 523 f. (von) Gierke, Otto (1841−1921)*, dt. Jurist, Professuren in Heidelberg u. Berlin; Hauptwerk das unvollendet gebliebene „Deutsche Genossenschaftsrecht (4 Bde. 1866−1913); wichtig auch seine Abhandlung „Johannes Althusius u. die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik. (Untersuchungen zur deutschen Staats- u. Rechtsgeschichte, hg. Gierke, VII), Breslau 1880) 352, 484, 544 Giese, Otto (1855−1904), dt. Kommunalpolitiker, 1891 bis 1904 Oberbürgermeister von Altona u. Nachfolger Franz Adickes’ 422 Glanvill(e), Joseph (1636−1680)*, engl. Philosoph, Hofkaplan von Karl II. 326 (von) Gneist, Rudolf (1816−1895)*, dt. Jurist u. Politiker 395 Goebbels (Göbbels), Joseph Paul (1897− 1945)*, nationalsoz. Politiker 116, 130, 403 (von) Goethe (Göthe), Johann Wolfgang (1749−1832)* 37, 44, 54, 62−66, 91, 177, 188, 208, 225, 276, 280, 347, 377, 394, 449 f., 473, 503, 530, 619 Goldscheid, Rudolf (1870−1931), österr. Wirtschafts- u. Sozialpolitiker 197 Goldschmidt, Levin (1829−1897), dt. Jurist, national-liberaler Politiker 201 Gf von der Goltz, Rüdiger (1865−1946)*, preuß. General, Gouvernante in Brasilien tätig u. schuf Skizzen u. Novellen aus Brasilien. Tönnies wird mit ihr bekannt gewesen sein 135 Grabbe, Christian Dietrich (1801−1836)*, dt. Dichter 473 (von) Graefe, Albrecht (1868−1933)*, dt. Politiker 135

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Apparat

Grillparzer, Franz (1791−1872)*, dt. Dichter 473 Grimm, Jacob (1785−1863)* 174 Grimm, Wilhelm (1786−1859)* 174 Grimme, Wolf (1889−1963), preuß. Kultusminister, der Tönnies wohl wollte 548, 650 Großer Kurfürst → Friedrich Wilhelm, Kurfürst von Brandenburg Großkreuz, Christian (1841−nach 1871); gebürtig aus Friedrichstadt, nahm als politisch Versierter an dem sogenannten Sophokles-Verein teil, in dessen Rahmen Tönnies mit ihm u. anderen über Politik sprach 527 Großmann (Grossmann), Kurt R. (1897− 1972), dt. Schriftsteller 651 Grote, George (1794−1871), engl. Historiker 353 Groth, Klaus (1819−1899)*, dt. Dichter 421 Grotius, Hugo [Huig de Groot] (1583−1645)*, ndl. Jurist, Gelehrter u. Staatsmann 352 Grundtvig, Nikolai Frederik Severin (1783− 1872)*, dän. Theologe, Dichter u. Historiker. Begründer der Volkshochschule 53 Guizot, Francois (1787−1847)*, frz. Historiker u. Politiker 438 Gurewitsch (Gurevicˇ), Boris (bl. um 1900), russ. Sozialwissenschaftler 611 Gustav I Adolf (Gustav Wasa) (1496/97− 1560)*, schwed. König 263 Gustav II. Adolf (1611−1632)*, schwed. König 263 Frhr von Gutschmid, Hermann Alfred (1831− 1887), dt. Althistoriker, seit 1866 Prof. in Kiel, seit 1877 in Tübingen 540 Gutzkow, Karl (1811−1878)*, dt. Schriftsteller 355 Hadley, Arthur Twinning (1856−1930), Prof. der Wirtschaftswissenschaften an der Yale University, 1899−1921 deren Rektor. Nahm wie Tönnies an den Vorlesungen Engels’ u. Böckhs’ teil u. war Tönnies später durch Schriften u. Korrespondenz bekannt 543 Haering, Oscar (bl. um 1920) 613

Halm, Friedrich [Eligius Frhr von MünchBellinghausen] (1806−1871)*, dt. Dichter 473 Händel, Georg Friedrich (1685−1759)* 44 Hanken, Heinrich (1811−1866), Hofbesitzer zu Langenhenne, Lehnsmann u. Ratmann zu Oldenswort, Schwager Adolf Theodor Thomsens, kaum ein Mitglied der politisch aktiven Familie Hamkens 512, 516 Hansen, Ferdinand (bl. 1918−1937), dt. Bibliothekar 610 Hansen, Peter (bl. um 1925), Sanitätsrat, Kinderarzt 635−637 Hansen, Peter (1939− ), Bau- und Immobilienunternehmer, Raumplaner XXIII (von) Harbou, Adolf (1809−1877), dt. Politiker, fürstlich reußischer Minister 531 (von) Harbou, Christian (1845−1891), vmtl. Sohn von Adolf von Harbou, Medizin- u. Corpsstudent (Arminia Jena), später oldenburgischer Stabsarzt, dann praktischer Arzt in Stollhamm i. O 531 Harms, Bernhard (1876−1939), dt. Volkswirt; Prof. der Nationalökonomie in Kiel, Begründer des Instituts für Weltwirtschaft 476, 548 Harms, Claus (1778−1855), dt. ev. Theologe; war zunächst Müller, wurde 1806 Pastor in Lund, 1816 in Kiel; seit 1835 dort Propst. 1817 gab er zu Luthers 95 Thesen 95 eigene heraus u. wurde so zum Wegbereiter des lutherischen Konfessionalismus 511 Harms (bl. um 1870), Arzt in Eutin 524 Hartung, Fritz (1833−1922)*, dt. Historiker, insbesondere Verfassungshistoriker 121 Harvey, William (1578−1657)*, engl. Physiologe 342, 348 Hasbach, Wilhelm (1849−1920), dt. Wissenschaftler, 1893−1906 Prof. für Nationalökonomie in Kiel 548 (von) Hase, Karl August (1800−1890), Herausgeber von Hutterus redivivus (1828) erneutes Kompendium der altlutherischen Dogmatik 532 Haselbach, Dieter (1954− ), dt. Soziologe; Hg. von TG 15 632

Personenregister Hasse, Ernst (1864−1908), dt. Statistiker, Mitbegründer des Alldeutschen Verbandes, MdR 374 Hatschek, Julius (1872−1926)*, dt. Staatsrechtler 383 Hauff, Wilhelm (1802−1827)*, dt. Dichter 473 Hauptmann, Carl (1858−1921)*, dt. Dichter 473 Hauptmann, Gerhart (1862−1946)*, dt. Dichter 473 Haußmann (Haussmann), Konrad (Conrad) (1857−1922)*, dt. Politiker 118 (von) Haxthausen (bl. um 1864), preuß. Offizier der Landwehr, der 1864 auf dem Hof Tönnies einquartiert war 517 Hebbel, Friedrich (1813−1863)*, dt. Dichter 473 Heberle, Franziska → Tönnies-Heberle Heberle, Rudolf (1896−1991), dt. Politikwissenschaftler; Soziologe, Schwiegersohn Tönnies’ 551, 605 f., 622 Heckscher, Siegfried (1870−1929), dt. Schriftsteller, Jurist, Dramatiker, Publizist 420 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770− 1831)*, dt. Philosoph 22 f., 28, 66, 153, 170, 204, 393 f., 456, 579, 618, 625 Heine, Heinrich [Harry] (1797−1856)*, dt. Dichter 473 Heine, Wolfgang (1861−1944), dt. Jurist; Politiker 651 Heinrich VII. (1457−1509)*, engl. König 244 Heinrich VIII. (15491−1547)*, 242 (von) Helmholtz, Hermann Ludwig Ferdinand (1821−1894), dt. Physiker u. Physiologe, Lehrer von Benno Erdmann 544 Henry, Hubert Joseph (?−1898), frz. Offizier, der zusammen mit dem Offizier WelsinEsterhazy die Dokumente fälschte, die zur Verurteilung Dreyfus’ führten 173 Hentzschel, Otto (?−1897), dt. Jurist, Staatsrechtslehrer 440 Herakleitos (Heraklit) von Ephesos (um 550− 480 v. Chr.)*, gr. Philosoph 507 Herbert → Cherbury

699

(von) Herder, Johann Gottfried (1744−1803)*, dt. Dichter 473, 521 Herkner, Heinrich (1863−1932)*, dt. Nationalökonom 189−192, 632 Herodot (Herodotos) (um 490−um 420 v. Chr.)*, Begründer d. gr. Geschichtsschreibung 540 Herpich, Paul (1870−1923), Berliner Kaufmann 533 Herschel, Wilhelm (1895, bl. 1923)*, dt. Jurist 190 (von) Hertz, Wilhelm (1835−1902)*, dt. Schriftsteller u. Professor für Literaturwissenschaft 473 Hessing (vmtl.), Siegfried (1903−?), poln.(?) Philosophiehistoriker 611 Heuer (bl. um 1931), Dr. 630 Heyde, Ludwig (1888−1936), Volkswirtschaftler 632 (von) Heyden, Friedrich (1789−1851)*, dt. Dichter 473 Hilferding, Rudolf (1877−1941), dt. Politiker 150 von Hindenburg, Paul → von Beneckendorf u. von Hindenburg Hinkeldey (?−1856), Berliner Polizeipräsident, der auf vertrauliche Weisung des Königs gegen adelige Spielhöllen einschritt u. – da er auf eine Deckung durch den König verzichtete – von Rochow im Duell erschossen wurde 444 Hiob, Gestalt des AT; das gleichnamige Buch entstand wahrscheinlich 4. Jahrh. v.Chr. 351 f. Hippokrates (um 460−377 v. Chr.), gr. Arzt 62 Hitler, Adolf (1889−1945)*, dt. Reichskanzler (1933−1945) XIX f., 115 f., 119−122, 124−131, 134−136, 139−141, 144, 403, 413−415, 426, 428, 440, 489, 577 Hobbes, Thomas (1588−1679)* XIX, 106, 203, 240, 252, 276 f., 301−343, 347−354, 359−372, 436−439, 463, 500, 504, 534, 536, 541 f., 544, 549, 609, 624, 640, 642 Hodgkin, Henry T. (1877−1933), engl. Quäker u. Missionar 615

700

Apparat

Hödel, Emil Max (1858−1878), Attentäter (auf Kaiser Wilhelm I.) 380 Höffding [Høffding], Hans (?−1937), Sohn Harald Höffdings 495 Höffding [Høffding], Harald (1843−1831)*, dän. Philosophiehistoriker 348, 354, 495 f., 500, 564, 609 f., 619 Fs zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig, Prinz von Ratibor u. Corvey (seit 1840) (1819−1901)*, dt. Reichskanzler 431 f. Hölderlin, Friedrich (1770−1843)*, 84, 473 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich (1798−1874)*, dt. Germanist u. Dichter 446 Hollmann, Anton Heinrich (1876−?), dt. Historiker 619 Hölty, Ludwig Christoph Heinrich (1748− 1776)*, dt. Dichter 473 (von) Holtzendorff, Franz (1829−1884), dt. Kriminalist, Staats- u. Völkerrechtler; 1873 Prof. in München. Verfasste die „Enzyklopädie der Rechtswissenschaft“ 544 Horaz (Horatius), Flaccus Quintus (65−8 v. Chr.)*, röm. Dichter 368, 522 Horkheimer, Max (1895−1973)*, dt. Philosoph u. Soziologe 583, 659 f. Hübscher, Arthur (1897−1985), dt. Schopenhauer-Forscher 634 Huch, Ricarda (1864−1947)*, dt. Dichterin 609 Gf von Hue de Grais, Robert Achille Friedrich Hermann (1835−1922), preuß. Verwaltungsjurist, Regierungspräsident von Potsdam (bis 1906) 476 Hugenberg, Alfred (1865−1951)*, Wirtschaftsführer u. Politiker, MdR der DNVP 134 f., 192, 651 Ritter Hugo, Gustav (1764−1844)*, dt. Jurist 500 Hume, David (1711−1776)*, engl. Philosoph u. Geschichtsforscher 327, 361 Hunnius, Johannes (bl. um 1871), Geheimer Staatsrat, Finanzminister, Exzellenz in Weimar 535 Husmann [vmtl. Hußmann], Friedrich Wilhelm Christian (?−1878), dt. Theologe, am

4. 12. 1864 Pastor in Breitenberg, 1873 in Hamberge, Hauslehrer in der Familie Tönnies 515 Hutterus, Leonhard (1563−1616) 532 Hyde (Earl of Clarendon), Edward (1609− 1674)*, Lordkanzler Karls II. von England; musste 1667 wegen seiner schwankenden Politik nach Frankreich fliehen 341 Immermann, Karl (1796−1840)*, dt. Dichter 473 Isaak, Gestalt des AT, Sohn Abrahams 311 Jacob, Georg (1862−1937), dt. Islamist, Rektor der Uni Kiel 1911−1929) 199 Jakob I. (James) (1566−1625)*; engl. König, als Jakob VI. König von Schottland, Sohn der Maria Stuart u. Lord Darnleys 242, 244 Jacobi, Friedrich Heinrich (1743−1819)*, dt. Schriftsteller u. Philosoph 38, 276, 280−283, 360 Jakobus (um 60 oder 2. Jhdt.)*, Verf. d. Jakobus-Briefes im NT 302 Jacoby, Eduard Georg (Peter) (1904−1978), dt.-neuseeländischer Soziologe; Demograph; Tönnies’ Assistent 347, 435, 449, 591, 596, 599, 608, 649, 652, 654 f., 657 Jaspers, Karl (1883−1969)*, dt. Philosoph 445 Jastrow, Ignaz (1856−1937), dt. Nationalökonom u. Historiker 160 f. Jellinek, Georg (1851−1911)*, dt. Staatsrechtslehrer 352 Jensen, Wilhelm (1837−1911), dt. Schriftsteller 473, 531 Jeß, Adolf (1804−1894), Onkel von Tönnies, heiratete 1840 Elisabeth Mau (1810−1886), eine Schwester von Tönnies’ Mutter 528, 533 Jess, Adolf Johann Ludwig ( bl. um 1930), Jurist im Auswärtigen Amt; Neffe von Tönnies 476 Jeß, Carl (1843−1925), dt. Jurist; 1905 Senatspräsident beim Reichsgericht. Student in Jena 532

Personenregister Jeß, Theodor (1847−1926), dt. Jurist; 1900 Landesgerichtsdirektor in Marburg/L. Student in Jena 532 Jesus Christus (0−33)* 16, 47, 61, 71−74, 102 f., 105 f., 255, 260 f., 302 f., 312−316, 318, 322−324, 331, 334, 363, 366, 371, 626, 647 Joachim I. Nestor (1484−1535)*, Kurfürst von Brandenburg 264 Joachim von Fiore (von Floris; Ioachimus Abbas) (um 1130−1202)*, ital. Theologe, Mönch u. Ordensgründer 68, 71 f., 105, 285, 618, 626 Johann Georg I. (1585−1656)*, Kurfürst von Sachsen 265 Johann (Hans) I. (1801−1873)*, König v. Sachsen (1854−1873) 515 Johann ohne Land (1167−1216)*, engl. König 238 Johannes (bl. Ende des 1. Jhdts.)*, Evangelist 69, 71 f., 165, 366 Johann(es) von Parma (Parmensis) (1208− 1289), Ordensgeneral der Franziskaner; 1255 wegen seiner Zugehörigkeit zum rigoristischen Flügel des Ordens, den Spiritualen, zur Abdankung genötigt 68, 72, 285 Josua, Gestalt des AT, Nachfolger Moses’ 311 Junius Alter [Pseud.] → Sontag, Franz Jurkat, Ern(e)st (1904−1994), dt. nordamerikanischer Soziologe u. Unternehmer, Tönnies’ Assistent, 1938 nach den USA emigriert 275, 291, 389, 435, 437, 444, 596, 599, 608, 639−641, 645, 651, 654, 658 Kähler, Wilhelm (1905−1995), dt. Arbeiterintellektueller u. Initiator d. FerdinandTönnies-Gesellschaft 434, 650 Käsler, Dirk (1944− ), dt. Soziologe 655 Kahl, Wilhelm (1849−1932)*, dt. Jurist 201 Kallsen (geb. Schenk), Christine (bl. um 1865), vmtl. Ehefrau von Otto Kallsen, war mit Tönnies befreundet 420 Kallsen, Otto (1822−1901), dt. Pädagoge, Conrector u. Lehrer an der Husumer Gelehrtenschule u. Freund Tönnies’ wäh-

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rend dessen Altonaer Zeit 420, 518, 520, 525 Kant, Immanuel (1724−1804)* 35, 37 f., 40, 59, 43, 55, 78, 85, 95, 283 f., 345, 352, 355, 500, 539, 618, 642 Kapp, Wolfgang (1858−1922)*, dt. Politiker 121, 135, 385 Kappe, Dieter (bl. um 1965), dt. Soziologe 295, 606 Karl I. (der Große) (768−814)* 137 Karl I. (1600−1649)*, engl. König, vmtl. Sohn Jakobs I. 242, 244 f. Karl II. (1630−1685)*, engl. König, ältester Sohn Karls I. 245, 325, 341 Karl IV. (1887−1922)*, Kaiser von Österreich u. König von Ungarn 142 Karl X. (1824−1830)*, frz. König 246 Karl XII. (1697−1718)*, schwed. König 263 Karl Alexander (1818−1901), Großherzog von Weimar 536 Kaspers → Caspers Kaufmann, Heinrich (1864−1928)*, dt. Schriftsteller, ursprünglich Lehrer, war führend in den dt. Konsumgenossenschaften der Hamburger Richtung (Zentralverband dt. Konsumvereine) 223 f., 226 Kaupp, Peter (bl. 1996), dt. Sozialwissenschaftler 531 Kautsky (Kautzky), Karl (1854−1938)*, dt. Sozialist u. Biograf Engels’ 150 (von) Kaysersberg, Johannes Geiler (1145− 1510)* 528 Keck, Karl Heinrich (1824−1895), Nachfolger Gidionsens als Rektor der Husumer Gelehrtenschule, nachdem dieser an die Domschule Schleswig versetzt worden war, von der Keck kam 525, 527 Keck, Otto (1855−1880), Sohn Karl Heinrich Kecks u. Freund Tönnies’. Er erlag in Neapel am 28. Juli dem Typhus, den er sich wohl auf einer Reise durch Griechenland zugezogen hatte 525 f., 529 Keim, Karl Theodor (1825−1878), dt. ev. Prof. der Theologie 371 Keller, Gottfried (1819−1890)*, schweiz. realistischer Dichter, dem Tönnies mit Grüßen

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Apparat

von Theodor Storm 1880 einen Besuch abstattete 548 Baron de Kelles-Krausz, Casimir (1872−1906), poln. Soziologe 274 Kepler (Keppler), Johannes (1571−1630)*, dt. Astronom 342, 347 f. Kerner, Justinus (1786−1862)*, dt. Arzt u. Dichter 473 (Gf) Kessler, Harry [Harry Clemens Ulrich] (1868−1937), dt. Jurist, Diplomat, Kunstmäzen 651 Kiaer (Kjär, Kjaer), Anders Nikolai (bl. um 1904/05), norweg. Statistiker 398 f., 565 Kierkegaard, Sören Aabye (1813−1855)*, dän. Theologe u. Philosoph 107 Kinkel, Gottfried (1815−1882)*, dt. Schriftsteller 107, 473 Kirchhoff, Adolf (1826−1908), verfasste eine Arbeit über Herodot, die Tönnies studierte 540 Kjaer (Kjär) → Kiaer (von) Kleist, Ewald (1715−1759)*, dt. Dichter 473 (von) Kleist, Heinrich (1777−1811)*, dt. Dichter 473 Klopstock, Friedrich Gottlieb (1724−1803)*, dt. Dichter 473 Klose, Olaf (1903−1987), dt. Bibliothekar 607 Knapp, Georg Friedrich (1842−1926)*, dt. Nationalökonom, Geldtheoretiker, Statistiker (1867 Leiter des Statistischen Amtes Leipzig, Prof. in Leipzig 1869 u. Straßburg 1874; Mitbegründer des „Vereins für Sozialpolitik“ 571 Konrad, Johannes (bl. um 1924) 225 f. Kopernikus, Nikolaus (1473−1543)* 342, 347 Koeppen, Karl Friedrich (bl. um 1830), Sozialist 153 Köppen, Johann Friedrich (1775−1858)*, dt. Philosoph 153, 204, 342 Körner, Theodor (1791−1813)*, dt. Schriftsteller 473 Kortholt (Kordholt), Christian (1709−1751), Kieler luth. Theologe 359, 363, 365−367, 369−371

(von) Kotzebue, August (1761−1819)*, dt. Dichter 444 Krausz → Kelles-Krausz Kreusler, Wolrad (bl. um 1835), dt. Schriftsteller 523 Krohne (bl. um 1923), dt. Obermedizinalrat, Ministerialrat im preuß. Innenministerium für Volkwohlfahrt 567 Krüger (bl. um 1730), Prof. 366 von Kühlmann, Richard (1873−1948)*, dt. Diplomat u. Schriftsteller 118 Kühnl, Reinhard (1936− ), dt. Politologe 128 Kulemann, Wilhelm (1851−1926), dt. Jurist 191 Kulischer, Josef (1878−1934), Wirtschaftshistoriker 581 Kurz, Herrmann (1813−1873)*, dt. Schriftsteller 473 (de) Lagarde [Bötticher], Paul Anton (1827− 1891)*, Orientalist u. Kulturphilosoph 103 Lamprecht, Karl (1856−1915)*, dt. Historiker, Prof. in Leipzig 581 Lange (bl. um 1933), dt. Polizeioberst 651 Langewiesche, Karl Robert (1874−1931)*, dt. Verleger 63 Lassalle, Ferdinand (1825−1864)*, dt. Sozialist 157, 214, 220, 455 f., 507, 522, 539 Lassen, Käte (1880−1956), dt. Künstlerin VI, XXIII Laud, William (1573−1645)*, Erzbischof von Canterbury (seit 1633) 244 Law, John (Lord of Lauriston) (1671−1729)*, engl. Finanzier u. Wirtschaftstheoretiker 357 Leemans, Victor (1901−1971), belg. Soziologe, Europaabgeordneter 464 Leibniz (Leibnitz), Gottfried Wilhelm (1646− 1716)*, 38, 278 f., 282, 347, 360 Leisewitz, Johann Anton (1752−1806)*, dt. Dramatiker 473 Lenau [Niembsch], Nikolaus, Edler von Strehlenau (1802−1850)*, Dichter 473

Personenregister Lenin [Uljanov], Wladimir Iljic (1870−1924)*, russ. revolutionärer Staatsmann 648 Lepsius, M. Rainer (1928−), dt. Soziologe 654 Lessing, Gotthold Ephraim (1729−1781)* 37 f., 68, 73, 159, 275−290, 610, 619, 626, 639 f. Leubuscher, Charlotte (1888−1961), dt. Staatswissenschaftlerin 190, 632 Leuthold, Heinrich (1827−1879)*, schweiz. Dichter 473 Lewes (Lewis), George Henry (1817−1878), engl. Politiker u. Publzist, der für Tönnies auf Ersuchen der Firma Trübner ein Gutachten verfassen sollte 542 Liebknecht, Karl (1871−1919)*, dt. sozialdemokratischer Politiker 120 Liebknecht, Wilhelm (1826−1900)*, dt. Politiker 157, 297, 433 (von) Lilienthal, Karl (1853−1927)*, dt. Strafrechtler 201 van der Linde, Antonius (1833−1897), ndl. Schriftsteller u. Bibliothekar 359 (von) Lingg, Hermann (1820−1905)*, dt. Schriftsteller 473 List, Friedrich (1789−1846)*, dt. Volkswirt 219 Ritter von Liszt, Franz (1851−1919)*, dt. Strafrechtler u. Kriminologe, Kriminalpolitiker 110, 201 Locke, John (1632−1704)*, engl. Philosoph 354, 355, 357 Lohmeier, Dieter (1940− ), dt. Germanist, schleswig-holstein. Landesbibliothekar, XXIII Lorenz, Ottokar (1832−1904)*, dt. Geschichtsforscher 528 Lotsch, Fritz (bl. um 1938), dt. Wirtschaftwissenschaftler u. Archivar im Institut für Weltwirtschaft in Kiel 605 Lovett, William (1800−1887), engl. Sozialpolitiker 154, 217 Lübker, Friedrich Heinrich Christian (1811− 1864), dt. Philologe, Theologe, Lehrer der Husumer Gelehrtenschule u. Leiter des Schulwesens im Herzogtum 518 (von) Ludendorff, Erich (1865−1937)*, preuß. General 115, 135, 142 f., 610, 631

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Ludwig XIII. (1601−1643)* 390 Ludwig XIV. (Roi soleil) (1638−1715)*, frz. König (seit 1643) 374, 390 Ludwig Philipp (Louis Philippe) (1830−1848), frz. König (der ‚Bürgerkönig‘) 246 Ludwig, Emil (1881−1948)*, Schriftsteller 473 Ludwig, Otto (1813−1865)*, dt. Schriftsteller 473 Lukács, Georg (1885−1971), Kulturphilosoph 655 Lukas (bl. um 80)*, Verf. des gleichnamigen Evangeliums u. der Apostelgeschichte im NT 227 Luther, Martin (1483−1546)*, dt. Reformator, Begründer des Protestantismus 16, 102−104, 255 f., 259−261, 276, 535 Lutz, Hermann (1881−nach 1957), dt. Historiker 141 Luxemburg, Rosa (1870−1919)*, sozialistische dt. Politikerin 120, 150 Lyall, Sir Alfred (1795−1865), engl. Philosoph u. Reisender 97−99, 544 Lyell, Charles (179−1875)*, schott. Geologe 19 Lysandros (Lysander) (?−395 v. Chr.)*, griech. Feldherr u. Staatsmann 538 Mac(c)hiavelli, Niccolò (1469−1527)*, ital. Philosoph u. Politiker 635 MacDonald, James Ramsay (1866−1937)*, engl. Premierminister., Labourführer 396 Mahomet → Mohamed Mahraun, Artur (1890−1950), dt. Politiker 135 Maier, Gustav (1844−1923), Schriftsteller u. Bankdirektor, Hg. der „Ethische Umschau“ 496 Maine, Sir Henry James Summer (1822−1888), engl. Jurist 487, 500, 544 Malthus, Thomas Robert (1766−1820)*, engl. Historiker u. Nationalökonom 220, 539, 576 (von) Maltzan, Mathilde (1858−1942), vmtl. zweite Frau von Ferdinand von BülowTrummer 535 Mann, Thomas (1875−1955)* 650 Frhr von Manteuffel, Otto Theodor (1809− 1882)*, preuß. Ministerpräsident (1850−

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Apparat

1858), Leiter einer reaktionär-bürokratischen Politik 442, 519 Maraun → Mahraun Marcard, Kurt (?−1914), Student; Tönnies’ Schüler 608 Maria Stuart (1542−1587)*, Königin von Schottland 244 Marr, Heinz (1876−nach 1923), Wirtschaftssoziologe 191, 632 Marx, Karl (1818−1883)*, dt. sozialistischer Theoretiker XIX, 23, 25, 152−156, 192, 231, 272−274, 394, 407 f., 432 f., 442, 484, 499, 542, 572, 575, 579, 617 f., 625, 640, 647, 649 Matthäus (bl. um 70)*, Apostel u. Evangelist 52 Matthießen, Ludwig (1830−1906), dt. Physiker, Lehrer an der Husumer Gelehrtenschule, später Prof. in Rostock. Machte sich mit physikalischen Studien über die Augen von Tieren einen Namen 518 (von) Matthisson, Friedrich (1761−1831)*, dt. Dichter 473 Mau, Charlotte → Trummer, Charlotte Mau, Friedrich (1850−1919), Vetter Tönnies’ u. Corpsstudent (Kieler Teutonia); studierte Theologie u. war später Hauptpastor in Marne 531 Mau, Heinrich (1842−1916), dt. Theologe, 1879 Pastor in Kiel (Hlg. Geist) 532 Mau, Heinrich August (1806−1850), dt. Theologe, seit 1836 Prof. der Theologie an der Universität Kiel, angesehener Exeget, Onkel Tönnies’ (ältester Bruder der Mutter) 532 Mau, Ida → Tönnies, Ida Mau, Johann August (1777−1861), dt. Theologe, Hauptpastor in Schönberg, Tönnies’ Großvater mütterlicherseits 510 Maudsley, Henry (1835−1918), engl. Psychiater u. Gerichtsmediziner in London. Tönnies hat wohl dessen „The Physilogy and Pathology of the Mind“ (1867 u. ö.) studiert 545 Maurenbrecher, Berthold (186−1943), dt. Philologe 60 f., 629 f.

Prinz Maximilian (Max) von Baden (1867− 1929)*, dt. General, preuß. Ministerpräsident u. letzter Reichskanzler d. dt. Kaiserreiches 120 Mayer, Gustav (1871−1948), dt. Biograph von Friedrich Engels 155 (von) Mayr, Georg (1841−1925), dt. Statistiker 468 Mazarin, Jules [Mazarini, Guilio], Herzog von Nevers (1602−1661)*, frz. Staatsmann u. Kardinal 450 Mehring, Franz (1846−1919)*, dt. Politiker u. Schriftsteller 150 Melanchton [Schwarzerdt], Philipp (1497− 1560)* 276 Mendelssohn, Moses (1729−1786)* 38, 276, 280, 283 f. Mersenne, Marin (1588−1648)*, frz. Mathematiker u. Musiktheoretiker 342 Mestern, Hugo (1852−1877), vmtl. Hamburger Kaumann, Sohn des Heinrich Mestern (1825−1910), Kaufmann zu Hamburg u. Inhaber der Firma „Heinrich Mestern u. del Sar“. Freund des ältesten Bruders von Tönnies 535 Meyer, Conrad Ferdinand (1825−1898)*, schweiz. Dichter 473 Meyer, Gustav (bl. um 1890), Anstaltsarzt in Fuhlsbüttel; Tönnies schätze ihn sehr 550 Michelangelo Buonarotti (1475−1564)* 252 Michels, Robert(o) (1876−1936), dt.-ital. Soziologe 221 f., 633 f. Mill, John Stuart (1806−1873)*, engl. Philosoph 22, 220, 539 (von) Miquel, Johannes (1828−1901)*, dt. Staatsmann u. Rechtsanwalt 422 Gf Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti (1749−1791)*, Staatsmann der Französischen Revolution 204 Mittermaier, Karl Josef Anton (1787−1867)*, dt. Kriminalist 200 Mohamed [Abu ’l-Kasim Muhammad ibn ‘Abd Alaah] (um 570−632)*, Stifter des Islam 155, 363

Personenregister Mohr, Arno (1949− ), dt. Politologe u. Historiker, Hg. von TG 9 XXIII Molesworth, William (1810−1855), engl. Parlamentarier; gab 1841−1845 die erste vollständige Ausgabe von Hobbes heraus, die Tönnies unter Verbesserung der darin enthaltenen Fehler hg. wollte, als er in den Ferien zu Beginn seiner Studien in Philosophie u. politischer Ökonomie in London verweilte 542 Molière, Jean Baptiste Poquelin (1622− 1673)*, frz. Komödiendichter 355 f. Mommsen, Theodor (1817−1903)*, dt. Historiker u. Politiker; Tönnies las dessen ‚Römisches Staatsrecht‘ 540 Mönckeberg, Carl (1873−1939), dt. Jurist, Herausgeber der Wochenschrift ‚Der Lotse‘ 420 Montesquieu, Charles de Secondat, Baron de la Brède et de (1689−1755)*, frz. Schriftsteller u. Staatsdenker 236 Gf Montgelas, Max(imilian) (1860−1938), bayr. General, Völkerrechtler, Historiker, Politiker 141 Morgan, Lewis (1818−1881)*, engl. Ethnologe 24, 617, 619 Mörike, Eduard (1804−1875)* 473 Morin, Folcherus (bl. um 1709), schwed. Historiker u. Philosoph 359 Moses (um 1225 v. Chr.)*, Gestalt des AT, Befreier der Israeliten 99, 252, 311, 313, 330, 363, 366−368, 370 Mulert, Hermann (1879−1950), dt. Theologe 411 Müller, Friedrich Max (1823−1900), dt. Indologe, Sprachforscher u. Religionswissenschaftler dt. Herkunft; Professor in Oxford, auf Einladung in Straßburg; Mitherausgeber der Briefe Schillers an Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg 528 Müller, Johann Joachim (bl. um 1596), Theologe 363 Münzer (Müntzer), Thomas (1486 od. 1489/90−1525)*, Theologe u. Revolutionär 260

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Murray, James Augustus Henry (1837− 1915)*, engl. Philologe u. Lexikograph 204 Musäus, Johannes (1613−1681)*, ev. Theologe 362 f. Mussolini, Benito (1883−1945)* 95, 123, 428 (von) Nägeli, Karl Wilhelm (1817−1891), schweiz. Botaniker 544 Napoleon I. Bonaparte (1769−1821)*, frz. Kaiser (1804−1814/15) 204, 246, 374, 394, 456, 524 Napoleon III. [Charles Louis Napoleon] (1808−1873)*, frz. Kaiser 156, 297, 299, 523 Natorp, Paul (1854−1924)*, dt. Philosophiehistoriker 53, 177 f. Naumann, Friedrich (1860−1919)*, dt. Politiker 101, 345, 641 Necker, Jacques (1732−1804)*, frz. Staatsmann 203 Newton, Sir Isaac (1643 (42)-1727)* 37, 347 Niebuhr, Barthold Georg (1776−1831)*, preuß. Historiker u. Staatsmann 204 Nietzsche, Friedrich (1844−1900)* 549, 610 Nikolaus II Alexandrowitsch (1868−1918)*, russ. Zar 172, 237 Nipperdey, Karl Ludwig (1821−1875), dt., Philologe zur Studienzeit Tönnies’ 532, 536 Nissen, Carl (bl. um 1871), studierte Medizin u. war Corpsstudent (Arminia); Landsmann Tönnies’ u. Bruder von Hermann Nissen 532 Nissen, Fritz (1849−1909), als Prediger in Flensburg verschieden; guter Freund Tönnies’ u. Liebling des Hauses Tönnies. Seine Tochter war verheiratet mit Dr. Harms, einem Arzt aus Eutin 524 Nissen, Hermann (1855−1914), Jurastudent u. Bruder von Carl Nissen; wie dieser Landsmann von Tönnies u. Corpsstudent (Arminia). Er besuchte als Schüler das

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Apparat

Katharineum u. war später Schauspieler 532 f., 537 Prinz von Noer, Friedrich (1800−1865), Höchstkommandierender der schleswigholsteinischen improvisierten Armee 511 Noske, Gustav (1868−-1946), dt. Politiker 121 Olden, Rudolf (1885−1940), dt.Jurist; Journalist 651 Oldenberg, Hermann (1854−1920), dt. Indologe 63 Oldenburg, Henricus (Heinrich, Henry) (um 1615−1677), Bremer/engl. Diplomat; Sekretär der Royal Society 369 f. Olshausen, Justus (1800−1882)*, dt. Orientalist; gilt als Neubegründer der philologischen Kritik am AT 111 Oppenheimer, Franz (1864−1943), dt. Volkswirt, Soziologe 633 Orsini, Felice (1819−1858), versuchte 1858 Napoleon III. als Hindernis für die ital. Einigung zu töten 156 Ovid (Publius Ovidius Naso) (43 v. Chr.−7 n. Chr.)*, röm. Dichter 84 f. Owen, Robert (1771−1858)*, engl. Sozialist u. Sozialreformer 23, 575 (da) Palestrina, Giovanni Pierluigi (1525− 1594)*, ital. Komponist 44 Pape, Emmarenzia Lucie (1843−1877), erste Gattin von Harald Höffding 61 (von) Papen, Franz (1879−1969)*, dt. Politiker, Reichskanzler 427−430 Pareto, Vilfredo (1848−1923)*, ital. Soziologe 633 (von) Parma, Johann(es) → Johann von Parma Pascal, Blaise (1623−1682)*, frz. Philosoph, Mathematiker u. Physiker 203 Paulsen, Friedrich (1846−1908), dt. Pädagoge u. Philosoph, hervorgetreten als Bildungsu. Universitätshistoriker 395, 444, 495, 500, 539 f. Paulssen, Anton (bl. um 1875), Fuchsmajor zur Tönnies Studienzeit (2. Semester), stammte aus Weimar 536

Paulus (um 10−64/67)*, Verf. d. Paulus-Briefe im NT 188, 302, 313, 330, 340, 342 Peel, Sir Robert (1788−1850)*, brit. Staatsmann 213 Penzig, Richard → Penzig, Rudolph Penzig, Rudolph (1855−1931), Dozent an der Freien Hochschule Berlin, Pädagoge u. Schriftsteller, Herausgeber der Zeitschrift „Ethische Kultur“ 609 Perthes, Klemens (Clemens) Theodor (1809− 1867), dt. Jurist 392 Petersen, Eugen (1863−1919), dt. Pädagoge u. Archäologe, Lehrer an der Husumer Gelehrtenschule, später in vielen Stellungen als archäologischer Prof.; ging 1869 oder 1870 nach Plön; stand der Familie Tönnies nahe 518 f., 521 Petersen, Wilhelm (1835−1900), Regierungsrat in Schleswig u. Freund Gottfried Kellers 548 Petrus (aramäisch Kephas, beides Fels, ursprünglich Simon) (?−zw. 64 u. 67), Apostel Jesu 252, 255, 340 Pfau, Ludwig (1821−1894)*, dt. Politiker u. Schriftsteller 473 Philipp II. (1527−1598 )*, span. König 449 Philippi → Sleidanus Pieper, Josef (1904−1997)*, dt. Philosoph 583−587, 611 Pilatus, Pontius (26 v. Chr.−36)*, röm. Prokurator von Judäa 165 Piper → Pieper Pirce → Pierce Pitt, William (d. Ältere), erster Earl of Chatham (1708−1778)*, brit. Staatsmann 452 Pitt, William (d. Jüngere) (1759−1806)*, brit. Staatsmann 246 Gf von Platen Hallermund (Hallermünde), August (1796−1835)*, dt. Lyriker 473 Platon (Plato) [Aristokles] (427/8−47/8 v. Chr.)* 51, 160, 363, 480, 507, 521 f., 618 Plenge, Johann (Max Emanuel) (1874−1963), dt. Prof. für Wirtschaftslehre, Staatswissenschaften u. Soziologie 585−588 Plinius (d. Jüngere), Gaius P. Caecilius Secun-

Personenregister dus (61/ 62−etwa 113)*, röm. Schriftsteller u. Politiker. 159, 366 Pochhammer, Paul (bl. um 1900), DanteForscher 496 Polley, Rainer (bl. um 1980), dt. Archivar 507, 658 f. Pollock, Sir Frederick (1845−1937), engl. Jurist u. Gönner Tönnies’ 38, 544 Posse, Ernst (bl. um 1925), dt. Redakteur, Hauptschriftleiter der Kölnischen Zeitung 638 Potocki, Josef Karol (1854−1898), poln. Soziologe 274 Potter, Beatrice → Webb, Beatrice Potthoff, Heinz (1875−nach 1923), Sozialwissenschaftler 194 Predöhl, Andreas (1893−1974), Staatswissenschaftler 605 Predöhl, Max (1854−1923), dt. Rechtsanwalt, Senator u. Bürgermeister der Freien u. Hansestadt Hamburg, Freund Tönnies’ 535 Prutz, Hans (1843−1929), dt. Historiker; 1877−1902 Prof. in Königsberg 443 f. Pythagoras (?− um 497/496 v. Chr.)* 56 Pyrrhos II (319−272 v. Chr.)*, König von Epirus 424 Quetelet, (Lambert) Adolphe (Jaques) (1796− 1874)*, belg. Astronom u. Statistiker; 1841 Direktor der belg. statistischen Zentralkommission; moral- u. kriminalstatistische Arbeiten. Tönnies beschäftigte sich mit ihm 544 Raabe, Wilhelm (1831−1910)*, dt. Erzähler 473 Rachel, Samuel (1628−1691), dt. Jurist u. Staatsmann 368 Rambaud, Alfred Nicolas (1842−1905), frz. Historiker 576 Rammstedt, Othein (1938− ), dt. Soziologe, Hg. d. Simmel-Ausg. 459 (von) Ranke, Leopold (1795−1886)*, dt. Geschichtsschreiber 19, 266, 353, 581 (von) Raumer, Karl Otto (1805−1859), preuß. Beamter; 1850−1858 Kultusminister im Ministerium Manteuffel; streng konservativ

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u. von prostestantisch-orthodoxer Gesinnung 442 Rautenberg, Heinz (1904−?), Bibliothekar, Historiker 607, 612 Rée, Paul (1849−1901), dt. Philosoph; beeinflusste Nietzsches Moralphilosophie; war mit Tönnies bekannt 549, 633 Rembrandt, Harmensz van Rijn (1606− 1669)* 530 Reuter, Friedrich (1843−1923), dt. Pädagoge, ging von seiner fränkischen Heimat nach (alt)philologischem Studium nach Holstein, arbeitete dort als Lehrer u. Oberlehrer an der Kieler Gelehrtenschule, später in Glückstadt u. Altona bis 1902. Freund Tönnies’ währende dessen Altonaer Zeit 420, 540 f. Reuter, Fritz (1810−1874)*, niederdt. Schriftsteller 473 Gf zu Reventlow, Ernst (1869−1943)*, dt. Diplomat 135 Ricardo, David (1722−1823)*, engl. Nationalökonom 541, 576 Riehl, Aloys (1844−1924), lehrte 1895−1898 in Kiel; Friedrich Altholff versprach anlässlich Riehls Berufung an eine süddeutsche Universität diesem eine außerordentliche Professur für Tönnies (Soziologie), die Tönnies nie erhielt 548 Ritschl, Friedrich (1806−1876), lehrte lat. Grammatik zum Wintersemester 1873/74 in Leipzig, wo ihn Tönnies hörte 537 Ritter Hugo → Hugo, Gustav Robertson, George Croom (1842−1892), schott. Hobbes-Forscher; seit 1866 Prof. der Philosophie am University-College in London 542 (von) Rochow → (von) Rochow-Plessow (von) Rochow-Plessow, Hans (bl. um 1856), erschoss den Berliner Polizeipräsidenten von Hinkeldey im Duell 444 (von) Rodbertus[-Jagetzow], Carl (1805– 1875)*, dt. Volkswirt, staatssozialistischer Agrar- u. Sozialpolitiker, legte dar, dass bei steigender Produktivität die Lohnquote sinke, was zu Unterkonsumption (Nachfragerückgang) u. zu Absatzkrisen führe;

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Apparat

folgerte daraus eine konservativ-autoritäre Lösung 575 Roscher, Wilhelm (1817−1894)*, dt. Volkswirt; seit 1848 Prof. der Staatswissenschaften in Leipzig 220, 454, 461, 580 Earl of Rosebery, Archibald Philipp Primrose (1847−1929)*, brit. Premierminister (1894−1895) 609 Rosegger, Peter (1843−1918)*, österr. Schriftsteller 473 Rosenkranz, Karl (1805−1879)*, dt. Philosoph 204 Rosenstock[-Huessy], Eugen (1888−1973)*, dt. Kulturphilosoph, Soziologe 191 Rothe, Karl (1848−1921), Chef des Ministerialdepartements des Großherzoglichen Hauses Weimar; sächsischer Staatsminster 533, 536 Rousseau, Jean Jaques (1712−1778)*, frz. Schriftsteller 15, 20, 392, 623 Rückert, Friedrich (1788−1866)*, dt. Dichter u. Übersetzer 473 Rühland, Curt (1891−?), dt. Völkerrechtler 368 Rufus → Curtius Sachs, Hans (1494−1576)*, dt. Dichter 259, 289 Gf Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy (1760−1825)*, frz. Sozialtheoretiker 20, 73, 394, 396, 461, 617 f. [von] Salomé (verheiratet: Andreas Salomé), Lou [Louise] (1867−1937)*, russ. Schriftstellerin u. Psychoanalytikerin; seit 1883 mit Tönnies befreundet 549, 609, 633 Sartorius von Waltershausen, Georg (1765− 1828), verfasste als Zeitgenosse Adam Smiths einen dt. Auszug zu dessen „Inquiry into the nature and causes of the wealth of nations“. Tönnies las beides 542 (von) Sarwey, Otto (1825−1900), dt. Staatsrechtler, Verwaltungsjurist 396 (von) Saucken-Tarputschen, August (1852− 1932), starb als königlich-preuß. Staatsanwalt a. D., Rittmeister a. D., Rechtsritter des Johanniterordens; Corpsstudent der Alemannia, der später auch Max Weber angehörte 531

(von) Saucken-Tarputschen, Kurt (1826− 1890), freisinniger Abgeordneter u. Vater von August von Saucken-Tarputschen 531 Saul, (etwa 1020−1000 v. Chr.)*, erster König Israels 311 (von) Savigny, Friedrich Carl (1779−1861)*, dt. Jurist 487, 489, 500 f. Schacht, Horace Greely Hjalmar (1877− 1970)*, dt. Bankier u. Reichsminister d. Finanzen 122 Schäfer, Arnold Dietrich (1819−1883), dt. Historiker, Prof. für Geschichte in Bonn, bei dem Tönnies eine Arbeit über Lysandros verfaßte 538 Schäfer, Leopold → Schefer, Leopold Schäffle (Schaeffle), Albert Eberhard Friedrich (1831−1903)*, dt. Volkswirt u. Soziologe 457, 464 Scheel, Otto (1876−1954), dt. Theologe 102 Schefer, Leopold (1784−1862)*, dt. Schriftsteller 473 (von) Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775−1854)* 35, 625 (von) Schelting, Alexander (1894−1963), dt. Soziologe; Redaktionsleiter vom Archiv für Sozialwissenschaft u. Sozialpolitik 583 Schenk (Schenck), August Friedrich Albrecht (1828−1901), dt. Maler 420 Schenk, Christine → Kallsen, Christine Schenk, Luise (bl. um 1887), Schrifstellerin u. Schwester von Otto Kallsen 420 von Schenkendorf, Max (1783−1817)*, dt. Lyriker 473 Scherer, Wilhelm (1841−1886)*, dt. Germanist 528 Schiele, Friedrich Michael (1867−1913), dt. Theologe XVII (von) Schiller, Friedrich (1759−1805)* 27, 48 f., 56, 62, 141, 170, 178, 449, 473, 641 (von) Schlegel, August Wilhelm (1767− 1845)*, dt. Kritiker, Literaturhistoriker, Übersetzer, Dichter, Orientalist 473 Schlosser, Friedrich Christoph (1776−1861)* 581

Personenregister Schlüter-Knauer, Carsten (1955− ), dt. Politologe u. Mit-Hg. der TG 435 Schmalenbach, Herman (1885−1950), dt.schweiz. Sozialphilosoph 585 Schmidt, Erich, (1853−1913), dt. Literaturhistoriker 284 Schmidt, Johann Hermann Heinrich (1834− nach 1913), dt. Gräzist, Verfasser einer „Synonymik der griechischen Sprache“ (1876−1886). An den Vorarbeiten zu diesem Werk arbeitete Tönnies in seiner Jugend mit 525 f., 529 Schmidt, Moritz (1823−1888), dt. Philologe während Tönnies’ Studienzeit 536 f. Schmidt, Raymund (bl. um 1922), Hg. einer Selbstdarstellung Tönnies’ im Felix Meiner Verlag Leipzig 524 Schmidt, Wilhelm Adolf (1827−1887), bei ihm hörte Tönnies im 2. Semester vier Stunden über Geschichtsphilosophie 536 (von) Schmoller, Gustav (1838−1917)* dt. Volkswirt u. Historiker 195, 541, 560, 581 (von der) Schulenburg (bl. um 1850), preuß. Offizier der Landwehr, der 1864 auf dem Hof Tönnies’ einquartiert war 517 Schopenhauer, Arthur (1788−1860)*, 159, 166, 170, 284, 539, 624, 626, 633 Schubert, Werner (1936− ), dt. Strafrechtler 201 Schultze, Ernst (1874−1943), dt. Ökonom, Rektor der Handelshochschule Leipzig 611 Schulz, Gretchen (bl. um 1860), Magd, bei der Tönnies lesen gelernt hat 513 Schwegler, Albert (1819−1857), Verfasser der ‚Geschichte der Philosophie im Umriß‘, die Tönnies wohl las während seiner Studienzeit 536 Scotus (Scottus) Erigena (Eriugena), Johannes (um 810−um 877), ir. Theologe u. Neoplatoniker 37 Seldte, Franz (1882−1947)*, dt. Politiker 134 f. Seneca, Lucius Aennaeus (um 4 v. Chr.−65)*, röm. Philosoph u. Dichter 31, 160 Severing, Carl (1875−1952)*, sozialdemokra-

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tischer preuß. Innenminister u. dt. Reichsminister des Innern 427 Shaw, George Bernard (1856−1950)*, ir. Dichter 405 Shakespeare, William (1564−1616)* 82 Sieck, Marie → Tönnies, Marie Gf Siéyès [Sieys], (Abbé) Emanuel Joseph (1748−1836)*, kath. Geistlicher u. frz. Staatsmann 204, 213 Sleidanus [Philippi], Johannes (1506−1556)*, dt. Geschichtsschreiber 16, 254 f. Smend, Rudolf (1882−1975), Jurist, Theologe, Staats- u. Kirchenrechtler 444 f. Smith, Adam (1732−1790)*, schott. Nationalökonom 218 f., 541, 547, 576 Sokrates (470−399 v. Chr.)* 68 Gf zu Solms[-Rödelheim u. Assenheim], Max(imilian Ludwig) (1893−1968), dt. Soziologe, von Tönnies promoviert, mit ihm befreundet, Stifter des Forscherheimes Assenheim 499, 585, 643, 657 Sombart, Werner (Friedrich Wilhelm Carl) (1863−1941)*, dt. Volkswirtschaftler u. Soziologe 459, 579, 581, 584 Sontag, Franz (Pseud. Junius Alter) (1883− 1961), polit. Schriftsteller 134−137 Sophokles (um 496−406 v. Chr.)*, einer d. drei großen gr. Tragiker 111, 521, 526 f., 529 Sörensen, Heinrich Johann Friedrich (1823− 1901), Pastor u. Onkel Tönnies’, verheiratet mit der jüngsten Schwester von Tönnies’ Mutter 522 Sorge, Friedrich Adolph (1828−1906), dt. Sozialist 408 Spann, Othmar (1878−1950)*, dt. Volkswirtschaftler, Philosoph u. Soziologe 489 Spencer, Herbert (1820−1903)*, engl. Philosoph 21, 38, 44 f., 361, 461, 617 Spethmann (bl. um 1876), dt. Jurist 541 Spieß, Edmund (bl. um 1871), Privatdozent für Theologie während Tönnies’ Studienzeit 534, 541 (de) Spinoza, Baruch Bendedictus (1632− 1677)* 35, 36−38, 74, 276 f., 280−286, 347 f., 359−371, 435 f., 462, 542, 611, 624 f., 641, 642, 651

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Apparat

Staudinger, Franz (1849−1921), dt. Genossenschaftspolitiker u. Gymnasialprofessor in Worms u. Darmstadt 178, 296, 619 Reichsfrhr vom u. zum Stein, Karl (1757− 1831)*, dt. Staatsmann 204 (von) Stein, Lorenz (1815−1890)*, dt. Staatsrechtslehrer, Nationalökonom 218, 394 f., 461 Steinmetz, Sebaldus Rudoph (Rudolf) (1862− 1940)*, ndl. Soziologe 493 Steuk (bl. um 1919), Sekretär der Liga der Nationen 631 f. Stilke, Georg (bl. um 1934), dt. Verleger 478 Stifter, Adalbert (1805−1868)*, österr. Dichter u. Maler 473 Stinnes, Hugo (1870−1924)*, dt. Industrieller (Stinnes-Konzern) 191 f. Stolypin, Peter Arkadjevic (1862−1911), russ. Staatsmann 172 Storm, Aemil Ernst Wilhelm (1833−1897), Arzt Tönnies’ u. Bruder Theodor Storms 520, 538 Storm, Ernst (1851−1913), Rechtsanwalt u. Justizrat, Sohn Theodor Storms 521, 541 Storm, Theodor (1817−1888)*, dt. Dichter 473, 520 f., 526, 528, 541, 548, 606, 609, 641 Strauss (Strauß), David Friedrich (1808− 1874)*, dt. Philosoph u. Theologe 153, 534 Stresemann, Gustav (1878−1929)* 195 Striefler, Heinrich (bl. um 1930), dt. Soziologe; Tönnies’ Schüler 658 Stubbs, William (1825−1901), engl. Historiker 16 Süßmilch, Johann Peter (1707−1767)*, dt. Pfarrer u. Statistiker 467 Tacitus, Cornelius (um 55−116)*, röm. Geschichtsschreiber 521 (de) Talleyrand, Charles Maurice (1754− 1838)*, frz. Staatsmann, Fürst von Benevent (1806−1815) u. (neapolitanischer) Herzog von Dino (seit 1815) 204 Tee, Tine (in Wirklichkeit wohl anders ge-

heißen) (bl. um 1860), Hausgehilfin der Mutter Tönnies’ 512 Thälmann, Ernst (1886−1944)*, dt. Politiker 413 f. Thomsen, Adolf Theodor (1814−1891), Ratmann u. Amtmann; wahrscheinlich Ehemann von Catharina (Tine), der älteren Schwester von Tönnies’ Vater, 419, 512 f., 516, 518 f., 522 f. Thomsen, Anton Ludvig Christian (1877− 1915), dän. Philosophiehistoriker 496 Thomsen, August Friedrich (1846−1920), Sohn des Onkels Tönnies’, Adolf Theodor Thomsen; Mitglied der preuß. Marine u. später Admiral der dt. Marine 519 Thomsen, Catharina → Thomsen, Tine Thomsen, Heinrich Christian (1810−1885), Physikus; Arzt der Familie Tönnies in Eiderstedt 538 Thomsen, Tine (geb. Tönnies) (bl. um 1850), ältere Schwester von Tönnies’ Vater, Ehefrau von Adolf Theodor Thomsen (seit 1838) 512 f. 522 Timm (bl. um 1931) 630 Tine → Thomsen, Tine (von) Tirpitz, Alfred (1849−1930)*, dt. Großadmiral 385 Titius, Arthur (1864−nach 1910), ev. Theologe 100 Gf de Tocqueville, Alexis Charles Henri Maurice Clérel, (1805−1859)*, frz. Geschichtsschreiber u. Politiker 273 Tönnies, August Ferdinand (1822−1883), Vater Tönnies’ 510 f., 514, 517, 520, 523, 529−531, 548 Tönnies, August Karl Christian (1864−1909), Rechtsanwalt, Tönnies’ jüngster Bruder 517 Tönnies, Geert Cornils (1814−1883), Onkel Tönnies’ 510 f., 516, 529, 548 Tönnies, Ferdinand (1855−1936)* passim Tönnies (geb. Mau), Ida Friederica (1826− 1915), Mutter Tönnies’ 510 f., 516 f., 521, 526, 528, 549 Tönnies, Jan Friedrich (1902−1970), Physiker, Unternehmer, Tönnies’ zweitältester Sohn 605 f., 608

Personenregister Tönnies, Johannes Gert Cornils (1851−1928), Tönnies’ ältester Bruder 530 Tönnies, Marie (1865−1937), Ehefrau von Ferdinand Tönnies 549 Tönnies, Wilhelm Theodor (1853−1923), Landwirt in Ostholstein u. Bruder Ferdinand Tönnies’ 203, 513, 517, 535, 542 Tönnies(-Heberle), Franziska (1900−1997), Tönnies’ älteste Tochter, Ehefrau von Rudolf Heberle 223, 596, 598, 605 f., 608, 616, 652, 658 f. (von der) Traun, Julius [Alexander Julius Schindler] (1819−1885), österr. Jurist, Politiker u. Dichter 473 Trummer, Charlotte Dorothea (geb. Mau) (1816−1902), Tönnies’ Tante mütterlicherseits, zweite Ehefrau von Ferdinand Trummer 511, 526, 549 Trummer, Elisabeth (1848−1872), Kusine Tönnies’ 535 Trummer, Ferdinand (1794−1869), Ehemann einer der älteren Schwestern von Tönnies’ Mutter 511 Tylor, Edward Burnett (1832−1917)*, engl. Ethnologe 29, 619 Uhland, Ludwig (1787−1862)*, dt. Dichter u. Germanist 473 Uka, Walter (1947− ), dt. Literaturwissenschaftler 651 Vanini, Lucilio (Deckname Julius Caesar) (1584−1619)*, ital. Philosoph 359 (del) Verrocchio, Andrea (1436−1488)*, ital. Bildhauer u. Maler 252 Vicher (bl. um 1910), Theologe 103 Victoria (Viktoria) (1819−1901)*, Königin von Großbritannien u. Irland 211, 236 Vierkandt, Alfred (1867−1953)*, dt. Soziologe, Mitbegründer der dt. Gesellschaft für Soziologie, apl. Professor in Berlin 585 Villermé, Louis René (1782−1863), frz. Ökonom 468 Vischer, Friedrich Theodor (1807−1887)*, dt. Philosoph u. Schriftsteller 473 Voet (Voetius), Gijsbert (Gisbert) (1588− 1676), ndl. Theologe 369

711

Vogel, Jakob (bl. um 1620), Schriftsteller Vogt, Oskar (1870−1959)*, dt. Hirnforscher u. Freund Tönnies’ 527, 538 Volquardsen, Christian August (1840−1917), Professor für Geschichte, der die Quellen der Alexanderzüge nach Arian u. Curtius (Rufus) behandelte; an dessen Übungen nahm Tönnies teil 539 (de) Voltaire, François Marie Arouet (1694– 1778)*, frz. Schriftsteller 174, 204 Vorländer, Karl (1860−1928 )*, dt. Philosophiehistoriker 55, 354 Voss, Johann Heinrich (1751−1826), dt. Schriftsteller u. Übersetzer 473 Wagner, Adolph (Adolf) Heinrich Gotthilf (1835−1917)*, dt. Nationalökonom, ‚Kathedersozialist‘, der eine Lösung der sozialen Frage in staatsinventionistischen Maßnahmen sah; er wurde berühmt durch sein ‚Gesetz der wachsenden Ausdehnung der öffentlichen bzw. der Staatstätigkeiten‘. Tönnies besuchte im Wintersemester 1878/79 seine Übungen u. verfasste eine Arbeit über die soziale Frage im alten Griechenland. Er blieb Wagner bis zu dessen Ende verbunden 345, 395, 450, 541, 543, 641 Warburg, Agnes (bl. um 1895), gehörte zu den Hamburger Warburgs 420 Warburg, Albert (Abraham) (1843−1919), letzter Inhaber des Altonaer Bankhauses u. Kommunalpolitiker. Albert Warburg war mit Tönnies in dessen Altonaer Zeit befreundet. In dessen Haus wurden Dinners veranstaltet 420 Warburg, Gertrude (Gerta) Margaretha (1856−1943), Ehefrau von Albert Warburg Albert Warburg. Sie förderte künstlerische Bestrebungen u. Talente u. war mit Tönnies befreundet 420 Warburg, Pinchas (Pius, Pier) (1816−1900), Kommunalpolitiker 421 Warburg, Siegfried (bl. um 1895), Bankier 420 f. Gf von Wartenburg, York (Yorck) (bl. um 1850), preuß. Offizier der Landwehr, der 1864 auf dem Hofe Tönnies einquartiert war 516

712

Apparat

Waßner, Rainer (1944− ), dt. Soziologe XXIV, 649 Webb (geb. Potter), Beatrice (1858−1943)*, Gattin von Sidney Webb, die seit 1892 die meisten seiner Schriften mit ihm gemeinsam verfasste u. ebenfalls hervorragend in der Sozialpolitik tätig war 225 Webb, Sidney, Lord Passfield of Passfield Corner (seit 1929) (1859−1947)*, engl. Sozialpolitiker 225, 619 Weber, Max (1864−1920)* 118, 218, 291− 293, 387, 445, 459, 482, 504, 626, 633, 643 f. (von) Wegerer, Alfred (1880−1945)*, dt. zeithistorischer Publizist; war 1921−1936 Leiter der Zentralstelle für Erforschung der Kriegsursachen in Berlin 141 Weidemann, Ludolf (1849−um 1919), seit 1901 nach langer Privatlehrertätigkeit Pastor in Elmshorn, Schriftsteller 533 f., 536 Welcker, Friedrich Gottlieb (1784−1868), verfasste wohl ein Werk über gr. Mythologie, das Tönnies für sein Doktorexamen paukte 540 Westphal, Rudolph (1826−1992), dt. Gräzist, Verfasser einer Theorie der griechischen Rhythmik, an die sich wohl Johann Hermann Heinrich Schmidt anlehnte 526 von Westphalen, Ferdinand Otto Wilhelm (1799−1876); Verwaltungsbeamter; 1850− 1858 Innenminister im Ministerium Manteuffel. Er war einer der schärfsten Vertreter der preußischen Reaktion u. Schwager von Karl Marx, der mit seiner Schwester Jenny verheiratet war 442 Wiegandt, Ernst (bl. um 1930), dt. Verleger u. Buchhändler Wieland, Christoph Martin (1733−1813)*, dt. Dichter 204, 473 (von) Wiese (u. Kaiserswaldau), Leopold (1876−1969)*, dt. Soziologe 489, 584, 634 (von) Wilbrandt, Adolf (1837−1911)*, dt. Schriftsteller 473 Wilhelm I. (der Eroberer) (1027−1087)*, engl. König 237

Wilhelm I. (1797−1880)*, preuß. König (seit 1861), dt. Kaiser (seit 1871), Sohn von König Friedrich Wilhelm III 295, 379, 444, 520, 523 Wilhelm II. (1859−1941)*, dt. Kaiser u. König von Preußen (1888−1918); ältester Sohn von Friedrich III. u. Kaiserin Viktoria; heiratete 1881 Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg 117, 120, 127, 134, 138, 143, 172, 211, 430 Wilhelm III v. Oranien (1650−1702)*, König von England, Schottland u. Irland 384 Wilhelm IV. → Friedrich Wilhelm IV. Wilson, Thomas Woodrow (1856−1924), 28. Präsident der USA 124, 375 Wittenberger Nachtigall → Luther, Martin Frhr von Wolff, Christian (1679−1754)* 38, 278 f. Wolff, Wilhelm (1809−1864), dt. Sozialist 155 Wolgast, Ernst (1888−nach 1956) dt. Rechtsgelehrter 476 Wulle, Reinhold (Reinhard) (1882−1952), deutschnationaler Schriftsteller u. Politiker 135 Wullenwewer, Jürgen (um 1492−1537)*, Reformator 261 Wundt, Wilhelm (1832−1920), dt. Psychologe u. Philosoph, mit einer Kusine Tönnies’ verheiratet 495, 543 Würzburger, Eugen (1858−1938), Statistiker 399, 401 Wurzbacher, Gerhard (bl. um 1970), dt. Soziologe 606 Wuttke, Johann Carl Heinrich (1818−1876), Historiker u. Publizist 214 York von Wartenburg → (von) Wartenburg Young, Owen (1874−1919)*, amerik. Wirtschaftsführer 121 Zander, Jürgen (1939− ), dt. Soziologe u. Handschriftenbibliothekar, Mit-Hg. von TG 232 XX, XXIV, 455, 459, 612, 624, 639

Personenregister Zander-Lüllwitz, Brigitte (1941− ), dt. Germanistin u. Pädagogin, Mit-Hg. von TG 232 XXIV Zarncke, Friedrich Karl Theodor (1825− 1891)*, dt. Germanist; bei ihm hörte Tönnies dt. Grammatik 537 Frhr von Zedlitz, Joseph Christian (1790− 1862)*, Dichter 473 Zeller, Eduard (1814−1908), dt. Philosoph u. Theologe, gehörter der Tübinger Schule an,

713

gründete die ‚Theologischen Jahrbücher‘, Lehrer von Benno Erdmann 544 Zimmermann, Arthur (1864−1940), dt. Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt 1911− 1916 477 Zola, Émile (1840−1902)*, frz Schriftsteller 174 Zscharnak, Leopold (1877−1956), dt. Theologe XVII Zwingli, Ulrich (Huldrych) (1484−1531)*, Reformator der dt. Schweiz 255

Sachregister Die Wörter folgen einander alphabetisch; diakritische Zeichen werden dabei außerAcht gelassen (s. o. S. 661).

In diesem sog. ‚denkenden‘ Sachregister sind die Hinweise nicht nur mechanisch, sondern auch nach dem Urteil der Herausgeber geordnet, um den Intentionen und dem Kontext des tönniesschen Denkens Rechnung zu tragen. So wird etwa ‚Neue Botschaft‘ aufgeführt und zugleich auch die Verbindung zu ‚Parakletos‘. Umgekehrt findet sich bei ‚Parakletos‘ auch der Verweis auf ‚Neue Botschaft‘, so dass versucht wurde, den Zusammenhang der Gedanken deutlich werden zu lassen. Dieser Zusammenhang soll somit registerförmig wieder gegeben werden; diesem Zweck dienen auch eingeklammerte Verweise auf weitere Sachwörter. Die Anordnung zweigliedriger oder mehrgliedriger Schlagwörter richtet sich nach dem Substantiv. So erscheint ‚soziale Frage‘ unter ‚Frage, soziale‘. Abweichend von diesem Prinzip erscheinen nur wenige Wörter wie ‚öffentliche Meinung‘ und ‚Öffentliche Meinung‘ oder ‚Neue Botschaft‘ in der Reihenfolge Adjektiv-Substantiv. Zusammengesetzte und durch Komma getrennte Kennwörter folgen bei der Reihung den Kennwörtern, auf die mittels Doppelpunkt auf eine Verbindung hingewiesen wird. Wörter, die nicht der alphabetischen Reihenfolge dienen, sind kursiv gesetzt.

Aberglaube (s. a. Glaube, Hexenglaube) 310, 330, 361 Abkehr 14, 35 Abmachung 318 Abschaffung 6, 129, 137, 215, 242, 408 Abscheu 62, 88, 116, 168, 359, 388 Absolutismus 205, 213, 245, 270, 453, 454 Abstammung 83, 353 Abstammungslehre 544, 578 Abstraktion 21 Achtstundentag (s. a. Arbeiterschutz) 194, 195, 575

106,

384,

271,

192,

Achtung (s. a. Autorität, Ehre, Selbstachtung) 55, 61, 87, 130, 131, 206, 355, 428, 481, 534, 535 Ackerbau 13, 266, 576 Adel (s. a. Landesadel, Klasse) 14, 212, 213, 215, 237, 258, 259, 275, 390, 453 Afrika 369 Aggregatzustände 206 Agitation 138, 154, 216, 381, 414 f, 519, 563, 571 Ägypten 254 Akademie 501 Akteur 355 Aktiengesellschaft 530

716

Apparat

Aktiengesellschaften 395 Alkoholismus (s. a. Trunksucht) 58, 436 Alldeutsche 373, 374, 376, 377 Alldeutsche Blätter 374 Alldeutscher Verband 373, 374, 376, 377 Alleinherrschaft 261 Allgemeinheit 205, 393, 440 Altar 511 Alte 17, 19, 65 f., 73, 208, 213, 320, 322, 337, 361, 490, 534 Alter 6, 74, 91, 340, 398, 400, 503, 524, 528, 533, 546, 565 Altertum 95, 251, 253, 462 Altona 419, 420, 422, 547, 649 Altruismus 21, 227 Amerika 122, 141, 186, 246, 272, 373 f., 408, 478, 525, 561, 571 Amerika: USA 204 Amsterdam 420, 566 Amt 58, 313, 519 Analyse 69, 569 Anarchie 20, 443, 463 Anerkennung (s. a. Ehre) 85, 103, 267, 308, 315, 350, 462, 511, 525, 570 Angestellte(n) (s. a. Beamte) 180, 196, 224, 232, 396 Angriffskrieg 172 animalisch 11, 82 Annexion 296, 433, 553 Anpassung 223, 273 Ansehen 13, 81, 173, 204, 262, 353, 529 Anthropologie 355 Antichrist 16, 252, 255, 276 Antike 252, 571, 580 Antipathie 189 Antisemiten 118 Arbeit (s. a. Beruf) 6, 9, 13, 23, 33, 39, 47, 51, 57, 62, 73, 83, 156, 165, 174, 180, 184, 191−193, 195, 197, 212, 216 f., 219, 265, 284, 396, 399, 421, 457, 481, 483, 512, 538 f., 543, 545, 569, 571, 573 f., 576 f., 581, 588, 659 Arbeit: Wert der A. 22, 24, 212 Arbeit: Evangelium der A. 33 Arbeit, geistige 156 Arbeit, industrielle 646 Arbeit, körperliche 217, 512

Arbeit, moderne 646 Arbeit und Arbeiterfrage 581 Arbeiter 6, 152, 163, 180, 190, 192 f., 195 f., 216 f., 220, 224, 232, 384, 390, 395 f., 404, 407, 414, 427, 484, 512, 560, 562, 564, 573, 575 Arbeiter, ausländischer 564 Arbeiter, geistiger 196, 558, 562 Arbeiter, gelernter 562 Arbeiter, jugendlicher 193 Arbeiter und Angestellte 196 Arbeiterbewegung (s. a. Soziale Frage) 23, 191, 196, 212, 216 f., 246, 409, 433, 484, 501, 576, 579 Arbeiterklasse (s. a. Klasse) 6, 24, 48, 144, 154, 162, 179, 186, 189, 192, 194, 196, 297, 409, 429, 455, 575 Arbeiterpartei 384, 396, 404, 414, 427, 575 Arbeiterpresse 211 Arbeiterschaft 190, 194, 209 Arbeiterschutz 575 Arbeitsform 571 f., 574, 577 Arbeitskraft 216, 225, 231, 559, 569, 572, 574−577 Arbeitslehre 570, 572 Arbeitslohn 224 Arbeitslosigkeit 6, 194, 561 f., 576 Arbeitsrecht 576 Arbeitsteilung 231 f., 271 Arbeitszeit 193, 196, 216, 562 Argwohn 37, 360 Aristokratie 241, 243, 261, 383, 451 Arithmetik 369 Armee 142, 390, 431, 511 Armut 14, 230, 335, 394, 560 Arzt 184 f., 538, 550, 635−638 Asien 98, 254 Assoziation 348, 407 Astronomie 342, 356 Atheismus 36, 199, 207, 267, 277, 280, 310, 330, 349, 365, 368, 408, 536 Atheist 360 Athen 342, 508 Atomforschung 348 Aufgaben 57, 101, 219, 293, 409, 421, 456

Sachregister Aufhebung 144, 352, 443, 571 Aufklärung (s. a. Glaube) 22, 67, 71, 103, 105, 207, 212, 218, 275−279, 286, 290, 349, 359−361, 392, 409, 445, 478, 480 f., 638, 653 Auflösung 21, 98, 257, 284, 340 Aufrichtigkeit 336, 424 Aufruhr 143, 241, 380, 437 Auslegung 71, 98, 208, 302, 313, 317, 322, 333, 338, 368 Auslese 162, 390, 391, 531 Austausch 94, 231 f., 271 Australien 272 Auswanderung 552, 564 Autokratie 172 Autonomie 101, 236, 587 Autor 311, 323, 337, 362, 383 Autorität (s. a. Achtung) 29, 86, 96 f., 101, 106, 173, 191, 205, 207, 218, 241, 242, 263, 270, 302, 311, 312, 314, 317, 322, 330, 331, 333, 340, 345, 349, 351, 368, 370, 371, 441, 500, 518 Autoritäten 209 Baden 381, 402, 413 Balkankrieg 171 Bankiers 215 Bankwesen 9 Barmherzigkeit 40, 65, 227 Bauer(n) 15, 157, 198, 244, 260, 414, 429, 453, 547, 573 Bauernbefreiung 653 Bauernbund 380 Bauernkrieg 155, 260 Baukunst 253 Bayern 186, 402, 413, 431 Beamte (s. a. Angestellte) 160, 232, 560 Beamtentum 443 Bedürfnis 6, 32, 80, 87, 115, 175, 275, 391 Bedürfnisse 23, 161 f., 393, 475, 518 Befehl 92, 335, 439, 444 Begabung 138, 159 Begierde (s. a. Wesenwille) 106, 169 Begriff(e) 36, 66, 68, 90, 95, 110, 137, 149, 185, 204, 212, 228, 240, 255, 269, 281, 283, 307, 310, 314, 317, 327, 332 f., 343,

717

350, 352, 356, 362, 383, 385, 389, 391, 396, 405, 463, 464, 471, 481−483, 491 f., 504, 551, 583 f., 587 Begriffsbildung 583 f. Beharrung 31 Behörde 550 Bejahung 84, 318, 588 Bekehrung 103, 322 Bekenntnis 15, 32, 57, 256, 266, 268, 318, 334, 342 Beleidigung 110 f., 306, 311, 330, 433 Belgien 235, 369 Belohnung 106 Beobachtung 19−21, 51, 95, 152, 183, 204, 211, 273, 471, 553 Beredsamkeit 220, 369 Bergarbeiter 217 Bergbau 564 Berlin 121, 153, 162, 265, 380 f., 397, 401, 413, 431, 470, 477, 492, 518, 533, 538, 542, 557, 566, 568 Beruf (s. a. Arbeit) 10, 53, 58, 91, 94, 152, 160−163, 292, 487, 501, 533 Beschluss 314, 332 Beschlüsse 322 Besinnung 5, 388 Besitz 89, 96, 117, 137, 165, 190, 211, 271, 391, 395, 516, 561 Betrieb 216 Betriebsräte 192 Bevölkerung 29, 258, 264, 271, 387, 391, 399, 468, 551 f., 559, 563 Bevölkerungsbewegung 397, 401, 469 Bevölkerungsentwicklung 399 Bevölkerungsstatistik 468 Bewegung 23, 52 f., 115, 127, 151, 170, 186, 216, 237, 244, 253, 260, 271, 274, 282, 327, 341 f., 348, 373, 376, 387, 392, 397, 404, 408, 410, 424, 427 f., 446, 450, 452, 468, 523, 552, 564, 576, 579 Bewegung: Marxismus 149 Bewegung, geistige 66 Bewegung, nationale 135 Bewegung, nationalsozialistische 116, 119, 123, 126 Bewegung, soziale 215 Bewunderung 55, 117, 125, 360, 533

718

Apparat

Bewusstsein 6, 10, 31, 39, 51, 66 f., 252, 275, 291, 430, 439, 488, 527 Beziehungen 59, 157, 165, 180, 217, 238, 389, 449, 495, 584 BGB 161, 456 Bibel 322, 370 Bibliothek 528, 542 Bild 59, 91, 205, 320, 420, 440, 513, 561, 564, 566, 569 Bildung 11, 13 f., 25, 41, 51, 67, 79, 91, 116, 179, 190, 211, 228, 243, 257, 356, 380, 391, 395, 420, 443, 470, 510 Billigung 116 Biologie 464 Bischof 244, 267, 340 Bitte 48, 238, 308 Blasphemie 199 Boden (s. a. Grundbesitz) 9, 16, 31, 33, 53, 62, 91, 123, 129, 137, 153, 172, 177, 217, 232, 244, 262, 264, 352, 430, 433, 453, 461, 484, 508, 574 f., 581, 641 f. Bodenreform 129, 641 f. Bolschewismus 121, 129, 143, 151, 190, 196, 272, 388, 575, 648 Bonapartismus 455 Bonn 537 Börse 421 Böses (s. a. Gutes) 305 Bourbonen 243 Bourgeoisie 155, 196, 213, 216, 454, 484 Brandenburg 264, 470 Brasilien 420 Brauch 243 Braunschweig 381, 470 Bremen 401, 470, 566 Breslau 38, 413 Broschüre 376, 546 Brüderlichkeit 24 Buddhismus (s. a. Wiedergeburt) 47 Bulgarien 553 Bund 105, 298, 310, 312, 330, 350, 374, 389, 491, 534, 538 Bundesstaat 298, 491 Bürger 14 f., 63, 118, 242, 288, 309, 316, 333, 364, 375, 379, 437, 457, 473 Bürgerkrieg 92, 123, 126, 270, 296, 405, 437, 563

Bürgertum (s .a. Mittelklasse) 392 Burschenschaft(en) 531 Byzanz 252

212, 390,

Calvinist (s. a. Protestantismus) 102, 167 Cäsarismus (s. a. Diktatur, Faschismus, Führer, Hitlerbewegung, Nationalsozialismus) 131 China 97, 206, 339 Christ 39, 227, 252, 289, 302, 316, 318, 322, 333 f., 340 Christen 15, 39, 71, 104, 107, 199, 252−254, 260, 277, 302, 314, 316, 322 f., 325, 332 f., 339, 349, 365, 368, 370, 452 Christenheit 73, 107, 470, 492, 649 Christentum (s. a. Nächstenliebe, Trinität) 20, 29, 31, 39, 106 f., 149, 252, 260, 276, 284, 302, 384, 407, 409 f., 571, 645−649 Christus (s. a. Heiland, Menschensohn, Jesus) 16, 73, 102, 255, 261, 312, 314−316, 331, 333, 363, 366, 370 f. City 245, 384 Civilisation 217, 275, 457 Daily Telegraph 210 Dänemark 53, 237, 259, 263, 467, 509, 514, f., 553 Dasein (s. a. Selbsterhaltung) 138, 180, 283, 326, 328, 573, 594 Debatte 433 Deismus 280, 286 Dekalog 99, 311, 330 Dekremente 644 Demagogie 138 Demokraten 130, 432, 444, 446 Demokratie 10, 218, 247, 500 Denken 13, 21, 26, 32, 43, 56, 79, 82 f., 85, 87, 89, 90 f., 95, 107, 137, 162, 184−186, 208, 229, 233, 253, 260, 304, 312, 331, 360 f., 364, 374, 393, 396, 417, 483 f., 499, 502, 578 Denker 19, 116, 227, 276 f., 314, 348, 351, 353, 363 f., 394, 438, 463, 575 Denkmal 420, 581 Denkungsart 14, 16, 31, 33, 35−37, 58, 84, 90 f., 100, 111, 128, 137, 151, 207, 212 f.,

Sachregister 215, 218, 254, 267, 281, 292, 297, 364, 372, 394 f., 407, 415, 456, 479, 483, 489, 503, 520, 534, 572, 577 f. Denomination 480 Der Tag 468 Despotie 220 Despotismus 251, 299, 449 Determinismus 349 Deutsche 110, 120, 125, 129, 169, 177, 221, 257, 297 f., 347, 375, 380, 386, 388, 400, 440, 454, 537, 557 f., 566 Deutscher Bund 298 Deutsche Nation 263 Deutschland 31, 33, 37, 53, 129, 134, 141, 150 f., 177, 189, 194, 196, 204, 210, 213, 219, 220 f., 259, 278, 283, 295, 299, 346, 359, 374, 391, 393, 428, 433, 449, 452, 454 f., 463, 483, 500, 502, 515, 529, 552, 559, 561, 565, 570, 572, 576 f., 579 Deutschland: Drittes Reich 428, 446 Deutschland: Erwache 138 Deutschland: Österreich 123, 169 Deutschland: Presse 211 Deutschland: Preußen 519 Deutschland: Skandinavien 217 Deutschland: Sozialpolitik 197, 217, 225 Deutschland: Wirtschaft 191 f. Deutschnationale 118, 121, 381, 385, 433 Deutschnationale Volkspartei 118, 121, 433 Dialektik 154, 275, 409, 647 Dialog 521 Dichter 62, 84, 116, 275, 405, 471, 473, 521, 528, 533 Dichtung 252, 529 Dienstleistung 6, 231 Differenzierung 162 Diktatur (s. a. Cäsarismus) 272, 429 Diktatur des Proletariats 272, 429 Dissidenten 116 Dissolution 21 Dogma 29, 73, 102, 189, 205, 219, 252, 255 f., 280, 408 Dogmatik 29, 103, 276, 278 f., 360, 532, 547, 579 Dogmen 279, 318, 325, 334, 366, 370

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Dorf 10 Dorfgemeinde 24 Drama 247, 275, 286, 449 Dreieinigkeit 74, 280, 322 Dreiklassenwahlrecht 139 Drohung 129 Dualismus 238 Duell 444 Dynastie 127, 212, 243 Egoismus 33, 190, 227−233 Ehe 11, 28, 48, 51, 58, 323, 434, 452, 467, 473, 491, 511, 535 Ehebrecher 11 Ehen 397, 398, 551 f., 563 Ehescheidung 11 Eheschließung(en) (s. a. Heirat, Mutterschaft ) 213, 220, 398, 400 f., 552, 564, 643 Ehestand 400 Ehre (s. a. Achtung, Anerkennung) 13, 86, 109, 116, 118, 125, 140, 177, 201, 252, 305, 306 f., 309 f., 328, 329, 353, 369, 404, 444, 503, 510, 526, 541, 580 Ehrerbietung 131 Ehrfurcht 14, 40, 44, 56, 65, 88, 110, 267, 360 Ehrgefühl 111 Ehrgeiz 135, 292, 318, 334 Eigensinn 213 Eigentum 9, 23, 80, 117, 345, 346, 384, 456, 572, 641 f. Eigentumsbegriff 346 Einbildungskraft 39, 277, 428 Einheit 11, 21, 38, 73, 120, 149, 160, 206, 238, 252, 266, 314, 332, 391, 393, 431−433, 450, 464, 491, 502, 587 Einzelhandel 232 Eisenbahn 265, 522 Eitelkeit 58, 81, 110, 532 Ekel 82, 85, 90, 171 Elite 21 Elsass 528, 553 Elsass-Lothringen 433, 565 Embryo 11 Empfängnis 467, 469, 471 Empfindung 153, 213, 326, 479, 525 Empirismus 539

720

Apparat

Engel 319, 338, 349 England (s. a. Großbritannien, Manchestertum, Stuarts, Tudors) 16, 52, 124, 189, 204, 218, 247, 257, 261, 265, 277, 320, 325, 337, 340 f., 353, 359, 368, 373 f., 384, 390, 446, 451, 456, 504, 549, 552 f., 561, 575 England: Bewegung, soziale 576 England: Kapitalismus 152, 154 England: König 236, 244 England: Verfassung 237 f., 240−242, 248 Entartung 95 Entdeckungen 347, 542, 549 Enteignung 129, 345, 422 Entente 169, 172, 376 Entfremdung 11 Entstehen 162 Entwicklung 9, 11, 19−21, 23, 25, 40, 52 f., 66, 90, 99 f., 107, 126, 136, 141, 163, 171, 179, 187, 213, 215, 217 f., 224, 231, 239, 242, 248, 253 f., 257, 261, 263, 267, 270 f., 276, 284, 297, 299, 348, 375, 381, 386, 392, 397, 404, 409, 421, 451, 454, 457, 461, 479, 480, 482, 484, 489, 490, 492, 499, 502, 504, 524, 538, 544, 552, 569 f., 574 f., 577, 579 f. Entwicklung: Sozialpolitik, Deutschland 189−198 Epidemien 636 Epoche 20, 68, 152, 267, 274, 353, 394, 499, 504, 569, 574, 577 Erben 117, 246, 384 f. Ereignis 32, 183, 186, 248, 257, 269, 298 Erfahrung 19, 25, 51, 83, 90 f., 95, 126, 152, 180, 184, 208, 229, 232, 273, 283, 302, 311 f., 331, 335, 352, 376, 423, 463, 467, 469, 553 Erfindung 96, 335, 385, 457, 461 Erfüllungspolitik 119, 125, 139, 142 Erfurter Programm 150 Erhebung 22, 299 Erkenntnis 19, 21, 27, 33, 35, 43, 51, 53, 62, 68, 79, 85, 99, 104, 111, 122, 169, 173, 175, 178, 183, 189, 197, 206, 226, 233, 277, 285, 290, 292, 333, 339, 347, 363, 371, 392, 401, 432, 479, 483, 503, 578, 581

Erkenntnistheorie 500 Erklärung 144, 221, 256, 305, 313, 318, 327, 334, 338, 375, 482, 483 Erlösung 11, 102, 185, 321, 338 Ernährung 82, 197, 361, 563, 564 Eroberung 168, 173, 228, 374 Erziehung 11, 39, 51, 53, 55, 57, 73, 91, 193, 197, 228, 284, 286, 292, 404, 480, 490 Ethik 36, 61, 96, 100, 104, 227, 279, 364, 371, 459, 480 Etymologie 79, 537 Eugenik 52 Europa 97, 99, 106, 169, 196, 225, 235, 249, 374, 388, 394, 433, 515, 553, 571, 578 Europäer 5 Evangelium (s. a. Neue Botschaft) 14, 71, 72, 100, 111, 260, 285, 286, 450 Evolution 21, 580 Ewigkeit (s. a. Unsterblichkeit, Unendlichkeit) 35, 37, 44, 68, 74 f., 102, 104, 279, 307, 328, 370 Exekutive 243 Expansion 282 Export 561, 562 Fabrik 9, 219, 398, 572 Fabrikant 92 Fakultät(en) 161, 207, 446, 511, 532, 540, 548 Fälschung 10, 92, 173, 256 Familie 11, 28, 58, 62, 89, 152, 233, 295, 393, 509, 511, 519, 584, 587 Familienleben 6, 14, 57, 193, 421, 470, 584 Familienverhältnis, bürgerliches 646 Fanatismus 172, 215 Faschismus (s. a. Cäsarismus) 95, 428 Fatalismus 282 Feldherr 93 Feldzug 168, 429, 533 Fest 517, 531, 541 Feudalismus (s. a. Zünfte) 238, 384 Finanz 203 Finnland 259, 478 Fleiß 451 Flensburg 419, 516, 524 Florenz 508

Sachregister Flotte 120, 143 Flugschrift 157, 207, 217 Föderalismus 352 Forschung 62, 171, 183, 256, 279, 288, 407, 445, 468, 471, 542, 551, 575 Fortschritt 9, 20, 23, 63, 107, 141, 208, 215−217, 226, 244, 254, 271, 339, 391 f., 396, 429, 485, 503, 572 Frage, soziale 48, 191, 220, 236, 508, 543, 581, 635−638 Franken 413 Frankfurt am Main 422, 533 Frankreich 141, 145, 150, 167, 196, 204, 208, 213, 218, 225, 240, 243, 258, 262, 277, 297, 341, 374, 385, 390, 452, 454, 461, 520, 553, 557, 561, 576 Franziskaner 72, 285 Frau (s. a. Weib) 11, 48, 166, 190, 227, 236, 298, 404, 420, 477, 511, 512, 522, 524, 535, 537, 548, 583 Frauen 40, 47−49, 52, 57, 67, 81, 119, 123, 133, 139, 173, 177, 207, 224, 247, 259, 356, 395, 398, 400, 403, 417, 439, 455, 471, 490, 503, 546, 565, 583 Frauenfrage 236 Freidenker 68, 276, 279, 365 Freihandel 246, 452 Freiheit 20, 35, 43, 67, 117, 127, 175, 177, 204, 213, 220, 226, 248, 251, 277, 283, 302, 340, 353, 364, 369, 372, 376, 392, 408, 433, 449, 456, 457, 465, 480, 509, 571, 573, 587 Freiheit: Religion 265, 436, 443 Freiheit: akademische 435−447 Freiheit: politische 24, 303, 454 Freiheitsrechte 450 Freimaurer 287 Freimaurerei 289 Freizügigkeit 213, 450 Fremde 369 Fremder 265, 426, 588 Freude 94, 306, 470 Freundschaft 365, 495, 521, 535, 539 Frevel 111, 199 Friede(n) 21, 67, 118, 123, 131, 142, 177−179, 197, 208, 287, 305, 312, 331, 336, 376, 388, 403, 435, 516, 576, 631

721

Friedensvertrag 124, 140, 561 Frohnden 260 Frömmigkeit 13, 40, 258, 278, 356, 369, 409 f. Fruchtbarkeit 252, 565 Frühkapitalismus 574 Führer (s. a. Cäsarismus, Nationalsozialismus) 115, 120, 125, 143, 188, 192, 243, 251, 255, 264, 278, 293, 349, 404, 428, 454, 587 Führung 120, 135, 187 f., 422 Furcht 81, 82, 86 f., 89−91, 94, 106, 109 f., 199, 276, 304 f., 308, 310, 315, 329 f., 335, 349, 352, 361, 388, 463 Fürsorge 53 Fürst 14, 253, 265, 316, 333, 375, 379, 431 Fürsten 51, 134, 137, 204, 214, 235, 264, 277, 290, 298, 317, 333, 357, 379, 390, 449, 476 Gebet 47, 185, 309, 329 Gebot 15, 208, 362 Gebrauchswert 23 Geburt 97, 298, 467, 469, 471, 509 f., 517, 535, 574 Geburten (s. a. Nachkommenschaft) 397 f., 401, 467 f., 472, 564 Geburtenrückgang 398, 401 Geburtenüberschuss 397 Gedächtnis 83, 90, 133, 138, 295, 298, 326, 463 Gedankenwelt 25, 151, 153, 409 Geduld 65 Gefallen 84, 249, 292, 463 Gefühl 21, 43, 55, 59, 82, 95, 111, 119, 153, 162, 173, 174, 204, 289, 529 Gegensatz 463, 482, 487 f. Gegenwart 15, 100, 153, 178, 310, 320, 330, 457 Gegnerschaft 270, 298 Gehorsam 65, 206, 267, 302, 306, 309, 315, 318 f., 322, 334, 336 f., 439 Geist (Parakletos) 83, 96, 104 f., 143, 149, 153, 180, 187, 220, 224, 229 f., 233, 252−254, 257, 261, 278, 281, 319, 338, 347, 349, 351, 354 f., 361, 366 f., 393,

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Apparat

428, 461, 471, 481 f., 524, 581 Geist: Neuzeit 492 f., 608 Geist: heiliger 3−75, 322 Geist der Neuzeit 492 Geistesgeschichte 365 Geistesleben 37 Geistlicher 53, 260 Geistlichkeit 14, 67, 137, 240, 259, 384, 390, 411, 511 Geld 94, 100, 232, 264, 522, 527, 536 Geldwesen 6, 215 Geldwirtschaft 241, 451 Gelehrte 160, 195, 220, 284, 417, 450, 475, 496, 548, 570, 581 Gemeinde 23, 39, 40, 44, 47, 49, 51, 53, 57, 61, 94, 105, 177, 194, 253, 267, 364, 421, 440, 490, 514 Gemeinden 47, 61, 73, 127, 241, 244, 253, 257, 262, 322, 349, 562 Gemeindesozialismus 33 Gemeineigentum 24 Gemeinschaft (s. a. Gesellschaft, Wesenwille) XIX, 11, 15, 27, 33, 40, 47, 52, 61, 74, 100, 178, 227, 229 f., 355, 389, 463, 482 f., 487, 489, 495, 499, 501, 505, 567, 573, 583 f., 586, 588 Gemeinschaft und Gesellschaft 487, 495, 499, 573, 586 Gemeinschaftsgeist 180, 230, 233 Gemeinwesen 33, 185, 237, 302, 319, 324, 330, 334, 337, 350, 364, 371 Gemüt 38, 58, 79, 86, 92, 185, 228, 280, 380, 537 Generalstände 241 Generation 17, 91, 140, 170, 196, 224, 396 Genf 258, 324, 403 Genie 55, 83, 153 Genius 84, 155 Genossenschaft(en) 57, 180, 187, 201, 223, 227, 231 f., 389, 464, 484, 548, 583 Genossenschaftswesen 33, 180, 187 f., 225 f. Genuss 93, 350, 559 Geographie 517 Gerechtigkeit 54, 102, 133, 167, 189, 219, 292, 302, 308, 371, 404, 407 f., 436

Gericht 16, 85, 87, 170, 189, 240, 252, 312, 331, 456, 541 Gerichtsbarkeit 244, 509 Gerichtshof 58, 203, 240 Gesamtkörper 226 Geschäftsmann 95 Geschichte 19, 20, 43, 56, 71, 100, 121, 137, 140, 154, 171, 237, 254, 256, 295, 310, 330, 353, 364, 394, 421 f., 433, 445, 461, 520, 525, 527, 534, 536, 540, 570, 576 Geschichtsforscher 168 Geschlecht 74, 81, 92, 401 Geschmack 82, 531 Geschwindigkeit 98 Geselligkeit 58, 526 Gesellschaft (s. a. Gemeinschaft, Kürwille) XIX, 20, 49, 51, 93, 108, 111, 153, 162, 177, 196, 209, 227, 229−231, 271, 287, 317 f., 333, 336, 355, 388, 389−391, 395, 396, 410, 456, 459 f., 463, 477, 482 f., 487, 489, 490, 495, 499, 501, 513, 526, 537, 569, 571, 573−575, 577, 584, 586, 588 Gesellschaft für Rassenpflege 636 Gesellschaftsordnung 180, 186, 187, 232 Gesetz 59, 95, 145, 196, 239, 274, 302, 304, 309, 311 f., 322, 324, 329, 331 f., 350, 353, 395, 443, 490 Gesetzgeber 100, 316 Gesetzgebung 6, 48, 96, 101, 185, 219, 239, 248, 267, 349, 352, 395, 437 f., 441, 443, 487, 500, 505, 576, 579 Gesetzmäßigkeit 285, 292, 387 Gesittung 5, 7, 14, 25, 31, 58, 95, 262 Gesundheit 51, 526, 543, 635−638, 655−657 Gewalt 39, 61, 90, 170, 183, 241, 249, 253, 261, 266, 270, 301, 309, 311, 314, 316 f., 321 f., 324, 329, 332 f., 340, 351, 371, 436, 438, 463 Gewerbe 231, 233, 262 Gewerbefreiheit 213 Gewerkschaften 190, 192 f., 195, 410, 462, 484, 563 Gewerkvereine 217 Gewinn 13, 60, 89, 92, 116, 230 f., 318, 564 Gewinnstreben 228

Sachregister Gewissen 11, 40, 43, 78 f., 82 f., 85−88, 90 f., 96, 101, 104, 106−109, 111, 174, 228, 302, 340 Gewissensfreiheit 213, 258, 265, 302 Gewohnheit 88, 463, 489 Gewohnheitsrecht 237, 244, 260, 489 Glaube 10, 32, 47, 66, 72, 96, 97, 99, 101, 104 f., 107, 143, 174, 185, 187, 208 f., 252, 261, 297, 302, 304, 318, 333, 335 f., 349, 410, 534 Glauben (s. a. Aberglaube, Aufklärung, Wissen) 27, 29, 32, 48, 57, 68, 96 f., 99, 102, 104 f., 107, 174, 178, 184, 187, 202, 243, 255, 266 f., 276, 278, 285, 289, 302, 305, 312, 319, 325 f., 331, 337, 349, 362, 366, 370 f., 376, 410, 424, 451 Gleichheit 24, 124, 213, 260, 271, 288, 392, 404, 408, 443, 454, 470, 490, 578 Glück 135, 231, 244, 305, 363, 398, 514 Gnade 102, 104, 261, 324, 352, 475 Gnadengabe 293 Gott (s. a. Schöpfer, Teufel) 15 f., 28, 35 f., 39, 68, 73, 84 f., 96 f., 99, 101 f., 104−107, 184, 199, 243, 254 f., 257, 261, 266 f., 277−279, 282, 286, 297, 301, 303−306, 308−310, 312 f., 315, 319 f., 322 f., 325 f., 328 f., 331, 334−336, 338, 340−342, 349−351, 360, 363, 365, 367, 370 f., 451, 508, 512 Götter 97, 251, 325, 328, 335, 349, 361 Gottesgnadentum 297 Gottesleugnung 349, 370 Gottesverehrung 306, 309 f., 328−330, 349, 365, 371, 436 Gottheit 28, 39, 47, 53, 73, 90, 255, 281, 336 Grausamkeit 39, 336 Griechen 81, 96, 228, 251, 342 Griechenland 254, 525, 543 Großbritannien (s. a. England) 236, 248, 258, 262, 353, 383, 396 Großkapital 452 Großmächte 516 Großstadt 13, 547, 549 Großstädter 17 Grundbesitz (s. a. Boden) 24, 454, 457 Grundbesitzer 242, 384 Grundtendenz 441

723

Gruppe(n) 118, 174 f., 206, 248, 292, 381, 462, 473, 574, 576, 583 Gutachten 542 Güte 61, 69, 232, 305, 308, 419, 423, 500 Gütergemeinschaft 260 Gutes (s. a. Böses) 305, 449 Habsucht 28, 58, 228, 238, 336, 436 Hader 28 Hakenkreuz 117, 138, 629 f. Halle 529 Hamburg 259, 265, 401, 413, 419, 422, 470, 522, 527, 529, 535, 547, 550, 566 Hamburg-Altona 547 Handbuch 476 Handel 9, 10, 92, 215, 228, 231 f., 246, 252, 258, 261 f., 271, 390, 392, 451, 562 Handeln 19, 84 f., 96, 227, 229 Handelsflotte 558 Handelsfreiheit 155 Handelspolitik 219, 452 Handelsstadt 265 Handelsverkehr 258 Handlung 81, 90, 111, 167, 184, 314, 318, 439, 440 Handwerk 266, 533, 572, 576 Hannover 381, 402, 415, 470, 515 Hanse 259, 263 Hass 62 f., 201, 368, 437, 444 Hauptstadt 262, 496, 518 Haus 49, 103, 246, 249, 420, 521 Haushaltung 549 Hauswirtschaft 9, 217 Heer 143, 245, 516, 587 Heerführer 241 Hegelianismus 394 Heidelberg 530 f. Heil 15, 40, 43, 52, 102, 179, 186, 255, 257, 274, 281, 315, 332, 398 Heil: Seelenheil 261, 302 Heil Hitler 138 Heiland (s. a. Christus, Menschensohn) 302, 313, 322, 331 Heilige (s. a. Märtyrer) 43 f., 47, 72, 134, 285, 313, 319, 322, 332 Heilige Schrift 72, 313, 319, 332

724

Apparat

Heiligung 103, 261 Heimarbeiter 414 Heimindustrie 9, 572, 574 Heirat (s. a. Eheschließungen, Mutterschaft) 497, 510 Held 497 Helgoland 446 Heroen 252 Herrenstand, Herrenstände 14, 238, 243, 391, 454 Herrentum 212, 266 Herrschaft 13, 15, 23, 29, 95, 98, 155, 183, 204, 215, 259, 264, 267, 303 f., 310, 312, 318, 329, 331, 334, 336, 346, 356, 422, 435 Herz 59, 74, 335, 470, 519 Herzogtum 476, 495, 516, 518 Hessen 413, 470 Hessen-Nassau 470 Hexenglaube (s. a. Aberglaube) 106 Hilfe 26, 52, 98, 100, 107, 141, 184, 199, 216, 226, 299, 306, 310, 328, 330, 452, 463, 521, 546 Himmel 40, 65, 82, 102, 104, 106, 280, 371 Historismus 500 Hitlerbewegung (s. a. Cäsarismus) 123, 127, 415 Hochkapitalismus 581 Hochschulen 53, 106, 212, 393, 444 Hochschulgruppe 373 Höfe 205, 275, 390, 393, 405 Hohenzollern 295, 299 Holland 258, 477 Holstein 259, 296, 381, 413, 470, 493, 515, 519, 522, 545 Hörigkeit 246 Humanismus 253, 276 Humanität 28, 39, 54, 61, 177, 279, 286, 410 Humor 153, 496, 522, 524 Hunger 423, 567 Hungerblockade (s. a. Weltkrieg) 559 Husum 420, 517 f., 522, 525 f., 535, 538, 541 f. Hygiene 635−638

Ideal(e) 40, 51, 54 f., 59, 186, 194, 219, 428, 433, 479, 504 Idealismus 28, 54, 137, 139, 152, 154, 178, 219, 409, 445, 450 Idealtypus (s. a. Typus, ideeller, Normalbegriff) 504 Idee 14, 35, 40, 47, 61, 66, 89, 103, 180, 196, 218, 226, 228, 232 f., 240, 251, 256, 274, 287, 322, 353, 391, 421, 471, 502 Idee: Gott 99, 307 Idee, geschichtliche 137 Idee, politische 449−457 Ideenwelt 233, 269 Ideologie 273 Illusion(en) 325, 349, 392, 485, 576, 579 Imperativ 58, 95 Imperialismus 228 Imperium 235 Indien 97, 99, 236, 249 Individualismus 578 Individuen 10, 49, 63, 94, 138, 174, 230, 271, 284, 351, 392, 438, 456 f., 463, 491, 586 Individuum 181, 357, 491 Industrie 126, 194, 216, 246, 266, 392, 398, 451, 455, 558, 573, 575 Inflation 125 Inkremente 644 Institut(e) 159, 477 Institution(en) 15, 24, 445, 501, 571, 587 Intellektualismus 503 Intelligenz 69, 230, 231, 424, 480 Interesse 9, 10, 51, 80, 92, 141, 155, 171, 178 f., 232 f., 251, 325, 391, 405, 429 f., 449, 453, 456, 468, 478, 508, 533, 538, 548 Interesse: Kapital 395 Interesse: Kunst 55 Interesse: Staat 268, 439 Interessen 95, 97, 154, 170 f., 173 f., 180, 189, 213, 265, 292, 393, 415, 534 Internationalismus 425 Interpretation 103, 282 Involution 580 Irland 236, 245, 248, 553 Irrationalismus 479 Irrwahn 68

Sachregister Islam 97, 149, 255 Israeliten 360, 364 Italien 131, 150, 204, 235, 251, 561 Japan 97, 339 Jena 445, 499, 531, 536, 538 f. Jenseits 321, 371 Jesuiten 266 Jesus Christus Journalist(en) 161, 220, 527 Juden 105, 116, 167, 199, 259, 277, 289, 311, 325, 329, 362, 366, 452 Judentum 97, 360 Jugend 11, 13, 39, 40, 51, 53, 91, 136, 152 f., 177, 230, 279, 374, 404, 419, 421, 432, 450, 476, 480, 499, 503, 507−510, 514, 521, 525 Jünger 73, 149, 545 Junker 14, 431 Jurisprudenz 159, 161, 207, 219, 421, 485, 499, 532, 544 Kabinett 119, 249 Kadetten 172 Kaiser 117, 142 f., 211, 263, 266, 375, 379, 444, 519 Kaiser: Deutschland 120, 134, 136, 235, 363 Kaiserreich 297 Kaisertum 123, 263, 297, 299, 433, 492 Kameradschaft 230 Kampf 10, 15 f., 40, 49, 59, 67, 101, 124, 150, 153, 174, 179, 190, 243, 248, 258, 262, 269, 347, 364, 409, 426 Kampfgenossenschaft 155 Kanada 236 Kapital 9, 92, 137, 180, 187, 212, 216, 219, 261, 271, 392, 395, 409, 421, 457, 499, 542, 572, 577 Kapitalismus 9, 23, 26, 180, 215, 272, 394 f., 409, 451, 453, 457, 573, 581, 638 Kapitalisten 194 Kartell(e) 395, 491, 532 Katastrophe 9, 118, 409, 538, 568 Katheder 196, 279, 293, 395 Kathedersozialisten 196 Katholizismus (s. a. Römische Kirche) 20, 256

725

Kaufleute 215, 259, 289 Kaufmann 92, 152 f., 155, 223, 226, 573 Kausalität (s. a. Wirkung) 348, 575 Ketzer (s. a. Ungläubige) 68, 71, 266, 348 Ketzerei (s. a. Ungläubige) 71, 150, 199, 253, 255, 285 Kiel 131, 365, 373, 407, 419, 510, 515, 522, 528, 539, 543, 547−549, 570 Kind 51, 83, 140, 185, 208, 255, 398, 402, 452, 511, 513, 516 Kinderpflege 636 Kinderreichtum 553 Kindheit 67, 419, 507, 509 f., 512 Kirche 14, 15, 28, 47, 56, 61, 67, 71, 86, 104 f., 137, 208, 238, 241, 252−254, 258, 260, 262, 267, 285, 289, 313−316, 320, 323, 325, 331−333, 337, 340−342, 345, 353, 362, 364 f., 371, 384, 410, 437, 452 f., 480, 510, 575 Kirche: katholische 31, 57, 68, 100, 242, 252, 256 Kirche, römische (s. a. Katholizismus, Papismus, Papsttum) 100, 314, 332 Kirchengeschichte 256, 260 Kirchenlehre 103, 278 Kirchentum 73, 107, 261 Klasse (s. a. Adel, Arbeiterklasse, Stand) 10, 53, 152, 154, 212, 215, 233, 236, 245, 271, 383, 392, 420, 453 f., 478, 513, 520, 525, 530 Klassen (s. a. Schichten) 10, 49, 59, 189, 353, 408, 411, 520 Klassenkampf (s. a. Proletariat, Soziale Frage) 10, 196, 457, 649 Klassenkämpfe 33, 508, 645−649 Klassenscheidung 10, 287, 392 Kleinbürger 244, 414 Kleinhandel 232 Kleinhändler 223 Klerus 53, 213, 215, 253, 261, 323 Kloster 285 Klugheit 109, 255 Knechtschaft 457 Koalition 195, 407 Koalitionsfreiheit 195 Kolonialland 264 Kolonialländer 258, 270

726

Apparat

Kolonialpolitik 452 Kolonie(n) 236, 246, 249, 262, 265, 558, 571 Kolonisation 258 Kommunismus 151, 153, 428, 461, 522, 575, 648 Kommunisten 128, 130, 143, 155, 425 f., 428−430 kommunistisch 408, 414 Kompromiss 98, 501, 563 Konfession 276 Konflikt 242, 272, 347, 479 König 14, 82, 88, 136, 236, 241, 243, 248, 262, 277, 298, 308, 311, 320, 330, 341, 379, 384, 442, 444, 514 f., 519, 523 Königreich 236, 248, 259, 264, 268, 298, 470, 492, 509 f., 516 Königtum 237, 242, 261, 270, 431 Konjunktur 517 Konjunkturfragen 643 Konkurrenz 10, 217, 451, 456, 527 Konnubium 509 Korrelationsmethode von Tönnies 644 Konsumenten 191, 232, 456 Konsumgenossenschaften 224, 226 Konsumverein(e) 180, 217, 223 f., 226, 232 Kontinent 152, 236, 240, 245 Konvention 355, 384, 519 Konzerne 192, 395 Kooperation 187, 577 Kopenhagen 496, 512, 516 Körper 35, 81, 108, 184, 205, 230, 239, 241, 246, 263, 301, 314, 319, 326, 328, 332, 341 f., 348, 360, 364, 377, 439, 441, 464, 527, 561, 579 Körperschaft 81, 239, 241, 246, 441 Korporationen 239, 243, 393 Korruption 15, 175 Kosten 11, 92, 223, 246, 376, 478, 541, 560, 562 Krankheit 476, 540, 635−638, 655−657 Kredit 130, 134, 321, 336, 356 Kreise 6, 15, 117 f., 122, 206, 209, 292, 414, 432, 442 f., 526, 537, 546 f., 583, 587 Krieg (s. a. Weltkrieg) 6, 9, 92, 118, 122, 130, 140, 142, 155, 168, 173, 179, 193, 197,

230, 243, 296, 351 f., 373, 376, 388, 401, 403 f., 423, 436, 507, 516, 519, 523 f. Kriege: Volksseuchen 636 Kriegsausbruch 398 Kriegsdienst 6, 59 Kriegspsychose 388 Kriegsschuldfrage 141, 478 Kriminalität (s. a. Verwahrlosung) 11, 545, 547 Krise 122 f., 142, 190, 196, 215, 242, 274, 398, 409, 414, 431, 479, 563 Kultur 11, 22, 43, 98, 169, 197, 228 f., 251, 258, 262, 272, 351, 392, 447, 470, 571 Kulturentwicklung 257 Kulturkampf 534 Kulturkrise 9, 499 Kulturleben 58 Kulturwissenschaften 162, 479 Kultus 21, 39, 44, 55, 99, 253, 267, 305 f., 309 f., 312, 328−331, 343, 349 Kundgebung 116, 206, 267, 352, 394 Kundgebungen 377, 440 Kündigung 528 Kunst 16, 19, 44, 54−56, 58, 66, 173, 184 f., 215, 251, 262, 355, 369, 393, 471, 481 Künste 21, 55, 56, 67, 252 Künstler 44, 274, 289, 560 Kürwille(n) (s. a. Gesellschaft, Rationalisierung, Rationalismus, Vertrag, Wesenwille, Wille) 83, 229, 463 Laie 545 Landarbeiter 247, 414 Landbund 380 Landesadel Adel Landeshoheit 265 Landesverteidigung 126 Landmann 13, 380 Landrecht 200 Landschaft 47, 419, 509−511, 515 Landtagswahlen, preußische 629 Landwirtschaft 122, 195, 529, 564 Latein 515, 517 Latifundien 346 Lebensbedingungen) 184, 380, 503, 580 Lebenslage 6, 14, 15 Legitimität 236

Sachregister Lehrer 52, 54, 65, 73, 159 f., 293, 340, 396, 417, 420, 490, 513−515, 517 f., 520, 525 f., 528 Lehrfreiheit 438, 444, 446 Leibeigenschaft 571, 573 Leid 81 f., 87, 90, 125 Leiden 59, 73, 80, 142, 152, 186, 210, 227, 273, 538, 561 Leidenschaft 92, 106, 292, 388 Leipzig 374, 413, 525, 537, 548, 568 Leistung 94 f., 102, 194, 267, 348, 456, 464, 482 Leitartikel 424, 426 Leser 133, 152, 260, 363, 367, 370, 461, 483, 499, 508, 570 Leutseligkeit 130 Lex Arons 445 Liberalismus 119, 195, 212, 218, 297, 431, 440, 445, 449, 451−453, 455, 457, 462, 484, 501, 574, 652 f. Libertinismus 369 Liebe 27, 35, 39 f., 43, 48, 61, 65, 95, 229, 286, 305, 336, 363, 371, 407, 449, 463, 528, 541 Lissabon 262 Literatur 54, 58, 116, 150, 175, 212 f., 215, 221 f., 227, 269, 285, 360, 390, 392, 450, 452, 495, 499, 570, 580 Literaturgeschichte 537 Loge 289 Logenwesen 289 Logik 22, 312, 331, 428, 500, 532, 536 Lohn 107, 193, 216, 365, 371, 478 Lohnarbeit 562 London 155, 245, 342, 384, 390, 542, 549 Lord(s) 239, 241 f., 308, 311, 351, 353, 365, 384, 451 Lübeck 258, 401, 470, 522 Lüge 168, 175, 320, 325, 349, 371 Lust 55, 81, 83, 155, 193, 261, 275, 281, 566 lutherisch (s. a. Protestantismus) 102, 256, 261, 263 Luxus 245, 252, 436, 559 Lyrik 521

727

Macht 9, 15, 21, 69, 71, 95, 117, 126, 153, 168, 204−206, 208, 211, 233, 236, 240, 242, 255, 262 f., 267, 269 f., 272, 303−308, 311, 314 f., 321, 329, 332, 337, 340, 356, 361, 392, 404, 431, 433, 435, 450, 454, 504, 563 Macht: politische 6, 94, 187, 192, 245, 409, 508 Mächte 10, 107, 121, 175, 183, 241, 263, 270, 271, 454, 560 Machtglauben 648 Malerei 252, 530 Malmesbury 325 Manchester 154, 156 Manchestertum (s. a. England) 219 Manifest 152, 154, 155, 407, 408 Mann 11, 48, 65, 81, 91, 119, 131, 136, 140, 152, 161, 166, 277, 281, 288, 354, 364, 375, 379, 404, 420, 475, 482, 503 f., 511, 514 f., 519, 525, 535, 542, 548, 549 Männer 47, 58, 119, 123, 139, 153, 177, 207, 216 f., 247, 288, 305, 356, 363, 371, 375, 394 f., 403, 439, 455, 485, 503, 524, 552, 565 Manufaktur 9, 573 Märchen 512 Markt 60 Märtyrer s. a. Heilige) 86, 322, 368 Martyrium 176 Marxismus (s. a. Kapitalismus, Kommunismus, Proletariat, Sozialismus, Urkommunismus) 150 f., 394, 407, 410, 457, 645−649 Marxisten 25, 123, 130, 142, 432 Masse 95, 160, 216, 230, 263, 385, 387, 407, 410, 480, 507, 562, 583 f., 588. 646−648 Materialismus 27, 107, 137, 348 Materie 68, 206, 277, 348, 359 Mathematik 356, 524 Mechanik 342 Mechanisierung 13 Mecklenburg 119, 238, 402, 470, 532 Medizin 187, 439, 532 Meer 173 Mehrheit 94, 97, 116 f., 120, 143, 151, 186, 219, 231, 239, 243, 247, 299, 314,

728

Apparat

332, 340, 349, 379, 384, 386, 414, 426, 429, 476 Meinen 513 Meinung (s. a. öffentliche bzw. Öffentliche Meinung) 66, 87, 96, 104 f., 110, 122 f., 127, 139, 145, 170, 189, 194, 203−206, 208, 215 f., 282, 286, 296, 305, 317, 326, 333, 338, 345 f., 349, 370 f., 374, 376, 392, 396, 409, 423 f., 433, 440, 443, 450 f., 453, 459, 476, 483, 492, 538, 545, 547, 561, 578, 580 Meinung: Wissenschaft 318 Meinungsäußerung 440 Meinungsfreiheit 440 Meinungsverschiedenheit(en) 219, 436 Meister 65, 84, 139, 151, 220, 278 f., 500 Meistertum 311, 330 Menge 6, 9, 10, 13, 15, 55 f., 58, 94, 120, 138, 142, 145, 191, 211 f., 217, 219, 236, 244, 266, 292, 314, 350, 391 f., 396, 399, 415, 435, 441, 451, 457, 470 f., 507, 560, 562, 566 Mensch 21, 43 f., 62, 74, 79 f., 83, 85 f., 88, 89, 96, 102, 109, 141, 155, 174, 183, 227, 236, 254, 284 f., 287, 302, 312, 315, 320, 328, 331 f., 335, 355, 389, 438, 483, 488, 529 Menschenliebe 61, 219, 567 Menschenökonomie 197 Menschenrechte 438 Menschensohn (s. a. Christus, Heiland) 73 Menschheit 20 f., 25, 28, 43, 53 f., 59, 73, 98, 105, 175, 186, 206, 226, 233, 284, 286, 480, 502, 505 Merkmale 258 Messe 266 Methode 21, 60, 62, 159, 219, 244, 256, 282, 363, 367, 387, 414, 443, 482, 572 Militär 560 Mirakel 304, 319, 368 Missbrauch 193, 273, 323 Mittel 60, 69, 89, 92, 94 f., 138, 144, 174, 185, 210, 229, 238, 265, 320, 393, 414, 423, 424, 429, 469, 533 Mittelalter (s. a. Zünfte) 15, 21, 23, 66, 71, 219, 240, 258, 390, 453, 502

Mittelklasse (s. a. Bürgertum) 153, 213 Mittelstand 15 Mode 572 modern 544 Mohammedaner 277, 366 Monarch 99, 211, 241, 439 Monarchie XIX, 135, 137, 236, 242, 254, 270, 297, 351, 353, 359, 425, 427, 432 f., 440, 453 Mönche 14, 259 Monogamie 583 Monopol 246 Moral 21, 96 f., 99, 105, 227, 280, 312, 353, 364, 502, 542 Moralität 29, 98 Moralphilosophen 222 Moralstatistik 543, 545 München 129 Münster 470, 530 Museum 534, 542, 580 Musik (s. a. Tonkunst) 45, 421 Muster 162, 236, 326, 577 Mut 40, 116, 171, 174, 188, 337, 374, 423, 503, 516, 522, 540 Mutter 11, 61, 90, 185, 278, 298, 420, 467, 490, 510−513, 516, 518, 521, 526, 528, 532, 549 Mutterschaft (s. a. Eheschließungen, Heirat) 67 Mysterium 175 Mystik 37 Mythologie 84, 102, 280, 408, 540 Nachahmung 83 Nachbarschaft 533, 546, 570 Nachkommenschaft (s. a. Geburten) 51 Nachricht 514, 523, 535 Nächstenliebe (s. a. Christentum) 227, 371 Nahrung 62, 119, 123, 171, 230, 233, 439 Nation 54, 116, 120, 125, 130, 137, 141, 177, 179 f., 206, 210, 219, 246, 260, 263, 353, 386, 389, 392, 403, 432, 480, 492, 496, 507 Nationalbewusstsein 476 Nationalismus (s. a. Cäsarismus, Führer) 405, 452

Sachregister Nationalitäten 492 Nationalliberale 297 Nationalliberalismus 380, 452 Nationalökonomie 159, 160, 162, 219, 395, 508, 569, 580 Nationalreichtum 117 Nationalsozialismus XIX f., 129, 410, 629 f., 650−653 Nationalsozialisten (s. a. Nazi) 124, 128, 136, 140, 434 Nationalversammlung 118, 144, 237, 429, 445 Nationen 6, 21, 59, 63, 168, 178−180, 199, 225, 461, 503, 570 Natur 5, 13 f., 16, 19, 23, 36, 39, 65, 68, 79−81, 83, 94, 104, 115, 125, 152 f., 161 f., 175, 183, 186, 211, 214, 228, 257, 266, 269, 282, 302, 306, 309, 312, 328, 331, 363, 370, 419, 464, 471, 479, 528, 534, 564, 578 Natur: natura 6, 22, 43 f., 56, 98, 184, 188, 215, 305, 352, 490 Naturalwirtschaft 200 Naturforscher 63, 291 Naturgesetz 302 Naturgesetze 189, 215, 309 Naturphilosophie 29 Naturrecht (s. a. Philosophie,Rechtsphilosop hie, Staatslehre, Staatsrecht) 219, 351 f., 354, 359, 368, 371, 438, 500, 545 Naturwissenschaft 348, 543 Naturwissenschaften 26, 51, 162, 185, 348 Naturzustand (s. a. Philosophie: Hobbes) 351 f. Nazi (s. a. Nationalsozialisten) 414, 428, 430, 432 Negation 23 Neid 436 Neigung 15, 54, 56, 84, 211, 338, 453, 532, 540 Neubürgertum 453 Neue Botschaft (s. a. Offenbarung, Parakletos, Reich Gottes, Religion des Heiligen Geistes,Tausendjähriges Reich, Zukunft) XX, 3−75, 614−628 Neuerung 405

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Neufundland 236 Neuseeland 272 Neutralität 179, 496 Neuzeit 15 f., 21, 23, 66 f., 219, 240, 271 f., 453, 483, 492, 502, 508, 573 New Statesman 225 New York 156 Niederlande 245, 263, 538, 552 Nobility 383 Nomaden 25 Nominalismus (s. a. Realismus) 102 Nordamerika 376 Norddeutscher Bund 455, 476 Norddeutschland 431 Norden 225, 258, 263, 347 Nordsee 258, 419 Norm 107, 366, 583 Normalbegriff (s. a. Idealtypus, Typus, ideeller) 504 Normen 87, 352, 502, 583 Norwegen 235, 259, 553 Nötigung 217, 588 Notwendigkeit 21, 36, 92, 97, 116, 130, 230, 243, 271, 274, 292, 353, 362, 421, 455 Novemberrevolution (s. a. Weltkrieg) 121, 192 NSDAP (s. a. Umsturzpartei) 123, 128, 427 Nutzen 10, 93−95, 184, 375, 398, 463 Nützlichkeit 83, 208, 211 Oberhaus 239 Oberitalien 252, 262 Oberlehrer 420 Oberschicht 236 Oberschlesien 402 Offenbarung (s. a. Neue Botschaft) 53, 69, 71, 101, 254, 260, 284, 304, 313, 336, 362, 365, 370 Öffentliche Meinung 141, 451, 637, 653 öffentliche Meinung 165−168, 173−75, 216, 221, 346 Öffentlichkeit 87, 116, 205, 391 Offizier(e) 137, 289, 476, 516, 535 Ökonomie 189, 508, 541, 547, 549, 574 Oldenburg 370, 414, 470, 518 Oligarchie 242

730

Apparat

Opium des Volkes 646 Opposition 116 f., 126−128, 130, 133, 145, 229, 244, 264, 383−386, 392, 396, 501 Orden 47, 71, 241, 285, 288 Ordnung 20, 191, 217, 233, 243, 393, 467, 468, 502 Ordnung, bestehende 243 Organe 83, 96, 213, 326, 576 Organisation 47, 53, 142, 168, 191, 216 f., 226, 379, 407, 422, 464, 484, 583 f., 586, 588 Organismus 82, 91, 109, 184, 348, 481 Orient 252, 258, 435 orthodox 262 Orthodoxie 72, 276, 279 Oslo 569 Ostelbien 119 Osten 97, 263, 414, 419 Österreich 123, 380, 388, 440, 492 Ostpreußen 531 Ostsee 258, 264, 419, 511 Ottensen 421 Oxford 528 Pächter 528 Pädagoge 284 Palästina 105 Pantheismus 36, 283 Papismus 242, 384, 451 Papst 255, 259, 266, 323, 337 Papsttum (s. a. Kirche, Römische, Papismus) 71, 106, 253, 263, 337, 339 Parakletos (s. a. Geist, Neue Botschaft, Religion des Heiligen Geistes) 285 Parallelismus 283 Paris 208, 240, 330, 394, 549 Parlament 237, 240, 248 Partei 16, 19, 54, 86, 115, 123, 144, 150, 1, 217, 243, 248, 297, 299, 359, 381, 385, 410, 424, 428, 430−433, 443, 446 f., 450−452, 454, 502, 570, 577 Partei: NSDAP 125, 127, 145, 404, 414 Partei: SPD 117, 119 f., 151, 380, 384 Parteien 19, 117, 119, 126, 130, 136, 150 f., 167, 172, 174, 189, 191, 195, 201, 209 f., 217 f., 247, 299, 374 f., 381, 383, 414, 417, 427, 429 f., 432, 433 f., 446, 451, 503

Parteimeinung 292 Pathos 134, 214, 364, 374, 479, 484, 526 Patriarchalismus 95 Patriotismus 21, 288, 374 Paulskirche 444 Pazifismus 130, 177 f., 403, 425 Pazifisten 123, 130, 404 Person 85, 90, 104 f., 111, 127, 178, 195, 211, 239, 255, 278, 309, 314, 316, 317, 321 f., 324, 326, 332 f., 351, 359, 369, 389, 395, 408, 449, 456, 464, 483, 491, 513 Person: Würde 43, 80 f., Persönlichkeit 86, 115, 149, 150, 211, 352, 353, 425, 519, 534 Petitionsrecht 443 Pfeil 514 Pflicht 54, 58, 61, 92, 95, 98, 145, 305, 319, 324, 439, 467, 475, 480, 546 Phantasie 55, 83, 188, 252, 311, 320, 327, 427 Philologie 529, 537, 539 Philosoph 154, 276, 312, 326, 329, 340 f., 350 f., 353, 367, 461, 547 Philosophie (s. a. Naturrecht, Naturzustand, Nominalismus, Realismus, Spinozismus, Staatstheorie) 20, 37, 39, 56, 151, 153, 207, 276, 278 f., 317, 333, 339, 342, 347, 350, 353 f., 363, 394, 422, 435, 461, 479 f., 485, 499, 508, 534, 536, 541, 543, 548, 571, 579 Philosophenkongress: 1908 644 Phrase 409, 432 Physik 66, 394 Pietät 65−68, 208, 365, 435 Pietismus 261 Plutokratie 9, 455 Poesie 45, 421, 526 Polen 263, 402, 553, 565 Polis 51, 391 Politik 9, 20 f., 128, 130, 136, 169, 179, 189, 195, 206, 209, 211, 213, 219, 244, 265, 296, 297, 319, 336, 374 f., 391, 414, 439, 449, 452, 459, 462, 480, 490, 499, 505, 527, 575, 577, 579 Politik: Aussenpolitik 131, 171, 248, 442 Polizeistaat 220

Sachregister Pommern 119, 381 f., 401, 413, 470 Populationisten 397 Posen 565 Positivismus 21, 394 Post 510 Präsens 79 Präsident 122, 126, 426, 460 Praxis 19, 151, 160, 190, 192, 195, 200, 219, 240, 243, 315, 332, 438, 446, 452, 459 Prediger 73, 124, 311, 330, 332, 515, 524 Presbyterianer 337 Presse 175, 204, 211, 213, 452 Pressfreiheit 205, 213, 443, 450 Preußen 235, 243, 264, 268, 296, 298, 374, 379, 401, 424, 431, 442−444, 476, 508 f., 519, 559 Priester 14, 32, 106, 267, 311, 322, 337, 353 Priesterschaft 102 Priestertum 311, 330 Privateigentum 23, 197 Privatmann 350 Produktion 5, 9, 15, 23, 25, 180, 192 f., 195, 216, 220, 275, 552, 558 f., 561, 562 Produktionsmittel 23 Produktionsprozess 572 Produktionsweise 6, 60, 152, 180, 215, 454 Produktivität 219 Professoren 446, 530, 540 Prognose 501, 577 Proletariat (s. a. Klassenkampf, Marxismus) 152, 187, 409, 455 Proletarier 6 Propaganda 61, 143, 168, 248, 414 Prophet 176, 254, 311, 330 Prostitution 11, 58 Protest 122, 260 Protestanten 16, 101, 116, 256, 266 Protestantismus (s. a. Calvinist, lutherisch, Reformation) 20, 101, 104 f., 243, 262 f., 534 Provinz(en) 413, 470, 553, 565 Prozess(e) 23, 257, 291 Psychologe 19 Psychologie 348, 349

731

Publikum 47, 86, 115, 138, 140, 167 f., 173 f., 206 f., 355−357, 441, 456, 503 Publizistik 205 Publizität 479 Puritanismus 262 Putsch 270 Quäker 177 Rache 51, 54, 92, 110 Radikalismus 153 Rasse(n) 51, 129, 551−553 Rassenfrage 551, 553 Rationalisierung (s. a. Kürwille) 267 Rationalismus (s. a. Kürwille) 208, 244, 278, 283, 453, 483 rationalistisch 480 Reaktion 156, 251, 326, 442, 445, 450, 572, 574 Realismus (s. a. Nominalismus, Philosophie) 37 Rebellion 242, 262, 270, 320, 339, 353, 516 Recht 15, 127, 129, 152, 161, 204, 224, 239, 241, 243, 276, 292, 296, 304, 309 f., 312, 317, 326, 329, 333, 345, 355, 368, 397, 421, 426, 429, 438−440, 445, 450, 453, 456, 465, 484, 501 f., 515, 558, 574, 576, 583 Recht: Völkerrecht 124 Recht: bürgerliches 322 Recht: öffentliches 247, 443, 505 Rechte 15, 49, 137 f., 200, 236, 240, 291, 298, 313, 321, 372, 389, 421, 438, 440, 459, 489 f., 501 f., 558, 573 Rechtsanwalt 532, 535 Rechtsgeschichte 256 Rechtsphilosophie (s. a. Naturrecht) 170, 345, 353, 499 Rechtsprechung 244 Rechtsstaat 456 Rechtswissenschaft 487, 501 Redefreiheit 213, 435 f., 438, 441, 444, 446 Reden 19, 119, 125, 205, 207 f., 211, 282, 450, 461, 552 Redlichkeit 115, 275, 527

732

Apparat

Redner 356, 379 Referendum 247 Reform 58, 159 f., 175, 192 f., 196, 246, 253, 273, 339, 346, 383, 388 Reformation (s. a. Calvinist, lutherisch, Protestantismus) 16, 56, 102, 251, 253, 257, 260, 262, 267, 339, 345, 528 Reformationszeit 73 Reformator 357 Reform(en) 98, 189, 273 Reform der Presse 175 Regierung 99, 116 f., 120, 124, 127, 130, 134 f., 138, 145, 172, 209, 222, 239, 243, 273, 301, 311, 329, 380, 383, 396, 404, 427 f., 436, 440, 444, 476, 501, 515, 518, 539, 546, 553 Regiment 123, 133, 153, 244, 307, 312, 315, 325, 437, 514 regnum 28 Reich (s. a. Reich Gottes) 28, 61, 72, 116, 119 f., 127, 137, 139, 199, 235, 248, 253 f., 257, 260, 263, 289, 303 f., 310, 312, 314, 319, 323, 329, 331, 334, 337, 339, 374, 379, 384, 399, 401, 403, 425, 431 f., 491, 527, 553, 558 f., 563, 574 Reich: deutsches 125, 129, 169, 197, 297 f., 375, 380, 386, 388, 557 Reichsamt 557 Reichsbanner (s. a. Weimarer Verfassung) 299 Reichsgericht 119, 134, 432, 440 Reichskanzler 115, 118, 120, 122, 126−131, 135, 139, 162, 403, 431 Reichspräsident 429, 441 Reichsstädte 574 Reichstag 299, 375, 425 Reichstagswahl 125, 299, 404 Reichsverfassung (s. a. Weimarer Verfassung) 145, 430, 440 f., 443 Reichswehr 126 Reichtum 6, 9, 13, 15, 94, 107, 212, 242, 252, 258, 264, 306, 337, 560 Reich Gottes (s. a. Neue Botschaft, Reich, Theologie) 28, 255, 303, 310, 312, 319, 331, 334 Reisen 63, 478, 549 Reklame 414

Religion 10, 13 f., 21, 28 f., 31 f., 37, 39 f., 43 f., 47, 51, 54, 58, 61, 65, 68, 97, 99 f., 105, 107 f., 149, 202, 207 f., 252, 257, 263, 267, 279, 288, 301, 303, 310, 313, 324, 330, 334, 336 f., 339, 342, 349, 352, 361, 365, 367, 371, 390, 435, 479, 571, 649 Religionen 31 f., 39 f., 65, 73, 97, 101, 218, 285 f., 324, 336, 343, 361 Religion des Heiligen Geistes (s. a. Neue Botschaft, Parakletos) 43, 44, 47, 54, 61, 68 Religionsfreiheit 265 Religionsfriede 201 Religionsphilosophie 301 Religionsstifter 461 Renaissance 66, 251, 571 Rente (s. a. Sozialrentner) 6 Reparationen 121, 123, 125, 139 Republik 21, 118, 121, 123, 126, 133, 135, 137 f., 242, 263, 297−299, 353, 364, 369, 380, 383, 426, 428−430, 432−434, 440, 442, 453, 492, 507 Republikaner 136, 138, 298, 429 Resignation 156 Restauration 134, 242, 251, 262, 271, 325, 353, 384, 432, 433, 451 Reue 81, 85, 90, 315, 332, 365 Revisionismus 150 Revolution 20, 121, 142 f., 155, 172, 203, 213, 237, 240, 242, 251, 262, 269 f., 272 f., 384, 392, 410, 423, 437, 445, 450, 452, 454, 504, 563 Revolution, franz. 246, 394 Revolution, russ. 237 revolutionär 20 Revolutionen 251, 269−271, 273, 429, 578 Rezeption 484 Rhein 157, 537 Rheinbund 433 Rheinland 190, 264 Rheinprovinz 402 Richter 54, 124, 161, 167, 241, 312, 314, 316, 353, 388 Riten 261 Ritter 393, 500 Rom 31, 258, 262, 337, 340, 508

Sachregister Romantik 16, 451, 481, 501 Römer 253, 368 Römisches Recht 484, 501 Ruf 81, 89, 110, 262, 336, 410, 431 Ruhm 279, 436, 512 Ruhrgebiet 190 Rundfunk 347, 397 Russland (s. a. Zarismus) 143, 172, 186, 396, 408, 504, 553 Sachökonomie 197 Sachsen 264, 399, 402, 470, 543 Sakramente 102, 200, 261, 312, 331 Salon 491 Samtschaft 81, 464, 491, 583 Sanktion 98 Satire 107 Satzung 309, 459, 489, 516 Säuglingsschutz 636 Säuglingssterblichkeit (s. a. Sterblichkeit) 566 Scham 43, 81, 85, 90, 119, 171 Schätzung 51, 58, 87, 110, 340, 424, 571 Schauspiel 107, 446, 496 Schauspieler 355, 537 Scheidung(en) 89, 162, 287 Schema 289, 446, 583 Schicht 58, 163, 186, 190, 216, 245, 270, 392, 567 Schichten (s. a. Klassen, Stände) 6, 13, 15 f., 40, 48, 58, 62, 162, 211, 228, 230, 237, 245, 257, 261, 470, 490 Schifffahrt 384 Schlagwort 212, 452 Schleswig-Holstein 296, 373, 381, 413, 470, 493, 515, 532, 545 f. Schleswig-Holsteinische Volkszeitung 625 f. Schmerz 82 Schönheit 43, 55, 56, 110, 306, 419, 548 Schöpfer (s. a. Gott) 308, 360, 371 Schöpfung 32, 37, 282, 526 Schottland 236, 244, 553 Schriftsteller 52, 152, 191, 194, 204, 216, 218, 349, 379, 425, 478, 548, 560 Schuldfrage (s. a. Weltkrieg) 169 Schule 20, 38, 52, 56, 61, 160, 219, 265, 359, 461, 500, 510, 513, 517 f., 521, 533

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Schwärmerei 155, 537 Schweden 53, 237, 259, 263, 478, 553 Schweiz 225, 496, 540, 548 Seele 27, 32, 39, 43 f., 51, 54−56, 59, 68, 71, 79, 81, 84, 89, 102, 109, 133, 140, 160, 184, 196, 219, 267, 277, 279, 288, 302, 307, 323, 335, 338, 341, 348 f., 363, 387, 436, 527 Sekte(n) 16, 29, 257, 262, 360, 369, 452 Selbstachtung (s. a. Achtung) 110 Selbstbeherrschung 67, 220 Selbsterhaltung (s. a. Dasein) 208, 228, 463 Selbsterkenntnis 21, 62, 85, 89 f., 435 Selbstgefühl 110, 171, 328 Selbsthilfe 60, 218, 484 Selbstmord (s. a. Selbsttötung) 110, 493 Selbstsucht 49, 190 Selbsttötung (s. a. Selbstmord) 93 Selbstverwaltung 191 Sensationspresse 638 Sexualethik 100 Sippe 92, 457 Sitte 10, 48, 54, 57, 100, 306, 470, 489, 583 Sitten 13, 58, 337, 369 Sittengesetz 40, 96, 302 Sittenlosigkeit 212 Sittlichkeit 9, 11, 26, 39, 51, 56, 59, 97, 100 Skandal 434 Skandinavien 53, 477 Sklaverei 571 Society 53 Solidarität 21, 223 Sorge 7, 94, 335, 408, 427, 513, 528, 552 Souverän 241, 302, 311, 322, 333, 352 Souveränität 239, 243, 247, 351, 450 Sozialbiologie 462 Sozialdemokraten 143, 173 Sozialdemokratie 117, 130, 143, 151, 217, 297, 379 Soziale Frage (s. a. Arbeiterwegung, Klassenkampf) 48, 191, 220, 236, 508, 543, 581 Sozialgeschichte 586

734

Apparat

Sozialisierung 33 Sozialismus (s. a. Kommunismus, Marxismus, Staatssozialismus) 22 f., 127, 180, 186, 192, 197, 218, 405, 408, 410, 457, 461, 484, 501, 522, 576, 578, 648, 653 Sozialisten 195, 395 Sozialistengesetz 380, 543 sozialistisch 408 Sozialpädagogik 53 Sozialpolitik 180, 189 f., 196, 215, 387, 546, 560, 574, 576 f., 632 f. Sozialpsychologie 349, 462 Sozialreform 180, 194, 442 Sozialrentner (s. a. Rente) 129 Sozialversicherung 576 Sozialwissenschaft(en) 185, 187, 387, 421, 541 Soziographie XIX, 462, 493 Soziologe 19, 292, 345, 351 Soziologentag 462 Soziologie 161, 187, 394, 460−462, 464, 475, 481 f., 485, 493, 502, 548, 581, 583, 588, 633−635, 653 f. Spartakisten 120 SPD 144, 410, 429, 430 Spekulation 56, 120, 136, 452 Spielregeln, soziale 583 Spinozismus (s. a. Philosophie: Spinoza) 36, 37, 39, 281, 286 Spott 282 Sprache 54, 58, 79, 84, 88, 150, 206, 232, 274, 279, 286, 313, 318, 333, 374, 389, 426, 441, 462 f., 471, 512, 529, 537, 539, 542, 566 Sprache, lateinische 150 Sprachen 79, 149, 570, 583 Sprachgebrauch 96, 205, 210, 317, 318, 333, 389 f., 445 Sprachgenossenschaft 492 Staat 23, 52, 86, 129, 134, 179, 191, 197, 200, 202, 235, 242, 249, 267, 295, 298, 306, 309 f., 314, 316, 332 f., 340, 346, 351, 388, 393, 395, 404, 428, 430, 432, 436, 438, 440−442, 456, 478, 490, 492, 514, 536, 553, 558 Staat: Typus 31, 238, 287, 351, 504 Staat und Gesellschaft 395

Staatsbürger 115, 247, 353, 405, 426, 436, 438, 441, 490 Staatsform XIX, 9, 117, 133, 136, 235, 269, 272, 298, 379 f., 428, 430, 433, 453, 459 Staatsgewalt 31, 197, 218, 266 f., 270, 312, 325, 352, 368, 456 Staatshilfe 218 Staatsleben 10, 383, 392 Staatslehre (s. a. Naturrecht) 301, 309, 326 f., 348, 351 f., 436, 485, 500, 505 Staatsmann 131, 161, 209, 213, 265, 341, 429, 431, 438, 457, 480 Staatsmänner 51, 161, 168, 171, 204, 209, 218, 265, 438, 501 Staatsrecht (s. a. Naturrecht) 242, 270, 354, 383 Staatsreligion 40, 268 Staatssozialismus (s. a. Sozialismus) 33 Staatsstreich 172, 269, 270, 434 Staatstätigkeit 293 Staatstheorie (s. a. Philosophie) 544 Staatsverein 353 Staatswesen 430 Staatswille 240 Staatswissenschaften 159, 160, 162, 499 Stadt 13 f., 166, 241, 258, 291, 374, 390 f., 419, 421, 470, 518, 524, 530, 542, 547 Städter 13, 17, 510 städtisch 212, 262 Stahlhelmprinzen 135, 137 Stand (s. a. Klasse) 52, 53, 98, 191, 213, 215, 261, 451, 454 Stand: Dritter 215 Stände (s. a. Schichten) 14, 213, 215, 241, 243, 259, 265, 270, 287, 411, 454 Standesehre 206 Sankt Andrew 616 f., 620 f. Statistik 144, 397, 399, 468, 517, 543, 545, 548, 561 Sterben 580 Sterblichkeit (s. a. Säuglingssterblichkeit) 341, 552, 564 Stiftung 312, 331 Stimmabgabe 405 Stimmrecht 247, 404, 417 Stoa 363, 501

Sachregister Stolz 5, 68, 110, 127, 306, 328 Strafe 91, 105, 107, 110, 140, 200−202, 207, 365, 371 Strafgesetzbuch 98, 110, 134 Strafrecht 200, 201 Straßburg 528, 530, 541 Straßburger 254, 531 Streik 216, 217, 409 Struktur(en) 95, 365, 586 Stuart(s) (s. a. England) 244, 353, 384, 451 Stuart: Familie 451 Süddeutschland 260, 431 Süden 258, 263 Sünde 102, 302, 315, 332, 371 Symbol 331 Sympathie 22, 152, 189, 227, 244, 298, 340, 384, 419, 502, 549, 573 Syndikalismus 150 Syndikate 395, 491 Synthese 20, 22, 23, 69 System 55, 104, 116, 139, 145, 149, 219, 229, 231 f., 260, 271 f., 277, 279, 340, 348, 352, 360, 364, 452 f., 455 f., 461, 502, 583 Tagespresse 170, 204, 210, 213 Takt 54, 174 Taktik 136, 138 Tartuffe 355 f. Tätigkeit 9, 10, 65, 82, 91, 96, 161, 171, 184, 187, 191, 216, 231, 264, 385, 456, 459, 476, 478, 496, 512 f., 527, 529 Tätigkeiten 21, 81, 83, 96, 309 Tauschwert 155 Tausendjähriges Reich (s. a. Neue Botschaft) 16, 72 Technik 5, 15, 25 f., 66, 161, 195, 312, 331, 394, 403 Templer 288 Territorien 31, 241, 243, 264 Terror 172 Teufel (s. a. Gott) 321, 349 f., 371 Theater 496 Theismus 280 Theokratie 73, 311, 329 Theologen 85, 100, 254, 256, 313, 326, 359, 363, 365

735

Theologie (s. a. Reich Gottes, Religion) 98, 100, 207 f., 255, 260, 276−279, 312, 322, 324, 342, 360 f., 365, 367, 446, 511, 517, 527, 531 f. Theorie 19−21, 25, 53, 88, 151, 204, 219, 240, 327, 337, 407, 409, 439, 456, 461, 490 f., 493, 500 f., 526, 544, 569 Theorien 6, 104, 459, 522, 574, 575 Thron 29 Thüringen 260, 414, 470 Tiefsinn 69, 285 Tier 27, 254, 291 Tod (s. a. Sterben) 39, 105, 155, 303, 321−323, 335, 419, 422, 433, 497, 514, 526, 544, 548 Todesfälle 567 Todesstrafe 368 Tonkunst (s. a. Musik) 44 Tory, Tories (s. a. Whigs) 213, 383 f., 384, 451 Toten 65, 278, 341 Tracht 513 Tradition 67, 273, 313, 331 Traum 304, 335 Treue 27, 40, 48, 65, 225 Triebe 79, 363 Trinität (s. a. Christentum) 73, 252, 322, 341 Trunksucht (s. a. Alkoholismus) 93 Trust(s) 395, 477 Tschechoslowakei 553 Tuberkulose 560, 566 Tudor (s. a. England) 244 Tugend(en) 15, 35, 59, 66, 74, 170, 252, 286, 288, 306, 340, 365, 371 Türkei 461 Typus 230, 355, 356, 463, 490, 504 Typus, ideller (s. a. Normalbegriff) 504 Tyrannei 437 Übereinstimmung 205, 240, 298 f., 317 f., 333, 360, 366 f., 570, 578 Überlieferung 253, 285, 364 Ultimatum 145 Umsturzpartei (s. a. NSDAP) 117, 123, 126, 145, 385, 405 Umwälzung, politische 153

736

Apparat

Unendlichkeit (s. a. Ewigkeit) 35, 68, 104 Ungarn 169, 186, 492 Ungehorsam 303 Ungläubige 68 Ungleichheit 490, 573 Unheil 15, 52, 58, 98, 168, 335, 350, 365, 398 Universität(en) 162, 340, 444, 529, 531, 536 f., 541, 548 Unrecht 126, 179, 190, 241, 439, 522 Unsittlichkeit 59 Unsterblichkeit (s. a. Ewigkeit) 73, 279, 324 Unternehmer 6, 92, 121, 215 f., 563 Unterrichtswesen 159 Untertan(en) 88, 238, 270, 302−304, 322, 337, 425, 449 Unwahrhaftigkeit 10, 104, 107, 131, 155, 171, 385 Urchristentum 322 Urkommunismus (s. a. Marxismus) 24 Urkunde 101, 237 Ursache 21, 32, 35 f., 116, 138, 140, 142, 179, 193, 281, 307, 311, 331, 335, 338, 343, 348, 361 f., 370, 375, 399, 436, 467, 469, 505, 549, 573 Urteil 19, 54, 67, 86, 101, 107, 110, 127, 165 f., 171, 173 f., 185, 210, 212, 292, 357, 362, 367, 373, 401, 455, 473, 482, 526, 540, 571, 573, 586, 638 Urteile 173, 317, 368, 398, 571 Urteilskraft (s. a. Philosophie: Kant) 37, 55, 284 USA (s. a. Amerika: USA) 144 Vater 11, 72, 110, 136, 261, 312, 321, 331, 445, 467, 510, 512−514, 519 f., 523, 529, 532, 535, 541, 548 Vaterland 6, 59, 92, 127, 133, 570 Vaterlandspartei 118 Verantwortung 9, 98, 119, 172, 179, 188, 375, 410, 441 Verbände 366, 395, 490 Verbindung 97, 115, 156, 204 f., 220, 228, 245, 260, 264, 393, 421, 442, 446, 464, 478, 482, 490, 501 f., 510, 514, 538, 544 f., 586

Verbindungen 10, 201, 289, 488, 531 Verbot 58, 443 Verbrechen 126, 134, 167, 199, 267, 278, 350, 567 Verbreitung 32, 110, 228, 567 Verehrung 10, 43, 47, 65, 73, 99, 200, 229, 252, 305, 328, 329, 335, 365, 512 Verein 47, 143, 191, 196, 223, 225, 232, 248, 253, 389, 464, 527 Vereinigung 13, 44, 47, 232, 287, 421, 431 Verein für Sozialpolitik 191, 196 Vererbung 419 Verfall 13, 105, 201, 223, 549, 562 Verfassung (s. a. Weimarer Verfassung) 54, 128, 134, 137 f., 142, 144 f., 161, 170, 192, 233, 235, 241, 248, 289, 298, 384 f., 388, 395, 428, 430, 438, 440−442, 444, 454 f., 484, 563 Verfassungen 6, 236, 270 Verführung 267 Vergangenheit 5, 15 f., 115, 155, 251, 271, 274, 480, 508, 579 Vergleichungen 470 Verkehr 9 f., 31, 81, 179, 258, 264, 267, 275, 316, 333, 446, 477, 512, 526, 541, 580 Verlag 157, 354, 478, 502, 525, 542 Verleumdung 168 Verlobung 511 Vermögen 62, 78, 144, 266, 282, 384, 390, 510 Verneinen 84 Verneinung 22, 59, 66, 85, 151, 275, 277, 299, 338, 360, 393 Vernichtung 5, 9, 92, 136, 141, 235, 255, 272, 275, 323, 560 Vernunft 19, 29, 43, 56, 62, 74, 83, 89, 95, 107, 204, 214, 277, 279, 290, 304 f., 308−310, 312 f., 320, 330 f., 336, 340, 360, 363, 367, 436, 463, 539 Verrat 87 Versailler Friedensvertrag (s. a. Weltkrieg) 144 Versailles 124, 140, 561 Versammlung 128, 159, 177 f., 206, 252, 314, 317, 332 f., 359, 439, 441, 459, 495, 510, 568

Sachregister Verschiedenheit 51, 87, 266, 287, 468, 488−490, 497, 552 Verschwörung 169 Verstand 73, 165, 204, 254, 275, 286, 307, 319, 366, 375, 437, 524, 534 Verständnis 48, 54, 58, 101, 131, 169, 180, 224, 287, 315, 348, 438, 479 f., 504, 544, 548 Verteilung 33, 58, 98, 219, 231, 467 f., 471−473 Vertrag (s. a. Vertrag, Kürwille) 122, 124, 305, 309, 439, 576 Vertragsfreiheit 213 Vertrauen 32, 120, 127, 172, 261, 318, 334, 379, 387, 390, 424, 447, 456, 459, 536 Verwahrlosung (s. a. Kriminalität) 11, 52, 419, 553, 567 Verwaltung 240, 242, 267, 395, 421, 456, 476, 519, 528, 560 Verwandtschaft 208, 252, 283, 453, 481, 501, 531 Verzweiflung 6, 28, 63, 110, 123, 567 f. Viehzucht 9 Vielheit 79, 80, 491 Vision 24, 304 Volk 14 f., 17, 39, 53, 62, 98, 107, 128 f., 143, 179, 192, 211, 213, 237, 247, 255, 267, 311, 330, 350, 380, 383, 421 f., 447, 481, 484, 516, 567 f. Völker 21, 23, 25, 33, 62, 141, 168, 179, 199, 214, 219, 228, 249, 258, 277, 287, 316, 333, 353, 403, 521, 552 f. Völkerbund 145, 177, 463 Völkerrecht 352, 500 Völkischer Beobachter 631 Volksbildung 48, 217 Volksentscheid 134, 247, 424, 425 Volksgeist 257 Volksgemeinschaft 230, 490 Volksgesundheit 636 Volksglauben 363 Volkshochschule 54 Volksmenge 230, 385, 397, 516, 563 Volkspartei 118, 121, 297, 380, 411, 414, 430, 433, 454 Volksredner 508 Volksseuchen 636

737

Volkssouveränität 442 Volksstimmung 210 f., 296 Volksversammlung 125, 128 Volkswirtschaft 9, 33, 60, 179, 186, 190, 192, 197, 220, 223, 231, 380, 455, 557 f. Volkswirtschaftslehre 456, 581 Volkswohl 637 Volkszeitung, Schleswig-Holsteinische 625 f. Voraussetzungen 25, 31, 105, 130, 177, 253, 257, 580, 584 Vorgeschichte 25, 290 Vorlesungen 475, 500, 512, 540, 543 f., 549 Vorschrift 19, 99, 200, 227, 308, 459 Vorsehung 74, 284, 288, 311 Vorurteil(e) 134, 165, 167, 213, 288 f., 353, 364, 432 Vorwärts 409 Wachstum 84, 231, 233, 246, 264, 398, 430 Wahl 129, 144, 246, 297, 299, 315, 332, 404, 411 Wahlen 118, 142, 237, 247, 383, 413 Wähler 117, 247, 299, 356, 383, 404, 414, 455 Wahlerfolg 127, 379 Wählerschaft 247, 356, 383 Wahlrecht 6, 119, 217, 247, 404, 455 Wahn 27, 66, 106, 123, 127, 186, 215, 339, 350, 432, 480, 559 Wahnsinn 106, 122, 123, 350 Wahrhaftigkeit 92, 104, 435 Wahrheit 9, 21, 29, 40, 43 f., 56, 62, 66, 68, 72, 84, 88, 106, 108, 119, 127, 135, 139, 141, 144, 165−167, 170, 174 f., 189, 194, 204 f., 215, 225, 227, 239, 257, 273, 276 f., 279, 290, 302, 315, 317, 323 f., 333, 337, 339, 348, 355, 357, 361, 365, 369 f., 379, 403, 423, 430, 432, 435, 447, 470, 559 Wahrnehmen 79 Wahrnehmung 304, 307 Wahrscheinlichkeit 87, 92, 173, 272, 400, 404, 469 Wales 245, 553 Walker-Trust 616

738

Apparat

Walker-Trust: Essay 616 Wanderung 198, 518, 523 Ware 456, 571 Waterloo 299 Wechselwirkung 25, 393, 453 Weib (s. a. Frau) 11, 65, 81 Weimarer Verfassung (s. a. Reichsbanner, Reichsverfassung, Verfassung) XIX, 126, 299, 404, 425, 445 Weltanschauung 5, 27, 57, 137, 140, 208, 212, 267, 293, 297, 347 f., 363 Weltgeschichte 170, 256, 581 Weltkrieg (s. a. Hungerblockade, Krieg, Schuldfrage, Novemberrevolution, Versailler Friedensvertrag) XIX, 139, 179, 197, 235, 247, 381, 403, 552, 635−638 Weltkrise 123, 142, 398 Weltliteratur 581 Weltmarkt 179, 246, 561 Weltordnung 67 Weltpolitik 298, 375, 477 Weltstaat 352 Weltstadt 31, 419 Weltversammlung 403 Weltweisheit 279, 286, 364 Weltwirtschaft 185, 380, 388, 477, 557, 561, 644 Werkzeug 244, 261 Wert 6, 27, 33, 39 f., 51, 58, 65, 69, 80, 83, 99, 109, 129, 138, 170, 175, 201, 211, 230, 233, 276, 278, 322, 354, 360, 387 f., 423, 435, 438, 440, 469, 481, 490, 493, 496, 503, 510, 537, 541, 570, 573, 577, 580, 583 Werturteil(e) 291, 482 Wesenheit 338, 464, 491 Wesenwille(n) (s. a. Gemeinschaft, Kürwille, Wille) 83, 229, 463, 483 Westfalen 381, 402 Wettbewerb 10, 92, 179, 206, 223, 231 f., 245, 263, 456, 553 Whig(s) s. a. Tory) 245, 383, 396, 451 Widerspruch 24, 85, 104, 151, 194, 204, 275, 319, 356, 396, 439 Wiedergeburt (s. a. Buddhismus) 21, 27, 32, 43, 57, 61, 65, 67, 75, 103, 251 Wiederholung 424

Wiedertäufer 104, 260 Wien 496 Wildheit 106, 153 Wille (s. a. Begierde, Kürwille, Wesenwille) 28, 84, 99, 103, 127, 159, 175, 212 f., 233, 260, 316, 333, 349, 423, 579 Wille, sozialer 95, 492 Willensmeinungen 293 Willensrichtung 575 Willkür 37, 102, 220, 238, 367, 442, 445 Wirkung (s. a. Kausalität) 21, 25 f., 31, 44, 53, 72, 101, 125, 139, 150, 187, 195 f., 232, 278, 286, 288, 315, 324, 326, 347, 364, 393, 401, 403, 409, 423 f., 437, 440, 462, 470, 539, 562, 577, 579 Wirtschaft 122, 125, 144, 159, 197, 395, 397, 581 Wirtschaftsgeschichte 570, 581 Wirtschaftsleben 218, 225, 581 Wirtschaftspolitik 191, 219 Wissen (s. a. Glaube) 29, 32, 48, 79 f., 82, 85, 95, 109 f., 139, 162, 306 f., 318, 333, 350, 363, 374 Wissenschaft 17, 19, 21, 25, 29, 35, 66 f., 69, 161, 173, 183−185, 187, 189, 196, 208, 215 f., 219, 278, 292, 308, 312, 317, 329, 331, 333, 342, 350, 393, 410, 435, 443 f., 453, 459, 461 f., 481, 482, 491, 517, 563, 569, 574, 576 Witwer 565 Wochenblatt 527 Wohltätigkeit 87, 94 Wohnung 247, 420, 518, 525, 529, 533, 548, 560 Wollen 6, 56, 82, 84 f., 129, 130, 178, 187, 224, 229, 273, 483, 578 Wucher 99 Wucherer 259 Wucherfrage 100 Wucherverbot 100 Wunder 65, 185, 207 f., 321, 337 f., 349, 362 f., 368, 381, 423, 569 Wunderglaube 105, 183−187, 252 Wunsch 80, 89, 98, 141, 154, 214, 281, 292, 338, 399, 426, 542 Wünschen 6, 81, 184, 185, 272, 273, 483

Sachregister Würde 44, 48, 56, 65, 99, 109, 138, 155, 175, 208, 241, 337, 364, 369, 441, 481, 510 f., 547 Württemberg 402 Young-Plan 123 Zarismus (s. a. Russland) 141, 168, 171, 425, 478 Zeichen 16, 109, 247, 260, 305−309, 312, 319, 328, 331, 335, 385 Zeitalter 15, 20 f., 31, 44, 51, 65 f., 67, 72, 154, 245, 251, 254, 275 f., 285, 361, 363, 442, 573, 578, 580 Zeitgeist 11, 214, 245 Zeitgenossen 16, 131, 284, 362, 397, 450, 505, 507 Zeitung 115, 212, 217, 379, 417, 419, 424, 426, 429, 477, 514, 534 Zeitungen 62, 205, 212, 424, 450, 534, 566, 567, 638 Zeitungswesen 175, 214, 215, 638 Zensur 92, 211, 443, 450

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Zentralisation 23 Zentrum 130, 411 Zerstörung 5, 16, 67, 380, 385, 452, 454 Ziel 28, 32, 57, 127, 138, 171, 181, 187, 191, 198, 232, 233, 353, 356, 409, 442, 514 Zins(en) 99, 124 Zivilisation 11, 13, 24, 141, 173, 229, 392, 403 Züchtigung 91, 126 Zufall 97 Zukunft (s. a. Neue Botschaft) 5, 7, 39, 40, 51, 53, 123, 138, 153, 162, 180, 210, 224, 226, 233, 249, 274, 305, 335, 350, 356, 480, 578 Zukunftsvision 286 Zünfte (s. a. Feudalismus, Mittelater) 265 Zürich 495, 548 Zuschauer 306 Zwang 31, 122, 183, 211, 352 Zweck (s. a. Kausalität) 89, 92, 181, 229, 356, 393, 414, 439, 468, 538 Zynismus 291

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 1

1875 —1892: Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: „Was ist studentische Reform“ — De Jove Ammone quaestionum specimen · Schriften · Rezensionen

Band 2

1887: Gemeinschaft und Gesellschaft

Band 3

1893 —1896: „Ethische Cultur“ und ihr Geleite — Im Namen der Gerechtigkeit — L’évolution sociale en Allemagne — Hobbes · Schriften · Rezensionen

Band 4

1897—1899: Der Nietzsche-Kultus — Die Wahrheit über den Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg — Über die Grundtatsachen des socialen Lebens · Schriften · Rezensionen

Band 5

1900 —1904: Politik und Moral — Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit — L’évolution sociale en Allemagne (1890 —1900) · Schriften

Band 6

1900 —1904: Schriften · Rezensionen

Band 7

1905—1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker — Strafrechtsreform — Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht · Schriften · Rezensionen

Band 8

1907 —1910: Die Entwicklung der sozialen Frage — Die Sitte · Schriften · Rezensionen

Band 9

1911—1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie — Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung · Schriften · Rezensionen

Band 10 1916 —1918: Die niederländische Übersee-Trust-Gesellschaft — Der englische Staat und der deutsche Staat — Theodor Storm — Weltkrieg und Völkerrecht — Menschheit und Volk · Rezensionen Band 11 1916 —1918: Schriften Band 12 1919 —1922: Der Gang der Revolution — Die Schuldfrage — Hochschulreform und Soziologie — Marx — Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914 · Schriften

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 13 1919 —1922: Schriften · Rezensionen Band 14 1922: Kritik der öffentlichen Meinung Band 15 1923 —1925: Innere Kolonisation in Preußen insbesondere der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung I · Schriften Band 16 1923 —1925: Schriften · Rezensionen Band 17 1926 —1927: Das Eigentum — Fortschritt und soziale Entwicklung — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung II — Der Selbstmord in Schleswig-Holstein Band 18 1926 —1927: Schriften · Rezensionen Band 19 1928 —1930: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878 — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung III · Schriften Band 20 1928—1930: Schriften · Rezensionen Band 21 1931: Einführung in die Soziologie · Schriften · Rezensionen Band 22 1932 —1936: Geist der Neuzeit · Schriften · Rezensionen Band 231 1880 —1918: Nachgelassene Schriften Band 232 1919 —1936: Nachgelassene Schriften Band 24 Schlussbericht zur TG · Gesamtbibliographie und -register