Gesamtausgabe (TG). Band 22,1 1931–1936: Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen 9783110800289, 9783110158540


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German Pages 636 [640] Year 1998

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Table of contents :
Inhalt nach Abteilungen
Inhalt nach Sachgebieten
Abkürzungen und Siglen
Vorwort
I. Monographie
Geist der Neuzeit
II. Schriften
Der Justizmord von Versailles
[Die Lebenssumme]
Höffding und die Sozialdemokratie
Zur Erkenntnis des genossenschaftlichen Geistes
Hegels Naturrecht
Sie wissen nicht, was sie tun
[La gravité de l'heure]
[Forord]
Der Sinn der Familie
Zu Harald Höffdings Gedächtnis
Das soziale Leben der Familie
Takt in der Politik
Schleswig-Holsteiner, hört!
Urteile und ihre Zuverlässigkeit
Erhebung?
Rudolf Goldscheid (1870-1931)
Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931)
Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland
Hobbes und Spinoza
Mein Verhältnis zur Soziologie
[Das Dasein des Theaters]
„Fridericus"
Das Breslauer Ereignis
Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914
Shylock
David Koigen (1879-1933)
Sitte und Freiheit
Wirkungen der Arbeitlosigkeit in England
Gemeinwirtschaft und Gemeinschaft
Het geestelijk karakter van de moderne geschiedenis-periode
Das Recht auf Arbeit
Gemeinschaft und Gesellschaft: Vorwort zur achten Auflage
Contributions à l'histoire de la pensée de Hobbes. Lettres inédites
G. v. Mutius og den danske Kultur
An den VIII. Internationalen Philosophenkongreß in Prag
III. Rezensionen
Synder, Alice D., Coleridge on logic and learning
Die wirtschaftliche und soziale Lage der Angestellten
Das statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich
Allgemeine Wirtschaftsgeschichte
Thomas Hobbes' Mechanical Conception of Nature
The central problem of David Hume's philosophy
Die soziale Schichtung des deutschen Volkes
Goethes Sprüche in Prosa
Apparat
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Gesamtausgabe (TG). Band 22,1 1931–1936: Geist der Neuzeit. Schriften. Rezensionen
 9783110800289, 9783110158540

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Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22

w

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe

der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V.

herausgegeben von Lars Clausen • Alexander Deichsel Cornelius Bickel • Rolf Fechner Carsten Schlüter - Knauer

Walter de Gruyter • Berlin • New York 1998

Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe Band 22 1932-1936 Geist der Neuzeit Schriften Rezensionen

herausgegeben von Lars Clausen

Walter de Gruyter • Berlin • New York

1998

Die Edition des Bandes 22 der Tönnies-Gesamtausgabe wurde von der „Stiftung 200 Jahre Sparkasse Kiel" gefördert, welche anlässlich dieses Jubiläums der ältesten Sparkasse Schleswig-Holsteins von ihr im Mai 1996 errichtet worden ist.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek



ClP-Einheitsaufnahme

Tönnies, Ferdinand: Gesamtausgabe : T G / Ferdinand Tönnies. Im Auftr. der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft e.V. hrsg. von Lars Clausen ... — Berlin ; New York : de Gruyter ISBN 3-11-015348-3 Bd. 22. 1 9 3 2 - 1 9 3 6 : Geist der Neuzeit, Schriften, Rezensionen / hrsg. von Lars Clausen. — 1998 ISBN 3-11-015854-X

© Copyright 1998 by Walter de Gruyter G m b H & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz &C Bauer G m b H , Berlin Schutzumschlag: Rainer Engel, Berlin

Inhalt nach Abteilungen Verzeichnisse Inhalt nach Abteilungen Inhalt nach Sachgebieten Abkürzungen und Siglen Vorwort Lars Clausen I. Monographie Geist der Neuzeit Vorrede Inhaltsverzeichnis [Text] Namenregister Sachregister Schriften von Ferdinand Tönnies II. Schriften Der Justizmord von Versailles Unser klares deutsches Recht aus dem Anklagefrieden . . [Die Lebenssumme] Höffding und die Sozialdemokratie Zur Erkenntnis des genossenschaftlichen Geistes Hegels Naturrecht Zum Gedächtnis an Hegels Tod (f 14. November 1831) . . Sie wissen nicht, was sie tun [La gravite de l'heure] -> [Forord] Der Sinn der Familie Zu Harald Höffdings Gedächtnis Das soziale Leben der Familie Takt in der Politik Bemerkungen zu einer unerfreulichen Episode

V IX XIII

XIX 1 3 5 9 15 219 220 224 227 229 234 236 243 247 266 270 271 274 280 286 294

VI

Inhalt nach Abteilungen

Schleswig-Holsteiner, hört! Offener Brief an meine Landsleute in der Nordmark . . .

299

Urteile und ihre Zuverlässigkeit Erhebung?

302 305

Rudolf Goldscheid ( 1 8 7 0 - 1 9 3 1 ) Ladislaus von Bortkiewicz ( 1 8 6 8 - 1 9 3 1 ) Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland Hobbes und Spinoza Mein Verhältnis zur Soziologie

308 315 320 324 327

[Das Dasein des Theaters] „Fridericus" Das Breslauer Ereignis Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914 . . . Shylock

350 352 354 357 381

David K o i g e n f ( 1 8 7 9 - 1 9 3 3 ) Sitte und Freiheit Wirkungen der Arbeitlosigkeit in England Gemeinwirtschaft und Gemeinschaft Het geestelijk karakter van de moderne geschiedenis-periode Das Recht auf Arbeit Gemeinschaft und Gesellschaft: Vorwort zur achten Auflage Contributions à l'histoire de la pensée de Hobbes. Lettres inédites G. v. Mutius og den danske Kultur An den VIII. Internationalen Philosophenkongreß in Prag . .

386 391 402 404 416 428 443

III. Rezensionen Synder, Alice D., Coleridge on logie and learning Die wirtschaftliche und soziale Lage der Angestellten . . . . Das statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich Cunow, Heinrich, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bände 3 und 4 . . . . Brandt, Frithjof, Thomas Hobbes' mechanical conception of nature . . . . Salmon, C. V., The central problem of David Hume's philosophy . . . . Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes Goethes Sprüche in Prosa

444 459 465 471 473 475 478 489 494 496 498 503

Inhalt nach Abteilungen

Apparat Editorischer Bericht (nur darin: Dienst am Vaterlandf Phrasen! Blecherne Waffen!) . . . . Bibliographie (auch: Drucknachweise der edierten Texte) . . Register der Publikationsorgane Personenregister Sachregister . Plan der Tönnies-Gesamtausgabe

VII

513 515 522 551 573 575 587 614

Inhalt nach Sachgebieten Der Wissenschaftler Reine Soziologie, Philosophie, Axiomatik Synder, Alice D., Coleridge on logic and learning

473

Hegels Naturrecht. Zum Gedächtnis an Hegels Tod (14. November 1831) . . 247 [Forord] 271 Zu Harald Höffdings Gedächtnis 280 Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland 320 Hobbes und Spinoza 324 Brandt, Frithjof, Thomas Hobbes' mechanical conception of nature . . . 494 Mein Verhältnis zur Soziologie 327 David K o i g e n t ( 1 8 7 9 - 1 9 3 3 ) 386 Salmon, C. V., The central problem of David Hume's philosophy . . . 496 Gemeinschaft und Gesellschaft: Vorwort zur achten Auflage 443 Contributions à l'histoire de la pensée de Hobbes. Lettres inedites An den VIII. Internationalen Philosophenkongreß in Prag

444 465

Angewandte Soziologie, Deduktion [Forord]

271

Der Sinn der Familie

274

Das soziale Leben der Familie Rudolf Goldscheid ( 1 8 7 0 - 1 9 3 1 )

286 308

Cunow, Heinrich, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bände 3 und 4 . . . Mein Verhältnis zur Soziologie Sitte und Freiheit

. 489 327 391

Gemeinwirtschaft und Gemeinschaft Het geestelijk karakter van de moderne geschiedenis-periode Geist der Neuzeit

404 416 3

X

Inhalt nach Sachgebieten

Soziographie, Statistik, Induktion Die wirtschaftliche und soziale Lage der Angestellten . . . 475 Das statistische Jahrbuch für das Deutsche Reich 478 Urteile und ihre Zuverlässigkeit 302 Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931) 315 Mein Verhältnis zur Soziologie 327 Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914 . . 357 Geiger, Theodor, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes 498 Der Republikaner und Humanist Krieg und Frieden, Kriegsursachen 1914 Der Justizmord von Versailles Unser klares deutsches Recht aus dem Anklagefrieden . . 229 Sie wissen nicht, was sie tun 266 [La gravite de l'heure] 270 Dienst am Vaterland? Phrasen! Blecherne Waffen! . . . . 522 Republik, der Kampf gegen Hitler Höffding und die Sozialdemokratie Sie wissen nicht, was sie tun Takt in der Politik. Bemerkungen zu einer unerfreulichen Episode Schleswig-Holsteiner, hört! Offener Brief an meine Landsleute in der Nordmark . . Urteile und ihre Zuverlässigkeit Erhebung? Rudolf Goldscheid (1870-1931) Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931) . [Das Dasein des Theaters] „Fridericus" Das Breslauer Ereignis Shylock Gemeinschaft und Gesellschaft: Vorwort zur achten Auflage An den VIII. Internationalen Philosophenkongreß in Prag

236 266 294 299 302 305 308 315 350 352 354 381 443 465

Wirtschafts- und Sozialpolitik, Weltwirtschaftskrise Zur Erkenntnis des genossenschaftlichen Geistes Urteile und ihre Zuverlässigkeit

243 302

Inhalt nach Sachgebieten

Rudolf Goldscheid (1870-1931) „Fridericus" Wirkungen der Arbeitlosigkeit in England Gemeinwirtschaft und Gemeinschaft Das Recht auf Arbeit

XI

308 352 402 404 428

Familienpolitik Der Sinn der Familie Das soziale Leben der Familie

274 286

Lebensläufe Höffding und die Sozialdemokratie Zu Harald Höffdings Gedächtnis Rudolf Goldscheid (1870-1931) Ladislaus von Bortkiewicz (1868-1931) Mein Verhältnis zur Soziologie David Koigenf (1879-1933) Contributions à l'histoire de la pensée de Hobbes G. v. Mutius og den danske Kultur

236 280 308 315 327 386 444 459

Ad Vitam [Die Lebenssumme] [Das Dasein des Theaters] Goethes Sprüche in Prosa

234 350 503

Abkürzungen und Siglen A u f g e n o m m e n w u r d e n s ä m t l i c h e in T e x t o d e r A n m e r k u n g e n

vorkom-

m e n d e n A b k ü r z u n g e n u n d Siglen, bis a u f die h ä u f i g a b g e k ü r z t e n V o r n a m e n u n d gel. a u c h N a c h n a m e n ; d e n n diese e r s c h e i n e n in T ö n n i e s ' T e x t selbst o d e r in d e n A n m e r k u n g e n d a z u , s o n s t i m P e r s o n e n r e g i s t e r (s. S. 5 7 5 — 5 8 5 ) . Kursive

(z. B . ESoz)

Abkürzungen

t ö n n i e s s c h e r W e r k e . Kursives

in den

Erläuterungen

bezeichnen

Siglen

zeigt n i c h t d e u t s c h e

W ö r t e r a n (fehlt ein H i n w e i s , s o e n t s t a m m t es d e m E n g l i s c h e n ) . a. a. a. a.

a. d. d. h.

O. E. L. w.

a. M. a. S Abs. Abschn. Abt. Afa, AfA Afd. allg. Anm. antisem. Art. AT Aufl. Ausg. B. G. B. b . V.

bad. bayer. Bd.; Bde. bearb. belg. Bibl. BGB, BGB.

am angegebenen Orte an der Elbe an der Luhe als het ware [ni.: gleichsam] am Main an der Saale Absatz Abschnitt Abteilung Arbeitsgemeinschaft freier Angestelltenverbände Afdeling [dän.: Abteilung] allgemein(e) Anmerkung antisemitisch (er) Artikel Altes Testament Auflage Ausgabe -BGB bij voorbeeld [nl.: zum Beispiel] badisch(er) bayerisch(er) Band; Bände bearbeitet belgisch Bibliothèque [frz.] Bürgerliches Gesetzbuch

bl. böhm. Bp. brit. ca. Cambr. Cb54 ch. christl. d. d. d. d.

[3] Gr. [2] h. i.

d.J. D. L. L. D. Lit. D. Sc. d. w. z. dän. das. déc. dem. ders. dgl- [2] DGS

blühte [hist.-fachsprachlich svw. „wirkte"] böhmisch Bishop britisch circa [lat.], zirka Cambridge [= Signatur des Nachlasses Tönnies, SHLB] chapter christlich der; des; die der/die Große das heißt das ist des Jahres Doctor of Laws Doctor of Literature Doctor of Science dat wil zeggen [nl.: das heißt] dänisch daselbst décembre [frz.] demokratrisch(er) derselbe dergleichen; desgleichen Deutsche Gesellschaft für Soziologie

XIV dies. Diss. DLZ. DNVP Dr. Dr. h.c. Dr. jur. Dr. phil. Dr. rer. pol.

dt.; Dt.

e.V. ebd. ed. eGmbH

eGmuH

eigtl. einschliessl. Emp. engl. erw. ESoz ESozD

etc.

f. [2]

Abkürzungen und Siglen dieselbe(n) Dissertation Deutsche Literaturzeitung [Wochenschrift] Deutschnationale Volkspartei Doktor Doctor honoris causa [lat.: Ehrendoktor] Doctor iuris [lat.: Doktor des Rechtes] Doctor pbilosophiae [lat.: Doktor der Philosophie] Doctor rerum politicarum [lat.: Dr. der (Wirtschaftlichen) Staatswissenschaften; (später nur noch: der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften)] deutsch(e/er/es); Deutscher eingetragener Verein ebenda edidit [lat.: (er/sie) hat herausgegeben] svw. „hgg. v." eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht eingetragene Genossenschaft mit unbeschränkter Haftpflicht eigentlich einschließlich Emperor englisch erweitert(e) „Einführung in die Soziologie" „Entwicklung der Soziologie in Deutschland im 19. Jahrhundert" et cetera [lat.], und so weiter [nur eine] folgende [Seite]; für

f. Eks., f. eks. Feb. federf. ff. Forschg. Frhr. frz. Fsm. FTG

G.m.b.H. GBB

GdN geb. gel. gespr. Gf.; Gfn. ggfGmbH grGr. gsGuG

H. H.W.

[dän.] zum Beispiel Februar federführender [mehrere] folgende [Seiten] Forschung Freiherr französisch Fürstentum Ferdinand-TönniesGesellschaft ->GmbH „Die Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung" „Geist der Neuzeit" geboren (e) gelegentlich gesprochen Graf; Gräfin gegebenenfalls Gesellschaft mit beschränkter Haftung griechisch ->• d. Gr. geschieden „Gemeinschaft und Gesellschaft"

Heft bandwoordenboek [nl.: Handwörterbuch] Halbbd. Halbband HAna I, II, III „Hobbes-Analekten" [I, II. III] [nur ein] Herausgeber Hg. hgg.; Hgg. herausgegeben; [mehrere] Herausgeber Herausgeberin; HerausgeHgn.; Hgnn. berinnen hist. historisch Hobs ,,Hobbes[.] Leben und Lehre" (H896); „Thomas Hobbes[.] Der Mann und der Denker" ( 2 1912, 3 1925)

Abkürzungen und Siglen Holst. Hr. Hrsg. hs. HWB Hz.; Hzm.

Holstein Herr Herausgeber handschriftlich(er) Handwörterbuch Herzog; Herzogtum

i.A. i. B., i. Br. i. d. R.

im Auftrage im Breisgau in der Regel im Jahr im Rahmen im Üechtland in Verbindung mit Institut International Sociologie irisch (er) irrtümlich israelisch italienisch(er)

i- Ji. R. i. Ü. i. V. m. IIS ir. irrt. isr. it. Jahrh. janv. jap. Jb. JgJh. Jt. Kap. KgKöM Kyd. lat. Id. Ld., Lds Lfg. lib. lt. [2] luth. M . [3]

M . A. m. a. W. m. b. H. [2]

M . S. männl. MEGA MEW

de

Jahrhundert janvier [frz.: Januar] japanisch(er) Jahrbuch Jahrgang Jahrhundert Jahrtausend Kapitel(s) König „Kritik der öffentlichen Meinung" Anm. S. 110 lateinisch ledig (His) Lordship titelung] Lieferung liberal (er) laut; letzte(r) lutherisch (er)

[engl. Be-

Mark; Monsieur [frz.: Herr]; Reichsmark

mntl. Möns. MPG Mr. Ms., MS. Mss., MSS.

XV Magister Artium [lat.] mit anderen Worten mit beschränkter Haftpflicht (-> eGmbH); mit beschränkter Haftung (-+ GmbH) Manuskript männlich Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe Karl Marx Friedrich Engels Werke monatlich Monsieur [frz.: Herr] Max-Planck-Gesellschaft Mister Manuskript Manuskripte,

n. N. D. L. R. N. S. D. A. ] Nachf. neuseeld. niederdt. nl. [2] nordam(eril norw. Nouv. Nov. Nr.; Nrn. NS ns, ns. NSDAP, NSDAP. NW o. o. o. o.

[2] a. J. ö.

oct., Oct.

manuscripts

nach note de la redaction [frz.: Hinweis der Redaktion] ->• NSDAP Nachfolger neuseeländisch niederdeutsch namelijk [nl.], svw. nämlich; niederländisch nordamerikanisch(er) norwegisch nouvelles [frz.: neue] November [dt., engl.] Nummer; Nummern Nationalsozialismus nationalsozialistisch (e/er/ es) Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nordwest oben; ohne oder anderes ohne Jahr(esangabe) ordentliche(r) öffentliche^) octobre [frz.], October [engl.]

XVI

Abkürzungen und Siglen

ordentl. Orig. österr. Ostpr.

ordentliche(r) Original österreichisch Ostpreußen

p.

pagina [lat., ni.], page [engl., frz.], svw. Seite Pater [lat.], Père [frz.], [Ordens]Pater pro anno [lat.], jährlich

P. p. a. P. S. Patr.

post scriptum [lat.], Postskript, Nachschrift Patriotische

pg. Ph. Ph. D.

pagina [lat., nl.: Seite] Phantasien Philosophiae Doctor [lat.; im engl. Sprachbereich: Doktor der Philosophie] phänomenolog. phänomenologisch(e/n) phil.; philos. philosophisch(e/n) preuß. preußisch(er) Prof. Professor R. K.

rad.

Kooms-Katholiek [nl.], svw. Römisch-Katholisch rijksnormallessen [nl.], svw. nl. staatliche Lehrerseminare radikal(er)

red.; Red. Rez. RGBl RM [2] röm.

redaktionell(e); Redaktion Rezension Reichs-Gesetz-Blatt Reichsmark; Rentenmark römisch

russ. RWR

russisch Reichswirtschaftsrat

s. S. S. J.

siehe Seite(n) Societas Jesu [lat.: Jesuitenorden] siehe oben

r. n. 1.

s. u. SA, SA. Schlesw. Schufr

sh.

s. t. [2]

sine tempore [lat.: svw. pünktlich]; sub titulo [lat.: unter dem Titel]

„Die Schuldfrage: Rußlands Urheberschaft nach Zeugnissen aus dem Jahre 1914" Shilling

SHLB

Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek

Sit sog., sogen.

„Die Sitte" sogenannt(en)

soz.-dem.

sozialdemokratisch (er) Spalte(n)

Sp. Spin Ss. SSK St. Stud. svw.

„Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza" [mehrere] Seiten „Soziologische Studien und Kritiken" Sankt Studiosus [lat.], Student soviel wie

t. t. a. v.

tome [frz.: Band] ten aanzin van [nl.: hinsichtlich, bezüglich]

t. z. t.

te zijner tijd [nl.: seinerzeit] Tabelle(n)

Tab. Tend

„Die Tendenzen des heutigen sozialen Lebens"

TG

„Tönnies-Gesamtausgabe"

u. [3]

unbestimmte Art des Zivilstandes (S. 3 7 6 - 3 7 9 ) ; und; unten und andere; unter anderem/n

u. a. [2]

s. o.

siehe unten Sturm-Abteilung Schleswig

u. a. m. u. Aa. u. d. T. u.f. u. ö.

und andere mehr und [mehrere(r)] andere(r) unter dem Titel und folgende und öfter [meist: an gleicher Werkstelle in anderen Aufl.]

Abkürzungen und Siglen U. S. A. ung. Univ. USA usf. usw.

United States of ungarisch(er) University U. S. A. und so fort und so weiter

America

v. V. v. H. VB

von „Vorwärts" [Ztg.] vom Hundert, % „Völkischer Beobachter" [Ztg.]

verb. Verf. verh. verm. vgl. vmtl. vnl.

verbessert(e) Verfasser verheiratet vermehrt vergleiche vermutlich voornamelijk [nl.: besonders, vornehmlich]

Vol.

Volume, Band

VSK. vw. WegzF Westpr. wiss. WRV

Z.[2] z. B. z. i. z. T. ZarB Zeitschr. zgl. Zs. Ztg.

XVII Verband der schweizerischen Konsumvereine verwitwet „Wege zu dauerndem Frieden" Westpreußen wissenschaftlich(e) Weimarer Reichsverfassung Zeile; Ziffer zum Beispiel zijns inziens [nl.: seines Erachtens] zum Teil „Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914" Zeitschrift zugleich Zeitschrift Zeitung

Vorwort Ziel In der „Tönnies-Gesamtausgabe" ist dieser der Band 22. Was Ferdinand Tönnies (1855 — 1936) ab 1932 bis zu seinem Tod veröffentlichte, wird hier vorgelegt. Wissenschaftlich soll es denen helfen, die in oder mit dem Fach arbeiten, das er fundieren wollte: der Soziologie. Auch kann er denen nützen, die sich gedrängt sehen, soziologische Urteile zu Ratschlägen fortzuentwickeln. Nach lebenslanger Beschäftigung mit der Sozialen Frage hatte den bereits Fünfundsiebzigj ährigen Hitlers Bewegung aufs Höchste alarmiert.

Lage Band 22 erscheint als erster der 24-bändig ausgelegten TG. An seinem Schluss geben wir ihren Überblick: Das gedruckte Lebenswerk eines Gründervaters der deutschen Soziologie wird kritisch herausgegeben und somit der internationalen Forschung und Lehre erschlossen. Tönnies' letzte fünf Jahre wurden zu den Jahren der Niederlage. Es war nicht, dass er lebenslange Begleiter verlor — obgleich ihn der Tod seines Gesprächspartners, des Dänen Harald Höffding, hart ankam. Sondern sein eignes Land richtete ihn zu Grunde: Der „Humanist und Republikaner" (Wilhelm Kähler) hatte 1930 den Feinden der Republik sein Nein zugerufen und war entgegen seinen Grundsätzen als Gelehrter doch einer Partei beigetreten, derjenigen, die sein Leben lang für die Demokratie gestritten hatte, der SPD. Wie Andere fiel er jetzt, 1933, mehrheitlicher Willkür zum Opfer, die das Deutsche Reich einer erkennbar kriminellen Organisation gerne überließ. Von seiner Universität zu Kiel vertrieben, als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gestürzt, bei gestrichenen Pensionsansprüchen und verarmender Familie, unter wachsender Sorge um seine Schüler, wurde er vergessen gemacht. Sein ganzes Spätwerk rückte in diesen Schatten — zumal sein Jahrzehnte lang erarbeitetes letztes Buch „Geist der Neuzeit", tapfer von Hans Buske in Leipzig noch 1935 verlegt und das Entree dieses Bandes.

XX

Vorwort

Es ist also gut, dass 1998 der unbekannt gemachte späteste Tönnies zuerst, kritisch und vollständig, zugänglich wird. Denn seine Hauptthemen jener Jahre sind die heutigen. Einmal: Was vermag laut Tönnies die Soziologie angesichts der globalen Ausbreitung der Handelsnetzwerke zu sehen, zu urteilen, zu folgern? Werden alle sozialen Bindungen, selbst die engsten, unausweichlich zu sozialem Kleingeld? Oder kann es noch eine („solidarische", „schwesterliche", „kommunitaristische"?) Eintracht geben? Wenn Sie das Inhaltsverzeichnis „nach Sachgebieten" (S. IX) aufschlagen, so finden Sie in der Rubrik „Der Wissenschaftler" auf einen Blick den „Geist der Neuzeit" und die Abhandlung „Mein Verhältnis zur Soziologie". Zumal in diesen nimmt Tönnies solche, seine Lebensthemen neu auf. Zweitens: Eine Weltwirtschaftskrise lässt immer mehr Arbeitslose an ihrem und ihrer Nächsten ökonomischem Fortkommen verzweifeln, sie werden ihrer politischen Verfassung überdrüssig, und ihre geistige und moralische Geduld reißt. Ratsam zu lesen sind also in der nächsten Rubrik zum Beispiel ein Leitartikel wie „Shylock" oder die Abwägung von Revolution gegen Reform in „Das Recht auf Arbeit" (s. S. Xf.). Z u m letzten: Wie hält man unter der Verbrecherzensur Stand? Alle Stücke sind hier bedenkenswert; genannt seien die Rezension eines alten Buches, „Goethes Sprüche in Prosa", und der Nachruf auf David Koigen.

Vorgehen Eine generelle Darstellung der TG gehört nicht in ihren Band 22, sondern in deren künftigen letzten, den 24., mit der Zusammenführung sämtlicher Register. Hierorts wird für Ausführlicheres auf die (die ganze TG begleitende) Reihe „Tönnies im Gespräch. Studien und Entwürfe" (Deichsel/Clausen 1991 ff.) hingewiesen. Jedoch sind Hauptpunkte sofort zu nennen, nämlich wie das Konzept der TG auf diesen Band angewandt im Folgenden erscheint. (1) Die 45 — von Tönnies autorisiert — veröffentlichten Texte der Jahre 1932—1936 werden vor dem Zeitenfraß gesichert, d. h. hier treu wiedergegeben. Wie wir dabei genau verfahren, sagt der „Editorische Bericht" auf den Seiten 515-550. Dass noch unbekannte Texte von damals, etwa in der Tagespresse, auftauchen, ist nicht auszuschließen, aber nach systematischer und wiederholter Suche nicht ohne Weiteres erwartbar (vgl. bereits Fechner 1992). Noch Entlegeneres aufzufinden ist mög-

Vorwort

XXI

lieh, ausgeliehene und vor allem unautorisierte Motti oder Kalendersprüche (vgl. Tönnies 1932dd); auch war eine Falsifikation nötig (Tönnies 1932ee nach Brenke 1936). (2) Diese Texte werden zwar erschlossen. Aber nichts soll ihnen ins Wort fallen. Daher sind sie von herausgeberischen Zeichen ganz frei gehalten worden, und findet sich eine Fußnote, so stammt sie von Tönnies. Was er hervorhob, ist einheitlich kursiv (in Kursivtexten wiederum recte). Was er in Sprachen publizierte, die er für eine Autorisierung genugsam beherrschte, erscheint also auch auf Dänisch, Englisch, Französisch oder Niederländisch; solchenfalls gibt der Editorische Bericht eine deutsche Fassung oder Übersetzung. Zuunterst auf den Seiten jedoch orientieren unsere Anmerkungen über Erscheinungsort und -weise, über genannte Personen, Schriften, Tatsachen, über Texteinrichtung, -Varianten und -Verderbnisse, über die Genauigkeit von Zitaten. Sie geben auch Übersetzungshilfen und Worterläuterungen: Die TG wird international, also auch von denen benutzt werden, deren Muttersprache Deutsch nicht ist. Das alles kann bewirken, dass ein hochkarätig wissenschaftlicher Text, der sich selbst erläutert, sparsam annotiert bleiben kann; indes eine tagespolitische Äußerung zahlreiche Kleinfakten nennt, die ihrer Leserschaft als Textumfeld präsent waren, die aber sechzig Jahre später ihren Raum verlangen. Um die Verflechtung der Texte zu erschließen, auch heutige Anschlussmöglichkeiten, wurde ein sog. Denkendes Sachregister erstellt (leicht auffindbar als letzte Rubrik des Bandes, S. 587-612), das Tönnies' Terminologie und die heutige berücksichtigt. Im Einzelnen soll es den Suchenden Mühe sparen, und so ist es umfänglich. Überhaupt kann ein bedacht untergliederter Apparat hier erwartet und muss nicht begründet werden. Er beginnt auf S. 513. (3) Die Texte wurden (wie stets in der TG) nach den drei Textsorten „Monographien", „Schriften" und „Rezensionen" in die Abteilungen I bis III eingeordnet. Abgekürzt und herkömmlich lässt sich das damit begründen, dass Einzelveröffentlichungen in Œuvres am schwersten wiegen, und dass am anderen Ende der Skala Buchbesprechungen am auffälligsten davon geprägt sind, dass sie dienen. Das Inhaltsverzeichnis „nach Abteilungen" (das sich so in jedem Bande der TG findet) stand schon auf S. V—VII. Innerhalb der Abteilungen kommt wieder das Prinzip der zeitlichen Abfolge der Publikationen zum Zuge, das die ganze „TönniesGesamtausgabe" regiert.

XXII

Vorwort

Erfahrungen und deren Folgen Um mit intellektuellen Erfahrungen zu beginnen: So bereitwillig lässt man sich als Herausgeber auf einen Klassiker ganz anderen Zuschnitts gar nicht ein. Aber mit der Intensität der Beschäftigung wächst die Achtung, und damit die Zahl der Querverweise. Wer sich intensiv in einem, in diesem Jahrfünft 1932—36 bewegt, stellt immer wieder fest, wie auch Texte aus ganz verschiedenen Rubriken miteinander korrespondieren. So werden zahlreiche, sonst leicht überflogene Formulierungen aufschlussreicher, wenn man ihre Entfaltung in älteren oder parallelen oder nachfolgenden Texten beobachtet. Ein Autor schreibt, mehr als er selber wissen mag, für einen „ideellen Gesamtleser", der Alles von ihm im Kopf hat. Unter diesen Umständen rücken üppige Kommentare, die das ganze Leben Tönnies' im Blickfeld halten, verführerisch nah. (Sie sind zum Glück über Editorenkraft, selbst wenn ich mir geradezu eine „Historisch-kritische Ausgabe" hätte vornehmen dürfen. Die TG hat diesen Vorsatz aber nur für Band 2, GuG, „Gemeinschaft und Gesellschaft", zugelassen.) Gemeinhin gilt jedoch für alle Kritischen Ausgaben und so auch für unsere: Ihre Herausgeber sollen nicht interpretieren. Sie sollen fleißig sein und anheim stellen. Kann das ihresgleichen je gelingen? Wissenschaftstheoretiker drehen die Augen her. Jedenfalls sind das forscherische Auslegen und Ordnen, das Verflechten und zumal die pointierende Hervorhebung allesamt Aufgaben kommender Leute. Was aber die Leserschaft des Bandes 22 und der TG zumindest verlangen kann, ist dienliche Lesbarkeit, und dies unter dem Aspekt jener Jahre, ganz gleich, wie das am Herausgeber zerrt. Das Ergebnis ist mein innerer Waffenstillstand. Dabei bedurfte, was sich dem gelehrten Sinn durch Nachvollzug erschließt, zunächst nur trockenster, meist bibliographischer Hilfen. Wo Tönnies zitiert, wurde dies jetzt vorzugsweise an Hand von Editionen geprüft, von denen wir wissen, dass sie nach seinem Tode noch im Haus waren. Sonst wurde nach Möglichkeit auf Erstausgaben zurückgegriffen. Aus dem Gedächtnis Zitiertes kann zwar auf Erstdrucke oder Uraufführungen zurück geführt werden, aber wo ein geflügeltes Wort gestartet sein mag ... im Zweifel im Griechisch-, Latein- oder Deutschunterricht. Ehe man auch die eher seltenen Anlässe wahrnimmt zu folgern, dass der

Vorwort

XXIII

alte Tönnies fahrig abschrieb, bedenke man: Er war ab 1933 gezwungen, Teile seiner Bibliothek zu verkaufen — oft war ihm eine bessere Verifikation älterer Literatur ohne relativ hohen Aufwand gar nicht mehr möglich. Nebeneinander konnte er so noch genau nachschlagen oder musste alte Notate heranziehen, die ins 19. Jahrhundert zurück reichen mögen, sogar in sein Studium; und damals konnten Quellenhinweise lakonischer sein. Wo Tönnies ersichtlich aus zweiter Hand arbeitete und die Originalquelle ihm selbst nicht diente noch dienen sollte, weisen wir (vor allem: indirekte) Zitate nicht bis zu den Quellen der Quellen nach. Unerreichtes wurde vermerkt. Jedoch verlangt Ferdinand Tönnies' Tagesschriftstellerei zu Tagesthemen, dass auch Tagesgespräche leidlich rekonstruiert werden, bis hin zu manchmal läppisch anmutendem Heraufzitieren. Und so kontaminieren einander die wissenschaftlichen und die politischen Probleme doch, so musste ich mitunter selbst einzelne Wörter hin und her wenden. Zumal dann, wenn in theoretischen Erörterungen die unterirdische Angst vor den Erfolgen Hitlers rumort, und wenn nach dessen Machteinsetzung am 30. Januar 1933 Einsamkeit und Vorsicht mit am Ruder stehen. Das selbe Wort kann in einem Text von 1900 ohne Stichwortverweis bleiben und in einem von 1936 editorisch rechtfertigen, zum Beispiel „Schwarmgeisterei" zu vergeben. Die editorischen Probleme wären hier weitaus größer gewesen, hätte Tönnies schnell verzagt. Doch so war es nicht, er hat seine eigene Deutlichkeit, und vielleicht versteht sich das besser, liest man seinen Mentor nach, Theodor Storm, in der Niederlage: „Sie halten Siegesfest, sie ziehn die Stadt entlang ..." Und zum Glück war der Bandherausgeber mit seinen Sorgen nicht allein. Das Herausgebergremium der Tönnies-Gesamtausgabe, und das waren noch Alexander Deichsel, Cornelius Bickel, Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer, beriet sich in fleißig-regelmäßigen Arbeitssitzungen, schon seit Jahren, oft auch traten Helferinnen oder Helfer an je eigenen Editionsaufgaben hinzu. — An anderer Stelle ist dankbar jener zu denken, die die ganze TG mit vom Stapel laufen ließen. Dem internationalen Netzwerk dreier Tönnies-Symposien in Kiel (1980, 1983, 1987) samt Folgekonferenzen. Der Familie Tönnies, die der FerdinandTönnies-Gesellschaft e.V. in Kiel die Rechte anvertraute, und den Mitgliedern der Gesellschaft, die das Vorhaben guthießen und ermutigten. Der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek, und in ihr: dem nimmer müden Ratgeber Jürgen Zander. Immer wieder unserem Land SchleswigHolstein, in dessen Budget wir jährlich stehen. Und in diesen 1990er

XXIV

Vorwort

Jahren, in denen nervöse Managements Unternehmertum gerne mit kurzatmigem Hazard verwechseln, tut es ausgesprochen wohl, bei dem Verlagshaus Walter de Gruyter & Co. aufgehoben zu sein, wo ich Weitblick als freundwillige Energie, Geduld und Klarheit erfahren habe. Das sind ernsthafte Verpflichtungen. — Äußerst hilfreich haben mir Rolf Fechner, Frank Osterkamp, Martin Poske und Annette Wiese-Krukowska in noch anderen und unterschiedlichen Funktionen zugearbeitet, und gerne nenne ich aus den Lehrveranstaltungen unseres Institutes für Soziologie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel die verdienstvolle Quellenarbeit von Nadja Feßler, Ralf Spickermann und Oliver Stenzel. Subtil übersetzten Lise Tönnies aus dem Dänischen, Tino Köhler und Jacqueline Wassing aus dem Niederländischen. Wie vielen Kolleginnen und Kollegen man bei einem solchen Aufgabenbukett eigentümliche Fragen stellt, ist leicht ersichtlich, und wie schön wurde mir geholfen. Am schönsten zuletzt, Ruhm folge ihm: dem Wissenschaftskolleg zu Berlin, dessen Fellow ich 1996/97 sein durfte, dieser internationalen Stoä Poikile des klugen, des hilfsbereiten, des wohltuenden Selbstbewusstseins. Nach Herzenslust durfte man arbeiten, und so auch an dieser Edition, oft beraten, zuletzt noch aufs Beste von Mordechai Feingold. Und dann diese bibliothekarische Unübertrefflichkeit! Die Fehler sind meine.

Fazit Dankbar kann man sein, wenn eine langfädige Arbeit so frohe Erfahrungen bereitet. Ich empfehle solche Aufgaben. Clausen.

I. Monographie

Geist der Neuzeit

Vorrede Seit frühester Jugend ist mein Interesse der historischen Entwicklung zugewandt, soweit ich sie zu fassen vermochte. Dazu wirkte nicht nur die klassisch-humanistische Bildung, die ich als Schüler des jetzt sog. Hermann-Tast-Gymnasiums in Husum empfangen habe, sondern auch das viel intimere Verhältnis unseres engsten Vaterlandes zur Welt: denn die „Elbherzogtümer" hatten damals eine nicht geringe Bedeutung für die Weltpolitik. Wenn auch dies im Unterricht niemals hervorgetreten ist, so bin ich doch heute noch meinem teuren Lehrer, Prof. Otto Callsen, dankbar, der jenen wahren Enthusiasmus immer mit sich führte, woran nach Goethes schönem Ausspruch wir unser Verhältnis zur Geschichte messen sollen. So sehr die Geschichte von Greueln und verabscheuungswürdigen Ereignissen erfüllt ist, es bleibt doch etwas Erhebendes in ihr, das sogar durch die zeitliche Entfernung wächst. Wir sinnen zwar vergebens oft über den eigentlichen Sinn der Begebenheiten und der Entwicklungen, und wir wissen, daß wir hier unlösbaren Rätseln und Geheimnissen begegnen; aber wir lernen doch aus der Beschäftigung mit den großen Abschnitten und Epochen, daß hinter ihnen ein Sinn verborgen ist, den wir, wenn nicht verstehen, so doch ahnend deuten können. Und wie sehr man sein eigenes Land und dessen Schicksal lieben und ehren möge, so gibt es doch ein gewaltigeres Schicksal, welches

den Menschen

erhebt,

wenn es den Menschen

zermalmt,

i Vorrede. Das Buch vom „Geist der Neuzeit" ist als der erste und allgemeine Teil eines Werkes zu lesen, dessen anderer und besonderer in der Zeit der Verfolgung untergegangen ist. (Alles Nähere entnimmt sich dem „Editorischen Bericht" zum GdN, der sich auf S. 518 anschließt.) „Je länger ich jetzt beim Abschreiben des Ms. mich wieder mit dem GdN beschäftige," so Georg Jacoby (SHLB, Cb 54.50:56 Jacoby, Georg, III) am 28. Januar 1935 an Ferdinand Tönnies, „umso mehr habe ich die Meinung, daß dies Buch eigentlich für einen sehr weiten Kreis von Gebildeten geschrieben ist, und ihn erreichen müßte; ob ihm das einmal beschieden sein wird?" — Hzm. Schleswig, Hzm. Holstein, gel. auch Hzm. Lauenburg. 7 Elbherzogtümer Ii wir unser Verhältnis zur Geschichte messen sollen — „Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt." Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen (1993: Nr. 1255). 22 wenn es den Menschen zermalmt: „Woher nehmt ihr denn aber das große gigantische Schicksal, [|] Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?" —

6

Vorrede

und eben dies führt uns in die Probleme des allgemeinen menschlichen Schicksals und seine Notwendigkeiten, also auch auf die Frage seiner Zukunft zurück. Seitdem ich angefangen habe, im Studium des sozialen Lebens und seiner Probleme meine eigentliche Aufgabe zu erkennen, deren, wenn auch unvollkommene Erfüllung, ungeachtet aller Enttäuschungen, die ich habe erleben müssen, mich nicht ohne Befriedigung auf das lange Leben, das jetzt hinter mir liegt, blicken läßt, so lange weiß ich auch, daß nur aus diesem Studium die Erkenntnis gewonnen werden kann, die notwendig erfordert wird, um die großen Zusammenhänge in einigem Maße zu verstehen, wodurch die bisher bekannten Ereignisse miteinander verbunden zu sein scheinen. Ich habe im Dienste dieser Erkenntnis längst nicht nur das Schema Gemeinschaft — Gesellschaft ausgebildet, sondern auch innerhalb dieses die ökonomischen, die politischen und die geistig-moralischen Vorgänge und Veränderungen unablässig ins Auge gefaßt. Daraus schöpfe nicht nur ich selber fortwährende Belehrung, sondern auch eine Reihe mir teurer und befreundeter jüngerer Männer und Frauen, weil ihre Beschäftigung und ihr Denken sie in die gleiche oder doch eine nahe Richtung gewiesen hatte. Und dies, obwohl mein Zeitalter im Weichen ist — was ich mit immer neuem Kummer bei einer steigenden Zahl von Todesfällen nicht nur meiner Altersgenossen und solcher, die mir im Alter überlegen waren, sondern auch jüngerer Freunde, unter denen eine Reihe von besonders hoffnungsvollen Opfern des Weltkrieges hervorragt, feststellen muß —, es ist wohl nicht das Ende eines jeden Zeitalters, in dieser Hinsicht so schwer belastet wie dieses jüngste es ist. Der „Geist der Neuzeit" enthält eine Gedankenbildung, die aus mir, also aus meiner Persönlichkeit hervorgegangen ist, wahrscheinlich also nur von denen, die mit meinem System, wenn man es so nennen mag, vertraut sind, aufgenommen und weitergetragen werden wird. Und darauf ist mein Vertrauen gebaut, daß ein Teil dessen, was ich gedacht habe, dauern und mich überleben wird, auch wenn es sogar für wohlwollende Leser noch fremdartig in die Welt hinausschaut. Zur allgemeinen Orientierung muß ich hier deutlich genug einschalten, daß ich durchaus nicht mir zum Ziele gesetzt hatte, eine allgemeine Weltgeschichte zu schreiben. Es gibt allgemeine Weltgeschichten, von denen einige auch bis in die neueste Neuzeit herübergreifen, in nicht unerFriedrich Schiller lässt so Herakles' und andernorts Shakespeares Schatten fragen (Xenien, 1 7 9 6 ; auch Vers 3 5 f. von Schillers Einzelveröffentlichung „Shakespeares Schatten", „Gedichte", 1 8 0 3 , u. ö.).

7

Vorrede

heblicher Zahl. Ob es zu viele oder zu wenige sind, will ich hier nicht erörtern. Jedenfalls sind es nach meiner, eines Nicht-Historikers, Ansicht, und nach meinem Geschmacke, genug. Die letzte, die ich fleißig und mit Vorteil gelesen habe, ist die von Hans Delbrück gewesen, den ich zu meinen leider abgegangenen freundschaftlich bekannten Zeitgenossen rechnen muß. Ich werde seiner immer mit hoher Achtung gedenken. Er würde auch mit einem Schlage erkennen, wie sehr das, was ich mir ins Auge gefaßt habe, von seiner großen Leistung verschieden ist. Übrigens bekenne ich, daß ich fortwährend auch in ausländischer historischer Lektüre Förderung gesucht und gefunden habe. Ich erwähne in dieser Hinsicht die große englische historische Literatur, die, für mich persönlich mit dem Namen des Thomas Hobbes verknüpft, nach der politischen Seite ihren bedeutenden Historiker, an dem leider auch schon geschiedenen Rawson Gardiner gefunden hat. Ferner nenne ich mit besonderer Auszeichnung und Sympathie die großen französischen Werke von Tocqueville, Taine und die neueren imposanten Unternehmungen von Ernest Lavisse, sowohl das ältere große Werk „Histoire de France" als auch „Histoire de France contemporaine depuis la Révolution jusqu'à la paix de 1919", wovon ich freilich bisher nur den ersten Band La Révolution (1789 à 1792) par P. Sagnac mit Bewunderung und wahrem Genuß gelesen habe. Daß auch Tocqueville, Michelet und Taine noch viel zu tun übrig gelassen hatten, wobei ohne Zweifel das Werk der Zeitschrift La Révolution Française erhebliche Beiträge geleistet hat, ist nicht nur dem Historiker vom Fach, sondern jedem bekannt, der aus politischen und anderen Gründen Wesen und Wandlungen der französischen hochgebildeten Denkungsart zu kennen und zu beobachten sich angelegen sein läßt. 20 mit Bewunderung

und wahrem

Genuß

gelesen

habe

— nicht o h n e weiteres lässt sich

ermitteln, genau welche Werke u n d Ausgaben Tönnies hier herauf r u f t ; zu n e n n e n sind: H a n s D e l b r ü c k , Weltgeschichte, 5 Bände, 1 9 2 3 / 2 5 / 2 6 / 2 7 / 2 8 ; Samuel R a w s o n G a r d i n e r ( t 1902), H i s t o r y of E n g l a n d F r o m the Accession of J a m e s I t o the O u t b r e a k of the Civil War, 1 6 0 3 - 1 6 4 2 (10 Bände, zuerst 1 8 8 3 - 8 5 ) , H i s t o r y of the G r e a t CiviLWar, 1642—1649 (3 Bände, zuerst 1886), H i s t o r y of the C o m m o n w e a l t h and P r o t e c t o r a t e , 1649—1660 (4 Bände, zuerst 1903); Alexis de Tocqueville, De la d é m o c r a t i e en Amérique (2 Bände, zuerst 1835/1840); H i p p o l y t e Taine, Les origines de la France c o n t e m p o r a i r e (6 Bände, zuerst 1875 — 93); Ernest Lavisse (Hg.), Histoire de France depuis les origines j u s q u ' à la révolution, Bd. 1 — 9, zuerst 1911 ff.; ders. (Hg.), H i s t o i r e de France c o n t e m p o r a i n e depuis la révolution j u s q u ' à la p a i x de 1919, Band 1: P. Sagnac, La Révolution (1789—1792), Paris 1920; Jules Michelet, Histoire de la R é v o l u t i o n française (6 Bände, zuerst 1 8 4 7 - 1 8 5 3 ) .

8

Vorrede

Übrigens gebe ich das vorliegende Werk nicht ohne einiges Vertrauen dem öffentlichen Urteil, also auch der Kritik, preis, die, wie ich annehmen darf, einiges Brauchbare und Gute darin entdecken wird. Und so will ich hoffen, daß auch weitere von mir vorbereitete Sonderdarstellungen über die Entwicklung des allgemeinen sozialen und ökonomischen, 5 wie des politischen und des geistig-moralischen Lebens, die im Anschluß an diesen Band veröffentlicht werden sollen, auf allgemeineres Interesse rechnen können. Kiel, im Juli 1935. Ferdinand

Tönnies.

10

Inhaltsverzeichnis Seite

Erster Abschnitt Begriff der Neuzeit § § § § § §

1. 2. 3. 4. 5. 6.

§ § § § §

7. 8. 9. 10. 11.

Das Wort Neuzeit Fehler der üblichen Einteilung Mittelalter Mittelalter und Neuzeit . Antike, Mittelalter und Neuzeit Die Fortsetzung des Mittelalters

17 18 19 20 21 22

Fortschritt Generationen Kämpfe . Der männliche und der weibliche Geist . . . . . . . . Der weibliche und der männliche Geist in Mittelalter und Neuzeit § 12. Herrenschicht und Volk

23 24 26 27 29 30

Zweiter Abschnitt Die Neuzeit als Evolution Erstes Kapitel: Der allgemeine dualismus § § § § § § §

13. 14. 15. 16. 17. 18. 19.

soziale

und ökonomische

Gemeinschaft und Gesellschaft Der Herr Der Untertan Der Laie Der Fremde Der Emporkommende Der Triumph des ökonomischen Individualismus

Zweites Kapitel: Freiwerden des Individualismus gemeinschaftlichen Gebundenheiten . § 20. Soziale Samtschaften

aus den

Indivi35 — 55 35 39 42 43 44 48 52

. . . .

großen 56—66 .

56

10

Inhaltsverzeichnis Seite

§ § § §

21. 22. 23. 24.

Soziale Verbände — Bauernbefreiung Der freie Bürger Das Band der Religion Politische Häresie

Drittes Kapitel: Die Entwicklung dualismus

des Eigentums

58 61 62 65 und des

Indivi67—73

§ 25. Das Kapital § 26. Das Recht des Eigentums § 27. Entwicklung des sozialen Menschen

67 69 72

Viertes Kapitel: Der politische und moralische Individualismus § 28. § 29. § 30. § 31. § 32. § 33.

74—88

Der moderne Mensch Assoziation und gesellschaftliches Eigentum Die Assoziation im politischen Gebiete Partei und Parteikämpfe Der antike Individualismus ; Kirche, Sekte, ethische Kultur

Fünftes Kapitel: Entwicklung

der Gesellschaft

74 77 78 80 83 85 89—94

§ 34. Die großen Persönlichkeiten § 35. Die großen Leistungen in Kunst und W i s s e n s c h a f t . . . .

89 92

Dritter Abschnitt Die N e u z e i t als R e v o l u t i o n § 36. Begriff der Revolution Erstes Kapitel: Die Revolution § § § § §

37. 38. 39. 40. 41.

97 im ökonomischen

Gebiet.

Allgemeines Revolution der Dorfgemeinde Revolution der Stadtgemeinde Städte der Neuzeit Die ökonomisch-soziale Revolution überhaupt

. . 103 — 116 103 105 . 107 109 112

Inhaltsverzeichnis

11 Seite

Zweites Kapitel: Die Revolution

im politischen

Gebiete . . . 117—138

§42. §43. § 44. § 45.

Allgemeines 117 Der Staat . . 119 Der Staat und seine Bürger 121 Die soziale Frage und die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftspolitik 125 § 46. Freihandel und Schutz 130 § 47. Staatliche Geldpolitik 132 § 48. Die Freiheit der Arbeit 133 Drittes Kapitel: Die Revolution

im geistig-moralischen

Gebiete 139 — 150

§ 49. Allgemeines § 50. Kunst und Wissenschaft . § 51. Die Verstädterung des allgemeinen Lebens

139 142 146

Vierter Abschnitt

Historisch-geographische Richtungen der Neuzeit Die geopolitische Entwicklung § § § § § §

52. 53. 54. 55. 56. 57.

Süd-Nord, Ost-West Bewegungsrichtungen der Neuzeit Süd —Nord als Altersunterschied Hellas und die ideelle Kultur Die neue Welt Der ferne Orient

153 155 156 158 159 162

Fünfter Abschnitt

Die, bewegenden Kräfte der sozialen Entwicklung Erstes Kapitel: Natürliche und soziale Grundlagen des menschlichen Lebens 167—175 § 58. Ursprüngliche Elemente des menschlichen Lebens . . . . 167 § 59. Keime des fortgeschrittenen sozialen Lebens 168 § 60. Natürliche Verteilung der individuellen und sozialen Bedürfnisse und Aufgaben 169 § 61. Konstanz des Zusammenlebens 171 § 62. Faktoren der Veränderung 171

12

Inhaltsverzeichnis Seite

§ 63. Macht und Machtstreben als bewegende Kräfte der Gesellschaft 173 Zweites Kapitel: Die bewegenden § § § § §

Kräfte der Neuzeit

. . . .

176—191

64. 65. 66. 67. 68.

Wachstum der Bevölkerung 176 Technik 178 Der große Handel und der große Krieg 180 Der Großbetrieb 184 Ausprägung ökonomischer Gegensätzlichkeiten in der politischen Sphäre 184 § 6 9 . Das Großmachtstreben • . . . 185 § 70. Die Stadt als Faktor der geistigen Entwicklung . . . . . 188 § 7 1 . Glaube in Mittelalter und Neuzeit 189 Drittes Kapitel: Die Ausprägung

des Geistes der Neuzeit

. . 192 — 194

§ 72. Die wesentlichen Merkmale im sozialen Leben der letzten anderthalb Jahrhunderte 192 Sechster Abschnitt Die wissenschaftliche Ansicht des sozialen Lebens Erstes Kapitel: Die Beziehungen zwischen tischem und geistig-moralischem Leben

wirtschaftlichem,

poli197—205

§ 73. Bedeutung und Bedingtheit des menschlichen Denkens . . § 74. Das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Leben § 75. Das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und geistigmoralischen Leben § 76. Das Verhältnis zwischen dem politischen und geistig-moralischen Leben Zweites Kapitel: Wechselwirkungen

197 199 199 203

206 — 212

§ 77. Drei Arten des organischen Lebens § 78. Die Bedeutung des ökonomischen Lebens § 79. Das Christentum und die allgemeine soziale Entwicklung

206 208 209

Inhaltsverzeichnis

13 Seite

Drittes Kapitel: Die soziologische

Auffassung

der Geschichte

§ 80. Gesetz und Zufall § 81. Die materialistische Geschichtsaufasssung § 82. Die Einheit des menschlichen Zusammenlebens Namenregister Sachregister

213 — 218 213 214 216 219 220 — 223

Erster Abschnitt

Begriff der Neuzeit

§ 1. Das Wort

Neuzeit

Das Wort ist beinahe nichtssagend, jedes Zeitalter ist für sich selber ein neues und junges, solange es dauert. Andererseits ist freilich jedes Zeitalter alt zu nennen, wenn man von ihm aus auf die Jahrtausende zurückblickt, die hinter ihm liegen, und sogar an die Anfänge menschlicher Gesittung, also des Menschentums überhaupt denkt, deren zeitliche Bemessung anzustellen wir außerstande sind. Freilich davon auch nur etwas zu erkennen, sind eben erst seit wenigen Generationen die Menschen in der Lage, sofern sie von der kindlichen Vorstellung, daß vor etwa 6000 Jahren ein Gott die Welt erschaffen und auf die Erde ein Menschenpaar hingesetzt habe, völlig und endgültig sich losgemacht haben. Wir können nunmehr wissen, daß elementare Erscheinungen dessen, was wir heute als Kultur verstehen, etwa 14 000 Jahre zurückliegen, eine kurze Spanne Zeit also, wenn sie mit den hunderttausenden der Jahre verglichen wird, die man für die gesamte Entwicklung des animal rationale aus einem Säugetier ohne Sprache und Denken ansetzen muß. Wenn auch jetzt noch denen, die eine „Weltgeschichte" verfassen, die Einteilung dieser in Altertum, Mittelalter und Neuzeit zu genügen scheint, so ist das nur aus der Beharrung von Irrtümern zu erklären; denn, auch wenn man unter dem Altertum nur das begreift, was, früher als unsere Zeitrechnung, von menschlichem Zusammenleben und seinen Gestaltungen im historischen Gedächtnis aufbewahrt worden ist, so ist das eine so ungeheure Masse verschiedener Völker und ihres Lebens, daß es fast lächerlich erscheinen muß, diesem Altertum noch zwei jüngere Phasen menschlicher Entwicklung anzureihen und also gewissermaßen gleichzustellen, zumal wenn man erkennen muß, daß diese beiden Phasen nur Abschnitte einer Gesamtentwicklung von europäischen Völkern sind und daß wir die jüngste dieser sogenannten Phasen ebensowenig als jene Gesamtentwicklung für abgeschlossen halten dürfen; daß sie schon dadurch mit jenem Altertum unvergleichbar wird. In Wahrheit hat nun auch „das Altertum" einen besonderen Sinn, wenn darunter die, mit Recht als zu den abgeschlossenen gehörig erkannte, graeco-italische Entwicklung großer Kulturen verstanden wird; und dies rechtfertigt sich dadurch, daß mit diesen jene durch die Zeitis animal rationale [lat.] svw. „das verständige (rationale) Tier"

18

Sinn- und Fehlerhaftigkeit der Dreiteilung

rechnung abgegrenzte jüngere Entwicklung europäischer Völker unlöslich zusammenhängt und in wichtigen Hinsichten als ihre Fortsetzung betrachtet werden muß; wie denn auch sie, die Hellenen und Römer, dem Erdteil Europa angehören, während die ihnen vorausgehenden Kulturen auf die beiden gewaltigen Erdteile Asien und Afrika zurückweisen, wenngleich nur die nördlichen Gebiete Afrikas und einige westliche Asiens, die heute wohl als der nahe Orient zusammenbegriffen werden, dafür unmittelbar in Betracht kommen, weil nur sie auf die Griechen und durch diese auf die Römer gewirkt haben. In Wahrheit gewinnt jene Dreiteilung den Sinn, worin sie allein gemeint sein konnte, nur so, daß die ganze Geschichte Griechenlands und Roms mit allem, was daran hängt, das Altertum; daß ein daran angeschlossener Teil der Geschichte anderer europäischer Völker — dessen Anfänge man frühestens in den Anfang unserer Zeitrechnung, näher aber erst etwa 600 Jahre später ansetzen kann, und der um das Jahr 1500 als abgeschlossen gelten soll — durch das Wort „Mittelalter" charakterisiert wird; so daß endlich die Neuzeit übrig bleibt als noch im Flusse befindlicher kürzester Abschnitt von 430 Jahren nebst der noch zukünftigen, die diesen Abschnitt vollenden und beschließen wird.

§ 2. Fehler der üblichen

Einteilung

Auch so verstanden hat diese Einteilung aber den schweren Fehler, daß sie auf die eine Seite eine Gesamtentwicklung (das Altertum), auf die andere nur Teile oder Abschnitte einer solchen Gesamtentwicklung setzt. Vergleichbar wären hingegen jene antiken Entwicklungen (wenn sie wegen ihrer inneren Zusammenhänge als ein Ganzes verstanden würden) mit den späteren Jahrhunderten nur, wenn auch diese als ein ebensolches Ganzes begriffen würden, das auch die Geschichte des nördlichen Europas genannt werden dürfte, im Unterschied zu jener der zwei höchst bedeutenden Halbinseln des südlichen Europas, aus denen uns das „Klassische Altertum" entgegenleuchtet. Dabei muß aber davon abgesehen werden, daß die jüngeren Entwicklungen auch wenigstens die eine jener zwei Halbinseln nebst der iberischen in sich begreifen, nachdem auch die letztgenannte schon im „Altertum" einige Bedeutung gehabt hat, was aber gleichfalls von Gallien und von einigen Teilen Europas jenseits der Alpen — von Rom aus gesehen — in offenbarer Weise gilt. — Jedenfalls bleibt diese jüngere Epoche durchaus verschieden von jener älteren, eben durch ihre Unabgeschlossenheit, also dadurch, daß wir mitten in ihr leben.

Entwicklungsgeschichtlich-soziologische Betrachtung

19

Wenn wir in wissenschaftlichem Geiste die Neuzeit erkennen wollen, so müssen wir sie in ganz anderem Sinne mit dem Mittelalter als mit dem Altertum vergleichen. Bei der Vergleichung mit dem Mittelalter — bei der wir uns immer gegenwärtig halten müssen, daß sie in die „Neue Welt", d. h. auf sonst fast unbekannt gewesene Erdteile aus-, aber auch auf die ganze „alte" Welt des Orients und Occidents zurückstrahlt — betrachten wir die Neuzeit in ihrem Verhältnis zu ihrer eigenen unmittelbaren Vergangenheit, an die sie der Zeit nach sich anschließt. Wenn aber eine Vergleichung mit dem Altertum geschehen soll, so muß diese gesamte jüngere Völkergeschichte (also Mittelalter und Neuzeit) ins Auge gefaßt werden, um die Frage zu stellen, wie sie zu jenem hinter dem Mittelalter zurückliegenden Abschnitt menschlicher Kultur sich verhalte, den wir nun lieber „die Antike" nennen.

§ 3.

Mittelalter

Es liegt nahe, dem Worte .Mittelalter einen allgemeinen, soziologischen Sinn zu geben, so daß man innerhalb einer jeden Kulturentwicklung das gewesene, vorhandene oder zu erwartende Dasein eines Mittelalters behauptet. In Wahrheit ist eine solche Dehnung des Begriffes u. a. schon durch Wilhelm Roscher geschehen, der auch sonst manche beachtenswerte Gedanken zur historischen Erkenntnis beigetragen hat. Roscher spricht zuweilen davon, was in „jedem Mittelalter" sich beobachten lasse. Ich nehme diesen Gedanken auf und verstehe demgemäß auch die Neuzeit als einen Zeitabschnitt innerhalb einer großen, sei es nationalen oder internationalen Kulturentwicklung, nämlich den spätesten Abschnitt, mit dem also diese Kulturentwicklung zu Ende geht, mithin eine neue entweder nachher begonnen hat oder aber erwartet werden darf — möglicherweise also ausbleibt. In diesem Sinne bedeutet dann das Mittelalter einen Gipfel, auf dem sie lange beharren kann, ja über den sie in die Neuzeit hinauswachsen kann, wenn auch vermutlich nicht ohne gewisse Symptome ihres Alterns und Verfalles hervortreten zu lassen. — Wie immer man dann Mittelalter und Neuzeit in ihrem Verhältnis zueinander charakterisieren möge, immer wird man erkennen müssen, daß die Neuzeit schon im Mittelalter und daß das Mittelalter noch in der Neuzeit vorhanden gewesen ist: ein Ausdruck für die Tatsache des stetigen Flusses aller Strömungen auf allen Gebieten des sozialen Lebens, die wir erkennen und begreifen.

20

Elemente des Mittelalters — Frühzeit

In diesem Sinne also behalten wir die nun seit Jahrhunderten hergebrachte Bezeichnung des Mittelalters so, daß sie auf die Kulturentwicklung bezogen wird, die — mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches und mit der gleichzeitigen Verwelkung des hellenischen Geistes, als er in Byzanz sein Asyl gefunden hatte — über das nördliche und westliche Europa sich ausbreitete und erstens durch die Erbschaft des römischen Geistes — nachdem dieser starke Elemente des orientalischen, insbesondere aus der jüdischen Religion in sich aufgenommen hatte — von jener Überlieferung sich abhebt; zweitens aber ihre neuen Träger in den Völkern gewinnt, die bisher an einer historischen Kultur keinen Anteil hatten, namentlich an solchen von germanischer, demnächst auch von keltischer und zu einem noch geringeren Teil von slawischer Herkunft. Daneben hat das Völkerschicksal — wie es besonders durch die gemeinsame Abhängigkeit von Rom, für die das Bestehen und Wachstum der auf ökumenische Allgemeinheit (die Katholizität) Anspruch machenden päpstlichen Kirche am meisten charakterisiert ist — andere Elemente teils (wie die graeco-italischen) sich erhalten, teils sich angeschlossen, wie solche, die man ihrer Sprache nach von den indogermanischen oder indoeuropäischen Nationen unterscheidet: so die Ungarn, denen schon im Mittelalter, aber mehr in der Neuzeit, besonders durch die Verbindung mit den Ländern, die als die österreichische Monarchie den Ausgang des römischen Reiches deutscher Nation bezeichnen, eine nicht unbedeutende Rolle zugefallen ist. Wir verstehen folglich als das hinter dem Mittelalter liegende „Altertum" dieser wesentlich europäischen Kulturentwicklung nicht mehr die Antike, sondern die Frühzeit der an dieser Entwicklung beteiligten Völker, die hinter den Einflüssen der Antike sowohl als der von den Israeliten ausgegangenen Religion zurückliegt; sie bedeutet also deren ursprüngliches und eigenes (autogenes) Wachstum, wofür man ebenso wie für das Mittelalter ein kleines Jahrtausend — sagen wir 900 Jahre — ansetzen mag, dessen erste drei Jahrhunderte dann noch hinter unsere Zeitrechnung zurückgehen.

§ 4. Mittelalter

und

Neuzeit

Es versteht sich, daß für eine wissenschaftliche Ansicht der Ausdruck Mittelalter und der Ausdruck Neuzeit keinen anderen Sinn in Anspruch nehmen können, als daß sie die Tatsache bezeichnen, die uns gegenwärtig ist, daß für unsere Zeitgenossen und schon für eine Reihe von Gene-

Bewußtsein von Mittelalter und Neuzeit -

Verschiedene Kontinuität der Phasen

21

rationen vor ihnen, das Bewußtsein vorhanden ist, einem jungen und neuen lebendigen Zeitalter anzugehören, welches sie zu einem vergangenen Zeitalter, das sie doch als zu ihnen gehörig kennen und würdigen, vergleichend in Beziehung setzen. Dieser Gedanke ist durchaus dem Gedanken verwandt, mit dem ein Mensch in vorgerücktem Alter auf sein eigenes Leben zurückblickt. Eben in diesem Sinne ist auch die Neuzeit alt, und es ergibt sich der schon angedeutete Widerspruch in ihrem Selbstbewußtsein, indem sie doch neu und jung sein will. Dieser Widerspruch gestaltet sich konkret, indem verschieden bedingte Menschen verschieden über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft denken. Verschieden denken die Lebensalter selber: das Bewußtsein, der Neuzeit als einer neuen und jungen anzugehören, ist das natürliche Bewußtsein zunächst für die Jugend, die auf die Vergangenheit blickt, wie auf die Väter und Greise, mit denen sie zusammenlebt: deren Zeit ist gewesen. Dies Bewußtsein wird stark gefördert durch neue Dinge, neue Werke und Errungenschaften, die das junge Zeitalter als von sich geschaffen ansieht, und als den Werken und Einrichtungen der Alten überlegen behauptet. Es ist verbunden mit dem Gedanken des Fortschritts, der Verbesserung, der vermehrten Kenntnis und Erkenntnis, des erhöhten Könnens: Gedanken und Gefühlen, mit denen die Jugend oft auf die unvollkommenen Leistungen ihrer Vorfahren, auf deren Armut, Unkenntnis und Schwäche zurückblickt.

§ 5. Antike, Mittelalter

und

Neuzeit

Es steht aber fest, daß die Bedeutung der Antike für die gesamte Entwicklung von Mittelalter und Neuzeit eine unermeßliche Bedeutung gehabt hat und noch hat. Wir werden für notwendig halten, oft darauf zurückzukommen. Indessen bleibt ein großer Unterschied zwischen der Kontinuität, die über das Imperium Romanum Antike und Mittelalter verbindet, und der anderen Kontinuität, die Mittelalter und Neuzeit verbindet. Dort überwiegend neue Völker, lange Zeit unstet wandernd, kämpfend, erobernd: neue Sitten, neue Sprachen, wenngleich mehrere solcher Sprachen unter dem unmittelbaren Einfluß der römischen entstanden, und eine Religion, die freilich die des römischen Reiches geworden war und von diesem aus mitgeteilt und übertragen wurde, aber weit verschieden war von dem ehemaligen Götterglauben, der die Blütezeit der griechischen wie die der römischen Bildung auch dann noch erfüllte, als unter den denkenden Häuptern dieser Kulturen der kindliche Glaube

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Neuzeit als Fortsetzung

an die seligen Bewohner des Olympus längst geschwunden war. Dagegen ist die Neuzeit so sehr die Fortsetzung des Mittelalters, daß wenigstens in ihrem bisherigen Verlauf, den wir allein als eine Summe betrachten können, in allen diesen Beziehungen nichts eigentlich Neues aufgetreten ist. Es sind neue Generationen entsprungen, die vieles verändert haben, aber diese Veränderungen sind nicht nur der Menge, sondern auch der Art nach geringer als jene, die den freilich unhaltbaren, ja kaum verständlichen Gedanken einer „Kultur-Caesur" haben aufkommen lassen: etwas, was ihr ähnlich sieht, mag immerhin zwischen der Antike und dem Mittelalter angenommen werden, aber nicht zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit. § 6. Die Fortsetzung

des

Mittelalters

Die Neuzeit muß mithin in erster Linie als die Fortsetzung des Mittelalters verstanden werden, und zwar als eine fließende, innerlich zusammenhängende, wenn auch allmählich vom Mittelalter mehr und mehr sich entfernende „Fortsetzung". Die großen Unterschiede und Neuerungen treten immer mehr hervor. Sie sind in erster Linie durch Zunahme und Verdichtung der Volksmengen bedingt, in zweiter durch deren Anhäufung in den Städten, vielen alten und einigen neuen; im nächsten Zusammenhange damit der Fortschritt des Handels, der den Fortschritt der Berührungen zwischen den fernsten Orten, besonders eben zwischen den Städten, den zunehmenden und erleichterten Verkehr, bewirkt und bedingt. Hierin liegt unendlich vieles und allbekanntes eingeschlossen. Schon im 18. Jahrhundert sah und wußte man es klar und deutlich. Sah und rühmte das Zeitalter der „Aufklärung" und des Fortschritts der „bürgerlichen" Gesittung als Kultur schlechthin: als Zeitalter vermehrter und erhöhter Technik, vermehrter und erhöhter Wissenschaft, des Wohlstandes, der Veredlung, zum guten Teil der verbesserten Sitten und des verfeinerten sittlichen Bewußtseins, der Humanität. Dies ist in Wahrheit immer die nächstliegende Art der Betrachtung, sie betont die Kontinuität der Entwicklung, einer Entwicklung, die, wenn auch unter manchen schweren Rückschlägen, im ganzen doch in einer und derselben Richtung fortgeschritten ist durch die natürliche Vermehrung der Menschen, Anhäufung und Verwertung ihrer Güter, gesteigerten Austausch, gesteigerte Teilung der Arbeit, vermehrte Kenntnis und Kunstfertigkeit; damit verbunden Vermehrung und Verfeinerung 35 gesteigerten

Austausch

— irrt, folgt im Orig. „gesteigerter" und „vermehrter" (1935a: 9).

Neuzeit als Renaissance und Fortschritt

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der Bedürfnisse — also der Gewohnheiten und der Lebensweise — und zunehmende Entfernung von der Roheit und Barbarei ursprünglicher Zustände. § 7.

Fortschritt

Diese Betrachtungen enthalten unzweifelhafte und bedeutende Wahrheit und haben die allgemeine Vorstellung des Fortschrittes hervorgebracht und genährt, den man dann auch mit dem Gedanken der menschlichen Entwicklung aus primitiven, dem Tierreich verwandten Zuständen zu den eigentlichen menschlichen in fragwürdige Verbindung gebracht hat. Wenn dagegen die Kulturhöhe der Antike betrachtet und betont wurde, so sah man oft in der Neuzeit, seit dem vermittelnden Zeitalter, das als „Renaissance", d. h. die Wiedergeburt der seit etwa einem Jahrtausend untergegangenen Gesittung, gerühmt wird, eine Wiedergeburt, die zumal durch die Kunst geschehen sei, überhaupt aber Wiederaufnahme gesunder und fortschreitender humaner Entwicklung darstelle, die oft auch als eine Bewegung von Finsternis ins Licht aufgefaßt wurde; und es erschien das Mittelalter als eine Störung und Unterbrechung, eine vorübergehende Verfinsterung: das hieß die Kontinuität der gesamten Kulturentwicklung und namentlich die Kontinuität des Fortschrittes vom Mittelalter zur Neuzeit verkennen. So ist von denkenden Historikern diese Auffassung niemals vollständig angenommen worden. Um so mehr heben diese das Allmähliche des Fortganges der Kultur, auch in dieser gesamten durch die christliche Religion mitbestimmten Periode, hervor. Vielfach glauben sie — wenigstens solche, die auf dem protestantischen Standpunkte stehen —, auch den Fortschritt im religiösen Bewußtsein zu sehen, daß es ein freieres und im Hinblick auf die Quellen dieser Religion ein echteres und reineres geworden sei. Wenn aber hier eine Parteinahme offen hervortritt, so können doch die großen Tatsachen, die in dem Begriff des Fortschrittes zusammengefaßt werden, auch von denen nicht verkannt werden, die in der katholischen Kirche die klassische und unvergängliche Gestaltung des christlichen Glaubens schützen und wahren zu sollen meinen, d. i. eines Fortschrittes, der für sie alle möglichen anderen Fortschritte zumal des äußeren Lebens, an innerer Bedeutung wesentlich übertrifft. Dennoch kann es kaum einem Widerspruch begegnen, wenn die zunehmende Verallgemeinerung der Volksbildung, also des Lesens, Schreibens, Rechnens hervorgehoben wird: der Analphabetismus, von dem ehemals nur der Klerus und wenigstens ein Teil des weltlichen Herren-

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Elemente des Fortschritts — Fortschrittsstreben

standes ausgenommen war, weist nur noch Reste, wenn auch zum Teil beträchtliche, auf, und man darf wohl sein gänzliches Verschwinden voraussagen, um das auch die neuere Sowjetregierung Rußlands ernstlich und mit Erfolg sich bemüht hat. Ferner aber hat man nicht verkennen können, daß gegenüber den mannigfachen Formen persönlicher „Unfreiheit" oder Gebundenheit, die es im Mittelalter gegeben hat, die Neuzeit allmählich zur persönlichen Freiheit oder zum Recht der Selbstbestimmung aller mündigen Personen fortgeschritten ist: eine Freiheit, die in politischen Rechten, auch der Frauen, sich vollendet. Und mit der Freiheit steht die „Gleichheit" der Menschen verschiedener Herkunft, verschiedener Fähigkeit, verschiedener Bildung in nahem Zusammenhange: sie bedeutet, daß keine persönliche Unterordnung mehr Geltung haben soll, sondern nur die gemeinsame Unterordnung unter das Gesetz, unter die Rechtsordnung; unter die Autorität nur solcher Personen, die durch die Rechtsordnung beglaubigt sind, also in wirklichem oder doch vorgestelltem Auftrage handeln, der zuletzt auf Wunsch und Willen eines gesamten Volkes zurückzugehen gemeint wird. Alle übrige Unterordnung ist freiwillig: das ist das Postulat, wodurch der neuzeitliche Mensch der hergebrachten und auch das Mittelalter überlebenden Scheidung der Stände, als ob sie eine natürliche und notwendige wäre, sich entgegensetzt. Er erkennt aber zugleich zu seiner Genugtuung, daß die Entwicklung in diese Richtung längst und auch noch im Gange ist: Hörigkeit und Leibeigenschaft, vollends die reine Sklaverei haben aufgehört, wenn auch noch in dieser neuzeitlichen Periode bedeutende Erneuerungen in rückläufiger Richtung stattgefunden haben. — Im ganzen wird immer diese erste Betrachtung des Verhältnisses von Neuzeit und Mittelalter die vorwaltende bleiben und sich behaupten, auch als Grundlage für alle ferneren Verbesserungs- und Reformbestrebungen, die in der gleichen Richtung des Fortschrittes beharren oder den Tendenzen zur „Reaktion" begegnen und wehren wollen. Diese Bestrebungen aber haben eine innere Notwendigkeit, die durch die Entwicklung von Elementen bedingt ist, die außerhalb der menschlichen Meinungen und Entschlüsse gelegen sind. § 8.

Generationen

Das Verhältnis der Neuzeit zum Mittelalter ist ein besonderer und um so mehr bedeutender Fall des Verhältnisses eines jeden soziologisch wichtigen Zeitabschnittes zum vorausgehenden oder zu mehreren solchen.

Zeitalter und Generation — Veränderung und Beharrung

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Man kann dies allgemeine Verhältnis auch verstehen als das Verhältnis einer „Generation" zur vorausgehenden, wenn man als eine Generation die jedesmal auf der Höhe des Lebens, also etwa im dreißigsten bis fünfzigsten Lebensjahre, stehenden Männer und Frauen begreift, oder — wie sich dies am schärfsten ausprägt — das Verhältnis zwischen Vätern und Söhnen und Müttern und Töchtern, nachdem die Väter und Mütter aufgehört haben, einen bestimmenden Einfluß auf die Söhne und Töchter auszuüben, zu einem großen Teile aus dem einfachen Grunde, weil die Väter und Mütter nicht mehr leben, sonst aber auch, weil die Söhne schlechthin selbständig geworden sind und im günstigsten Falle noch jezuweilen den „ R a t " der Alten mit gebührender Achtung oder wenigstens mit Nachsicht empfangen, aber die Entscheidungen sich selber vorbehalten. Da läßt sich nun allgemein beobachten, daß zwar einerseits die neue Generation in vielen Hinsichten der alten ähnlich ist, in anderen von ihr gelernt hat und das wiederholt, auch wiederum lehrt, was sie von ihr gelernt hat; daß sie aber in anderen Bezügen durchaus anders denkt und anders lebt. Es ist jedem bekannt, daß hierauf die veränderten Umstände, die neuen tatsächlichen Lagen bestimmend wirken: zum guten Teil sind schon binnen dreißig bis fünfzig Jahren ganz neue Aufgaben gestellt oder die alten Aufgaben in eine neue Beleuchtung gekommen. So ist eine neue Auffassung, eine (wenigstens in manchen Stücken) andere Denkungsart nicht nur begreiflich, sondern notwendig. Es ist aber auch bekannt, daß diese Veränderungen bei verschiedenen Völkern, in verschiedenen Kulturentwicklungen nach Ausdehnung und Intensität in hohem Grade verschieden sind, und daß die raschen Veränderungen der jüngsten Zeitalter mehr eine Ausnahme als eine Regel darstellen; daß unter allen Umständen ein sehr starkes Beharrungsmoment der bestehenden Zustände und, mit der Gedankenwelt überhaupt, auch der Ansichten über Zustände, der Beobachtung vorliegt: in erster Linie die Beharrung der Sitte, das ist in ihr begründeter, mehr oder minder lebenswichtiger Einrichtungen und Gewohnheiten des täglichen Lebens, mit denen zum großen Teil die Meinung ihrer Naturnotwendigkeit und sogar ihrer Ersprießlichkeit, ja „Heiligkeit" sich verbindet; mithin die Überzeugung, daß das Überlieferte das Richtige sei, wenigstens das Richtige für sie, die Träger der Überlieferung, weil es von den Vorfahren geschaffen und im Laufe vieler Jahre bewährt sei; daß mithin die Abänderung unter allen Umständen gefährlich und sofern sie notwendig scheine, nur in unwesentlichen Stücken zulässig sei, während man die Fundamente und den Plan des Baues unverändert lassen solle und wolle. Im nahen Zusammenhange damit

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Neuerungskämpfe — Überwiegen der Neuerung und der Jugend

die Beharrung des religiösen Glaubens, vielmehr aber der religiösen Praxis, d. i. des angeordneten, befohlenen und üblichen Kultus, wenn auch größere oder geringere Mengen sich nicht verpflichtet fühlen, daran teilzunehmen; im günstigsten Falle tun es aber alle, die der Stadt, dem Volke, der Religionsgemeinschaft angehören. Freilich regt sich unter Umständen eine ganz entgegengesetzte Denkungsart. Die neue Generation will dann einen vollständigen Neubau, sie will das Alte, das der vorigen Generation nicht nur genügt hat, sondern dieser als unabänderlich, als notwendig und gut erschien, völlig zerstören und durch das, was sie für besser hält, ersetzen. Immer haben die Neuerer einen schweren Stand; immer ist die Frage, ob und wie geneuert werden solle, eine Frage des Streites und eines oft sich lange fortsetzenden gleichfalls von einer Generation auf die andere übergehenden Kampfes, der endlich in Krieg und völlige Zerrüttung übergehen kann; so gut wie der größere Streit zwischen dem alten und neuen Geist schlechthin. § 9.

Kämpfe

Wenn wir an diesem Maßstabe das Verhältnis des Geistes der Neuzeit zum Geiste des Mittelalters messen, so ist leicht erkennbar, daß eine große Verschiebung im Verhältnis der Generationen zueinander stattgefunden hat, und zwar in dem Sinne, daß das Übergewicht mehr und mehr von der jedesmal älteren auf die jedesmal jüngere Generation übergegangen ist; daß also die Neuerung immer mehr Boden gewonnen hat und daß die Neuzeit im ganzen deren siegreiches Fortschreiten bedeutet. Folglich kann der Geist des Mittelalters im ganzen und großen als Geist der Beharrung, der Überlieferung, der Erhaltung, der Geist der Neuzeit hingegen als Geist der Veränderung, der Umgestaltung und Umwälzung bezeichnet werden. Diese Charakteristik schließt aber keineswegs aus, daß in der Neuzeit immer von neuem, ja sogar in heftigerer Gestalt, dieselben Kämpfe entbrennen und durchgekämpft werden. Kämpfe zwischen konservativem Geiste einerseits, „mutativem" Geiste andererseits, folglich zwischen entsprechenden Parteien. Die Partei wird in der Regel als eine politische Gruppe und in der Regel als solche von Männern verstanden, auch dann noch, wenn den Frauen die gleichen politischen Rechte wie den Männern eignen. Der Gegensatz ist aber hier allgemeiner zu verstehen. Er ist auf allen Gebieten des Lebens vorhanden und an irgendwelcher Form dessel-

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Kampffronten — Parteiungselemente

ben sind Menschen verschiedener Art schon durch ihre natürliche, vollends aber durch ihre soziale Verschiedenheit beteiligt. Wie schon aus dem, was über den Wechsel der Generationen ausgesprochen wurde, sich ergibt, ist es auch ein Gegensatz und Kampf zwischen den Menschen verschiedener Lebensalter, im ganzen also zwischen Alten und Jungen, wenn man an dieser Zweiteilung sich genügen läßt, obschon in Wirklichkeit mehr Unterschiede und andere von dieser Art vorhanden sind. In ähnlicher Weise wirkt, in mancher Hinsicht, auch der Unterschied des Geschlechts-, das weibliche Geschlecht ist das mehr konservative, das männliche das mehr mutative. Schon die notwendige geschlechtliche Ergänzung, daher das Zusammenleben und Zusammenwirken von Männern und Frauen in der Ehe und durch sie in der Familie, ist — wenn auch durchaus auf Harmonie abzielend und in seinem Wesen durch sie bestimmt — in Wirklichkeit durchaus nicht frei von Gegensätzen und Widersprüchen. Was für unzählige Fälle der Ehe in einem Zahlenverhältnis gilt, das nur in einer unbestimmten und vagen Art gedeutet werden kann, daß es nämlich mehr oder minder „glückliche" oder „unglückliche" Ehen gibt, also viele Grade der Beschaffenheit dieser Verhältnisse, das gilt ganz allgemein vom Verhältnis des männlichen und des weiblichen Geistes zueinander: es ist in verschiedener Zeit ein gründlich verschiedenes. — Da kann nun vom Mittelalter gesagt werden, daß in ihm der weibliche Geist überwiegt, was die Essenz des Verhältnisses angeht, der männliche aber in der Erscheinung; daß hingegen in der Neuzeit die Umkehrung vorhanden und charakteristisch ist: im Kerne überwiegt der männliche Geist, in der Erscheinung der weibliche. Diese These bedarf einer eingehenden Begründung und Rechtfertigung.

§ 10. Der männliche und der weibliche

Geist

Es ist hierfür nicht notwendig, auf den biologischen Unterschied der Geschlechter, wie er in der menschlichen Natur sich ausprägt, hinzuweisen; weil das, was allgemein bekannt ist, hinreicht, um zu begründen, daß die weibliche Natur mehr ein passives, duldendes, die männliche mehr ein aktives, positiv wirkendes Wesen darstellt. Es spricht sich am unmittelbarsten im Verhältnis zum Feinde aus: das Weib darauf bedacht, sich zu schützen, zu decken, abzuwehren, Stütze und Hilfe zu suchen; der Mann: anzugreifen, zu schlagen, zu vergewaltigen, zu töten oder doch kampfunfähig zu machen. So ist die kriegerische Tätigkeit seit Urzeiten ausgesprochen männliche Tätigkeit geblieben, sie ist es auch heute

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Geist der Zeitalter — Männliche und weibliche Tätigkeiten

noch in den ungeheuren Massenheeren, obschon darin das Individuum fast verschwindet. — Die weiblichen und die männlichen Tätigkeiten unterscheiden sich ferner in der Weise, die am vollkommensten durch die griechischen Wörter „prattein" (-rrpcnrTEiv) und „poiein" (ttoieTv) sich ausdrücken läßt: Prattein ist die Tätigkeit, die den Zustand des Gegenstandes nicht wesentlich verändert, sondern zu ihm sich erhaltend, ordnend, schmückend verhält; die also, auch wenn sie etwas schafft und herstellt, es hauptsächlich zum unmittelbaren Gebrauch und Genuß herstellt, so daß in der Zerstörung als Konsumtion das Geschaffene nicht verneint wird, sondern sich erfüllt. Hingegen das Poiein darin besteht, daß es einem Stoffe eine Form oder Qualität gibt, so daß ein Ding als ein neues entsteht, und zwar nicht zum unmittelbaren Genossen- oder Verzehrtwerden, sondern zu dauerndem Gebrauch und „Verschleiß", also in Absicht auf andere positive Tätigkeiten, denen es dienen soll. Von den großen Hauptsphären wirtschaftlicher Arbeit unterscheidet so der Ackerbau nebst allem, was ihm zugehört und mit ihm verbunden ist, in der Wurzel sich vom Handwerk oder dieses sich von jenem, in mehr oder minder ausgeprägter Weise. Im Ackerbau, der auch mit der Hauswirtschaft unmittelbar zusammenhängt, ist die weibliche Arbeit von alters her bedeutend und ist es zum großen Teil auch heute noch. Vielfach ist er von Frauen allein besorgt worden, z. B. unter Seefahrern, wenn die Männer regelmäßig im Sommer abwesend sind; nicht anders, wenn Kriegführung und Jagd die männlichen Kräfte ganz in Anspruch genommen haben. Dagegen ist das Handwerk weit mehr und ausschließlicher männliche Tätigkeit, wenn auch in manchen Zweigen, die besonders sorgfältige Aufmerksamkeit und emsigen Fleiß in Anspruch nehmen, eben darum die Frau nicht nur hauswirtschaftlich in einer Weise tätig ist, die dem Handwerk gleich geachtet werden darf, sondern auch an der historischen Gestaltung des Handwerks, wie sie in der Zunftverfassung verwirklicht wurde, ihren Anteil genommen hat. Erst in ihrer späteren Zeit sind die Zünfte den Frauen gegenüber exklusiv geworden, früher hat es sogar Handwerke gegeben, an denen nur Frauen teilnahmen, und die Frauen blieben vielfach und in verschiedenem Umfange in den zünftigen Gewerben Deutschlands, Frankreichs, wie anderer Länder tätig. Eine viel ausschließlicher männliche Tätigkeit ist hingegen die dritte der großen wirtschaftlichen Sphären, die im Laufe der Neuzeit mächtig auf die beiden früheren, besonders auf die zweite, zurückwirkt und die volkswirtschaftlich herrschende wird: der Handel, zumal in seiner Vollendung, die sein Wesen auf den reinsten Ausdruck bringt. Die deutsche

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Männlicher Geist in der Neuzeit

Sprache kündigt dies schon dadurch an, daß das Handeln als die bewußtere, planmäßige, dem Kürwillen vorzugsweise unterworfene Tätigkeit, durch dasselbe Wort ausgedrückt wird, wie „der" Handel, der allerdings durch die gleichen Merkmale bezeichnet wird. In untergeordneten, wenn auch zahlenmäßig stark vertretenen Zweigen, im kleinen Handel, können Frauen durchaus sich bewähren, und wir finden sie oft genug zum Nutzen ihrer Haushaltungen tätig, mit deren Zwecken er zumeist sich sehr berührt. Aber der Handel gewinnt seine eigene unermeßliche Bedeutung erst als das große Geschäft, als Fernhandel — als „Welthandel", worin die Ware nicht unmittelbar verteilt, sondern über große Mengen der Ware verfügt wird. Dieser ist durchaus eine Herrentätigkeit: er ist fast ganz geistig, intellektuell und hat mit keiner Art von Hantierung, auch mit noch so sehr veredelter und verfeinerter, unmittelbar zu tun. Er erfordert Denken, Rechnen, „Spekulieren", also Voraussehen oder doch Vermuten und Raten, darum auch mancherlei Kenntnis, Kenntnisse des eigenen Landes, noch mehr fremder Länder und Städte, ihrer Gewohnheiten, ihrer Einrichtungen, ihrer Mängel und Bedürfnisse, wie ihrer Bodenschätze, ihrer Leistungen und Produkte, ihres Geschmackes und Beliebens. Selten ist der weibliche Geist solcher weitschauenden, von weitreichendem Erwerbstrieb geleiteten Tätigkeit gewachsen, so wenig wie der in mancher Hinsicht verwandten Tätigkeit des Feldherrn oder des Schiffsführers: immer kommt da zur körperlichen Ungeeignetheit, oder doch Mindertüchtigkeit, die geistige hinzu: der weibliche Geist hat seine Stärke im Intensiven, der männliche im Extensiven; daher darf man den weiblichen Geist in seiner höheren Entfaltung als auf die Kunst, wie den männlichen als auf die Wissenschaft gerichtet bezeichnen. Manche kunsthafte Hilfstätigkeiten, die gerade in den mehr geistigen Arten der Arbeit ihre Bedeutung haben, wie das Schreiben, Zeichnen, ja auch das Rechnen, können daher von den Frauen auch in Handelsgeschäften vortrefflich geleistet werden, ja eben in solchen Leistungen sind in der Regel Frauen den Männern überlegen und voraus, am wenigsten freilich im Rechnen, das für den Handel ganz besonders wichtig ist.

§11. Der weibliche und der männliche in Mittelalter und Neuzeit

Geist

Und hier erkennen wir am deutlichsten, wie der weibliche Geist das Mittelalter, der männliche Geist die Neuzeit charakterisiert. Dieser Unterschied ist aber auch darin erkennbar, daß Ackerbau und Handwerk

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Männlicher Geist in der Herrenschicht

im Mittelalter weitaus das Übergewicht über den Handel behalten, und daß von jenen beiden der Ackerbau durchaus die allgemeinere und bedeutendere Erscheinung bleibt. In der Neuzeit ergreift und erlangt der Handel die Führung, zumal in seinen höheren Gestaltungen: eben als Welthandel, aber noch viel ausschließender als Geldhandel (im Bankwesen) und als kapitalistische Produktion: Herstellung von Waren ausschließlich für den Absatz und ausgesprochen für den Fernabsatz; als Beherrschung der Arbeit in großen, endlich in Riesen- und Massenbetrieben; also durch eine siegreiche Konkurrenz mit dem Handwerk, die zum großen Teil vernichtend auf dieses wirkt; zum guten Teile auch durch die große Landwirtschaft, zumal im Pachtsystem, kapitalistisch als Handelsgeschäft organisiert, als solches zu kleinbäuerlichen, zumal zwerghaften Betrieben wie zu Parzellen-Wirtschaft sich verhaltend wie das industrielle Kapital zum Handwerk, wenn auch mit beträchtlichen Abweichungen. § 12. Herrenschicht

und Volk

Wenn die männliche Tätigkeit zum großen Teil herrenhaft führend und intellektuell bewirkend ist, so ist dies doch nicht schlechthin ihr Charakter; so wenig wie das „Dienen" des Weibes, wenn auch ein großer Dichter es als dessen Bestimmung bezeichnet hat und rühmen wollte. Immer sind es nur wenige, die Herren sind, und darunter sind auch Frauen, teils als Mütter, Schwestern, Töchter, teils als Gattinnen, ja als bloße Freundinnen der Männer. So steht die ganze Herrenschicht und sogar die weibliche als Stand oder als Gattung („Adel", „Die Gesellschaft", „Die Gebildeten", „Die besseren Klassen" und dgl.) dem Volke (den Gemeinen, der Menge, den Ungebildeten, der arbeitenden Klasse) gegenüber, wenn auch manche nähere Unterscheidungen gemacht werden müssen. Immer aber ist jede Schicht, je höher und herrlicher, um so mehr männlich betont, so daß in königlichen und anderen fürstlichen Familien eine Ausnahme ist, wenn Frauen, ja wenn auch nur die weiblichen Linien des Thrones fähig gehalten werden, während in der Regel 19 das „Dienen"

des Weibes: „Dienen lerne beizeiten das Weib nach ihrer B e s t i m m u n g " —

Tönnies erinnert sich eines Rollentextes, als ob er des Dichters M a x i m e sei; J o h a n n Wolfgang Goethe aber legt den bewusst brauchtümlichen Satz seiner Figur Dorothea in den M u n d , als sie eines Anderen Gefühl schonen will (vgl.: Hermann und Dorothea, 7. Gesang, V. 114 [1797 u . ö . ] ) .

Männlicher Geist, Verstädterung, Individualisierung

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nur Agnaten für die Erbfolge in Stammgütern berechtigt sind, in der Regel auch nur Männer einen Thron besteigen dürfen. — Daß das Volk ein „weibliches" Wesen ist, wurde oft bemerkt und hervorgehoben: weiblich durch das Vorwalten, auch unter Männern (zumal jungen Männern), der Gefühle und der Phantasie, also der Gutmütigkeit, Furchtsamkeit, Leichtgläubigkeit, des Hängens an der Überlieferung und der Frömmigkeit. In dieser Hinsicht unterscheiden sich aber wiederum die Landbewohner von den Städtern: diese gewinnen in allen größeren Städten, nicht nur in ihren wohlhabenden Schichten, rasch die Züge des Herrentums; diese verbinden sich sogar leicht mit einer gewissen Verweichlichung, die man von jeher der Geistesbildung als eine Wirkung zugeschrieben hat. Doch beruhen beide zusammen vielmehr auf Besitz und Vermögen, vollends also auf Reichtum und der dadurch begründeten Liebe zur Bequemlichkeit und Gewöhnung an den Genuß, wozu freilich die Frauen mehr geneigt sind, daher auch zu einer besonderen Art des Selbstbewußtseins und des Hochmuts, die sich dem Adelsstolz als Wettbewerb zur Seite stellt. Aus allen Erörterungen dieser Art aber muß klar hervorleuchten, daß es immer um ein Mehr oder Minder, um einen vergleichungsweise geltenden Unterschied sich handelt. In dieser Betrachtung ist die allgemeine Erscheinung die mehr oder minder entwickelte Individualität der Person, das Sich-Abheben des menschlichen Bewußtseins von seiner Basis, einem allgemeineren Bewußtsein, aus dem es entsprungen ist. Dies ist der große in jeder einzelnen Kulturentwicklung fortwährend, wenn auch gegen starke Widerstände und nicht ohne rückläufige Bewegungen sich steigernde Vorgang „von Gemeinschaft zu Gesellschaft", der am nächsten in der Entwicklung der Individuen und des Individualismus als einer Gesamterscheinung sich darstellt.

Zweiter Abschnitt

Die Neuzeit als Evolution

Erstes Kapitel

Der allgemeine soziale und ökonomische Individualismus

§ 13. Gemeinschaft

und

Gesellschaft

Die erste und Hauptbewegung des fortschreitenden sozialen Lebens ist die Tendenz zur Besonderung, zur Differenzierung und Individualisierung, die notwendig aus der Anpassung des ursprünglich Gleichen und Allgemeinen an verschiedene Lebensbedingungen sich ergibt. In dieser Anpassung bewährt sich die Lebensfähigkeit und das Leben selbst der natürlichen Verhältnisse, der Samtschaften und der Körperschaften gemeinschaftlichen Charakters, treten aber auch die Symptome ihrer beginnenden Auflösung hervor und die Anfänge neuer Elemente des sozialen Lebens, die wir als „gesellschaftliche" begreifen. Innerhalb dieser Entwicklung liegt der „Individualismus", d. h. daß der einzelne Mensch seiner Persönlichkeit, seines Wertes und seiner persönlichen Zwecke, also seiner Angelegenheiten oder Interessen bewußter wird; folglich selbständiger und freier zu werden strebt, allem gegenüber, was ihn sonst bindet, verbindet und beschränkt, und das ist, sofern es seinen Willen gebunden und verbunden hat: Gemeinschaft. So entwickelt sich das mehr und mehr ungemeinschaftliche, mehr und mehr gesellschaftliche Individuum, teils innerhalb der gemeinschaftlichen Verhältnisse, Gesamtschaften und Verbände, teils aus ihnen heraus, von ihnen sich befreiend; teils endlich neben ihnen her, indem es gesellschaftliche Verhältnisse, Samtschaften, Verbände begründet. Die Ausdrücke des Individualismus werden hier zuvörderst ihren allgemeinen Umrissen nach dargestellt. Diese dienen dann zugleich als Programm für die näheren Ausführungen des Gedankens. Und zwar müssen die Ausdrücke des Individualismus wie aller Erscheinungen des sozialen Lebens a) im ökonomischen, b) im politischen, c) im moralischen und geistigen Leben betrachtet werden. In jedem entwickelt es sich auf dreifache Weise: in, aus und neben den gemeinschaftlichen Wesenheiten — sozialen Verhältnissen, Samtschaften, Körperschaften.

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Individualisierung im ökonomischen Leben — Vom Herrn aus — Grundherr

In diesem Sinne werden hier die ökonomischen Verhältnisse betrachtet: Das Mittelalter ist in hohem Grade charakterisiert durch ein Herrentum, das hauptsächlich auf dem Lande beheimatet ist, aber auch im städtischen Handwerk als Meistertum seine Stätte hat. Jedes Herrentum stützt sich zunächst immer auf die Würde des Alters, am liebsten des Vaters oder eines patriarchalischen Fürstentums, vermittels dieser Würde dann auch auf das Können, die Macht, mithin auf den Besitz und auf das Ansehen, das diese wie alle Zeichen der Überlegenheit verleihen. Alles Herrentum führt eben leicht zur Überhebung des Individuums und ergibt innerhalb der Verhältnisse zum dienenden Gliede die Isolierung der Herren. Wie in allem gemeinschaftlichen Leben die Keime von Zwietracht und Zerrüttung verborgen sind, so ist zunächst diese Überhebung und Isolierung eine Erscheinung, die das Wesen des Verhältnisses wohl in vielen einzelnen Fällen, aber nicht generell angreift. Diese generelle Auflösung hingegen führt zunächst den Grundherrn wie den Handwerksmeister, alsdann notwendigerweise auch den Bauern, den Gesellen und Lehrling, überdies aber — im allgemeinen — die Frau aus dem Verhältnis heraus, das sie umfangen hielt: sie befreien (emanzipieren) sich oder werden emanzipiert. Dies bedeutet nicht, daß die so bisher verbundenen Gestalten einander nicht mehr angehen, sie werden vielmehr aufeinander angewiesen bleiben; es bedeutet aber, daß ihr Verhältnis ein anderes wird, wofür schon die individuellere Bewußtheit des Herrn genügt, wenngleich sie notwendigerweise die des Abhängigen nach sich zieht. So ist in weitem Umfange durch eine frühe neuzeitliche Entwicklung aus dem Verhältnis des Grundherrn zum Bauern ein Verhältnis des Gutsbesitzers zum Bauern und — meistens in einer späteren Phase — zum Landarbeiter, dem besitzlosen Tagelöhner, geworden. Indessen hat auch in anderem Sinne das Verhältnis sich verändert, indem der Grundherr zu einem bloßen Rentenbezieher oder auch der Form nach, wenn auch, ohne seine Person dafür in Anspruch zu nehmen, zu einem „Geschäftsmann" als „Verpächter" von Land wurde, und die Grundherrschaft, wie man sich ausgedrückt hat, erstarrte. Sie hat auch dann noch in die Neuzeit durch Jahrhunderte fortgewirkt und besteht in beiden Gestalten auch heute; aber die Verhältnisse sind durchaus solche des „Kontrakts" geworden, auch der Form nach „gesellschaftliche Verhältnisse". Es gab aber auch Grundherrschaften verschiedener Art: neben den ritterschaftlichen die geistlichen, besonders der Klöster, und die fiskalischen der Landesherren: solche hatten ihrer Anlage nach entweder einen mehr oder einen weniger persönlichen Charakter, daher auch nicht

Meister — Bedeutung von Stadt und Handel

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so leicht den der persönlichen Bedrückung, nämlich entweder den des Wohlwollens oder den des Gewährenlassens, der Gleichgültigkeit, womit auch das gesellschaftliche Verhältnis sich vereinigen läßt. Solche werden auch in Gegenden angetroffen, wo das Bauerntum seine alte Freiheit sich bewahrt hatte. Der Meister des Handwerks erhöht sein Bewußtsein als Unternehmer und Fabrikant — der bisherige Geselle wird für ihn ein möglicher, oft ein wahrscheinlicher Konkurrent, den er abzuwehren durch sein geschäftliches Interesse für geboten hält, und er fühlt sich überlegen teils durch sein Alter und seine Erfahrung, teils durch sein materielles Vermögen, sein „Geld", teils durch seinen Verstand und durch seine gesellschaftliche Stellung. Er will dann sein und seiner Meister-Kollegen Monopol nicht gestört wissen, und sie sind darüber einig, daß man die Erlangung einer einträglichen Nahrung so sehr als möglich erschweren müsse. Der eigene Sohn oder Schwiegersohn, wenn auch minder tüchtig, hat mehr Anspruch darauf als der tüchtigere Altgeselle; es wird also hier das gemeinschaftliche Verhältnis des Berufes dem der Familie nachgestellt, wie es seiner Natur nach jünger ist; für den Altgesellen ist daraus oft die Nötigung entstanden, sich nicht zu verheiraten, bis etwa die Meisterin zur Witwe oder eine gealterte Tochter erreichbar wurde — daraus ist der fast allgemeine Rückgang der Volksmenge in den Städten und anderswo während des 18. und wahrscheinlich schon oft im 17. Jahrhundert guten Teiles zu erklären (späte Heiraten, viel Kinderlosigkeit, hohe Kindersterblichkeit, mangelnde Zuwanderung wirkten der Vermehrung entgegen). Auf der anderen Seite hatte der bisher gedrückte Mann sich erhoben, indem er individueller und seiner Möglichkeiten und seiner Fähigkeiten bewußt wurde. Der Individualismus strebt aus der Gemeinschaft heraus, die ihn bedrückt und hemmt. Schon in den letzten Zeiten des Mittelalters, vollends in der Neuzeit, entzog sich mancher junge Bauer und Knecht dem Zwange durch Flucht in die Stadt. Auch wenn er hier nur eine mühevolle und bescheidene Stätte als allgemeiner Arbeiter fand, so fühlte er sich doch freier und konnte nicht selten seinen Sohn ein Handwerk lernen oder sonst eine Stufe höher steigen lassen: die Stadtluft machte frei. Auch dem Handwerksgesellen standen Wege offen, die ihn dem Mißbrauch des Zunftwesens entzogen: es gab immer Stätten für ein freieres Handwerk, aus dem vielfach eine größere und freiere Manufaktur sich entwickeln konnte, oft durch Regierungen begünstigt, die für vermehrte Bevölkerung und für vermehrten Wohlstand im militärischen

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Selbstbewußtsein

wie im Steuerinteresse besorgt sein mußten und wollten. — Viel mächtiger aber hat ein anderer Faktor, der vorzugsweise neben den gemeinschaftlichen Verhältnissen sein Gebiet hatte, zur Umgestaltung des ganzen sozialen Lebens gewirkt: dieser Faktor ist eben der Handel und seine Träger: die Händler, Kaufleute, Wechsler, nebst allen, die aus Grundherren oder Bauern, aus Meistern oder Gesellen Unternehmer, Rentner und Geschäftsleute wurden. Eine durchaus unrichtige Auffassung des die Neuzeit charakterisierenden Individualismus wäre es, zu sagen, er sei in der Gestalt, wie wir ihn kennen und wie wir im Gegensatz zu allen gemeinschaftlichen Wesenheiten ihn verstehen, in der Neuzeit überhaupt erst entstanden und emporgekommen. Von vornherein hätte dies alle Wahrscheinlichkeit gegen sich. Der Mensch ist von Natur ein Individuum und kann nicht umhin, seine Erlebnisse wie seine Wünsche, seine Bedürfnisse, sein Streben auf das eigene Ich, auf das Wohl seines Leibes und seiner Seele (die im Grunde identisch sind) zu beziehen. Allerdings ist dieser Egoismus von sehr verschiedener Stärke und von verschiedener Art. Das Ich und sein Selbstbewußtsein entwickelt sich vom Kinde zum erwachsenen Menschen und zum Greise in größere Bedachtsamkeit, Ruhe und Umsicht; es ist in dieser Hinsicht — wie schon erörtert wurde — stärker beim Manne als beim Weibe. Es ist immer genötigt, sich zu wehren, also zu kämpfen und ist mehr oder minder dazu bereit und gerüstet, hält sich mehr oder weniger in der Defensive oder geht zur Offensive über; sieht sich mehr oder weniger nach Bundesgenossen um und verbindet sich in mehr oder minder kluger Weise mit solchen zu gemeinsamer Abwehr oder gemeinsamem Angriff. Eben diese Verbundenheit kann als in Gemeinschaft ruhend unmittelbar gegeben sein; sie ist es eben nicht mehr, je mehr das Individuum über die gemeinschaftlichen Bindungen sich erhoben oder sich von ihnen losgerissen hat, oder endlich denen, die es umgeben, fremd, etwa sogar feindlich gegenübersteht. In jeder dieser Beziehungen entwickelt, wird der isolierte Mensch andere neue Verbindungen, die wir hier als Bundesgenossenschaften auffassen, suchen und sie auszunutzen bemüht sein. Isoliert oder verbunden wird er die Mittel für eine zweckmäßige Kriegführung, die Mittel, um zum Siege zu gelangen, in fortwährender Überlegenheit halten, sie anzuschaffen oder zu erfinden, zu vermehren und zu verstärken, zu verbessern oder auszubessern unablässig bedacht sein. Geflissentlich wenden wir hier eine Ausdrucksweise an, die aus der Praxis des Staates allgemein bekannt ist; denn die Praxis des isolierten Einzelmenschen kann prinzipiell nicht da-

Typen — Grundherr — Meister — Patrizier

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von verschieden sein, und umgekehrterweise kann eine kollektive Person, je mehr sie ihrerseits isoliert ist, nicht wesentlich anders handeln als eine natürliche und wirkliche Person, die kann nicht umhin, eben als solche ihr Bewußtsein auszubilden und zu pflegen. Es möge hier versucht werden, eine Reihe von Typen solcher individuellen Menschen darzustellen, wie sie längst vor der Wende des Mittelalters zur Neuzeit 1. innerhalb der gemeinschaftlichen Wesenheiten, 2. aus ihnen heraus, 3. neben ihnen her, in zunehmender Weise ihr individuelles Interesse, sei es als einzelne, sei es mit Gefolge oder Gefährten, sich geltend machen, und zwar aus jedem unserer drei Gebiete, die freilich untereinander innig zusammenhängen, dem ökonomischen, dem politischen und dem geistigen oder moralischen Gebiete. § 14. Der

Herr

Er macht in allen Gebieten sich geltend und spielt in jedem eine besondere Rolle. Im ökonomischen Gebiete ist er vorzugsweise immer mächtig durch den Besitz, und zwar in erster Linie durch den Besitz an Grund und Boden: der Grundherr, Gutsbesitzer oder sogar Latifundienbesitzer, der Ritter, der Junker, der Lord und der Squire. Er bezieht in der Regel von vielen abhängigen Personen, zumeist Bauern, seine Einkünfte als Renten des Bodens, die ihre rationale, also gesellschaftliche Gestalt als Pachtzinsen auf Grund eines diese bestimmenden Vertrages erhalten. An seiner Stelle kann auch ein unpersönlicher Körper stehen: eine Landoder Stadtgemeinde, ein Staat, eine Kirche, ein Kloster, eine Universität. — Eine andere ökonomische Gestalt hat der Herr als Meister eines Handwerks, einer Kunst: seine mittelalterliche Vollendung hat er als Amts- oder Zunftmeister gewonnen, und, obschon vermindert, bis tief in die Neuzeit behalten. In der mittelalterlichen Stadt aber steht ihm immer gegenüber der auf seinem Erbe und ererbtem Ansehen sitzende Patrizier, der in der Regel zunächst die Teilnahme an der Leitung des städtischen Gemeinwesens in seiner Hand hat, so daß seine Einkünfte außer in Grundrenten eben durch seinen Einfluß auf die Geschäfte der Stadt, daher auf den städtischen Handel in ihren Märkten, der aber seinem tatsächlichen Inhalt nach den Austausch von Produkt gegen Produkt (freilich schon durch Geld vermittelt) bedeutet; außerdem haben die „Geschlechter" frühzeitig auch auf den eigentlichen Handel eine starke Wirkung ausgeübt, indem sie hauptsächlich durch ihre Angestellten, die Negotiatores, (oft Unfreie) Gewinn daraus zogen.

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Fürst — Geistlicher Herr

Wenn hier der Herr auch als politische Macht erscheint und die meisten harten und blutigen Kämpfe zwischen den Geschlechtern und den Zünften, besonders in Oberitalien und im Deutschen Reich, durch die letzten Jahrhunderte des Mittelalters sich hinziehen — nachdem in der Regel die Beseitigung der Stadtherren vorausgegangen war —, so spielt doch eine weiterreichende und dauerhaftere Rolle wesentlich politischer Art bis in die jüngste Zeit der Fürst, in erster Linie als König oder sogar als Kaiser, ferner als Herzog, als Graf oder in anderen Gestalten. Er, der Landesherr, ist in der Regel auch ein Grundherr, überdies oft der Gerichtsherr und zuweilen sogar der Leibherr über seine Hintersassen oder Leibeigenen. Das ganze ältere politische System des Mittelalters hat seinen Charakter dadurch, daß ein Oberherr seine Freunde, Vasallen, Verwandte mit gewissen wesentlichen Funktionen seiner Herrschaft belehnt, vor allem mit der Herrschaft über Land, der prinzipalen Bedingung aller Herrschaft über Leute, also der Macht wie des Reichtums, in einem Zeitalter, das von Kapital noch wenig weiß. Es ist der Feudalismus, der hierin beruht und eine ausgeprägte starke und dauerhafte Gestalt des Herrentums in Europa — in ähnlicher Weise offenbar in Japan bis in die jüngste Zeit — gewesen ist. — Dazu gehört auch der geistliche Herr als der andere Arm der Herrschaft im moralischen Gebiete. Auch er ist oft ein Grundherr und unterstützt nicht nur durch Gebete um die Hilfe unsichtbarer Mächte, sondern besonders auch als ein Lehrer und Leiter des Volkes, sowohl als der Herren selber, deren Einfluß und Macht, was nicht ausschließt, vielmehr bedingt, daß er sie auch einschränkt und hemmt. Auch er übernimmt die Funktionen des Richters besonders in Angelegenheiten, die mit dem Familienleben nahe zusammenhängen, weil er hier den am meisten unmittelbaren Einfluß auf das Volksleben sucht und findet, dessen Umfang und Stärke aber immer durch Willigkeit und Empfänglichkeit zumal der Frauen im Volke, also durch die Gläubigkeit, Hingebung und Frömmigkeit bedingt ist. Durch die Frauen zunächst sind auch die Kinder die gegebenen Jünger des geistlichen Herrn, die er als Erzieher zum Gehorsam gegen sich und gegen ihre Eltern und Pfleger anzuhalten sich verpflichtet fühlt und lehrt. In allen diesen Gestalten ist und bleibt der Herr als ein individueller Mann — oder auch weit seltener als unabhängige Herrin die individuelle Frau — ein Mensch mit menschlichen Neigungen, Bedürfnissen, Wünschen und Leidenschaften. Das Herrentum bewährt sich am ehesten in der Ausübung nach Art eines Vaters, der seine Kinder zu ernähren, zu pflegen, zu erziehen und zu fördern beflissen ist und als seine Pflicht

Gemeinschaftliches Herrentum, Ursprung und Wesen

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anerkennt. Dies ist die oft als solche gerühmte patriarchalische Herrschaft, von der die matriarchalische im Grunde nicht verschieden ist, die sogar eher in Liebe, Hingebung, Aufopferung sich kundgibt, aber auch eher in Irrtümer verfällt durch Mangel an Besonnenheit, auch an ruhiger Erwägung und Erkenntnis. Seinem Wesen nach ist das Herrentum eine fundamentale Erscheinung des gemeinschaftlichen Lebens. Der Individualismus des Herrn innerhalb solcher Verbundenheiten macht am leichtesten sich geltend durch den Gebrauch der Macht als Z w a n g und Gewalt, zunächst etwa sich äußernd in Belohnung und Bestrafung, nach Belieben und Laune, aber vielleicht noch in der Meinung gerechter Behandlung, als Richter; ferner in Mißhandlung, Bedrückung, Ausbeutung, wovon freilich in erster Linie die Herrschaft über unterworfene und geknechtete Feinde, dann aber über Knechte und Untertanen überhaupt, die Annalen aller Zeiten erfüllt. Dazu gehört auch die Unterwerfung des Weibes unter die Gelüste des Mannes, der in der „Polygamie" nur eine Frau in der Regel als Herrin neben sich anerkennt, während die Nebenfrauen oder Kebsen oder Maitressen lediglich zu seinem Vergnügen und für den Genuß seiner Herrenwürde vorhanden sind, auch wenn sie ihre Nichtigkeit und Schönheit mit Diamanten und Perlen schmücken dürfen, sogar sollen. Die fürstlichen Höfe, weltliche und geistliche, haben immer durch ein solches Treiben — von Kabalen, Intrigen, oft auch von Giftmord und anderer Gewalttat erfüllt — nicht zu ihrer anerkannten Ehre sich ausgezeichnet. — Aber der Herr hat auch ökonomische Bedürfnisse, er ist nicht nur beflissen, seine Einkünfte zu empfangen, zu sichern, sondern oft sie aus scheinbaren und wirklichen Gründen zu vermehren: seine hergebrachten Befugnisse auszudehnen, oft zu diesem Behufe, die ihm Untertanen Leute und Familien zu vertreiben oder sie abhängiger von sich zu machen als sie bisher waren; eine ähnliche Bedeutung hatte es, wenn er etwa wüst gewordene Stellen seines Gebietes (z. B. infolge von Krieg oder Pestilenz) nicht, wie es sonst üblich war, neu besetzte, sondern nach seiner Willkür dem Boden hinzufügte, den er als seinen eigenen bebauen läßt, oder mit seinem eigenen Vieh belegen will, das „Hoffeld". Man mag im allgemeinen, was hier als zu jeder Zeit möglicher und zu jeder Zeit wirklicher „Individualismus" im Herrentum verstanden wird, als „Mißbrauch" der Macht und Gewalt deuten und bezeichnen, wovon die geringeren Grade offenbar überall vorkommen, w o das Verhalten des Herrn von der Idee einer weisen und um das Wohl der Untergebenen oder Untertanen besorgten Herrschaft abweicht. Indessen, was hier gemeint ist, deckt sich nicht völlig mit dem Begriffe. Denn es

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Versachlichung der Herrschaft — Emanzipierung von Bauer und Handwerker

wird hier nur an diejenigen Abweichungen gedacht, die von dem Übergang aus einem Herrentum im Sinne der Gemeinschaft zum Herrentum im Sinne der Gesellschaft bedeutend sind. In dieser Hinsicht ist das individualistische Bewußtsein des Herrn vielfach der Ansatz und die Voraussetzung zu einem Herrentum, das wesentlich auf dem Vermögen, d. i. der Herrschaft über Sachen, beruht, wodurch der Herr imstande ist, viele Menschen von sich abhängig zu machen, ohne anders um sie sich zu kümmern oder zu sorgen, als daß sie leisten, was er von ihnen wünscht, gegen Zahlungen, die er ihnen macht oder wenigstens verspricht. Von diesen Leistungen aber sind die wichtigsten die Arbeitsleistungen, die nicht so sehr zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, zu seiner persönlichen Bedienung, als vielmehr zur Vermehrung seines Einkommens oder zu seiner Bereicherung dienen und bestimmt sind. Oft ist politische Macht das Mittel, vermöge dessen ein Herrentum, das in letzter Linie auf ein geschäftliches Herrschen hinausführt, befestigt und unterstützt, wenn nicht begründet wird. Dies ist offenbar der Sinn gewesen, in dem während der letzten Jahrhunderte des Mittelalters die Mitglieder des Patrizierstandes in den deutschen Städten und in Oberitalien als Ratsherren und als Schöffen die Gemeinen, d. i. die Handwerker und die gesamte unter ihnen stehende Volksmenge, nicht nur oft bedrückten und bedrängten, sondern deren Entwicklung zu hemmen beflissen waren wie die Grundherren die Entwicklung der Bauern. § 15. Der

Untertan

Darum gestaltet sich freier und individualistischer, parallel und ungefähr in gleichem Tempo mit dem Herrn der Untertan (teils friedlich durch seine Leistungen in überlegenem Wettbewerb, meistens), zumal wo dem in der Wirtschaft Arbeitenden nicht ein Meister und Führer der Arbeit, sondern nur ein Herr gegenüberstand, der seine Kräfte ausschließlich in kriegerischer Anstrengung und im Jagdvergnügen oder aber in einem müßigen Renten- und Lebensgenuß suchte und fand. Wohl aber entwickelte sich das Streben nach Freiheit kämpfend, also hauptsächlich in Empörung gegen die Herrschaft. In dieser Hinsicht sind als Vorspiele zu größeren und allgemeineren Bewegungen noch während der Dauer des Mittelalters die Zunftstreitigkeiten und Kämpfe von großer Bedeutung. Sie haben die Differenzierung eines Volkes, und zwar des in Intelligenz und Kunstfertigkeit, und also in Selbständigkeit und Selbstbewußtsein am meisten fortgeschrittenen Teiles, zur Voraussetzung; sie erfüllen das 14. Jahrhundert und dauern auch im 15. fort, wenn sie auch allmählich

Zunftkämpfe — Politische Koalition

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abnehmen, während zugleich das ganze Zunftwesen teils in sich selber, teils durch die Zunahme des Handels und also die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise in Verfall gerät — ein Verfall, der (wie es wohl immer geschieht) in unmittelbarem Anschluß an die höchste Blütezeit beginnt. Mit diesem Aufblühen und mit den Kämpfen, die es begleiteten oder die ihm vorausgingen, tritt der Handwerker und in geringerem Maße auch wohl der Bauer als ein selbständiges wirtschaftliches Individuum in die Erscheinung, wie insonderheit der Handwerker wesentlich durch Genossenschaft als eine der brüderlichen nachgebildete Gemeinschaft mit seinesgleichen verbunden ist, und wie das Band eines freien Bürgertums sie alle um so fester umschlingt, je mehr es ihnen gelingt, die Herrschaft der Geschlechter abzuwehren und zu schwächen, eben dadurch ihre eigene festzulegen. Der Meister des Handwerks ist außerhalb dieser Verbindungen der Unternehmer einer kleinen Fabrik, zugleich aber Hausherr und Hausvater, seinen Lehrlingen und Gesellen gegenüber der allein freie Mann, bis allmählich die Gesellen als ein eigener Stand in einen gewissen Gegensatz zum Stande des Meisters traten und sich gemeinsamer Standesinteressen bewußt wurden, die bald in einen Gegensatz zum Interesse der Meister übergingen, je mehr die eigene Meisterwürde in die Ferne rückte. Hier liegt der Keim des proletarischen Klassenbewußtseins, das erst in der Neuzeit erstarkt ist. Aber schon im 14. Jahrhundert sind vereinzelt planmäßige Koalitionen und Arbeitseinstellungen vorgekommen. — Allgemeine Empörungen der Untertanen gegen ihre Landesherren charakterisieren das Mittelalter nicht. Sie werden auch dadurch gehemmt, daß die Fürsten eben in der Förderung der Untertanen gegen ihre (der Fürsten) Mitherren ihren eigenen Vorteil, ihre Stütze suchten und fanden: dies ist die allgemeine Erscheinung der Bundesgenossenschaft solcher, die einen gemeinsamen Gegner haben. Diesen Gegner stellten für den Fürsten die Herrenstände vor: der weltliche und der geistliche Herrenstand, die teils von Natur und auch infolge des Widerstandes, auf den ihre Herrlichkeit und Macht stieß, zusammenhielten, teils aber auch wider einander stritten, so daß andere Kombinationen in den Gegensätzen der feindlichen Lager sich ergeben mußten.

§ 16. Der Laie Es werde noch ein Blick geworfen auf die Gestalt des Laien als des Untertanen dem geistlichen Herrn gegenüber, des Laien, der mehr und mehr im ausgehenden Mittelalter um seine Befreiung von dieser Bevormun-

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Der Ketzer — Die sozialen Grundlagen des Fremden

dung ringt und aus dem der Ketzer, bald auch der wissenschaftliche Mensch als Freidenker, sich entwickelt hat. Auch sie kommen schon auf der H ö h e des Mittelalters vor und dürfen, je mehr diese aus anderen Ursachen sich abwärts neigt, um so mehr ein höheres M a ß von Sicherheit des Auftretens gewinnen, wenn auch geistliche und weltliche Macht gemeinsam auf ihre Unterdrückung, ja Verminderung bedacht sind und hindrängen. Die gesteigerte Erregung der Gemüter, die in Deutschland und sonst das 15. und das erste Drittel des 16. Jahrhunderts bezeichnet, hat in dem Vorgefühl des nahen Zusammenstoßes zwischen der überlieferten und dadurch trotz abnehmender Kraft immer noch riesenstarken Denkungsart und der zunächst sehr schwachen, aber allmählich zunehmenden neuen unkirchlichen und antikirchlichen Meinung ihren Grund.

§ 17. Der Fremde Noch wichtiger für das Verständnis der Entwicklung und der Rolle, die der Individualismus in ihr spielt, ist die Erkenntnis der Bedeutung des Fremden, insofern, als dieser von vornherein an den beiden ersten Gründen aller Gemeinschaft: der Verwandtschaft und der Nachbarschaft in dem Orte oder dem Lande, wo er verweilt, keinen Anteil hat, zumal, wenn dieses Verweilen nur ein vorübergehendes, flüchtiges Verweilen ist wie das eines Reisenden und Besuchers. Der Fremde kann freilich — und es ist ein häufiger Fall — nicht vereinzelt, sondern mit seinen Freunden und Gefährten seinen Aufenthalt nehmen: das Verhältnis des Einzelnen zu der vorauszusetzenden Mehrheit der Heimischen wird dadurch nicht verändert, wenn auch vielleicht in einem oder anderem Sinn — im freundlichen oder feindlichen — abgewandelt. Vielfach begegnet es, daß ganze Gruppen Ausgewanderter in einem Gebiete einer Stadt sich ansiedeln und willkommen geheißen werden: sei es, weil man für das eigene wirtschaftliche Wesen von dem Vermögen, das sie etwa mitbringen, von ihrem Können, von ihrem Fleiß Vorteile erwartet, wie es zumal in einem neuen, noch schwach bevölkerten Lande wahrscheinlich ist, wo ihnen etwa sogar Grund und Boden umsonst oder für einen geringen Zins angeboten wird; oder als Volksverwandte, w o also noch ein gemeinschaftlicher Ton sich vernehmbar macht, oder als „Religionsverwandte", wo dieser Ton noch wärmer zu sein pflegt, um so eher, wenn diese fremden Gäste etwa als Opfer religiöser Verfolgung, um ihres Glaubens willen, vertrieben worden sind, daher von ihren Mitgläubigen willkom-

Bedeutung der Wanderungen — Relativität der Fremdheit

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men geheißen werden. Wie alle Wanderungen, so haben auch diese große Wirkungen für die volkswirtschaftliche Entwicklung ausgelöst, und zwar meistens zum Nachteile des Gebietes, das sie vertrieben hatte, und zum Vorteile des Gebietes, das sie empfängt. Ein besonderer und wichtiger Gegenstand soziologisch-historischer Forschung wird es einmal sein, den Wanderungen überhaupt, ihren Ursachen und Wirkungen generell — empirisch „naturwissenschaftlich" — nachzugehen. Es gehört dann auch das weite Feld der Tatsachen hinein, daß diese Wanderungen von Privaten und von Fürsten oder Staatsmännern bewirkt worden sind, daß also Fremde heran- und hereingezogen wurden, was sich zum Teil mit den erwähnten willkommenen Ein- und Zuwanderungen nahe berührt, ztim Teil aber auch davon unabhängig geschah und für die Entwicklung der Manufakturen wie der großen Industrien und des Handels überhaupt starke Bedeutung gehabt hat. Denn wenn sie Kapital, obschon etwa nur geliehenes, also Kredit, mitbrachten, betriebsam und klug waren, so mußten sie den Männern, die das gemeinsame Volkstum vertraten, um so mehr erwünscht sein. — Weit früher als diese Bewegungen hat schon die Flucht besonders der unfreien Leute von den Dörfern in die noch jungen und der Zunahme bedürftigen Städte stattgehabt, die oft auch durch kriegerische und andere Unruhen bewirkt wurde; denn die Stadtluft machte nicht nur frei, sondern sie gab auch durch die Mauern und Tore, die sie umgaben, ein Gefühl größerer, wenn auch keineswegs vollkommenener Sicherheit. — Die Fremdheit muß immer relativ verstanden werden und sie nimmt, wie schon angedeutet wurde, mannigfache Gestalt an; nicht nur die Entfernung der Herkunft ist hier bedeutend, sondern noch mehr die Verschiedenheit der Lebensgewohnheiten, der Sitten, des religiösen Glaubens und Kultes und ganz besonders auch die Verschiedenheit der Sprache. Denn selbst heute noch begegnet es, daß der Mann, der eine stark abweichende Mundart derselben Sprache spricht, in demselben Lande auffällt und als Fremder sich kenntlich macht; so ist leicht vorstellbar, wieviel stärker dies Merkmal etwa vor 1000 oder noch vor 400 und 500 Jahren kenntlich gewesen ist. Der erheblichste Fall, in der gesamten Entwicklung seit dem Fall des Römischen Reiches, eines fremden und über das gesamte Gebiet sich ausbreitenden Volkes ist die Ansiedlung und Wanderung des Judentums in Europa, später auch in der neuen Welt gewesen. Um so merkwürdiger, da dasselbe Volk schon durch die vom Römischen Reich beider Hälften, also auch vom byzantinischen, her vermittelten und aufgedrängten Religionen teils ein intensives Interesse, teils eine besondere Abneigung, ja

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Die Juden als Fremde — als Händler

einen im Sinne dieser Religion wohlbegründeten Abscheu auf sich zog; wogegen in die ihnen günstige Wagschale vielfach der Umstand ihres Besitzes an Geld, ihrer Kenntnisse, ihrer Gewandtheit und Gefälligkeit, ihres friedlichen und geordneten Lebens in Familien und Gemeinden, ins Gewicht fallen mußte — Umstände, die ihr Dasein und Kommen oft erwünscht, ihre Verfolgung und ihr Gehen oft den wenigen, die immer mit Einsicht die Lebensbedingungen von Stadt und Land zu beurteilen fähig waren, mißfällig erscheinen lassen mußten. So ist die große Leidensgeschichte der Juden in Europa zu einem Teil durch die Verbesserung ihrer Lage, hauptsächlich aber durch ihren im Handel erworbenen, auch durch Vorsicht und Sparsamkeit erhaltenen Reichtum und durch das Bewußtsein der Verbesserung ihrer Lage in der öffentlichen Meinung, ja sogar in der religiösen Auffassung, kompensiert worden: eine Verbesserung, die sie zum guten Teile ihrem lebhaften Interesse für geistige Kultur, besonders für die Wissenschaft verdanken; mithin auch ihren großen Leistungen, die zunächst auf ihrer Herkunft aus dem Römischen Reich und auf ihrer Stammesverwandtschaft mit den Arabern, dem Handelsvolke, das zuerst im zerfallenen weströmischen Reiche eine internationale Macht und Geltung gewann, beruhen: so in der Medizin, der Philosophie, im Anschluß an den von Arabern wiederentdeckten Aristoteles, allmählich in allen Gebieten des wissenschaftlichen Denkens und Forschens und in der Philosophie, hin und wieder auch in der Kunst, wo sie in Verbindung mit den Mauren orientalische Motive und Fertigkeiten nach Europa zu übertragen vermochten. Aber wie bekannt und berufen, sind die Juden von altersher vorzugsweise und ganz überwiegend als Händler tätig. Ist dies eine Folge ihres Naturells und Temperaments, ihrer besonderen Begabung? Nicht eigentlich. Es ist vielmehr die Folge ihrer Kultur, die sehr alt ist, und der Zerstörung ihres gemeinschaftlichen Lebens, besonders der politischen Gestalt ihres Volkstums. Zuerst im mazedonischen und hellenistischen, dann im Römischen Reich, haben sie überallhin an die Küsten des Mittelmeeres sich zerstreut, bildeten religiöse Gemeinden und hielten zusammen, gestärkt durch ihren Glauben, daß sie eine auserwählte, ja die von ihrem Gott, dem einzigen Gott, auserwählte Nation seien. Sie waren und blieben dadurch Fremde in jeder griechischen und römischen Umgebung und drangen mit der römischen Eroberung in alle Provinzen des Reiches vor, zuletzt, was für Germanien große Bedeutung gewann, rheinabwärts im Gefolge römischer Heere und Garnisonen. D^ß sie den Heeren sich anschlössen, beruhte auf der alten Erfahrung, daß es vorteilhaft war,

Wesen des Handels

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immer bereit zu sein, gegen Bezahlung Lebensmittel, oft auch Waffen und Geräte zu liefern, und daß das Militär selten feilschte, sondern freigebig mit Geld umging, wenn es nur erhielt, was es brauchte und begehrte. Eine besondere Chance bot sich dem Händler noch durch die Beute, und eine ganz besondere durch die gefangenen Feinde, die als Sklaven zu kaufen und wiederzuverkaufen ein gutes Geschäft war. So hat der Jude eine große Funktion gehabt im Übergang aus einer zerfallenen und zerrütteten Weltwirtschaft (wie man vergleichungsweise die des Römischen Reiches nennen mag, die soweit reichte, als die römische Münze) in eine junge Naturalwirtschaft; die der ungebildeten Völker, in denen die Überreste der vergehenden Kultur langsam Wurzel schlugen. Daß der Handel „von Anfang an" in schroffem Gegensatz zu jeder auf Naturalwirtschaft bestehenden Wirtschaftsordnung steht, betont Lujo Brentano (Anfänge des Kapitalismus S. 15). „Eben weil in dieser jede Wirtschaft alles, was sie braucht, selbst herstellt, finden wir bei allen Völkern als die ersten Kaufleute Fremde", heißt es dort. Es läßt sich aber auch umkehren: weil der Fremde keine Wirtschaft, namentlich keinen Boden hatte, keiner Sippen- oder Dorfgemeinde angehörte, so war der Handel sein natürliches Element, worin er schwimmen, d. h. seinen Lebensunterhalt erwerben konnte, wenn er ein Tausch- und Zahlungsmittel, ein Geld in Händen hatte, sei es, daß er es alten und ererbten Ersparnissen seiner Heimat verdankte, oder daß er es in einer alten, aber nunmehr vergehenden Stadt erworben hatte. In der werdenden Stadt, wie sie am wahrscheinlichsten durch ein römisches Lager entstand, hatte er auch am ehesten Chancen, sein Geld an den Mann zu bringen: tat er es nur als Konsument, so war er bald erschöpft, eine Umkehr und Heimkehr gab es für ihn nicht. Er mußte also sein Geld ausgeben und es doch erhalten. Dies Kunststück war nur dadurch möglich, daß ein Teil des Geldes zum Erwerb von Dingen gebraucht wird, die in Geld zurückverwandelt werden können, also in Waren, die an einem anderen Ort, zu anderer Zeit einen größeren Wert haben oder zu haben scheinen. Wie schon des öfteren betont wurde, ist dies, und nur dies, die ursprüngliche und eigentliche Sphäre des Handels. Auch Sombart hat darauf hingewiesen, daß mit diesem eigentlichen Handel oft verwechselt wird das Veräußern des eigenen, sei es selbst produzierten oder als Abgabe oder als Tribut oder Beute erworbenen Gutes, das der Besitzer selber nicht verzehren und nicht anders verwerten kann, als indem er es verkauft, also 14 Lujo Brentano,

Die Anfänge des modernen Kapitalismus, München 1916: 15.

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Befreiung der Unterdrückten — Der rationale Landwirt

in Geld umsetzt; wobei er vielleicht der Warenkunde und anderer Kenntnis eines Händlers sich bedient; was man allenfalls einen frühen Kommissionshandel nennen mag. Aber es ist eben kein wirklicher Handel, auch wenn er einen großen Vorteil sowohl für den Besitzer als für den Kommissionär bedeutet. Daß auch in dieser Eigenschaft des Kommissionärs der fremde Händler, also unter den hier gegebenen Voraussetzungen vorzugsweise der Jude die geeignete Person war, liegt zu vermuten nahe; denn er war des Schreibens, des Lesens und — was das wichtigste war — des Rechnens kundig, war auch bewandert und kannte Land und Leute.

§ 18. Der

Emporkommende

Als die zweite Ausprägung des individuellen Menschen in der Neuzeit begreife ich den unterdrückten Emporkommenden, darum nach Freiheit, also nach Befreiung von den ihn umgebenden Hemmungen und Schranken, äußeren und inneren, Strebenden. Es ist das allgemeine Verhältnis einer jüngeren zur älteren Generation, das sich hier wiederholt im Verhältnis ganzer Schichten des Volkes zu den Schichten, die auf Grund ererbten Besitzes und herkömmlicher Rechte die Herren im sozialen Leben sind. Eine lange Reihe solcher neuer Menschentypen können aufgezählt werden. Ich nenne hier folgende als die meisten charakteristischen: 1. Der Landwirt als Geschäftsmann. Er unterscheidet sich vom Grundherrn, der als Abkömmling des Ritters eher im Kriegswesen seinen Beruf als in der Bewirtschaftung seines Gutes sucht, auch wenn er, nach dem Ausdrucke Knapps, in der Neuzeit den Erwerbstrieb in seinen Adern zu verspüren angefangen hat. Allerdings kann ein solcher sich wohl in einen Landwirt verwandeln und wird alsdann eine Betriebsweise mit freien und landlosen Arbeitern, vielleicht mit Wanderarbeitern, dem hergebrachten Betriebe mit Hand- und Spanndiensten der Bauern vorziehen. Der rationelle Landwirt kann sich wohl auch aus dem Bauern entwickeln, um so eher, je mehr dieser über ein hinlänglich großes Areal verfügt, je mehr seine Geldmittel ihm erlauben, eine besondere Ausbildung für seinen Beruf zu erwerben. Indessen ist der Bauer in der Regel von der Gewohnheit beherrscht und mißtrauisch gegen neue Methoden, auch pflegt er nur über so viel Kapital zu verfügen, als zur Erhaltung seines Betriebes notwendig ist. Immerhin wird der vermögende und intelligente Bauer danach streben, seinen Besitz abzurunden, dann auch zu vergrößern und einträglicher zu machen. Er wird daher den Fesseln sich

Kapitalistische Landwirtschaft — Pachtsystem

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zu entwinden suchen, die ihm vorzugsweise durch die Gemengelage der Äcker als Flurzwang aufliegen; er wird in diesen Bezügen den Spuren des Grundherrn folgen, also auch der Gemeindeweide sich entziehen und deren Aufteilung wünschen, um frei über sein Vieh zu verfügen. Eher noch als aus den überlieferten Gestalten des Gutsbesitzers und des Bauern geht der neuzeitliche Landwirt aus anderen mehr technischen, also auch mehr städtischen Berufen hervor; er bedarf eines Betriebskapitals und wird um so freier und erfolgreicher damit schalten können, je weniger sein Vermögen im Boden gebunden ist, mithin als Pächter. Aber nicht der bäuerliche Betrieb, der als Zwerg- sogar Parzellenpacht, zumal bei kurzer Pachtzeit, viel eher ein wirtschaftlich unkräftiges Ackerbauproletariat darstellt, sondern der Großbetrieb ist das gegebene Feld für den Pächter, sofern er mit seinem Kapital seine erworbene Fähigkeit verwerten, also auch seinen Beruf ersprießlich ausüben will. Dieser Berufslandwirt, der naturgemäß auch beflissen ist, wissenschaftliche Methoden anzuwenden, kann wie als Eigentümer und als Pächter, so auch als Administrator eines großen Gutes zur Geltung kommen; es ist nicht ein notwendiges Merkmal seines Berufscharakters, mit eigenem Kapital für eigene Rechnung tätig zu sein. Immer aber muß er beflissen sein, einen möglichst hohen Reinertrag aus einer bestimmten Fläche zu gewinnen: die Selbstversorgung der im Betriebe tätigen Personen und ihrer Familie tritt zurück gegen die Warenproduktion; nur an diese knüpft sich das Bestreben, der Ware unmittelbar eine möglichst dauerhafte und umlauffähige Gestalt zu geben. — Die große Pachtung war verhältnismäßig früh entwickelt in Frankreich, wo vorzugsweise aus ihren Bedürfnissen und Interessen die physiokratischen Lehren hervorgingen, deren praktisches Ziel in erster Linie die freie Getreideausfuhr war. Das Pachtsystem großen Stiles und die rationelle Landwirtschaft fanden aber dann ihren klassischen Boden in England, wo sie weniger auf Ausfuhr als auf die Erhaltung des inneren Marktes bedacht waren, und zwar vor allem durch Produktion von Wolle für die Industrie. Sie sind von England im 19. Jahrhundert nach Deutschland übertragen worden und haben sogar ihr Vorbild in den Schatten gestellt. Auch der bäuerliche Betrieb, wenn er nicht allzu klein ist, fügt sich allmählich hinein. Aber die rationelle Landwirtschaft, die den Boden pflegt und schont, ist nur eine Methode der modernisierten, also geldwirtschaftlich und nach Art eines kaufmännischen Geschäftes betriebenen Landwirtschaft überhaupt. Diese entwickelt sich freier im Koloniallande, also zumal in dem bedeutendsten, den Vereinigten Staaten Amerikas. Wenn auch der Pachtbetrieb hier noch

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Großbetrieb, Farm — Freimeister — Neustädte

eine Ausnahme ist, so ist er doch in rascher Zunahme begriffen, und auch der Eigentümer betrachtet und behandelt hier den Boden lediglich als Mittel für den Zweck des gewinnbringenden Geschäftes, solange er noch erwarten kann, ihn, nachdem er in hohe Kultur gebracht worden, leicht abzustoßen und ein neues Grundstück in Angriff nehmen zu können. Mehr noch als in Europa entwickelt sich hier der landwirtschaftliche Großbetrieb zum Maschinenbetrieb; allgemein aber charakterisiert ihn nicht sowohl Vergrößerung des Areals als die Intensivierung, und zwar die Kapitalintensivierung, zu der neben dem Gebrauch besserer Werkzeuge und neuer Maschinen vor allem die planmäßige Düngung gehört, mehr noch als die Intensivierung durch Arbeit. In Amerika schreitet jene mit weit rascheren Schritten vor als diese. 2. Den ursprünglichen Typus des industriellen Unternehmers außerhalb des zünftigen Handwerkes stellt der „Freimeister" dar, und er ist im Mittelalter und bleibt in mittelalterlichen Verhältnissen der Minderberechtigte und Verfolgte — Pfuscher und Bönhase, der allmählich sich aber Duldung und Freiheit erwirkt zumal durch die Hilfe überlegener, also politischer Mächte. — Dies am ehesten in neuen Handwerken und Betrieben, die als solche dem Zunftzwange sich zu entziehen wußten und ihre Bedeutung vorzugsweise durch neue Erfindungen betätigten: in Frankreich stand schon 1568 der Rechtssatz fest, daß neue Erfindungen außerhalb der Zunft stehen sollten. Das bedeutendste Beispiel der Entwicklung einer Großindustrie auf Grund der Neuheit und Zunftfreiheit ihres Stoffes ist die für England und mittelbar für den Erdkreis epochemachende Baumwollspinnerei in Lancashire. — Die Niederlassung in neuen Orten wird dafür vorzugsweise wichtig. Als solche treten hervor: erstens die neuen Städte, besonders Residenz- und (in Deutschland) die Universitätsstädte, in jenen das Handwerk als Zubehör eines Hofes, in diesen einer Korporation. Dazu kommen die von fürstlichen Regierungen und finanzpolitischen Interessen begründeten Neustädte,

denen ne-

ben Niederlassungsfreiheit Schuldfreiheit, meistens auch Gewerbefreiheit bewilligt wurde, um sie volkreich und geldreich, also möglichst steuerfähig zu machen. Beispiele solcher Städte sind in Holstein das im 17. Jahrhundert begründete, erst im 19. zur Großstadt entwickelte Altona,

aus

dem besonders auf dem freien Boden des benachbarten Dorfes Ottensen ein großer Fabrikort hervorging, der erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit Altona zu einer Gemeinde vereinigt wurde. Sehr auffallend ist auch in England der Unterschied der jungen Städte von denen des Mittelalters. Von diesen führen die meisten heute als Städte der Käthe-

Gebundener Kaufmann u. freier Händler — Illegitimer Handel

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dralen ein schweigsames, nur durch Fremdenbesuch belebtes Dasein. Die heutigen großen Fabrikstädte wie Manchester, Birmingham, Leeds sind erst während der letzten 2—3 Jahrhunderte emporgekommen. Mit ihnen auch ihre Bürger, die sich lange zufriedengaben, vom parlamentarischen Wahlrecht ausgeschlossen zu sein, das diesen Städten erst durch die Reform des Jahres 1832 verliehen wurde. 3. Der dritte neuzeitliche Typus des emporkommenden Menschen ist der des allgemeinen Händlers, dessen Verhältnis zum Kaufmann des älteren Stiles dem des Freimeisters zum Zunftmeister analog ist. Nicht nur war der mittelalterliche Handel als solcher gebunden, dem Ort und der Zeit nach, insbesondere durch die Stapelrechte; sondern auch die Kaufleute selber, in Gilden und Hansebünden zusammengeschlossen, mehr und mehr in wachsenden Städten seßhaft geworden, vielfach als Patriziat Dirigenten ihrer Städte, trugen einen ständischen Charakter; nur die Märkte und Messen unterbrachen zeitweise die städtischen Bann- und Zunftprivilegien, stellten also Episoden der Handelsfreiheit dar. Seinem Wesen nach aber strebt der Handel nach vollkommener Freiheit und in der Neuzeit ist ihm mehr und mehr gelungen, die Jahrmärkte perennierend zu machen, so wie sich selber, den Handel seinem Prinzipe nach, zum Herren der Volkswirtschaft, sofern von den politischen Einwirkungen auf sie und auf den Handel abgesehen wird. Daß die neuen Formen des Handels auch neue Menschen und neue Plätze hervorbringen, versteht sich leicht. Grundlage ist die freie Konkurrenz und die Möglichkeit für jedes beliebige Individuum, das sich in den Besitz irgendeiner Ware zu bringen weiß, damit ein Geschäft zu machen. Noch während des Weltkrieges haben wir erlebt, daß der ansässige, berufsmäßige, sich selber legitim nennende Handel gegen die Verwechslung mit seinem „illegitimen" Bruder sich sträubte, der als Kettenhandel und Wucher von Gerichten und öffentlicher Meinung gebrandmarkt wurde: Die Kriegsgewinne und das Streben nach ihnen wurden ohnehin mit Argwohn und oft mit Empörung betrachtet. Es konnte aber nicht verkannt werden, daß diese „Auswüchse" unvermeidliche Ergebnisse des vom gesamten Handelsgewerbe immer geforderten vollkommenen Freihandels waren und sind. Und daß auch dem Publikum — den Konsumenten — die freie Konkurrenz erwünscht sein muß. Durch sonderlich starke Fesseln war bis in die Neuzeit diejenige Gestalt des Handels gehemmt, die mehr und mehr sein dirigierendes Organ geworden ist, der Geldhandel. Ihm stand einst das kanonische Wucherverbot entgegen, das zwar in der Höhezeit des Mittelalters vielfach auf-

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Geldhandel — Ordnung der Arbeitsteilung

geweicht, oft umgangen wurde, aber doch eine große Kraft der Einschränkung behielt und auch, wo es seine Wirksamkeit verlor, durch gesetzliche Einschränkungen des Zinsfußes teilweise ersetzt wurde. Die Handelsfreiheit auch in diesem Gebiete entwickelte sich in den protestantischen Ländern leichter und rascher als in denen, die der alten Kirche treu geblieben oder zu ihr zurückgekehrt waren. In den meisten Ländern, auch in katholischen, wirkte noch in besonderer Weise die Rezeption des römischen bürgerlichen Rechtes dem Zinsverbot entgegen. Ursprünge und Fortschritte des Bankwesens, die auch in jüngster Zeit durch zunehmende Entwicklung des Effektenhandels und der Börsenspekulation sich beobachten lassen, gehören zu den am meisten hervorstechenden Merkmalen der neuzeitlichen Volkswirtschaft. Die heutige große Bank ist ein durch die Beschäftigung großer Mengen männlicher und weiblicher Arbeitskräfte der Fabrik ähnliches Gebilde, worin aber nichts Materielles hergestellt wird, sondern nur eine „Dienstleistung" vollbracht wird für die Bedürfnisse der Händler aller Art, denen mehr und mehr jedes Individuum sich zugesellt, das in irgendwelchem hinlänglichen Umfange über Geld und Kredit, also über Vermögen Herr ist und verfügen kann, dessen Dienste also für die gegenwärtigen Volksinteressen, vollends für deren Vereinigung zur sogenannten Weltwirtschaft, längst unentbehrlich geworden sind.

§ 19. Der Triumph des ökonomischen

Individualismus

Die zugrundeliegende und wesentlich im Mittelalter beharrende Ordnung des beruflichen Zusammenlebens und Zusammenwirkens in einem Dorf, einer Stadt, einer Landschaft (die Dörfer und Städte umfaßt) ist die Ordnung der Arbeitsteilung. In ihr ergänzen sich die Tätigkeiten überwiegend geistiger und überwiegend körperlicher Wirksamkeiten und Künste; es ergänzen sich ebenso solche des Landes und solche der Stadt; es ergänzen sich auch innerhalb der Städte, zumal der größeren, die verschiedenen Handwerke und Künste. Der Handel steht seinem Wesen nach außerhalb des Gesetzes der Arbeitsteilung, insofern als er den Austausch von Gütern, der im System der Arbeitsteilung etwas Hinzukommendes ist (so zwar, daß im ideell-typischen Falle gleiche Werte miteinander sich austauschen), zum wesentlichen Objekt seiner Tätigkeit macht, indem seine Aufgabe darin besteht, einzutauschen um umzutauschen, zu kaufen um zu verkaufen. Nachdem ein allgemeines Tauschmit-

Handel — Der Händler als H e r r

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tel — das Geld — als solches üblich geworden ist, verkauft wohl auch der Produzent, um einzukaufen; dies aber bleibt seiner Natur nach ein Austausch von Äquivalenten, wenn auch in zwei Akten. Die Tätigkeit des Handels ist das Gegenteil, ihr Wesen ist: die Ware, d. i. eine freie Sache, die nicht zu eigenem Gebrauch erworben wird, als höheren Wert abzustoßen, nachdem sie als ein geringerer Wert erworben wurde. Freilich ist es auch denkbar und wird in der Mannigfaltigkeit des Geschäftes wirklich, daß ein Gut als Ware verkauft wird — eigenes Produkt oder fremdes oder nur ideell vorhandenes — in der Absicht, dieselbe oder eine gleichwertige, ja eine höherwertige derselben Art nachher um einen geringeren Preis zurückzuerwerben. Auch dann will der Händler, sofern er Händler ist, sie nicht haben, um sie zu ge- oder verbrauchen, sondern lediglich um sie wieder mit Gewinn abzusetzen. Es handelt sich da also nur um eine Modifikation des typischen Geschäftes: zu kaufen, um mit Vorteil zu verkaufen. Jeder Nichthändler in jedem Berufe ist durch sein Können in seinem Wollen gebunden, und was er hervorbringt, ist bestimmt, entweder ihm selber, seinem Hause oder anderer Gemeinschaft unmittelbar zu nützen, oder aber anderen, die ihm in entsprechender Weise durch das, was sie hervorbringen oder sonst leisten, zu nützen bereit sind. Das ist das System gegenseitiger Dienstleistungen, ein System, das immer, auch wenn jeder seines eigenen Nutzens bewußt ist, ein System des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens bleibt. Auch die Tätigkeit des Händlers nützt im typischen Falle den anderen; aber sie trägt kein Objekt zur gemeinsamen, in Arbeitsteilung hervorgebrachten, Gütermasse bei, wenngleich sie als vermittelnde Dienstleistung verstanden werden und als wesentlich, ja als notwendig erscheinen kann. In Wahrheit ist sie eine durchaus freie und also herrenhafte Tätigkeit, als solche mithin außerhalb des Systems der Arbeitsteilung, gleich der des Herrn, wenn er nicht mehr verstanden wird als zugleich Dienste leistend — als Krieger, als Richter und Verwalter und schlechthin als Helfer und Beschützer —, sondern eben als Herr sich versteht, der ausschließlich um seiner selbst willen „regiert": wenn auch dies nicht immer und in der Regel nicht gern eingestanden oder gar offen verkündet wird. Die Methoden des Kaufmannes unterscheiden ihn freilich durchaus von denen der anderen Herren: ein solcher Herr, zumal wenn er als solcher geboren und noch gar von unsichtbaren Mächten dazu bestimmt zu sein meint, bedient sich leicht als Tyrann aller Gewalt- und Zwangsmittel, die ihm zur Verfügung stehen, wenngleich er sozusagen in erster Instanz auch der Überredung, der Bestechung und anderer wohlwollender Mittel nicht

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Zwangshandel — Handel als Handwerk

entraten mag. Der Kaufmann beschränkt sich am liebsten auf solche. J e mehr er seinen eigenen Vorteil und Gewinn zu verfolgen gesonnen ist, um so mehr wird er dem Kunden entgegenkommen, ihm gefällig zu sein, ihm wohlzutun gesonnen scheinen. Er bewährt sich als Herr nur dadurch, daß er zuletzt und am besten lacht, indem er reich wird und je reicher um so mächtiger, um so mehr nicht nur mit der Verfügungsgewalt über Güter, sondern auch über die Handlungen der Menschen ausgestattet. Es gibt freilich auch Zwangshandel — W. Sombart (Der moderne Kapitalismus) hat wohl dieser Erscheinung ihren Namen gegeben — er nennt so das Verfahren, vermöge dessen „einem Urteilsunfähigen oder Willenlosen durch Anwendung von List oder Gewalt auf dem Wege einer scheinbar freiwilligen Tauschhandlung möglichst unentgeltlich Wertobjekte abgenommen werden". Zwangshandel sei fast aller Warentausch zwischen den europäischen Völkern und den Naturvölkern, wenigstens in seinen Anfängen und in der Art, wie er bei Begründung der europäischen Kolonialwirtschaft zur Anwendung gelangte; „aber auch aller Handel mit den indischen Kulturvölkern in den ersten Jahrhunderten ist Raub, Betrug und Diebstahl". Auch Eulenburg (Grundriß der Sozialökonomik, Bd. VIII) erklärt: der Satz, daß Krieg, Handel und Piraterie dreieinig, voneinander nicht zu trennen seien, enthalte eine große Wahrheit. Indessen das Wesen des Handels darf nicht nach dieser Verbindung beurteilt werden. Ihrer Tendenz nach ist seine Herrschaft friedlich. Sie darf auch nicht nach der Gestalt beurteilt werden, die der kleine Handel in einfachen wirtschaftlichen Zuständen, und so überwiegend im Mittelalter angenommen hat. Sombart überschreibt ein besonderes Kapitel (I, 18) „Der Handel als Handwerk", und es versteht sich leicht, was er damit meint. Wir kennen diesen kleinen Handel hinlänglich, besonders, wie schon bemerkt wurde, aus geringen Städten und Flecken, wo er seßhaft und ruhig im Laden seine Ware anbietet, und begrenzt

8 W. Sombart: Es folgt die Definition von Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart, 1. Band, Leipzig [ 1 ) 1902 [ 2 1916] (45. Kap., Der Zwangshandel, beide Zitate im ersten Absatz, S. 680). 18 Eulenburg: Franz Eulenburg, Außenhandel und Außenhandelspolitik (Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen), in: Grundriß der Sozialökonomik (VIII. Abt., Tübingen 1929), zitierte (S. 4) Mephistos Wort ungenauer als Tönnies: „Krieg, Handel und Piraterie, [|] Dreieinig sind sie, nicht zu trennen" (Johann Wolfgang Goethe, Faust II, Akt V, V. 11187, viele Ausgaben). 26 Der Handel als Handwerk, in Sombart a. a. O., Kap. 18 (1916: 2 7 9 - 3 1 8 ) .

Welthandel

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durch die Kauffähigkeit seiner Kunden, oft auch durch die Konkurrenz, zufrieden ist und sein muß, wenn sein Geschäft ihm eine gute bürgerliche Existenz sichert, wenn möglich auch die Bildung eines Vermögens gestattet, von dessen Ertrag er noch im Alter gemächlich, obschon untätig, 5 leben kann. Aber dies ist nicht der Handel, dessen ungeheure umwälzende Wirkungen die historische Erfahrung kennen lehrt. Seinem Wesen nach ist der Handel groß und frei und als solcher hat er in den Jahrhunderten der Neuzeit je mehr desto größer und freier sich entfaltet, ungeachtet aller Schwankungen und Hemmungen, die man in geblendeter 10 Furcht vor seinen Wirkungen wider ihn aufgerichtet hat. Immer wieder vermochte er dieser zu spotten, teils als Welthandel, viel mehr aber noch in seiner verwandelten Gestalt als Kapitalismus: kapitalistischer Handel enthält in sich außer dem Bankwesen die kapitalistische Produktion nebst dem kapitalistischen Verkehr und kapitalistisch organisierten 15 Dienstleistungen anderer Art. Der Triumph beider oder dieser drei ist es, den jede Generation seit dem Mittelalter mit immer größerem Staunen erlebt hat. Dieser Triumph ist auch der Triumph des Individualismus.

Zweites Kapitel

Freiwerden des Individualismus aus den großen gemeinschaftlichen Gebundenheiten § 20. Soziale

Samtschaften

Wir erwägen zunächst die andersartigen Entwicklungen des vereinzelten Menschen aus den sozialen Samtschaften. Die Samtschaften bedeuten alle großen Zusammenhänge der Menschen, die, ohne als organisierte Gesamtheiten — Körperschaften — durch Gebote und Verbote, also durch Satzungen und Gesetze, die Freiheit des Individuums einzuschränken, diese auf andere Weise, die man als eine ideelle von der materiellen Weise unterscheiden möge, umgeben und bedingen: solche sind 1. die Sippe, der Stamm, das Volk, 2. die religiösen Gesamtheiten im Unterschied von einer organisierten Gemeinde, Kirche oder Sekte, die in den Samtschaften eingeschlossen sind, 3. die Standes- und Berufsgemeinschaft. Diese Samtschaften haben insgemein einen ökonomischen oder allgemein sozialen, einen politischen und einen geistig-moralischen Charakter; mehr oder weniger ist der eine oder andere Charakter bei den verschiedenen Arten ausgeprägt. — Um frei zu sein, muß der individuelle Mensch aus jeder Samtschaft sich befreien, sofern er nicht schon durch seine tatsächliche Lage frei von ihnen ist. Und hier begegnet uns eine große Mannigfaltigkeit der wirklichen Erscheinungen. Wer in eine solche Samtschaft hineingeboren ist, wird stärker durch sie bedingt sein, als wer sie erkoren, das heißt sich in sie hineingefunden hat; und wer durch eine solche Samtschaft in besonders hohem Grade sich gebunden weiß, wird oft eben dadurch anderen um so freier gegenüberstehen. Sippe, Stamm, Volk sind mit dem Wesen der Heimat, des Vaterlandes eng verknüpft. Wer in der Lage ist, abzuwandern, auszuwandern, kann sich dieser Bedingtheit und dem etwaigen Druck auf seine Persönlichkeit, die sie in sich schließt, entziehen, entfremden; er wird einem anderen Volk von vornherein fremder, also weniger bedingt gegenüberstehen. Es verändert das Wesen dieses Ausweichens nicht, wenn es, wie oft geschieht, durch äußeren Druck — religiösen oder politischen — bewirkt

Form und Ausdruck der Freiheit von Samtschaften — Fremde Sprache

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wird. Ganze Stände können, wenn auch innerhalb des Volkes wirkend, zugleich außerhalb und etwa auch über ihm stehen. So eine Geistlichkeit als internationale Genossenschaft, die wenigstens amtlich ihre eigene Sprache spricht, also außerhalb der volkheitlichen Sprachgenossenschaft sich setzt. Dies war schon mittelalterlich von großer und internationaler Bedeutung als eine der großen Wirkungen, die das Überleben des römischen Geistes, der römischen Sprache und Religion auf dem neuen Terrain der germanischen und vollends der romanischen Völker und Gemeinwesen gehabt hat. Anders geartet ist die Wirkung, die in der Neuzeit der Gebrauch einer fremden, etwa nachbarlichen oder gerade in die Mode gekommenen für vornehm geltenden Sprache gewonnen hat. Als solcher ist besonders der Gebrauch der französischen Sprache von großer Bedeutung gewesen, den in Deutschland der Adel ergreift und mit ihm Teile des höher gestellten — städtischen — Bürgertums sich aneignen: dieselbe Sprache hat noch bis in die jüngste Zeit in Rußland, in den Balkanstaaten und im nahen Orient gewirkt, während die englische Sprache, als die des Welthandels, nicht nur durch das britische Weltreich und durch die amerikanische Union eine fast universale Bedeutung im Geschäftsleben erlangt hat, sondern durch deren Vermittlung, und durch sich selber, auch auf die entlegensten Gegenden des fernen Orients sich ausdehnt. Zur Freiheit des individuellen, des herrenhaften, bewußt handelnden Menschen, daher eben des Kaufherrn, des großen Geschäftsmannes und Oberhaupts, dient schon der gewandtere, sichere rednerische Gebrauch der Sprache überhaupt, sogar der eigenen, aber um so mehr einer fremden, womit er denen begegnen kann, die eben dieser Sprache als ihrer eigenen sich bedienen. Im gleichen Sinne erhebt sich die gebildete als die vorwaltende über die Volkssprache, die allgemeine nationale, geschriebene und gedruckte, über die provinzialen lokalen Sprachen, die Dialekte und Mundarten; daher auch der Gebrauch von Fremdwörtern und von wissenschaftlich-technischen Kunstausdrücken, die auf Nichtkenner ganz wie eine fremde Sprache wirken, die darin sich kundgebende Überlegenheit über die unkundige, ungelehrte Menge, das „Volk". Die Bedeutung dieser Individualisierung innerhalb der sozialen Samtschaften, die unter Ablösung von ihnen aus ihnen herausführt, der Position der Individuen neben ihnen als fremder und freier, betrachten wir hier nur für das allgemeine soziale, also auch das ökonomische Leben; darin ist sie ein wesentliches Moment für die Entwicklung des großen und freien Handels und Handelns, also des Kapitalismus in seiner Weltbedeutung. Leicht gestaltet sich aber auch die Ausdehnung auf das

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Der freie Bauernbetrieb — Flurverfassung

politische und das geistige Leben: jenes wie dieses bilden ihre eigene Sprache aus, wenigstens durch den Gebrauch einer international verbundenen Sprache.

§ 21. Soziale Verbände



Bauernbefreiung

Noch bedeutsamer für diese Entwicklung ist das Verhalten des Individualismus zu den sozialen „Verbänden", in denen er als ihr „Mitglied" gebunden ist. Solche Verbände sind zunächst die Dorfgemeinde und die Stadtgemeinde. Uralt ist das Bestreben des Hufners, innerhalb des Gemeindelebens größere wirtschaftliche Freiheit zu erwerben. Ein solcher Hufner ist auch der Grundherr, solange sein Besitz auf mehrere Dorfgemeinden als Streubesitz sich verteilt: die mittelalterliche Art des großen Grundeigentums. Sein natürliches Bestreben geht dahin, solchen Besitz in einen einheitlichen und freieren wirtschaftlichen Betrieb zu sammeln, ihn um seine Wohnstätte herum zu arrondieren: schon die einheitliche Leitung macht das in hohem Grade erwünscht. Auch andere bäuerliche Landwirte haben frühzeitig eine ähnliche Tendenz gezeitigt, die aber eher nach außen hin durch Anlage neuer Dörfer sich betätigte; und diese wurden in der Regel nach einem mehr den Interessen des unternehmenden Einzelnen entgegenkommenden Plane angelegt. Lamprecht (Deutsche Geschichte, Bd. III, S. 351) berichtet: schon seit dem 8. und 9. Jahrhundert, in der Zeit des ersten großen Ausbaus neuer Dörfer in den noch ungelichteten Urwäldern der Heimat, habe der deutsche Bauer angefangen, die Veraltung der bisherigen Flurverfassung zu ahnen und bei Anlage neuer Dörfer mit dem Versuche, sie zu verbessern, begonnen. Die Gewanne der Kolonialdörfer, schon der Karolingerzeit, seien meist groß und einheitlich angelegt, so daß zuweilen der Hufner in jedem Gewanne Stücke von 4 bis 10 Morgen besaß. Viel später freilich seien jene Dörfer entstanden, die man wohl Fadendörfer nenne: in gleich gemessener Entfernung ihrer einzelnen Gehöfte ziehen sie sich einstraßig stundenweit die Täler Mitteldeutschlands und die einst bruchigen Ebenen Belgiens, Hollands und der niedersächsischen Landesteile entlang, in sauberem Anbau getrennter Wirtschaften, so daß damit das Ideal individualistisch agrarischer Tätigkeit erreicht worden sei; und zwar sei auf rechtlichem Gebiete ein analoger Vorgang gefolgt, nämlich eine größere Selbständig19 Lamprecht:

Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, 3. Band, Berlin 1893: 351.

Kolonisation und Hörigkeit

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keit des Bauern, die dem Verhältnis eines Pächters zum Grundherrn näherkam. Neuerungen dieser Art sind auch in anderen Ländern als in Deutschland möglich gewesen. Dagegen ist der große kolonisatorische Zug nach dem Osten eher der freieren Herrschaft des Grundherrn zugute gekommen; denn diese Kolonisation war von vornherein eine Unternehmung, die Kraft und Vermögen voraussetzte und Energie in Anspruch nahm: oft war hier, wie Knapp (Die Bauernbefreiung, S. 29) sich ausdrückt, der Grundherr vor den bäuerlichen Ansiedlern vorhanden und rief diese erst auf sein Herrschaftsgebiet herbei: welchen Vorgang, von den Fürsten aus gesehen, Karl Ludwig von Haller überhaupt für den normalen zur Begründung, eines Gemeinwesens und einer Herrschaft erachtet hat. (Vgl. Restauration der Staatswissenschaften, Bd. I u. II passim.) Während sonst die Hörigkeit zumeist ihren Grund in der Last des Kriegsdienstes hatte, der sich der gemeine Mann entzog, drängte sich hier vielmehr der Herr dem Bauern auf; dazu kam vielfach, daß es sich um unterjochte Ureinwohner, also für die deutschen Ritter um eingeborene Sklaven sich handelte. Zunächst waren hier die Hufner persönlich freie Leute, besaßen ihre Güter erblich und unwiderruflich, durften sie frei und ohne Verpflichtung zur Beschaffung eines Nachfolgers verlassen (Knapp nach L. Korn, Zeitschr. für Rechtsgeschichte, Bd. 11). Sie waren freilich belastet durch Lieferungen an den Grundherrn, auch an den Landesherren, der zum großen Teil auch mit dem Grundherrn identisch war, endlich an die Kirche; außerdem hatten sie Fuhren, Vorspann, Burgdienst, Wagendienst zu leisten. Die Rechte, die demgegenüber der Landesherr hatte, trat er gern ab, und zwar am ehesten an den Grundherrn. So wurde dieser auch Gerichtsherr, Kirchenpatron, also Obrigkeit. Öfter aber war der Grundherr schon da und hatte die Gunst des Landesherrn,

7 Knapp:

Genau so Georg Friedrich Knapp, Die Bauern-Befreiung und der Ursprung der

Landarbeiter in den älteren Theilen Preußens, Erster Theil: Ueberblick der Entwicklung, Leipzig 1887: 29. 12 Restauration

der

Staatswissenschaften:

Carl Ludwig von Haller, Restauration der

Staats-Wissenschaft oder Theorie des natürlich-geselligen Zustands, 6 Bde.; hier: Band 1 (Darstellung, Geschichte und Kritik der bisherigen falschen Systeme. Allgemeine Grundsätze der entgegengesetzten Ordnung Gottes und der Natur) + 2 (Makrobiotik der Patrimonialstaaten (Von den Fürstentümern oder Monarchien) [.] 1. Hauptstück: Von den unabhängigen Grundherren oder den Patrimonialfürsten),

[beide:] Winterthur

21820.

20 Knapp

nach

L. Korn:

L. Korn, Geschichte der Bäuerlichen Rechtsverhältnisse in der

Mark Brandenburg von der Zeit der deutschen Colonisation bis zur Regierung des Königs Friedrich I. (1700), Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Bd. 11, 1873, insbes. S. 7.

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Bauernlegen — Neue Leibeigenschaft

mit dessen Bewilligung er sich dann bemühte, Ansiedler kommen zu lassen durch Vermittlung eines Unternehmers, des Schulzen, der bei der Landzuteilung begünstigt wurde und von grundherrlichen Abgaben frei war. Es wird von Knapp angenommen, daß wie im Westen, so auch unter den Kolonisten es noch eigentliche Leibeigene des alten Typus gegeben hat. Die Änderung dieser Verfassung, unter der die Grundherrschaft mit einigen Ausnahmen (bei denen es sich wohl oft um Beherrschung slawischer Einwohner handelte) noch Herrschaft über persönlich freie Menschen und nicht ein freies Eigentum am Lande weder des Herrn noch des Untertanen bedeutete, hat etwa in der Zeit der kirchlichen Reformation stattgefunden. Die Änderung der Kriegsverfassung, sagt Knapp, habe hier die tiefgreifende Umgestaltung bewirkt. Der Ritter wurde Landwirt und aus einem bloßen Grundherrn ein Gutsherr. Seinen schon etwa vorhandenen kleinen Betrieb, für den er immerhin die Hilfe der Bauern in Anspruch nehmen konnte, meinte er nun ausdehnen zu müssen, er brauchte mehr Land, neues Land, Bauernland. Der Landesherr, beflissen wie er war, die öffentlich-rechtlichen Befugnisse des Ritters einzuschränken, erweiterte dafür gern seine privatrechtliche Sphäre, d. i. seine Macht, wüst gewordene Bauernstellen einzuziehen, aber auch, seine eigenen Untertanen auszukaufen oder einfach zu „legen", soweit ihm dies gut schien zur Errichtung oder Vergrößerung seines adligen Hofes, des „Rittergutes". Dann aber wurden auch mehr Hofdienste erforderlich, und eine verkleinerte Zahl von Bauern mußte diese leisten. Zwar wurde noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts von den Gerichten angenommen, daß der Bauer nur gemessene — „gesetzte" — Dienste zu leisten habe. Aber der Landesherr bewilligte die Steigerung der Kriegslasten, billigte wohl auch ungemessene Dienste. So entstand die „neue Leibeigenschaft", die im preußischen Landrecht Erbuntertänigkeit heißt. Es entwickelt sich bald der Zwangsgesindedienst und sodann die Bindung an die Scholle. Diese Knechtung der Bauern gelang hier im Osten, weil die Bevölkerung dünn war und die Bildung großer Rittergüter geringen Hemmungen begegnete. In anderer Form war in Deutschland — was schon früher in England und Frankreich sich ereignet hatte — der Druck des Grundherrn, obgleich er bloßer Grundherr, Gerichtsherr, teilweise auch Leibherr blieb, unerträglich geworden und führte zu Bauernkriegen, deren gewaltsame Unterdrückung dann doch den bäuerlichen Zustand dauern ließ, der freilich belastet blieb und wie schon vor den Bauernkriegen, so auch nachher in gelegentlichem Aufruhr sich Luft machte. Das Ergebnis war in Deutschland wie — obschon in verschiede-

Bauernbefreiung — Befreiung des Städters

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nen Formen — in allen europäischen Ländern, die Bauernbefreiung, stark vorwärts getrieben durch die französische Revolution, während erst die sonst gescheiterte Revolution von 1848 in Deutschland wie in anderen Ländern sie zur Vollendung brachte. In jedem Lande hatte sie einen anderen Aspekt und andere Wirkungen. In Groß-Britannien war sie schon nicht mehr nötig, weil das mittelalterliche Verhältnis seinem wesentlichen Inhalte nach beharrte, aber z. T. schon die gesellschaftliche Rechtsform eines reinen kündbaren Pachtverhältnisses angenommen hatte, zum anderen Teil „erstarrt" war als eine durch Renten beschränkte Freiheit. Im allgemeinen bedeutete die Befreiung Ablösung der Reallasten, also hauptsächlich der Hand- und Spanndienste, vielfach gegen Abtretung von Land und allgemein in Verbindung mit Umgestaltung der überlieferten Gemeindeverfassung durch Zusammenlegung der Grundstücke und meistens mit Aufteilung der Allmende („Gemeinheitsteilung"). Unsere Erörterung wird darauf zurückkommen. Hier kommt nur das Ergebnis in Betracht, daß der heutige Bauer seiner sozial-wirtschaftlichen Stellung nach dem Latifundienbesitzer gleich ist und wie dieser mit seinem Grund und Boden nach Gutdünken verfahren kann, soweit er nicht bloßer Zeitpächter ist, während die Erbpacht immer noch einen Rest von gebundenem Eigentum darstellt und in diesem Sinne auch erneuert worden ist.

§ 22. Der freie Bürger Die Entwicklung des Bürgers in und aus der Stadtgemeinde ist im ganzen leichter vor sich gegangen, nachdem schon im Mittelalter die Kommunen frei geworden waren von dem Stadtherrn, ob dieser, wie in den früheren Jahrhunderten in der Regel, ein Bischof oder ein weltlicher Großer gewesen war. Früh hatte auch in den meisten Städten, zumal in Deutschland und Oberitalien, eine Befreiung der Gemeinen von den Geschlechtern stattgefunden, nachdem diese als Vollbürgergemeinden etwas wie eine Grundherrschaft erworben hatten. Wo diese Vereinheitlichung des Bürgerstandes gelungen war, bedeutete sie zugleich den Sieg der Zünfte. Es entwickelte sich das städtische Gemeinwesen als eine Gestalt von politischem Charakter, mithin als Vorläufer des Staates, dem die bedeutendsten Städte auch als Mächte, teils durch sich selber, teils durch ihre Bünde sich anähnlichten. Eben dadurch gaben sie dem Bürger ein relativ freies Feld für seine Betätigung, besonders den Kaufleuten, die z. T. aus alten Schutzgilden der Vollbürger sich entwickelten. Auf der Vereinigung

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Patriziertum — Zünfte — Freimeister

von Grundbesitz und wenigstens gelegentlichem Großhandel ruhte das Patriziertum, und es entwickelten sich die Handelsgilden, die in den jüngeren Städten von vornherein politische Macht hatten, in einer Weise, die sie früh auf die Zwecke einer freien Assoziation reduziert erscheinen läßt, wie sie denn besonders als solche sich darstellen, wo immer sie im Auslande sich konstituieren. — Dagegen sind die Zünfte echte Gemeinschafts-Verbände, wie ihre familiäre, bürgerlich militärische, moralische und religiöse Verfassung bekundete. In der Neuzeit haben die Handwerkerzünfte noch etwa 300 Jahre lang und länger sich erhalten. Der Entwicklung des individuellen Interesses innerhalb ihrer, durch die Erstarrung des Meistertums, im ökonomischen Interesse aber auch des Gesellentums, wurde schon gedacht. Eine notwendige Gegenbewegung war das Streben der Gesellen aus dem Zunftzwange heraus, und das Streben der Freimeister nach Gleichberechtigung, freiem Wettbewerb. Wenn jene, die Gesellen, denen die Meisterschaft versagt blieb oder zu sehr erschwert wurde, das Ringen des individuellen Wollens und Könnens aus der Gemeinschaft heraus bezeichnet, so sind die Freimeister charakteristisch als Anfänge ebensolchen Strebens neben den noch fortbestehenden gemeinschaftlichen Organisationen, und somit für die Entwicklung der kapitalistischen Produktion, insofern als diese, obzwar ihrem Wesen nach ein Handelsgeschäft, zum guten Teil aus dem Handwerk sich entwickelt hat. Wichtiger in dieser Hinsicht als die Entwicklung der individuellen und freien Persönlichkeit ist die des individuellen und freien Eigentums. (Vgl. §§ 25 ff.)

§ 23. Das Band der

Religion

Angeboren, in gleichem aber etwas abweichendem Sinne wie die Muttersprache, ist in der Regel für den Menschen auch die Religion; d. i. eine mannigfach wie die Sprache differenzierte Masse von Vorstellungen einer anderen als der realen Welt, und von unsichtbaren nach Art von Menschen gedachten Wesen, die in dieser unrealen Welt herrschend walten und durch sie auf die reale Welt, insbesondere auf die menschlichen Zustände, wirken; folglicher Ideen und Pflichten, diesen (oder diesem) Wesen durch gewisse — ihnen der Meinung nach angenehme, daher oft von ihnen verlangte, ja befohlene — Leistungen zu dienen. Die Religion als sozialer Wille besteht darin, daß eine gemeinschaftliche Samtschaft oder ein gemeinschaftlicher Verband, der in Samtschaft beruht, diesen

Religion und Kultus — Frömmigkeit und weiblicher Geist

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„Kultus" pflegt und ihren Mitgliedern zur Pflicht macht. Die Religion ist von jeher und überall, wo sie eine ausgebildete Gestalt fand, vorzugsweise von Frauen gepflegt und ausgebildet worden. Wo aber und sofern auch in der Religion Männer tätigen Anteil nehmen, zumal als Priester, da fällt ihnen die Denkgestaltung, oft auch die Neuerung in Mythen und Dogmen anheim, während die Frömmigkeit der Frauen zunächst mehr gefühlsmäßig, als dumpfe Furcht vor Dämonen und Geistern — die „Deisidämonie" der Griechen — auch in der Phantasie obwaltet und ins Gestaltenlose, Unermeßliche gern hinausschweift, bald in die erhabene Höhe, bald in Abgrundtiefe, dadurch selber den Charakter und wenigstens Schein bald der Erhabenheit bald der Tiefe gewinnend, so daß, wie Tacitus von den Germanen sagte, man ihnen, den Frauen, sogar etwas Heiliges und Seherisches zuschrieb, so daß sie selber Gegenstand einer Verehrung wurden, die auch sonst in den Sitten vielfach nachklingt. Bei den Griechen — diesem mehr als andere weiblich bedeutenden Volke — kommt der weibliche Principat — nach Bachofens geistvoller Darstellung — in den Ideen von der größeren Ehre der linken vor der rechten Seite, der Nacht vor dem Tage, des Mondes vor der Sonne zum Ausdruck; ja auch der Toten vor den Lebenden, der Trauer vor der Freude. So ist alles, was in der Religion Ernstes, Dunkles, an Sterben Gemahnendes, also auch Geheimnisvolles, Mystisches und Unverständliches begegnet, sonderlich dem weiblichen Geiste zuzuschreiben, folglich diesem sympathisch. Und dieses erhält sich. Die ausgebildeten Formen des Kultus und des Glaubens selber bleiben im treuen Gemüt und Gewissen der Frau und also in der Sitte und der Überzeugung von ihrer wesentlichen Notwendigkeit. Dem weiblichen Geist liegt es, seiner echten Natur gemäß, ferne, die Richtigkeit, vollends die Zweckmäßigkeit der überlieferten Formen des Gottesdienstes und der Glaubensvorstellungen in Frage zu stellen und gar nach anderen sich umzusehen, die als richtigere auch „bessere" wären. Für die religiöse Gemeinde und Kirche gibt es da keine Wahl, sowenig wie für den Bürger und Untertanen die Wahl, ob er billige oder nicht billige, was vom Gesetz als Verbrechen abgestempelt wurde, sowenig wie für den, der zur guten Gesellschaft gehören will, die Wahl ob er, was für unschicklich gilt, selber für sich schicklich halte. Nach der Wahl wurde benannt die „Häresie", die in der Kirchengeschichte eine große und verhängnisvolle Rolle spielt. Eher als Frauen werden

16 nach

Bachofens

Stuttgart 1861.

geistvoller

Darstellung:

Johann Jacob Bachofen: Das Mutterrecht.

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Männlicher Geist und Häresie — Bekehrung — Kirchenaustritt

Männer die Freiheit der Wahl sich nehmen, werden gegen den Glaubenszwang sich wehren, werden neue Meinungen und abweichende Lehren geltend machen und begründen wollen, um sie im stillen zu hegen oder öffentlich zu verkünden. Die Häresie kann so weit gehen, daß sie auch die Fundamente der Religion, oder doch der besonderen und sonst gebotenen Konfession angreift und leugnet, sie kann aber auch sich daran genügen lassen, eine andere Konfession oder sogar eine andere Religion sich zu erwählen — in jenem Fall mag die Persönlichkeit vorziehen, allein zu bleiben, oder einen Verein von Gleichgesinnten, Glaubens- oder Unglaubensgenossen zu begründen. Ein solcher Abfall, das Heraustreten aus dem Überlieferten, Gewohnten, Angeborenen, Anerzogenen, kann wie jeder Entschluß und jedes Tun aus verschiedenen Beweggründen geschehen. Mehr oder minder macht der „Wesenwille" die Überzeugung und das Gewissen für sich geltend, mehr oder minder mag dem „Kürwillen" das wohlverstandene Interesse, und zwar dieses als der Sache fremdes Interesse, als die Erkenntnis ihrer Nützlichkeit zugrunde liegen; diese andere Art ist es, die den hier behandelten Individualismus schärfer bezeichnet. Unzweifelhaft kommen auch solche Konvertiten des öfteren vor. In dem Maße wie die Gläubigkeit einer Mehrheit eine Macht bedeutet und einen Druck ausübt, ist die Zugehörigkeit zur Minderheit beschwerlich und hemmt den Lebensgang. Kein Wunder, daß dessenungeachtet „Bekehrungen" vorkommen. Aber man verabscheut es, um eines äußeren Vorteils willen scheinbar die innere Gesinnung zu wechseln; und von denen, die man als zu sich gehörend zu denken gewohnt war, verachtet zu werden, kann nicht erwünscht sein. So sind denn diese Bekehrungen, obschon vermutlich einige aus lauteren Motiven erfolgen, selten. Sie kommen auch in sehr hohen Kreisen vor, die sonst von ihrer besonderen und angeborenen Gottheit sich besonders begnadet glauben, wenn etwa die Verwünschung des bisherigen Glaubens die Bedingung ist, um einen Thron zu besteigen: vielleicht kommt auch bei einer jungen Frau eine Neigung für den König oder anderen Fürsten hinzu, dem sie angetraut wird. — In viel höherem Maße für den Individualismus bezeichnend ist der einfache Austritt aus der angeborenen Kirche ohne Konversion, der zumeist nur abschließt, was zuvor bestand: die Gleichgültigkeit, vielleicht sogar mit entschiedener Abneigung verbunden. Objektiv betrachtet, ist es immer, zumal wenn in größerer Menge vollzogen, eine bedeutsame Tatsache, auch dadurch, daß sie, wenigstens in deutschen Landen, im nahen Zusammenhange mit der Arbeiterbewegung und dem Wachstum eines sozialistisch-demokratischen Denkens steht.

Austritt aus Stand u n d Klasse — bei Geistlichkeit u n d Adel

§ 24. Politische

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Häresie

Für den Austritt aus dem Stande oder der Klasse, wozu der Mensch, besonders der Mann in der Regel auch durch seine Geburt oder wenigstens durch seine Erziehung gehört, woran er zuweilen auch durch sein Amt und den gesellschaftlichen Rang, der ihm angeboren ist oder den er erworben hat, gebunden ist, gilt eben darum auch so etwas wie eine Häresie. O b er etwa die Zeichen davon oder ob er die Zeichen des Ranges — z. B. ein „von" oder sogar höheren Titel vor seinem Namen ablegt, ist in der Regel unerheblich. Bedeutend ist hingegen eine Betätigung, zumal politische Betätigung im Sinne einer anderen Klasse, eines anderen, zumal eines für geringer geltenden Standes, also möglicherweise in einem Sinne, der dem eigenen gewöhnlich gegnerisch, ja feindlich gegenübersteht. Nicht selten ist solche Wandlung bei Männern geistlichen Standes; und weniger gewagt, insofern als ihre Würde nicht leicht verloren geht. Wenn es ein familienloser Stand ist wie in der römischen Kirche, so ist der vereinzelte Mann um so freier außerhalb der Hemmungen durch die Kirche selber, die ihm entgegengestellt werden. So traten zwei Kardinäle nacheinander, von denen der eine sogar ein Ausländer war, in den Dienst französischer Könige: Richelieu wird der klassische Vertreter des königlichen Absolutismus und der ausschließend politischen Handlungsweise, sogar in Unterstützung der Protestanten im Nachbarlande und des Königreichs Schweden gegen das der alten Kirche getreue Heilige Reich und den Kaiser. Sein Nachfolger, der Italiener, trat in Richelieus Fußtapfen und bekämpfte für die Krone des nachherigen „Großen Königs" in der Fronde den Landesadel, sogar die königlichen Prinzen. — Eine ähnliche Individualisierung begegnet im Adel, den auch sein Stolz individualisiert und zu häufigem Zwiespalt führt, nicht selten. Im Abwehrkampf gegen das neue Bürgertum — die Bourgeoisie — haben frühzeitig Ritter und Junker Partei für die Bourgeoisie ergriffen. Besonders auffallend war dies in der französischen Revolution, und freilich auch dadurch bedingt, daß diese in ihren Anfängen auch ein Kampf des Adels gegen das Königtum — gewissermaßen eine Wiederaufnahme der Fronde bedeutet hat. Das Heraustreten des geborenen „vom Adel" ist wahrscheinlich nicht so schwer, wie das der Angehörigen der besitzenden Klasse als Führer der besitzlosen gegen jene sich zu wenden, ja zu streiten. Dies ist aber im 19. Jahrhundert ein nicht seltenes Ereignis gewesen und hat in vielen Ländern der Arbeiterbewegung mächtig geholfen. Nichts bezeichnet mehr einen ethischen Individualismus, das ist den

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Ethischer Individualismus als Idealismus

Idealismus in bezug auf politische und geistige Probleme, als ein Handeln dieser Art, sofern es in solchem Sinne gedeutet werden darf, wie jezuweilen auch der Übergang zu einer anderen Religion (z. B. vom Judentum zum Christentum), wenn er aus der freien und tiefen Überzeugung von dessen größerer Wertigkeit erfolgt — (nicht minder innerhalb 5 des Christentums von einer Konsession zu einer anderen oder zu einem Sektenglauben), der aus einer ernsteren und tieferen Ansicht vom Inhalt und Sinn dieser Religion zu entspringen scheint. Solche Möglichkeiten zu leugnen ist der Zuschauer so lange nicht berechtigt, als nicht etwa gute, also überzeugende Zeugnisse von anderen minder edlen Beweg- 10 gründen offenbar geworden sind.

Drittes Kapitel

Die Entwicklung des Eigentums und des Individualismus

§ 25. Das

Kapital

Für die ökonomische, fundamentale Seite der neuzeitlichen Entwicklung ist das Eigentum das entscheidende Moment. Man kann es als eine unmittelbare Folge der „Geldwirtschaft" verstehen, insofern, als der Besitz von Geld jeden zu einem freien Eigentümer macht, und zwar zu einem kleinen oder großen im Verhältnis zu der Menge des Geldes, worüber er verfügt. Indessen ist eine geringe Menge von Geld noch heute, und von jeher, ja für die wenigen Reichen auch eine bedeutende, nichts als eine Möglichkeit des Erwerbes eines begrenzten Haufens von Gütern und Dienstleistungen zum eigenen Gebrauch, Verbrauch und Genuß. Eine ganz andere Bedeutung erlangt das auch heute viel seltenere Geldvermögen, wenn es Mittel zu seiner eigenen Vermehrung wird — als Kapital —, was es immerhin schon in den einfachsten Verhältnissen sein und werden kann. Die Entwicklung der Freiheit des Kapitals zu beliebiger Betätigung im Darlehn, im Handel und in der Produktion von Gütern und Dienstleistungen ist der eigentliche Gegenstand der neuzeitlichen Wirtschaftsgeschichte. Diese Entwicklung ist ein verhältnismäßig einfacher Prozeß, verglichen mit der Entwicklung des individuellen Eigentums am Boden. Denn ebenso natürlich, wie es dem Denkenden erscheint, daß ein Mensch, wenigstens ein Erwachsener und seiner Sinne Mächtiger, über den Gegenstand verfügen kann und darf, den er an seinem Leibe trägt und in der Tasche hat (möge es im Rechtssinne sein Eigentum sein oder nicht) — ebenso unnatürlich ist es, daß einer über ein Stück Landes verfügt, das nur künstlich abgegrenzt werden kann und, auch als Gegenstand verstanden, jedenfalls ein unbeweglicher Gegenstand ist. Tatsächlich haben die Menschen in allen Phasen der Kultur und in allen Ländern immer in irgendeinem Sinne das von ihnen bewohnte und als zu ihnen gehörig empfundene Land — mochte es erobert oder schon als Vaterland ererbt sein — immer als ein gemeinsames Eigentum ihrer verbundenen Gesamt-

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Das Volk und sein Land — Eigentum als Rechtsbegriff

heit — des Volkes — empfunden und gedacht. Obgleich nun längst ein sehr großer Unterschied sich aufgetan hat zwischen diesem Empfinden und Denken einerseits, dem Begriff des Eigentums anderseits, so bleibt doch ein Rest von Merkmalen diesen Ideen gemeinsam: vor allem das Merkmal, daß das Volk als Ganzes sein Land als mit sich verbunden weiß und es ablehnt, dieses Land sich gewaltsam entreißen zu lassen, vielmehr es zu halten und zu behalten mit Ernst, ja mit Leidenschaft gesonnen ist. — „Das Land ist unser, unser soll es bleiben" (Th. Storm). Das wirkliche Eigentum unterscheidet sich unbedingt dadurch, daß es ein Begriff des Rechts und daß das Recht etwas durchaus Ideelles ist, das auch ideell vom ganzen Volke als das seine gewollt wird, so wenig es in vielen Stücken dem einzelnen nützt und vielmehr zum großen Teil gerade in bezug auf das Eigentum ihm zuwider sein mag. So ist denn die Ausbildung des — fast ausschließlich privaten und individuellen — Eigentumsrechts am Grund und Boden ein historischer Prozeß gewesen und geht zum Teil noch fort, der nur allmählich und gegen viele Widerstände sich vollzogen hat. Er findet seine Vollendung in der Aufhebung des Unterschiedes von Boden und Geld, ob das Geld nun als bloßes Tauschmittel oder als Kapital betrachtet wird. Dieser vollendete Zustand drückt sich darin aus, daß z. B. das deutsche Gesetzbuch (BGB.) den Satz ausspricht (§ 903): „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen." Dieser Satz in seiner Ausdehnung auf den Boden, wie er heute überwiegend (nicht z. B. im Sowjet-Rußland) in allen Ländern der europäischen Rechtszustände und Gedanken gilt, ist jedoch ein ganz junges und spätes Ergebnis der Entwicklung des Kapitalismus, die das ökonomisch entscheidende Merkmal der Neuzeit darstellt. Er ist eine Frucht der Verallgemeinerung des Handels, die alle Werte mobilisiert und also gleich macht, dem Bedürfnisse des Eigentümers entsprechend, auch mit dem Grund und Boden, den er besitzt, aus welchem Grunde auch immer er ihn erworben hat, nach Belieben zu verfahren, also ihn zu pflegen oder nicht zu pflegen, zu bebauen oder nicht zu bebauen, zu bebauen, wie es ihm für seinen Nutzen am richtigsten scheint, oder auch ihn wüst liegen zu lassen nach seinem Gutdünken, anderseits ihn zu veräußern, zu ver8 Das Land ist unser, Schlusszeile des achtstrophigen Gedichtes „Auf dem Deich. Ostern 1848" [1849 u. ö.] von Theodor Storm (dessen Korrekturleser der Primaner Ferdinand Tönnies gewesen war).

Eigentum am Boden — Sachen- und Familienrecht im Mittelalter

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pfänden, zu teilen, zu vererben und zu verschenken an wen und durch wen er immer mag. Ein so vollkommenes und unbedingtes Eigentum am Grund und Boden ist spezifisch gesellschaftlich. Seine Entwicklung zu beobachten und darzustellen, ist ein wichtiges Stück unserer Aufgabe; denn sie bedeutet den vollendeten Fortschritt des Individualismus, seinem soziologischen Sinne nach, aus gemeinschaftlichen Verhältnissen und Verbänden, ein notwendiges Zubehör zur Entwicklung des Individuums überhaupt in seiner Persönlichkeit und Freiheit.

§ 26. Das Recht des Eigentums Im Mittelalter begegnet uns, wie überall in einfacheren und vorkapitalistischen Kulturen, eine große Mannigfaltigkeit der Verhältnisse zwischen Personen und ihren Sachen und ganz besonders der Rechte von Einzelnen untereinander, von Einzelnen und ihren Verbänden. Es gab immer „das" Recht, und zwar wurde es, wie sonst in mehr elementaren Zuständen, mit einer besonderen Würde und Heiligkeit ausgestattet; seine Seele war die Gewohnheit und also die Überlieferung, die Veränderung war schwer und geschah entweder kaum merklich durch Ausdeutung dessen, was galt, oder aber unter einem Einfluß, der als ein übernatürlicher sich geltend machte und geglaubt wurde. Diese grundsätzliche Starrheit besaß vorzugsweise das Sachenrecht im Zusammenhang mit dem Familienrecht am Grund und Boden. Es beruhte wesentlich auf der Ursprünglichkeit und Beharrung des Gemeineigentums, das freilich keineswegs ein einfaches und klares Verhältnis war, weil es auf scharfe juridische Begriffe nicht abgestellt ist. Vielfach lag eine Idee zugrunde, als ob das ganze Volk, zu dem man sich rechnete, das ursprüngliche Gemeineigentum am Boden besitze und als ob von diesem zunächst alle übrigen Arten von Gemeineigentum und endlich auch das Privateigentum des Hufners und sogar der bescheidene Anteil der Kossäten oder, wie immer sie genannt wurden (auch Häuslinge oder Büdner) abgeleitet seien — als ob schließlich alle Haushaltungen eine Art von Eigentum oder doch von dinglichem Rechte an Acker oder Wiese oder Wald und Wasser hätten. Diese Idee wird etwas klarer durch die monarchischen Verfassungen. „Der König als Repräsentant des Volkes ist der ursprüngliche Eigentümer des ganzen Landes." Diese Vorstellung ist noch heute im englischen Recht gültig, wenn auch praktisch ohne alle Bedeutung geworden. Eine ähnliche Idee kommt in anderen Ländern vor, ohne daß andere Folge-

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Vorstellung von Gemeineigentum — Theologische Begründung

rungen daraus gewonnen würden, als daß auch ein markgenossenschaftliches, dörfliches oder städtisches, ebenso daß ein Gemeineigentum, wie das der Kirche, niemals schlechthin unabhängig gedacht werden kann; welcher Gedanke denn auch gern in die theologische Gedankenwelt versetzt wird und die Form erhält, die etwa der englische Jurist Blackstone (Commentaries II, 3) ihr gibt, wenn er in der Meinung, das Eigentum wissenschaftlich zu erklären, sich darauf beruft, daß die „Heilige Schrift" uns belehre, der Schöpfer habe im Anfange der Welt dem Menschen Herrschaft über die ganze Erde, über die Fische der See und über das Geflügel der Luft, wie auch über jedes lebende Ding, das auf der Erde sich bewege, gegeben. „Das ist die einzige wahre und feste Begründung der Herrschaft eines Menschen über äußere Dinge ... daher sind die Erde und alle Sachen auf ihr das allgemeine Eigentum der ganzen Menschheit mit Ausschließung anderer Wesen durch unmittelbare Gabe des Schöpfers." „Und während die Erde noch leer von Einwohnern blieb — so muß man nach Blackstone vernünftig deutend vermuten —, war alles gemein unter ihnen und ein jeder nahm aus dem öffentlichen Vorrat für seinen eigenen Gebrauch solche Sachen, wie seine unmittelbare Notdurft es erforderte." Er meint, diese allgemeinen Begriffe von Eigentum seien damals genügend gewesen, allen Zwecken des menschlichen Lebens zu entsprechen, und möchten vielleicht noch ihnen entsprochen haben, wenn es der Menschheit möglich gewesen wäre, in einem Zustand ursprünglicher Einfachheit zu verharren. Mit einem gewissen Behagen malt der alte Jurist dies aus, wenn er auch sich den Einwand macht, daß die Gemeinschaft der Güter auch in den frühesten Stadien niemals habe auf etwas anderes anwendbar sein können, als auf die Substanz der Sache, und nicht ausgedehnt werden konnte auf den Gebrauch, der immer eine Art von vorübergehendem Eigentum, wenn auch nicht länger als für die Dauer des Gebrauches, begründet habe. Dies wendet er besonders auch an auf die Nutzung und den Besitz des Grund und Bodens, eines Weinstocks oder anderen Baumes, die alle von Natur Gemeingut seien. Er versucht dann, die Appropriierung der Substanz aus der Vermehrung der Menschheit „an Zahl, an Listen und an Ehrgeiz" zu erklären, und diese

j der englische jurist Sir William Blackstone, Commentaries on the Laws of England in Four Books, Bd. 2, London 2 3 1854, S. 2 [Erstauflage S. 2f.]: „This is the only true and solid foundation of man's dominion over external things [...] The earth, therefore, and all things therein are the general property of all mankind, exclusive of other beings, from the immediate gift of the Creator."

prima occupatio — Gemeinsame Besetzung — alöd und feöd

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Entwicklung aus der alttestamentlichen Geschichte zu belegen. Entscheidend ist dabei für ihn das auch sonst in den Theorien über die Entstehung des Eigentums wiederkehrende Recht der ersten Besetzung (prima occupatio). In Wahrheit ist dies nicht nur in gelehrten Theorien, sondern im unmittelbaren Bewußtsein der Völker stets von Bedeutung gewesen; und das Recht der Eroberung eines Landes ist noch heute ein Rest davon: wenn nämlich auch eine zweite und folgende Okkupation zum Nachteil der ersten oder späteren als ein gültiger Rechtstitel im Völkerrecht anerkannt wird. Übersehen wird in solchen Anschauungen und Theorien, vermutlich weil es als selbstverständlich nicht zum Bewußtsein gelangte, das Verhältnis der Verwandtschaft als der tatsächliche Grund der gemeinsamen Besetzung oder Eroberung von Grund und Boden; wie auch die Verteilung, die wohl herrschaftlich von einem Vater oder patriarchalischen Häuptling, Fürsten, König aus geschehen mochte; eher aber, wenigstens in engeren Kreisen, genossenschaftlich durch das Loswerfen geschah, dessen Ergebnis man leicht und gern einem übernatürlichen Willen zuzuschreiben pflegte, und seiner Gunst oder Ungunst. Immer begegnet uns in allen diesen primitiven Vorstellungen, die auch im Mittelalter sich wesentlich erhalten, wenn sie auch vermannigfacht und immer mehr verwickelt werden, die Idee eines von oben nach unten geordneten Eigentums, also eines oder mehrerer einander über- und untergeordneten „Obereigentümer" und ebenso eines oder mehrerer „Untereigentümer". Dies ist insbesondere für die germanischen Rechte bezeichnend, die wohl ihren Grundelementen nach am reinsten im englischen Recht erhalten geblieben sind. Sie blieben auch im gesamten feudalen System erhalten, obgleich immer mehr das Gemeinschaftliche darin die Deutung zugunsten der Herrschaft erhielt, die in dem bekannten Satze des französischen Lehnrechts „nulle terre sans seigneur" ihre klassische Ausprägung erfuhr; während in Wirklichkeit immer das alöd neben dem feöd seine Geltung behielt und im Verfall des feudalen Bodenrechtes wieder zur einzigen Geltung gelangen mußte. Dies ist zunächst eine Wirkung der

3 prima occupatio — [lat.] svw. wie erste anerkannte Erlangung der tatsächlichen Gewalt, analog im dt. Recht des „Besitzes" (eines Grundstücks, einer beweglichen Sache oder eines Tiers), im Unterschied zum Erwerb des „Eigentums", was die rechtliche Befugnis hieße, damit nach Belieben zu verfahren; vgl. §§ 854, 903 BGB). Es ist stets davon auszugehen, dass Tönnies juristisch wohl beschlagen ist. 28 „nulle terre sans seigneur" — [frz.] „Kein Land ohne Herren", svw. „Grund und Boden sind niemals herrenlos". Allod („alöd") zeigt mittelalterliches Volleigentum an, Feodum („feöd") hingegen Untereigentum („Lehen" eines „Vasallen").

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Verfall des Lehnsrechts — Rezeption des Römischen Rechts

gesamten ökonomischen Entwicklung gewesen, die immer mehr das Bedürfnis der unbeschränkten Verfügung des jedesmaligen Besitzers über den besessenen Boden wie über eine andere Sache heischte; aber eben im Dienste dieser Entwicklung und ihrer Interessenten hat auch die Rechtsgelehrsamkeit — die Jurisprudenz — und haben als ihre Träger sowohl Richter als auch und ganz besonders die Advokaten (Rechtsanwälte) dazu mitgewirkt. In Deutschland und in anderen Ländern hat die Rezeption des Römischen Rechts dafür eine große Bedeutung gehabt, denn das Römische Recht war rational durchgearbeitet und hatte seinen wesentlichen Grundbegriff im freien oder quiritarischen Eigentumsrecht als dem echten Privateigentum, das als natürlich und darum auch als vernünftig anerkannt wurde, wie es auch heute noch unter gewissen Voraussetzungen dem schlichten und an der Wirklichkeit ausgerichteten Denken erscheint. Mit innerer Notwendigkeit und im inneren Zusammenhange mit der gesamten Geldwirtschaft, zumal der kapitalistischen Entwicklung, ist dieser Gedanke siegreich geworden, wenn auch nicht, ohne fortwährenden Hemmungen zu begegnen und auf Widerspruch zu stoßen. In der Tat ist ein Widerspruch in ihm selber, wie schon angedeutet, enthalten — ein Widerspruch, wie er freilich sogar im absoluten Eigentum am Gelde, als der Freiheit, es als Kapital anzuwenden, verborgen waltet. Dieser Gesichtspunkt wird die gegenwärtige Betrachtung in einem ferneren Stadium beschäftigen. Hier genügt es einstweilen, die Tatsache eben dieses Erfolges zu betonen und ihren Zusammenhang mit der Entwicklung des Individuums überhaupt aus den Gemeinschaften, die es in früheren Stadien des menschlichen Zusammenlebens, also der Geschichte, mannigfach binden und verbinden.

§ 27. Entwicklung

des sozialen

Menschen

Die Entwicklung des individuellen Menschen und der Individualität in ihm muß zunächst betrachtet werden als eine schlechthin natürliche und notwendige Entwicklung. Auch der einzelne Mensch als solcher, als ein Naturprodukt gleich anderen Säugetieren, entwickelt sich leiblich und (was für den lebendigen Leib dasselbe bedeutet) seelisch vom Embryo 10 im freien oder quiritarischen

Eigentumsrecht

— das Recht eines (römischen) Staatsbür-

gers (lat.: quires), im Zivilleben mit etwas nach Belieben zu verfahren und andere davon auszuschließen, anders z. B. ein Sklave (servus) gegenüber seinem Herrn.

Individuelle Entwicklung und soziale Gliederung

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zum Kinde, vom Kinde zum gereiften Menschen. Die Entwicklung des sozialen Menschen ist durchaus analog und durch jene biologische Entwicklung mitbedingt. Sie ist aber zugleich als etwas anderes anzuerkennen. Ihre Eigentümlichkeit ist begründet in der natürlichen Verschiedenheit der Menschen, infolge deren die Individualität des einen ausgeprägter ist und bedeutender wird als die des anderen: so nicht nur die des Mannes mehr als die der Frau, des Stadtbewohners mehr als die des Landmannes, des mächtigen Mannes mehr als die des Schwachen, sodann auch in der Regel des Reichen mehr als des Armen, des Vornehmen mehr als des Geringen, und allgemein des „höher" mehr als des „niedriger" gestellten Individuums. Es ist klar, daß diese natürlichen Unterschiede sich mannigfach reproduzieren: von den einfachsten und kleinsten Lebensverhältnissen der Familie, wo immer der Hausvater als der stärkere und folglich auch als der bewußtere der Frau, den Kindern und dem Gesinde gegenübersteht — bis hinauf zu den Gestaltungen eines großen Gemeinwesens, eines Staates, in dem etwa gar ein Individuum als König oder Kaiser diese ganz große Gesamtheit, den Verband in seiner Person darzustellen gedacht und geglaubt wird, so daß mit dem Verbände selber diese seine Person eine übernatürliche Weihe in den immer zum großen Teile kindlich-naiv bleibenden Vorstellungen der Menschen empfängt. — Uns führt so diese Erwägung der Freiheit und Befreiung des vereinzelten Menschen von der Gemeinschaft, die ihn bedingt und gewissermaßen geschaffen hat, auf die sozialen Wesenheiten politischer Art und die große historische Veränderung, die als die neuzeitliche unser Interesse in Anspruch nimmt.

Viertes Kapitel

Der politische und moralische Individualismus

§ 28. Der moderne

Mensch

Wir begegnen hier in verschiedenen Gestalten einem Unterschied, den wir allgemein als den Unterschied von Fürsten und Untertanen bezeichnen mögen, soweit es um ein soziales Verhältnis zwischen einzelnen Personen sich handelt. Hier ist von Natur der Fürst der individuellere Mensch kraft seiner Autorität, seines Vermögens, seiner Macht, und er ist immer versucht, diese seine in der Regel vom Mutterleibe ihm mitgegebenen Fähigkeiten, so sehr er es vermag, zu seinem eigenen Nutzen und Vergnügen zu gebrauchen und, wenn es ihm nötig scheint, zu vermehren. Aber seine Untertanen sind selber unter sich ungleich. Die stärkeren, klügeren und sonst bedeutenderen werden ihm in anderem Sinne Untertan sein als die solcher Vorzüge ermangeln: jene werden eher geneigt sein, Widerstand zu leisten und aus ihrem Besitz, möge er auch ihnen durch den Fürsten verliehen und sie mit ihrer eigenen Würde von ihm belehnt sein, als ihr Recht zu behaupten und sich darin durch den Fürsten gekränkt und beeinträchtigt zu fühlen. So ist uralt und allgemein unter monarchischen Institutionen Wettstreit und Rangstreit zwischen Oberfürsten und Unterfürsten, König und Adel, „hohem" Adel und „niederem" — Kämpfe, in denen dann der Höhere, also der König, die Bürger gegen den Adel an sich ziehen, der Adel als ein Schützer der geringeren Untertanen sich vorstellen kann, weil eben, wenn die Herren sich streiten, die Untertanen nicht nur darunter leiden, sondern oft Nutzen davon gewinnen und sich freuen dürfen. Anders ist es, wenn gerade die geringeren Untertanen selber teils als Bürger erstarken, teils sich zu verbinden lernen und, durch ihre Menge stark werdend, endlich auch als die armen gegen ihre reichen Mitbürger sich empören. Auch dies ist bedingt durch gesteigerte individuelle Bewußtheit wenigstens der Führer solcher Bewegungen. Aber das Emporkommen einer Klasse gegen eine ihr überlegene und sie beherrschende ist durchaus nicht immer durch gewaltsame Vorgänge bedingt: nicht immer und nicht hauptsächlich, sondern viel eher

Streit der Bürgerschichten — Geistlichkeit und Politik

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und mehr durch das eigene Wachstum jener an Kräften materieller und intellektueller Art, an Vermögen und Bildung; und diese Kräfte sind wiederum durchaus bedingt durch Intelligenz und Energie der Individuen. So hat in der Neuzeit die Klasse sich entwickelt, die man mit einem Fremdworte die „Bourgeoisie" zu nennen pflegt, man kann dafür das deutsche Wort Neubürgertum setzen; denn es muß durchaus vom Altbürgertum, das in der Gemeinschaft der Stadtgemeinde und ihres Lebens beruht, unterschieden werden — wenn es auch vorwiegend städtisch bedingt bleibt, keineswegs ausschließlich. Auch diese Erörterung wird erst durch ihre Anwendung auf einzelne Länder und ihre Geschichte hinlänglich sich verstehen lassen. — Eine besondere Bedeutung nimmt für das mittelalterliche wie auch, obzwar in mehr und mehr abschwächenden Erscheinungen, für das neuzeitliche Gemeinwesen, die politische Tätigkeit und Bedeutung der Geistlichkeit, also der Kirche oder Kirchen, in Anspruch. Der Beamtete der Kirche ist in seinem Wissen und Gewissen nicht nur durch den Glauben, zu dem er sich bekennt, sondern mehr noch durch die Gemeinschaft, die diesen Glauben trägt, zumal weil und insofern sie übernatürlichen Wesens zu sein behauptet, gebunden. Das muß ihn aber nicht hindern, eine hohe individuelle Bewußtheit auszubilden und zu erlangen, und dazu befähigen ihn vorzüglich die Aufgaben, die ihm die ecclesia militans auferlegt, und die Schwierigkeit, einen übernatürlichen und unwahrscheinlichen Zauberglauben zu erhalten und zu verteidigen. Dies gelangt besonders zur Geltung für eine Macht, die auf Mittel der Gewalt zu verzichten wenigstens scheinen will und um so mehr auf Klugheit und Listen angewiesen ist, wie ein Diplomat, der keine Armee hinter sich stehend weiß. Als tatsächlich förderndes Moment ist hinzugekommen, daß die christliche Kirche schon mit den freilich zum guten Teil durchlöcherten und geborstenen Waffen des antiken Wissens und Geistes ausgerüstet war und Jahrhunderte hindurch gelebt hatte, ehe sie über Europa hin ihre Netze ausstreckte. Im Zusammenhange mit dieser Beobachtung werde hier noch die individualistische Entwicklung geistig-moralischer Art erwogen. Sie ist in allen andern irgendwie eingeschlossen, hat aber durchaus ihre eigene Bedeutung, die freilich in fortwährendem Zusammenhange mit denen der anderen Gebiete steht und mannigfach auf sie zurückwirkt. Ihr eigenes Gebiet ist das des sittlichen Lebens in allen seinen Gestaltungen, daher auch des Familienlebens, des religiösen Lebens, der Kunst und 21 ecclesia militans,

[lat.] svw. „Kirche als Kämpferin".

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Theorie und Technik und das sittliche Leben — Denker und Forscher

der Wissenschaft. Hier handelt es sich nicht unmittelbar um materiellen Gewinn und Erwerb von Reichtum; auch nicht um Erlangung von Macht, um Herrschaft über Menschen und Länder, um siegreiche Kriege, um Eroberungen. Mittelbar freilich ist der Einfluß dieser Sphäre und ihrer Veränderungen auf jene Sphären bedeutend. Wenn wir sie an und für sich betrachten, so stellen wir als die individualistische Entwicklung fest, daß mehr und mehr ein Überwiegen der Theorie über die Praxis und in der Kunst die steigende Macht der Technik hervortritt und große Wirkungen hat. Die ist allerdings ein eminentes Merkmal der Neuzeit und eine dauernde Gewähr ihrer Überlegenheit. Daher die unermeßliche Bedeutung der geistigen Befreiung: Freiheit des Denkens, des Erkennens, des Gestaltens; Ablösung von der Überlieferung und zum guten Teil den überlieferten Lehren, also der hergebrachten Denkungsart und ihrer Verund Gebote; mithin notwendiger Konflikt mit dem religiösen Glauben und den Kirchen, die diesen tragen und selber mit ihm stehen und fallen — Konflikte von weltgeschichtlicher Tragweite, die, auch im Mittelalter keineswegs unbekannt, damals regelmäßig mit dem Siege der alten Mächte und der Unterdrückung aller Neuerungen, also aller Kritik, aller Häresie, alles wissenschaftlichen Denkens ihren Ausgang fanden, während die Neuzeit im Gegenteil mehr und mehr das Übergewicht und den Sieg der neuen geistigen und moralischen Mächte offenbar werden läßt und sichert. Hier ist der einzelne gebildete Mensch zwar ebenso wie in den anderen Gebieten ein gereifter und mit der Fähigkeit des Denkens mehr als in alltäglicher Weise ausgestatteter Mann; aber er ist sonst von den Individuen, die in den anderen Gebieten hervorragen, durchaus verschieden. Wenn im ökonomischen Gebiete am meisten und am ehesten der Kaufmann als die wagende und unternehmende Person auftritt, im politischen der Fürst oder sein Gehilfe oder Handlanger, der Staatsmann, Diplomat, General oder schlechthin Beamte, — so ist es hier der Denker und Forscher, der Philosoph und in vielen einzelnen Gebieten, zuvörderst aber in denen der Naturwissenschaften, der durch Messen und Wägen, Zählen und Rechnen Erkennende; wie oft er auch zur Verwertung seiner Erkenntnisse, seines Wissens, seiner Meinung ins praktische Leben überzugehen sich angeregt fühlen mag und dadurch in Berührung mit der ökonomischen und politischen Sphäre kommt, ja in ihnen selber tätig wird. Auch er bedarf vielfach der ökonomischen sowohl als der politischen Mittel: um ihre Zwecke zu fördern, muß er seine eigenen Zwecke gefördert wissen, er arbeitet mit ihnen in Wechselwirkung.

Gesellschaftliche soziale Wesenheiten — Assoziation des Kapitals

§ 29. Assoziation

und gesellschaftliches

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Eigentum

Überhaupt leistet der vereinzelte Mensch selten Bedeutendes, und das sich entwickelnde, wenn auch hervorragende Individuum ist als solches nicht unsozial, wie weit es auch von seiner gemeinschaftlichen Herkunft sich entfernen möge. Es ist vielmehr durchaus genötigt, neue Verhältnisse einzugehen, neuen Samtschaften sich anzuschließen, neue Verbände zu stiften oder an solchen teilzunehmen. Das ist das große Gebiet der „Gesellschaft", der gesellschaftlichen sozialen Wesenheiten in ihrer grenzenlos möglichen Ausdehnung. Die Gesellschaft in diesem Sinne unterscheidet sich wesentlich dadurch von der Gemeinschaft, die hinter ihr, oft auch in ihr und zuweilen mit ihr, durch sie sich erhält; unterscheidet sich wesentlich dadurch, daß der denkende Mensch sie wählt und ergreift um eines deutlich und scharf von den Mitteln unterschiedenen Zweckes willen, und daß dieser Zweck im Bewußtsein des Subjekts vorhanden ist. Am klarsten tritt dies zutage im ökonomischen Gebiete und hier wiederum durch den Handel. Jeder Kaufmann will gewinnen, jeder seinen Gewinn, und zwar möglichst großen, erzielen; alle Handlungen eines jeden sind Mittel zu diesem Zwecke. So auch die Verhältnisse, die er mit anderen eingeht, sei es als Käufer oder Verkäufer, als Darlehn Gebender oder Nehmender, als reisender, suchender, rechnender, schreibender und lesender Geschäftsmann. So auch, wenn er Verbindung mit anderen sucht, deren Zwecke den seinigen auch der Art nach gleich oder ähnlich sind. Der Gedanke entsteht notwendig, daß sie ihre Mittel vereinigen können, um sich stärker zu machen zur Erlangung ihres sie verbindenden Zweckes, des Gewinnes, dessen Vermehrung jedem Teilnehmer zugute kommt: der Gedanke des Zusammenwirkens in seiner rationalen, d. i. durch Rechnung bestimmten Gestalt: der Assoziation. So sind von altersher die Handelsgesellschaften, deren einfachste das Kompagniegeschäft ist, bedeutend, haben aber erst in der Neuzeit ihre vollendete Ausbildung erhalten, wodurch sie auch Faktoren des politischen Lebens geworden sind. Z u den Mitteln, denen sie ihre gewaltigen Erfolge verdanken, gehörte auch Z w a n g und Gewalt, der Krieg, die Eroberung. Die höchste Ausbildung ist aber erst der späteren Neuzeit vorbehalten gewesen: die Assoziation, die jeden persönlichen Charakter abstreift, als nackte Assoziation des unternehmenden Geldes, des Kapitals, wozu also jeder, der ein wenn auch noch so kleines Vermögen sein eigen nennt, beitragen kann, wenn auch den tatsächlichen Umständen gemäß solche nur schwache Gehilfen werden können für das vorwaltende große und

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Vertragstheorie — Hobbes — Rousseau

starke, das massenhafte Kapital, das in dieser Form das kleine und schwache an sich zieht. — Die Gestaltung eines gesellschaftlichen Eigentums in seiner Ausdehnung und Macht durch Aktiengesellschaften, Kartelle, Trusts, Konzerne vollendet des Kaufmanns Herrschgewalt und somit den Prozeß des Überganges von Gemeinschaft zu Gesellschaft in seinem Hauptgebiete, dem ökonomischen, das auch dadurch immer mehr in den Vordergrund der Zustände und Ereignisse sich drängt.

§ 30. Die Assoziation

im politischen

Gebiete

Die Assoziation wird aber auch auf dem politischen Gebiete wichtig, ja für das politische Leben charakteristisch. Die Tendenz der individualistischen Denkungsart geht notwendig dahin, auch den Staat und alle sozialen Wesenheiten, denen sonst, sei es mit Grund oder nicht, ein gemeinschaftlicher Charakter zugeschrieben wurde, aus dem Kürwillen der Subjekte zu erklären und abzuleiten, die entweder Individuen oder gedachte kollektive Personen sein können, als welche sie ihrerseits auf die freien Individuen zurückgehen. Daher die individualistische Vertragstheorie, die regelmäßig verwechselt wird mit der Lehre und Ansicht eines Vertrages zwischen Herrscher und Volk, wobei das Volk als durch die Herrenstände repräsentiert gedacht wurde und der Herrscher einfach als vorhanden gesetzt war. Die neuzeitliche Vertragstheorie, von Hobbes begründet, von Rousseau nachgebildet, meint etwas ganz anderes: einen Vertrag aller mit allen, oder Verträge aller mit allen, zum Zwecke gegenseitigen Schutzes und gegenseitiger Hilfe, zu diesem Behuf wiederum die Errichtung einer zwingenden Gewalt, sei es die einer natürlichen oder künstlichen (kollektiven) Person. Diese Theorie geht an allen natürlichen, also gemeinschaftlichen Zusammenhängen der Menschen mit Absicht vorbei, daher auch an dem etwanigen religiösen Verbände, von dem mit Grund gedacht werden möchte, daß er die Menschen in einem bestimmten Gebiete hinlänglich zusammenhalte, um Zwang und Gewalt außer in Notfällen, wo deren Anwendung unmittelbar der allgemeinen Billigung sicher wäre, überflüssig zu machen. Seine starke Begründung erfährt das Theorem vielmehr durch die Hypothese, daß jeder in letzter Instanz oder im „Naturzustande" des andern möglicher Feind sei, und jeder Grund habe, dem andern zu mißtrauen und ihn zu fürchten, wenn der andere nicht nötig hätte, die strafende Zwangsgewalt der Staatsmacht zu fürchten. Offenbar ist das Theorem mehr auf neuzeitliche als

Einheitliche Staatsgewalt — Klassenkampf — Neubürgertum, Adel, Monarchie

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auf mittelalterliche Tatsachen des Zusammenlebens zugeschnitten: wenn auch das Mittelalter sehr erfüllt ist von Fehde und Krieg, so beruhten diese eben in einem relativen Naturzustande, nämlich der Mannigfaltigkeit sozialer Körper, die einander benachbart waren und voneinander wenigstens so weit unabhängig, daß sie leicht in Streit und Hader, und dieser leicht in gewaltsames Verfahren geraten konnte. Streit und Hader waren auch den einzelnen Territorien und Städten durchaus nicht fremd, aber doch verhältnismäßig selten, weil immerhin viele Bande der Blutsverwandtschaft, Nachbarschaft, Genossenschaft hier naturgemäß stärker waren. Diese sind zusehends schwächer geworden, die Motive der Fremdheit, mithin der nicht nur möglichen, sondern wahrscheinlichen Feindseligkeit zwischen den Individuen stärker; und mit dieser sozialen Zersetzung und Entfremdung geht das Bedürfnis einer einheitlichen, nach strengen Regeln natürlichen und positiven Rechtes verfahrenden Staatsgewalt parallel. Dieser neuzeitliche Charakter des Zusammenlebens vergrößert sich um so mehr, je mehr die Menschen durch Wanderungen vermischt, auseinander- und zusammengeworfen werden; er prägt daher mehr in der Stadt, zumal in der großen Stadt, ferner in der Kolonie und im allgemeinen internationalen Weltverkehr sich aus. Aus dem Wesen der modernen Gesellschaft läßt allerdings sich ableiten, daß sie von tiefen und starken inneren Gegensätzen erfüllt ist, wie es die Erfahrung mannigfach aufweist. Der Begriff des Klassenkampfes stammt aus diesen Erfahrungen und ist begründet in der Mannigfaltigkeit der individuellen Interessen und der tiefen Verschiedenheit der sozialen Lage, weshalb sie in erster Linie ein Kampf um die Herrschaft ist, und zwar als politische Herrschaft um so mehr umstritten wird, als diese in einer allumfassenden, tief ins Privatleben, in den Verkehr und in die rechtlichen Verhältnisse der Individuen eingreifenden Gesetzgebung zutage tritt. Der Streit muß hier um so heftiger werden, je mehr eine Klasse im erblichen Besitz der Staatsgewalt ist oder doch zu sein scheint und je mehr eine andere Klasse um die Staatsgewalt kämpft, die jener etwa an materiellen und ideellen Fähigkeiten, an Vermögen und an Bildung, oder doch an einer dieser Arten von Gütern ebenbürtig, wenn nicht überlegen ist. Ein solcher Kampf ist nun während aller Jahrhunderte der Neuzeit derjenige gewesen, der vom Neubürgertum ganz besonders gegen die alten Herrenstände, d. i. politisch hauptsächlich den Adel und, soweit sie mit diesem zusammenhängend und verbunden war, auch wenn sie jene Herrenstände zugunsten des Neubürgertums drückte, die Monarchie, geführt worden ist: Kämpfe, die mehr und mehr fortschreitend zu-

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Proletariat — Partei als Samtschaft

gunsten der jüngeren Klasse als der Trägerin der sozialen Veränderungen, des Fortschritts und des Reichtums sich gestalten mußte, ohne daß doch die Kraft der im alten Sinne konservativen Rechte und Ideen definitiv gebrochen wäre, die vielmehr immer noch in den tatsächlich beharrenden Zuständen und sozialen Verhältnissen einen starken Rückhalt behalten und, zumal in der Ideologie, das Gefühl für diesen Wert leicht wiederherstellen können. Neben diesen Kampf ist aber im Laufe des 19. Jahrhunderts unter der sprunghaften ungeheuren Umwälzung der sozialen Lebensbedingungen in Europa, wie auch in den von ihm befruchteten anderen Weltteilen ein neuer Klassenkampf entstanden, der des Proletariats gegen Grundbesitz und Kapital, alte und neue Herrenschichten — ein Klassenkampf, der viel stärker gegen die ökonomische Basis des gesamten sozialen Lebens, also gegen das Dasein einer Herrenklasse überhaupt, als gegen deren politischen Ausdruck gerichtet ist, außer sofern dieser gedacht wird als ein Vorwerk, das zuerst eingenommen werden müsse, ehe man an die eigentliche Festung, eben den gesellschaftlichen Zustand, der nun vorzugsweise als die Herrschaft des Kapitals empfunden und gedeutet wird, herankommen könne. Naturgemäß ist diesem zwiefachen, aber je einfachen Schema gegenüber eine vielfache Gestaltung des politischen Lebens möglich, das aber im heutigen Staat sichtlich um die drei Parteien sich sammelt: 1. die Partei des Grundbesitzes, zumal des großen und herrschaftlichen und der in ihr beruhenden relativ alten Herrenschicht; 2. die Partei des Kapitals; 3. die Partei der Arbeit.

§ 31. Partei und

Parteikämpfe

Die „Partei" ist ihrem Wesen nach eine Samtschaft, d. h. eine durch gemeinsame Interessen innerhalb eines Staates oder einer anderen Körperschaft sich verbunden fühlende Menge, die um so mehr, je mehr sie durch die gemeinsame Empfindung und Kenntnis des Druckes, nebst dem mehr oder minder allen bewußten Wunsch, dieses Druckes ledig zu werden, in ihrem Streben geeint werden und zum mindesten mit Sympathie und Billigung, aber auch, wenn sie ihnen freisteht, durch politische Aktion die Ereignisse, also auch die Handlungen der im Vordergrunde stehenden und wirkenden Personen befördert, sofern sie im Sinne dieser Interessen und Meinungen geschehen. Je mehr aber eine bewußte und planmäßige politische Aktion als notwendig erkannt und vorbereitet

Parteiaktion durch Körperschaft — Parteiführung — Liberale Ansicht vom Staat

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wird, um so mehr ist die Organisation der Partei Aufgabe ihrer Häupter und Führer, die also der Partei den Charakter einer Körperschaft verleiht, die gleich dem Staate oder einem andern Verein als eine einheitliche, d. i. durch einheitlichen Willen geleitete und bestimmte Person sich geltend macht. Eine starr organisierte Partei ist in ihren Wirkungen dem Staate ähnlich und wird wohl auch, zumal wenn sie im kritischen oder sogar feindlichen Sinne gegen den Staat auftritt, ein „Staat im Staate" genannt. Eine solche Partei hat einen Vorstand, der sie lenkt, wie der Staat eine Regierung hat, vielleicht einen Führer oder Häuptling, der wieder den Vorstand nach seinem Belieben lenkt. Die Partei kann ja von Rechts wegen, mithin so lange, als ein geltendes und hinlänglich starkes Recht das soziale Leben mitbestimmt, nur innerhalb der ihr durch die Gesetze zugewiesenen Schranken auf ihre Mitglieder wirken, behält aber einen weiten Spielraum, um eine, wenn nicht zwingende, so doch nötigende und bestimmende Gewalt über ihre Mitglieder auszuüben. Sie hält diese nicht nur durch Rede und Schrift, nicht nur durch den Machtzauber eines Führers oder mehrerer solcher, sondern auch durch die stetig wirkende Bedrohung mit unangenehmen Folgen, Bußen und Strafen, und besonders mit dem Ausschluß, der als eine Ehrenkränkung gemeint ist im Falle des Ungehorsams. Ebenso, aber mit minderer Bedeutung für das politische Leben, können auch andere Vereine sich geltend machen, und wenn dem Staate der besondere Nimbus genommen wird, den er zumeist einer Herkunft aus gemeinschaftlichen oder doch als gemeinschaftlich empfundenen Verhältnissen und Verbänden schuldet, so bleibt von seinem Wesen nichts übrig als das Wesen eines Vereins, d. i. einer Assoziation zu bestimmten abgegrenzten Zwecken. Die liberale Theorie, mit der die Wirklichkeit wenigstens den vorherrschenden Tendenzen nach sich nahe berührte, hat versucht, die Grenzen des Staates genau zu umschreiben, also die Staatstätigkeit in ihren, wie man meinte, natürlichen und notwendigen Schranken zu halten: sie solle Leben, Freiheit, Eigentum, allenfalls das Ansehen, die äußere Ehre oder den guten Namen der Individuen schützen, also auch Angriffe auf diese Güter gleich Angriffen auf sich selber abwehren und zu verhüten suchen; aber sie solle und dürfe nicht darüber hinausgehen, insbesondere nicht in das notwendig freie ökonomische Zusammenleben sich einmischen: dieses müsse sie gehen lassen, wie es wolle, alle absichtlichen Eingriffe und Störungen seien nicht nur unberechtigt, weil Verletzung der natürlichen Menschenrechte, sondern auch schädlich, weil das wirtschaftliche Leben in sich selber seine Ordnung und wesentliche Harmonie trage.

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Gewaltenteilung sinnwidrig — Freie Gesetzgebung

Schon Hobbes, und nach ihm manche Vertreter des echten Staatsgedankens, haben geltend gemacht, daß eine solche Begrenzung der Staatsmacht oder, juridisch aufgefaßt, der Kompetenz des Staates sinnwidrig sei: sie würde voraussetzen, daß eine andere rechtlich begründete Macht vorhanden sei, die zu entscheiden habe, ob die Staatsgewalt ihre Zuständigkeit überschritten habe, und ein solches Gericht bedeute eine Macht im Staate, die seiner Herrschgewalt überlegen sei, und in diesem Sinne hat man in der Tat die Doktrin von der notwendigen Teilung der Gewalten dahin ausgelegt, daß in der Wirkung die richterliche Gewalt die höchste würde, die also jederzeit die Gesetzgebung von Rechts wegen in ihre Schranken zurückzuweisen und sogar einem sonst in gültigen Formen erlassenen Gesetze die Gültigkeit abzusprechen vermöge, — wenn es wirklich oder nach dem Urteil dieser Instanz dem Grundgesetz oder der Verfassung widerspräche. Es kann auf dieser Grundlage in Wirklichkeit ein Konflikt zwischen den zwei Gewalten im Staate sich gestalten, den alsdann eine dritte Gewalt, die sonst wesentlich auf die Exekutive sich einschränken soll, zu schlichten berufen wäre. Dann besäße eben in letzter Instanz diese die höchste Gewalt, wenn ihr nicht eine der andern Gewalten dies abstreitet, so daß der Zweifel und Streit dauernd beharren und sich fortpflanzen würde. Es hinge dann die wirkliche Gestaltung von der tatsächlichen Stärke der einen oder anderen Macht im Staate oder zweier miteinander ab, und nicht von einer rechtlichen Verfassung, die vielmehr die Gültigkeit eines Staatsaktes ausschließlich an die Erfüllung bestimmter Formen knüpfen muß. Man kann nun nicht sagen, daß die prinzipielle Unsicherheit der Doktrin in diesem Punkte theoretisch geklärt oder praktisch immer zur Entscheidung gebracht worden ist, aber — wenigstens in Europa — ist der Streit zugunsten der freien Gesetzgebung entschieden worden, und dies hat die große Bedeutung gewonnen, daß es ein Sieg der sozialistischen Denkungsart gegen die liberale Denkungsart ist, also ein Sieg der Arbeit über das Kapital und tatsächlich auch über den zu einem Teil des Kapitals gewordenen Grundbesitz. Die Arbeit muß angesichts der offenbaren Gestaltung des wirklichen Lebens der Gesellschaft durch das Kapital auf die von ihr darzustellende Staatsmacht sich stützen und sie für sich fordern, um durch die Gesetzgebung ein anderes Recht und also eine andere Gesellschaftsordnung zu schaffen oder wenigstens anzubahnen. — Alle diese Parteikämpfe und die in ihrem Gefolge geschehenden oder durch sie gehemmten gesetzlichen Neuerungen haben ihre förmliche Basis im ausgestalteten Individualismus und der in ihm beruhenden persönlichen,

Weltanschauungsparteien — Idee der Gemeinde und Polis

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wirtschaftlichen, politischen und geistigen Freiheit: so wenigstens kann man und muß man ideell-typisch die Zustände des neuzeitlich gestalteten politischen Lebens, soweit der Staat in seiner Gegenwart und in seinen Tendenzen uns bekannt ist, beschreiben, um ihn zu begreifen, d.h. um ihn auf klare und deutliche Begriffe zu beziehen. So hängt auch die Assoziation in der dritten, der geistig-moralischen Sphäre damit nahe zusammen. § 32. Der antike

Individualismus

Die Assoziation in der geistig-moralischen Sphäre ist bisher immer am wenigsten ausgebildet worden. Man findet wohl auch sie in den politischen Parteien verwirklicht, wenigstens in einigen der bedeutendsten, und spricht alsdann wohl von Weltanschauungsparteien, meint wohl auch, die Verschiedenheit der Weltanschauung sei die vorwaltende und wesentliche Ursache der Verschiedenheit politischer Parteien. Dieser Irrtum wird genährt durch das Dasein einer so bedeutenden Partei wie das „Zentrum" im deutschen Staatsleben: des Reiches und einiger seiner Gliedstaaten („Länder") es darstellt. Indessen führt gerade das Zentrum auf die Tatsache, daß alle moralische Verbundenheit unter den Menschen verschiedener Stände, Klassen und Schichten bisher fast ausschließlich einen religiösen Charakter gehabt hat und in weitem Umfange noch hat. Dies liegt allerdings nahe genug, wenn nicht mehr Verwandtschaft, Nachbarschaft und andere Genossenschaft freundschaftlicher Art Gemeinschaft begründet, so bleibt immer die Zugehörigkeit zu einem Körper, wenn dieser selbst als Inhaber und Träger gemeinschaftlicher Verhältnisse angeschaut und gedacht wird, übrig. So war von altersher die Idee der Gemeinde wirksam, wenn sie auch nur nebenher (akzessorisch) ein religiöses Wesen in sich trug, und dies schien um so mehr erforderlich, je mehr die persönlichen Verhältnisse ihren gemeinschaftlichen Charakter durch die große Zahl der Zusammenwohnenden, Zusammenwirkenden einbüßte, wie es in einer Stadtgemeinde eher als in einer Dorfgemeinde sich ereignet. Die Stadtgemeinde gewinnt hier um so eher eine bindende Autorität, als sie noch am Boden einer Heimat für die Bürger haftet und also durch ihre Verfassung, indem diese alt wird und durch die Vorfahren ihre Weihe empfängt, eine echte Vaterstadt, ein Vaterland wird. Diese gewaltige Bedeutung zu gewinnen, ist der hellenischen Polis vorbehalten gewesen, und sie hat auch Rom, das in jeder Hinsicht ihren Geist in sich zu empfangen gesonnen war, soviel davon mitzuteilen ver-

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Imperium und Kirche — Universalität des Christentums

mocht, wie dieses brauchte, um aus ihrem über den damaligen Erdkreis erstreckten Herrschaftsbereich, dem Imperium, nachdem die Civitas verallgemeinert worden war, eine Nachbildung der Polis zu machen. Dies wurde von tiefer Bedeutung, als der Glaube an die Göttlichkeit eines früher durch den römischen Landvogt gekreuzigten Mannes zur Religion dieses Reiches wurde, als deren Stifter dann jener zur Gottheit erhobene Mann gedacht wurde. Die Gemeinde selber, die den latinisierten Namen der souveränen Volksversammlung einer Polis annahm (Ecclesia), gestaltete sich so als „Kirche" = Kyriake, die zum Herrn gehörige, nämlich als die Bürgerschaft ihres Gottes (Civitas Dei). Sie hat sich dadurch in eine ideelle Sphäre erhoben, worin sie als ganze keine reale Gestalt mehr haben kann, wie die Stadtgemeinde noch an der Masse ihrer Häuser und Straßen, ihren Mauern und Toren, aber auch an ihren Versammlungsorten, den der ganzen Gemeinde gehörigen Gebäuden solche Gestalt hat, zumal wenn diese sich darin wirklich versammelt: die Kirche bedarf um so mehr der übernatürlichen Gewähr für die Behauptung ihrer eigenen Göttlichkeit, um die Seelen an sich zu halten und zu binden, was in bezug auf eine so große Menge nicht ohne nötigende Kraft geschehen kann, deren Praxis sie dem Imperium als dem ersten großen und wirklichen über Länder und Nationen ausgedehnten Staat entlehnt hat, entlehnen mußte. Sie gewann so ihren mystischen Glanz, ihre Unantastbarkeit und Heiligkeit für die Gefühle der Gläubigen, wenn auch der ganzen Fülle nach nur für ihre eigenen auserwählten und geweihten Diener, den Klerus, ob er in der Welt als Lehrer und Zauberer sich bewege, oder abgesondert von der Welt, um besser und sicherer noch für die vorgestellte andere Welt sich und andere vorzubereiten, in gemeinschaftlichen heiligen Verbänden die wahre Lehre pflege und durch ein ihr gemäßes Zusammenleben bestätige. Das Wesen dieser universalen und weltbürgerlichen Religion beruht im universalen und weltbürgerlichen Charakter des Römischen Reiches, und dieser ist, seiner ganzen Beschaffenheit nach, im soziologischen Sinne ein „gesellschaftlicher" Charakter, d. h. ihm liegen als seine wirklichen und irdischen Träger die entwurzelten Individuen zugrunde, deren Wurzeln die hellenischen Stadtgemeinden, durch Alexander von Makedonien und die Diadochen noch vermehrt und vermannigfacht waren. Ihre Bewohner aber, durch die hellenistische Kultur und den relativen Weltverkehr, der sie ausbreitete, durcheinandergeworfen und vermischt, hatten in weitem Maße das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lande oder einer einzelnen Stadt eingebüßt

Kirche und antiker Individualismus — Gemeinde und Sekte

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und fühlten sich nur als Bürger des Universums; ein Bewußtsein, dem zuerst die Stoa eine Art von Bekenntnis verlieh, das zu den großen Vorbereitungen des Weltbewußtseins in der Kirche gehörte.

§ 33. Kirche, Sekte, ethische

Kultur

Dies war der antike Individualismus, dessen tiefgehende Wirkungen gekannt und verstanden werden müssen, um die Bedürfnisse zu verstehen, denen die Ausbildung der neuen Religion entgegenkam, die nicht die Religion einer Stadt oder einer Landschaft, sondern die Religion der Menschheit darzustellen in Anspruch nahm. „Durch die Übernahme des stoischen Naturrechts ist das Christentum erst fähig geworden, eine allgemeine Staats- und Gesellschaftslehre auszubilden, zu der ihm bei seiner eigenen vollkommenen Gleichgültigkeit gegen Staat und Gesellschaft aus eigenem Vermögen die Mittel fehlten" (Troeltsch). Diese ursprüngliche Gleichgültigkeit des christlichen Glaubens erhält sich noch bei den Kirchenvätern, auch bei Augustinus, in der von ihm herrührenden Konzentration aller ethischen Werte auf die individuelle Seele. Ihr Heil ist es, das in der heiligen Kirche gesucht und nur in dieser gefunden werden kann, während sie außerhalb der Kirche ihr ewiges Verderben zu gewärtigen hat: behauptete die Kirche. Alles, was sonst die lebendige Gemeinschaft dem Menschen zu bieten vermag, gewährt nunmehr (angeblich) nur die Kirche, während die vorkirchliche Gemeinde ihrem Wesen nach einfacher und naiver in unmittelbarer Verbundenheit mit ihrem „Bräutigam" sich fühlte und den Glauben an seine erhabene oder sogar göttliche Natur für genügend erachtete, ohne priesterliche oder hohepriesterliche Hilfe das Himmelreich zu erlangen, dessen wirkliche Gestalt unter dem Herrn als König man auch noch zu erleben hoffte — eben diese Hoffnung und Erwartung bedurfte keiner Heilsanstalt. Die Idee der ursprünglichen Gemeinde hat in den Sekten, wenn auch in sehr verschiedenen Ausprägungen, sich erhalten: „Die Sekten stehen dem Urchristentum 9 „Durch die Übernahme des stoischen Naturrechts ..." Das Zitat wurde nicht aufgefunden, die Sache erscheint im Œuvre häufig genug. Vgl.: Das christliche Naturrecht. Ueberblick [1913], in: Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, S. 156 — 160. 29 „Die Sekten stehen dem Urchristentum näher..." — ein eindeutiges aber (trotz der Anführungsstriche) indirektes Zitat aus W[alther] Koehler, Sekten: II. Dogmengeschichtlich, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., 5. Band, Tübingen 1931, Sp. 400.

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Reformationen — Neue Kirchen

näher als die Kirche" (Köhler in „Religion in Geschichte und Gegenwart" V). In ihrem engen Kreise versucht die Sekte, Gemeinschaft als Verbundenheit in Liebe und gegenseitiger Hilfe zu verwirklichen, weil ihr die Kirche nicht gefällt und sie an deren Göttlichkeit nicht glaubt. Sie will nur einen Verein bilden, ein Verein sein, wenn auch zu einem gemeinsam verbindenden Zwecke von idealer und ethischer Art. In dieser Zusammenstellung mit dem kirchlichen Christentum erscheint sie daher als ein individualistisch gestalteter, mithin ein gesellschaftlicher Bund, und erscheint die Sektiererei aus dem Gesichtspunkt der Kirche als ein Abfall von ihr, folglich, nachdem die Kirche selber zum Gegenstande des Glaubens und des Dogmas geworden ist, als Häresie (Ketzerei). Der Name Häresie deutet auf den individualistischen Ursprung in einer freigewählten Denkungsart, wie er denn für die Kirche nur die Bedeutung eines Abfalls von der richtigen, vermeintlich geoffenbarten und göttlichen Lehre als wesentliche Irrlehre hat und, insofern als der Glaube an jene für das getaufte Glied der Kirche Rechtspflicht ist, als eine Sünde oder (weltlich) als ein Verbrechen. So ist es denn ein Ereignis von außerordentlicher kirchengeschichtlicher, also auch sozialgeschichtlicher Bedeutung gewesen, daß die Ketzerei und Sekte von jener heiligen römischen Kirche sich losgerissen und selber Kirchen von geringerem Anspruch gestaltet hat, die nicht mehr, d. h. nicht unmittelbar, universal sein wollen, nicht unmittelbar dem Stifter ihrer Religion ihren Ursprung zu verdanken wähnen, außerdem, daß sie als Gemeinschaften der Gläubigen erscheinen, ihr rechtliches Dasein als Anstalten moralischer und pädagogischer Art nur noch von der Gesetzgebung einer Stadt oder eines Landes abzuleiten sich genügen lassen. „Die Reformation gehört ihren ursprünglichen Intentionen nach in weitem Maße dem Sektentypus an" (a. a. O.). Mithin ist der religiöse Individualismus mit der Reformation oder den Reformationen in den neuen Kirchen wie in den neben ihnen geduldeten Sekten siegreich geworden, zumal nachdem mehr und mehr auch das Prinzip der freien Forschung und der Gewissensfreiheit innerhalb dieser neuen Kirchen sich durchzusetzen vermocht hat, was die römische Kirche immer, wenngleich mehr und mehr erfolglos, verweigern mußte. Und doch haben diese neuen so viel geringeren Kirchen immer einen gewissen Ehrgeiz darein gesetzt, gewisse Merkmale der allgemeinen (katholischen) Kirche, aus der sie hervorgegangen waren, zu behalten oder zu erneuern, also auch ihrer27 „Die Reformation

gehört [...]"

Koehler (1931: Sp. 402).

Gewissensfreiheit — Freidenker und Gemeinschaft — Freimaurerei

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seits den „Irrlehren" über die „göttlichen Dinge" und dem freien Denken, auch dem Denken über den Ursprung und die Anfänge des christlichen Lebens, zu wehren. — Im freien Urteilen vollendet sich die freie Forschung und Gewissensfreiheit, also in der Möglichkeit einer unbegrenzten Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit der Meinungen über heilige und unheilige Dinge. Indessen schließt dies durchaus nicht die Einmütigkeit der Erkenntnis aus: wie nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt, so auch nicht der Einsicht in die Zweckmäßigkeit der Vereinigung über wesentliche Probleme des menschlichen Zusammenlebens, also des Zusammenwohnens und Zusammenwirkens, der Gesellschaft und des Staates. Vielmehr muß der Freidenker die Notwendigkeit der Institutionen und Regierungen zum Behufe des, wenn auch nicht ewigen, um so mehr des zeitlichen Heiles, durchaus hervorheben, wenn anders er nicht unsozial, also gegen das Wohl seiner Mitmenschen gleichgültig erscheinen will; wie denn auch der strenge Egoist um seiner selbst willen nicht dagegen gleichgültig sein kann, wenn anders er weiß, wie sehr in andern Richtungen sein eigenes Wohl durch das seiner Umgebung (auch seiner menschlichen Umgebung) bedingt, ja davon abhängig ist. So leitet das Denken die egoistische und gesellschaftliche Gesinnung in ihren Wirkungen zum guten Teile in die gemeinschaftliche zurück, um sie zu erweitern und vielleicht in ihren endlichen Wirkungen zu verstärken. — Es fehlt auch im freien Denken nicht an Bestrebungen der Vereinigung für Zwecke, die der Freidenker als solcher in ihrem Werte kennt und anerkennt, also bejaht, mithin außer den unmittelbaren freidenkerischen, die als solche durch die Verneinung der positiven Religionen und ihrer Verbände — Kirchen oder Sekten — geeint sind, für humane und ethische, also etwa auch mittelbar für politische Zwecke. Eine solche Vereinigung über den Erdball will ihrer Idee nach die Freimaurerei darstellen, obschon sie an einer gewissen Verbindung mit dem freien Protestantismus oder doch mit einem philosophischen Deismus oder Pantheismus äußerlich festgehalten hat. In der Tat hat die gesamte Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie manche und bedeutende Beziehungen zum Freimaurertum gehegt, wie auch die höheren Gestalten der schönen Literatur, zumal in Deutschland, wo bis ins 19. Jahrhundert Häupter wie Lessing, Wieland und Goethe in ihr einander begegneten. Neben der Freimaurerei haben andere ihrer Tendenz nach internationale Orden bisher nur eine schwache Kraft und Geltung erlangen können: so, noch im 18. Jahrhundert bedeutend, die Illuminaten, im späten 19. die Gesellschaft für Ethische Kultur, der manche Meister der „ M a u r e r " sich ange-

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Hemmungen des Freidenkertums

schlössen hatten. Im ganzen ist noch zur Stunde der Freidenker ein vereinzelter Mensch, ein durchaus neuzeitliches, aber meistens auf Erkenntnis — und in Erkenntnis begründete Erneuerung und Veredlung des Menschentums — gerichtetes Wesen. Die Fortschritte des Freidenkertums, denen durch eine unerhört hohe Entwicklung der wissenschaftlichen 5 Erkenntnis die Bahnen eröffnet sind, bleiben gehemmt, nicht nur durch die wirklichen Rechte der kirchlichen und anderer religiösen Verbände, sondern auch in hohem Grade durch die Macht des gesellschaftlich konventionellen Geistes, der durch das Klasseninteresse, also wesentlich durch das Interesse und den Einfluß der besitzenden Klasse, bestimmt 10 wird; mithin auch durch den politischen Parteigeist, der mit seinen stärksten Wirkungen darin beruht. Es darf aber erwartet, ja vorausgesagt werden, daß im Laufe der kommenden Jahrhunderte, ja in den bedeutendsten Anfängen noch des gegenwärtigen, das nach aufrichtiger Verkündung und nach Ausgestaltung seines Wesens sich sehnende Freiden- 15 kertum eine soziale Macht entwickeln und bedeuten wird, die berufen ist, für die gesamte Entwicklung des Menschentums in — wenn auch noch ferner — Zukunft epochemachende Wirkungen zu haben.

Fünftes Kapitel

Entwicklung der Gesellschaft § 34. Die großen

Persönlichkeiten

Der Fortschritt des Individualismus ist — mit allem Nachdruck sei dies hervorgehoben — eine durchaus gesunde und normale Entwicklung im Wachstum und Fortschritt einer Nation und ihrer Glieder: eine echte und organische Evolution. Darin beruht der außerordentliche Reichtum an bedeutenden und starken Persönlichkeiten, den die Jahrhunderte der Neuzeit im Vergleich zu einer gleichen Anzahl vorausgehender Jahrhunderte bisher aufzuweisen gehabt haben. Dieser Reichtum läßt auf allen Gebieten sich nachweisen: 1. auf dem ökonomischen: Hier treten früh die kraftvollen, kühnen Reisenden auf, sei es, daß sie durch die Motive des Handelsgeschäfts bewogen, die Strapazen und Gefahren solcher Reisen auf sich nahmen, und so die Entdecker bisher unbekannter Länder wurden; sei es daß ein edlerer, von materiellen Interessen freier Forschertrieb sie beseelte und sie, etwa ohne des Nutzens ihrer Tätigkeit bewußt zu werden, auch in den Dienst großer ökonomischer Interessen getreten sind, die mittelbar auch politische und geistige Interessen wurden. Jedenfalls ist die Ausdehnung des Reisens und die damit verbundene Entdeckung unerforschter Landgebiete in hohem Grade für die Neuzeit charakteristisch und verleiht ihr den Glanz einer Erweiterung des Gesichtskreises, der auch für die Denkungsart und deren Erhebung aus der Enge des täglichen Lebens und des hergebrachten Wesens die größte Bedeutung gewonnen hat. Auch heute noch stehen manche Matadore des Welthandels in dieser Hinsicht groß da, und können aus dem Gesamtbilde der führenden Persönlichkeiten der „Welt", nämlich des Welthandels und der Weltwirtschaft, nicht weggedacht werden; nehmen daher auch für die politische Geschichte mancher Nation, also für das Staatsleben wie das internationale Leben, eine bedeutende Mitwirkung, solange als dessen gegenwärtige Lebensbedingungen, zumal die finanziellen dauern, in gerechten Anspruch.

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Politische Persönlichkeiten — Ruhm und Bewunderung

2. Ähnliches gilt für die Persönlichkeiten, die dem Staatsleben unmittelbar angehören, also für Staatsmänner und Feldherren. Auch diese treten erst in der Neuzeit mit schärfer ausgeprägten individuellen Charakteren hervor. Es liegt in der allgemeinen Entfaltung des gesamten öffentlichen Lebens begründet. Freilich macht auch in dieser Hinsicht sich geltend, daß die große gesellschaftliche Gestaltung des Römischen Rechts hinter derjenigen des Zeitalters liegt, die wir als Mittelalter ansprechen. Die große Brücke, die aus der Antike ins Mittelalter und seinen Geist hinüberführt, ist die katholische und apostolische Kirche. In ihr und ihrer Hierarchie, die durch das Amt der Bischöfe und deren Spitze im Papsttum bezeichnet wird, hat die in vielen Kämpfen bewährte, auch in dem großen Gebiete des Rechts niedergelegte Klugheit des römischen Denkens in der Kurie sich erhalten und sich fortgepflanzt, so daß bis in unsere Tage ihr politischer Verstand oft bewundert worden ist und tatsächlich sogar in den politischen Parteien zutage tritt, worin der geistliche Einfluß erheblich zur Geltung gelangt. Freilich ist zu allen Zeiten die Klugheit und Schlauheit des Priestertums und der Priesterherrschaft berühmt und in einigem M a ß e berüchtigt gewesen, weil überall in die Funktionen des öffentlichen Lebens das persönliche und ständische Interesse, der persönliche und ständische Ehrgeiz und das Trachten nach Vorteilen jeder Art außer dem natürlichen Genuß der Herrschaft und dem Streben danach, sich hineinmischt: etwas, was so tief in der menschlichen Natur begründet ist, daß es niemals völlig sich wird austilgen lassen, wenn auch ein starkes Mehr oder Weniger manchmal hervortritt. Der Ruhm und die Bewunderung, die solchen Persönlichkeiten zwar nicht immer, aber oft zuteil werden, sehen über die Schwächen und Mängel, die ihnen anhaften, hinweg. Eine eigentümliche Erscheinung ist das starke Bedürfnis, von dem nur wenige Menschen ausgenommen sind, wenn es auch mehr oder minder ausgeprägt in der großen Menge sich zeigt, das Bedürfnis zu bewundern und zu verehren, ja man darf sagen, Menschen gleich höheren Wesen anzubeten. Diese Neigung ist der weiblichen Natur natürlicher als der männlichen; aber die Frau hat immer mehr in einem engen und privaten Kreise gelebt, so daß auch dadurch die Neuzeit als ein männlich betontes Zeitalter sich auszeichnet, daß es den Boden einer großen und breiten Öffentlichkeit gewinnt, die im Lesen von Büchern und Flugschriften und neuerdings ganz besonders von Zeitungen den Lesern sich mitteilt und weitreichende Einflüsse gewinnt. Diese Einflüsse machen naturgemäß gerade in bezug auf die Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sich bemerkbar. Wenn schon der Soldat,

Der Feldherr und Held — Der Staatsmann — Talent, Wille und Tatkraft

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zumal der Befehlshaber, als Held die Blicke auf sich zieht, und von allem Volk, nicht am wenigsten von dessen weiblichem Teile, seine Ehrungen empfängt, so ist der Staatsmann und was er leistet dem allgemeinen Urteil weniger ausgesetzt. Es muß schon große Dimensionen annehmen, um erkannt und gewürdigt zu werden. Am günstigsten tritt es in die Erscheinung, wenn es mit einem großen Namen und anerkannten Range verbunden ist. Daher genießt von jeher nicht nur die königliche und sonst fürstliche, sondern überhaupt die vornehme und gute Familie, also in erster Linie die des Adels, zumal eines alten Adels, einen außerordentlichen Vorzug. Rang und Vornehmheit werden schon als solche bewundert und verehrt; um so mehr, wenn die Leistung sich damit verbindet. Andererseits wird das Verdienst der Leistung um so höher geschätzt, je weniger es ohne solche Stützen sich betätigt hat; je mehr es also ganz persönlich ist und in Hemmnissen eigener bescheidener Herkunft, der Armut und aller der Hemmungen, die aus den beiden hervorgehen, zum Trotze sich durchsetzt. Und dies eben ist es, wodurch die Stärke der Persönlichkeit sich bewährt, die gleichwohl noch willigere Anerkennungen findet, wenn sie sozusagen in höherem Grade als natürlich und von selbst verständlich erscheint, also für den Zuschauer um so näher liegt, der nicht erst der M ü h e sich unterziehen muß, die das Ungewohnte und als unnatürlich Empfundene immer verursacht, um erkannt und verstanden zu werden. 3. Wenn wir endlich einen Blick in das wesentlich intellektuelle und moralische Gebiet werfen, so finden wir, daß hier die eigentliche Sphäre jenes Individualismus, jener starken Persönlichkeit sich ausprägt. Diese zeichnet wie durch einen klaren und produktiven Geist, so durch einen starken Willen sich aus. Der produktive Geist ist an und für sich eine nicht seltene Erscheinung, aber er ist oft von jener Beschaffenheit, die der Herrschaft eines ernsten und kräftigen Willens ermangelt, obschon sie dessen, und zwar ganz besonders bedarf. Die Begabung solcher Naturen hat oft ein genialisches Wesen in sich: sie ist da auf dem Gebiete der Kunst zuhause, besonders solcher Kunst, die eine lebhafte Phantasie und ein starkes Fühlen in Anspruch nimmt, aber auch fördert und anregt, wie die Musik und die Poesie. Dennoch fehlt es solchen Talenten oft an der großen Leistung. Zur Komposition, nicht nur im Musikalischen, sondern im künstlerischen Sinne überhaupt, gehört auch ein andersgearteter Verstand, und dieser ist wiederum mehr als die künstlerische Fähigkeit an und für sich auf Willen und Tatkraft angewiesen. So kann man sogar sagen, daß die Fähigkeiten der einen Art und der andern einander

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Blütezeit der Künste in Italien,

hemmen und nicht leicht sich vereinen. Darauf beruht die große Seltenheit des fruchtbaren künstlerischen Geistes, eben des Genies, obwohl je für sich die Fähigkeiten der einen wie der andern Art ziemlich häufig vorkommen. Die einen sind mehr für begabte Frauen, die anderen mehr für begabte Männer charakteristisch. So unterscheiden sich auch die Zeitalter.

§ 35. Die großen

Leistungen

in Kunst und

Wissenschaft

Das Mittelalter ist eine Zeit vorwaltender Phantasie, die vorzugsweise im religiösen Glauben und Dichten sich auslebte. Es war auch eine Zeit wohlgedeihender, ja blühender Künste; aber sie erreichte sehr selten die Höhe der Vollendung, wenngleich sie dieser fortwährend näher kam. In der Neuzeit, die durch das Emporkommen der Wissenschaften sich auszeichnet, tritt auch die Begabung für ein starkes Denken häufiger auf und mit ihr das individualistische persönliche Wollen. So darf man erwarten, daß beim Zusammentreffen der Zeitalter die höchsten künstlerischen Leistungen, die großen Genies am meisten Chancen für sich haben; diese Erwartung wird durch die historische Erfahrung bestätigt. Die große Blütezeit der bildenden Künste liegt in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters, in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit: sie geht als ein Erbe der mittelalterlichen Kultur in die moderne hinüber. Poesie und Musik haben zwar in allen Zeitaltern der Liebe und Pflege sich erfreut. Aber die großen und edlen Werke, denen man ihre Unsterblichkeit weissagt, drängen sich zumeist auch in eine verhältnismäßig kurze Folge von Jahrhunderten oder gar nur von Jahrzehnten zusammen; und die Bedingungen für ihre Entstehung und ihr Wachstum sind in jedem Menschenalter, in jedem Lande verschieden, trotz der gegenseitigen Förderung und Befruchtung. In Italien hatte, was man die Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften nannte, ihre erste Heimstätte schon in früher Zeit, die wir gewohnt sind, dem Mittelalter zuzurechnen, also im 13. und 14. Jahrhundert; und bald hat dieser Geist den anderen romanischen Nationen, dann auch England und den germanischen Ländern sich mitgeteilt. So finden wir zuerst in Italien so große Genies wie Lionardo, wie Michel Angelo, Raffael, Bramante; aber noch erstaunlicher den poetischen Verklärer der mittelalterlichen Weltanschauung im Dante Alli33 Bramante

— im Original (Tönnies 1 9 3 5 a : 81) steht „Brabante", vielleicht ein bis zuletzt

unkorrigierter Hörfehler beim Diktat.

Spanien, Frankreich, England und Deutschland

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ghieri. Auch in Spanien große Maler und Dichter, wie Velasquez, Murillo, Greco; Meister des Baustils und der Plastik; ferner eine glänzende Dichtung in der castilischen Literatur vom 16. Jahrhundert ab, mit dramatischen Dichtern, wie Lope de Vega (1562—1635) und Calderon (1600—1681). Von Spanien wie von Italien aus wurde die Entwicklung Frankreichs fortwährend angeregt, und hier fand diese zwiefache Saat einen fruchtbaren Boden, indem gerade in Frankreich die Begabungen beider Arten häufig sind und vielfach zusammenwirken, wenn auch die höchste Gestaltung beider um so seltener vorkommt. Ganz anders liegen die Bedingungen bei den Inselvölkern, Großbritannien und Irland. Früh entwickelt war die kleine Insel der keltischen Kultur, die dem Christent u m eine, man darf sagen begeisterte A u f n a h m e gewährte. Sie ist später durch den so viel größeren und mächtigeren Nachbarn in ihrer Entwicklung stark beeinträchtigt worden, und ihr geistiges Leben mußte notgedrungen an dasjenige des großen Nachbarn, der sich niemals brüderlich zu ihr verhielt, sich anlehnen. Das Gebiet seiner großen Leistung hat insbesondere England in der dramatischen Dichtung gefunden: der N a m e Shakespeare (ca. 1564—1616) überschattet viele andere N a m e n der Literatur, und er steht nicht allein, sondern er ragt noch unter manchen Größen bedeutender, auch dramatischer Dichter, mächtig hervor. — Daß Deutschland durch die politische Verbindung mit Italien auch geistig dem römischen Einfluß immer seine Pforten geöffnet hielt, trat f r ü h auch in der künstlerischen Wirkung zutage: die allgemeine Gesittung und mit ihr die Kunst erreicht schon im Mittelalter eine Blütezeit, aber die Zeiten des Überganges, der Gärung und Vermischung, nahmen noch mehr als in den anderen großen Ländern durch die Krise der religiösen Interessen und die Wirrsale, die von hier aus das ganze öffentliche, auch das Staatsleben ergriffen, mehr noch als in Frankreich und in England, die Geister gefangen, zum Schaden der edleren Kultur und ihrer freieren und moderneren Art. Erst im 18. Jahrhundert erfüllt sich hier die Glanzzeit, die das deutsche Volk den anderen europäischen Nationen als das Volk der Denker und Dichter voranleuchten ließ, einen Kant, einen Goethe, einen Lessing und einen Schiller hervorbrachte: in denen diese Vermählung sonst vielfach einander ausschließender Anlagen teils mit einem Übergewicht des denkerischen, teils einem solchen des dichterischen Wesens sich offenbart hat. Und zu gleicher Zeit fand auch die Musik, in der schon immer der deutsche Geist den Spuren des italienischen folgte, eine sonst k a u m erreichte Ausbildung; so daß sie durchaus in allen Gestalten zu den Künsten gehört, die zum Ruhme der deutschen

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Musiker in Deutschland

Gesittung gehörten und auch ins 19. Jahrhundert und darüber hinaus über den Erdball hin sich verbreiteten und wesentlich dazu beitrugen, daß diese neueste Zeit nicht ausschließlich mit dem Genüsse ihrer größten Leistungen im Gebiet der Wissenschaften und der Technik sich begnügt, sondern auch den freien Künsten die diesen gebührenden vor- 5 nehmen Plätze gewahrt hat. Auch hier sind die großen Leistungen, sei es auf dem Gebiete der Kunst oder der Wissenschaft, bedingt durch ein Zusammenwirken von Verstand und Phantasie, von Gedanken und Gefühlen, und das bedeutet durch starke Persönlichkeiten, die in der Entwicklung des Individualis- 10 mus beruhen und auch, wenn dieser ein sonst für schädlich gehaltenes Übergewicht gewinnt, noch wachsen und gedeihen können.

Dritter Abschnitt

Die Neuzeit als Revolution

§ 36. Begriff der

Revolution

Wenn wir allgemein die Erkenntnis, daß die Neuzeit die mittelalterliche Entwicklung des sozialen Lebens nicht nur fortsetzt, sondern auch zerstört, um diesem eine neue Gestalt zu geben, an den Begriff der „Revolution" heften, so ergibt sich die Notwendigkeit, einen soziologischen Begriff der Revolution zu bilden, und in unsere Darstellung zu übertragen. — Im naturwissenschaftlichen Sinne ist alle Revolution nur ein besonderer Fall der Evolution, der positiven oder der negativen, wenn jene als eigentliche Evolution, diese als Dissolution unterschieden wird. — Hier richtet sich der Begriff nicht nach dem vorwaltenden Gebrauch der politischen Terminologie, wo Revolution eine gewaltsame Veränderung der bisher rechtmäßig bestehenden Staatsform, also Vernichtung eines geltenden und Schaffung eines neuen Staats-Rechtes, eine Umwälzung der Verfassung bedeutet, die bisher als Recht gegolten hat. Denn es ist uns daran gelegen, die Gleichartigkeit und den Zusammenhang dieser politischen mit den Revolutionen auf anderen Gebieten zu erkennen und zu betrachten. So merkwürdig auch für die gegenwärtige Ansicht jene politischen Ereignisse, ob sie in wilden Kämpfen, ja Bürgerkriegen oder ohne Blutvergießen verlaufen, in Wahrheit sind, so soll doch hier als wahre Revolution und Revolution im allgemeineren Sinne kein einzelnes Ereignis, auch keine nahe Folge vollendeter Ereignisse verstanden werden, sondern ein allmählicher und langwieriger Prozeß, der durch Jahrhunderte sich fortsetzt und als neuzeitlicher Prozeß auch heute noch nicht vollendet ist, da wir vielmehr mitten in ihm stehen. Dieser Prozeß ist nicht nur, und nicht einmal in erster Linie, sondern er ist zugleich und im Grund des politischen Prozesses „sozial", d. h. wesentlich ökonomisch, und ist endlich auf ausgezeichnete Art geistig-moralisch, also in einer Sphäre sich bewegend, die man füglich als die höhere den beiden anderen gegenüber vorstellen mag. In diesem dreifachen Aspekt wollen wir ihn verstehen. Die Frage wirft sich auf: was wir als das Gemeinsame auffassen, das in diesen drei Prozessen zutage trete. — Offenbar ist es eine tiefgehende Veränderung der „Struktur" jedes Gebietes, ein Umbau, an dem zunächst die Zerstörung, das Niederreißen, der Abbau betrachtet werden muß —

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Abbau, Neubau — Zerstörung von Inhalt und Form

dies alles kann aber mehr oder weniger tief gehen, mehr oder weniger vollständig sein. Sogleich aber muß die Betrachtung des „Neubaus" sich anschließen, der wahrscheinlich zum größten Teile aus den Materialien des früheren, also vielleicht aus Trümmern gemacht werden muß, und wirklich — gemäß der Regel des kleinsten Kraftmaßes — gemacht wird. — In der Tat darf vorausgesetzt werden, daß es in jedem der drei Gebiete eine ursprüngliche Ordnung gibt, die auf bestimmten Tatsachen beruhte; die durch Gewohnheit und Überlieferung befestigt war, die für richtig und notwendig gehalten, an die also geglaubt wurde. Der Bruch mit dieser Ordnung wird am meisten offenbar auf dem politischen Gebiete, wodurch es am einfachsten sich erklärt, daß der Name „Revolution" sich daran geheftet hat. Denn hier gibt es die große Sphäre dessen was gilt, im Unterschiede von dem was ist: die Verschiedenheit dessen, was de jure geschehen und gehalten werden soll, gegenüber dem, was tatsächlich, de facto, geschieht, in offenbarster Weise. Die Annäherung zwischen beiden, die bis zur Verschmelzung gehen kann, beruht darin, daß man sich nach dem richtet, was rechtens ist, also absichtlich das tatsächliche dem geltenden Rechte, oder was dafür erkannt wird, unterwirft. Hier wird als „Recht" alles, was in irgendeinem Sinne für irgendeinen Kreis, irgendeinen Verband Geltung hat, verstanden, mithin in der Regel, solange es als geltend anerkannt und auch befolgt wird. Auch dann unterliegt es immer einem verschiedenen Verständnis, einer verschiedenen Deutung, daher möglicherweise einer so freien Deutung, daß sie einer Veränderung gleichkommt. Aber diese etwaige Umdeutung kann so geschehen, daß die Substanz des Geltenden erhalten bleibt, und diese Erhaltung wird beflissen sein, wenigstens die Form zu wahren, also sorgfältig und behutsam deren Verletzung vermeiden und ausschließen, so daß auch die Sache noch zu bestehen scheint, ja wirklich besteht, sofern sie mit der Form gleichgesetzt oder als in ihr enthalten gedacht wird. Der revolutionäre Wille geht absichtlich auf Zerstörung von Inhalt und Form. Er will nicht das Alte. Er will ein Neues, in der Meinung und Überzeugung, daß dieses Neue das Bessere, Richtigere, Heilsamere, Zweckmäßigere sei, und will diese Eigenschaften durch den Erfolg beweisen. Auf ökonomischem Gebiete macht der revolutionäre Wille sich deutlich als Kürwille geltend, d. i. als der kommerzielle Wille, der auf den Zweck des Gewinnes gerichtet ist und diesem Streben alle übrigen Hand14 was de jure geschehen facto,

— [lat.] de iure, svw. „von Rechts wegen"; gegenüber [lat.] de

svw. „in der Tat".

Überwindung des Geistes der Arbeit durch den des Handels

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lungen als Mittel dienstbar macht. Er bedeutet, daß der Geist des Handels das Übergewicht erlangt über den Geist der Arbeit, und dies ist am leichtesten möglich in dem Maße, als der Geist des Handels durch andere Personen repräsentiert wird als der Geist der Arbeit. Denn der Geist des Handels ist seinem Wesen nach Herr, weil er zielbewußt vorgeht, wie ein Feldherr als Stratege. Er will erobern: keine Festung, aber den Markt, einen bestimmten Markt oder viele Märkte. Ein ganzes System zweckmäßiger Handlungen muß er zu diesem Zwecke unternehmen. Wenn er Arbeit sich dienen lassen will, so muß er die Arbeit beherrschen: er muß sie nach seinem Willen ordnen und lenken, muß also den Arbeitern vorschreiben, was und wie sie es zu tun haben: daher wird der von diesem Geiste erfüllte Unternehmer sich leiten lassen durch das ökonomische Prinzip, mit möglichst geringem Aufwände von Kräften ein möglichst großes Ergebnis zu bewirken. Der Aufwand von Kräften bedeutet für ihn Kosten; die Kosten lösen sich auf in Ausgaben von Geldmitteln. Das Ergebnis aber ist das Ergebnis der Arbeit. Die Arbeit leistet der Voraussetzung nach nicht der Unternehmer, sondern der Arbeiter, der in der Regel eine erhebliche Anzahl von Menschenkräften mit in der Regel je zwei Händen und einem Gehirn bedeuten wird, und zwar die Kräfte vernünftiger Wesen, Menschenkräfte. Denkbar ist, daß ein einzelnes Individuum als Arbeiter etwa von einem einzelnen Individuum als Unternehmer in Anspruch genommen wird: Es kann z. B. ein Kaufmann einen Künstler oder Schriftsteller beschäftigen, um durch ihn ein Gut herstellen zu lassen, das der Kaufmann zu seinem Genüsse haben will, oder haben will, um es auf dem Markte zu verwerten, d. i. es möglichst bald, möglichst gut zu verkaufen. Aber dies wird ein seltener Fall sein; es ist nicht der Fall des Geschäftes. Das Geschäft verlangt einen großen Betrieb von einer gewissen Breite. Der Unterschied liegt schon im gewöhnlichen Handel, dem Vorzuge des Großhandels vor dem Kleinhandel: Kleinhandel — kleiner Gewinn, Großhandel — großer Gewinn; ebenso der Vorrang des großen vor dem kleinen Betriebe. Darum aber ist auch, wie der Großhandel im Vergleich mit dem Kleinhandel, so der Großbetrieb im Vergleich mit dem Kleinbetriebe ein viel schwierigeres, größere Intelligenz und Aufmerksamkeit, erhöhte Betriebsamkeit, ein größeres Hilfspersonal, auch für die leitenden Funktionen, in Anspruch nehmend, also auch für die höchste und zuletzt entscheidende Leistung eine überlegene Intelligenz, und zwar eine Intelligenz von der bezeichneten Art, die dem 33 schwierigeres — gemäß Tönnies' Handexemplar (vgl. hs. Vermerk S. [218]) korrigierter Druckfehler (1935a: 88: „geschwierigeres").

100

Der Großbetrieb und seine Leitung — Ursprung und

Kaufmann großen Stiles mit dem Feldherrn großen Stiles gemeinsam sein muß. — Mit dem Wachsen des Betriebes wächst nicht nur die Arbeit, sondern auch die Menge des Apparates wie des Stoffes, den die Arbeiter zu verarbeiten haben. Sie müssen alle der Arbeit, zu der sie angestellt werden, fähig sein, auch wenn ihre Fähigkeit etwa nur in Muskelkräften besteht; sie müssen aber auch zu der Arbeit willig sein, also auch ein gewisses Maß von Intelligenz besitzen, um ihre Fähigkeit, welche immer es sei, anzuwenden, und zwar so anzuwenden, wie es dem vorgeschriebenen Zwecke gemäß ist oder dafür gehalten wird. Unter allen Umständen wird also notwendig sein, diesen Willen hervorzubringen und seiner sicher zu sein. Um seiner sicher zu sein, muß er immer erneuert, muß er genährt werden. In diesem Sinne wirkt die Bezahlung, wirkt der Lohn, und was etwa sonst an günstigen Bedingungen und Reizmitteln der Arbeit geboten wird. Die industrielle Arbeit, und möglicherweise auch die landwirtschaftliche, gewinnt so eine gewisse Ähnlichkeit mit der Arbeit unfreier Arbeitskräfte, die um so leichter zusammengeschart und unter ein Kommando gestellt werden, da ihr eigener freier Wille wenigstens insofern nicht in Frage kommt, als er für einen gemeinsamen Willen — eine Verständigung über die Bedingungen der Arbeit — nicht sich geltend machen kann, also nur durch Unterwerfung oder durch Empörung zur Äußerung gelangt; und im Vergleich mit einem solchen System wird man das kapitalistische System mit freien Arbeitern kaum mit gutem Grunde als revolutionär bezeichnen, sondern wird beide zusammen nur als Verneinungen einer natürlichen und gemeinschaftlichen Art der Zusammenarbeit verstehen dürfen. — Es ist aber nicht sowohl der revolutionäre Wille einzelner Personen, wie es wenigstens zum guten Teile im politischen Leben der Fall ist, sondern die revolutionären Faktoren liegen hier überwiegend jenseits des einzelnen Beliebens, und in diesem Sinne sprechen wir vom Geist des Handels als einer überlegenen Macht, die umgestaltend wirkt. Und dieser Geist des Handels ist im Völkerleben früh entwickelt, aber zunächst nur in verhältnismäßig wenigen Individuen wirksam, die oft durch äußere Umstände, z. B. als Fremde, und weil ihnen andere Berufstätigkeiten nicht offen stehen, darauf angewiesen sind, durch die Handelstätigkeit sich möglich und sogar sich nützlich zu machen. Sonst entwickelt sich die Handelstätigkeit auch leicht und schnell in Verbindung mit einer reifenden Intelligenz, aber auf Grund einer älteren Kultur, während eine junge Kultur noch durchaus nach ihm Verlangen trägt und sich durch ihn gehoben fühlt. Das bedeutet aber noch lange nicht, daß der Handelsgeist das beherrschende Element des

Entwicklung des Handelsgeistes — Technik — Arbeiterbewegung

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wirtschaftlichen Lebens wird. Vielmehr stehen dem sehr viele Hemmungen entgegen; Hemmungen der Gefühle und Gesinnungen, vorzüglich aber die der bestehenden Einrichtungen, der Überlieferungen, Sitten und Gesetze, in Verbindung damit auch solcher der Religion, wie sie in dem jüdischen und später kanonischen Verbot des Zinsennehmens als einer strafbaren Handlung, also einer schweren „Sünde", zutage tritt. Erst eine späte Zeit, die vorzugsweise auf Nutzen und Zweckmäßigkeit erpicht ist, überwindet alle solche Vorurteile und sieht im Händler, wenn aus ihm ein vorausblickender, unternehmender, reicher Kaufmann oder Fabrikherr oder der Führer eines landwirtschaftlichen Großbetriebes geworden ist, in erster Linie den Mann, der Arbeit „gibt", und vielen als Käufer, vielleicht sogar als Verschwender, durch ein üppiges Leben und großen Verzehr willkommen ist, weil er viele Elemente in Bewegung setzt, teils schon als Verzehrer oder Konsument zum Behufe seiner persönlichen Bedienung und Annehmlichkeit, teils als Käufer vieler und kostbarer Gegenstände, durch deren Herstellung und Verkauf schon der selbständige Handwerker, der etwa in einer kleinen Werkstatt mit Gesellen und Lehrlingen tätig ist, ein wohlhabender Mann werden kann. — Die Größe und umwälzende Kraft des Handels, also des Kapitals, ist wesentlich bedingt durch die vermehrte Produktivität der Arbeit, und diese wiederum durch die veränderte Technik, die ihrerseits unter dem Einfluß der Wissenschaft leicht von einer revolutionären Tendenz erfaßt wird. Diese Umwälzung der Technik ist in epochemachender Weise bisher hauptsächlich in der Industrie hervorgetreten. Sie hat die große Industrie und die Fabrikation geschaffen, sie hat auch als Gegenwirkung die Arbeiterbewegung in allen Ländern Europas und der anderen Erdteile, wenn auch in verschiedener Intensität, als Gegenbewegung hervorgerufen — eine Gegenbewegung, die oft als Klassenkampf beschrieben wird, obschon sie durchaus nicht notwendig in Bürgerkriege ausläuft, wie solche in hohem Grade, besonders in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit, die Folge der religiösen Parteikämpfe gewesen sind. Und schon in viel früherer Zeit sind sie dem Dichter Lucretius Carus wohl bekannt gewesen, wenn er im Eingange seines großen Lehrgedichtes unter Berufung auf Homer ausruft „tantum religio potuit suadere malorum". Vielmehr 35 tantum

religio

potuit

suadere

malorum

— [lat.] svw. „Sehr, so, vermochte der Aber-

glaube zum Unheil zu raten." Titus Lucretius Carus, De rerum natura, 1,101, verfasst bis —55; in Tönnies' Jugend war Lukrez' „Die Natur der Dinge" noch gymnasialer Lehrstoff.

102

Religion und Wissenschaft

hat die Arbeiterbewegung bisher, trotz mancher Exzesse und Roheiten, die ihr zur Last fallen, doch einen weit überwiegend friedlichen Charakter gehabt und bewiesen, einen Charakter, teils von ökonomischer Art, der sich im Streit um die Arbeitsbedingungen äußert, und schlimmstenfalls in großen Ausständen den gegnerischen Willen zu brechen versucht; teils im politischen Leben, wo die Möglichkeit, an der Gesetzgebung mitzuwirken, ein großes Moment der Beruhigung in sich trägt; teils endlich auch im geistigen Leben, w o die Möglichkeit des freien Disputierens in Rede und Schrift ebenso wirkt, und wie auf anderen Gebieten auch, die feindlich entgegengesetzten Meinungen auszugleichen wirksam werden kann — um hierbei noch abzusehen von tiefergehenden moralischgeistigen Wirkungen, an denen etwa auch ein religiöses Bewußtsein beteiligt ist, das seiner Natur nach gern mit friedlicher Gesinnung sich verbindet, ja erfüllt. Der Unterschied der Revolution von aller Evolution ist auch im Gebiete des Geisteslebens offenbar der, daß an die Stelle einer friedlichen und ruhigen Entwicklung das Neue mit unbedingter Verneinung des Alten auftritt. In diesem Sinne sind auch die Neuerungen der Religion zu verstehen, selbst wenn sie ihren Charakter als revolutionäre Neuerungen nicht von außen her empfangen, weil eben der von ihnen angegriffene Körper sie nicht dulden will, sondern mit schroffer Ablehnung reagiert und weil durch diese Ablehnung eine kämpferische Stellung aufgenötigt wird. Dies gehört wesentlich zum Charakter der ungeheuren Kämpfe zwischen Kirche und Ketzerei, von denen die ersten Jahrhunderte der Neuzeit erfüllt sind. Weit friedlicher, doch nicht minder heftig, sind in der Folge die Kämpfe gewesen, die zusammen oft als Kampf zwischen Religion und Wissenschaft angesprochen werden. Man kann auch von dem Kampfe zwischen religiöser und unreligiöser oder sogar antireligiöser Philosophie sprechen, ohne daß bisher deutliche Spuren einer neuen religiösen Bewegung hervorgetreten sind. Es darf aber vermutet werden, daß solche stärker werden, und Spuren davon sind allerdings in mehreren Ländern deutlich wahrnehmbar.

Erstes Kapitel

Die Revolution im ökonomischen Gebiet

§ 37.

Allgemeines

Im ökonomischen Gebiet gibt es eine ursprüngliche Ordnung des häuslichen, des dörflichen und des städtischen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens, darin bestehend, daß diese Ordnung jedem das Seine gibt und aufgibt: die Hausgemeinschaft, die Dorfgemeinschaft, die Stadtgemeinschaft als Hauswirtschaft, Dorfwirtschaft, Stadtwirtschaft, die ihre Einheit in einem Gemeinwesen, Lande oder Reiche als dem Gebiete haben, das durch ein Volk und in dessen Namen durch seine Gebieter mit Gewalt beschirmt wird. — Das isolierte Haus und der um dasselbe gelagerte Hof bezeichnet insbesondere den Herrenstand, der in Fronhöfen, Fürstenhöfen, Herrenhäusern, Schlössern und Palästen, Klöstern und Stiften, seine Wohnsitze hat. Dazu kommen auch genossenschaftlich zusammenhängende unabhängige Grundbesitzer, Ritter und Bauern. Haus, Dorf und Stadt sind wirkliche Subjekte ihrer Wirtschaften, und so können sie im Wechsel von Generationen als bleibende Substanz erscheinen, darum jede als Urheber und Träger eines gemeinschaftlichen Zusammenlebens ihrer Glieder. Das Wesen jeder solchen Wirtschaft wird durch das Wesen des Hauses, wonach auch die Ökonomie und die Haushaltung benannt werden, am deutlichsten ausgesprochen. Die vollkommene Haushaltung genügt sich selber: sie bringt alles hervor, was ihre Mitglieder brauchen und gebrauchen, diese leben durch sie, weil sie von ihr ernährt werden. Ihre Vorsteher, im einfachen Falle der Hausvater und die Hausfrau, verwalten und pflegen die gemeinsamen Güter, verteilen die zum Genüsse bestimmten Erträge unter die abhängigen und dienenden Glieder, die also auch ihren besonderen Besitz zum Behufe des Genusses und Gebrauches, abgeleitet von gemeinsamem Eigentum, empfangen. Es geht den Begriff nicht unmittelbar an, ob dieser Typus der Ökonomie irgendwann und irgendwo in reiner Darstellung verwirklicht ist. Ihm mehr oder minder nahe kommen massenhafte Erscheinungen, historische sowohl als gegenwärtige, wenngleich sie in

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Theorie der Wirtschaftsstufen

Westeuropa heute selten geworden sind. K. Bücher und andere haben nach Rodbertus von einer Periode der geschlossenen Hauswirtschaft gesprochen, die durch „reine Eigenproduktion und tauschlose Wirtschaft" bezeichnet werde. Es wird als Tatsache behauptet, daß der Tausch ursprünglich „ganz unbekannt gewesen sei" und — im Gegensatz zu einer bekannten Lehre des Adam Smith steht die Meinung, der primitive Mensch habe vielmehr eine Abneigung gegen das Tauschen. Diese Meinung ist schwach begründet. Wenn an die Stelle des Wortes Tausch das Wort Handel gesetzt wird, so darf sie allerdings als begründet gelten. Die Verwechslung von Tausch und Handel ist Ursache vieler Irrtümer, da sie weit verbreitet ist und oft unerkannt bleibt. Nicht nur, wer gelegentlich ein Produkt seiner Haushaltung gegen das eines Nachbarn oder auch eines Fremden tauscht, sondern sogar wer auf öffentlichem Markte und zu festgesetzten Zeiten regelmäßig Produkte seiner Haushaltung feilhält, ist darum noch kein Händler, sondern erst der als „Kaufmann" Gegenstände feilhält, die er nicht hervorgebracht, sondern für diesen Zweck käuflich erworben oder sonst angeschafft hatte. Rodbertus hatte den Kern der antiken, speziell der griechischen Volkswirtschaft, in der Beharrung des Oikos zu erkennen gemeint, des Fronhofes, der grundsätzlich nicht kaufe, sondern alles in sich selber entstehen lasse, also in sich selbst genügend sei (autarkisch). Es war offenbar auch im Altertum die vornehme Haushaltung, die am ehesten solcher Idee entsprochen hat. Bücher hat mit Rodbertus die Allgemeinheit dieser sozialen Wurzelbildung über die ihr allerdings zukommende Bedeutung in der sozialen Gesamtentwicklung hinaus gesteigert. Immerhin bleibt sogar heute noch manche ländliche Haushaltung nicht sehr weit von diesem ideellen Typus entfernt; wenigstens ihm näher als in der Regel die städtische Haushaltung. In manchen Gebieten sind auf dem Lande, zumal in abgelegenen Bezirken, wie auf Inseln, die Entfernungen von jenen Typen erst im Laufe der jüngsten drei Menschenalter stark erweitert worden. Bis dahin waren die Haushaltungen noch oft anzutreffen, die nicht nur ihr Korn selber bauten, ihr Vieh züchteten und aufzogen, sondern auch das Korn mit der Handmühle mahlten oder in eigener Mühle mahlen ließen, die ihr eigenes Brot buken, und ihre Rinder und Schafe, Schweine, Gänse und Hühner selber einschlachteten, die sich Bier und Met brauten oder die Frucht der selbst gebauten Rebe kelterten; die ihren Flachs rösteten, darrten und hechelten, und an langen Winterabenden den Flachs oder 19 Oikos — [gr. OIKOS], svw. „Haus(wesen)"

Wandlung der Haushaltung

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die Wolle der eigenen Schafe spannen; die aus dem gesponnenen Garn ihre Hemden, Laken und Tücher woben, die Gewänder schnitten und nähten; in denen die Axt des Hauses den Zimmermann ersparte, und wo man wohl mit dem Messer die eigenen Schränke und Truhen, sogar die Zimmerwände schnitzte und zierte. Von dieser Art waren bäuerliche, noch eher aber herrschaftliche und klösterliche Haushaltungen, in denen auch eine Teilung der Arbeit sich entwickelt, so daß sie ihren eigenen Zimmermann, Bierbauer, Bäcker und so weiter ausbilden und halten, die dann als gesonderte Organe und Teile im Organismus einer solchen Haushaltung betrachtet werden dürfen. — Heute sind nur noch mehr oder minder bedeutende Reste solchen Hauswesens auch in den Städten vorhanden. Die Bereitung der Speisen wird mit wenigen Ausnahmen, selten diejenige einiger Getränke und anderer Vorräte, noch am eigenen Herd oder wenigstens mit eigenem Kochapparat, in eigenen Gefäßen, vorgenommen, wenngleich in Großstädten zumeist nicht mehr für Festmahle. Viel häufiger ist, wenigstens für größere Haushaltungen, das außerhäusliche Waschen der eigenen Wäsche. In kleinen Städten bringt, wie auf dem Lande, auch der eigene Garten Gemüse, Obst, Blumen hervor, ja sogar viele großstädtische Hausfrauen bereiten selbst ihre Säfte und andere Konserven, ziehen Blumen im Zimmer und auf den Baikonen. Freilich sind dies Überbleibsel, die man als kümmerliche Reste bezeichnen mag. Die Abstände zwischen der am meisten produktiven und der am wenigsten produktiven — der sterilsten — Haushaltung bezeichnen zugleich den Gang der Entwicklung.

§ 38. Revolution

der

Dorfgemeinde

Der allgemeine Begriff der Ökonomie umfaßt auch die Haushaltungen größerer Gemeinden als der Hausgemeinde. Auch die echte Dorfgemeinde muß als eine Haushaltung begriffen werden, obschon ihr Leben wesentlich in den getrennten Haushaltungen der Gemeindegenossen sich darstellt; sie ist ein Haushaltungskörper, insofern, als diese Einzelhaushaltungen ihre Glieder sind; sie sind ihre Glieder, sofern sie an der gemeinen Mark teilhaben und die Ackerflur nach gemeinsamem Plane bewirtschaftet wird. „Die mittelalterliche Dorfgemeinde war auf die gemein33 „Die mittelalterliche

Dorfgemeinde

[...]", K[arl Ludwig Theodor] Brater, Gemeinde,

in: J . C. Bluntschli u. ders., Deutsches Staats-Wörterbuch, 4. Bd., Stuttgart/Leipzig 1859: 115.

106

Von Real- zu Personalgemeinde

schaftliche Nutzung der Almenden und auf die auch in Ansehung der Privatgüter bestehende Flurgemeinschaft begründet" (Brater im Staatswörterbuch Bd. IV). Die Almenden sind (nach Bücher, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 3. Aufl., Bd. I), wo sie heute noch vorkommen, fast immer Reste der alten gemeinen Mark, die der Aufteilung in Sondereigentum entgangen sind, in einer den veränderten Zeitverhältnissen entsprechend geregelten Benutzung. Sie umfassen nach demselben Gewährsmann: 1. Waldungen, deren Ertrag ganz oder zum Teil den Berechtigten als Brennholz, Bauholz usw. abgegeben wird, 2. ewige Weiden, hauptsächlich in den Alpengegenden, 3. Streuländereien, die zur Gewinnung von Viehstroh verlost zu werden pflegen, 4. Ackerland und offene Gemüsegärten, zuweilen auch Weingärten und Obstgärten, die zu lebenslänglicher oder temporärer Nutzung aufgeteilt werden, 5. künstliche Wiesen in der Ebene und Matten zur Heuwerbung in den Gebirgstälern, die entweder geteilt oder gemeinsam abgeerntet werden. In der Schweiz hat sich besonders in den Gebirgskantonen die „Alm" in großer Kraft erhalten, wie denn vielfach die gemeine Mark noch in deutlicher Gestalt vorhanden ist. Infolgedessen hat sich dort ein Gegensatz zwischen der Nutzungsgemeinde oder Realgemeinde und der politischen Gemeinde ausgebildet, der auch sonst für die Entwicklung der sozialen Bedeutung der Dorfgemeinden bezeichnend ist, indem in ihr der Charakter der Realgemeinde mehr und mehr erloschen ist und die bloße Personalgemeinde das Ergebnis der neueren gesellschaftlichen Entwicklung darstellt. In vollem Leben wird die Dorfgemeinde noch in einem großen Teile der Kulturwelt beobachtet. Ihre Verfassung gilt mit gutem Grunde als indogermanisch, wenngleich sie nicht in erheblicher Verschiedenheit auch bei den Völkern der anderen Sprachstämme, die zumeist auch anderer Abstammung sind, begegnet. Sir Henry Maine hat der Dorfgemeinde „im Osten und Westen" ein geistvolles Buch gewidmet, das hauptsächlich auf Vergleichung der teutonischen und der indischen Dorfgemeinde beruht. Er beschreibt die teutonische Gemeinde als das Ganze einer Anzahl von Familien, die in einem Eigentumsverhältnis zu einem Gebiet stehen, das in drei Teile geteilt ist: 1. die Mark des eigentlichen Dorfes, 3 nach

Bücher,

d. h. K[arl] Bücher, Allmenden, in: H a n d w ö r t e r b u c h der Staatswissen-

schaften, 3. Aufl., Bd. 1, Jena 1909: 4 0 2 - 4 1 2 . 28 Sir Henry London

[1

Maine-. Henry Sumner Maine, Village-Communities in the East and West, ' l 8 7 1 . Tönnies übersetzt „teutonisch" zu wörtlich: Wenn Maine (zuerst S. 9,

am Beispiel der Schweiz; wie auch andere) von Teutonic (da German

„deutsch" hieße).

spricht, meint er „germanisch"

Teutonische und indische Dorfgemeinde — Stadt und Tausch

107

2. die „gemeine Mark" von unkultiviertem Lande und 3. die unter dem Pflug befindliche oder kultivierte Mark. Er stellt dann dar, wie die Rechte der Familie an der einzelnen Mark durch die Rechte jeder anderen Familie kontrolliert oder modifiziert werden und wie in der Ausscheidung der bebauten Mark aus der gemeinen Mark der Anfang des individuellen oder Privateigentums am Grund und Boden zu erkennen sei. Er hält es aber auch für erwiesen, daß, wie noch vor einem Menschenalter in Großrußland und anderen slawischen Ländern sich beobachten ließ, ursprünglich ein Wechsel der Nutzungsrechte am Acker stattgefunden hat, also periodische neue Aufteilung. Von diesem unvollkommenen Privateigentum auch am Acker hat er in Indien lebendige Erinnerungen, teilweise auch Reste angetroffen. Er fand dort denselben auffallenden Kontrast zwischen der Unabhängigkeit des freien Hausvaters in seinem Heim und in dessen Zubehör, gegenüber seiner vollkommenen Unterwerfung unter die Regel der Gewohnheit, wenn er den Acker baut oder seine Schafe oder anderes Vieh in der gemeinen Mark weidet. Eine dementsprechende Schilderung der Dorfgenossenschaft und des Flurrechts auf deutschem Boden finden wir auch bei Buchenberger und anderen deutschen Autoren.

§ 39. Revolution

der

Stadtgemeinde

Auch die Wirtschaft der Stadt ist in klassischen Zeiten dieses Gemeinwesens eine Gesamthaushaltung, die alle zu ihr gehörigen bürgerlichen Haushaltungen in sich schließt und von sich abhängig erhält. Ihre Entwicklung knüpft überall an die Dorfgemeinde an, weist aber auch darüber hinaus. Sobald sie aber den Bedarf ihrer Hauswirtschaften an Nahrungsmitteln und Stoffen nicht mehr zu decken vermag, ist sie zunächst auf die Überschüsse der benachbarten Landgebiete angewiesen und wird diese regelmäßig in der Form des Austausches erwerben. Es ist also prinzipiell nicht mehr eine selbstgenügsame oder Bedarfsdeckungswirtschaft vorhanden. Auch die „geschlossene" Hauswirtschaft und die Dorfwirtschaft sind kaum je vollständig, aber sie werden in der Regel die zum Leben notwendigen Produkte selber für sich beschaffen. Sie können auch in der Isolierung ihr Leben fristen. Die Stadt wird, je weniger sie das 17 Eine dementsprechende Schilderung der Dorfgenossenschaft — dazu: Adolf Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik, 1. Band, Leipzig 1892: 88 ff.

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Landherrschaft der Stadt — Stadt als vollendete Siedlung

Land entbehren kann, um so mehr nach Herrschaft über das Land — als ihr „Gebiet" — streben, um sich die Zufuhren zu sichern; diese Herrschaft schließt aber den Tauschverkehr nicht aus. Auch der Feudalherr strebt nach Herrschaft über die Bauern, nach Verfügung über ihre Leistung, weil er ihre Produkte nötig hat oder im Tausch verwerten will; er gewährt dafür Schutz und Wehr nach außen, aber auch Gericht, soweit es ihm zusteht, und Gewalt nach innen. Beides kann auch die Stadt gewähren, sofern ihr nicht der Feudalherr zuvorgekommen oder überlegen ist. Immer handelt es sich, soziologisch betrachtet, um eine Art der Arbeitsteilung oder doch der Funktionenteilung, wenn die Herrschertätigkeiten nicht als Arbeit im ökonomischen Sinne verstanden werden, so wenig als die Tätigkeiten des geistlichen Herrn, durch Gebet und Zauber für das Heil der Seelen zu sorgen und zu wirken. In der Tat wurde die Herrschaft von Städten, Klöstern, Schulen, insbesondere der hohen Schulen, die als Gemeinden Universitäten genannt wurden, rechtlich durchaus ebenso beurteilt, wie die Herrschaft anderer Grundherren. Die Stadt ist als wirtschaftlicher Organismus betrachtet ein höherer Organismus als die Dorfgemeinde; wie die Dorfgemeinde in dieser Hinsicht der Hauswirtschaft überlegen ist. Dies beruht darauf, daß die in der Stadt vorwaltende Arbeit eine verfeinerte, veredelte, mehr kunsthafte ist, als die des Ackerbaus, die ihrerseits über die okkupatorischen Tätigkeiten (Jagd, Fischerei usw.) emporragt. Bezeichnend für den Rang der Stadt in der Kultur und ihrer Geschichte ist es auch, daß sie in der Regel ein volkreicherer oder wenigstens dichter bevölkerter Ort ist und daß diese volkreicheren Orte überhaupt ebensoviel seltener sind, als die minder volkreichen Dörfer, vollends als die noch geringeren Siedlungen, wie es solcher Siedlungen überhaupt wenigere gibt, als einzelne Haushaltungen, die in der Regel innerhalb ihrer und innerhalb der Städte leben, während freilich einzelne als „Höfe" einen Rang behaupten — durch die Menge ihrer Teilnehmer, durch ihren Reichtum, ihre Bildung und vollends ihre herrschende Stellung, der sich dem Range bedeutender Städte ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen gegenüberstellt. — Die Stadt ist die vollendete Gestalt der Siedlung. Sie verändert sich vielfach in ihrem Wesen — worauf zurückzukommen sein wird — sie kann aber als soziales Wesen nicht übertroffen werden. In diesem Sinne lehrte Aristoteles, 35 In diesem Sinne lehrte Aristoteles — Tönnies erläutert, ohne es zu nennen, das Wort vom Menschen als £cöov ttoAitiköv (gr., Zöon politikön; svw. „das einer Polis gemäße Tier"), in: Aristoteles, „Über die Staatskunst" (rtoXiTiKct), I, 2 und III, 6 (viele Aufl.).

Das neue Gesicht der Stadt — City-Bildung

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daß der Mensch für die Polis geboren sei und in ihr selber seine Bestimmung erfülle: die des „Wohllebens", d. i. des tüchtigen und bedeutenden Zusammenlebens. § 40. Städte der

Neuzeit

In der Neuzeit haben die Städte nicht nur, wenn auch mit Unterbrechungen, sich vergrößert, die Zahl ihrer Einwohner vermehrt, sie haben auch durch ihre Verwaltung große Fortschritte gemacht. Die mittelalterliche Stadt war von Mauern umschlossen, ihre Gassen waren eng und k r u m m , sie trugen vielfach noch die Spuren ihrer ländlichen H e r k u n f t an sich. Lange meinte man nicht nötig zu haben, für die Gesundheit der gesunden Bewohner besondere Sorge zu tragen, wenn nur Schutz und Sicherheit gewährt ward; es erwies sich aber als durchaus nötig durch die Häufigkeit der Seuchen, und es wurde allmählich erkannt, daß eben die Enge und Abgeschlossenheit des Wohnens, der Mangel an Bewässerung, die vielfache N ä h e des Viehs, besonders der Schweine, nicht geringe Übel im Gefolge hatte. In allen diesen Beziehungen sind allmählich schon durch den Wegfall der Mauern, die vielfach zu Stätten heiterer Spaziergänge wurden, ferner aber durch mannigfache hygienische Maßregeln die Zustände der Städte, zumal der größeren, sehr verbessert worden; wenn auch die seelenlose Mietkaserne, in der oft auch die übelsten Wohnzustände herrschen, erst als Frucht der Neuzeit sich erhoben hat. Auch in diesen Wohnungszuständen ist immerhin eine wesentliche Verbesserung erkennbar, seitdem mehr und mehr durch Erleichterung, besonders Beschleunigung des Verkehrs eine Ausdehnung in die Peripherie der Städte ungeachtet größerer Entfernungen von der Werk- und Arbeitsstätte sich durchzusetzen vermocht hat. — Typisch für die neueste Gestalt der Großstadt ist die Ciiy-Bildung: daß mehr und mehr die innerste Stadt auf das Leben am Tage und an Werktagen sich beschränkt, während am Abend und f ü r den Sonntag — in England regelmäßig schon für den Sonnabendnachmittag und oft für ein ganzes Wochenende — die Werkstätten und Fabriken, noch mehr die Kontore und Büros, zum Teil auch die Läden, ihre tätigen Menschen strahlenförmig hinaussenden, so daß teilweise das Wohnen wieder einen mehr ländlichen Charakter annimmt. Diese Entwicklung hat sicherlich, wo sie gehörig zur Geltung kam, dem Städteleben viel von dem Dumpfen und Engen, von dem Getöse und dem Gewühl genommen, das freilich auch heute noch sein Inneres erfüllt; und es darf in dieser Hinsicht auch eine fernere Humanisie-

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Bedeutung der Städte in der Kulturgeschichte

rung erwartet werden. Indessen, wenn wir die große historische Rolle der Städte in der Kulturgeschichte betrachten, so hat diese ihre Stätte nicht mehr in der Neuzeit, so wenig als sie diese Rolle in der Antike, etwa von der Zeit des Hellenismus an, gespielt hat. Sie liegt in einer früheren Epoche: die Blüte von Kyd.-Athen und vieler seiner Pflanzstädte, auch anderer Städte, die ringsum an den Gestaden des Mittelmeers wie des Pontus gelagert waren, bezeichnet diese Blütezeit für die Antike. Auch sind die charakteristischen Höhepunkte der Stadtgemeinden in ihrer ökonomischen, politischen und geistigen Bedeutung nicht im Glänze der Neuzeit zu erkennen, sondern gehören dem so oft als finster beklagten und verklagten Mittelalter an. Von höchster Bedeutsamkeit ist in dieser Hinsicht die Freiheit und Selbständigkeit der Städte, die viele von ihnen zu erwerben und zu verteidigen vermochten. Vor allem in Oberitalien fanden sie diese glänzende Entfaltung und Darstellung auch als kämpfende Mächte; so daß eine solche bis in die Neuzeit hinein den Rang eines Staates, einer Republik neben den Monarchien, die mehr und mehr im geschichtlichen Leben den Ton angaben, behaupten konnte: Venedig. Mittelalterlich ist dagegen vor allem Florenz, aber schwächeren Lichtes ein ganzer Kranz der oberitalienischen Städte, von denen manche in den Leistungen ihrer Künste mit der schönen Stadt am Arno wetteifern konnte. Sie alle genossen eine große Freiheit in dem Maße, als das Imperium in seiner verjüngten Gestalt als Heiliges Römisches Reich schwächer wurde und seine Herrschaft, ja seinen Einfluß auf der ganzen Halbinsel — deren Hauptstadt sie blieb und politisch im 19. Jahrhundert wieder wurde — mehr und mehr einbüßte, wenn auch zum guten Teile einstweilen Österreich — gleichsam als die Krone des alten Reiches — in die Stelle einrückte. Eine gleiche Weltbedeutung haben die Stadtgemeinden im Rumpfe Europas nicht erlangt, aber auch sie, und zwar besonders die deutschen Reichsstädte, haben frühzeitig und lange Zeit hindurch als relativ freie Gemeinwesen ein stolzes und wehrfähiges Bürgertum entwickelt, dessen Reichtum, wenn auch zum großen Teile in einem mehr und mehr ausgedehnten Handel erworben, doch immer zugleich ein Reichtum der Stadtgemeinde blieb, die durch 5 Kyd.-Athen: Das Kürzel Kyd (als Platzhalter für eine dann nicht erfolgte Fahnenkorrektur einer dunklen MS-Stelle gedacht?) lässt sich sinnvoll weder auf die antike (nördlich der Akropolis belegene, stadthistorisch unauffällige) Athener Vorstadt (den Demos) Ku5a0rivaiov (Kydathenaion), noch auf küSos (kydos, Ruhm) o . a . zurück führen; andere Lesarten ließen sich nicht erschließen („kgl." z. B. würde den Satz unrichtig machen; fiele „Kyd.-" einfach fort, so würde der Satz unanfechtbar).

Die mittelalterliche Stadt als politisches Gemeinwesen

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Bürgermeister und Rat als durch ihr Organ nach innen und außen vertreten wurde. Es konnte nicht fehlen, daß in ihr die bestehende Vollbürgergemeinde mit der Zeit überall einen mehr oder minder aristokratischen Charakter annahm. Auch da, wo weder ein Ritterstand noch ein Altbürgertum vorhanden war, in den Städten, die gleich anfangs als Handelsplätze angelegt waren, wie Lübeck, Hamburg, Freiburg, bildete mit der Zeit aus den grundbesitzenden Großkaufleuten eine ganz ähnliche Vollbürgergemeinde sich aus (Gierke): ein Patriziertum als neuer Geburtsstand, der auch als Stand der Geschlechter sich bezeichnete. Allmählich aber wurden die geringeren Bürger, besonders die Handwerker, auch ihrerseits ein selbstbewußterer Stand, der mehr oder minder siegreich wurde und, mindestens in ihrer späteren Entwicklung, der Stadt deren rein städtischen, einheitlich bürgergenossenschaftlichen Charakter verlieh. „Was in der ältesten Genossenschaft nur geahnt wurde, kam hier zu klarem Bewußtsein: die Einheit in der Vielheit, das in allen lebende und zugleich doch über allen stehende gemeine Wesen." „Dies ist es, was die mittelalterliche Stadt als eine Erneuerung der antiken Polis sich darstellen läßt, so daß manche, wenn auch mit einiger Abschwächung, von sich hätte sagen können, was Perikles im Anfange des peloponnesischen Krieges als Athener von sich und seinen Mitbürgern rühmte: Wir fördern das Schöne ohne Verschwendung, wir pflegen Weisheit und Erkenntnis ohne Verweichlichung." — „In den Städten wurde die Scheidung des öffentlichen und des privaten Rechts und die Anerkennung der Einheit und Unveräußerlichkeit des öffentlichen Rechts zuerst vollzogen, wurde der Gedanke einer einheitlichen Gewalt und Verwaltung, eines alle gleichmäßig verbindenden Gesetzes, kurz eines Gemeinwesens oder

6 Freiburg — Die Nennung Freiburgs („i. Ü."?) wohl ein Druckfehler. Was gemeint, ist kaum erratbar: Frankfurt a. M., Augsburg, gar Bremen? „Freiburg i. Br." oder gar „a. d. E." entfallen. 20 „Wir fördern das Schöne ohne Verschwendung, wir pflegen Weisheit und Erkenntnis ohne Verweichlichung." Eine Übersetzung aus dem Lob des demokratischen Athens, das Thukydides dem Staatsmann Perikles bei dessen Rede auf die Toten des ersten Kriegsjahres in den Mund legt (Geschichte des Peloponnesischen Krieges, gr. Niederschrift bis zum Jahr —395, 11,45, viele Aufl.). — Das Anschlusszitat ist von Otto von Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Band 1 (Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft), Berlin 1868: 300—301. Der Urtext hat dort „Unveräußerlichkeit des ersteren", „Alle", „ e i g e n t ü m l i c h " , „[das] Finanzwesen der letzteren wurden geradezu nach dem Vorbild" und „die Selbstverwaltung sowie die hohe Idee" (demgemäß jetzt hier auf S. 112, Z . 5 Korrektur von 1935a: 99 „die auch" in „wie auch"). Eine stärkere Variante: Tönnies hat die Worte „Gemeinwesens oder" vor „Staates" eingefügt.

112

Kult u n d Religion der Stadt

Staates überhaupt zuerst in seiner eigentümlich deutschen Gestaltung erzeugt und erst von hier aus auf die landesherrlichen Territorien übertragen; Kriegs-, Polizei- und Finanzwesen der Territorien wurden nach dem Vorbild der städtischen Einrichtungen entwickelt; und die Selbstverwaltung, wie auch die hohe Idee der Korrespondenz von bürgerlichen Pflichten und bürgerlichen Rechten, welche wir heute im Staate zu verwirklichen, in der Gemeinde wiederherzustellen suchen, waren in den mittelalterlichen Städten für ihren engen Kreis als oberste Prinzipien anerkannt und oft vollkommen durchgeführt" (Gierke: Genossenschaftsrecht, Bd. I, S. 300). — In der Antike trug die Stadt auch ihre eigene Religion als den besonderen Kultus ihrer Gottheit, wie Athen den in der Pallas Athene, im Bewußtsein ihrer Pflichten: sie verehrte in dieser Gottheit nicht sowohl eine beliebige fremde und zufällig sie zu fördern und zu schädigen fähige Macht, sie verehrte in ihr vielmehr das Symbolum ihres eigenen Lebens, ihrer Kraft und Dauer, ihrer Herrlichkeit und Schönheit: ihre Frömmigkeit beruhte in ihrer Heimatliebe, ihre Gottesfurcht in der Sorge um das eigene Haus, die eigene Gemeinde. Die mittelalterlichen Städte waren Bekenner einer vom Römischen Reich ausgegangenen Weltreligion, sie konnten nicht ihre eigenen Götter ehren, weil sie keine haben durften; aber sie hatten und ehrten ihre Surrogate: ihre Schutzheiligen. Auch wußten sie und bemühten sich innig, ihre geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten unabhängig von der privilegierten Geistlichkeit zu entwickeln. Das Bürgertum war beflissen, die Macht der Kirche einzuschränken, aber es suchte seine Ehre darin, das künstlerische Element des Kultus zu pflegen und auszubilden, und ihre Dome und Pfarrkirchen in diesem Sinne als die ihren mit ihrem Wesen und ihrem Gedeihen lebendig zu verbinden. Diese sind, wie die Rathäuser, Zunfthäuser und andere stolze Gebäude Zeugen des Stolzes und der Selbständigkeit mittelalterlicher Städte, in deutschen wie in welschen Landen.

§ 41. Die ökonomisch-soziale

Revolution

überhaupt

Die ökonomische Revolution der Neuzeit besteht darin, daß die wesentlich lokale Einheit des wirtschaftlichen Lebens — die durch Arbeitsteilung und Kooperation in nahen, zusammengehörigen Gebieten, zunächst als gegenseitige Ergänzung von Land und Stadt, sodann als Zusammenwirken mannigfacher Gewerbe in geteilter Gesamtarbeit innerhalb der Städte sich entwickelt hat — mehr und mehr zurücktritt gegen die Wir-

Die große Gesellschaft — Sieg des Kapitalismus und technische Revolution

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kungen der „großen Gesellschaft", wie ein englischer Soziologe, Graham Wallas, sie genannt hat, nämlich zunächst des sogenannten Weltmarktes, d. h. der Verhältnisse des Warenabsatzes nach Extension und Intensität — des Volumens und der Preise — und der Bedeutung, die diese Veränderungen auch für jedes kleine und enge Gebiet haben, dessen Tätigkeiten und Verhältnisse gegen die Einflüsse des Handels ohnmächtig sind. Die große Gesellschaft greift überdies in alle Bezirke über, in Gestalt des Kapitals, und zwar des Handelskapitals als Warenhandel, des Kredithandels, also des Bankkapitals, und endlich ganz besonders des produktiven und abstrakten Kapitals, das am tiefsten in die Arbeit und die hergebrachte Ordnung, das Recht und die Moral der sozialen Arbeit aufwühlend und umwälzend hinübergreift, vorzüglich durch die Konkurrenz der größer und größer werdenden Betriebe, wodurch die kleinen Betriebe teils vernichtet, teils in Abhängigkeit gebracht werden. Ihren vollen Ausdruck findet die ökonomische Revolution nicht nur als Sieg des Kapitalismus in der Konkurrenz mit dem Handwerk und anderen vorkapitalistischen Betriebsweisen, sondern in nahem Zusammenhange damit, in der Revolution der Technik, die das Zeitalter von seinem Beginne bis zur Stunde charakterisiert. Technik ist an sich nichts als die Weise des Könnens in irgendwelcher Richtung, als welche aber ganz besonders die Richtung auf den eigenen Nutzen vorwaltet, die den Nutzen anderer in sich schließen kann, ebensowohl aber den Schaden anderer. Sie hat daher die zwei wesentlichen Zwecke: Produktion und Destruktion, aber auch Produktion für die Zwecke dieser wie jener. Ein Fortschritt der Technik hat von jeher, wenn auch meist in geringeren Dimensionen, stattgefunden, als Verbesserung — wirkliche oder gemeinte — von Werkzeugen und Geräten, insbesondere aller solcher, die nützlicher Arbeit dienen, sei es also die schlechthin nützliche oder die nur zum Schaden anderer nützende Tätigkeit. Neu und in bezug auf alle frühere Technik verneinend, umwälzend wird dieser Fortschritt dadurch, daß das Verhältnis von Mittel und Zweck als ein anderes sich darstellt. Ich setze diese Veränderung darin, daß Zweck und Mittel gegeneinander sich isolieren oder isoliert werden, wie es durch die mechanisierende Vollendung des Mittels und die schärfere Bestimmung, die reinere Erkenntnis des Zweckes, geschieht. Der Automat ist höchste Vollendung des Mittels — ihm nähert jede Arbeits- und Werkzeugmaschine sich, insofern, als sie nur des äußeren Anstoßes bedarf, um etwas zu leisten und sogar in vergrößertem Umfange zu leisten, was sonst nur die menschliche, von denkender Vernunft geleitete Hand, allein oder ver-

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Entpersönlichung der Arbeit — Verkehrsbeschleunigung

möge eines Werkzeuges, zu leisten vermochte. Der Anstoß kann mehr oder minder stark, mehr oder minder einfach oder mehrfach, also verschieden gestaltet sein, vom Aufziehen eines Uhrwerks zur Bewegung eines Rades durch Heranbringen von Wasser oder Wind, und zum Hervorbringen einer Schrift durch vernünftig gewähltes und geordnetes Anschlagen von Tasten oder durch Zusammensetzen und Einschieben ganzer Zeilen in einen Apparat. So hört die Maschine auf — um so mehr, je mehr sie zu voller Selbständigkeit sich entwickelt —, ein Zubehör oder sogar ein Organ des Arbeiters zu sein, zumal insofern als dieser sonst wohl dem Werkzeug einen besonderen, einen individuellen Charakter verleiht, was die Arbeit zu einer künstlerischen machen kann. Die Maschine kann ein Werkzeug mehrerer zusammenarbeitender Hände sein, sie kann aber auch das absolute Mittel des bloß dirigierenden Verstandes werden, obwohl etwa der verständige Mensch mit seiner Beschaffenheit, seinem Gebrauche nichts weiter weiß, als was erfordert wird, damit er Herr des Mittels sei, so daß er nun nichts weiter leisten muß, als darüber verfügen durch Befehle, Anordnungen, Anweisungen, durch die Kunst des Kommandierens. Und diese Fähigkeit, wenn sie den normalen Erfolg hat, ist es, die den Menschen zum Herrn über Personen und Sachen macht. Er wird es aber nur vermöge der ideellen Herrschaft, die einem unpersönlichen Eigentümer, also auch einem Verbände, einer Gesellschaft von vielen Mitgliedern eignen mag, wer auch immer sie repräsentiere. Dies ist der unpersönliche Kapitalismus, das am meisten charakteristische Merkmal der Neuzeit von der ökonomischen Seite. Die Umwälzung vollendet sich durch die Beschleunigung des Transportes, wofür zunächst die Dampfmaschine den entscheidenden Faktor darstellt, wie sie die Vollendung der mechanischen Produktion bewirkt. Andere Kraftmaschinen ergänzen sie und dienen teilweise zu ihrem Ersätze. Das Dampfschiff aber und die Eisenbahn, der Telegraph, ein halbes Jahrhundert lang durch Drähte, neuerdings auch durch elektrische Wellen — diese Mittel des Verkehrs, die mehr und mehr alle Gegenden des Erdballs miteinander verbinden, und mehr und mehr eine gewisse Einheit des Rechtes und der Verwaltung notwendig erscheinen lassen, sind und bleiben wesentliche Elemente der Neuzeit. Revolutionen bewirken Revolutionen: teils solche, die sich anschließen in gleicher Richtung, teils rufen sie Gegenrevolutionen hervor. Urheber und Träger neuer Revolutionen gehören teils der gleichen Schicht oder Klasse an, teils einer andern, oft der entgegengesetzten. Und diese Revo-

Kapital und Arbeit

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lutionen besitzen sehr verschiedenen Charakter. Die Revolution der Technik bewirkt tiefgreifende Veränderungen in den Verhältnissen der Menschen zueinander. Sie setzt die Eigentümer des Kapitals und der Produktionsmittel, in denen das Kapital seine konkrete Gestalt gewinnt, den Arbeitern gegenüber. Dieser im Handwerk wie in der Landwirtschaft untergeordnete Teilhaber eines Gesamtprozesses der Arbeit, deren Leiter immer aus einem Meister zu einem Geschäftsmann sich entwickeln kann, dessen eigentlicher Zweck rein händlerisch, nämlich die Lieferung von verkäuflichen Waren für den Markt ist, werden selber Verkäufer ihrer Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit; auch die Meister werden es gegenüber dem Kapital, dessen Eigentümer allein in der Lage sind, über die Produkte der Arbeit, wenn auch in deren verwandelter Gestalt, zu verfügen. Die Arbeiter haben nicht nur jeder für sich das dringende Bedürfnis, ihre Arbeitskraft günstig zu verwerten, sondern auch, sich zu verbinden, um gemeinsam einen höheren Preis ihrer Arbeitskraft zu erzielen und die gegenseitige Konkurrenz zu unterbinden. Diese Tendenzen hatten schon durch „Gesellenverbände" sich entwickelt, die in der Regel als unerlaubte Auflehnung gegen die Autorität der Meister und die Autorität des Herkommens bekämpft und unterdrückt wurden. Die Arbeiterbewegungen gewannen aber einen ganz anderen Charakter, als sie in Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit übergingen. Es handelte sich nunmehr um einen Streit, der völlig analog dem regelmäßigen Streit zwischen Verkäufer und Käufer einer Ware wurde, welcher Streit zur Signatur des Marktes gehört und also auch zur Signatur des Arbeitsmarktes wurde. Die förmliche Anerkennung dieses Tatbestandes geschah teils als Folgerung aus dem allgemeinen Prinzip der Freiheit und Gleichheit aller Glieder einer Gesellschaft, teils geschah sie durch besondere Freilassungsgesetze und die Verkündung der Koalitionsfreiheit: Normen, die vielfach bestritten und bekämpft, im Laufe des 19. Jahrhunderts die Kraft der Selbstverständlichkeit erworben haben, wie sie denn nichts weiter sind, als die — oft von den Vertretern des Kapitals verabscheute — Anwendung der liberalen Prinzipien, durch deren gesetzliche Verwirklichung das Kapital selber seine Macht gewonnen hat, eine Anwendung, die denn auch die Arbeit für sich in Anspruch nimmt. In einem gewissen Zusammenhange damit, aber durchaus verschieden, sind die Angriffe gegen die immer mehr sich vollendende freie kapitalistische „Gesellschaftsordnung". Die Träger dieser Ordnung halten in der Regel ihre Freiheit, das ist vor allem die Freiheit des Kapitals, für deren wesentliches Element; und sie räumen die Freiheit der Bewegung und also auch

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Umgestaltung der Gesellschaftsordnung

die freie Verfügung über ihre Arbeitskraft auch dem einzelnen Arbeiter willig ein; unwillig hingegen die Freiheit der Vereinigung oder der Organisation. Noch weniger willkommen sind ihnen die unvermeidlichen Tendenzen großer Körperschaften, zumal solcher, auf die auch ihre Vertragsgegner Einfluß gewinnen können, mithin vor allem die des Staates, 5 in den Streit zwischen Kapital und Arbeit sich hineinzumischen. Sie glauben Grund zu haben, und haben wirklich Grund, in diesen Tendenzen die Anfänge einer Umgestaltung der Gesellschaft selber zu erkennen: wenn nämlich die Einmischung zugunsten des schwächeren Teiles, der Arbeit, geschieht. 10

Zweites Kapitel

Die Revolution im politischen Gebiete § 42.

Allgemeines

Die letzte Betrachtung enthält schon ein Element, das auch in die Darstellung des mittelalterlichen politischen Zustandes hinüberführt, und diese möge hier folgen. — Dieser Zustand war mannigfach, und hat in den verschiedenen Hauptländern eine verschiedene Entwicklung gefunden. Als ein wesentliches und gemeinsames Moment sei hier vor allem das monarchische hervorgehoben: Unter dem Namen des Königtums hat es hauptsächlich vom alten Germanien aus eine fast allgemeine Bedeutung gewonnen, die zum Teil auch auf die slawischen Reiche sich erstreckte, während zugleich das oströmische Muster die Würde und den Namen des Cäsar fortleben ließ. So war aber auch das alte und westliche Rom mit seinem Kaisertum noch scheinlebendig: teils in enger Verbindung mit der geistlichen Würde des Papstes, der nach dem Ausspruch eines Philosophen als das Gespenst des abgeschiedenen Römischen Reiches gekrönt auf dessen Grabe saß (Thomas Hobbes im Leviathan), teils vermöge der Fiktion des eigenen Fortlebens, gemäß seinem Machtzauber, unterstützt durch den Glauben, daß sein Ende das Ende der gesamten Weltlichkeit bedeuten würde. Verbunden war diese Fiktion mit einer Reihe von irrigen Vorstellungen: einmal mit der, daß das Volk der Stadtgemeinde Rom das Reich von den Griechen, bei denen es offenbar noch einen Sitz in Byzantium hatte, auf die Deutschen übertragen habe (die translatio imperii); zweitens knüpfte sie sich an die Meinung, daß der Papst als Stellvertreter Gottes befugt sei, dem römischen Kaiser die Krone aufs Haupt zu setzen und ihn dadurch dieser Würde teilhaft werden zu lassen, gemäß dem Satze, daß Gott zwei Schwerter auf Erden gesetzt habe, ein geistliches und ein weltliches, von denen die päpstliche

17 Thomas Hobbes im Leviathan — Kap. 47 (1839c: 697f.). 24 die translatio imperii — [lat.] svw. „die Übertragung des Imperiums" (= des „Reiches" als eines weltgeschichtlichen Unikates).

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Kaisertum und Papsttum

Partei naturgemäß behauptete, daß das geistliche den höheren Wert habe, ja, daß das Sacerdotium zum Regnum sich verhalte wie die Sonne zum Monde oder wie die Seele zum Leibe. Die Autorität des Heiligen Stuhles war ohne Zweifel schon in den Anfängen der mittelalterlichen Reichsbildungen groß, hat aber lange, und zwar etwa bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts durch die mit zäher Energie geführten Kämpfe, besonders gegen die deutschen Könige, und durch die dem religiösen Bewußtsein des Zeitalters begründet erscheinenden, mehr oder minder mystischen Ansprüche sich noch verstärken können, und hat ihren Einfluß, wenn auch abgeschwächt, auch in die Neuzeit und bis in dessen jüngste Phase fortzusetzen vermocht. Aber das Papsttum hat schon mit dem Mittelalter aufgehört, das geistige Leben und damit zugleich das politische Leben des Abendlandes maßgebend zu beherrschen. Indessen war es ihm zu verdanken, daß die Fiktion der Fortdauer des Römischen Reiches, die bis zum Jahre 1806 sich erhielt, diesem Reich zugleich den Charakter der Heiligkeit verlieh, der seinen Ursprüngen nur insoweit zukam, als die Usurpatoren, die ihrerseits die Fortdauer der römischen Republik fingierten, frühzeitig anfingen, die Anbetung ihres „Genius" von den Untertanen zu verlangen. Wenn aber die Kaiser des Mittelalters für das Heilige Römische Reich auch eine Überlegenheit über die Könige der mehr oder minder germanischen Reiche des Westens und des Nordens in Anspruch nahmen, so hatte dieser Anspruch nur insofern einen langwierigen Erfolg, als das Prädikat der „Majestät" bis ins 18. Jahrhundert dem römischen Kaiser vorbehalten blieb; wenn auch dieser in Privatbriefen gelegentlich seinen monarchischen Kollegen es gönnte, die Wiener Kanzlei mußte es diesen Mitkönigen versagen: nur der in Regensburg permanente Reichstag galt für befähigt, das erhabene Prädikat einem andern Menschen als dem erwählten römischen Kaiser zuzuerkennen. — Das Herrentum der Könige konkurrierte aber nur mit dem Herrentum der Herrenstände, des geistlichen und des weltlichen, die ebenso wie ihre Spitzen, Papst und Kaiser, fortwährend um den Vorrang stritten und dadurch einander gegenseitig beschränkten, wie sie zusammen das Königtum, oft auch das Papsttum, zu beschränken wenigstens von Zeit zu Zeit lebhaft sich bemühten. Die Stärke beider lag aber nicht in der Teilnahme am Regiment des Monarchen, wozu sie mehr und mehr gelangten, sondern in ihrer örtlichen Geltung, wo sie gewohnheitsrechtlich 2 das Sacerdotium „Königtum".

zum Regnum

sich verhalte

— [lat.], svw. „das Priestertum" zum

Mittelalter und moderner Staat

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ihre Autorität zu befestigen in der Lage waren, so daß Leopold Ranke sagen kann: „Was in Europa bestand, war doch im Grunde eben jener kriegerisch-priesterliche ,Staat', der im 8./9. Jahrhundert gebildet worden und allen Veränderungen, welche eingetreten sein mochten, zum Trotz, in seiner Tiefe, der Mischung seiner Grundbestandteile immer derselbe geblieben war" (Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 2. Bd., 3. Buch, S. 3). §43-

Der Staat

Es wird gestritten, ob es im Mittelalter einen deutschen Staat gegeben habe. Naturgemäß ist dieser Streit müßig, wenn er nicht in der Lage ist, einen bestimmten Begriff des Staates als Maßstab anzulegen. Freilich herrscht anderseits Übereinstimmung, dahingehend, daß es den „modernen" Staat nicht gegeben habe, was freilich kaum mehr als eine Tautologie bedeutet. Man vermißt auch die klare Darstellung, was es sei, was den modernen Staat von dem vormodernen, also von dem mittelalterlichen, unterscheide, vollends von dem Staat, den viele schon unter den Papuas und sonst bei den primitiven Völkerschaften anzutreffen meinen. Will man den Begriff abziehen aus allen Erscheinungen, die gelegentlich einmal Staat genannt werden und irgendwelche Herrschaft Eines oder Mehrerer über Viele in sich enthalten, so erhält man einen Scheinbegriff von solcher Weite und Leere, daß er ganz gewiß nicht mit einem echten wissenschaftlichen Begriff auf die gleiche Linie gesetzt werden darf. Man wird schon finden, daß es notwendig ist, den Begriff frei zu bilden und ihn mit Merkmalen reich auszustatten, wenn man einen Begriff haben will, der so geeignet ist, die Tatsachen der Herrschaft von Menschen über Menschen, die sehr mannigfach sind, ebenso an ihm zu messen, wie von altersher die Begriffe der Linie, des Punktes, des Winkels (als eines meßbaren Verhältnisses einander berührender Linien) zur Messung des Erdbodens und zur Ziehung von Grenzen, wie später trigonometrische Begriffe zu verwickeiteren Messungen gedient haben. Wir werden demnach vor allem — dies knüpft an die heute geltende Staatslehre an — den Staat als eine Persönlichkeit begreifen müssen, d. h. als ein dem i Leopold

Ranke,

Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 2, 3. Buch (Ver-

suche einer nationalen Durchführung der Reform), Berlin 1939: 3 f. (dort „8ten, 9ten" und „Grundbestandtheile", Komma vor „und", aber keines vor „welche" und „zum"). 32 Staat als eine Persönlichkeit: gemeint ist „als juristische Person", und als solche wie eine sog. „natürliche Person" rechtsfähig (vgl. §§ 1, 21 — 89 BGB).

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Souveränität und Staatsbegriff

einzelnen denkenden, beratenden und beschließenden Menschen nachgebildetes Gedankending, das im Namen vieler, die als seine Subjekte — wenn man will, Stifter, jedenfalls als die es bejahenden Individuen — vorgestellt werden, zu ihrem gemeinsamen Wohle (salus publica) zu wirken bestimmt ist, und in diesem seinem Wollen und Wirken nicht von außen bestimmt, am wenigsten einem anderen Willen gehorchend, in letzter Instanz ausschließlich durch sich selber bewogen wird, und in diesem Sinne unbegrenzte Macht hat, die ihm der gemeinsame und allgemeine Wille jener zusammen wollenden Subjekte verleiht. In Wahrheit erfreut dieser Begriff sich allgemeiner Anerkennung, wenn als wesentliches Merkmal des Staates die Souveränität behauptet wird, wie es schon seit Jean Bodin durchaus die Regel geworden ist; und wenn man die große Leistung des Thomas Hobbes erkennt und anerkennt, der diesen klaren und deutlichen Begriff des Staates geschaffen hat, als eines Vereines von unbegrenzter Kompetenz, den eine Menge freier Individuen übereinkommt, herzustellen, um den dauernden Frieden zwischen ihnen, dessen Mangel sie in den Schäden eines chronischen oder doch immer wiederholten Haders und Krieges schmerzlich empfunden haben und empfinden, zu sichern; was nur dadurch möglich ist, daß er des Ubergewichts seiner Gewalt immer gewiß ist, und dies kann er nur sein, insofern, als er einen bestimmten Teil der ihm Untertanen Individuen in einer besonderen Weise von sich abhängig weiß, so daß er auf ihren Gehorsam jederzeit rechnen kann. Wer ist nun er, der Staat? Dem Gedanken nach eben nur das Gedankending, das von allen gewollt wird, das aber selber des vernünftigen Wollens fähig sein muß: des vernünftigen Wollens fähig ist aber nur eine Persönlichkeit, d. i. ein einzelnes Individuum oder eine wollens- und handlungsfähige Korporation, ein Kollegium. Dieser einzelnen Person, die also ein permanentes Dasein haben muß, gehört mit dem souveränen Willen die souveräne Gewalt als dem Repräsentanten des Staates, dem Gebieter im Staate. Dem Staat gehört nach diesem Begriffe vor allem die Einheit des Willens, wie in seiner Entstehung, so auch in seinem Bereiche: es können in ihm nicht andere Gewalten einander gegenseitig bedingen und hemmen, ohne daß seine Gewalt immer überlegen bleibt, so daß seinem Willen immer die letzte Entscheidung vorbehalten ist. Wenn wir mit diesem Begriff die politischen Verhältnisse des Mittelalters ermessen, so finden wir zwar manche Ansätze und Anfänge eines 4 salus publica,

[lat.] svw. „öffentliches Wohl", „Gemeinwohl".

Staat und Kirche in der Neuzeit

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solchen absoluten Staatswillens, aber wie der theoretische Begriff davon fehlt, so ist die praktische Vermischung mannigfacher Herrschaftsverhältnisse geradezu seine Verneinung. Wir finden dagegen in der Neuzeit nicht nur den Begriff selber, wenn auch selten in gerader und voller theoretischer Ausprägung, sondern auch ein offenbares Streben nach der praktischen Verwirklichung eines solchen Begriffes. Dies wird in späterem Zusammenhange dargetan werden müssen.

§ 44. Der Staat und seine

Bürger

Das Problem ist hier schlicht und klar; es zeigt sich am klarsten im Verhältnis von Staat und Kirche. In einigen Ländern, besonders solchen, in denen noch vererbte Notstände nachwirken, ist die Frage des Verhältnisses von Staat und Kirche nicht endgültig gelöst. Im allgemeinen aber ist hier das Prinzip unerschütterlich festgestellt: nämlich im Sinne dessen, was die römisch-katholische Kirche noch als die Omnipotenz des Staates anklagt. Es versteht sich diese so, daß jede Regierung, d. h. heute in der Regel die gesetzgebende Körperschaft, eben im Interesse des Staates nur mit größter Behutsamkeit die kirchlichen Angelegenheiten anfassen kann; sie wird wohl daran tun, diese so sehr als möglich der Autonomie der Kirchen zu überlassen und sich daran genügen zu lassen, die Aufsicht über die autonomen Körper schonend und vorsichtig zu führen: d. h. den Grundsatz der Trennung oder der „freien Kirche im freien Staat" gelten zu lassen, soweit es mit der Macht und Würde des Staates sich vertragen mag, der aber weise genug sein muß, auch der Macht und Würde der Kirche eingedenk zu sein. Das Unterrichtswesen darf keine Regierung, ohne den ihr anvertrauten Staat zu schädigen, ihrer eigenen Obhut entziehen lassen, und in diesem Gebiet ist der allgemeine Volksschulunterricht am wichtigsten. Hier hat die Verweltlichung schon in weitestem Umfange Platz gegriffen. Diese Verweltlichung müßte einen rationalen ethischen Unterricht in sich schließen. Dem steht aber noch die Behauptung der kirchlichen Autoritäten, also der Priesterschaften, entgegen, daß nur die Religion eine tragfähige Grundlage der Erkenntnis und der Praxis im Felde der Sittlichkeit darbiete; als Religion aber versteht jede Kirche innerhalb des Christentums die Auslegung des Christentums im Sinne ihrer dogmatischen Lehren oder ihrer Ausdeutung der etwa gemeinsamen Lehren.

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Staat und Moral — Bundesstaaten

Dissentierende Gemeinden nehmen überdies das Recht in Anspruch, ihren Satzungen, ihrem Glauben gemäß diese ganze Religion nach ihrer eigenen Weise zu deuten. Eine große und wachsende Schar von Staatsbürgern, mit denen aber oft die Staatsbürgerinnen nicht übereinstimmen, steht in ihrem Bewußtsein außerhalb der kirchlichen oder kirchenähnlichen Verbände, und von diesen gehört nur ein kleiner Teil anderen um eine sogenannte Weltanschauung geeinten Verbänden an. Außerdem gibt es in diesem heutigen Staate auch Angehörige anderer (als der christlichen) alter Religionen. Überdies werden auch von politischen Verbänden, die in ihren Parteien beruhen, gewisse Grundsätze gepflegt und verbreitet, die mehr oder minder insofern das allgemeine friedliche Zusammenleben, auf das der notwendige Wille des Staates gerichtet ist, beeinträchtigen, als sie leicht in ihrer Denkungsart sich dahin verirren, daß sie gewisse Arten des Verhaltens nur unter ihren Genossen für unzulässig und für strafwürdig halten, während sie ebensolches Verhalten gegen Andersgesinnte, sogar gegen Mitbürger nicht nur entschuldigen, sondern auch billigen und loben. Der Staat hat nicht nur die Aufgabe, sein Strafrecht solchen Denkungsarten gegenüber zu behaupten, sondern er muß auch die an und für sich unschuldigen und ihm insofern gleichgültigen Meinungen ihrer wahrscheinlichen Wirkungen halber bestreiten, und soweit er es vermag, durch richtigere Meinungen verdrängen. Er bedarf nicht nur des einheitlichen Rechtes, sondern auch der einheitlich geltenden positiven Moralität. Die Schwierigkeiten liegen dafür in jedem Lande verschieden. Der Mangel einheitlicher Ordnungen macht sich darum auf verschiedene Art bemerkbar. Vielfach wird die Ordnung erschwert durch die Konstitution der Staaten, da gerade die größten infolge ihrer Ursprünge keine eigentlichen Staaten, sondern Bünde sind — „Bundesstaaten", die zwar im Unterschiede von Staatenbünden den Charakter eines Staates innerhalb des ihnen zustehenden Bereiches in Anspruch nehmen, aber eben weil dieser Bereich beschränkt ist, fortwährend in Gefahr des Zusammenstoßes mit den Teilen geraten, die selber den Charakter des Staates behaupten und tatsächlich auf Grund des Herkommens und der Verfassung in weitem Umfange besitzen, so daß die Erweiterung der Kompetenzen des Bundes oder Reiches nur allmählich durch Einräumungen der schwächeren Einzelstaaten geschehen kann und zu geschehen pflegt; auch wenn die prinzipielle Kompetenz-Kompetenz offensteht. Hinzu kommen die Schwierigkeiten der mannigfachen Einwohner, die das Recht, auf ihre Weise zu leben und auf ihre Art der Geltung, als ein natürliches Menschenrecht in Anspruch nehmen. Auch

Gefahren der Gewissensfreiheit — Politische Bildung — Libertinismus

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läßt sich unter den heutigen Umständen der Gesittung und der öffentlichen Meinung daran nicht rütteln, daß die Gewissensfreiheit nur zum Schaden der Gesamtheit, also des Volkswohles angefochten werden kann; und folglich kann eine sittliche Ordnung als eine einheitliche nicht anders sich durchsetzen als unter Anerkennung auch solcher Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen als möglicher und begründeter, die etwa von einer Mehrheit der Volksgenossen oder von einer parlamentarischen Mehrheit für unerlaubt, wunderlich oder gar für verrückt gehalten werden und überdies auch als gemeinschädlich oder gemeingefährlich selbst einem reiferen Urteil erscheinen mögen, was dann immerhin Behutsamkeit in Anspruch nimmt. Wenn man in dieser Hinsicht eine günstige Perspektive dem Staate eröffnen will, so kann dies nur dadurch geschehen, daß man auf die allgemeine Aussicht einer verbesserten Erziehung und Bildung hinweist und die daraus entspringende Wahrscheinlichkeit größerer Gleichheit des Fühlens und Denkens behauptet. Solche Entwicklung wird freilich am meisten bedingt sein durch Veränderungen des allgemeinen Lebens, deren Chancen hier sogleich erwogen werden. Aber es läßt sich nicht verkennen, daß ebenso wie diesen Veränderungen, so auch der besonderen Gestaltung der Denkungsart viele gegenwärtige Momente entgegenkommen, wenn auch zugleich viele offenbar nachteilig darauf wirken. Denn es muß freilich zugestanden werden, daß in den Veränderungen der Denkungsart und der zunehmenden Verbreitung der freieren und aufgeklärten Denkungsart zunächst Wirkungen zutage treten, die das soziale Leben mannigfach beschädigen oder doch gefährden. Nicht nur wegen des Widerstandes, worauf immer das Neue stößt; dies ist nur die Verschärfung eines Kampfes, der durch die Jahrhunderte hindurchgeht. Die besonderen Gefahren und Übel sind begründet im Libertinismus, der zum großen Teile durch jugendlichen Leichtsinn bedingt ist, und in Gleichgültigkeit gegen die Folgen einer gewissen Lebenshaltung und daher gewisser Meinungen begründet ist. Die Erfahrung lehrt, daß von jeher und ziemlich unabhängig von den Religionen und Weltanschauungen frivole Ansichten und gewissenlose Handlungsweisen zutage treten, die in sehr vielen Fällen unmittelbar zum Schaden, ja zum Verderben derer sich auswirken, die sich ihnen hingeben. Dagegen kann nun Belehrung und Aufklärung auch ihrerseits unabhängig von anderen Meinungen heilsam wirken, und die öffentliche Lehre, insbesondere die Bildung erwachsener Personen richtet sich mehr und mehr auf diese sachliche Belehrung: so in bezug auf den Alkoholismus, auf das Geschlechtsleben,

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Arbeitslosigkeit — Soziale Frage

auf die Übel langer Arbeitszeiten, antihygienischer Arbeitsräume und anderer Verhältnisse; noch mehr aber die der Arbeitlosigkeit. Soviel man mit gutem Grunde die Tagespresse mit Vorwürfen belastet, die ihre Wahrhaftigkeit und Vernünftigkeit in Frage stellen, so muß doch hervorgehoben werden, daß durch sie auch eine Fülle von richtiger Erkenntnis bis in die letzten Winkel des Volkslebens dringt und auch gewisse günstige Wirkungen auslöst, obschon die meisten Lehren der Weisheit und Tugend rasch vergessen werden. Ob sich jemals eine Einigkeit und Gleichheit des Denkens wiederherstellen wird, wie sie im Bereiche der Kirche das Mittelalter in seinen Höhepunkten gekannt oder wenigstens vermutet hat, darf man mit guten Gründen bezweifeln. Es darf aber nie vergessen werden, daß diese Einigkeit und Sicherheit zum großen Teile auf Unwissenheit, Aberglauben, Phantasie und Leichtgläubigkeit beruht hat, d. i. auf Elementen, die seit Jahrhunderten sich vermindern und, wie man vielleicht voraussagen darf, auch in kommenden Jahrhunderten sich vermindern werden. Dadurch werden die günstigen Umstände für ein wissenschaftlich begründetes Denken wachsen, das doch in letzter Linie am sichersten zu Einmütigkeit der Meinungen und zu Institutionen führt, die darin beruhen. Ohnehin wuchsen solche unter dem Druck der Not und des Leidens, wenn auch gleichzeitig das Unkraut in diesem Getreide der Wahrheit wuchert. Diese Betrachtung führt uns zunächst auf das andere große Gebiet der Staatstätigkeit und ihrer Aufgaben: die Lösung der sozialen Frage. Die Betrachtung führt uns alsdann in die Entwicklung und Revolution des geistig-moralischen Lebens, wie sich diese Veränderungen in der Neuzeit beobachten lassen. Die Veränderung des menschlichen Zusammenlebens, insbesondere des Arbeitslebens und also des Zusammenwirkens verschieden bedingter und verschieden empfindender Menschen haben frühzeitig und vielfach Volks- und Menschenfreunde, mithin auch so gesonnene Forscher und Denker, geistliche und weltliche, zu der Erkenntnis geführt, daß die neuere Entwicklung in diesen Gebieten hinter ihrer glänzenden Außenseite Bilder der Trübsal und des Grauens verberge. Dies ist zur Erkenntnis gelangt bei Vergleichung a) des Lebens in großen landwirtschaftlichen Betrieben mit Leben und Zuständen der Bauern und bäuerlichen Arbeiter, b) der Manufakturen und Fabriken, aber auch der Verlags- und Heimarbeit, mit den Zuständen und Lebensbedingungen des Handwerks und anderer weniger durch den Handel betroffener, weniger von diesem abhängiger Arbeitsweisen.

Klassenentfremdung — Verminderung der Aufstiegschancen

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§ 45. Die soziale Frage und die Entwicklung der staatlichen Wirtschaftspolitik Erst im 19. Jahrhundert hat die akute Gestalt der „Sozialen Frage" sich entwickelt und ist das eigentliche Merkmal des damit beginnenden Zeitalters in zunehmender Weise geworden und geblieben, so daß von hier aus die Aussicht einer wissenschaftlich begründeten Prognose der kommenden Entwicklung möglich geworden ist. Als Grundelemente dieser Erscheinungen bezeichnen wir: 1. allgemein die Zunahme der gesellschaftlichen gegenüber den gemeinschaftlichen Gestalten der sozialen Verhältnisse, Samtschaften und Verbände. Dies bedeutet zunehmende Entfremdung zwischen den aufeinander angewiesenen, insbesondere den zusammenarbeitenden Schichten des Volkes, also den Klassen oder den Ständen, sofern solche noch vorhanden sein mögen. — Aus diesen Entfremdungen erwächst zunehmende Wahrscheinlichkeit des Konfliktes der Interessen, also der Gegnerschaft und Feindlichkeit, folglich auch des Streites um die politische Macht, je mehr deren Bedeutung für das wirtschaftliche Leben erkannt wird, und man unmittelbar des Wertes sich bewußt wird, den es zumal für das große Geschäftsinteresse hat, die „Klinke der Gesetzgebung" zu seiner Verfügung zu haben. 2. Die ehemals durch viele Jahrhunderte gleichsam garantierte Entwicklung des Handwerkers vom Lehrling zum Gesellen und, wenn auch oft erst in ferner Aussicht, zum Meister und Herrn ist, wenn auch nicht zur Seltenheit, so doch zu einer Ausnahme geworden. Wenn auch in der Fabrik ein Aufstieg zum Vorarbeiter und sogar zum Meister nicht ausgeschlossen ist, so wird doch die soziale Lage, und was man den „Stand" nennen kann, des „Proletariers" dadurch nicht wesentlich verändert: er bleibt ein lebenslänglicher Arbeiter, der von seinem Lohne abhängig ist, und dieser Lohn ist wesentlich mitbedingt durch die Konjunktur, also möglicherweise durch die Arbeitsverhältnisse im fernen Asien oder die Währungsverhältnisse in einem zahlungsunfähigen Lande: mithin ist es nicht ein gesichertes oder durch die persönlichen Qualitäten des Arbeiters hochwahrscheinliches, sondern ein Einkommen, das in jeder Woche oder in jedem Monat der Gefahr ausgesetzt ist, aufzuhören. 3. Diese ständige Gefahr wird, wie schon angedeutet wurde, getragen durch die periodisch wiederkehrende Gefahr der Abkehr ganzer Massen infolge von ungünstigen Märkten, die eine Einschränkung der Produktion oder des Verkehrs oder beider, sei es zugunsten des Gewinns der

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Unsicherheit des Lohneinkommens

Unternehmung oder so, daß auch dieser sehr leidet, gebieterisch fordern oder doch mittelbar notwendig machen. Die Erkenntnis der Periodizität wirtschaftlicher Krisen mit ihren zerstörenden und verarmenden Wirkungen bedeutet ein starkes Moment in der allmählich vollkommener gewordenen Entdeckung des Kapitalismus als der bestimmenden Macht der modernen wesentlich internationalen Gesellschaft; und zwar ein negatives Moment, eine bedeutende Schwächung seines so lange vorwaltend und unüberwindlich scheinenden Ansehens, d. h. insbesondere des Glaubens an seine Segnungen, der für die öffentliche Meinung als gelehrte und gebildete Meinung durchaus bezeichnend gewesen ist und zu einem großen Teile noch ist. Diese Meinung konnte nicht stärker erschüttert werden, als durch die Erlebnisse der Jahre 1929 bis 1932, und diese Erschütterung hat sogar auf die Vereinigten Staaten von Amerika stark hinübergegriffen, die bisher die stärkste Burg der kapitalistischen Denkungsart dargestellt hatten, nachdem deren Stärke in Großbritannien schon seit dem Ende des 19. Jahrhundert gewichen war, wo sie in der letzten Hälfte dieses Jahrhunderts durch die Monopolstellung der britischen Industrie auf dem Weltmarkte und den gesteigerten Imperialismus der englischen Kolonialpolitik lange Zeit gesichert schien. 4. So ist allmählich der Sozialismus als dialektische und kritische Verneinung der vorwaltenden neuzeitlichen Gesellschaftsordnung mehr und mehr in den Vordergrund der historischen Aktionen getreten und hat sich in großen politischen Parteien zu einem mächtigen Faktor der Entwicklung gestaltet. In dieser Entwicklung ist Frankreich vorangegangen, wenn auch mehr mit Theorien und Theoremen als mit Organisationen; und diese sind um so mehr ins Stocken geraten, als die französische Industrie selber, nach der großen politischen Niederlage des cäsarischen Systems und seiner imperialistischen Entfaltung, Frankreichs Rolle in Europa zu einem sekundären machte, während gleichzeitig aus den gleichen Ursachen das zum neuen Deutschen Reich erweiterte Preußen die Rolle des Protagonisten für die folgenden Jahrzehnte übernahm, womit eine bedeutende Vermehrung und Verstärkung der deutschen Industrie und also der industriellen Arbeiterklasse im Deutschen Reiche verbunden war, wodurch zugleich die auf deutschem Geistesboden erwachsene Theoretik einen außerordentlichen Aufschwung nahm, dem sie zu gleicher Zeit die Einsicht in ihre strengere und stärkere wissenschaftliche Begründung verdankt, die nicht sowohl in einem moralischen oder politischen Postulat als vielmehr in dem Versuche des Beweises einer natürlichen und darum historischen Notwendigkeit besteht. Diese Lehre ist der

M a r x i s m u s — Staatssozialismus

klassische Sozialismus geworden, der als Marxismus tung gewonnen hat.

127 seine Weltbedeu-

5. Dieser Sozialismus ist zunächst nahe verbunden mit der Idee des Staates. Die beiden sind auch in einem Worte verbunden worden, indem die Meinung zur Geltung kam, daß der Sozialismus auch in den bestimmenden monarchisch-konstitutionellen Staat hineingebaut werden könne und demnach der Staatssozialismus vom politisch-revolutionären sich deutlich unterscheiden wollte. Für Deutschland ist, nachdem seine Staatsform umgestaltet wurde, der Staatssozialismus die notwendige Form geworden, worin die Republik sich durch Institutionen und Gesetze zum maßgebenden Faktor der Volkswirtschaft macht, wie sie immerhin auch bisher — wenn auch innerhalb viel engerer Grenzen — schon gewesen ist. Der Begriff des Staates findet in den modernen republikanischen und demokratischen Verfassungen seine Vollendung, die ein großes Wagnis und eine gewaltige Initiative bedeuten, deren Sinn — selbst wenn die Entwicklung nicht durch Rückschläge auch formaler Art unterbrochen wird — die Zeitgenossen noch weit entfernt sind, richtig zu begreifen. Längst vorher hatte der Staat als der allgemeine Wille im gesellschaftlichen Leben sich erhoben, und zwar als ein Wille, der die konkrete Vernunft bedeuten soll und seinem ganzen Wesen nach auf eine richtige Ordnung abzielt. Die Ordnung ist zunächst die Rechtsordnung: sie will die Staatsbürger als Gesamtheit gegen äußere Gewalt schützen und die einzelnen Bürger sowohl als auch deren Verhältnisse und Verbände gegeneinander schützen: die Gleichheit aller zurechnungsfähigen Individuen vor dem Gesetz, also vor dem Richter, wird dann ein sich von selbst verstehendes Grundgesetz. Aufgabe der Rechtsordnung ist daher, teils nach außen und innen Verhütung von Gewalt, teils Streitentscheidung und Anwendung von Gewalt gegen die Gewalt anderer, sei es der eigenen Staatsbürger oder Fremder. — In dieser Ordnung ist schon ein Stück Verwaltung eingeschlossen, die ihrem Wesen nach von der Rechtsprechung oder Justiz verschieden ist. Die Justiz selber muß verwaltet werden, aber über ihr steht die allgemeine Staatstätigkeit der Verwaltung, die ihren Kern in der Finanzverwaltung hat. Das notwendige Problem jedes Staates versammelt sich in dem Gedanken, die Mittel für die gesamte Staatstätigkeit, also auch für die Verwaltung selber, zu seiner Verfügung zu haben. In einem Bundesstaate sind es zum Teil die gleichen Zwecke, denen der Bund oder das Reich und denen die in ihm verbundenen einzelnen Staaten sich widmen, zum Teil andere: naturgemäß die allgemeineren, insbesondere die Vertretung aller den verbundenen Staa-

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Staatlicher Z w a n g und bürgerliche Freiheit — Interesse des Handels

ten gemeinsamen Interessen nach außen hin. In dieser Hinsicht ist der Gedanke des Bundesstaates oder Reiches ebenso unbegrenzt wie der Gedanke des Reiches als der Herrschaft eines Staates über viele andere Staaten oder in anderer Form abhängige Gebiete. Im abstrakten Begriffe wird man zweckmäßig den Staat als einheitliches und nur über Individuen mit Einschluß von den Verhältnissen und Verbänden dieser Individuen sich erstreckende Macht denken, deren Behörden also insgesamt von einer Zentralbehörde abhängen, die den kollektiven Staatswillen darstellen soll. So verstanden ist der Staat ein großes Zwangssystem und eine Zwangsanstalt, wie er denn in Wirklichkeit durch viele einzelne zwingende Apparate und Personen sich darstellt, auch wenn diese etwa zwischen Zentralgewalt, Einzelstaaten, Gemeinden und anderen Selbstverwaltungskörpern aufgeteilt sind oder vielmehr scheinen, da die herrschende Staatsgewalt immer über allen anderen Gewalten waltet. Das natürliche Bedürfnis der Menschen nach Freiheit, d. i. nach unbeschränktem oder doch so wenig wie möglich beschränktem Gebrauch ihrer Kräfte, lehnt sich gegen dieses Zwangssystem auf, dessen Entwicklung daher nur gegen starke Widerstände erzwungen geschehen konnte und noch geschieht. Mit dem Zwang ist der Kampf zwischen Staat und Individuen gegeben. Denn der Staat, d. h. die Menschen, die für ihn denken, müssen ihrem eigenen Urteil vorbehalten, welche Ausdehnung des Zwanges sie für notwendig halten und durchsetzen wollen, um des ihnen anvertrauten allgemeinen Wohles und um der darin enthaltenen Zwecke willen. Die Individuen, zumal solche, die an der Staatsregierung und Staatsverwaltung nicht beteiligt sind, werden leicht diese Notwendigkeit leugnen, leicht bestreiten, daß die Ausdehnung des Zwanges durch vermeintliche Förderung des allgemeinen Wohles gerechtfertigt werde. Diese Kontroverse hat eine mannigfache Bedeutung. In wie nahem Zusammenhange sie mit dem schon berührten Gegensatz von weltlicher und geistlicher Gewalt oder von Staat und Kirche steht, ist von selbst ersichtlich. Das andere große Gebiet der Freiheit, das außer der Gewissensfreiheit die Staatsbürger in Anspruch nehmen, ist die wirtschaftliche Freiheit: Freiheit des Handels und Freiheit der Arbeit. Es möge zuerst die Freiheit des Handels erörtert werden. 6. Alles gemeinsame Interesse prägt und lebt sich am deutlichsten aus als Geldinteresse. Dies ist naturgemäß beim Händler oder Geschäftsmann jeder Art immer stark, und bestimmt die Vereinigungen wie die gemeinsamen Gegnerschaften. Gemeinsame Gegner haben alle Händler einer bestimmten Art in anderen Arten, die ihre Freiheit und Fähigkeit

und Handelspolitik — Merkantilismus

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guter Geschäfte zu hemmen oder sogar offen zu bekämpfen scheinen. Dies geschieht am leichtesten durch Fremde, also durch Ausländer. Frühzeitig haben Städtebündnisse sich angestrengt, die gemeinsamen Interessen benachbarter aber auch weit voneinander entfernter Städte friedlich oder kriegerisch, also mit Recht oder mit Gewalt geltend zu machen. Es wäre ein Prozeß der Arbeitsteilung, wenn die Vertretung der Gewalt sich absonderte und einen politischen Charakter annähme. Nun aber ist in der Regel der politische und militärische Charakter einer Gesamtheit, der viele Städte angehören, schon vorhanden, und zu gleicher Zeit hat dieser Verband selber seine finanzielle Stütze und stellt sich folglich als Vertreter der gemeinstädtischen Interessen nach außen hin dar, um es auch nach innen dadurch zu bergen. Handelspolitik ist die erste große Betätigung des werdenden Staates in Europa gewesen, insbesondere in seiner jüngeren Form, die sich hauptsächlich als Wille und Interesse eines Monarchen darstellt. Diese Herren persönlich gebrauchten für sich und ihren Anhang, was auch die Vertretung der Städte nach außen und innen brauchte: Geld-, um so mehr je mehr Verkehr und Handel zunahmen, je mehr das Geld notwendig wurde, um Arbeitsleistungen und Dienste, zumal die von Soldaten, zu erkaufen. Dies Geldbedürfnis ist der Kern des Merkantilismus, d. i. einer Handelspolitik, die darauf ausgeht, möglichst viel Geld im Lande zu sammeln und ins Land zu bringen, um es zur Verfügung der Regierungen zu halten, aber auch um möglichst viel Einwohner möglichst viel davon erhalten zu lassen. In diesem Interesse, in dieser Absicht mußte der Staatsmann beflissen sein, den Binnenhandel und Verkehr zu steigern, kam daher dem Bedürfnisse des Warenhandels, seine Freiheit und Macht zu steigern, entgegen. Nach außen hin konnte ihm nur bedingterweise an der Handelsfreiheit gelegen sein: nämlich nur, insofern er dem gemeinen Interesse an der Zunahme des Handels günstig war. Dafür mußte immer der aktive Handel, folglich auch die eigene Schiffahrt gelten, zumal wenn der eigene Schiffbau dadurch gesteigert wurde. Auch auswärtige Händler mußten in diesem Sinne willkommen sein, weil durch sie die Vermehrung von Waren und dadurch deren Billigkeit bedingt war, also auch die Vermehrung des Geldes ungeachtet der Billigkeit. Übrigens sahen die Regierungen immer den Wert des auswärtigen Handels hauptsächlich darin, daß die Produkte des eigenen Gebietes exportiert wurden, und daß auf Grund dieses Exportes mehr Geld eingenommen als für eingeführte Waren ausgegeben wurde. Dieser einfache Gedanke, der in seiner elementaren Gestalt jeden Kaufmann beherrscht, bezeichnet die merkantilistische Handelspolitik, und hat ihren Grundge-

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Interesse des Verbrauchers — Landwirtschaft und Gewerbe

danken immer wieder siegreich gemacht, trotz immer neuer Widerstände, die zugunsten eines auch freien Außenhandels, also des Freihandels schlechthin, geltend gemacht worden sind. Dieser ist in erster Linie das Interesse der Händler selbst, sofern sie eben nichts wollen als handeln. Er ist immer auch das Interesse der Käufer, also der Konsumenten aller Art von Waren, insofern als diese nichts anderes wollen, als leicht zugängliche, also wohlfeile Ware zu erwerben. Hier aber ergeben sich große Unterschiede. Im großen und ganzen ist die große Menge der Konsumenten zerstreut und nicht organisiert, hat daher auch geringe politische Macht. Diese teilt sich zwischen Händlern und Produzenten, und zwar wiederum zwischen den Produzenten der Landwirtschaft und denen der Stadtwirtschaft. Diejenigen der Landwirtschaft sind durch ihren Betrieb selber Konsumenten städtischer Produkte, wünschen daher diese billig zu erwerben, erstreben folglich einen offenen und freien Markt, die Landwirte insbesondere für Eisenwaren.

§ 46. Freihandel und Schutz Dieser Gegensatz zwischen freihändlerischer Land- und protektionistischer Stadtwirtschaft wiederholt sich in allen Ländern, bis auch die Landwirtschaft des Schutzes zu bedürfen meint und diese beiden großen Zweige der Produktion im Bedürfnisse des starken staatlichen Schutzes einig werden. Aber auch wenn dieser nicht nötig ist oder scheint in Gestalt von Zöllen, die auf die Einfuhr von Getreide gelegt werden, so gibt es doch manche andere Arten von Begünstigungen, die der Landwirt in Anspruch nimmt und die ihm um so eher gegönnt werden, je mehr sein Einfluß in der Staatsregierung unmittelbar und stark ist. — Der Staat hat auch ein eigenes fiskalisches Interesse teils an der Stärke und Steuerfähigkeit von Landwirtschaft, Industrie und Handel, teils an den Zöllen als direkten Einnahmequellen, und so werden nach ihrem Zwecke Finanzzölle von den Schutzzöllen unterschieden, ohne Rücksicht darauf, daß auch die Schutzzölle eine bedeutende Einnahmequelle für die Staatsoder Reichskasse zu bedeuten pflegen. Immer ist der Staat wie ein Kaufmann auf Gewinnung von Geld erpicht, und er kann nie vergessen, daß neben der Steuerfähigkeit seiner Bürger oder vielmehr innerhalb dieser der auswärtige Handel die ergiebigste Quelle des „Nationalreichtums" und also der Leistungsfähigkeit des Staates, insbesondere in seiner militärischen Stärke zu Lande und zu Wasser — heute auch in der Luft —

Neomerkantilismus — Weltmarkt und Binnenmarkt

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bedeutet. In der Richtung darauf ist der Staatswille während der Jahrhunderte der Neuzeit mit sich einig und wird nur verhältnismäßig wenig durch die herrschenden Theorien bestimmt. Es ist freilich üblich, die Handelspolitik seit dem 16. Jahrhundert bis zur französischen Revolution, und darüber hinaus, als merkantilistisch zu bezeichnen, wie auch die Theoretiker dieser Epoche heißen, und von ihnen die späteren bis etwa 1880 als freihändlerisch zu unterscheiden, weil in der Tat die vorherrschende Theorie in diesen Jahren unter dem Einflüsse der „physiokratischen" Schriftsteller und nachher der sogenannten klassischen politischen Ökonomie, die wirtschaftliche Freiheit nach allen Seiten hin auszubilden beflissen waren. Seitdem spricht man wohl auch von einem Neomerkantilismus, der endlich sogar auf das Vereinigte Königreich, das bis dahin noch die klassische Stätte des Freihandels darstellte, sich ausgedehnt habe. Man wird wohl daran tun, zu erkennen, daß in den Motiven der Staatswirtschaft immer ein Wechsel zwischen strafferem Anziehen der Zügel und dem Gehenlassen wahrscheinlich ist, daß sie mit anderen Worten immer beflissen sein wird, die Frage zu erwägen, ob unter den bestehenden Normen der Handelsverkehr mit einem bestimmten Lande vorteilhaft oder unvorteilhaft und in welchem Grade er das eine und das andere sein werde. Mithin ist das Verhalten jedes Staates stark mitbestimmt durch das Verhalten jedes anderen, so daß die Beschränkung seiner Einfuhr in andere durch deren Gesetze, in der Regel fast automatisch Hemmungen der Einfuhr jener fremden Länder in das eigene Land zur Folge haben wird. Ein Reich wie England, das einen großen Teil seines Reichtums dem Handel und der Schiffahrt verdankt, kann am ehesten die Freiheit des Handels durchführen und dabei doch vermöge der Stärke seiner Industrien einen gewinnreichen auswärtigen Handel unterhalten. Der Deutsche Zollverein war aus theoretischen Gründen geneigt, dem Beispiel Englands, wo um die Mitte des 19. Jahrhunderts der Freihandel triumphierte, sich anzuschließen, als die Krise, die 1876 und in den folgenden Jahren gerade die junge deutsche Großindustrie erschütterte, eine Gegenströmung hervorrief, deren Lebhaftigkeit und Stärke kaum irgendwo ihresgleichen gehabt hat. Übrigens sind aber nur kleine Handelsstaaten, wie die Niederlande, dem Freihandel ergeben und ihm treu geblieben. Außerdem hat er seine Funktionen erfüllt als Prinzip des Binnenhandels, weil ein großer innerer Markt immer die Lebensbedingung einer großen Industrie war, besonders auch, um in der Konkurrenz auf dem Weltmarkt für dort bewilligte relativ niedrige Preise durch höhere Preise auf den heimischen Märkten sich zu entschädigen: das Dumping-System.

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Münzregal — Bank — Kredit

§ 47. Staatliche

Geldpolitik

Die Macht des Staates ist immer durch Tatsachen bedingt, also begrenzt: je mehr sich die Gesellschaft entwickelt, um so mehr durch sein Vermögen und durch dessen Flüssigkeit, d. h. durch seine Fähigkeit zu zahlen. Nun besitzt er einen großen Vorteil in dieser Hinsicht, nämlich das Münzregal oder die Fähigkeit, „Geld" zu machen. Er hat aber nur eine beschränkte Macht über die Geltung des Geldes. Im allgemeinen gilt die Regel: je mehr Geld in Umlauf gebracht wird, desto weniger gilt es, d. h. um so billiger werden die Waren: was zwar den bloßen Konsumenten willkommen ist, und auch den Händlern, sofern sie auch billig einkaufen, wenn sie nur einen befriedigenden Gewinn erzielen, dessen Wert freilich dann durch fernere „Inflation" auch gedrückt wird. Gleichwohl hat oft eine Staatsregierung ihr Münzregal dazu gebraucht, das Geld zu entwerten: schon indem sie unter der Beibehaltung der Münznamen den scheinbar gleichen Wert an verringerten Metallwert knüpfte; ein Verfahren, das in irgendwelchem Maße immer geübt worden ist. — Weiterhin aber entsteht die moderne Praxis des Staates in bezug auf das Geldwesen durch seine Verbindung mit der Bank. Die Bank ist ursprünglich Wechslerbank, nützlich, ja notwendig für den Eintausch einer Geldsorte, die man braucht, anstatt der Geldsorte, die man eingenommen hat oder sonst besitzt. Hieraus aber entwickelte sich die Funktion der Bank oder des Bankiers, Zahlungsaufschub, und daran wieder, ein bares Darlehn zu gewähren, und wiederum zum Zwecke des Verleihens Geld anzuleihen — also das Kreditwesen und der Kredithandel — eine Erfindung, die keine eigentliche Erfindung ist, sondern unmittelbar aus den Bedürfnissen des Austausches und also des Handels sich entwickelt hat. Das andere große Mittel für den Staat, in den Besitz von Zahlungsmitteln zu gelangen, war immer der Kredit, d.h. daß er Geld lieh, sofern er Kredit hatte. Einen plötzlichen starken Bedarf an Zahlungsmitteln rief immer der Krieg hervor, vorzugsweise durch die modernen Kriege sind die modernen Banken entstanden. Die Bank aber wurde um so mehr eine Macht, je mehr sie selber Geld oder Kredit, hauptsächlich wenn sie beides in ausreichendem Maße besaß, und der leichteste Weg war die Assoziation des Kapitals. Seine große Entwicklung nimmt das Bankwesen zunächst dadurch, daß es das Recht erhält, Noten auszugeben; ein Recht, das tatsächlich, je weniger es beschränkt ist, eine Vermehrung der Zahlungsmittel durch den Kredit der Banken bedeutet, die bald als gemeinschädlich empfunden wird und dann zur Ablösung durch Beschränkung des Notenpriui-

Notenprivileg — Bankenpolitik — Freiheit des Händlers und des Arbeiters

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legs auf wenige oder eine einzige Bank führt, die der Staat oder das Reich in diesem Sinne begünstigt. — Die des Privilegs beraubte Bank entschädigt sich regelmäßig durch die Ausdehnung ihrer übrigen Geschäfte, in denen sie teils direkt an der Produktion von Gütern teilnimmt, teils diese durch gewährten Kredit erleichtert oder befördert. Alle diese Geschäfte sind gewagte Geschäfte. Die Bank hat den größten Teil ihrer Aktiva in Werten des Bodens oder der Betriebe festgelegt und ihre Zahlungsfähigkeit ist immer durch ihre Liquidität bedingt, d. h. zum großen Teil durch die Möglichkeit rascher Verwandlung solcher realen Werte in geltende Zahlungsmittel, was in der kommerziellen Sprachverderbnis „realisieren" heißt. Es kann also eine Bank, die ein großes Quantum realer Werte besitzt, dennoch zahlungsunfähig werden, denn ein großer Teil ihrer Aktiven besteht in ihren gewährten Krediten, also ihren Forderungen, die zumeist langfristig sind, zumal Forderungen an den Staat und andere öffentliche Körperschaften, während die Schulden der Bank zum großen Teil Forderungen privater Geschäfte sind, die teils in jederzeit abhebbaren Depositen bestehen, teils jederzeit in kurzen Fristen kündbar zu sein pflegen, um den Gläubigern zur Verfügung zu stehen.

§ 48. Die Freiheit der

Arbeit

Das Verlangen des Kaufmanns und Händlers nach Freiheit ist natürlich; denn ihm ist es die Bedingung seines Zweckes, von Ort zu Ort sich zu bewegen, oder wenigstens die Mittel für seinen Zweck, Waren und Geld, zu bewegen, und wo er sein Geschäft macht, ist ihm gleichgültig: er würde auch gern ein Geschäft auf dem Monde oder auf dem Mars machen, wenn nur die Verkehrswege nicht fehlten. Wie er gute Wege, gebahnte Straßen, angemessene Mittel der Beförderung, des Transports, so muß er auch Sicherheit für Personen und Sachen wünschen und erstreben und alle Arten von Hemmungen: Angriff und Raub zu Wasser und zu Lande verabscheuen und fürchten, auch wenn diese Hemmungen ihm materiellen Schaden tun, der sich durch eine verhältnismäßig geringe Zahlung erledigen läßt, und unter Umständen ist ihm eine solche Schädigung schmerzlicher als eine leichte Körperverletzung. — Auch der Arbeiter wünscht Freiheit der Arbeit; aber wie die Arbeit vom Handel, so unterscheidet sich auch seine Freiheit von der des Händlers. Er fühlt sich gedrückt durch den Herrn und Meister, der ihm gebietet. Mehr oder minder empfindet er diesen Druck. Gemeinschaft mildert diesen Druck:

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Bauernbefreiung — Wiedererstehen der Sklaverei

ist der Meister und Herr zugleich der Vater oder auch nur ein Oheim, oder ist er ein gutgelaunter wohlwollender Vorgesetzter, so wird die Unfreiheit weniger zur Last; auch kann naturgemäß das Opfer, das in aller Lohnarbeit liegt, durch günstige äußere Verhältnisse der Arbeit, wie hoher Lohn, kurzen Arbeitstag usw. aufgewogen werden. Aber der Arbeiter kann auch vielem anderen Druck ausgesetzt sein, als dem Druck seines Herrn oder Meisters oder Arbeitgebers. Der Landmann kann genötigt sein, auf fremdem Boden zu arbeiten: die Lebensnot oder das Herkommen mögen ihn nötigen, so daß er den eigenen Acker, wenn ihm solcher etwa nach mehr oder minder schlechtem Recht gehört, und er ihn braucht zur Ernährung seines Leibes und seiner Familie, nur in der ihm verbleibenden Muße bearbeiten kann; außerdem lasten etwa noch andere Pflichten auf ihm, für den Herrn und für die Gemeinde, ja auch für das Gemeinwesen: Abgaben mannigfacher Art aus seiner dürftigen Habe, Hand- und Spanndienste außer denen, die er unmittelbar für den Herrn leistet. Anders steht der freie Bauer da, wenn auch mit einem beschränkten Areal und sogar, wenn er durch die Verpflichtung feste Beträge, sei es an Naturalien oder an Geld, als Pachtschilling zu zahlen oder durch die Verpflichtung, Zinsen an Hypothekengläubiger zu zahlen, hart bedrückt ist, und übrigens sonst wie ein Geschäftsmann sich vorkommen mag. Diese Freiheit war es, die in einem großen Teile der Erde im 18. und besonders im 19. Jahrhundert die Bauernbefreiung bedeutet hat. Ähnliche Bedeutung hatten andere Freiheiten, die besonders der handwerklichen Arbeit zuteil wurden: die Zugfreiheit oder Freizügigkeit, die Freiheit der Eheschließung und alles, was als Ausfluß der persönlichen Freiheit, überhaupt der liberalen Politik, als ebenso notwendig und selbstverständlich erschienen ist, wie die persönliche Freiheit überhaupt. Es ist sehr merkwürdig und steht im Widerspruch zu einer Grundtendenz der Neuzeit, die sich sonst mit der Glaubens- und Gewissensfreiheit durchgesetzt hat, daß die Neuzeit nicht nur eine erhebliche Verschärfung der persönlichen Hörigkeit und der eigentlichen alten Leibeigenschaft, sondern noch ein Wiederaufleben der echten und massenhaften Sklaverei gesehen hat. Es war dem jungen und frischen Koloniallande jenseits des Meeres vorbehalten, dem es an warmem Eifer für seine Art des Christentums keineswegs gebrach, einen regulären Handel mit Menschenfleisch, um den die Nationen sich stritten, weil er so viel einbrachte, einzurichten, um die benötigten Arbeitskräfte für ihre Plantagen zu gewinnen, ganz besonders zum Behufe der Herstellung von Rohstoffen, die in großen und wachsenden Massen die mehr und mehr in Großbetrieb über-

Kritik von Sklaverei und moderner Lohnarbeit

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gehende Spinnerei und Weberei des Mutterlandes als ihren Rohstoff benötigte. In ähnlicher Weise hat der landwirtschaftliche Großbetrieb des Rittergutsbesitzers, wie er seit dem 16. Jahrhundert auch vorzugsweise in Kolonialgebieten, aber in einheimischen, ausgebildet wurde, es vermocht, die sogenannte jüngere Leibeigenschaft herzustellen, die auch in manchen Fällen dahin geführt hat, daß Arbeiter einfach als Waren geund verkauft wurden. In diesem Sinne hat eine echte Leibeigenschaft noch tief bis ins 19. Jahrhundert hinein in Rußland bestanden. Der Druck dieser Unfreiheit hatte sehr verschiedene Intensität, hüben wie drüben und wie im klassischen Altertum. Je mehr sie etwas vom patriarchalischen Charakter an sich trug, also etwa am häuslichen Leben der Herren und Herrinnen Anteil gewann — und der Gesindezwangsdienst gehörte in der Regel dazu —, um so mehr gewann das Verhältnis den Schein der Erträglichkeit und gewannen Ansätze zu Empörung wenig Boden, so daß die Lösung dieser Unfreiheiten mehr von oben her, zum Teil durch das Interesse der Herren selber, geschah, die zu der Erkenntnis kamen, daß freie Arbeit in der Regel ergiebiger ist als unfreie, übrigens aber durch den Zeitgeist, d. h. durch fortschreitende Humanität und Gesittung, die zuweilen durch gewisse Formen der Religiosität, wie das Quäkertum, hin und wieder auch durch die römisch-katholische Kirche, einige Unterstützung erfuhren. Das ausschließende Eigentum an den Produktionsmitteln — Boden und Kapital — stellt gleichsam zur Wahl: entweder die arbeitenden Menschen auch zum Eigentum zu machen oder sie frei zu belassen und nur ihre Arbeitskräfte zu erwerben. Das erstere System ist das vorwaltende der Antike geblieben; das andere ist das spezifisch neuzeitliche. Es hat den offenbaren Vorzug einer wenigstens scheinbaren Humanität. Der Mensch wird nicht dem unvernünftigen Tiere gleichgestellt, sondern als ein vernünftiges Wesen, also insoweit dem „Arbeitgeber" gleichgestellt, und die Sklaverei gilt bald als des Menschentums und der Kultur unwürdig. Nun aber wurde gefunden, daß dem System der freien Arbeit auch praktische Vorteile für den Meister oder Arbeitgeber anhängen; in ihm ist die Arbeitskraft von der arbeitenden Person getrennt, und diese kann ihre Arbeitskraft mehr oder weniger intensiv anwenden; es steht also dem Inhaber der Produktionsmittel frei, sie zur äußersten Anspannung ihrer Kräfte zu reizen und anzuspornen, wogegen der Arbeitgeber seinen Tages- und unter Umständen Jahresverdienst über seinen unmittelbaren Bedarf zu erhöhen vermag. Dazu wird der Sklave schwerlich in der Lage sein. Sein Lohn ist vorzugsweise Naturallohn und wird von ihm unmit-

136

Ritter H u g o über Vorteile der Sklaverei

telbar verzehrt oder genossen. Er kann innerhalb des Betriebes ein „Untereigentum" haben, das die Römer peculium nannten. Seine persönliche Abhängigkeit wird dadurch eher befestigt als gelockert, denn er ist hier der Scholle zugeschrieben und pflichtig (glebae adscriptus). So ließ sich bei Freilassung der Negersklaven in den Vereinigten Staaten das eine System leicht in das andere überführen, da die Sklaven als freie M ä n n e r doch sozial in voller Abhängigkeit der Herren blieben, wie es kleine und schwache Pächter immer sein werden. So behält immer die Abhängigkeit der Arbeit vom Besitz in ländlichen Verhältnissen, wenigstens in solchen des Großbetriebes, einen Rest von Unfreiheit, wenn auch Bauernbefreiung und Sklavenbefreiung einander nahe verwandt sind. Die befreiten Bauern in seinem Gute wird der Gutsbesitzer gern auskaufen, wenn ihm an einem großen arrondierten Landgebiet gelegen ist, w o f ü r er dann um so mehr freie Lohnarbeiter nötig hat. Oder aber die Bauern werden selber zu kleinen Herren und an die Stelle der Abhängigkeit von dem hergebrachten Herrn, der auch als Gerichtsherr oder wenigstens als Polizeiherr anerkannt war, tritt eine Abhängigkeit vom Geldgeber — dem Kaufmann oder Wucherer —, welche Abhängigkeit bis zu schwerer Druckhöhe anwachsen und den Bauern vernichten kann; eine Erscheinung, die in der Agrargeschichte aller Länder eine große Rolle spielt. So ist denn der Vorzug des freien vor dem gebundenen Bauern eine alte Streitfrage: dieser Vorzug wird eben so hoch gepriesen von den Vertretern einer neuzeitlichen Denkungsart wie sie von den Vertretern der mittelalterlichen geleugnet wird. Schon in der Bekämpfung des seinem Wesen nach rationalen und liberalen Naturrechts gewann dies Motiv eine nicht geringe Geltung. So beim Ritter Hugo, dessen Philosophie des positiven Rechtes (1809) mit überlegener Miene darauf hinweist, es sei in den letzten Dezennien „bei uns" fast allgemein M o d e geworden, die Sklaverei für widerrechtlich zu erklären, und — indem er die Sklaverei in ihren Folgen der durch das Privateigentum gesetzten Armut verglich — geltend machte, in Ansehung der tierischen Natur sei derjenige offenbar mehr vor Mangel gesichert, welcher einem Reichen gehört, der etwas mit ihm verliert und der seine Not gewahr wird, als der Arme, welcher als Sklave des ganzen Publikums anzusehen sei. Die Gefahr des Überarbeitens trete

26 So beim Ritter Hugo — Ritter [ = Titel) [Gustav] H u g o , Lehrbuch des Naturrechts, als einer Philosophie des positiven Rechts, besonders des PrivatRechts [sie!], Berlin 4 1819 [S. VIII: „Bey der gegenwärtigen Ausgabe ist mehr von der dritten beybehalten", also von 3 1809; diese Auflage nicht ermittelt], § 186 (S. 2 4 2 - 2 4 4 ) .

A. Wagners Kritik des Liberalismus

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bei der bittersten Armut wenigstens ebensosehr ein. Für die vernünftige Natur aber habe die Sklaverei den Vorzug vor der Armut, daß viel eher der Eigentümer an den Unterricht des Sklaven, der Talent zeige, selbst aus wohlverstandener Ökonomie etwas wenden werde, als dies bei einem Bettelkinde der Fall sei; und im Staate bleibe gerade der Sklave von sehr vielen Arten des Druckes verschont, „welche teils im öffentlichen Rechte, teils im Privatrechte den Freien überhaupt und besonders den Armen treffen. Unter den Fehlern der Verfassung, unter dem zu zahlreichen oder zu leichtsinnig aufgeopferten Militär, den Abgaben und so vielen anderen (Lasten) leidet niemand weniger als er" (der arme Sklave! damals). Nach Hugo hat kein bedeutender Autor so entschiedene Kritik an der Freiheit als eine Aktion geübt wie der ausgezeichnete und stets nach philosophischer Gründlichkeit strebende Adolph Wagner, der in seiner „Grundlegung" der Politischen Ökonomie, die zuerst die persönliche Unfreiheit, sodann die persönliche Freiheit, endlich die Gleichheit, und in einem neuen Hauptabschnitt die „sozialen Freiheitsrechte" teils im allgemeinen, teils insbesondere das Recht der Eheschließung, das Zugrecht, das Aus- und Einwanderungsrecht, endlich das Reiserecht einer sehr eingehenden Prüfung unterwirft, die zwar manches Aufsehen gemacht, aber wenig dauernde Eindrücke hinterlassen hat. Die Tendenz ist dieselbe wie bei Hugo; aber Hugo schrieb zu einer Zeit, der die ungeheure Entwicklung der modernen auf Freiheit begründeten Gesellschaft nur noch in ihren harmlosen Anfängen gekannt hat, ohne daß man auch nur ihre Fortschritte, die gerade in Deutschland erst gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihre imposante und vielfach erschreckende Gestalt annahmen, ahnen konnte. Wagner verfaßte seine großen Werke nicht nur auf Grund der tiefen Kenntnis, die er von dieser Richtung hatte, sondern schon unter dem Einflüsse der mächtigen Gegenbewegung, die etwa seit der Mitte des Jahrhunderts sich entwickelt hatte und zu einem bedeutenden politischen Faktor geworden war: der hauptsächlich von den eigentumslosen Arbeitern getragenen sozialistisch-demokratischen Bewegung. Wagners Werk ist eine große Kritik des Liberalismus,

13 Adolph

Wagner,

G r u n d l e g u n g der politischen O e k o n o m i e , 3. Aufl. (in T ö n n i e s ' Besitz),

Erster Theil ( G r u n d l a g e n der Volkswirthschaft). D a s „zuerst" in T ö n n i e s ' Satz bezieht sich auf: 2. H a l b b a n d (Volkswirthschaft u n d Recht, besonders Vermögensrecht o d e r Freiheit u n d E i g e n t h u m in v o l k s w i r t s c h a f t l i c h e r Betrachtung), Leipzig 1894: 43 ff. 20 Die Tendenz

ist die selbe wie bei Hugo:

Vgl. auch Ritter H u g o , L e h r b u c h eines civilisti-

schen C u r s u s , Band 1, Berlin 5 1 8 1 7 , § 175 (Freiheit u n d Civität) ff., § 2 5 5 (Neuer Vorschlag) ff., Ss. 203 ff., 267 ff.

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Das moderne bürgerliche Recht

der Ritter Hugo unzweifelhaft seinen Beifall gezollt hätte, aber das hätte, wenn diese etwa durch eine jüngere Persönlichkeit repräsentiert worden wäre, keinen Eindruck mehr gemacht. Hugo war der Mitbegründer der historischen Rechtsschule, und hat mit Savigny

den Aufstieg, ja den

theoretischen Triumph dieser Schule erlebt; aber dieser Sieg war nur ein theoretischer. Er hat für die politische Praxis wenig Bedeutung gewonnen und behalten. Savigny selber, der seinen Ruhm durch die Schrift: „Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft" erworben hatte, wurde im J a h r 1842 preußischer Minister für die Revision der Gesetzgebung. Diese wurde, was das Privatrecht betrifft, erst unter dem neuen deutschen Reich in dem Sinne zur Wirklichkeit, wie der von Savigny so bitter bekämpfte Thibaut

verlangt hatte; und der erste Entwurf

des B G B . empfing von vielen Seiten, besonders der germanistischen Jurisprudenz, eine scharfe Kritik, die zu manchen kleinen Abänderungen im Zweiten Entwurf geführt hat, ohne den Grundcharakter des so bedeutsamen Gesetzbuches zu verändern. Dieser blieb liberal, wenn auch mit einigen Zusätzen und Modifikationen, die eine Einräumung an die Gedanken des Sozialismus darstellten und darstellen sollten. Es bleibt eine Frage der Zukunft, ob und wie das Bürgerliche Gesetzbuch gegenüber neuen Grundsätzen und Postulaten standhalten wird.

7 Savigny selber: Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg W1814. n der von Savigny so bitter bekämpfte Thibaut: A[nton] F[riedrich] J[ustus] Thibaut, Ueber die Nothwendigkeit eines allgemeinen bürgerlichen Rechts für Deutschland. Heidelberg W1814.

Drittes Kapitel

Die Revolution im geistig-moralischen Gebiete § 49.

Allgemeines

Über die geistig-moralische Entwicklung der Kultur bedarf es hier nur eines kurzen Hinweises auf den Geist des Mittelalters, wie er in seinen Hauptzügen bekannt ist. Schlichtheit und Einfalt, also eine gewisse Kindlichkeit, sind die nächsten Merkmale, die daran auffallen, mag man sie auch als Naivität belächeln oder als Roheit verklagen. Es gehört dazu aber ein hohes Maß von Heiterkeit und Fröhlichkeit, wie es außer den Kindern auch dem weiblichen Geschlecht, zumal in seiner Jugend und Blüte, mehr noch als der männlichen Jugend eigen ist. Der Naivität ist die Gläubigkeit und Leichtgläubigkeit, also der Aberglaube natürlich, der in der Tat dem Zeitalter, das wir Mittelalter nennen, in einem Maße eigen war, das uns heute, obgleich auch in dieser Hinsicht noch Mittelalter genug rings um uns ist und es lebhaft noch bis ins 18. Jahrhundert sich fortgesetzt hat, dennoch fast unglaublich scheint. Daß das Denken unter diesen Umständen ganz und gar unter dem Einfluß der religiösen Gläubigkeit stand, scheint sich ganz von selbst zu verstehen. Daß aber diese religiöse Gläubigkeit, die jedem jugendlichen und ländlichen Volke eigen ist, beherrscht und bestimmt wurde durch die Kirche, durch ihre Hierarchie, eine bürokratisch organisierte Priesterschaft von universalistischem Charakter, die auch zum guten Teile weltläufig genug war, um in Pracht und Prunk mit den weltlichen Großen zu wetteifern, ist eine offenbare und historisch bedeutende Tatsache. Sie erklärt sich daraus, daß diese gesamte Epoche am Geiste des vergehenden, ja verwesenden Reiches sich nährte, das durch die Eroberungen der Stadt Rom, nachher des ganzen Italien, entstanden war. Es begegnet hier eine höchst merkwürdige Vermischung, ja Verschmelzung ursprünglicher, zum Teil primitiver Elemente, wesentlich gemeinschaftlicher Art, mit solchen eines höchst vollendeten gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, worin die gesamte antike Kultur sich auslebte, um zu sterben. Was den moralischen Charakter betrifft, womit uns das Mittelalter ausgestattet erscheint, so

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Wesen der Kulturentwicklung

pflegt er wesentlich die Züge einer natürlichen und ländlich-urwüchsigen Härte, die zum Teil in einer minderen Empfindlichkeit für Schmerzen jeder Art ihre Ursache hat; aber es hat auch die weniger ursprüngliche als raffinierte, durch die Motive des Kürwillens bedingte Härte ihren Anteil daran, worin, wie in so vielen anderen Merkmalen, das Überleben des römischen kriegerischen Wesens — des Militarismus in Verbindung mit der Ratio Status — sich offenbart. — Freilich darf man auch in dieser Hinsicht ebensowohl wie in bezug auf das ökonomische und politische Leben nur mit starkem Vorbehalt das „Mittelalter" als eine Einheit betrachten und der — überdies noch unvollendeten — Einheit der Neuzeit gegenüberstellen. Vielmehr muß jede Zeitstrecke in einer beständigen Veränderung gedacht werden, also soweit als man die folgende kennt, und sogar soweit man mit leidlicher Wahrscheinlichkeit sie voraussehen zu können meint, in einer fortwährenden Annäherung an diese. Es gehört die Gewöhnung an ein dialektisches Denken dazu, um ein Werden, eine Entwicklung richtig zu verstehen. So ist doch auch das Mittelalter eine fortwährende, aber (natürlich) zunehmende Annäherung an die Neuzeit, wenn auch mit manchen Schwankungen, Widersprüchen, Rückschlägen. Ja man kann sagen, es trägt die Neuzeit in seinem Leibe wie eine Mutter ihr ungeborenes Kind: je mehr der Embryo heranwächst, um so mehr macht er sich bemerklich, obschon er zuvor besonders unbequem ist. Übrigens ist dies Gleichnis nicht denkbar, und hat keinen Sinn, außer wenn man sich der ungeheuren Unterschiede bewußt ist, durch welche so etwas wie Kultur als eine Gesamtheit von Lebensweise, Tätigkeiten, Einrichtungen, Gedanken und Meinungen von einem individuellen Lebewesen sich unterscheidet. Allerdings bahnt die Neuzeit im Mittelalter sich an, wie in der Neuzeit das Mittelalter sich erhält: das ist eine unablässige Verschiebung der Bestandteile in ihren Verhältnissen zueinander, darum auch der Generationen, die miteinander leben, immer in Wechselwirkungen — immer die jüngere von der älteren abhängig, von ihr empfangend und lernend, aber auch in immer erneutem Widerspruch zu ihr, ja sie verneinend und bekämpfend; immer nach ihrem eigenen Maße und Ermessen leben wollend, obgleich nicht ohne die Erfahrungen, Leistungen und angehäuften Erzeugnisse der früheren Generationen leben könnend. So darf man auch sagen, gleichsam in Umkehrung dieser Betrachtung, daß jede ältere Generation ein Stück Mittelalter in sich darstellt, jede neue ein Stück Neuzeit; daß innerhalb jeder gleich7 mit der Ratio Status (lat., gespr. [statu:s]), svw. „mit der Staatsräson".

Sitte im Mittelalter

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zeitig lebenden Mehrzahl von Generationen die jedesmal alten und vergehenden ein Mittelalter bedeuten, die jedesmal jungen, werdenden, fortschreitenden ein Stück Neuzeit repräsentieren. — Gleichwie im Mittelalter die Anfänge, also die Wurzeln des neuzeitlichen Staates erkennbar sind, so auch die der neuzeitlichen Wissenschaft. Das eine wie das andere bedarf nur der Erinnerung, da die Tatsachen unverkennbar für jeden unbefangenen Blick gegeben sind. Für den Zweck dieses Werkes aber wird eine eingehende Begründung sich als notwendig erweisen. Zur Charakteristik des Mittelalters gehört es, daß sittliche Tugenden, mochten sie geübt werden oder nicht, einer ausnehmend hohen Schätzung sich erfreuten. Man darf nicht aus den mönchischen Gelübden schließen, daß große Kreise des Volkes je danach gestrebt haben, diese Tugenden zu üben. Immerhin waren es volkstümliche Tugenden, und die Bemühung, ihnen nachzuleben, konnte auf Achtung ja auf Bewunderung rechnen. Übrigens darf man hervorheben, daß die Treue, insbesondere die des Mannes zu seinem Lehnsherrn, eine besonders hohe Schätzung gefunden hat, so oft und stark auch gerade von den Höchsten dawider gehandelt wurde. So gab es auch unter den Fürsten und Vornehmen den Bruch der ehelichen Treue nicht selten, wenn auch offenbar weniger oft als in neueren Zeiten. Im ganzen dürfte diese im Volke weit besser gehalten worden sein, als man eben in der Neuzeit mehr und mehr gewohnt worden ist, sie zu kennen. Die Scheidung der Ehe war nicht nur als Auflösung des rechtlichen Bandes nach dem Rechte der Kirche unmöglich; das Bedürfnis der Scheidung ist auch, soweit Zeugnisse davon Kunde geben, wenig entwickelt gewesen. Auch kann man dies deduzieren, wenn man erwägt, wieviel seltener die Scheidungen auch heute auf dem Lande als in den Städten, zumal in den modernsten, den Großstädten, vorkommen; und dies wiederum scheint sich leicht zu verstehen, wenn man erwägt, daß zwar das Mittelalter nicht arm gewesen ist an Festen, zumal kirchlichen, die Frauen und Männer zusammenführten; die Feste nicht arm an Schmausereien, an Weingenuß und Üppigkeit; dennoch war das tägliche Leben, zumal das der großen bäuerlichen Menge, wie überhaupt das Leben in den Dörfern und in zahlreichen kleinen Städten, zumeist einfach und arm, wenn auch von Zeit zu Zeit sogar auf dem Lande die Kleiderpracht und anderer Lebensgenuß auffallender wurde, folglich von geistlichen und weltlichen Behörden und Personen scharfe Bekämpfung erfuhr, auch durch Strafen, zeitliche und ewige, teils bedroht, teils heimgesucht wurde. Es mag wenig gewirkt haben, aber die Gläubigkeit und mit ihr verbundene Furcht vor kirch-

142

Die Kunst des Mittelalters

liehen, vollends vor ewigen Strafen, muß doch wohl dazu mitgewirkt haben, die Leidenschaften zu zähmen, und der Sitte, soweit sie an der Kirche und den Religionen ihre Stütze hatte, die große Macht zu verleihen, die auch im Recht als Herkommen und Gewohnheitsrecht ihren Ausdruck und ihre Entfaltung gefunden hat.

§ 50. Kunst und

Wissenschaft

Vielleicht das bedeutsamste in dieser ganzen Sphäre ist aber der kunsthafte Charakter des Geistes im Mittelalter. Die schönen Künste beruhen immer in den Tiefen des Volkes: im häuslichen Leben und also im weiblichen Geiste, als der Sinn für Ordnung und Sauberkeit, für Schmuck und Zier, für die Ruhe der Gestaltung. Die bekannt gewordenen Meister der Künste sind freilich fast immer Männer gewesen, sie brauchten auch männliche Kraft, männliche Intelligenz; und die Künste, insbesondere die Baukunst, die sich ihr anschließende plastische und in naher Verwandtschaft auch die Malerei, konnten außer in Palästen der Großen nur in den Städten ihre Pflege und ihre Entwicklung finden. Sie sind die Blüte des gesamten städtischen Lebens: als die Versammlungsstätten zum Gottesdienst die Kirchen und Kapellen; als Räume zur Beratung, zum Begehen von Festen und Zeremonien in genossenschaftlichen Häusern; zu Lustbarkeit und Mummenschanz, die freilich auch auf dem Lande beliebt, doch in den Städten leichter ihre Stätte finden und die Anfänge des Theaters begründen. Am wenigsten den Städten ursprünglich eigen ist hingegen die Poesie und der Tanz. Sie knüpfen an das Naturleben unmittelbar an: so an das Liebesleben der Geschlechter, an Freundschaft und Kameradschaft, an Freude und Hochzeit, an Leid und Trauer. So ist denn der Volksgesang und der Volkstanz ein ursprüngliches Element dörflichen Lebens; so gehört dazu der Bänkelsänger, zumal wenn er aus der Ferne kommt, von fernen Dingen, Heldentaten und Abenteuern, Graus und Schrecken, wie Wunder und Mären, zu singen und zu sagen weiß. So ist denn auch ein Zeitalter der gepflegten Lyrik im Mittelalter zur Entfaltung gekommen und seine teuren Meister werden auch heute hoch geschätzt. So hat auch das Epos seine glänzende Zeit in Jahrhunderten gehabt, die noch nicht durch hohe und verfeinerte städtische Bildung sich auszeichneten. Das alles verdankte seine Pflege mehr den Höfen und dem Rittertum, das im Minnesang um die Gunst der Frauen warb und sich ihrer erfreute. Aber auch der Meistersang

Werte des Mittelalters und der Neuzeit

143

in den Städten, dem Richard Wagner ein köstliches musikdramatisches Denkmal gesetzt hat, gehört dem Mittelalter und vorzüglich einer der berühmtesten deutschen Reichsstädte an. Das Mittelalter überhaupt hat vielfach schwärmerischen Gemütern Stoff geboten zu romantischer Verherrlichung und Verklärung, und die Neigung dazu scheint von Zeit zu Zeit wiederaufzuleben. Sie beruht zum Teil auf demselben Grunde wie die Sehnsucht des Alternden nach der Jugend, die Idealisierung des Glückes der Kindheit, die Müdigkeit, ja der Ekel, die oft durch die Unsauberkeit und den Lärm der Stadt, durch die Erregungen des Geschäfts und die Eintönigkeit der Arbeit hervorgerufen werden; teils verbindet sich immer leicht mit dem natürlichen und einfachen Streben nach Verbesserung bestehender Zustände, Überwindung seiner Übel, die Meinung, daß es ehemals so viel besser gewesen sei „in der guten alten Z e i t " . Indessen wird auch eine objektive Ansicht einräumen, daß eben der ländliche Charakter, der im Mittelalter bei weitem das Übergewicht hatte, auch das Familienleben und das Volksleben, nicht nur das dörfliche, sondern auch das der zur Blüte gelangenden Städte, vielfach heiterer und poetisch lusthafter gemacht habe, als es in einer Zeit, die ganz und gar vom nüchternen, prosaischen Geschäft

des

Handels und der Politik, also von Sorgen beherrscht wird, möglich ist. — Es ist nicht die Aufgabe dieses Werkes, die Werte des Mittelalters und die der Neuzeit gegeneinander abzuwägen. Bei dieser Erwägung handelt es sich zumeist um bekannte Dinge. Die Protestanten und vollends die Freidenker, die auch unter dem Kapitalismus zahlreich sind, werden nur mit einigem Abscheu dem Gedanken Raum geben, als wären sie gesonnen, Ketzerprozesse und Autodafés, das Beweismittel der peinlichen Frage, die Verfolgung von Hexen Wiederaufleben zu lassen; auch ist ihnen das Raubrittertum nicht unbedingt sympathisch. Die orthodoxen und intensiv gläubigen Lutheraner oder Calvinisten können nicht ihr klassisches Zeitalter etwa in das 15. Jahrhundert versetzen, sondern müssen es wohl oder übel schon in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit suchen, die wenigstens in Deutschland gerade in den Betrieben des Geistes mehr Niedergang und Verfall als Aufstieg und Blüte aufweisen; in andern Ländern mehr die Merkmale einer schon aufblühenden Neuzeit mit ihrem Unternehmungsgeist, ihrer Freiheit und ihrem Reichtum erkennen lassen. Ferner muß auch der heftige Kritiker der Kapitalherr-

i Richard

Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, Musikdrama [Uraufführung 1868],

144

Züge des Alterns in der Neuzeit

schaft und Produktion zugeben, daß der Weltverkehr mehr und mehr die Hungersnöte selten gemacht und daß die fortgeschrittene planmäßige Verwaltung und wissenschaftliche Sorge mit vermehrter Erkenntnis den Epidemien vorzubeugen weiß, auch wichtige hygienische Verbesserungen eingeführt hat, die insbesondere im Familienleben viel Trübsal, so die des häufigen Kindersterbens, ersparen, auch die ehemals große Gefährlichkeit des Kindbettes vermindert hat, aus der die Häufigkeit der Stiefmütter hervorging — und diese sind zwar oft durch voreilige Verallgemeinerungen schlecht gemacht worden, aber der Mangel der natürlichen Mutter bedeutet fast immer einen Schaden für die Kinder, auch in der eigentlichen Kindheit und frühen Jugend, wenn auch mehr nach dem Erwachen der Pubertät. Die gewaltigen Fortschritte der Neuzeit können nicht verdunkelt werden. Aber die unbefangene Erkenntnis wird zugleich und im Zusammenhange mit diesen Beobachtungen und Einsichten ausgeprägte Züge des Alterns in der modernen Zivilisation finden und hat sie darin gefunden; um so mehr gefunden, je mehr erst etwa in den letzten 100 Jahren diese Merkmale stärker und deutlicher zutage getreten sind. Damit ist aber das Problem noch nicht deutlich ins Auge gefaßt. Man ist nicht in der Lage, unserer Kultur etwa eine letale Prognose zu stellen, wie man beim Individuum auf den hebräischen Dichter sich beruft, der gesagt hat: das Leben eines Menschen währet 70 Jahre, weil in der Tat jeder weiß, daß dem 70jährigen nur in außerordentlichen seltenen Fällen noch eine Folge von zwei oder gar drei Jahrzehnten zuzutrauen ist. Hier versagt die Analogie. Symptome des Rückganges gerade in bezug auf die Merkmale, an denen der Fortschritt sich messen ließ, können allerdings festgestellt werden: so die vorauszusehende Verminderung der Bevölkerung anstatt der Vermehrung, die gerade im 19. Jahrhundert so außerordentliche Dimensionen angenommen hatte; so die allgemeine Verminderung der Rangstellung, die Europa gegenüber den Ländern jenseits der Ozeane wie gegenüber den ältesten Kulturländern des fernen und des nahen Orients, wenigstens bis zum Ausbruche des Weltkrieges, der mit Recht als ein Selbstmord Europas gedeutet worden ist, behauptet hat — eine Abnahme seines Machtzaubers zugunsten des gewaltigen Bundesstaates, der vor wenig mehr als 150 Jahren nur aus einigen englischen Kolonien bestand, als diese noch wenig Interesse in Anspruch nahmen; endlich die 21 das Leben 90,10.

eines Menschen

währet

70 Jahre

— dem Moses zugeschrieben: Psalmen

Kulturfortschritt — Von Gemeinschaft zu Gesellschaft

145

große Sphinx, deren Rätsel alle Länder der heutigen Zivilisation belastet, die soziale Frage. Hier gilt es nur, die seitherige Entwicklung und, wenn möglich, auch die kommende, soweit sie in einigem Maße sich voraussehen läßt, zu begreifen und zu deuten. Sie kann nur begriffen werden durch Begriffe, und zwar nur durch solche, die stark genug sind, auch offenbare Widersprüche der Erscheinungen in sich zu fassen. Wir haben, anerkennen und pflegen den Begriff des Kulturfortscbritts, an dem man in der Regel fast ausschließlich die Entwicklung gemessen hat, wenn man nicht gesonnen war, sie zu verneinen und mehr einen Irrtum in ihrem Gange zu sehen. Die Begriffe Gemeinschaft—Gesellschaft, Wesenwille—Kürwille nehmen eine andere Geltung in Anspruch. Sie wollen verstehen lehren, daß das soziale Leben in seinen Hauptphänomenen einen andern Typus angenommen hat und immer mehr anzunehmen tendiert: einen neuen Typus, der den alten verdrängt hat und ferner verdrängen wird, sofern nicht etwa die Möglichkeit sich verwirklicht, daß eine Gegenströmung entsteht, oder sofern sie schon da ist, stärker wird, die in entgegengesetzter Richtung gehen würde — was nur möglich ist, wenn die wirklichen substantiellen Ursachen, von denen die bisherige Entwicklung bestimmt war, in sich aufgehoben werden sollten; nicht also durch Reden, Ideen, Gefühle, Phrasen — jene breiten Bettelsuppen, für die man immer ein großes Publikum haben wird; auch nicht, wenn die realen Grundlagen als Faktoren fehlen oder zu schwach sind, können große echte Philosophien als Welt- und Lebensanschauungen von neuer und besonderer Art, mögen solche mehr oder weniger wahrscheinlich, mehr oder weniger unwahrscheinlich sein, entscheidende Gewalt erlangen, außer wenn sie etwa als die begleitenden Melodien jener Märsche auftreten, in denen das wirkliche Geschehen, und zwar vor allem des wirtschaftlichen alltäglichen Lebens sich bewegen wird. Als Gemeinschaft oder gemeinschaftlich versteht die Theorie alle Verbundenheiten des Menschen, von denen man sagen kann, daß sie „vor" den Individuen sind, d. h. so gedacht und so empfunden werden, und die Individuen selber ihrem Wesen und ihrer Persönlichkeit nach tragen oder doch bedingen. Gesellschaft umgekehrt setzt die individuellen Persönlichkeiten voraus, sie ist als Verbundenheit „nach" den Individuen und durch sie bedingt. — Gemeinschaft ist immer in erster Linie (essentiell) persönliche Verbundenheit, und erst infolge davon (akzidentiell) sachliche Verbundenheit. Auch in dieser Hinsicht gilt ein entgegengesetz-

146

Von Gemeinschaft zu Gesellschaft

tes Merkmal von den sozialen Wesenheiten, die als Gesellschaft oder gesellschaftlich begriffen werden. Ihr primäres Wesen ist vielmehr sachlich, sie sind akzidentiell persönlich; es gehört nicht zu ihrem Wesen (essentia), daß sie es werden: die Aktionäre einer Aktiengesellschaft müssen einander nicht kennen, und wenn es viele sind, so kennen sie einander wahrscheinlich nicht. Ähnlich ist es mit den Mitgliedern großer Kollegien und Körperschaften, Zwecktagungen und Zweckessen, auch wenn sie etwa einander vorgestellt werden oder sich vorgestellt haben. Nun kann freilich auch eine gemeinschaftliche Verbundenheit bestehen, derer die einander nicht kennen; aber auch zwischen persönlich Unbekannten sind in weitem Umfang Beziehungen und Gemeinsamkeiten anzutreffen, die so vorhanden sind, als ob eine persönliche Kenntnis voneinander vorhanden wäre, und wodurch solche erleichtert wird. Ebenso kann ein Verhältnis, das seinem Charakter nach durchaus gesellschaftlich ist, zwischen Personen vorhanden sein, die einander persönlich nicht kennen, ja es kann gleichzeitig ein gemeinschaftliches Verhältnis zwischen ihnen obwalten, wenn auch das gesellschaftliche überwiegend ist. So bedeutet auch die These, daß dem Mittelalter ein überwiegend gemeinschaftlicher, der Neuzeit ein überwiegend gesellschaftlicher Charakter eigen ist, nicht mehr als dies, und muß überdies als ein Prozeß verstanden werden: in dem Sinne, daß durch das Mittelalter hindurch in zunehmender Weise, aber gesteigert und zum herrschenden Prinzip geworden in der Neuzeit — soweit deren Verlauf der Beobachtung offen liegt —, der Entwicklungsgang von Gemeinschaft zu Gesellschaft gegeben ist. — Überdies muß für das richtige Verständnis immer im Auge behalten werden, daß es neben den sozialen Formen und ihren Motiven und im Widerspruch zu ihnen immer die antisozialen feindlichen Gewalten und ihre möglicherweise innerhalb jedes Verhältnisses, jeder Samtschaft, jedes Verbandes obwaltenden Tendenzen gibt, mögen diese sozialen Wesenheiten gemeinschaftlich oder gesellschaftlich beschaffen sein. § 51. Die Verstädterung des allgemeinen

Lebens

Es wird hier nicht die Frage aufgeworfen, ob und wiefern der Fortschritt des Individualismus auch einen Fortschritt der Kultur, d. i. eine Veredelung, Verfeinerung oder gar Verbesserung der Menschen und ihrer Sitten bedeutet, wenn auch zu einem guten Teile dies unzweifelhaft der Fall ist, sondern wir halten uns zunächst an die offenbare Tatsache der Verstäd-

Männlicher und weiblicher Geist in den Städten

147

terung. In dieser liegt aber auch, und in allem, was ihr anhängt, die andere Seite der Entwicklung, in der sich die Neuzeit als Verneinung des Mittelalters darstellt, d. i. als in einem beständigen Gegensatz gegen seine Lebensformen und -gestaltungen wie gegen seine Denkungsart fortschreitend verstanden werden muß. Der Unterschied zwischen Stadt und Land hat zwar schon in den Jahrhunderten des Mittelalters immer mehr zugenommen, je mehr es der Schwelle der Neuzeit sich genähert hat. Z u voller Entfaltung des Gegensatzes ist aber dieser Unterschied erst gewachsen durch das Übergewicht der Städte und des in Großstädten neu zutage tretenden städtischen Wesens, welches Übergewicht in Verbindung mit den Neustädten überhaupt ein durchaus typisches Merkmal der Neuzeit in ihrer bisherigen Entwicklung geworden ist, und wie man mit einem hohen Grade von Gewißheit voraussagen darf, durch fernere Jahrhunderte bleiben wird. Wenn aber Grund vorhanden war, das Übergewicht der Städte und des Handels mit dem Übergewicht des männlichen Denkens in Parallele zu setzen, so muß doch hier eine scheinbare Gegeninstanz geltend gemacht werden, daß alle Verfeinerung und Veredlung, die wir als wesentliche Elemente der Kultur schätzen, vorzugsweise den Frauen und dem weiblichen Geiste verdankt wird. Insofern als der männliche Geist kriegerisch, ist der weibliche Geist friedlich; wenn Krieg zerstörend, vernichtend, tötend, so ist Friede erhaltend, bauend, Leben erweckend. Auch als Handelsgeist bewährt sich die kriegerische Gesinnung; denn sie ist vorzugsweise auf Aneignung und Mehrhaben gerichtet, wie jener. So vertritt in jeder normalen, zumal der großen, Haushaltung der Mann das unsichtbare abstrakte Vermögen und dessen Vermehrung, die Hausfrau die sichtbare Habe, die Schonung und Bewahrung der Schätze des Innern, daher auch deren Ausbesserung und Verbesserung, Reinigung und Pflege, die Schmückung und Verzierung von Zimmern und Wänden. Wie an ihrer eigenen Schönheit, so ist der Frau an der Schönheit ihrer Sachen gelegen, und der Personen, die diese Sachen tragen; das Überwiegen des Gefühls, und nicht nur des ästhetischen, erhebt die Frau ebenso, wie es die Gefahr ihres sittlichen Bewußtseins ist. In seiner Reinheit erscheint es als Liebe und Mitleid zu und mit Menschen, aber auch zu und mit Tieren, darum auch als Wunsch und Neigung, das, was sie liebt, zu erfreuen, zu trösten und zu pflegen. Die weibliche Natur erfüllt sich in der Mütterlichkeit, deren Schönheit in ihrer Natürlichkeit liegt, weil sie keinen Anspruch darauf macht, etwas Übernatürliches oder gar Göttliches zu sein, vielmehr sich selber erkennt als in Übereinstimmung mit

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Männlicher und weiblicher Geist

dem großen Gesetze der gesamten organischen Natur. Aber je reicher und stärker sie ist, um so mehr breitet sich die Mütterlichkeit aus über einen weiteren Kreis, für den mit zu sorgen sie beflissen ist. Hier ist die Größe des selbstlosen oder doch selbstschwachen Weiblichen, die Freude am Erfreuen und Fördern anderer, ihr echter „Altruismus". — So durchwaltet die große Vernunft des ewig Weiblichen das soziale Leben jedes Volkes, daher auch dessen Geschichte, auch in den oberen Sphären der ethischen und ästhetischen Bildung. So sehr auch die Männer in allem außerhäuslichen Leben die Ausübung und Führung sich vorbehalten, so ist doch die Familie Kern des Dorfes wie der Stadt, und das häusliche Leben die Basis des Volkslebens immer gewesen, und wird es — darf man voraussagen — in der Hauptsache auch ferner bleiben. Aus der Familie gehen die heutigen sich wiederholenden Feste und die Feststimmungen hervor, wodurch künstlerisches Sinnen und Schaffen angeregt wird, wie schon in normalem Verlaufe und unter Menschen, die solche Anlagen besitzen, durch das einzige große Fest der Geschlechtsliebe, wie es der Familiengründung vorauszugehen pflegt und in ihr erhalten zu bleiben pflegt, aber auch außerhalb ihrer ein weites Gebiet hat. Obschon aber mit dem Festefeiern die Vorstellung der Fröhlichkeit und Lust immer sich verbindet, so weiß man doch, daß es auch ernste Feste gibt, Trauerfeiern mit Klageliedern und Tränen, mit dem Sich-Versenken in das Vergangene, Unabänderliche, an den unwiederbringlichen Verlust und die Entbehrung. Auf den unmittelbaren Ausdruck erregender Gefühle aller Art, zumal wenn sie „schier die Brust zu zersprengen drohen", ist des Weibes Sinn tiefgehend gerichtet. Alles was ein geistvoller Literarhistoriker (Gewinns, Poetische Nationalliteratur der Deutschen, Bd. II) über Gelegenheitslieder in Verbindung mit dem Volksgesang erörtert, wo er als das Besitzenswerte und Interessante bei „Poesien dieser Art, die sich an bestimmten feststehenden Feierlichkeiten, Volksgebräuchen, Lebenssitten und Standesgewohnheiten mündlich fortpflanzten", das hohe Alter hervorhebt, worauf dergleichen möglicherweise zurückleite, „Märchen, Rätsel, die Spiellieder und Ringelreihen der Kinder, ihre Abzählverse, ihre Tierreime und Festlieder, die Gebete, die Wiegen- und

28 als das Besitzenswerte und Interessante-, Zitat in: G. G. Gervinus, Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen, 2. Tl., Leipzig 2 1842: 321. Das Folgezitat (S. 322) fängt (anders als im GdN 1935a: 138) erst mit „Mährchen, Räthsel [...]" an und hat bei Gervinus die alten Schreibweisen („Thierreime", „Ueberlieferung", „wie vieles" und „aufs frischeste das reinste [...] Naturleben").

Wirkungskreis des Weiblichen

149

Reiterliedchen, die Vater, Mutter oder Amme singen oder sagen, gehören hierher; wie vieles mag darunter uralte Überlieferung sein, wievieles spricht noch auf das frischeste, das reinste Volks- und Naturleben, die Beobachtung der Dinge aus den schärfsten Sinnen aus"! — An dem allen wie am Poetischen und Gemüthaften des Lebens überhaupt, am geselligen Leben und seiner Heiterkeit nehmen die Frauen den Hauptanteil: auch heute noch an der „schönen Literatur", sogar an der im Salon und bei Gastmählern besprochenen, wenn auch das Volkstümliche und Urwüchsige ihr eigentliches Gebiet ist, somit auch, was den „Damen" mit den Frauen des Volkes gemeinsam ist, mehr, als was sie unterscheidet. Die Pflege des Gesanges und dann auch der Instrumentalmusik, wenigstens der des Hauses, ist ganz vorzugsweise weiblich: alle neun Musen sind Mädchen und das Gedächtnis ihre Mutter. Eine gewisse Redseligkeit ist der Frau natürlicher als dem Manne, daher das Erzählen und Berichten; wenn sie auch das von Krieg und Staatshandlungen, von Jagden und weiten Reisen dem Manne überlassen muß; um so mehr ist ihr an den alltäglichen Vorgängen, der Verlobung, der Hochzeit, der Geburten und Todesfälle, wenn auch nicht in statistischer Absicht, gelegen; sogar der „Klatsch" gibt zu manchmal fruchtbarem Austausch, wenn nicht von Gedanken, so doch von Kenntnissen und Gerüchten Veranlassung. So kann man das Schiller-Wort vom Flechten himmlischer Rosen ins irdische Leben dahin umdeuten, daß der Frauen besondere Rolle das Hineinfügen des Spiels in den grauen Ernst des Lebens, der Freude und Lust in das Einerlei des Berufes und Geschäftes, der Phantasie und Poesie in die Prosa und Trivialität des Tages ist. Um so stärker hebt die Tätigkeit des Mannes sich dagegen ab: Man darf sagen: Sie ist im allgemeinen die mehr verständige, wenn wir das Schaffen und Walten schlechthin als für Frauen charakteristisch im allgemeinen Sinne das vernünftige nennen wollen. So ist der verständige Gebrauch der körperlichen Kräfte, der Sinne und der Einsicht, was den Mann als Jäger und als Krieger, was ihn auf den ferneren Lebensstufen der Gesittung und zuletzt als Ackerbauer und Viehzüchter charakterisiert. Aber die Vernunft selber wird durch fortschreitende Ausbildung des Verstandes eine andere: die planmäßig wirkende, die berechnende, gewinnende, herrschend verändernde. Darin beruht die Form des Kürwillens als die ganz überwiegend männliche, die mehr und mehr im Verlauf einer großen Kulturentwicklung das soziale Leben umgestaltet; so ist die Kultur des Mittelalters überwiegend 21 das Schiller-Wort:

Friedrich Schiller, Würde der Frauen [1796 u. ö.], Vers 1 f.

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Der männliche Geist der Neuzeit

weiblich, der Geist der Neuzeit überwiegend männlich: das Willensprinzip dort Wesenwille, das Zusammenleben — außerhalb der Feindseligkeiten — Gemeinschaft; hier der Willenstypus Kürwille, der Charakter des Zusammenlebens — wiederum außerhalb der immer massenhafter werdenden Feindseligkeiten — Gesellschaft. s

Vierter Abschnitt

Historisch-geographische Richtungen der Neuzeit Die geopolitische Entwicklung

§52. Süd-Nord,

Ost-West

Die Neuzeit verhält sich zum Mittelalter wie der Westen zum Osten, der Norden zum Süden von Europa. Eben darum wird durch die Richtungen der Sieg der neuen Momente und der neuen Mächte, insbesondere des Großhandels, bezeichnet. Der Westen bestimmt hauptsächlich die Richtung auf den Atlantischen Ozean, auf das früher kaum befahrene Weltmeer, und diese ist eine der entscheidenden, durchgehenden Tendenzen der Neuzeit, gegeben, wie sie war, durch Entdeckung und Besiedlung des großen bis dahin fast unbekannten Erdteiles, der Neuen Welt, und durch den fortwährend wachsenden Austausch mit ihr, den überseeischen Verkehr. Der Norden unterscheidet sich vom Süden Europas durch kühleres Klima und damit zusammenhängende größere Energie und Beharrlichkeit seiner Einwohner; durch ein Vorwalten des Verstandes über die Phantasie, der Besonnenheit über die Leidenschaft; der praktisch-nützlichen über die künstlerisch spielenden Tätigkeiten — daher durch ein Weniger an Genialität, mit deren Erzeugnissen nach wie vor die italienische Welt das ganze Europa befruchtet. Die südlichen Länder entsprechen mehr dem Weiblichen und Jugendlichen, die nördlichen mehr dem männlichen Wesen und dem gereiften Lebensalter. Ähnlich auch verhält sich in den allgemeinen Zügen der Orient zum Okzident, Asien zu Europa. So unterschied sich wiederum Hellas von Italien; wenigstens Athen — das Zentrum der früheren und gleichsam mittelalterlichen — von R o m , dem der späteren, „neuzeitlichen" antiken Kultur. Aber bedeutender noch ist der psychologische und soziologische Unterschied der Küste vom Binnenlande und, wie die Gestade des Mittelmeeres für die alte Welt, so ist das ganze Europa für Asien westliche Meeresküste, die durch feinere, mannigfachere Gliederung vor den östlichen Rändern und dadurch, daß sie ganz dem gemäßigten Klima angehören, vor dem tropischen Süden und dem ins Eismeer weisenden Norden Asiens sich auszeichnen. Die beiden kulturhistorisch bedeutenden Erdteile bilden zusammen den einen großen Kontinent, dessen Antlitz und Hände Europa darzustellen scheint, während Asien dem vegetativen Hinterteile und Rücken eines Säugetieres vergleichbar wäre. Aus Inseln und Halbinseln bestehen die vorderen Glieder Europas, die im Süden

154

Binnenland und Küste

und im Norden von ihrem Rumpfe ausgestreckt werden. Mit diesen Nasen, Lippen, Fingern, die überall ins Wasser tasten, verglichen, hat Asiens Masse den Charakter des Binnenlandes, das noch über den Ural hin in der russischen Tiefebene sich fortsetzt. Die Ströme dieses Gebietes münden nach dem Norden, Süden und Osten; erst mit der Neva und der Düna beginnen die kleineren, aber für geringe Fahrzeuge um so besser fahrbaren Flüsse, die in die Ostsee (von Asien und Rußland gesehen eine Westsee), dann in die Nordsee und in den Ozean auslaufen. Binnenland und Küste, daher in einigem Maße Osten und Westen verhalten sich zueinander, wie die Tendenz zur Ruhe, zur Seßhaftigkeit und die Tendenz zur Bewegung, zur Wanderung sich zueinander verhalten: wie das Feste zum Flüssigen, das Schwere zum Leichten, das Träge zum Raschen, daher auch die Gewohnheit und Beharrung zum Beschlüsse und Entschlüsse, zur kühnen Neuerung, wie der Glaube zum Zweifel, treue Nachbildung zur Prüfung, zur Untersuchung und Verbesserung. Nicht in beliebigen, wohl aber in auserlesenen, dazu vorbereiteten Seelen und Mengen finden diese Wandlungen statt, die alle auch als Ubergänge von Gebundenheit zu Freiheit sich beschreiben lassen und mit den Unterschieden des ländlichen zum städtischen Geiste verwandt sind und nahe zusammenhängen. Das Streben nach dem Wasser, zumal nach der offenen See, entspringt derselben geistigen Verfassung, die im Wagnis zu gewinnen hofft, und diese wird dadurch bestärkt und gefördert. Die Bewegung der Kultur von Süden nach Norden geht von der Antike her durch das Mittelalter durch. Sie vollendet die Eroberung Europas durch Rom; zuerst durch die römischen Kohorten; dann, nachdem diese den Boden bereitet haben, durch die römische Kirche; mit beiden wandern Handel und Verkehr, befruchten den Norden durch das Wissen und Können des Südens, dringen vom mittelländischen Meere an die Nordsee und Ostsee vor. — Auch in dieser Hinsicht ist die neuzeitliche Bewegung, soweit man sie bisher beobachten kann, von Süden nach Norden eine Fortsetzung der mittelalterlichen, der Norden Europas gewinnt langsam und allmählich, aber sicher das Übergewicht über den Süden Europas. Aber neu, wenn auch wesensverwandt mit der Bewegung, die im Altertum vom Orient her und von Ägypten her sich vollzog, ist die Bewegung von Osten nach Westen. Das Interesse des Handels: der Hunger nach Gold und das Trachten nach den Schätzen Indiens, mit dem von der Antike her durch Vermittelung Italiens Europa im Verkehr geblieben war, führt Schiffe und Eroberer über die Weltmeere.

155

Das zeitliche Auftreten der großen Nationen

§ 53. Bewegungsrichtungen der Neuzeit Wenn wir zunächst die ersten 3 Jahrhunderte der Neuzeit (1500 bis 1800) ins Auge fassen, so treten nacheinander und in der Bewegung vom Süden nach Norden als Kolonien gründende und auch die alten Länder ausbeutende Mächte Portugal, Spanien, Frankreich, die Niederlande, schließlich aber am meisten erfolgreich England in den Vordergrund, das durch Angliederung des frommen und handelsdurstigen Schottlands, durch Eroberung und Niederhaltung Irlands zum „Vereinigten Königreich" wird. Durch diese Jahrhunderte konkurrieren diese Westmächte miteinander. Am schärfsten ungefähr volle hundert Jahre

Frankreich

und England. Hingegen Norditalien und Deutschland, die stärksten Träger der mittelalterlichen Kultur, ragen zwar durchaus in die Neuzeit hinein, aber

fallen allmählich in den Hintergrund. Das Heilige Römische

Reich Ger-

manischer Nation, glänzendes Denkmal der christlich gewordenen und mit dem deutschen Geiste vermählten antiken Denkungsart, wird eine Ruine und geht unter; fast gleichzeitig mit seiner östlichen Nachbarin, die ehemals nur ein Stück von ihm war, der Republik

Polen,

die in ihrer

Blütezeit den Anteil des slawischen Ostens an der von R o m her sich ausbreitenden Bildung am erfolgreichsten vertreten hatte. Freie Städte, die modernen, weil relativ staatlichen Mächte innerhalb des Reiches, erhalten sich mit Kraft, ja bilden diese erst zu glänzender Kultur und Macht aus, verlieren aber in den Jahrhunderten der Neuzeit allmählich an Bedeutung: Typen in Oberitalien Venedig und Florenz, im Deutschen Reich Nürnberg und Lübeck. Im Norden Deutschlands wird der Bund der Städte (die Hanse) im Wettlauf geschlagen von seinen alten Rivalen, den als monarchische und kriegerische Staaten sich konzentrierenden nordischen Reichen: Dänemark,

das Norwegen und die deutschen Her-

zogtümer Schleswig und Holstein in sich aufnimmt, und seinem ständigen Konkurrenten Schweden;

als Seemächte streben sie vom baltischen

Meere nach der Nordsee und dem Ozean hin, eben dadurch geraten sie alsbald in Wettstreit mit den Niederlanden, dann mit Großbritannien, das die Niederlande überschattet. Hinter den skandinavischen Reichen und gegen sie vorstoßend erhebt sich bald die asiatisch byzantinische Gestalt Rußlands

als neuer Ostseestaat mit neuer Hauptstadt des Nor-

dens; übrigens aber als ein gewaltiges Reich nach Süden und nach Osten, ganz in die alte Welt orientiert, in dieser Beziehung daher an der Neuzeit

156

Mittelalter im Süden, Neuzeit im Norden

vorzugsweise soweit beteiligt, als die Neuzeit auch jene mehr in ihre Kreise hineinzieht. Innerhalb des alten Reiches, dessen Könige lange Zeit hindurch der Salbung durch den heiligen Vater zu bedürfen meinten, um als „Kaiser" sich über die Mitkönige zu erheben, erstehen einzelne Bestandteile als Territorien, die zu Staaten werden wollen. Von ihnen werden die stärksten teils dynastisch mit alten oder mit neuen Mächten — Kursachsen mit Polen, Kurbraunschweig-Hannover mit Großbritannien, Kurbrandenburg mit dem Lande des Deutschen Ordens — verbunden, teils gliedern sie andere Territorien sich an, oder erobern solche als Kriegsmächte und stellen sich als solche an die Spitze des neuen Deutschlands. So Österreich, das aber mehr und mehr genötigt wird, in der Abwehr der Osmanen und deren militärischer Macht seinen Schwerpunkt nach Osten zu verlegen. Mit weniger gehemmtem und stärkerem Erfolge dann das nordische Kurbrandenburg, das als Rechtsnachfolger des Deutschen Ordens und als Herzogtum (später als Königreich) Preußen am baltischen Meere Fuß faßt und nach Westen an den Rhein vordringt; das als hegemonischer Staat des neuen Deutschen Reiches auch dies Reich als eine Weltseemacht zu entwickeln gewagt hat. Diese Tatsache und der Zusammenbruch einer so großen und heroischen kriegerischen Gestalt zu Wasser und zu Lande führt uns mitten in die gegenwärtige höchst kritische Phase der Neuzeit hinein, deren Folgen und Wirkungen wir noch kaum im Dämmerlicht zu erkennen vermögen.

§ 54. Süd—Nord

als

Altersunterschied

Der Süden und der Norden Europas unterscheiden sich aber zunächst dadurch, daß jener das ältere, dieser das jüngere Kulturgebiet darstellt. Dies prägt sich erstens dadurch aus, daß dort die antike, hier die moderne Gesittung, Kunst und Wissenschaft ihre Stätte hat. Zweitens aber auch darin, daß die ältere und abgelaufene Phase der Modernen — das Mittelalter — ihre Wurzel noch ganz im Süden behält, während die neuere Phase, in der wir noch mitten drin stehen, davon sich immer freier macht und, auf ihrem eigenen Grunde beruhend, eben dadurch erst der neuzeitlichen Kultur ihre besondere Gestaltung gibt, daß sie mehr im Norden Europas sich heimisch macht. Das Mittelalter hindurch behält teils der Norden Italiens, teils der Süden Deutschlands das offenbare Übergewicht. Der deutsche Süden be-

Natürliche Bedingungen N o r d e u r o p a s

157

sitzt die ältere und reichere Bildung; Städte wie Augsburg und Nürnberg, Straßburg, Ulm, Basel sind die leuchtenden Sterne an seinem Himmel; im Schwabenlande und am Oberrhein sammeln sich früh dichtere Volksmengen; alte römische Lager und Heerstraßen bezeichnen die Überlieferung der antiken Macht und Herrlichkeit, gleich welcher das fränkische Königtum und die bischöfliche Territorialgewalt, auf die jenes sich stützt, vollends die Glanzperiode des alten Reiches unter den schwäbischen Hohenstaufen im Süden Deutschlands wirkt. Der Norden dagegen wird besiedelt, befruchtet, bekehrt wie ein Kolonialland, das allmählich erst zur Ebenbürtigkeit emporsteigt; dies gilt in erhöhtem Maße für den von Deutschen eroberten und besiedelten Osten des Nordens. Aber noch über das Mittelalter hinaus bleibt der Einfluß der südlichen älteren Gegenden überwältigend. Frankreich übertrifft England in Reichtum, Macht und Geist, während innerhalb Frankreichs Paris, die nördliche Hauptstadt, immer mehr die leuchtende Sonne wird. Ebenso überwiegt Österreich lange über Norddeutschland, die mittleren Gebiete ringen sich allmählich zur Geltung empor. D a s Königreich Böhmen stand früh durch seine Bodenschätze im Mittelpunkt lebhaften Verkehrs und erhöhter Bildung, in seiner Hauptstadt gewann die erste deutsche Hochschule ihren Sitz und von dieser Universität nahm die früheste erfolgreiche Empörung gegen das kirchliche Rom ihren Ausgang. Aber der Hauptstrom geht nach Norden; in Deutschland folgt er dem Lauf der Flüsse, noch ins volle Mittelalter fällt die Blüte der Hanse. Der Abfall von der römischen Kirche, die Ausbildung einer freien, zunächst noch theologisch-protestantischen, dann philosophischen und wissenschaftlichen Denkungsart ist, wie im allgemeinen für die Städte, so gleichwohl — obschon noch das südliche Städtewesen im Vordergrund stand — für den Norden charakteristisch, besonders eben für das nördliche Deutschland, darum auch für dessen selbständig gewordene westliche Teile, die Niederlande, ebenso für England und Schottland und für die skandinavischen Länder. Der Norden hebt sich aber auch durch sein vorherrschendes Tiefland vom Süden Europas ab. In diesem Sinne gehört auch der größte Teil Frankreichs zum Norden. Die Ebene begünstigt den Verkehr zu Wasser und zu Lande: die Flüsse werden breiter, ruhiger und für größere Fahrzeuge schiffbar; Landstraßen lassen sich leichter bauen und befahren. Ferner ist der niedrigere Boden im ganzen auch der fruchtbarere, begünstigt also die Verdichtung der Einwohner und die Teilung der Arbeit. — Mehr als von der Fruchtbarkeit sind diese Entwicklungen abhängig vom

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Herkunft von Renaissance und Humanismus

natürlichen Reichtum des Bodens an mineralischen Schätzen und deren durch die dichtere Bevölkerung begünstigten Abbau. Namentlich wächst in dieser Hinsicht mit der Bedeutung des Dampfes als einer den Menschen untertänig gewordenen Naturkraft der Wert der Steinkohlenflöze, durch die das Inselland Großbritannien vor allen europäischen Ländern sich auszeichnet; aber auch der Norden von Deutschland, von Frankreich mit Belgien und von Nordamerika sind, obgleich im allgemeinen geologisch jüngere Gebiete, mit diesen Formationen gesegnet, die in Südeuropa, abgesehen von Frankreich, nur in geringem Umfang vorkommen. Offenbar hängt es damit nahe zusammen, ja ist dadurch bedingt, daß die industrielle Entwicklung der Neuzeit, die so wesentlich an die Verwendung von Koks in Hochöfen sich anknüpft, vorzugsweise in England, demnächst in Schottland, in Belgien und Norddeutschland ihre Sitze gewinnt. — Und doch ist es mehr die Kontinuität der Zeitalter, die durch die fortdauernde Richtung nach dem Norden charakterisiert wird.

§ 55. Hellas und die ideelle

Kultur

Die gesamte ideelle Kultur bleibt von Rom, also mittelbar von Athen abhängig, wird immer neu aus dem griechischen Geiste befruchtet. Um dieselbe Zeit, wenn auch etwas früher, ehe von der römischen Kirche die nordischen Länder sich losrissen, drangen die Gelehrten Konstantinopels, nachdem dies Rom des Ostens in die Hände der Osmanen gefallen war, nach Italien, nach Wien und Paris, nach den deutschen Reichsund Universitätsstädten und pflanzten die klassisch-humanistische Bildung tiefer, als der Klerus und seine Klöster es vermocht und gewollt haben, in junge Seelen. Noch im Zusammenhang mit der spezifischen „Renaissance" der antiken Kunst, die in Italien emporgeblüht war, wurde der Humanismus der erste Vertreter eines Geisteslebens und geistigen Charakters, die für Jahrhunderte das internationale Merkmal einer freien und hohen Denkungsart blieben. Freilich verschmolz diese Bildung wieder mit den Formen des kirchlichen Protestantismus, zum Teil noch mit dem der alten Kirche, und die protestantischen Kirchen als Landeskirchen wurden geringere Nachbilder der in großer Erneuerung sich wiederherstellenden alten Kirche: gleich dieser zuerst Stützen des Feudalismus, d. h. der ausgebreiteten Adelsherrschaft, die besonders in England sich ausbildete und befestigte, sodann des fürstlichen Absolutismus, der mit jenem rang und ihn als gebändigten und überwundenen in sich auf-

Entdeckung der „Neuen Welt"

159

nahm. Er bezeichnete den Übergang in die neueren Gestalten der Staatsgewalt und der Staatseinheit, freilich vorwiegend im Sinne der überlieferten, durch religiöse Vorstellungen und priesterlichen Segen geheiligten Majestät. Auch die materielle Kultur entwickelte zunächst ihren sonderlich neuzeitlichen Charakter nicht in der Richtung der Magnetnadel. Das nördliche, besonders nordöstliche Deutschland und die skandinavischen Länder bleiben wesentlich agricol — der Verkehr allein, die lange in kleinbetrieblichen Formen fortschreitende Küstenschiffahrt, der Handel und die schon durch die Hanse geförderte städtische Bildung gestalten diesen Typus nicht um. Die frühe Entwicklung des Waren- und Geldgeschäftes in Oberitalien hat die Sprache, das Recht und die Technik des Großhandels geschaffen. Unter ihrem Einflüsse und zugleich unter dem Einfluß der gesamten antiken Überlieferung (mehr noch als durch die Stärke der gesellschaftlichen und staatlichen Interessen) wirken die „Kaiserlichen Rechte" zersetzend und ergänzend auf das bürgerliche Recht in den deutschen Territorien, nachdem sie in den romanischen Ländern als das geschriebene Recht teils sich erhalten, teils sich erneuert und ausgebreitet hatten — vielfach gefördert durch die Kirche, die selber dem römischen Gesetze gemäß lebte: denn die Kirche — später ein Bollwerk des ländlichen und feudalen Geistes, also des Widerstands gegen die städtische, besonders großstädtische Bildung — wirkt in ihrem ersten Jahrtausend noch vorzugsweise im Sinne des Verkehrs, der Wissenschaft und Technik, also der städtischen Kultur, die sie als Trägerin der antiken Überlieferung weihend begünstigt hat.

§ 5 6 . Die neue Welt Auf ihre eigene Art kennzeichnet die Neuzeit sich am stärksten durch die Bewegung von Osten nach Westen. Ebenso wie im ganzen nördlichen Teile des europäischen Kontinents die Richtung nach Norden, so folgt auch diese spätere Richtung dem Lauf der Ströme, und ausgesprochener als jene dringt sie nach dem Meere vor. Der Zug nach dem Westen ist auch der Zug nach dem Ozean und über ihn hinaus. Die Entdeckung der „Neuen Welt" steht an der Grenze von Mittelalter und Neuzeit. Sie ist das am schärfsten epochemachende Ereignis. Man suchte die ältere geheimnisvolle, noch hinter der graeco-römischen Kultur und den orientalisch-ägyptischen Kulturen, von denen diese empfangen hatten, lie-

160

Die Besiedlung Amerikas

gende Welt Indiens, die ihrerseits längst Europa gesucht hatte, um des Silbers willen, dessen sie bedurfte. Man fand drüben eine neue noch tief in der Barbarei steckende, dünn bevölkerte Gesellschaft; jenes Gebiet, das noch spät im 19. Jahrhundert das Land der unbegrenzten Möglichkeiten hieß. So groß auch die Bedeutung ist, die dem Genuesen zukommt und dem Umstände, daß er für Spanien die westindische Inselgruppe besetzte — im Vordergrunde Europas steht doch in jener Zeit das kleine Land Portugal. „Amerika wäre bald entdeckt worden, auch wenn Columbus in der Wiege gestorben wäre" (K. E. von Bär). Vascos Fahrt um Afrika „bezeichnet den ersten großen Schritt auf die Erkenntnis des großen Weltmeeres", war „das erste Vordringen in das große, die einzelnen Ozeane verbindende Südmeer; und obschon die Entdeckungsfahrten nach Amerika für die Meereskenntnis die Kunde des Atlantischen Ozeans brachten, so sei doch — meint Ratzel — erst die Weltumsegelung des Magelhaens ein der Fahrt Vasco da Gamas vergleichbarer Fortschritt gewesen". Beide waren Portugiesen, und Portugals Hauptstadt — vorspringend, wie das ganze Land nach Westen gewandt — lief rasch dem nach Byzanz und dem Morgenlande orientierten Venedig den Rang ab. „Der äußerste europäische Spähplatz nach dem Westen" wird Lissabon von Kohl genannt. (Hauptstädte S. 125.) Die Heiligkeit des Papstes teilte die neue für den christlich-katholischen Glauben zu erobernde Welt zwischen Portugal und Spanien. Um so wichtiger ist es, zu bemerken, daß weder Spanier noch Portugiesen dauernd im Nordwesten der neuen Welt sich angesiedelt und behauptet haben, obschon die Fischbänke von Neufundland von den Portugiesen, 8 Amerika

wäre bald entdeckt

worden

— Zitat im v. Baer (1873) nicht ermittelt, obwohl

dort zumal Ss. 3 6 2 — 3 7 9 („Weite Reisen ohne Compaß [ . . . ] " einschlägig sind. 9 Vascos Fahrt um Afrika 19 Der äußerste

europäische

— Zitate von Friedrich Ratzel nicht aufgefunden. Spähplatz

— Tönnies modernisiert die Zitate: J. G. Kohl (Die

geographische Lage der Hauptstädte Europas, Leipzig 1874) spricht S. 125 von Lissabon, „dem äussersten Europäischen Spähplatze zum Westen"; ebenda steht, dass der Portugiesen und Spanier „Haupt-Colonien-Land eine südliche

Partie America's gewor-

den". Auch wird etwas zugespitzt (S. 125 f.): „Man mag hierbei nebenher die allgemeine Bemerkung machen, dass fast alle Haupt-Pflanzungen der Europäer in der Neuen Welt in eben der geographischen Reihenfolge von Norden nach Süden sich angesetzt haben, in welcher [|] die Mutterländer in Europa geschichtet sind: die Skandinavier im hohen Norden in Island und Grönland, — nach ihnen etwas weiter südlich die Briten und Franzosen in Canada und Virginien, — und noch weiter südlich die Spanier und Portugiesen in Westindien und Brasilien, was denn wieder als eine natürliche Consequenz der geographischen Lage betrachtet werden kann."

Zukunft Amerikas

161

die gerade als Fischervolk so kühne Seefahrer geworden sind, zuerst ausgebeutet wurden. „Vielmehr ist ihr und der Spanier Hauptkolonieland eine südliche Partie Amerikas geworden." „Man mag hierbei die allgemeine Bemerkung machen, daß fast alle Hauptpflanzungen Europas in der Neuen Welt in eben der geographischen Reihenfolge von Norden nach Süden sich angesetzt haben, in welcher die Mutterländer in Europa geschichtet sind: die Skandinavier im hohen Norden, in Island und Grönland — nach ihnen etwas weiter südlich die Briten und Franzosen in Kanada und Virginien; und noch weiter südlich die Spanier, Portugiesen in Westindien, Brasilien, Peru, Chile usw." — Was dann wieder „als eine natürliche Konsequenz der geographischen Lage betrachtet werden kann" (Kohl) — ja richtig erkannt wird. Der vierte Weltteil empfängt in der Neuzeit die Samen und Schößlinge der mittelalterlichen europäischen Gesittung. Spät entdeckt, noch später besiedelt, kommt erst der fünfte: Australien mit Neuseeland hinzu. Zusammen stellen sie die große Kolonie Europas, ein Neu-Europa dar. In Amerika ist es wie im Europa der Neuzeit die Nordhälfte, die weit überwiegende Kraft und selbständige Macht durch Menschen und Güter gewonnen hat. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstehen die Vereinigten Staaten, die während des 19. und 20. Jahrhunderts (soweit es schon erkennbar) an äußerem Umfange und innerer Entwicklung ein rasches und ungeheures Wachstum zeigen. Auch innerhalb ihrer setzen die Bewegungen von Süden nach Norden, von Osten nach Westen sich fort. Das entscheidende Ereignis im 19. Jahrhundert ist der nach vierjährigem Bürgerkriege errungene Sieg der mehr kommerziellen und industriellen, also moderneren Nordstaaten über die mehr agrarischen und schon durch die Negersklaverei im soziologischen Sinne mehr aristokratischen Südstaaten, die ihre Partei die demokratische nannten; im gleichen Verstände, wie immer in Europa die feudalen Mächte und die kleinen Herren für ihre Libertäten gegen alle Zentralgewalten gekämpft haben und auch im 19. Jahrhundert noch als deutsche Souveräne das Streben nach der deutschen Staatseinheit zuweilen verketzerten und verfolgten. Um jene Zeit der Entscheidung für die Nordstaaten Amerikas erreichten die ersten Pazifik-Eisenbahnen den westlichen Ozean, nachdem schon um die Mitte des Jahrhunderts Kalifornien der Union angegliedert war. Und wenn auch die Oststaaten durch ihre Welthäfen die Verbindung mit Europa und die allmähliche Aufnahme seiner Kulturmittel erreichen und befördern, also auch das Übergewicht behaupten, so ist doch nach Bryce, der wohl der beste europäische Kenner der Vereinigten Staa-

162

Seeweg nach Ostasien

ten genannt werden muß, der Westen das Land der Zukunft und ist offenbar einer gewaltigen Verdichtung der Bevölkerung fähig. Man darf wohl bezweifeln, ob das Zusammenbestehen der östlichen und westlichen Staaten in dem großen Bunde lange Dauer ohne Zwiespalt und schwere Konflikte haben wird. § 57. Der ferne

Orient

Inzwischen hat auch die Verbindung Europas mit dem Orient niemals aufgehört, vielmehr stärker sich entwickelt. Wenn auf dem Landwege die großen Karawanenzüge von Indien durch den Kontinent bis zum Mittelmeer sich fortsetzen, so wurde doch zuletzt der lange gesuchte Seeweg, die neuzeitliche Straße auch nach dem fernen Osten durch den unermeßlich scheinenden Stillen Ozean gefunden. Die Kugelgestalt der Erde, die noch im 15. Jahrhundert der vollen Anerkennung harrte, erweist sich dadurch praktisch als Wahrheit. Der jüngste neue Weltteil, worin nur Ureinwohner auf der Stufe der Wildheit angetroffen wurden, liegt relativ nah den Stätten der uralten, wahrscheinlich ältesten Kulturen Chinas und Japans, mit denen wiederum diejenige Indiens viele Berührungen hat. Indien — frühzeitig Tummelplatz des Konkurrenzkampfes von Portugiesen, Spaniern, Franzosen um Handel und Herrschaft — wird mehr und mehr dem britischen Einfluß, im 18. und folgenden Jahrhundert dem britischen Szepter unterworfen. Um Handel und Macht in den übrigen Gebieten streiten die europäischen Staaten, unter denen Rußland auf dem Landwege, also aus seiner osteuropäischen Sphäre, weiter gegen Osten vordringt, während zugleich die Vereinigten Staaten überall sich heimisch zu machen bemüht sind. Das große Ereignis der neuesten Zeit ist das Erwachen dieser fernen Länder, die durch Jahrtausende ihren eigenen Entwicklungsgang genommen hatten und von Europa aus gesehen im Schlummer eines fast unbeweglichen Dorfgemeindelebens lagen. Sie erwachen, d. h. sie ziehen europäische Gewänder an, rüsten und schlagen sich mit europäischen Waffen, importieren und bauen europäische Maschinen, bemächtigen sich europäischer Wissenschaft und Technik. Das Inselvolk der Japaner, am stärksten angeregt durch das mächtigste europäische Inselvolk, geht kühn in der Europäisierung voran und zieht bald durch Energie und Leistungen die Bewunderung der Welt auf sich; mit seinen Waffen wird Rußland von England 35 mit seinen Waffen wird Rußland von England geschlagen — Die Rede ist vom RussischJapanischen Krieg 1904—1905; die Seesiege des Kaiserreichs Japan über die Pazifik-,

Neuzeitliche Entwicklung Ostasiens

163

geschlagen: das ungeheure Ereignis im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Und nun folgt auf diesem Wege das massige China, Mutterland auch der altjapanischen Kultur im 18. und 19. Jahrhundert, Gegenstand der Bewunderung des europäischen Rationalismus — die Anziehungss kraft des europäischen Geistes sprengt auch die chinesische Mauer. Und zu gleicher Zeit wird Indien nicht zurückbleiben. Die Unrast Indiens beunruhigt das britische Weltreich in seinem Zentrum. Kämpfe bereiten sich vor, die vielleicht einen gewaltigen Rückschlag des Ostens gegen den Westen zur Folge haben werden.

dann die Ostseeflotte des Russischen Reichs werden von Tönnies als Siege im Interesse der herrschenden Seemacht, des britischen Weltreiches, konstatiert.

Fünfter Abschnitt

Die bewegenden Kräfte der sozialen Entwicklung

Erstes Kapitel

Natürliche und soziale Grundlagen des menschlichen Lebens

§ 58. Ursprüngliche Elemente des menschlichen Lebens Die wissenschaftlich bedeutsamste Frage der Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen im sozialen Leben und daher der Geschichte als der Entwicklung des Lebens der Menschheit ist in viele Kontroversen eingehüllt, und zwar auch darum, weil die Betrachtung und Erkenntnis des sozialen Lebens noch nicht völlig aus ihrer theologischen Phase sich zu lösen vermocht hat. Ursprünglich ist jedenfalls für die Menschen und für alle ihre Zusammenhänge irgendwelche Sorge für Nahrung ihrer Leiber und ihrer Kinder, während diese sich selbst zu helfen unfähig sind; Sorge auch für einander, gegenseitiger Schutz, Pflege der Kranken und Schwachen durch die Gesunden und Starken, wenn und sofern diese hinlänglichen Wert darauf legen, jene zu erhalten, aus welchen Gründen auch der Wunsch entspringen möge — zum einseitigen und gegenseitigen Schutz gehört auch das Obdach, selbst wenn es etwa nur in einer Höhle gesucht wird; es gehört dazu, wenigstens im nicht tropischen Klima, die Kleidung. In dieser Aufzählung haben wir aber die Elemente des materiellen Lebens, wie sie heute so sehr wie in den ursprünglichen Lebensumständen das Dasein und die Tätigkeit der Menschen bedingen und bestimmen. Auch die große Mannigfaltigkeit von Bedürfnissen, die über diese elementaren Bedürfnisse weit hinausgehen, beruht ihren letzten Motiven nach in Eigenschaften der menschlichen Individuen und ihres Zusammenlebens, deren Anfänge oder Keime z. T. schon in der vormenschlichen Natur, z. T. in den primitiv menschlichen Anlagen sich bemerkbar machen, die mit dem Denken der Menschen gegeben sind.

168

Geschlechtstrieb, Kampf, Führertum, Kult

§ 59. Keime des fortgeschrittenen

sozialen

Lebens

Da ist in erster Linie die Phantasie und der Wunsch, anziehend oder abstoßend, reizend oder wehrend zu wirken, also sich ein gefälliges oder ein furchtbares Ansehen zu schaffen: jenes von großer Bedeutung für den geschlechtlichen Trieb, dieses für den oft damit, wie mit anderen Bedürfnissen zusammenhängenden Kampf gegen Nebenbuhler und gegen Fremde, die Gewalt üben oder androhen. Schon die ältesten Gestalten menschlicher Gesittung, von denen wir hören oder die heute noch beobachtet werden, enthalten Merkmale, die in manchen Stücken über diese Elemente hinausgehen. Uralt ist das Herrschen, Gebieten und Verbieten, infolgedessen die Streitentscheidung, das Richten, wenn auch ohne Begründung, ja ohne Worte, durch das bloße Auseinanderhalten der Streitenden und etwa das Niederschlagen der sich Widersetzenden. Im gleichen Sinne wirkt die Führerschaft im Kampfe und die Kampfgenossenschaft. Uralt ist ferner die Erinnerung an verstorbene Genossen, zumal an die Führer und Häuptlinge, die natürliche Beharrung des Gedächtnisses in Verbindung mit dem Bedarfe des Schutzes, worauf die Vorstellung des Noch-Lebens der Gestorbenen sich stützt und das Verlangen nach der Nähe und Hilfe ihrer Seelen oder Geister, die als wesenlose, aber wenigstens zuweilen für den Gesichtssinn erkennbare Gespenster vorgestellt und gedacht werden; sie noch zu erkennen wie sie lebend, zumal als Alte, ge- und bekannt waren: mächtig und furchtbar, aber auch wohltuend, weise und helfend, folglich sind ihre Gestalten zu pflegen, darum auch ihnen ein Anteil an Speise und Trank zu gewähren, deren sie glücklicherweise nur wenig bedürfen, also endlich nur den Duft von Blumen und Früchten: Dies sind die Keime alles dessen, was noch heute als Kultus, darum als wichtigster Bestandteil der Religionen unter den Menschen lebendig ist und offenbar noch durch viele Jahrhunderte lebendig bleiben wird, wenn auch in allmählich abgewandelter Erscheinung. Diese Kerngestalt eines so urbedeutenden Handelns und Denkens ist noch als Ahnenverehrung (Ancestor Worship) in dem größeren Teil der lebenden Menschheit wirksam, gleich ihrer Basis, der Meinung von dem wirklichen Vorhandensein, dem Überleben der Geister oder Gespenster, der Dämonen und Götter als ehemaliger, ehemals mächtiger Personen, die noch in einer fernen Welt wohnen, oder durch ein besonderes und erhaben glückseliges Leben belohnt wurden, wenn man nicht etwa meint, denken zu sollen, daß sie durch ein qualvolles unablässiges Leiden grausam bestraft werden.

169

Bedürfnisse und Aufgaben der Alter und Geschlechter

§ 60. Natürliche

Verteilung der individuellen Bedürfnisse und Aufgaben

und

sozialen

Für zusammen lebende, zusammen wohnende, zusammen wirkende Menschen, die in Urzeiten wie in gegenwärtigen aus Frauen und Männern, Jungen und Alten, Kindern und Erwachsenen bestehen, sind diese verschiedenen Bedürfnisse, die hier angedeutet wurden, gleich notwendig, auch wenn diese Notwendigkeit in verschiedenem Grade empfunden und gar erkannt wird. So finden wir, daß der Hunger als Empfindung des Nahrungsbedürfnisses, nebst quälendem Durste am unmittelbarsten und unwiderstehlichsten von den jüngsten Kindern empfunden und kundgegeben wird; die von Schiller neben den Hunger (als Motor des Getriebes) gestellte „Liebe", objektiv im Verlangen nach Fortpflanzung beruhend, bezeichnet am meisten Männer und Frauen im erwachsenen, aber auch jugendlich gereiftem Lebensalter, um bis in ein vorgerücktes Alter zu beharren. Ausschließlicher den Männern, und zwar als Lust am Kampfe, besonders jungen Männern, gehören die Funktionen der Wehr, zumal für den Schutz des häuslichen Herdes und des bewohnten Landes. Hingegen der Verkehr mit den Gebilden der Phantasie, Geistern und Göttern hat von jeher die Frauen, erwachsene und ältere zumal, in hohem Maße bezeichnet, und ihnen ebenso eine Überlegenheit über die Männer gegeben, wie die materiell rohe Fähigkeit und Lust zu kämpfen die Männer zu Herren über die Frauen gemacht hat, während die gemeinsamen Fähigkeiten und Leistungen der Männer und Frauen sie ihre Kinder leiten und regieren machen: sowohl ernähren, kleiden und beschützen, als auch pflegen und belehren. Den verschiedenen Bedürfnissen und Funktionen der individuellen Menschen entsprechen und gestalten sich nach: die sozialen Leistungen der sozialen Schichten. Zunächst sind die allgemeinsten Leistungen solche, denen kein Mensch sich entziehen kann: sie bleiben besonders als haushaltende Sorge den Frauen vorbehalten gleich den physiologischen Funktionen des Gebärens und Säugens, wenn auch diese nicht notwendig und nur in einem bestimmten Abschnitte ihres Lebens ausgeübt werden. Auch der Mann hat immer, wenigstens wenn er, wie es die Regel ist, in einem gewissen Alter Weib und Kind als sein eigen dauernd besitzt, die

11 von Schiller:

„Einstweilen, bis den Bau der Welt [|] Philosophie zusammenhält, [|] Erhält

sie das Getriebe [|] Durch Hunger und durch Liebe." Friedrich Schiller in: „Die Taten der Philosophen" [1795 u.ö., auch: „Die Weltweisen"].

170

Funktionen der Frau, des Hausherrn — Nahrungsbeschaffung

Rolle des Hausvaters in vielen verschiedenen Lebenslagen zu versehen. Diese Funktion aber gestaltet sich sehr mannigfach, wenn auch in gewissen Grundzügen auf die gleiche einfache Art, in der Tätigkeit, die regelmäßig zur Deckung der allgemeinen Bedürfnisse als notwendig empfunden und erkannt wird; mithin zur Beschaffung von Nahrungsmitteln und anderen Sachen, die zum Leben notwendig sind. Die Beschaffung von Nahrungsmitteln weist, wie hier nochmals bemerkt werde, einen einfachen Gang der Entwicklung auf: von der okkupatorischen Ergreifung der Früchte des Waldes wie der Land-, Luft- und Wassertiere zur Domestizierung mancher Landtiere, auch einiger Lufttiere, von denen wieder einige zu Gehilfen der menschlichen Tätigkeiten ausgebildet, andere unterhalten, gepflegt, ernährt werden, um selber als Nahrungsmittel zu dienen oder doch solche herzugeben. Eine analoge Entwicklung ist die von der Okkupation vegetabilischer Früchte zum mehr und mehr planmäßig werdenden Anbau solcher, der seine für die Ernährung wichtigste Gestalt als Umwälzung des Erdbodens erhält und eine große Epoche in der menschlichen Entwicklung bedeutet. Immer bedarf die Haushaltung der Mitwirkung des Weibes: seine Hauptaufgaben gewinnt es durch die Zubereitung der Nahrungsmittel wie der Kleider, und durch die Sorge für den inneren Zustand der Hütte oder anderen Behausung, vor allem des Lagers. Vielfach werden Tätigkeiten dieser Art und die Künste oder Handwerke, die ihnen obliegen, auch Gegenstände bewußter Pflege durch die Männer: eine höchst bedeutende Wandlung, wenn und sofern solche Tätigkeit von Beschaffung der Nahrungsmittel aus eigenen Kräften sich ablöst und nur auf sich selbst beruhen wird, so daß ihre Subjekte nebst den Familien aus anderen Quellen als der eigenen Arbeit ihre Nahrungsmittel und anderes gewinnen müssen, was am ehesten sich verwirklicht in irgendeiner Form des Austausches ihrer Arbeit oder — was viel leichter und bequemer — des Produktes ihrer Arbeit gegen die benötigten Nahrungsmittel oder andere Gegenstände; wo aber sogleich der tiefgehende Unterschied sich geltend macht, daß Nahrungsmittel zumeist unmittelbar verzehrt werden und nur einer geringen Dauer oder Aufbewahrung und Erhaltung zum künftigen Genüsse fähig sind, zum Teil sogar leicht und rasch verderben, also unbrauchbar werden; hingegen die meisten Gegenstände anderer Bedürfnis-Befriedigung einer relativ langen Dauer fähig sind und also nicht immer aufs neue in regelmäßigen und kurzen zeitlichen Folgen das Bedürfnis herausfordern; wo denn auch wiederum verschiedene Grade der Dauerhaftigkeit und folglich unter sonst gleichen Umständen des erneuten Bedürfnisses sich bemerkbar

Lebensdauer der G ü t e r — Soziale Stabilität und Herrschaft

171

machen. Ein Kleid dauert Jahre, vielleicht Jahrzehnte, also zuweilen ein Leben lang und darüber hinaus. Ein Haus kann Jahrhunderte dauern, und tut es, wenn es fest genug gebaut ist und nicht gewaltsamer Zerstörung unterliegt.

§ 61. Konstanz

des

Zusammenlebens

Dasselbe gilt von den Formen eines solchen Zusammenlebens: wenn sie auch sehr verschieden voneinander sein können, so haben sie doch miteinander gemein, daß sie von großer Stabilität zu sein pflegen, es sei denn, daß sie von außen zerstört werden. Die Herrenstände, die über einen solchen Gemeindebereich schalten, werden zwar gering an Zahl, aber darum nicht gering an Macht sein, und sie werden ihre Macht als ihnen gefallend zu vergrößern streben; mit welchem Erfolge, das hängt von den äußeren und inneren Ursachen und Gefahren ab, denen zu begegnen und gegen die sich zu behaupten ihnen aufgegeben ist. Im allgemeinen ist es die Kultur der Klans und Dorfgemeinden, die orientalische und sonst außereuropäische Kultur, soweit sie über die Zustände der Wildheit und der Barbarei sich zu erheben vermocht hat.

§ 62. Faktoren

der

Veränderung

Der große Faktor der Veränderung ist die Bevölkerung: ihr Wachstum und das Knappwerden des Raumes. Dessen nächste Wirkung ist die Bildung von dichteren Wohnstätten, die oft zunächst um Sammelpunkte des Schutzes, um Burgen oder auf Inseln sich bilden und in befestigten Städten sich vollenden. Aus diesen Abschließungen entspringt das Bewußtsein der Notwendigkeit, Zufuhr von Nahrungsmitteln und etwa auch von Stoffen für die eigene Arbeit durch Beherrschung eines Landgebietes, einer See oder eines Stromes für die eigene Verfügung zu sichern, oder aber vermittels des Tausches, der wiederum selber der Sicherung bedarf, Mittel zu gewinnen, kaufend zu erwerben, was der Händler, auch wenn er ein Fremder ist, im eigenen Interesse begünstigen und erleichtern wird; endlich beide Arten der Eroberung zu gleicher Zeit und wechselseitig helfend anzuwenden. Der Hunger der großen Menge, dem gleichartig andere Bedürfnisse nach Gütern wirken, die jeweils als notwendige oder doch dringend

172

Bevölkerungswachstum und seine Wirkungen

gewünschte entbehrt werden, ist ein Faktor, der in allen sozialen Zuständen große Wirkungen haben muß. Ihm steht die Notwendigkeit der Herrenstände gegenüber, solchen Hunger und anderes dringendes Verlangen zu befriedigen, um sich in ihrer Herrenstellung zu erhalten. Sie sind aber regelmäßig beflissen, zum gleichen Behuf ihre Herrenstellung zu verstärken und zu erweitern; darum streben sie danach, ein weites Gebiet zu beherrschen und eine größere Menge von Menschen als ihre Untertanen zu behandeln und soweit zu kennen, als es nötig ist, um sie zu benutzen. Teils zu diesem Zwecke, teils den allgemeinen Bedingungen der menschlichen Natur gemäß, entwickelt sich in ihnen das Bedürfnis, durch eine Fülle von Gütern, über die sie verfügen, durch deren Vortrefflichkeit und Schönheit Glanz und Pracht zu entfalten, und fähig zu sein, große Scharen von Anhängern und Gästen, von Gefolge und Dienern um sich zu sammeln, von denen viele, in erster Linie ihnen verwandte oder sonst nahestehende und wertvolle Personen, an der Herrschaft teilnehmen und folglich ähnliche Bedürfnisse leicht entwickeln werden. — Mit der Vermehrung der Volksmenge und ihrer Verdichtung in größer werdenden Städten, mit der Zunahme des Handels und der Macht der bereicherten Handelsstädte entsteht eine neue Herrenschicht, deren Ursache nicht mehr oder doch nicht in erster Linie die auf Waffen, Körperkräften und Gefürchtetsein oder auf Gefolge und Gehorsam beruhende Macht, und nicht die vermutete Gunst der Götter oder eines Gottes ist, sondern das Vermögen, durch den Besitz von Tauschmitteln im friedlichen, wenn auch durch ihre Überlegenheit bestimmten Verkehr ihren Willen durchzusetzen, ihre Zwecke zu erreichen, also die Menschen der großen Menge, die mehr und mehr um sie herum wächst, sowohl als die der alten Herrenstände, wenn auch diese minder leicht, zu bewegen, ihren Wünschen, positiven und negativen, gerecht zu werden, also zu leisten und zu begehren, was sie verlangen oder was ihnen willkommen ist: Güter herzugeben, Dienste zu gewähren, sei es zum eigenen Nutzen und fremden Schaden oder wider ihre Wünsche zum eigenen Schaden und fremden Nutzen. Wenn sonst die Elemente wirklicher oder möglicher Gemeinschaft die überwiegenden im Zusammenleben, Zusammenwohnen und Zusammenwirken gewesen sind, so werden es nun mehr und mehr die der Gesellschaft oder des allgemeinen Tausches. Wenn im früheren Zustande die Waffengewalt und mit ihr verbunden die Gewalt des Gebetes und Zaubers, des priesterlichen Geheimnisses vorwaltet, so nunmehr die Macht der materiellen Güter, die sich im Gelde repräsentieren, und

Werden der Gesellschaft — Arten der M a c h t — Widerstand

173

derer, die über große Mengen dieses Machtmittels verfügen, mithin in erster Linie der Kaufherren, die als solche auch Herren der substantiellen Güter des Bodens, also der landwirtschaftlichen Betriebe, der Wälder und Gewässer, der Bergwerke, Salinen und anderer Bodenschätze werden, die vor allem also auch dadurch Herren — unmittelbar oder mittelbar — der zu Massen sich entwickelnden Menschen werden, die von alledem nichts oder sehr wenig besitzen, seien diese ihre Mitbewohner, Volksgenossen oder beliebige Fremde.

§ 63. Macht und Machtstreben der

als bewegende

Kräfte

Gesellschaft

Die Schlußfolgerung scheint gegeben zu sein, daß die Herrenschichten, verbunden oder getrennt, das Volk beherrschen, also die bewegenden Kräfte der Volkswirtschaft durch die Volkswirtschaft, aber auch des Staates durch den Staat, und des geistigen Lebens durch dessen Mittel darstellen. In Wahrheit ist dies immer in hohem Maße der Fall gewesen. Diese bewegenden Kräfte lassen sich also zusammen begreifen als A. die physische Macht und Überlegenheit B. die Zauber-Macht und Überlegenheit C. die Geld-Macht und Überlegenheit. Es ist offenbar, daß je zwei dieser Mächte miteinander gegen die dritte sich verbünden können, daß aber auch jede von ihnen einzeln gegen jede andere feindlich entgegengerichtet sein mag, so daß ihre Zwiespalte überhaupt ihren Untertanen zum Vorteile gereichen müssen. Überhaupt ist immer mit irgendwelchem Widerstande des Volkes oder der großen Menge zu rechnen, aber auch mit der geringen Wahrscheinlichkeit der Einmütigkeit dieses Widerstandes. Große Teile des Volkes werden immer mit jeder Art der Herrschaft, und mit allen zugleich, unter der Bedingung zufrieden sein, daß man sie selber zufrieden läßt, d. h. ihnen die Freiheit gönnt, nach ihren Kräften den Acker zu bauen oder andere Tätigkeiten auszuüben, zumal wenn und solange als solche Tätigkeiten mindestens ihre gewohnte Art zu leben und ihre Meinungen von dem, was recht und billig ist, nicht stören oder sogar zerstören, wenn möglich sogar — im Gegenteil diese verstärken und erleichtern. Denn das Verlangen nach dem Guten, nach dem Besseren, daher nach dem Besitze der Mittel, es zu erwerben, mithin — in dem Jahrtausende

174

Des Volkes Wünschen und Streben — Gewinnstreben

alten Dasein eines allgemeinen Tauschmittels — nach dem Besitze von Geld und verwandten Werten, die gleich dem Gelde wirken oder leicht und rasch in eine für genügend gehaltene Menge Geld verwandelt werden können, ist immer ein höchst lebendiger und starker Faktor der menschlichen Natur gewesen und geblieben. Seine Energie ist aber durch verschiedene Umstände verschieden bedingt: einmal — gemäß dem psycho-physischen Grundgesetz — durch die Tatsache, daß die Empfindung nicht, jedenfalls nicht im Verhältnis zur Stärke des Reizes, sondern, wie es mathematisch ausgedrückt wird, mit dessen Logarithmus wächst, daß z. B. der Arme schon durch einen Zuwachs seiner Habe beglückt wird, den der Reiche überhaupt nicht merkt, und daß generell das Verhältnis von Gewinn und Verlust zu dem, was man hat (oder hatte), für die Schätzung den Ausschlag gibt. Daher strebt etwa der besitzlose Arbeiter nur nach einer dauernden Verbesserung seines Tagelohnes um eine halbe Mark, nach einer Verkürzung seiner Arbeitszeit um eine Stunde, eine Vermehrung seiner Wohngelegenheit um einen Raum — der Millionär hingegen bemüht sich, eine zweite, dritte oder vierte Million zu gewinnen, am liebsten, ohne allzu gefährlich und ungesetzlich zu handeln, jedenfalls zu gewinnen. — Viele andere Momente sprechen bei dem einzelnen Menschen mit als Bedingungen ihres Strebens: Männlichkeit oder weibliche Tatkraft, Jugend, Gesundheit, Temperament, Lebensgewohnheiten und Fähigkeit, zu entbehren, auch wenn nur zum Zwecke späteren Genusses; vor allem aber die Gelegenheit und durch sie die gesteigerte Fähigkeit, mit verhältnismäßig geringen Kosten und Gefahren verhältnismäßig große Vorteile zu erzielen. Und in dieser Hinsicht ist immer der schon vorhandene Güterbesitz ein großer Vorzug, besonders aber der Besitz an flüssigen Mitteln, d. i. an Geld, und die Gelegenheit, sie durch das Geschäft, d. h. durch irgendeine Art des Handels zu vermehren. Und an Kosten, also an Gefahren fehlt es hier nie, wenn sie auch von sehr verschiedener Art und Größe sind, zumal wenn an Stelle des Geldes, aber durch Geld oder anderen Besitz gedeckt, fremdes, also geliehenes Geld (Kredit) an dessen Stelle tritt, oder es wenigstens teilweise oder zeitweise ersetzen soll. Die Frage ist in aller Spekulation, wie zu den Chancen des Verlustes die Chancen des Gewinnes sich verhalten: zunächst also, wie groß der mögliche Gewinn, dann aber, wie wahrscheinlich auch nur ein mäßiger Gewinn sei. Ein Anteil an einem Lotterielose wird leicht aufs Spiel gesetzt auf die Möglichkeit hin, 100 000,— oder auch nur 10 000,— zu gewinnen; wer aber weiß, daß nur auf die Hälfte der Lose überhaupt ein Gewinn, und nur auf ein achtel dieser

Spekulation — Handel — Herrschaft über M e n s c h e n — K l a s s e n k a m p f

175

Hälfte mehr als Ersatz des Einsatzes entfallen kann, der wird die Chancen dieses Geschäftes als sehr mangelhaft erkennen, wenn nicht eben die geringe Wahrscheinlichkeit des Glückes durch den Glanz des unwahrscheinlichen ihn blendet. In der Tat ist das ganze Handels-, Geschäftsund Spekulationswesen einem ungeheuren Hasardspiel und einem Lotto von jeher ähnlich gewesen und in seiner Entwicklung ähnlicher geworden. Austausch zunächst, der auch als Austausch zwischen Gütern und Gütern, Gütern und Dienstleistungen, Dienstleistungen und Dienstleistungen bedeutsam ist, wobei als Güter auch liegende Gründe, also der Besitz solcher in Frage kommt, ist eine fortwährend wirksame Potenz im wirtschaftlichen und dadurch im politischen und auch im geistigen Leben. Um so mehr wird so der Handel als die mächtigste, wirkungsreichste und auch im Widerstreit der Interessen doch die höchsten Wahrscheinlichkeiten bietende Art des doppelgesichtigen Austausches, dessen Mittel und Zweck nicht mehr der Vorteil des eingetauschten Gebrauchswertes, sondern der Gewinn des Tauschwertes oder zum mindesten die Vermeidung des Verlustes eben dieses abstrakten Mittels ist. An dritter Stelle endlich ist es dann die — durch den Gewinn und durch die Herrschaft über das Geld, also über das Kapital, als das seiner eigenen Vermehrung scheinbar fähige Geld — gewonnene Herrschaft über die Menschen, also zum wenigsten Anteil an den Arten der Herrschaft, die wir sonst als politische und geistig moralische bestimmen wollten. Darum der große und entscheidende, immer erneute Kampf in der Gesellschaft um 1. die ökonomische 2. die politische 3. die geistig moralische Macht der heute am unmittelbarsten und am — der immer ein „Klassenkampf", auffallendsten sich kundgibt als Streit zwischen Kapital und Arbeit, woran aber viele Elemente auf der einen oder anderen Seite teilhaben, die weder als Mitkämpfer des Kapitals noch als solche der Arbeit sich wissen und kennen, und bald in das eine Lager — das des Kapitals — hineingezogen werden oder in der Meinung, daß dessen Herrschaft sich von selbst verstehe, also gerecht und billig sei, sich hineinstellen, bald von dem anderen Lager angezogen, aufgesogen werden, zuweilen auch durch ihr Denken, ihre Ideen in es hineinfallen.

Zweites Kapitel

Die bewegenden Kräfte der Neuzeit

§ 64. Wachstum der Bevölkerung Das spezielle Leben unserer Kulturperiode, von der die Neuzeit nur einen verhältnismäßig kleinen Teil umfaßt, ist von seinen Anfängen her gedüngt und ernährt worden durch eine vorausgehende Periode hoher und als gesellschaftliche Zivilisation ausgebreiteter Kultur der Antike. Gleichwohl hat eben diese neue und gegenwärtige Kultur aus einfachen und elementaren Zuständen sich entwickelt, sie ist mehr und mehr mannigfach und kompliziert geworden. Ihre Entwicklung ist (wie hier schon hervorgehoben wurde) wesentlich durch Vermehrung und Ausbreitung der Volksmengen, durch deren Differenzierung und Arbeitsteilung bedingt gewesen. In der Neuzeit hat — wie in analoger, allerdings schwächerer Gestalt auch in der Antike — über sie als herrschender Faktor der Handel, also der Kapitalismus sich erhoben, und unter diesem Einfluß hat mehr und mehr das städtische Leben sich verallgemeinert, es hat als großstädtisches weiter und weiter von der elementaren Basis der Dörfer und Landgemeinden sich entfernt, und diese Entwicklung hat die mächtigsten Folgen für das ökonomische, so auch für das politische und das geistig-moralische Dasein der Völker in sich getragen und nach sich gezogen. In diesem Lichte betrachten wir die geschichtlichen Ereignisse der Neuzeit, und zwar zunächst diejenigen, die für den Fortschritt der allgemeinen sozialen Zustände und also des wirtschaftlichen Lebens am meisten bedeutsam gewesen sind und noch sind. Solche historischen Ereignisse sind auch die „Bewegungen" der Bevölkerungen, und zwar zunächst ihre elementare Veränderung durch das Verhältnis von Geburt- zu Sterbefällen, also im positiven Sinne das Übergewicht jener. Denn diese Veränderung ist nicht gleichmäßig und gegen äußere Ursachen gleichgültig. Im Großen und Ganzen verläuft sie günstiger, d. i. positiver, auf dem Lande als in den Städten; zumal als in den Großstädten: die Ehen sind dort im allgemeinen fruchtbarer, das liegt

Bedingungen u n d H e m m u n g e n des B e v ö l k e r u n g s w a c h s t u m s

177

zum guten Teil an früheren Heiraten, früheren Möglichkeiten für Kinder, zur Ernährung der Familie beizutragen, für Eltern also, ihre Kinder zu ernähren und zu pflegen. Säuglinge und sonst kleine Kinder erliegen inneren und äußeren Schäden leichter in der Stadt. Hemmungen gibt es auch von altersher in den ländlichen Verhältnissen: der bäuerliche Besitz sucht sich zu erhalten durch Vererbung; daher ist oft die Verheiratung im Besitze nur einem von mehreren Söhnen möglich und wird große Vermehrung vermieden, weil man die Stelle weder teilen, noch schwer belasten will; die Vermehrung steht eher den Armen offen — weil sie nichts zu verteilen haben —; bei diesen aber wirkt auch die Armut selber negativ, also hemmend. In den Städten sind die Verhältnisse zwischen dem ständigen und vererbbaren Handwerk einerseits, dem Leben der Besitzlosen andrerseits ähnlich, aber eine besondere Hemmung erwuchs gerade in den neueren Jahrhunderten durch den Zunftzwang, solange als dieser bestand: Bedingtheit der Familiengründung durch die Schranken dieser hergebrachten und mit dem Alter starrer gewordenen sozialen Institution. Daher mit deren Fall eine große Befreiung auch der natürlichen Vermehrung, die vielfach, gerade auf dem Lande durch das Interesse und den Willen der Gutsherrschaften absichtlich gehemmt war („Kein Hüsung"), während in den Städten die Schwierigkeit, Meisterrechte zu erwerben, die Ehen z. T. auf solche von Altgesellen mit Witwen und gealterten Töchtern der Meister einschränkte. Die Freiheit der Eheschließung trat ungefähr gleichzeitig als sozial und ökonomisch bedingte und als gesetzliche ein. Sie besteht heute in allen europäischen wie in den Kolonialländern in weitestem Maße, bleibt aber tatsächlich bedingt und beschränkt durch die ökonomische Lage, also durch den Nahrungsspielraum in seinem weiten Sinne, der nicht nur durch die Fruchtbarkeit des Bodens, den klimatisch und meteorologisch bedingten Ausfall der Ernten, sondern nach wie vor, durch die sogar neuerdings vermöge der Komplikationen der Weltwirtschaft gesteigerte Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit des Erwerbes, mithin in erster Linie durch den Mangel oder den günstigen oder ungünstigen Stand der Arbeitsgelegenheiten und des Arbeitslohnes. Waren noch im 18. Jahrhundert die Städte nur in langsamem Fortschritt und verminderten sogar zum Teil ihre Einwohnerzahl eben infolge der Erstarrung des Handwerks, so bedeutete die Befreiung und die durch ungeheure technische Verbesserungen gestei-

20 „Kein Hüsung"

— (hoch-)dt. svw. „keine Bleibe"; niederdeutsches Versepos [1858 u . ö . ]

von Fritz Reuter.

178

Zeitalter der Großstadt - Wirkung der Technik

gerte Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise durch das ganze 19. Jahrhundert, zumal in dessen zweitem und vollends in dessen letztem Drittel, eine gewaltige Anschwellung der Städte, die ein eigentliches Zeitalter der Großstadt begründete, das noch über die Grenze des 20. Jahrhunderts hinausgeschritten ist. Hier sind dann teils durch innere Widerstände, die infolge vermehrter, auch kultureller Bedürfnisse zur Geltung kamen und die Kleinhaltung der Familie erwünscht machten (gesetzliche Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit von Kindern kam hinzu), bald aber durch das ungeheure Ereignis des „Weltkrieges" und seiner Folgen neue Ursachen bedeutend geworden, die in letzter Linie eher auf die Verminderung als auf fernere Vermehrung der, hauptsächlich in Großstädten angewachsenen, Volksmengen hinwirken werden, so daß in dieser Hinsicht wissenschaftliche Voraussagen gewagt werden können und tatsächlich zur Geltung kommen, die in Europa im allgemeinen zuungunsten der Länder und Völker, die als eigentliche Träger der europäischen Gesittung hervorragen, und zugunsten jener Länder und Völker, die daran einen viel schwächeren Anteil gehabt haben und noch haben, ausfallen werden. § 65.

Technik

Schmoller hat treffend bemerkt, daß auch die Technik eine der Ursachen sei, denen die Verdichtung der Bevölkerung zuzuschreiben ist. Technik bedeutet im allgemeinen alles, was die Menschen können: was sie leisten, was sie erarbeiten, was sie schaffen. Sie ist in erster Linie Werk der menschlichen Arme, ihrer Hände und Finger; immer aber und immer mehr, je mehr sie in die Finger übergeht, des menschlichen Verstandes, den man gern auch seinen Geist nennt. Dieser gewinnt allmählich die Oberhand. So wie im einzelnen Arbeiter der Kunstverstand seine Hände und Finger bewegt, so beherrscht nach dem faustischen Worte ein Geist tausend Hände. Wenn unter diesem Gesichtspunkte die Entwicklung des menschlichen Könnens betrachtet wird, so begegnen wir als einer uralten, aber sicherlich erst im Laufe vieler Generationen erworbenen Technik den Leistungen des Jägers und Fischers, der Zähmung von Tieren durch Züchtung und Abrichtung, des Fahrens auf Rädern und auf Nachen, endlich des Ackerbaus und des Bergbaus und des Bauens von Zelten und Dächern. Verhältnismäßig spät ist die Technik der Handarbeit entwickelt worden, die das Bauen in Holz und Stein beförderte und die Herstellung von Geräten und — als notwendig für viele andere

179

Alte und neue Technik — Erfindungen — Kriegstechnik

Werke — von Werkzeugen und Apparaten. So war schon die Antike, so waren die Völker des Orients noch früher zu einem hohen Grade der Vollendung gelangt, worin sie großen Menschenmengen das Zusammenleben und Zusammenwirken

ermöglichten

teils durch

unmittelbare

Schaffung von Nahrungsstoffen, teils durch Eintausch solcher gegen andere Werte; überdies für den kleinen Teil der Herrenschicht ein Zusammenleben im Schmucke und Glanz mannigfacher Künste, die aber zum Teil auch dem gesamten Volke dienten, insonderheit durch Vermittlung des Dienstes, der den unsichtbaren Herren, den Göttern und Dämonen gewidmet wurde. Damit hing auch viele andere Technik zusammen, die zur Verbesserung und Erleichterung des Zusammenlebens wirkte und noch wirkt. Denn in der Technik wird ein Schatz des Könnens vererbt und überliefert, von dem verhältnismäßig wenig wieder verloren geht und wohl noch weniger immer verloren geht, während manche Technik zwar vergessen, aber auch manche wiedergefunden wurde. Ohnehin wird der Schatz immer bereichert durch neue Erfindungen, indirekt auch durch manche Entdeckungen. Aber die Erfindung ist es, die zum großen Teil unmittelbar aus der Arbeit selber hervorgeht und zu einem nicht geringen Teil dem Streben des Arbeiters entspringt, seine Arbeit zu erleichtern, abzukürzen, zu beschleunigen — wofür das berühmte Beispiel immer merkwürdig bleibt, das Adam

Smith

für die Verbesserung der

Dampfmaschine gegeben hat (An inquiry. Book I. ch. 1. ed. M c . Culloch p. 5 B). Im allgemeinen aber haben die Verbesserungen und Verfeinerungen der Werkzeuge, die aus der Arbeit selber hervorgehen, den inneren Sinn gehabt, das Werk selber zu veredeln und zu schmücken; wie denn alle ursprünglichen Künste immer mit der Liebe zum Schmuck, also mit dem Schönheitssinn verbunden sind und ein großes Gebiet des menschlichen Geistes, die ästhetische Urteilskraft begründet haben. Diese kann aber nicht die elementaren Gebiete überflüssig machen, in denen die Arbeit zunächst hauptsächlich solche der Arme, wenn auch Beine und Füße oft mithelfen, darstellt und wofür nicht sowohl das Bedürfnis des einzelnen Arbeiters als der Zweck der Arbeiten bestimmend wirkt, den etwa nur der Leiter der Arbeit kennt oder doch in seinen Einzelheiten bestimmt. So ist eine Sphäre verhältnismäßig umfangreicher Kooperation schon in Urzeiten die kriegerische gewesen, daher die Kriegstechnik 23 An inquiry

— Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of

Nations, hgg. von J. R. M c Culloch, Band 1 (von 4), Edinburgh 1828: 25.

180

Rationalismus in Handel und Krieg

immer eine Technik gewesen ist, die es oft mit der Bewältigung von Massen durch mechanische Mittel zu tun hatte, wie in Verbindung damit sie die Lenkung und planmäßige Anwendung des Feuers als ihre Aufgabe sah. Die Kriegstechnik ist immer als eine Technik, die sich ihrem äußeren Zwecke rasch und beweglich anpaßte, mächtig vorangeschritten. Ihr Zweck ist weit überwiegend Destruktion, also das Gegenteil der Produktion, die freilich auf die produktive Technik zurückwirkt, sofern sie die besondere Anwendung produzierter Geräte, der Waffen, ist, mithin diese herausfordert und fördert. — Ebenso wie die Tätigkeiten, die das Wesen des Handels darstellen, so sind auch die Tätigkeiten, die das Wesen des Krieges, also die des Staatsmannes ausmachen, der den Krieg führt, in hohem Grade rationelle Tätigkeiten, also Leistungen des Kürwillens, der in planmäßigem Vorgehen schlechthin seine Mittel den Zwecken, die er sich gesetzt hat, unterwirft. Das Vorwalten dieses Rationalismus bezeichnet die ungeheuren Fortschritte der Neuzeit, unmittelbar über das Mittelalter, mittelbar über alle früheren Zeitalter — Fortschritte der Produktion und der Destruktion, also an der Idee des menschlichen Schaffens gemessen, positive und negative Fortschritte, wenn auch innerhalb jeder der beiden Sphären positiv. § 66. Der große Handel

und der große

Krieg

Der Handel ist eine ausgeprägt friedliche, also sozial positive Tätigkeit. Ihm ist jedoch mit dem Kriege, der ausgeprägt asozialen Tätigkeit, manches gemein, was in dem Begriff des Rationalismus zusammenfällt: erstens die Tendenz zur Anhäufung der Mittel, dort der Produktions-, hier der Destruktionsmittel, und zur Geschäftigkeit, diese Mittel örtlich zu bewegen, damit sie ihren Zweck erfüllen. Zweitens, die Herrschaft über diese Mittel verlangt ein planmäßiges Denken, demgemäß eine systematische Ordnung und sofern es um Anordnung von Arbeitskräften sich handelt, deren Verteilung und Anstellung. Drittens, Handel wie Krieg machen einen großen Aufwand von Kräften notwendig, der sich am unmittelbarsten als Anwendung von Geld darstellt: wie für den Handel die Anlage von Geld dazu bestimmt ist, dies Geld vermehrt zurückkehren zu lassen, so erwartet auch der Urheber eines Krieges, daß seine Anlage sich lohnen, z. B. in der Eroberung eines Landgebietes das erwünschte Ziel erreichen werde, oder daß wenigstens die Auflegung von Tributen auf den besiegten Gegner das Wagnis reichlich vergüten, wohl gar diesen Gegner in ein Verhältnis dauernder Abhängigkeit zwingen werde. Vier-

Neue Dimensionen — Handelskrieg — Werden des Staates

181

tens, die Gefahr des Fehlschlagens, des Mißlingens, ist beiden Arten der Tätigkeit gemein, sie nehmen das Risiko auf sich. Weder Handel noch Krieg sind neuzeitliche Erfindungen. Aber beide haben erst in der Neuzeit ihre Dimensionen unermeßlich entwickelt. Der große Handel und der große Krieg sind neuzeitliche Erscheinungen. Und zwar hängen sie mannigfach zusammen: der charakteristische Krieg der Neuzeit ist der Handelskrieg, der bald geführt wird, um einen gefährlichen Konkurrenten, sei es buchstäblich aus dem Felde (dem Felde der Konkurrenz) zu schlagen, sei es seiner ferneren Erstarkung vorzubeugen, sei es endlich, um ihm in der Eroberung eines für den Handel wertvollen Gebietes zuvorzukommen. In jeder Hinsicht wachsen diese politischen Interessen nicht nur mit dem eigentlichen Großhandel, sondern noch mehr mit der Ausdehnung des Handels auf das finanzielle Gebiet, also mit der großen Bank, und vollends mit der großen Industrie und großen Landwirtschaft, also der Ausdehnung des Handels auf die Produktion von Gütern, wie auf Transport und Verkehr, die allmählich alle unter die Herrschaft des Handels, d. h. des Kapitals gebracht werden. Parallel mit dieser Entwicklung geht nun offenbar die politische Entwicklung selber, das ist die Entwicklung des (modernen) Staates: nämlich die Verbindung und Vereinheitlichung der bisherigen mannigfachen politischen Körper in größere, einheitliche Ganze unter einheitlicher Leitung. Es bildet sich zunächst der Staat innerhalb einer anwachsenden und mächtiger werdenden Stadt, eben als deren Macht, sodann der größere Staat aus der Verbindung kleiner Staaten, sei es solcher, die eben als Städte groß geworden sind, oder die aus früheren politischen Gestaltungen am ehesten durch den Willen eines einzigen Menschen, eines Fürsten oder Königs, vereinigt wurden. Diese Vereinigung geschieht am leichtesten als relativ natürliche auf Grund von Stammes- und Blutsverwandtschaft, auf Grund örtlicher Nähe, also der Nachbarschaft, endlich auf Grund mannigfacher Gemeinsamkeiten in Sitten und Interessen, wo zu den gemeinsamen Sitten auch die gemeinsame Art der Religionsübung gerechnet werden muß. Ebenso aber kann die Bildung eines großen Staates durch die Aneignung und Anbindung der schwächeren politischen Gebilde durch ein stärkeres mit gewaltsamen Mitteln geschehen; auch können beide Arten zusammenwirken oder einander unterstützen. — In dieser Hinsicht hat die Neuzeit wiederum mit Hilfe des Handels und des Krieges fortwährend umgestaltend gewirkt. Das Kapital und der Staat in innigem Vereine recken ihre Arme aus über die Länder und über das Meer und machen teils mit der Ware, teils mit der Waffe ganze Land-

182

Imperialismus — Förderung der Wissenschaft

gebiete und ihre Bewohner, auch solche, die bisher einer selbständigen Macht sich rühmten, ihrem Willen Untertan. Zum Kapital und zum Staat gesellt sich als die dritte spezifisch neuzeitliche soziale Gestalt die Wissenschaft. Sie ist von den beiden anderen durchaus verschieden, steht in vielen und starken Beziehungen zu ihnen, und zwar wesentlich in solchen der Wechselwirkung, ebenso wie Kapital und Staat in fortwährenden Wechselwirkungen einander zwar vielfach hemmen, aber überwiegend stärken und fördern. Auch Wissenschaft strebt nach Einheit, nach systematischer Ordnung, durch Vereinfachung und Verstärkung ihrer Methoden: auch ihr Gesetz ist die Ökonomie. — Die Entwicklung der Wissenschaft läuft in der Neuzeit wie in früheren Zeitaltern der Entwicklung des Kapitals und der Entwicklung des Staates parallel, wird also wesentlich mitbedingt durch die Wirkungen und Erfolge des Handels und des Krieges. Der Handel vermehrt das Denken und das Wissen: das Denken, denn es ist als Rechnen und Berechnen ein wesentliches Element von ihr. Das Wissen, denn es ist eine Frucht des Denkens und der Erfahrung, und auch die Erfahrung vermehrt sich durch vermehrte Bewegung von Ort zu Ort, die den Kaufmann allgemein bezeichnet. Ähnlich wirkt auch hier der Krieg: als Feldzug schreitet er durch die Lande vorzugsweise zerstörend, aber doch immer bedacht auf die Erhaltung und Ernährung seiner Leute und, insoweit er Erfolge der Eroberung für sich hat, auch auf Erhaltung und Förderung eroberten Gebietes. Ihn begleitet zu diesen Zwecken der Handel im eigenen Interesse. Aber auch der Krieg selber vermehrt das Denken und das Wissen: das Denken insofern, als er lehrt, die günstigen und ungünstigen Folgen der kriegerischen Handlungen, namentlich auch die Verluste an Menschen und Sachen, die er leiden muß, mit denen des Feindes, die er bewirken will, zu vergleichen; das Wissen auch insofern, als der Stratege fortwährend beobachten muß, wie seine eigenen Handlungen und die des Feindes einander wechselseitig bedingen, gerade indem sie einander hemmen wollen und wie die Wahrscheinlichkeiten eines endlichen Erfolges wechselnd sich darstellen. — So sind Handel und Krieg fortwährend durch Veränderungen und Fortschritte wissenschaftlicher Art mitbedingt. Eine Tätigkeit, die mit dem Handel immer nahe zusammenhängt und immer in einer gewissen Abhängigkeit von ihm steht, ist die Fahrt von Ort zu Ort, und als solche vorzugsweise die Schiffahrt. Die Schifffahrt aber hat von uralter Zeit her an die Beobachtung und Kenntnis des Himmels, zumal als Seeschiffahrt sich halten müssen, mithin durch die Verbesserung der Astronomie, in der Neuzeit wie früher, große Erleichterungen erstrebt und erfahren. Ferner ist auf den Zusammenhang

Verwandtschaft der drei Faktoren

183

des Handels mit der Ausbildung der Technik schon hingedeutet worden, und hier fällt hauptsächlich die mächtige, schon in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters vorbereitete, aber erst in der Neuzeit sich vollendende Ausbildung der mechanischen Technik, mithin ganz besonders auch der wissenschaftlichen Mechanik ins Gewicht. Hier öffnete sich dem Kapital ein unermeßliches Feld immer neuer Tätigkeit, die immer mehr zur Massentätigkeit, Massenbeschäftigung von Arbeitskräften, Massenbewältigung durch die Arbeit und Herstellung massenhafter Waren in die Erscheinung tritt. Als ein großes Hilfsmittel ist zur Mechanik und der durch sie bedingten Physik in neuerer Zeit die Chemie hinzugetreten, die auch für das Verständnis der Vorgänge des Lebens, die der Mechanik unzugänglich sind, die Wege öffnet und als Biologie die Prozesse des Wachstums und der Vermehrung von Pflanzen, wie von tierischen Wesen beobachten und erkennen lehrt. Mittelbar werden auch diese Erkenntnisse für den Handel wichtig und für den Krieg: Für den Handel insofern, als die Bodenprodukte aller Art seine Aufmerksamkeit und sein Interesse immer in Anspruch nehmen; für den Krieg insofern, als die Kriegsmittel in neuerer Zeit immer mehr nicht nur mechanische, sondern auch chemische geworden sind und als die bessere Erkenntnis des Lebens und seiner Bedingungen, namentlich des Lebens der Menschen, auch für den, dessen Aufgabe Zerstörung solches Lebens ist, eine hohe Bedeutung hat. Handel und Krieg, Kapital und Staat begünstigen und fördern die Wissenschaft auch, teils in dem Bewußtsein dessen, was die Wissenschaft für sie leistet, leisten kann und leisten will, teils in einem Zusammenhange anderer Art, der durch andere Faktoren vermittelt wird, besonders auch insofern, als der Wert der Wissenschaft wie der Kunst bei zunehmendem Reichtum um so mehr geschätzt wird. Wir betrachten zuerst die mehr unmittelbare Wirkung. Mit dem Handel ist die wissenschaftliche Forschung nahe verwandt; beide streben in die Ferne, streben nach Erkenntnis: der Handel um des Gewinnes willen, der oft aus der Kenntnis sich ergibt; das wissenschaftliche Streben um der Erkenntnis selber willen, wenn auch dies Streben in der Ferne eine Abhängigkeit, die ihm nützt, sich gefallen läßt. Immer wird das wissenschaftliche Streben befördert durch den Austausch der Gedanken und Erforschung zwischen denen, die in verwandter Richtung Erkenntnis sich angelegen sein lassen, zumal zwischen solchen verschiedener Länder, die verschiedenen Bedingungen unterliegen. Und zur Vermehrung des Verkehrs zwischen den Bewohnern verschiedener Länder ist mit dem Handel auch der Krieg von jeher ein Mittel der Beförderung und also des Fortschrittes gewesen.

184

Altes Land und alte Stadt — G r o ß b e t r i e b und Handel

§ 67. Der

Großbetrieb

Der Geist der Neuzeit schreitet, fortwährend gehemmt durch den Geist des Mittelalters, aber auch fortwährend diesen überwindend und ihm in zunehmender Weise überlegen werdend, also siegreich fort, und zwar auf jedem der drei großen Gebiete. Zunächst auf dem ökonomischen: der Geist des Mittelalters prägt sich in relativ einfachen Zuständen des Zusammenlebens aus — Zuständen, in denen das Landleben und die Landwirtschaft ein starkes Übergewicht haben und trotz des Wachstums und der Blüte vieler Städte behalten: auch die bedeutendsten Städte wachsen nicht über eine mäßige Grenze hinaus, sie erwerben und behaupten aber einen so hohen Grad von Selbständigkeit, daß sie als freie Republiken in dem Reiche, dem sie angehören und dem sie Untertan bleiben, erscheinen. In ihnen gebietet zunächst in der Regel ein Patriziat, dessen Wohlstand und Macht im Herkommen und im Boden wurzelt, es wird aber zum guten Teile mehr und mehr abgelöst durch einen in Zünften erstarkten, wehrhaften und schaffenskräftigen Handwerkerstand, der mit geringeren Elementen immer als die Gemeinde oder als das Volk in die Erscheinung tritt. Die Anfänge der Überschuß- und Warenproduktion treten an manchen Stellen hervor, mit ihr, aber auch aus anderen Ursachen, so wegen der natürlichen Anforderungen der Arbeit im Bergbau, der Großbetrieb. Für die Neuzeit ist er schlechthin charakteristisch als lebendige Gestalt der ausgeprägten Herrschaft des Handels über die Freiheit der Arbeit, der ländlichen und der städtischen, besonders aber der industriellen, auch wenn sie auf dem Lande angesiedelt wird, indem sie doch ihrem Wesen nach städtisch ist oder wird und mehr und mehr die Agrikultur sich anpaßt und in ihrem Sinne umgestaltet, soweit sie nicht als eine minder zweckmäßige, weil minder bewegliche Kapitalanlage vermindert wird und verschwindet.

§ 68. Ausprägung ökonomischer in der politischen

Gegensätzlichkeiten Sphäre

Der Gegensatz des ökonomischen Interesses prägt in der politischen Sphäre in mannigfachen Tendenzen sich aus: zunächst in der Handelspolitik, wo der natürliche Gegensatz der ist zwischen dem Streben der kapitalistischen Industrie, über alle Länder ihren Absatz zu erstrecken, also dem Streben nach dem Weltmarkt und im etwanigen gleichen Stre-

Weltmarktstreben — Schutzbedürfnis — Der große Staat

185

ben der kapitalistisch geleiteten Agrikultur, die aber für viele ihrer Produkte auf einen nahen M a r k t angewiesen bleibt einerseits; und der anderen Tendenz, aus dem Wettbewerb der Waren beliebiger Herkunft den ihm inhärenten Nutzen zu gewinnen, einem Streben, an dem naturgemäß der eigentliche kapitalistische Handel, das ist der Warenhandel und auch der Geldhandel, sofern er diesem gleichartig und verwandt ist, das lebhafteste natürliche Interesse hat. Diesem Interesse steht aber zunächst auch die Landwirtschaft nahe, insofern als ein offener M a r k t als freier Wettbewerb für Industrieprodukte, besonders für das Eisen, das zu ihrem Betrieb unentbehrlich ist, einen sicheren Vorteil für sie bedeutet. Ebensolchen Vorteil kann v o m freien Handel jede Industrie erwarten, insofern als sie in hinlänglicher Stärke mehr an dem Absatz ihrer Produkte außerhalb des eigenen Wirtschaftsgebietes, also an der Ausfuhr interessiert ist, als an dem A b s a t z und der Preisgestaltung im eigenen und näheren Gebiete; ferner auch insofern als für sie der wohlfeile Einkauf von Stoffen und von Arbeitskräften, eben d a r u m von Lebensmitteln, die den bedeutendsten Gegenstand des Arbeitslohnes darstellen, unmittelbare ökonomische Bedeutung hat. Hingegen wird die Industrie, als erpicht auf möglichst hohen und dauernden Gewinn, jeden M a r k t , der ihr offen steht, also zunächst den des eigenen Gebietes, so sehr als möglich gegen die Konkurrenz fremder Industrien abzusperren beflissen sein, zumal solcher Industrien, die in der L a g e sind, ihre Produkte wohlfeiler herzustellen und an den M a r k t zu bringen, als die eigene des Wirtschaftsgebietes: Ein mannigfacher Streit der Interessen, der sich aus der Mannigfaltigkeit der Gegensätze erklärt, insbesondere nachdem auch die Landwirtschaft mehr die Konkurrenz des Auslandes fernzuhalten und abzuwehren hat lernen müssen in bezug auf ihre eigenen Waren, als ihr sonst a m Freihandel in den Produkten der Industrie und an der freien Ausfuhr des Getreides gelegen war.

§ 69. Das

Großmachtstreben

Wie in der Industrie und auch in der Landwirtschaft, endlich auch im Handel, der große Betrieb dem kleinen sich überlegen erweist, so im politischen Leben der große Staat dem kleinen. Und der große Staat ist mit dem Wachstum des Staates als Begriff ein höchst wichtiges Erzeugnis des Geistes der Neuzeit: Mit dem großen Staat der zentralisierte und bürokratisch regierte Staat, der genötigt ist, sich die A u f g a b e des allge-

186

Politische Kämpfe — Bedeutung der Kriege für den großen Staat

meinen Volkswohles, der Salus publica zu stellen. Ihn, das ist seine Regierungen, nötigen teils die überlebenden alten Stände, teils und vor allem die neue, aus dem Handel, mithin auch aus der Industrie zumal der großen Industrie erwachsene ökonomisch herrschende, nach politischer Alleinherrschaft strebende Klasse, die Bourgeoisie. Mit ihr aber wächst und gegen sie empört sich die von ihr geschaffene Klasse der Arbeit, das Proletariat, auf dem politischen wie auf dem ökonomischen Gebiete, und zwar auf dem politischen mit um so größerer Chance des Erfolges, als die von der Bourgeoisie selber gegen die Herrschaft der alten Stände verfochtenen Ideen der politischen Freiheit und der politischen Gleichheit mit der Unterstützung der Arbeiterklasse und durch diese einen entscheidenden Einfluß auf den Staat erworben haben. Hier wie sonst werden wir den Geist der Neuzeit als einen unvollendeten und noch werdenden erkennen müssen und eine Prognose zu stellen wagen, die um so sicherer werden kann, je mehr die wissenschaftliche Erkenntnis der Erscheinungen des sozialen Lebens methodologisch an Sicherheit gewinnt, also der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sich nähert und ähnlicher wird. Mit dem modernen Staat, seiner Ausdehnung und Befestigung sind die Kriege gegeben, als Konflikte zwischen den Staaten, sei es zwischen einem und dem anderen, oder zwischen mehreren koalierten und einem anderen oder zwischen koalierten und koalierten Staaten. Die Neuzeit ist ein Zeitalter des großen Krieges geworden, während das Mittelalter nur an kleinen Kriegen und Fehden reich war, wenn auch diese sich allmählich erweitert hatten. Die großen Kriege sind auch solche der planmäßigen Gestaltung, sie werden mehr und mehr Kriege der militärischen Technik und der massenhaften Vernichtung von Menschen und Gütern. Neben dem Kriege zwischen Staaten und Staaten sind auch die Bürgerkriege großen Stiles hervorgetreten. Der Krieg ist ein wesentliches Element in der Ausbildung des Staates geworden. An ihm und durch ihn entwickelt sich wegen der ungeheuren Kosten des Krieges die Finanz und Fiskalität. Die Kriege werden hauptsächlich hervorgerufen durch unmittelbare und mittelbare Ausdehnung des Gebietes und der Macht eines gegebenen Staates und durch das Streben nach dieser Expansion. Die unmittelbare Ausdehnung wird oft erstrebt aus dem Grunde oder unter dem Vorwande des Nationalismus: besonders indem eine ehemalige Zugehörigkeit größerer oder kleinerer Gebiete und vollends ihrer i Salus publica,

[lat.], svw. „öffentliches Wohl", „Gemeinwohl".

Bürgerkriege — Bedeutung von Krieg für Stadt und Land

187

Einwohner zu dem fordernden Staate behauptet wird, oder indem die notwendige Abrundung und die wenigstens zweckmäßige Gewinnung eines Hafens, oder mehrerer, also die Erreichung des offenen Meeres als Grund des Strebens ausdrücklich erklärt wird. Nahe hängt damit zusammen, daß die wirkliche Ursache solcher Tendenzen in der Regel als ein Bedürfnis des Handels sich herausstellt, der immer die natürliche Absicht auf Vergrößerung und vermehrten Gewinn hegt, also mit Eifersucht das Wachstum des Handels anderer Staaten beobachtet, von dem man zuweilen sogar die Minderung, ja den Untergang des eigenen Handels mit Grund befürchtet. So sind die modernen Kriege vorzugsweise Handelskriege gewesen, abgesehen davon, daß ein gewonnener Krieg, je härter die Bedingungen sind, die der unterlegenen Macht aufgezwungen werden, um so mehr einen neuen Krieg in seinem Schöße trägt, wie in primitiveren Zuständen die Rache zwischen den Geschlechtern als Folge des Totschlags und der Rauferei endlos sich fortsetzt, bis eine überlegene Gewalt stark genug wird, den Landfrieden zu gebieten. So ist es charakteristisch für das Verhältnis von Mittelalter und Neuzeit, daß in Deutschland an der Schwelle der Neuzeit, als dem Reich d. i. der Zentralgewalt ihr Verfall und Untergang nahe bevorstand, der allgemeine Landfriede gesetzlich wurde und allerdings zu gleicher Zeit das Fehdewesen fast sein Ende nahm, indem in dann folgenden Kriegen zwischen den Territorien ein chronischer Bürgerkrieg sich darstellt. Auch im außerdeutschen Europa und in der großen Kolonie Europas jenseits des Meeres haben die bisherigen Jahrhunderte der Neuzeit schwere innere Kriege hervorgerufen, wodurch die Last der auswärtigen Kriege, die sie zu tragen hatten, vermehrt wurde. Wenn die modernen Kriege regelmäßig aus städtischen Interessen, besonders denen des Handels, hervorgehen, so bezeichnen sie ebenso wie die durch einen Krieg regelmäßig gestärkte Staatsgewalt das zunehmende Übergewicht der Städte über das Land. Aber der Krieg und also der Staat, der ihn zu führen gewillt oder genötigt ist, bedarf des Landes und seiner Wirtschaft in zwiefacher fundamentaler Weise: erstens weil es die kräftigsten, ausdauerndsten Krieger liefert, auch die kampfwilligsten, zumal solange als die Heere geworben werden; ferner aber, weil ein Heer aus dem eigenen Lande ernährt werden muß, es sei denn, daß es siegreich vordringend aus dem eroberten Lande sich nährt; und um so mehr auf die eigene Nahrungsquelle angewiesen ist, je mehr durch den Krieg der 19 der allgemeine

Landfriede

gesetzlich

wurde:

Reichstag zu Mainz 1 2 3 5 .

188

Geistiger Fortschritt durch Handel und Herrentum

Austausch und Verkehr mit anderen Ländern, verbündeten oder neutralen, unterbrochen und gehemmt wird. Da nun aber das platte Land durch eine feindliche Invasion und oft auch durch die Soldaten des eigenen Landes und ihre Durchzüge noch unmittelbarer als die Städte leidet, weil seine Felder verwüstet werden, sein Zugvieh geraubt und getötet, sein Haus und seine Scheuer verbrannt, oft auch seine Mannschaften zum Heeres- oder Flottendienst gepreßt werden, auch wenn das Prinzip der Freiwilligkeit noch herrschend bleibt, so wäre es natürlich, daß die Landbewohner am meisten gegen die vorzugsweise den städtischen Interessen dienenden Kriege sich empören würden; und zu einem Teile ist dies wirklich der Fall. Aber dagegen wirkt, daß das Landvolk seiner Beschaffenheit nach kriegstüchtiger und daher kriegswilliger ist, daß es auch leichter durch die von den Staatsregierungen ausgegebenen Parolen sich täuschen läßt in dem Sinne, daß der eben ausbrechende Krieg ein notwendiger und gerechter Krieg sei und unendliche, beglückende Aussichten außer derjenigen auf unmittelbaren Gewinn eröffnet. Notwendig ist er wirklich in dem einen Falle, daß es gilt, einen tatsächlich vorhandenen feindlichen Angriff abzuwehren und also den Staat vor dem furchtbaren Übel der Fremdherrschaft, also der eigenen Knechtschaft zu bewahren. Die Gerechtigkeit aber läßt leicht als ein Gebilde und Blendwerk der Staatskunst sich glaubhaft machen und so werden die wahren Ursachen und Gründe des Angriffskrieges als eines Mittels der Politik in der Regel erst durch die historische Erkenntnis, durch das historische Studium enthüllt, nachdem die Generationen der Getäuschten

ver-

schwunden sind. § 70. Die Stadt als Faktor der geistigen

Entwicklung

Das Verhältnis zwischen Stadt und Land tritt am deutlichsten auf dem geistig-moralischen Gebiete zutage. Die Stadt entwickelt das geistige Leben, weil das Zusammenleben in ihr näher, enger und mannigfaltiger wird. Sie fördert das Denken, weil in ihr das Rechnen immer mehr notwendig wird, am meisten durch das Geldwesen, also den Handel. Das ländliche Zusammenleben ist mehr gemeinschaftlicher Art, daher stetiger und ruhiger, wenn auch die Konflikte und Streitigkeiten zumal über das Mein und Dein selbst innerhalb der Familien nicht fehlen, und der persönliche Haß, die Eifersucht, die Rachsucht oft zu schwerer Gewalttat führen. In der Stadt ist das ganze Zusammenleben mehr unpersönlich, sachlich, daher auch das Streiten; aber bei der wachsenden Bedeu-

Mittelalterlicher G l a u b e — seine Kritiker

189

tung des Privateigentums am Gelde und also der Forderungen und Schulden wird der Streit häufiger und intensiver und fordert um so mehr die richterliche Entscheidung. Wichtig ist in dieser Hinsicht vorzugsweise die Wandlung des Verhältnisses zu den Herrenmächten, d. h. historisch betrachtet, den herrschenden Ständen, denen das Landvolk in der Regel willig gehorcht, insofern als es ihre Überlegenheit und Notwendigkeit anerkennt, die Notwendigkeit insbesondere als die Gottgegebenheit, denn die Religion, d. i. die Gläubigkeit des Volkes, ist von je die beste Stütze der Herrschaft gewesen. Sie ist auch in der Stadt maßgebende Macht, ja sie gewinnt in der Stadt um so mehr ihre kunsthafte und gedankliche Ausbildung. Aber mit dieser wächst und entfaltet sich der Zweifel und die bessere Erkenntnis, so daß man in einem großen Kontrast wahrnehmen kann: die Pietät als ländlichen, die Kritik als städtischen Charakter. Wenn wir in dieser Hinsicht die gegenwärtig vorherrschende Denkungsart mit derjenigen vergleichen, von der uns in hinlänglicher Menge Zeugnisse aus dem Mittelalter vorliegen, so ist der Abstand fast unermeßlich, und man darf sagen, daß die städtische, vorzugsweise der Wissenschaft nachgehende und auf sie sich berufende Denkungsart nunmehr grundsätzlich den Ton angibt, und auch längst auf die ursprüngliche und natürliche Denkungsart des Landes maßgebenden Einfluß gewonnen hat. — Am auffallendsten ist der Unterschied von einst und jetzt in bezug auf den uralten und menschlich allgemeinen Glauben an das Dasein und die Erscheinung von Geistern und Gespenstern.

§ 71. Glaube in Mittelalter und Neuzeit Dieser Glaube im Mittelalter, ebenso sich von selbst verstehend wie der Glaube an Gott und für die Christen an die Göttlichkeit des Sohnes Gottes, auch als notwendig dazugehörig empfunden, ist im 16. Jahrhundert noch kaum angezweifelt worden. Ernsthaft und ausdrücklich bestritten hat ihn wohl zuerst Thomas Hobbes, der in einer Weise über diese Wahnmeinung sprach, die von der Weise, in der Herbert Spencer im 19. Jahrhundert das Thema behandelte, nicht wesentlich verschieden ist. Beide wollen diese Vorstellungswelt psychologisch erklären; beide ziehen in erster Linie den Traum heran, aber auch krankhafte Zustände, die in Visionen und Halluzinationen zutage treten. Wenngleich auch Spencer noch schweren Anfechtungen von Seiten der Theologie und des volkstümlichen Aberglaubens ausgesetzt war, so lassen diese Anfechtun-

190

Verschwinden des Teufelglaubens

gen doch an Umfang und Schärfe sich nicht vergleichen mit den Ausbrüchen der Empörung und des Zornes, die gegen den Philosophen von Malmesbury sich richteten. Als Schriftsteller ist mit dem stärksten Erfolge gegen ihn aufgetreten Glanvil, Verfasser einer Schrift, die den Titel trug: Saduceismus triumphatus, darauf hindeutend, daß man von den Saducäern, einer dem Hohepriesterstande unter den Juden angehörigen Gruppe, wußte, sie anerkenne gewisse Lehren, auf die der Pharisäer großen Wert legte, nicht wie Auferstehung, Glauben an Engel und Dämonen, Vorsehung Gottes, die sie nicht gelten ließen, ja leugneten solche ausdrücklich. Glanvil stellt des Hobbes Ablehnung des Glaubens an Geister und Gespenster hin als „dem Atheismus nahe kommend", den man, auch aus diesem Grunde, dem Philosophen zur Last legte. In seine Spuren trat auch in dieser Hinsicht Spinoza und erregte mindestens ebenso starken Unwillen mit dem theologisch-politischen Traktat unter christlichen wie unter jüdischen Wächtern der „richtigen" Glaubensanschauungen. Heute sind längst die Anwälte dieser Meinungen selten geworden und haben in der öffentlichen Meinung nur noch die Bedeutung einer Kuriosität, die man außerhalb des engen Kreises einer Sekte paradoxer Spiritisten belächelt. — Es kann nicht wundernehmen, daß gleichwohl Glaubenslehren, die in dieser Mentalität beruhen, sich erhalten und immer aufs neue gelehrt werden, ja daß sie auch mit einem Schimmer von Heiligkeit umkleidet bleiben, denn sie haben ihre Stütze in einer mächtigen Institution, der Kirche, die weder der Staat, noch die öffentliche Meinung in ihrem Kerne, ihrem Fundamente anzutasten beflissen sein will, so sehr ihnen daran gelegen ist, ihre Macht zu begrenzen, ihren Einfluß einzuschränken. Sie haben ihre Stütze nicht nur in der Kirche, sondern wie diese selber, auch in der menschlichen Seele. Im Gebiete der Denkungsart ist es vor allem und in auffallender Weise das Verschwinden des Glaubens an den oder die Teufel oder bösen Geister, worin der

2 gegen

den Philosophen

5 Saduceismus

von Malmesbury

triumphatus

— d. i. T h o m a s Hobbes.

— [lat.] svw. „der völlig besiegte Sadduzäismus"; Joseph

Glanvil[l], Saducismus Triumphatus: Or, Full and Plain Evidence Concerning Witches and Apparitions. In T w o Parts. T h e First treating of their Possibility; T h e Second of their Real Existence. London 8 nicht wie Auferstehung 14 mit dem

3

1669.

— sinngemäß gehört nach „nicht" ein K o m m a .

theologisch-politischen

Traktat:

[Baruch de Spinoza], Tractatus politicus; In

quo demonstratur, q u o m o d ö [ . . . ] (lat., svw. Politischer Traktat; in dem vorgeführt wird, wie . . . ) , in: Spinoza Opera, Bd. III, Heidelberg o. J . [ 1 9 2 5 ] ; nach: Opera posthuma [lat.: „nachgelassene Werke"; H a a g 1 6 7 7 ] , S. [ 2 7 1 ] - 3 6 0 .

Quellen mittelalterlicher Weltanschauung

191

Unterschied des gegenwärtigen vom Geist der Wissenschaft durchtränkten Zeitalters nicht nur vom Mittelalter, sondern auch von den ersten Jahrhunderten der Neuzeit sich kundgibt. Mit ihm ist auch der Glaube an den Exorcismus (Teufelsaustreibung) wie an die Abrenunciation, in der man den Teufel und alle seine Werke sah, verschwunden; nicht minder der Glaube an die Möglichkeit der schwarzen Magie, also des Bündnisses mit dem Teufel, der Hexerei und des Hexenprozesses; aber das bayrische Strafgesetzbuch von 1751, das den Hexenprozeß noch anerkannte, hat bis ins 19. Jahrhundert gegolten. Indessen haben auch Jesuiten und katholische Weltgeistliche um die Bekämpfung des bis dahin sehr ernst genommenen Hexenwahns sich Verdienste erworben, nachdem noch im Ausgange des 15. Jahrhunderts der Hexenhammer von den Dominikanern verfaßt und mit Erfolg verbreitet worden war; er ist bis ins letzte Drittel des 17. Jahrhunderts 29mal aufgelegt worden. Die im Mittelalter waltende und vorwaltende Weltanschauung hatte eine vielfache Quelle: erstens die naiv auf uralter Überlieferung beruhende Vermischung wirklicher mit scheinbarer Erfahrung, d. h. die Aufnahme eines großen Teiles der scheinbaren in die wirklichen Erlebnisse; zweitens Rom und das römische Christentum, nämlich die mit großer Kunst nach dem Verfall der in den römischen und griechischen Religionssystemen enthaltenen Meinungen in die Weltstadt aufgenommenen orientalischen Erlösungslehren, deren Quintessenz ein freisinniges und reformiertes Judentum war, das dem nahen Untergange alles irdischen Daseins oder der „Welt" entgegensah und klüglich beflissen war, diesem unausweichlichen Schicksal durch Annahme einer Lehre, die das ewige Leben versprach, zu begegnen — die Ausgestaltung dieser Hoffnung in ein Religionssystem, das zwar diese Erwartung in unbestimmte Ferne hinausschiebt, aber die Menschen zu ihrem eigenen Besten in einen Verband hineinzulehren und, sofern es möglich sei, hineinzutreiben sich bemüht: eine göttliche Anstalt, die als das früher in ein mythisches Jenseits verlegte „Reich Gottes" in dem Sinne sich darbietet, daß außerhalb ihrer (der Kirche) es kein Heil, das ist keine Rettung vom ewigen Tode oder von den ewigen Qualen eines Lebens im Abgrunde unerträglicher Hitze geben könne; welcher Glaube noch heute in vielen Gemütern zu überleben scheint. Aus diesem Glauben wurde eine scheinbare Wissenschaft, die als Philosophie sich geltend machte und die wesentliche Bestimmung hatte zur Verteidigung der angeblich richtigen und heiligen Lehren gegen Heiden, das ist Anhänger anderer Religionen, und gegen Ketzer, das ist anderer, aber auch christlich sein wollender Lehrmeinungen zu dienen.

Drittes Kapitel

Die Ausprägung des Geistes der Neuzeit

§ 72. Die wesentlichen Merkmale im sozialen der letzten anderthalb Jahrhunderte

Leben

Wenn wir die letzten anderthalb Jahrhunderte erwägen, von denen wir einen Teil persönlich erlebt haben, von dem Rest aus mehreren anderen Ursachen näher als sonst die historischen Ereignisse kennen, so scheint es sich von selbst zu verstehen, daß sie vom Mittelalter nicht nur zeitlich, sondern in allen wesentlichen Merkmalen weiterhin sich entfernt haben als die drei vorausgegangenen Jahrhunderte. In Wahrheit finden wir diese Erwartung bestätigt. Es ist eine Reihe von Ereignissen, die dafür charakteristisch sind. Zuerst Entfaltung des Kapitalismus, die man neuerdings nach der großen Darstellung Werner Sombarts treffend als den Übergang vom Frühkapitalismus zum Hochkapitalismus bezeichnet. Diese bedeutende Wandlung macht sich bemerkbar durch eine fast plötzlich gesteigerte Erfindung von Maschinen, wodurch die große Industrie erst ein wirkliches Leben gewonnen hat, und daran sich anknüpfende Vermehrung der Warenausfuhr, die ja offenbar mit der Einfuhr von Waren sich gegenseitig bedingt, Vermehrung der Menschen, Vergrößerung und Vermehrung der Städte, Bildung von Groß- und Weltstädten. Mit dieser Entwicklung, die zuerst in Großbritannien in weiteste Dimensionen auswuchs, begegnete sich ein epochemachendes politisches Ereignis: die französische Revolution, die darauffolgenden Kriege, die Herrschaft eines Cäsaren über das kontinentale Europa, wenigstens über dessen mittlere Teile. Auch die geistige Entwicklung nahm damit und zum guten Teil auch unter dem Einfluß dieser Wandlung teilweise eine neue Gestalt an. Längst hatte man den Nutzen der Wissenschaft für den „Fortschritt", d. h. für die Entwicklung der Technik und also des großen Betriebes, aber auch für die Entfaltung des Weltverkehres gekannt und sah den Ausbau der Wissenschaft vorzugsweise in der Richtung auf Anwendung der Mathematik und der Berechnung auf mechanische Prozesse; deren Verständnis und Förderung nun aber wurde in jeder Hinsicht mächtiger

Empirisches D e n k e n — Wirtschaftliche und politische Freiheit

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durch die unmittelbare Erfahrung der wirklichen Zusammenhänge der Welt und besonders der Erde, also auch des Daseins in allen seinen Erscheinungen. Das empirische Denken gewann die Oberhand, indem es zum Bewußtsein gelangt war, daß das Wissen um die Tatsachen sich verhältnismäßig zu wenig entwickelt hatte. Dazu trug auch die Beobachtung des sozialen Lebens bei, zumal in seinen ökonomischen Aspekten. Man glaubte fast zauberhafte Wirkungen der Freiheit gerade im wirtschaftlichen Leben wahrzunehmen und befliß sich unter diesem Eindruck, die Freiheit des Handels und der Unternehmung zu fördern. In der gleichen Entwicklung stand die politische Freiheit. Als solche verstand man die Mitwirkung einer gehobenen und interlokalen, durch die nationale Einheit auch international stärker werdenden Schicht von Kaufleuten und ihresgleichen an der Regierung ihrer Staaten, um die monarchischen Regierungen, ihre Militärgewalten und ihre Beamtenschaften abzulösen oder doch zu ergänzen. Die Gestalt des fürstlichen Absolutismus, die aus dem Mittelalter, und wenigstens in ihren großen Erscheinungen im Gegensatz zu ihm, auf dem europäischen Kontinent sich entwickelt hatte, die auch Napoleon Bonaparte zu erneuern suchte, ging gleichwohl ihrem Ende entgegen. Freilich machte diese Entwicklung vor den Thronen halt: auch als Einfluß auf den Inhaber eines Thrones konnte die wirkliche Macht, die Macht des Kapitals sich geltend machen, und die erhaltenden Kräfte zugunsten des Thrones waren noch stark; es waren dieselben, die ehemals eben durch den fürstlichen Absolutismus ihre politische Macht eingebüßt hatten oder stark geschmälert sahen. Sie wurden nun die Stützen von Thron und Altar und gewannen dadurch wirklich aufs neue in dem neuen Staate, dessen Verfassung bald als „konstitutionelle" eine wirkliche Rechtsgrundlage durch die Form eines gedruckten Dokumentes gewann, einen Teil der verlorenen Macht wieder, so daß nun für den größeren Teil des 19. Jahrhunderts überall die inneren politischen Kämpfe zwischen einer Klasse, die durch erheblichen Grundbesitz stark war und auf den Landstädten beruhte, und einer jüngeren zahlreicher und mächtiger werdenden Schicht, die vorzugsweise in den großen Städten, den Industriebezirken und überall in den dahinstrebenden, an den Fortschritten des Handels und der Industrie tätig teilnehmenden Schichten ihre Basis hat, ausgefochten wurden. Diese Kämpfe, die teils in den gesetzgebenden Körperschaften, zumal den neuen Parlamenten, teils in den zahlreicher und mächtiger werdenden Zeitungen, Zeitschriften und anderer Literatur ihre Schauplätze fanden, sind — wenn auch in vielfach abgewandelten Gestalten — geblieben. Erst

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Kämpfe und Bündnisse zwischen alten und neuen Klassen

in der zweiten Hälfte des hier bedeuteten Zeitraumes hat der Charakter dieser Gegensätze und ihrer Ausdrücke sich verschoben. Es hat sich die große bis dahin politisch wenig geachtete Klasse der Arbeiter, durch die neuen Manufakturen und Fabriken zusammengeführt, nicht nur sehr stark vermehrt, sondern auch zum Teil vereinigt und zumal in den Groß- 5 Städten als eine selbständige politische Potenz erhoben; zunächst wenigstens in Unterstützung des Liberalismus als der vorherrschenden hochbürgerlichen Tendenzen; dann aber gerade — und dies bezeichnet eben die zweite Hälfte unseres jüngeren Zeitraumes — im schärfsten Gegensatz gegen jene: einen Gegensatz, der sie dann teilweise wieder der kon- 10 servativen Schicht näherte, der Regel gemäß, daß gemeinsame Gegner der gleichen Macht leicht für den Kampf sich verbünden. Ebenso aber haben die historisch einander feindlichen Mächte wiederum zur Bekämpfung und Unterdrückung der Dritten sich leicht zusammengefunden. So ist das Gesamtbild der inneren politischen Entwicklung vielfach u unklar geworden.

Sechster Abschnitt

Die wissenschaftliche Ansicht des sozialen Lebens

Erstes Kapitel

Die Beziehungen zwischen wirtschaftlichem, politischem und geistig-moralischem Leben § 73. Bedeutung und Bedingtheit

des menschlichen

Denkens

Als ein wesentliches Stück unserer Aufgabe ist die Erörterung zu betrachten, wie die drei Gebiete, die hier als Faktoren der Neuzeit dargestellt werden, zueinander sich verhalten und zusammenwirken. Diese Frage beruht zum guten Teil in dem allgemeineren Problem, wie die einseitige oder gegenseitige Wirkung zwischen: 1. dem ökonomischen und dem politischen Leben; 2. dem ökonomischen und dem moralischgeistigen Leben; 3. dem politischen und dem moralisch-geistigen Leben aufzufassen sei. Daraus schält aber das besondere Problem sich heraus, wie die Verhältnisse zwischen den großen neuzeitlichen Mächten zu verstehen sind, als welche wir erstens die Gesellschaft, zweitens den Staat, drittens die Wissenschaft verstehen wollen. Es hat immer den Menschen am nächsten gelegen, ihr eigenes Denken und Wollen als den entscheidenden Faktor des sozialen Daseins und der geschichtlichen Entwicklung vorzustellen; und dies hat einen guten, weil natürlichen Sinn. Die denkenden und wollenden Menschen sind tatsächlich die Urheber ihrer eigenen Werke, also auch der Arten ihres Zusammenlebens in ökonomischer, politischer und geistig-moralischer Hinsicht. Alles das ist bedingt durch den menschlichen Verstand, also durch den Grad seiner Entwicklung, durch die Art und Kraft des Wollens der handelnden Menschen, durch die Stärke ihrer Einsicht oder deren Mangelhaftigkeit. So hat man in der Regel sich begnügt, die verschiedenen Grade, in denen die menschliche Natur sich ausgebildet zeigt, festzustellen und miteinander zu vergleichen. Verhältnismäßig selten hat man hingegen die Frage aufgeworfen, ob und wie das Denken und Wollen der Menschen verursacht oder bedingt sei. Und doch bedarf es geringer Überlegung, um zu erkennen, wie stark und wie mannigfach es verursacht und bedingt ist, nämlich:

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Bedingtheit durch Tätigkeit, A u f g a b e und Können

1. durch die Tätigkeiten, die der Mensch vorzugsweise übt und durch die er in erster Linie die Lebensmittel sich verschafft, die ihm die Natur so wenig wie anderen organischen Wesen unmittelbar in den Mund liefert. Die Bedeutung dieses Faktors ist längst erkannt worden, wenn man die Menschen nach der Art der Bestreitung ihres Lebensunterhaltes in Jägervölker, Hirtenvölker und Ackerbauvölker eingeteilt hat. In Beziehung darauf ist man freilich in neuerer Zeit zu etwas anderen Ergebnissen gekommen. Man hat erkannt, daß diese drei Stufen von sehr ungleichem Werte sind: die mittlere hat bei weitem nicht die gleiche Bedeutung, wie die erste und die dritte; indem die erste auch unmittelbar in die dritte übergeht, die dadurch als mindestens von gleichem Alter wie die zweite erscheint. J a man findet, daß der elementare Ackerbau als Hackbau sich leicht mit einem vorwaltenden Jägerleben verbindet und daß die Stufe des Nomadentums keineswegs eine regelmäßige Erscheinung ist, wenn sie auch ohne Zweifel, wie wir am leichtesten durch die hebräischen Sagen und Berichte lernen, eine große Bedeutung in der Entwicklung mancher Menschen und bedeutender Völker erlangt haben dürfte. 2. durch die jedesmal den Menschen gestellten Aufgaben, die immer neu erstehen und immer durch noch elementarere Faktoren wie: die Volksmenge, deren äußere Lage, also ihre Bedürfnisse, insbesondere auch gegen Feinde, von denen sie bedrängt werden, oder die sie zu bedrängen gesonnen sind, also auch durch ihren Besitz und ihr Vermögen verändert werden. Daraus folgt 3. daß die Menschen immer abhängig sind von dem, was sie können, und dies wiederum von dem, was sie kennen und wissen. Daraus folgt die große Bedeutung der Technik, die schon im Altertum bekannt war in Gestalt der Einsicht vom Werte des Feuers, und in anderer Form — nicht nur bei den Hebräern —, durch den Wert, den man dem ersten Schmiede beizulegen wußte. Hiermit eröffnet sich uns ein Einblick in die Zusammenhänge des menschlichen Zusammenlebens und seiner Entwicklung. Wir finden, daß alles höhere Leben auf dem niederen beruht, daß alles Geistige durch die Arbeit des Bauens, Grabens und daran hängende mannigfache Tätigkeiten, durch den Umgang mit Tieren, deren Zähmung und Verwendung, durch Werkzeuge, Geräte, Waffen, also durch Verwertung der Metalle und des Feuers in erster Linie bedingt ist; daß schon hierin eine Tendenz fortschreitenden Denkens über die den Menschen umgebende

Bedeutung der menschlichen Natur für das soziale Leben

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Natur, mithin der Beobachtung der Ursachen und der Wirkungen aller alltäglichen Vorgänge gelegen ist; welche Beobachtung regelmäßig vom Einzelnen und Geringen zum Allgemeinen und Großen fortschreitet.

§ 74. Das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und politischen Leben Versuchen wir unter diesem Gesichtspunkte das erste der Verhältnisse, also das zwischen dem ökonomischen und dem politischen Leben, zu erforschen. Offenbar ist das ökonomische Leben das weit allgemeinere und ursprünglichere. Es ist dem Menschen, wie man im 18. Jahrhundert zu sagen pflegte, durch seine tierische Natur gesetzt, während das politische erst aus seiner besonderen menschlichen Natur folgt. Hier sind wiederum die einfachsten Gestalten diejenigen der gegenseitigen Hilfe, die auch noch ganz im animalischen Leben beruhen; wozu aber die mannigfachen Verhältnisse hinzukommen, denen zufolge der Mensch teils über die ihm von Natur zugehörigen Mitmenschen Herr ist und sie verschieden behandelt, je nachdem er es mit Freund oder Feind zu tun hat, mit Männern oder Weibern, mit seinen eigenen oder anderer Leute Kindern, mit fremden oder mit seinesgleichen. Gewiß ist es, daß die Menschen schon auf sehr frühen Stufen auch als Gleiche sich zusammengeschlossen haben, wenn auch differenziert nach Alter und Geschlecht, und daß sie früh gelernt haben, gewisse Regeln des äußeren Verhaltens gegeneinander zu befolgen. Hier also ist der Ursprung des Rechtes, als der Ausbildung von Gewohnheiten und in den Gewohnheiten beruhender Ansichten von der Richtigkeit des Verkehres, zum Beispiel des Tausches, also Kaufes und Verkaufes, des Darlehns und der Vergeltung von Diensten.

§ 75. Das Verhältnis zwischen dem ökonomischen und geistig-moralischen Leben Hieran knüpft sich alsbald auch das große Gebiet der moralisch-geistigen Seite des Zusammenlebens, mithin auch des Verhältnisses der ökonomischen Seite zu ihr. Überall begegnet zunächst wie beim menschlichen Kinde ein Vorwalten der Phantasie. Es prägt sich aus in den Vorstellungen von unsichtbaren und als solche zauberhaften mächtigen Wesen, die bald als dem Menschen ähnliche Wesen vorgestellt werden und deren

200

Keime des religiösen Lebens

Vorstellung als lebender Wesen am leichtesten erklärbar ist durch die Vermutung, daß ihnen zunächst verstorbene Mitmenschen zugrundeliegen, die man als mächtig im Zorn wie in Güte gekannt hat, daher auch als Tote zu ehren für nützlich, ja für notwendig erachtet, weil man von ihrem nicht immer dunklen, sondern in Träumen und Halluzinationen sich offenbarenden Fortleben Böses befürchtet oder Gutes erhofft; darum ihre Huld sich zu erhalten und sich zu sichern beflissen ist, also ihnen Anteil gewährt an dem Eigenen, zunächst an Speise und Trank, mithin ihnen abgibt, besonders um sie zu versöhnen; welche Leistungen durch die Vorstellung erleichtert werden, daß sie als Geister kaum feste Nahrung nötig haben, sondern mit dem Duft der Speisen sich begnügen, so daß die rohe Materie für die Opfernden, besonders für die Diener der Götter, die Priester, übrig bleibt. Hier sind die Keime aller Religionen, d. i. des Kultus, der ihre wesentliche Tätigkeit ist, wenn auch einige solche eine sehr veränderte und verfeinerte Gestalt annehmen. Unter ihnen ist die in Europa vorherrschende, an den Namen eines jüdischen Mannes und die Namen seiner Jünger angeknüpfte christliche Religion, diejenige, die am weitesten von den Ursprüngen sich entfernt hat, indem sie solche noch in sich aufgenommen hatte. Denn auch in ihr bleibt die Idee des Opfers lebendig, sogar als der heroische Opfertod eines Menschen für seine Mitmenschen, eines Menschen freilich, der zugleich als Gott gedacht wird, also als seinem Wesen nach identisch mit dem einzigen Gott, in dem alle Götter aufgegangen sind, dem Gott, der Himmel und Erde „gemacht" hat. Am Beispiele dieser Religion, ihrer Entstehung und noch heute fortgehenden Ausbreitung, können wir das Verhältnis des ökonomischen Lebensgebietes zum geistig-moralischen deutlich erkennen. Bekanntlich gingen der christlichen Religion voran, und wurden die Faktoren in ihrer Gestaltung, die Zustände und Kulturen mehrerer bedeutender Völker, unter denen hier in vorderster Linie stehen erstens das jüdische Volk als die eigentliche Geburtsstätte der christlichen Religion, zweitens das griechische Volk als das Volk eines besonders hohen Geistes in seinen mannigfachen Auswirkungen, insbesondere auch des philosophischen Geistes, drittens das römische Volk, das die Herrschaft über den damaligen ihm zugänglichen Erdkreis, auch über Palästina, das Ursprungsland der Nazarener, gewonnen hatte, über den Orbis terrarum, und über alle

36 Orbis terrarum

[lat.: „Kreis der Länder"], svw. „Erdkreis".

Geburtsstätte des Christentums

201

die Ordnung seines Rechtes und seiner Civität ausbreitete. — Jedes dieser Völker hatte seine — ausgebildete — Religion, deren einfache Formen und Vorstellungen durch Jahrhunderte, ja durch Jahrtausende, wenn auch mit manchen Veränderungen in den Seelen der Frommen wirksam gewesen sind. Die Götter oder wenigstens ein Gott, der Beschützer des Volkes, wurden geglaubt; es wurde geglaubt an ihr Dasein und an ihre Wirksamkeit und an ihre Macht. Folglich wurde ihnen geopfert; es wurde ihnen Verehrung, Pflege, Gebet und Opfer gewidmet. Ein großer Unterschied besteht in dieser Hinsicht zwischen dem Volke Israel, dem semitisch-orientalischen, und den beiden großen Völkern der hellenischen und der italischen Halbinsel, die jedenfalls — wie angenommen wird — als arische (indo-europäische) zu verstehen sind. Der Unterschied ist folgender: die jüdische Religion, die der christlichen zugrunde liegt, welch letztere ja als deren freie Aus- und Umgestaltung erscheint, hat sich bis in unsere Tage, obgleich das semitische Volk, das sie getragen hat, als solches nicht mehr vorhanden ist, lebendig erhalten, ja es ist aus dieser jüdischen Religion noch ein anderer Schößling außer dem Christentum hervorgewachsen, nämlich der Islam, eine der Weltreligionen, die ebenso an die Gestalt eines Propheten sich anknüpft, wie die christliche Religion, nur daß der Islam seinen Propheten nicht zum Gotte erhoben hat. Hingegen die Religionen der Griechen und Römer sind als solche so gut wie verschwunden. Sie überleben nur in den Sagen und in den Kunstwerken, die von ihnen handeln und ihr Andenken verewigen. — Sage und Künst haben auch die neue Religion, das Christentum gefördert und emporgetragen. Die Frage aber, wie das ökonomische Leben zu dieser neuen Religion sich verhalten hat, ist nicht einfach. Denn sie ging zunächst aus dem entwickelten städtischen Leben der Antike hervor, das an Philosophie und am damaligen Stande der Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, sich genährt hatte. Die Unwahrscheinlichkeit, ja Unmöglichkeit des Wunders zu erkennen, reichte ihre Naturerkenntnis noch nicht aus. Sie war vorwiegend negativ in bezug auf die alten Wundergeschichten, die zum großen Teile auch noch dem mehr orientalisch gewordenen Geschmack nicht zusagten. Sie war für neue Wunder empfänglich oder wurde doch im Laufe einiger Generationen dafür empfänglich gemacht, wenigstens wurden es die Seelen der Frauen und der Kinder. Immer aber blieb die neue Religion wesentlich dadurch von den alten verschieden, daß besondere in großen Versammlungen gestaltete und be-

i Civität svw. (römische) Bürgerrechte.

202

Wirkungen der städtischen und ländlichen Welt

schlossene Lehren vermeintlich weiser und gelehrter Männer, die Dogmen der Konzilien, zu ihrer Grundlage gemacht wurden: daß diese den Glauben zu stützen bestimmt waren, während die alten Glaubensvorstellungen durch die Philosophenschulen und Rhetoren verneint oder doch so gedeutet wurden, daß die Deutungen wie eine Verneinung wirkten. Die städtische Bildung war darin ausgeprägt. Das Heidentum — der „Paganismus" — wurde bald verachtet als der Aberglaube zurückgebliebener Landbewohner. Auch das deutsche Wort Heidentum erinnert noch daran. Nun aber eroberte Rom, die große Weltstadt, eine neue elementare und ländliche Welt, seine Religion schlug im Laufe der Jahrhunderte wiederum unter den Landbewohnern seine tiefsten Wurzeln und „das Wunder blieb des Glaubens liebstes Kind". Der Widerspruch zwischen der städtischen Bildung, die den Ursprung veredelt hatte, und dem einfältigen Glauben, der die neue Religion den alten anähnlichte, erfüllt die Kirchengeschichte und verdüstert die Reinheit des priesterlichen wie des mönchischen Wirkens. Es entwickelt sich in der Neuzeit die Macht eines neuen städtischen Lebens, einer neuen städtischen Bildung, eines neuen städtischen Glaubens und Unglaubens. Zu einem Teile freilich diente diese neue Kultur vielmehr zur Befestigung der alten durch Roms übernatürliche Weihe verklärten Form des Kirchentums. Aber der große Abfall, der als „Reformation" gedeutet wurde, steht an der Pforte der Neuzeit und gehört zu ihrem Charakter. Dadurch ist auch der heutige religiöse Zustand der großen Nationen wesentlich bedingt und charakterisiert. Der christliche Glaube wird noch außer durch die Zuversicht, mit der das Dasein übernatürlicher Wesen und die Wirklichkeit übernatürlicher Ereignisse immerhin behauptet und verteidigt wird, in einer besonderen, auch durch Fakultäten der Hochschulen gestalteten „Wissenschaft", die in ihrem historischen wie in ihrem praktischen Teile wirklich wissenschaftlich, überdies aber zur Ausbildung eines geistigen Lehrstandes geeignet ist, — in der Theologie — vertreten und erneuert: nicht einer einheitlichen, sondern einer so mannigfachen, als in Konfessionen und Sekten die christliche Gläubigkeit zerspalten ist; überdies gibt es auch eine jüdische und eine mohammedanische Theologie. Diese Spaltungen sind die notwendige Wirkung der Vermischung von weiblicher und kindlicher Gläubigkeit mit der klaren und männlichen Erkenntnis der Einheit der Natur und ihrer Gesetzlichkeit. Stark ist diese Erkenntnis nur in 11 „das 'Wunder blieb des Glaubens Nacht) statt „blieb": „ist".

liebstes Kind"

— im goetheschen Original (Faust I,

Dogmen, Wunderglaube, Theologie, Unglaube

203

einem verhältnismäßig kleinen Kreise, der schon des öfteren hier als der der Freidenker bezeichnet wurde. Naturgemäß ist dieser Kreis dünn unter den Landbewohnern, und im ganzen darf man sagen, um so dichter je dichter das Zusammenleben, also in Städten, zumal in großen Städten geworden ist. Hier hatte er auch auf Schichten des Volkes sich ausgedehnt, die sonst, ohne von der Theologie dauernd und tiefer beeinflußt zu sein, also durch die Überreste der allgemeinen Volksschulbildung, doch ein gewisses naturwissenschaftliches Wissen durch Beruf und Arbeit, durch Lektüre, Vorträge, Gespräche allmählich erworben, und durch alles, was sie Neues erfahren und erleben, in ihrem natürlichen Unglauben, den besonders die Männer dem weiblichen Hang zum Aberglauben entgegenhalten, sich bestärkt fühlen und wissen, so daß auch immer weitere Kreise das Bedürfnis haben, aus den Kirchenverbänden auszuscheiden. Der Zusammenhang des geistigen mit dem wirtschaftlichen Leben ist hier offenbar. Er tritt auch darin zutage, daß gerade in großen Städten, seien es nun bloße Hauptstädte, Handelsstädte oder Industriezentren, oder als Weltstädte alles zugleich, die große Menge des Volkes allmählich durch wissenschaftliche Lehren, die ihren wirtschaftlichen Interessen gemäß ausgebildet worden sind, zur Kritik der sonst ihnen mitgeteilten Lehren sich aufgefordert fühlen und zum Widerstande gegen alle Vorstellungen, von denen sie Grund haben anzunehmen, daß sie, wenn auch nicht erfunden, so doch gepflegt worden sind und werden, weil die Meinung, daß sie wahr und richtig sind und daß ihre Annahme dem Wohle des gesamten Volkes diene, offenbar zugunsten bestehender Zustände und Verhältnisse wirkt.

§ 76. Das Verhältnis zwischen und geistig-moralischen

dem politischen Leben

Das Verhältnis der politisch-rechtlichen zur moralisch-geistigen Sphäre menschlichen Denkens und Wirkens ist so nahe und eng, daß es niemals hat verkannt werden können. Das politische Leben ist vorzugsweise städtisches und eben dadurch vorzugsweise intellektuelles Leben. Seine moralische Bedeutung liegt offen zutage. Moralische Probleme sind oft Gegenstände politischer Erwägung; Gesetze und Verordnungen üben auf sie mannigfache Einflüsse. In seinen Formen ist das politische Leben zum großen Teil durch die herrschenden Religionen bestimmt; aber auch durch die an diesen geübte Kritik und noch mehr durch die Wissenschaft

204

Moral und Wissenschaft in der Politik

an und für sich, zumal die Naturwissenschaften und die von ihnen geleitete Technik, die auch auf das ökonomische Leben umgestaltend zurückwirkt. Und daneben gibt es auch so etwas wie eine politische und soziale Wissenschaft. Theorien und Lehren, die wenigstens den Anspruch machen, wissenschaftlichen Charakter zu pflegen, haben auch im Widerspruch zu etwaigen theologischen Lehren wachsende Bedeutung gewonnen. Sie haben auf Herren wie auf Untertanen gewirkt. Sie haben zur Hervorrufung von Umwälzungen beigetragen; sie sind in Programme von Parteien übergegangen, wenigstens zeitweilig zu Glaubenssätzen geworden. Sie bezeichnen die Parteien, und hier tritt am nächsten und unmittelbarsten der große Gegensatz zwischen den Parteien des Beharrens und denen des Verändernwollens — konservativer und mutativer Parteien — uns mächtig entgegen. Zwischen ihnen werden vielfache Vermittlungen versucht; und es gibt mehr oder minder stürmische, leidenschaftliche, radikale Flügel der Parteien, mehr oder minder gemäßigte, besonnene, vernünftige Vertretungen gleicher oder doch sehr ähnlicher Richtungen. Diese Verschiedenheiten haben durch Jahrhunderte in religiösen Parteien sich geltend gemacht. Sie sind aus den religiösen in die politischen Parteien übergegangen und sind zum guten Teile noch mit diesen verwandt oder unterhalten doch eine Fühlung mit ihnen, so daß im allgemeinen und in der Regel das Verhältnis zwischen religiösem und politischem Konservatismus ebenso ein solches gegenseitiger Bejahung ist, wie das Verhältnis zwischen religiösem Freisinn und sogar der ausgesprochenen Skepsis zu den mehr oder minder politisch mutativen und progressiven Parteien. Dieser allgemeine Charakter muß schon dem gesamten Protestantismus eine auch politisch progressive Farbe verleihen, wie auf die katholische Gläubigkeit dadurch der Schatten einer Beharrung auch in überlebten und innerlich unmöglich gewordenen politischen Zuständen fällt. Aber nur mit großer Vorsicht, weil mit großer Gefahr des Irrtums, kann man aus dieser allgemeinen Voraussetzung Folgerungen gewinnen. Es mischen sich andersartige Motive hinein, wodurch solche Folgerungen zuschanden gemacht werden. Der religiöse sowohl als der politische Konservatismus bleiben nicht immer dieselben. Sie unterliegen großen Wandlungen. Weder bleibt die Anhänglichkeit an das katholische Bekenntnis, sogar die „heilige" Kirche immer politisch konservativ, noch ist die freiere Konfession auch nur vorwiegend politisch liberal, oder geht sogar als demokratische oder sozialistische Tendenz weit darüber hinaus. In einem Lande, das einen grausamen inneren Vernichtungskampf gegen die Bekenner des Protestantismus

geführt

Parallelität und Gegensätzlichkeit der Parteiungen

205

hatte, erwuchs und äußerte sich in einer großen Explosion die welterschütternde liberale Revolution. Ein überwiegend protestantisches Königreich, das sogar 46 Jahre lang eines durchaus freidenkenden Königs sich erfreute, wurde in Deutschland neben dem alten konservativen auch 5 in der Religion das alte Wesen festhaltenden Österreich der Hort einer konservativen Denkungsart von besonderer protestantischer Art: die nämlich wesentlich an die Monarchie und an den monarchischen Absolutismus sowie an dessen militärische, im stehenden Heere sich verkörpernde Gestalt sich hielt, ja man kann sagen sich anklammerte. Die Ur10 sache lag im ökonomischen Gebiete, das freilich auch hier zugleich ein solches des Rechts ist, nämlich im großen Grundbesitz, der als autoritäre Herrschaft über ein besitzloses Landarbeitertum und ein auf Grund seiner Geschichte moralisch wie politisch schwaches Bauerntum seine geistige Stütze in einer Kirche suchte und fand, die zugleich dazu diente, die 15 Monarchie zu verklären und scheinbar zu heiligen.

1 die welterschütternde liberale Revolution: Gemeint ist die Große Französische 1789. 2 Ein überwiegend protestantisches Königreich: Gemeint ist Preußen; und mit dem freidenkenden König Friedrich IL, d. Gr.

Zweites Kapitel

Wechselwirkungen § 77. Drei Arten des organischen

Lebens

Wir müssen immer wieder uns daran erinnern, daß die Gesamtheit des sozialen Lebens, zumal des sozialen Lebens in einem bestimmten Gebiete, einer bestimmten Abteilung der Menschheit, in sich eine Einheit darstellt und daß die Unterscheidungen gewisser Sphären, wie wir sie hier vornehmen, ihrem Wesen nach künstlich sind, und nur dem Zwecke dienen, gewisse näher zusammengehörige Massen von Erscheinungen als solche zu kennzeichnen. In dieser Hinsicht versteht es sich dann, daß solche gesonderte Gruppen wiederum näher mit anderen zusammenhängen, die sozusagen in der gleichen Ebene mit ihnen liegen, und wir werden leicht als möglich erkennen, daß bestimmte nebensächliche Verhältnisse zwischen solchen Sphären vorhanden sind, und zwar teils in Wechselwirkungen, teils so, daß gewisse Ursachen eine besondere Bedeutung haben, indem sie eben für die anderen Gebiete die Bedingungen darstellen, ohne welche diese nicht leben, geschweige denn wachsen und gedeihen können. In einem groben und großen Schema mögen wir uns Zusammenhänge von dieser Art so denken, daß das versuchsweise zugrunde gelegte allgemeine und wirtschaftliche Leben, als worin das allgemeine sich am unmittelbarsten ausprägt, die unerläßliche Bedingung der beiden anderen Gestalten des sozialen Lebens ist, wenngleich diese in ihm selber fortwährend mitwirken und den Gang seiner Entwicklung mitbestimmen. Ein Gleichnis der Physiologie wird dies Verhältnis am besten erläutern. Im menschlichen Organismus hat man bisher die Einheit von drei Arten des Lebens gefunden und mit verschiedenen Namen benannt. Es liegt nahe genug, zuerst das Allgemeine ins Auge zu fassen, das allen lebenden Wesen, sofern und solange sie leben, gemeinsam ist: also das Leben schlechthin, das man auch das vegetative Leben nennt, womit gesagt wird, daß es in der Pflanze am einfachsten und sozusagen am reinsten sich darstellt. Im Menschen wird es nicht nur durch den Umlauf des

Gleichnis der Physiologie

207

Blutes, durch die Atmung, also den Stoffwechsel, und die Organe, die diesen allgemeinen Funktionen dienen, dargestellt, sondern auch durch gewisse Teile seines Nervensystems, die wiederum solchen Funktionen dienen. Das besondere Leben, das in menschlichen Tätigkeiten solcher Organe, die dem Menschenwesen eigentümlich sind, wirksam ist, hat der Mensch zum Teil mit anderen animalischen Wesen, namentlich mit solchen, denen er durch seinen Körperbau nähersteht und zu deren Familie er gehört, als da sind die Säugetiere (zumal die placentalen), gemein und diese werden daher als die animalischen Organe und Funktionen verstanden. Diesen dienen wiederum bestimmte Teile des gesamten Nervensystems. Alles dies hat die Unterscheidung als animalische Organe und Funktionen bezeichnet. Von diesen aber haben wir alle Gründe, die besonderen menschlichen (mentalen) Organe und Leistungen wiederum zu unterscheiden, wenn auch die Organe nur in einer besonderen Gestaltung und Ausbildung der schon in der Tierwelt höherer Art entwickelten Sinnesorgane und Greiforgane bestehen. Deren Entwicklung aber den Menschen hoch über die ihn umgebende Natur und also auch über alle anderen organischen Wesen hinaushebt, so daß er in einem frühen Stadium seiner Entwicklung zu der Vorstellung gelangte, er sei das Ergebnis einer besonderen „Schöpfung" und mehr dem von ihm eingebildeten „Schöpfer" ähnlich als der übrigen organischen Welt, aus der eine späte Erkenntnis und Theorie ihn hervorsprießen läßt. Es wird aber zur richtigen Erkenntnis des menschlichen Wesens förderlich sein, das ganze Gebiet dieses spezifisch Menschlichen an Tätigkeiten und Fähigkeiten gegen die beiden niederen Gebiete abzuheben und sie als die mentalen zu begreifen; was dem Sinne nach nicht verschieden wäre von der alten, durch Aristoteles berühmt gewordenen Definition des Menschen als des vernünftigen Tieres (animal rationale). Denn auch wir verstehen als Vernunft und als vernünftiges Denken die Tätigkeit, die offenbar nur im menschlichen Gehirn ihren Sitz hat, eine höhere Entwicklung der Sinnestätigkeit bedeutend, deren Wesen vorzüglich von dem Gebrauche von Zeichen und in deren Verbinden und Trennen gelegen ist. Solche Zeichen sind es, die das System der menschlichen Sprache ausmachen, wodurch Menschen und Menschen vollkommener einander verstehen und daher vollkommener zum Zusammenleben und Zusammenwirken fähig werden, als es unter anderen Lebewesen möglich ist. Diesen drei Gebieten des individuellen menschlichen Lebens entsprechen die hier schon aufgezeigten drei Gebiete des sozialen menschlichen Lebens, nämlich:

208

Anwendung des Gleichnisses — Soziale Zusammenhänge

dem vegetativen Leben das allgemeine und daher das wirtschaftliche Leben, sofern es dem Leben schlechthin oder unmittelbar dient; dem animalischen das politische und Rechtsleben, weil es wesentlich bedingt ist durch Anwendung von Gewalt, die in letzter Linie auf den Gebrauch physischer Kraft zurückgeht; dem mentalen das höhere geistige Leben, das ist das menschliche Zusammenwirken moralischer und intellektueller Art, wie es in den elementaren Gestalten, in den Religionen, bald auch und im Zusammenhange mit der Religion in Künsten und Wissenschaften zutage tritt, mehr noch in ausgebildeten und befestigten Sitten und in deren vernünftiger Beurteilung und Würdigung sich geltend macht.

§ 78. Die Bedeutung des ökonomischen

Lebens

Über die Zusammenhänge dieser Sphären des sozialen Lebens ist das Notwendige schon ausgesprochen worden. Um aber die Wechselwirkungen zwischen ihnen und zugleich die eminente Bedeutung des allgemeinen sozialen, also des ökonomischen Lebens als der Bedingung alles anderen Zusammenlebens zu erklären, werde hier das erwähnte Schema in der Weise gebraucht, daß wir die zwei wesentlich verschiedenen Arten ihrer Zusammenhänge darzustellen versuchen, indem wir untereinander schreiben: A. Wirtschaftliches

Leben:

Uberlieferung durch die Generationen — Vererbung erworbener Fähigkeiten durch Nachahmung und Erlernen; alle ursprünglichen Leistungen zum Behufe seines Lebensunterhaltes, also mit Einschluß der Tätigkeiten von Bauern und Handwerkern: in ländlich einfachen Zuständen, also in Gemeinschaft mit der Natur und in Gemeinschaft der Menschen. Politisches

Leben:

Konservativ — Wirkungen der natürlichen Tatsachen, insbesondere des Unterschiedes der Geschlechter, der Lebensalter, der Generatio17 werde hier das erwähnte Schema in der "Weise gebraucht: Tönnies legt hier unter „A" und „B" ein sogar im Rahmen des pointierenden GdN auffallend lakonisches Schema von „Gemeinschaft" gegenüber „Gesellschaft" vor.

Schema — Tätigkeiten und Parteiungen

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nen, Wirkungen überlegener körperlicher und geistiger Kräfte, Autorität der Erfahrung, der Gewohnheit, der Überlieferung. Geistiges

Leben:

Vorwalten der Phantasie und der Dichtung in der Verehrung und Pflege vorgestellter unsichtbarer Geister, also von Göttern und Dämonen. Richtung auf die Vergangenheit. B. Rationalismus: Handel, Waren-Produktion, Fabrikation. Neuerung. Städtische bis großstädtische mannigfache und verwickelte Verhältnisse des Verkehres zwischen den Menschen: Typus Gesellschaft. Mutativ-progressiv: Tendenz individueller Freiheit und Gleichheit — Selbstgestaltung des politischen Lebens. Wissenschaft und durch Wissenschaft bestimmte Technik. Richtung auf die Zukunft. Wenn man dies einfache Schema zugrundelegt, so ergibt sich aus der Mannigfaltigkeit der Tätigkeiten der Berufe, aus der Verschiedenheit der gestellten Aufgaben und darauf sich beziehenden Sorgen und Gedanken, die Mannigfaltigkeit der Gefühls- und Gedankenrichtungen, folglich des verschiedenen Wollens auch in bezug auf das politische und das gesamte moralisch-geistige Leben, mithin die Gestaltung der religiösen und politischen Partei. Es ist aber von selbst klar, wenn in diesem einfachen Schema nur zwei wesenhafte Unterschiede aufgezeigt werden, daß es in Wirklichkeit sehr viel Zwischenzustände und viele Grade der Entwicklung zwischen diesen Grenzen geben muß; was uns die Erfahrung durchaus bestätigt.

§ 79. Das Christentum

und die allgemeine soziale

Entwicklung

Eine elementare Anwendung des zugrundegelegten Gesichtspunktes war schon in bezug auf die Entstehung der christlichen Religion gemacht worden (S. 83 ff., 199 ff.), und an diese möge folgende Anwendung ange-

210

Religion und Kirche in elementaren Zuständen

knüpft werden, die davon ausgeht, daß in einfacheren Zuständen, mithin überhaupt im Lande, eine einfachere, also leichter zu begreifende Art der Religiosität angetroffen werden muß, worin also das Wesen der Religion besteht, weil sie darin am einfachsten, also auch am deutlichsten offenbar wird. Nun ist freilich, worauf schon früher hingewiesen war, die christliche Religion in ihren theoretischen und dogmatischen Gründen durchaus nicht eine einfache elementare Gedankenrichtung, sondern, wie gesagt wurde, das Ergebnis des Zusammenwirkens dreier starker und tiefer, aber schon über ihre Blüte hinausgekommener Gestalten: der syrisch-jüdischen, der hellenischen und der römischen. Aber sie wurde sowohl von Griechenland aus, als, und zwar mit dem stärksten Erfolge, von Rom aus elementaren und rohen Völkerschaften zugetragen, zum Teil aufgezwungen, im günstigsten Falle durch Überredung und Lehre als Wahrheit — als eine übernatürlich mitgeteilte und verbürgte Wahrheit — und als zum Heile der einzelnen Menschenseele, folglich auch des Zusammenlebens der Menschen besser geeignet, als ihre bisher überlieferten und ihnen gewohnten Glaubensvorstellungen. Die Kirchengeschichte ist zum Teil durch die Verschiedenheit der Einflüsse, die von der Weltbeherrscherin Rom und die von der Stadt herkamen, die wohl als Ostrom bezeichnet wurde, am unmittelbarsten bestimmt. Daher zwei große auch heute überlebende Kirchen: die römische durch einen angeblichen Stellvertreter des Stifters der Christenreligion beherrschte Kirche einerseits, die orthodox-anatolische Kirche, die auch die griechische heißt, 15 selbständige (auto-kephale) Kirchen in sich enthaltend, die durch ökumenische Patriarchen gelenkt werden sollen, auf der anderen Seite. — Bei der großen Überlegenheit der althellenischen Gesittung über die römische ist es um so merkwürdiger, daß diese Gesamtkirche hauptsächlich in Ländern ihre Macht gewann, die teils verblüht und sozusagen verwelkt, teils nur einer langsamen Entwicklung aus elementaren Zuständen fähig waren, m. a. W. an der städtischen Kultur viele Jahrhunderte hindurch nur geringen Anteil hatten: so sind ihre Gebiete vorzugsweise die der später dem Isläm zugefallenen türkischen Herrschaft, teils anderer mehr in orientalischer Weise politisch regierter Länder, wie Rußland und die später vom türkischen Reiche sich lösenden Länder, das neue Griechenland, Bulgarien, Rumänien, Serbien und Montenegro. Im allgemeinen darf gesagt werden, daß bis in unsere Tage die griechische oder orthodoxe Kirche mehr den einfacheren und ländlichen Zuständen, die römische mehr den entwickelteren des Abendlandes ange-

Orthodoxe und römische Kirche

211

paßt ist und entspricht. Es prägt sich der Unterschied auch darin aus, daß der orthodoxe Christ in einem naiveren und unmittelbareren Verhältnis zu seinen Heiligtümern steht. Er kennt nicht den Gegensatz von Sünde und Gnade. Die Freude am Wunder und am Unverständlichen, Unglaublichen überhaupt ist lebhafter. Auf den durch die Priesterschaft geleisteten Kultus kommt alles an. Das Verhältnis zu den Bildern, besonders denen der Heiligen, ist lebendiger und stärker: die irdische Gemeinde soll mit der Gemeinschaft der Heiligen als der Gemeinde der Boten in Gebetsgemeinschaft stehen. In der römischen Kirche hat sich früh eine philosophisch sein wollende Spekulation zur Geltung gebracht, die sich mit der Antike im Zusammenhang erhält, während dieser Zusammenhang in der orthodoxen Kirche beinahe völlig erloschen ist. Der Unterschied zwischen einer minder rationalen, mehr abergläubischen und einer mehr rationalen, also überhaupt bewußteren Denkungsart innerhalb des religiösen Glaubens wiederholt sich nun immer aufs Neue. In auffallendster Gestalt tritt er durch den großen Abfall hervor, der die neuen Landeskirchen ins Leben gerufen hat und bis heute im Gegensatz zur römischen und päpstlichen Kirche erhält. Die Reformation, der die Renaissance und der Humanismus vorausgingen, ist durchaus ein Erzeugnis der Städte gewesen, in Deutschland besonders der Reichsstädte, die in Vermögen und in Bildung am höchsten standen. In England (und Wales), dem die Reformation durch seine königlichen Regierungen aufgenötigt wurde, blieb das Landvolk noch lange Zeit dem hergebrachten Kultus, also der Messe, treu. Der Ruf „no Popery" gehörte hauptsächlich der Hauptstadt und zeitweise den Universitätsstädten an. Übrigens wiederholt sich gerade in England der hier bedeutete Gegensatz fast auf typischer Weise. So zwischen der etablierten Kirche auf der einen, dem Dissent auf der anderen Seite. Dieser hatte schon vor der Reformation seinen Ausdruck in den populären Gesinnungen, die den sogenannten Wiedertäufern zugrunde lagen, worin nach den Worten Köhlers (Religion in Geschichte und Gegenwart) ein schlichtes untheologisches Handwerkerchristentum gegenüber dem behäbigen Wohlstand seine eigene Art der Gottseligkeit und der Erwartung des Himmelreiches pflegte. Es war immer der Versuch, mit der Verwirklichung der christlichen Lehre und Moral Ernst zu machen, anstatt mit 24 no popery [engl.], svw. „keine Papisterei!" Die „Hauptstadt" meint London, die „Universitätsstädte" Oxford und Cambridge. 30 nach den Worten Köhlers — vgl. Koehler (1931: Sp. 402).

212

Wiederholung des Unterschieds im Luthertum

der bloßen Kirchlichkeit, der Anerkennung von Predigt und Sakrament, sich zu begnügen. So ist auch der Streit des Pietismus in Deutschland gegen die Orthodoxie, obgleich er innerhalb der lutherischen Kirche sich hielt, zu verstehen. An den Pietismus schließt der Rationalismus sich an, zum Teil entwickelt er sich aus jenem. Und diese Art der Skepsis, die im 5 18. Jahrhundert ihre Blütezeit hatte, machte im Jansenismus Frankreichs sogar innerhalb der römischen Kirche ihre Proselyten. Der Gegensatz aber zwischen der strenger dogmatischen und einer freieren an das philosophisch-wissenschaftliche Denken sich anlehnenden kirchlichen Überlieferung erhält sich besonders in Deutschlands Luthertum und in den 10 skandinavischen Lutherkirchen, wenngleich in wechselnden Formen, bis in die gegenwärtige Zeit. Die freiere Art des Protestantismus sucht immer die Fühlung mit der praktischen und sozialen Seite des Lebens zu erhalten und bleibt die Fortsetzung des Pietismus. Sie hat gleich ihm ihre Stätten hauptsächlich in größeren Städten, während freilich eine 15 weiter fortgeschrittene, unter dem Einflüsse der Naturwissenschaften, aber auch der historischen Erkenntnis der Ursprünge und der Beschaffenheit der christlichen Lehre wachsende, den religiösen Stimmungen entfremdete Denkungsart, mehr und mehr sich ausbreitet.

Drittes Kapitel

Die soziologische Auffassung der Geschichte § 80. Gesetz und

Zufall

Nur ein Denken, das die menschlichen Dinge, Ereignisse und Entwicklungen strenge unter dem Gesichtspunkte auffaßt, daß sie im ganzen und im einzelnen gleich anderen Dingen und Ereignissen der Natur beurteilt werden, also in ihrer Notwendigkeit erkannt werden müssen, wird auch den historischen Tatsachen wissenschaftlich gerecht werden. Diese Ansicht läßt durchaus die Anerkennung des Zufalles und seiner weiteren Ausbreitung zu, aber sie weiß, daß das Zufällige in jeder massenhaften Erscheinung verschwindet, ob diese Massenerscheinung im einmaligen Geschehen über weite Räume hin oder in einem über lange Zeitstrecken ausgedehnten Verlauf erblickt wird. Am deutlichsten wird dieser Sachverhalt bekanntlich durch die statistische Methode. Nichts erscheint mehr zufällig als das Sterben der Menschen, das so viele verschiedene Ursachen hat. Man erinnert sich der Goetheschen Verse von dem Glück, das unter die Menge tappt (gemeint ist das gesetzlich verfahrende Schicksal) „faßt bald des Knaben lockige Unschuld, bald auch den kahlen schuldigen Scheitel". Mannigfach wie das „Glück" wirkt das Unglück: Todesfälle, durch Unglück, also durch Unfälle und andere gewaltsame Einwirkung und durch Mord und Totschlag (ohne Selbsttötung) geschahen im Deutschen Reiche 1930 in mehr als 26500 Fällen. Dennoch wissen wir, daß eine gegebene Menge neugeborener Menschen nach ewigen ehernen großen Gesetzen, in strenger Regel, und zwar in anderer für das männliche als für das weibliche Geschlecht, auch in verschiedenen Ländern mit Abweichungen, aus- und abstirbt, und zwar so, daß zuerst im ersten Lebensjahre und im zweiten erhebliche Verminderungen eintreten, die alsdann geringer werden und von einem frühen Alter ab in steti-

16 Verse von dem Glück — „Auch so das Glück [|] Tappt unter der Menge, [|] Fasst bald des Knaben [|] Lockige Unschuld, [|] Bald auch den kahlen [|] Schuldigen Scheitel." Strophe 5 von Johann Wolfgang Goethe, „Das Sittliche" [1785 u.ö.].

214

Historische Gesetzmäßigkeit — Schillers Auffassung

ger Zunahme sich bewegen, so daß die Wahrscheinlichkeit des Sterbens größer und größer wird, und also die Zahl der Überlebenden immer geringer. Von dieser Art ist alle speziale, mithin alle historische Gesetzmäßigkeit. Wir sehen sie nur in ihren großen und starken Linien, die von Zeit zu Zeit mehr oder minder stark hervortreten. — In diesem Sinne wird auch das Verhältnis oder werden die Verhältnisse zwischen den drei großen Sphären des sozialen Lebens zu betrachten sein. Sie sind immer gleichzeitig lebendig, also gleichzeitig wirksam, und wirken durcheinander, miteinander, widereinander, zuweilen voneinander nicht unterscheidbar, ja so', daß in der Regel die Unterscheidung nur theoretisch richtig geschehen kann, und darum geschehen muß, um das Verhältnis von Ursache und Wirkung, das unablässig in die Erscheinung tritt, hinlänglich deutlich erkennbar zu machen.

§ 81. Die materialistische

Geschichtsauffassung

Wir sehen dann die Richtigkeit des Gedankens, dem schon die Volksmeinung vielfachen Ausdruck gegeben hat, so daß man ihn schon als trivial hat abstempeln wollen, eines Gedankens, dem der Idealist Friedrich Schiller einen starken Ausdruck gegeben hat, wo er in seinen Briefen an den Herzog von Augustenburg seine Geschichtsphilosophie darlegt, wie sie in seinem Denken, das ursprünglich das Denken eines Arztes war, sich entwickelt hatte. Er spricht hier aus, daß der Mensch zuerst der Nahrung bedarf, ehe er zu anderen höheren und edleren Tätigkeiten übergehen kann; daß auch die große Menge der Menschen immer ihre erste Sorge auf das äußere, das materielle Leben gerichtet halten muß — ein schlichter Gedanke, aber dieser Gedanke ist der Kern dessen, was als die materialistische Auffassung der Geschichte während der letzten etwa fünf Jahrzehnte einen ungeheuren Staub aufgewirbelt hat und mit einer See von idealistisch sein wollender Entrüstung bedeckt worden ist. Auch ein durchaus verständig urteilender junger Gelehrter (der leider im Weltkriege geblieben ist), Dr. Hammacher, hielt für das eigentliche charakteristische Merkmal jener Geschichtsauffassung die systematische, nicht bloß genetische Verknüpfung der ökonomischen Grundlage und 17 eines hat:

Gedankens, Brief vom

dem der Idealist 11. 11. 1793

Friedrich

Schiller

einen

starken

Ausdruck

an seinen Unterstützer, den Herzog

von

Holstein-Sonderburg-)Augustenburg Friedrich Christian II. (1992: 5 1 3 ) .

gegeben

(Schleswig-

Marx und Engels — Marxistische Streitfragen

215

des Überbaues, dies Merkmal fehle in Äußerungen, durch die der Gedanke trivialisiert werde. Ich meine dagegen: Gerade die schlichtesten Wahrheiten werden am meisten verkannt oder in einen Schlamm von Phraseologie ertränkt; und eine Nötigung, die schlichte Auffassung jener Lehre zu bestreiten, liegt in keiner Weise vor. Der vieljährige Freund und ohne Zweifel genaueste Kenner der Gedanken des Karl Marx, nämlich Friedrich Engels, hat am Grabe seines Freundes diese Auffassung deutlich ausgesprochen: freilich in der Form, daß die Produktion der unmittelbaren Lebensmittel und damit die jedesmalige ökonomische Entwicklungsstufe eines Volkes oder eines Zeitabschnittes die Grundlage bilde, aus der die Staatseinrichtungen, die Rechtsanschauungen, die Kunst und selbst die religiösen Vorstellungen der betreffenden Menschen sich entwickelt haben und aus der sie daher auch erklärt werden müssen, nicht, wie bisher geschehen, umgekehrt. Wir können diese Deutung uns durchaus zu eigen machen, wenn wir auch wissen und uns immer gegenwärtig halten, wie verwickelt diese Zusammenhänge sind, wie schwierig daher ihre Ableitung, und zwar wegen der unablässigen tiefen und starken Wechselwirkungen, die auch Engels nicht verkannte, ja auch nach seines Freundes Tode lebhaft hervorgehoben hat, und die ohne Zweifel auch Marx vollkommen gegenwärtig waren. Wie man in Cunows Darstellung der Marxschen Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie (Bd. II) nachlesen kann, ist es unter den Marxisten selber eine Streitfrage, ob die sogenannten ideellen Geschichtsfaktoren selbständige Triebkräfte seien. Einige behaupten, daß die Ideen ein Eigenleben führen und eine eigene Gesetzlichkeit besitzen, unabhängig von der Entwicklungsrichtung der Produktionsweise. Andere, die Rechtgläubigen, anerkennen dies nicht, obschon sie gelten lassen, daß nicht immer die Ideen, sei es einzelner Menschen oder der Gruppen und Klassen, genau der gleichzeitigen Wirtschaftsweise entsprechen, vielmehr oft hinter der Wirtschaftsentwicklung hinkend folgen und daher zeitweilig zwischen den herrschenden Anschauungen und den tatsächlichen Wirtschaftsverhältnissen eine gewisse Diskongruenz besteht. Cunow meint, der Fehler der meisten unrichtigen Interpretationen und Kritiken dieser 7 am Grabe seines Freundes-, Engels sprach 1883 auf Englisch und frei (1962: 335). 21 Cunows Darstellung: Heinrich Cunow, Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie[.] Grundzüge der marxistischen Soziologie, 2. Band, Berlin 1921. (S. 260— 267 die von Tönnies alsbald erwähnte Wendung „gegen [Alfred] Braunthal"; im 1. Band, Berlin 1920, S. 258 f. positive Rezeption von Tönnies' 2GuG.)

216

Wechselwirkung — Grenzen der Theorie — Urbedingung

Auffassung der Geschichte sei darin begründet, daß jene Autoren nicht die inneren wirtschaftlichen Zusammenhänge des gesellschaftlichen Lebensprozesses verstehen. Er beruft sich auf die Äußerung Engels', was den Herren allen fehle, sei Dialektik. Engels beruft sich hier in der Tat auf Wesen und Begriff der Wechselwirkung. Cunow leugnet (gegen Braunthal) ein richtiges Verständnis in dem Satze, daß die Produktionsverhältnisse die soziale Struktur der Gesellschaft „bedingen", vielmehr seien sie selbst in ihrer Zusammenfassung die Gesellschaftsstruktur; ganz unrichtig sei jedenfalls die Gleichstellung von Bedingung und Ursache. In Wahrheit hat Cunow den Sinn der Lehre tiefer und richtiger verstanden. In diesem Sinne ist aber schon die Benennung der materialistischen Ansicht der Geschichte einem groben Mißverständnis ausgesetzt. Man hat ihn durch den Namen ökonomisch ersetzen wollen, aber dieser wird leicht dem gleichen Mißverständnisse verfallen.

§ 82. Die Einheit des menschlichen

Zusammenlebens

Der soziale und historische Prozeß ist ohne Zweifel wie jeder Lebensprozeß einheitlich und, wenn auch alle Erkenntnis des organischen Lebens, um klar und deutlich zu werden, der mechanistischen Methode sich bedienen muß, so bedarf doch diese der unablässigen Korrektur durch die Erkenntnis, daß schon die Unterscheidung der Organe und Funktionen, also die Anatomie und Physiologie irreführend ist, wenn man nicht ihrer Künstlichkeit, also ihres begrenzten Wertes als bloßer Mittel der Erkenntnis fortwährend bewußt bleibt. Völlig derselben Begrenzung unterliegt die Theorie des sozialen und historischen Lebens. Es ist einheitlich, und jedes bedingt das andere, weil es auf das andere wirkt, nämlich insofern als das ganze dieses besondere ist, z. B. das menschliche Zusammenleben in einer bestimmten einzelnen Phase seiner Entwicklung. Aber diese Wirkungen sind von sehr verschiedener Art, die Bedingtheiten mannigfach. So ist die ökonomische Lebensweise durchaus Urbedingung, d. h. Bedingung, ohne die die anderen Arten des Lebens unmöglich sind, daher auch deren Eigenbewegungen nicht ganz und gar durch ihre eigene Gesetzlichkeit, sondern immer auch durch die Gesetzlichkeit der ökonomischen Entwicklung verursacht werden. So ist offenbar eine Tendenz zur Wiederherstellung verfallener oder doch verfallender Erscheinungen der politischen und der geistigen, z. B. religiösen Gestaltung, einerseits immer in sich selber ein natürlicher Prozeß: denn alles was

Eigenbewegung — Rückwirkungen — Rolle des Irrtums

217

lebt, strebt, solange es lebt, wenn auch mit noch so schwachgewordenen Kräften nach Fortsetzung, ja nach Wiederherstellung und Erneuerung seines Lebens. Aber es ist nicht Zufall, wenn solche Tendenzen und Versuche gerade immer in den Perioden großer wirtschaftlicher Krisen emporkommen und ins Kraut schießen. Hier ist vielmehr der Zusammenhang fast mit Händen zu greifen, wenn auch einfältige und unwissende Demagogen einer solchen wissenschaftlichen Erkenntnis unfähig sind und sein werden. Es ist neuerdings, insbesondere der Fortschritt und der Einfluß des Wissens unter dem Gesichtspunkte der Wechselwirkung der drei sozialen Sphären betrachtet worden. Hier ist allerdings am deutlichsten erkennbar, wie stark die Rückwirkung des geistigen auf das materielle und alltägliche Leben notwendig und fortwährend seinen Einfluß übt. Es gilt freilich nicht nur vom Wissen, sondern ebensosehr von allem Meinen, von irrigem sowohl und, noch stärker, von mehr oder minder richtigem Meinen; ja ein großer Dichter, den wir eben schon ins Gefecht führten, behauptet: nur der Irrtum ist das Leben, das Wissen ist der Tod. Auch Goethe hat mit der Sache sich oft beschäftigt und, ungeachtet seiner leidenschaftlichen Liebe zur richtigen Erkenntnis, die Rolle des Irrtums in der Geschichte und im Leben nie verkannt. Dem Irrtum auf wissenschaftlichem Gebiete zu wehren, ihn zu widerlegen, war er bekanntlich in der Farbenlehre viele Jahre lang emsig beflissen. Er wußte aber auch, daß es den Menschen im allgemeinen wenig um wahrhaft große Zwecke zu tun ist, ja er wollte eben bei seinen naturwissenschaftlichen Bestrebungen erkannt haben, daß den meisten die Wissenschaft nur etwas sei, insofern sie für deren Leben unmittelbare Bedeutung hat, „und daß sie sogar den Irrtum vergöttern, wenn sie davon ihre Existenz haben". In der schönen Literatur sei es nicht besser. Dies war gewiß eine materialistische Ansicht, die daher von einem mittelmäßigen politischen Redner 16 ja ein großer

Dichter

— „Nur der Irrtum ist das Leben, [|] Und das Wissen ist der T o d . "

— Friedrich Schiller, Kassandra, 1 8 0 3 [ 1 8 0 2 ] , Vers 5 9 f. Hier verhohlen die Kassandra zu zitieren, die der Troja-Sage nach stets richtig und stets Unheil prophezeite, doch verflucht war, dass ihr keiner glauben werde — das tat Tönnies ausgangs seines letzten Buches wohl bedacht und bitter. 17 Auch

Goethe:

Absichtlich dürfte Tönnies hier, a m Ende seines Bandes, die Brücke zu

seiner Goethereminiszenz im ersten Absatz seiner Vorrede (hier S. 5) geschlagen haben. Beide Male handelt er von der Befragung der Geschichte. M a n sehe es parallel zu seiner Werk-Klammer mit Schillers Worten, w o es anfangs (S. 5) um das Zermalmen ging und jetzt um den Tod.

218

Historische Rolle der Wissenschaft

oder unpolitischen Gelehrten leicht hätte zum Gespött und Abscheu an den Pranger gestellt werden können. Er rühmte sich des Verdienstes, daß er dafür gestrebt habe, in einer konfusen Welt dem Wahren wieder Eingang zu verschaffen. Goethe hatte ohne Zweifel recht, daß die Wirkungen des Denkens und des vermeintlichen Wissens nicht einmal durchaus den Fortschritt der richtigen Erkenntnis begünstigen, sondern ihn allzuoft hemmen; es liegt sogar nicht fern, aus soziologischem Gesichtspunkte, die wissenschaftlichen Bemühungen und Erfolge zu verdammen als dem gemeinschaftlichen Leben gefährliche und verderbliche Erscheinungen und dies ist von jeher die eigentliche Gesinnung aller konservativen und reaktionären Geister gewesen. Demgegenüber muß der wahre Soziologe um so unbedingter und entschiedener die Partei der Wissenschaft nehmen, welche auch immer ihre Wirkungen seien; auch wenn man nicht nur zugesteht, sondern positiv darauf besteht, daß die Macht der Wissenschaft vorzugsweise dem absteigenden Ast einer sozialen Gesamtentwicklung angehöre, denn auch der Abstieg ist naturnotwendig, also gesetzlich bedingt, und es ist noch kein Grund, die Vermutung aufzugeben, daß er immer die unerläßliche Bedingung eines neuen Aufstiegs und Fortschrittes, also unter Umständen einer neuen großen Kulturepoche sei. Diese Zuversicht ist vielmehr in der Einsicht der allgemeinen Bedingungen menschlicher Entwicklung begründet.

Namenregister Aristoteles 108 Augustinus 85 Bachofen 63 Bär, K. E. v. 160 Blackstone 70 f. Bodin, Jean 120 Brater 106 Braunthal 216 Brentano, Lujo 47 Bryce 161 Buchenberger 107 Bücher, Karl 104, 106 Cunow, Heinrich 215 f. Engels, Friedrich 215 Eulenburg 54 Gervinus 148 Gierke, Otto von 111 Glanvil 190 Goethe 217 Haller, Karl Ludw. v. 59 Hammacher 214 Hobbes, Thomas 78, 82, 117, 120 Hugo, Ritter 136 f. Knapp 48, 58, 59 Kohl 160 f. Köhler 85 f.

Lamprecht 58 Lucretius 101 Maine, Sir Henry 106 Marx, Karl 215 Perikles 111 Ranke, Leopold v. 119 Ratzel 160 Richelieu 65 Rodbertus 104 Roscher, Wilhelm 19 Rousseau 78 Savigny 138 Schiller 149, 169, 214 Schmoller, Gustav 178 Smith, Adam 104, 179' Sombart, W. 47, 54, 192 Spencer, Herbert 189 Spinoza 190 Storm, Theodor 68 Thibaut 138 Troeltsch 85 Wagner, Adolph 137 Wallas, Graham 113

l Namenregister — Dieses hier folgt dem Original von GdN (1935a: [211]), in originaler Orthographie (z. B. hier „Bär" anstatt „Baer") und in der Anzahl der Seitenhinweise (also lückenhaft); die Seitenzahlen selbst sind auf die TG umgestellt. Korrekt und komplett findet sich alles im Personenregister (S. 575—585).

Sachregister In das nachstehende Sachregister sind solche Stichworte, die das Thema des Buches bezeichnen, wie Neuzeit, Geist der Neuzeit, ökonomisches Leben, politisches Leben, geistigmoralisches Leben usw., nicht aufgenommen worden. Aberglauben 124, 141, 190 Absolutismus 193 Ackerbau 28, 30, 198 Adel 30, 57, 65, 74, 79, 91 Alkoholismus 123 Almende 106 alöd 71 Altern 19, 144 Analphabetismus 24 animal rationale 17, 207 Antike 18 f., 21, 83 f., 110 f., 154, 176, 179

Bewunderung 90 Biologische Entwicklung 72 f., 206 f. Bourgeoisie 65, 75, 110, 186 Bürgerkriege 97, 102 Bundesstaat 122 Byzanz 20

Arbeit 99 ff., 113 ff., 133 — gegen Kapital 82 Arbeiter 177 ff. Arbeiterbewegung 102, 115, 137, 194 Arbeitlosigkeit 124 Arbeitsteilung 22, 52, 105, 108, 112 Assoziation 77 — des Kapitals 132 Außenhandel 131 Automat 113

Denken 197 — dialektisches 140 — wissenschaftliches 76, 87, 123 f., 218 Dorfverfassung 58, 103, 105, 108 Dumping-System 131

Bankwesen 52, 113, 132 Bauern 48, 124, 134, 136 Bauernbefreiung 135 Bauernkriege 60 Bedarfsdeckungs Wirtschaft 107 Begriffe 119 Betrieb, Großbetrieb 58, 99 f., 136 Bevölkerung 22, 171 f., 176 ff.

Chemie 183 Christentum 83 ff., 112, 189 ff., 199 ff., 209 ff. City 109

Egoismus 38 Ehe 27, 141, 176 f. Eigentum 61, 67 ff., 107, 135 Epos 142 Erziehung 123 Ethische Kultur 87, 122 Europa 144, 153 ff. Evolution 89, 102 Familie 30, 73, 75, 91, 107, 144, 148 — Kleinhaltung der 178 Feindlichkeit 78, 125 feöd 71

l Sachregister — Dieses hier folgt dem Original von GdN (1935a: [212] —214, mit korrigierter Einordnung von „Humanismus" und „Wochenende") in der originalen Anzahl der Seitenhinweise (also lückenhaft); die Seitenzahlen selbst sind hier auf die TG umgestellt. Auf das umfassende Sachregister zu diesem gesamten Band 22, S. 587—612, wird hingewiesen.

Sachregister Feudalherren s. Herr Fortschritt 21, 23 ff., 89, 144, 176, 217 Freidenker 87 f., 143, 203 Freihandel 130 ff. Freiheit 24, 64, 82 f., 110, 115, 128, 133 f., 143, 186, 193 Freiheit und Z w a n g 128 Freimaurer 87 Freimeister 50, 62 Freizügigkeit 135 Fremder 44 ff. Führer 81, 91 Fürst-Untertan-Verhältnis 74, 204 Gebietsherrschaft 108, 172 Geist und Wille 91 f. Geistlichkeit 40, 75, 84 Geld, Geldwesen 51 f., 67, 128, 132 f., 174 f. Geltung 98 Gemeinde 83, 103 Gemeineigentum 69 Gemeinschaft 31, 35 ff., 72, 85, 103, 133, 145, 150, 172 Generationen 21, 24 f., 140 f. Germanien 117 Geschichte 167, 214 ff. Geschlecht 27, 168 Gesellschaft 31, 35 ff., 77, 145, 150, 173 Gesellschaft, die große 113 Gesetzgebung 79, 82, 125 Gewaltenteilung 82 Gewissensfreiheit 86, 123, 128, 134 Gleichheit 24, 74, 115, 123, 127, 137, 186 Grundherrschaft 59 Handel 29 ff., 38, 46 f., 52 ff., 68 f., 77, 99 f., 104, 129, 153, 159, 174, 180, 187 ff. Handelspolitik 129, 184 H a n d w e r k 28, 30, 113, 125 Häresie 63, 65, 76, 86 Haushaltung 69, 103, 147 Heidentum 202 Heimarbeit 125 Herr, Herrentum 30, 36, 48 ff., 90, 108, 114, 204

221

Herrenstände 118, 171 Herrschaft 175 Hexenprozesse 143, 191 Historische Gesetzmäßigkeit 213 Hörigkeit 24, 59 H u m a n i s m u s 158, 211 H u m a n i t ä t 22, 135 J a h r m ä r k t e 51 Individualismus 31, 35, 38, 41, 5 2 f f . , 72 ff., 74, 82 f., 91 f., 146 Industrie 125, 158 Intelligenz 100 Judentum 45 ff., 200 Jugend 21, 144 Kapital 173 f., 181 Kapitalismus 67, 99, 112 ff., 126, 192 f. Ketzerei 102, s. auch Häresie Kirche 20, 75, 84, 85, 102, 112, 118 f., 124, 139, 190, 205 Kirchenaustritt 64 ff. Klan 171 Klasse, Klassenbewußtsein, Klassenkampf 43, 79, 80, 101, 125, 175, 186, 193 Kleidung 167, 171 Koalitionen 115 Konjunktur 126 Konkurrenz 37, 51, 113, 181, 186 Konsumenten 130, 132 Kredit 132, 174 Krieg 78 f., 182, 186 f. Kriegstechnik 180 Krise 126, 215 Kultur 139, 153, 171, 176 Kulturcäsur 22 Kulturfortschritt 145 Kulturgebiete 155 ff. Kultus 26, 63, 86, 2 1 1 Kunst 29, 75, 93 f., 142 f. Laie 43 f. Landesherr 60 Lehnsherr 40 Leibeigenschaft 24, 135

222

Sachregister

Liberalismus, liberale Theorie 81 f., 134, 137 f. Libertinismus 123 Liquidität 132 f. Lohn 134 Lotterie 174 Lyrik 142 Macht 171, 173 f., 175 - politische 124, 130 Marxismus 127, 215 Materialismus 214 Merkantilismus 129 ff. Mittel - Zweck 77, 99, 113, 133 Mittelalter 18 ff., 29 f., 76, 79, 110, 119, 129, 139 ff., 146, 155, 184, 191 Monarchie 79, 117, 118 Monopol 37 Moralität, positive 122 Münzregal 132 Musik 93 Mutativer Geist 26, 209 Mystik 63 Nachbarschaft 181 Nahrung 167, 170 Nationalreichtum 130 Naturrecht 136 Naturzustand 78 Neomerkantilismus 131 Neubürgertum 75 Neue Welt 159 f. Neustädte 50 f., 147 Norden Europas 18, 153 ff. Notenprivileg 132 Oeffentliche Meinung 123 Ordnung 98, 127 Orient 19, 154, 162 f., 179 Pachtsystem 39, 49 f., 61 Papsttum 117 f. Partei 26, 80 ff., 126, 209 Patriziat 111, 184 Phantasie 168 Polis 109 Presse 124

Privateigentum s. Eigentum Proletariat 80, 126, 186 Protektionismus 130 Protestantismus 204, 211 Rationalismus 209 Reaktion 24, 218 Recht 98, 122, 127, 199 f., 203 Reformation 86, 202, 211 Reichtum 67, 143 Religion 20, 21, 25, 62 ff., 66, 83 ff., 102, 124, 200 f. Renaissance 26, 158, 211 Republik 127 Revolution 26, 99, 102, 114 Rezeption des römischen Rechtes 52, 72 Richterliche Gewalt 82 Samtschaften 56 ff., 77, 80 Schiffahrt 182 Sekte 85 f. Selbstverwaltung 111, 128 Sitte 25, 142, 181 Sklaverei 24, 135 ff., 161 Souveränität 120 Soziale Frage 124, 125 ff., 143 Soziale Freiheitsrechte 136 Sozialer und historischer Prozeß 140, 146, 213 Soziales Leben 206 Sozialismus 82, 126 Soziologie 218 Spekulation 29, 52, 174 Sprache 57 Staat 73, 78f., 84, 116, 119f., 127f., 141, 173, 181, 185 Staat und Kirche 121, 128 Staatssozialismus 127 Staatswirtschaft 130 f. Städte 22, 31, 50, 83, 103, 108, 142, 1 7 6 - 1 7 8 , 187, 202 Stände 24, 57, 115, 186, 189 Tausch 104, 172 Technik 76, 101, 113, 178 ff., 198 Theologie 202 Transport 114 Treue 141

223

Sachregister Ueberlieferung 98

Wehr 168

Universitäten 157, 158

Weltanschauungspartei 83

Unterrichtswesen 121

Weltgeschichte 17

Untertan 42 f., 74, 204

Weltmarkt 113

Venedig 110 Verein, Vereinigung 81, 116 Verfassung 97, 193 Verkehr 22, 114 Vertragstheorie 78 f. Verwaltung 127 Verwandtschaft 181 Volk 30 f., 173, 198, 203 Volksbildung 23 Volkswirtschaft 173

Weltwirtschaft 52, 177 Werkzeug 113, 178 Westen Europas 153 Willen, Einheit des 120 Wissenschaft 29, 76, 9 2 f . , 101 f.; 142, 182, 189, 209 Wissenschaft, politische und soziale 2 0 4 Wochenende 109 Wohnungszustände 109 Zivilisation 176

Wanderungen 56

Zölle 130

Ware 53, 129

Zünfte 50, 61

Wechselwirkungen 208 ff.

Zufall und Gesetz 213 f.

Schriften von Ferdinand

Tönnies

Gemeinschaft und Gesellschaft Grundbegriffe der reinen Soziologie 8. Auflage, Leipzig 1935, H a n s Buske

Thomas Hobbes, der Mann und der Denker 2. Auflage, Stuttgart 1912, Fr. F r o m m a n n s Verlag

Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Ansicht (preisgekrönte Schrift) Berlin 1921, K. C u r t i u s Verlag

Die Sitte (Sammlung, „Die Gesellschaft") F r a n k f u r t a. M . 1909, R ü t t e n &c Loening

Die Entwicklung

der sozialen Frage

3. Auflage, Leipzig 1920 (Sammlung G ö s c h e n 353)

Theodor Storm Gedenkblätter zum 14. September 1917 Berlin 1917, K. C u r t i u s

Menschheit und Volk (Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie) G r a z u n d Leipzig 1918, Leuschner 8c Lubensky

Englische Weltpolitik

in englischer

Beleuchtung

Sechstes T a u s e n d , Berlin 1915, J. Springer

l Schriften

von

Ferdinand

Tönnies

— Der Autorisierungsstatus dieser unvollständigen

u n d a u c h fehlerhaften Bibliographie ist ungeklärt; vgl. im Zweifel S. 565 ff.

Deutschlands

Platz an der Sonne

Berlin 1915, J. Springer

Der englische Staat und der deutsche

Staat

Eine Studie, Berlin 1917, K. C u r t i u s

Weltkrieg und

Völkerrecht

Berlin 1917, S. Fischer

Die Schuldfrage Rußlands Urheberschaft nach Zeugnissen aus dem Jahre 1914 2. Auflage, Berlin 1929, G. Stilke

Kritik der öffentlichen

Meinung

Berlin 1922, J. Springer

Der Zarismus und seine Bundesgenossen Beiträge zur Kriegsschuldfrage

1914

Berlin 1922, D e u t s c h e Verlagsgesellschaft f ü r Politik und Geschichte

Der Selbstmord in Schleswig-Holstein (Schriften der Baltischen Kommission zu Kiel, Band 7) Breslau 1927, F. H i r t

Soziologische

Studien und

Kritiken

3 Bände, J e n a 1 9 2 5 - 1 9 2 9 , G . Fischer

Einführung

in die

Soziologie

Stuttgart 1931, F. E n k e

II. Schriften

Der Justizmord von Versailles Unser klares deutsches

Recht aus dem

Anklagefrieden

In der jüngsten Nummer der „Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung" ist der Aufsatz, den die Herren Bloch und Renouvin in 5 der Zeitung „Le Temps" veröffentlicht haben, in deutscher Uebersetzung wiedergegeben worden. Der Aufsatz hat nicht geringes Aufsehen erregt und ist in derjenigen Presse, die eine Verbesserung unseres Zustandes hauptsächlich von einer Besserung des Verhältnisses zu Frankreich erwartet, naturgemäß begrüßt und als ein günstiges Zeichen gewürdigt 10 worden. Ein kritischer Leser und Politiker kann aber nicht umhin, schwere Bedenken dagegen zu hegen, daß die Verfasser jenes Aufsatzes der berufenen Kriegsschuldthese eine so harmlose Auslegung geben wollen, wie sie es tun, indem sie meinen, diese Auslegung sei die sachlich richtige. Ihre Schlußfolgerung geht dahin, daß die Unterzeichner des Verls träges auf Seiten der Entente freilich fest an die Schuld der ehemaligen kaiserlichen Regierung geglaubt haben, aber bei Gestaltung des Vertrages nicht die Absicht gehabt hätten, von Deutschland die Anerkennung einer „allgemeinen Verantwortung" zu fordern. „Sie hatten kein anderes Ziel als sich vom Reich die Anerkennung eines Tatbestandes zu verschafi Der Justizmord

von Versailles

— Ferdinand Tönnies greift am 3 . 1 . 1932 („Magdeburgi-

sche Zeitung", Nr. 3, [Sonntags-]Beilage, S. 5 f.; Fraktur) unter einem (sehr vermutlich von der Redaktion gewählten) Titel noch einmal die 1914er Kriegsschuldfrage auf. (Vgl. T G , Bd. 9 ff.; zumal in Bd. 12 „Die Schuldfrage: Rußlands Urheberschaft nach Zeugnissen aus dem Jahre 1 9 1 4 " , Berlin 1919 {Schufr}.)

Dazu bewegt ihn der Beitrag „Die

Entstehung und die Bedeutung des Artikels 231 des Versailler Vertrages" von Camille Bloch und Pierre Renouvin („Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung" (1931, Jg. 9, S. 1166 — 1187); auch zieht Tönnies noch den fortführenden Diskussionsbeitrag von René Gerin heran („Les Professeurs de la Sorbonne et l'Article 231 du Traité de Versailles", ebenda S. 1 2 1 0 - 1 2 1 2 ) . 1919 hatte dieser sog. „Kriegsschuld-Artikel" 231 des Friedensvertrages von Versailles dessen Teil 8 „Wiedergutmachungen" begründend eingeleitet. — Tönnies' Beitrag hat einen Vorspann: „Der bekannte Kieler Soziologe Prof. Ferdinand Tönnies

beschäftigt sich in diesem Artikel in besonders scharf umrisse-

nen, abweisenden Ausführungen vom völkerrechtlichen Standpunkt aus mit dem neuesten französischen Schachzug in der Kriegsschuldfrage. Die neue französische These haben wir bereits widerlegt. Bei der Bedeutung von Ferd. Tönnies meinten wir jedoch, ihm noch das Wort geben zu sollen. D. Red."

230

Schriften

fen, der eine Verfehlung darstellt, bestehend in dem Angriff vom Juli — August 1914, mit Folgen, deren Wiedergutmachung das

bürgerliche

Recht aller Länder verlangt". Es ist sehr bezeichnend, daß hier nicht das Völkerrecht, sondern das in den einzelnen Staaten geltende Privatrecht herangezogen wird; denn nicht einmal die Lehren des Völkerrechts hatten im Jahre 1914 einen Krieg darum für unberechtigt erklärt, weil er von der einen Seite durch kriegerische Handlungen eröffnet wurde; dies galt vielmehr als notwendige Folge des vorhandenen Kriegszustandes. Unsere Franzosen aber behaupten, es handle sich nur um die grundlegende Verantwortung für den Krieg, die offenbar aus der Tatsache des Angriffs hervorgehe. Wir können leider nicht umhin, uns an die Tatsache zu erinnern, daß der sogenannte Friedensvertrag unter schlechthin abnormen Verhältnissen zustande gekommen ist, die dem Begriffe der Gerechtigkeit hohnsprechen. Er ist nicht zustande gekommen in der Art wie nach den Regeln des Völkerrechts, die seit Tausenden von Jahren gegolten haben, Friedensverträge zustande kommen, nämlich auf Grund einer Verhandlung, die unter allen Umständen

für einen besiegten Staat, und zwar im

Verhältnisse zur Schwere seiner Niederlage leidvoll und peinlich ist, die ihm aber doch die Freiheit und Gleichheit des Paziszenten

läßt; dieser,

wenn auch unter dem Druck einer harten Nötigung, bleibt doch im Besitze seiner Freiheit und Gleichheit, sein „ J a " oder „Nein" auch zu den einzelnen auferlegten Bestimmungen auszusprechen, und dadurch wird die Verhandlung wenigstens der Idee eines freien Vertrages gerecht. Z u m erstenmal in der Weltgeschichte ist ein Friedensvertrag auf eine andere Weise, auf eine für die besiegten Mächte viel demütigendere und also dem bisher geltenden Völkerrecht widersprechende Art zustande gekommen. Die Verhandlung war nicht, oder doch nur in einigen Punkten scheinbar, eine wirkliche und richtige Verhandlung. Es war die Verhandlung eines Strafprozesses. „Kein Krieg unabhängiger Staaten gegeneinander kann ein Strafkrieg sein, denn Strafe findet nur im Verhältnisse eines Oberen gegen den Unterworfenen statt, welches Verhältnis nicht das der Staaten gegeneinander ist" hat uns Kant (Metaphysische Anfangsgründe 20 des Paziszenten

(schon bei Kant) svw. „des Friedens-Vertragsschließenden".

33 Kant, Immanuel, Die Metaphysik der Sitten, 1. Tl. (Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre), § 57, in: Kants Werke (Akademie-Textausgabe), Band VI, Berlin

2 1968

[1797 u. ö.], S. 347; Tönnies' Zitat übernimmt Kants Hervorhebung und lässt dessen lat. Übersetzungen von „ein Strafkrieg" (bellum punitivum), tis) und „den Unterworfenen" (subditum)

aus.

„eines Oberen" (imperan-

Der Justizmord von Versailles

231

der Rechtslehre § 57) gelehrt. Auf der Anklagebank saß das Deutsche Reich. Auf der Richterbank saßen nicht unparteiische Richter, sondern die Mächte, die als „alliierte und assoziierte Mächte" die Sieger waren. Naturgemäß wären diese auch bei einer kontradiktorischen Verhandlung unermeßlich im Vorteil gewesen und hätten auch in dieser Form den Frieden diktieren können. Aber „Vis superba formae", „ein schönes Wort des Johannes Secundus", heißt es in Goethes „Sprüchen in Prosa". In der Form der Verhandlung wird auch der sonst im Nachteil sich Befindende immer weit mehr zu seinen Gunsten bewirken und durchsetzen können, als ein Angeklagter es vermag, zumal in einem höchst außerordentlichen Prozeß, in dem der Ankläger auch Richter zu sein sich herausnimmt, und ein solcher Richter also von vornherein nicht willens ist, den Angeklagten (geschweige die Verteidigung durch eine andere Person) mit der Gleichmütigkeit und Unparteilichkeit anzuhören, mit der jeder normale Richter auch den Verteidiger eines Raubmörders anhören soll und anzuhören pflegt. Das Urteil stand in diesem Falle von vornherein fest: das Deutsche Reich hatte, gemäß dem Vorurteil und dem Urteil, böswillig und mutwillig, von Herrschsucht und Eroberungssucht angetrieben, Rußland und Frankreich den Krieg erklärt, ohne daß diese irgendwelche Veranlassung dazu gegeben hatten. Diese furchtbare Schuld ist es, deren Anerkennung von dem verurteilten Verbrecher verlangt wurde, wie auch in einem echten Strafprozeß der verurteilte Verbrecher gefragt wird, ob er das Urteil annehme oder nicht. Schon mehr als einmal ist später ein Justizmord entlarvt worden, wo der angebliche Verbrecher nicht hat umhin können, die Strafe anzunehmen, um einer verlängerten Plage, die ihm nichts nützen konnte, sich zu entziehen. Nicht selten erfolgt eine solche Annahme infolge eines gutmütigen Zuspruchs von Seiten des Gefängniswärters, der dem Verurteilten vorstellt, daß die Nichtannahme völlig aussichtslos für ihn sei. Genau so lag der Fall für das angeklagte Deutsche Reich. Graf Brockdorff-Rantzau weigerte sich, diese Anerkennung auszusprechen, weil sie in seinem Munde eine Lüge wäre. Sie war auch im Munde der Regierung, die nachher die Anerkennung aussprach, eine bewußte Unwahrheit, die sie vor ihrem Gewissen nur durch die furchtbare Notlage, in der sich das Deutsche Reich befand, 6 Vis superba formae [lat.] svw. „die hoch stehende [auch: hochmütige] Gewalt der Form". Zitat in der Quelle durch Setzfehler verstümmelt, richtig dann „Ein schönes Wort von Johannes Secundus" (Goethe 1993: 281, Nr. 3.34). Vgl. Tönnies' Rezension der Goethe-Edition „Sprüche in Prosa" durch von Loeper (in diesem Band, S. 503 — 511).

232

Schriften

und durch die dringende Gefahr, daß im anderen Falle diese Notlage noch verschlimmert würde, entschuldigen konnten. Die gelehrten Franzosen versuchen, diese traurige und verhängnisvolle Anerkennung auf das begrenzte Geständnis zu reduzieren, das der Wortlaut des Art. 231 wiedergebe und dies sei der Ausdruck einer unbestrittenen Wahrheit. „Denjenigen, welche der Ansicht sind, daß die Entente Deutschland die Unterzeichnung einer Urkunde aufgezwungen hat, zur Verewigung dessen, was die Propaganda eine Ehrung nennt, genügt es, den Vertrag von Versailles selbst entgegenzuhalten, um zu den Schlüsse zu gelangen, daß man von Deutschland dies nicht verlangt hat und daß eine solche Urkunde nicht existiert." Es soll also nur die unbestrittene Tatsache damit anerkannt worden sein, daß von seiten des Deutschen Reiches der Krieg an Rußland und der Krieg an Frankreich erklärt worden ist. An Großbritannien ist der Krieg nicht erklärt worden. Daß er an Rußland erklärt wurde, nachdem die Forderung, die allgemeine Mobilmachung zurückzunehmen, unbeantwortet geblieben war, ist geschehen in Gemäßheit eines Beschlusses, der auf Veranlassung des Zaren im Haag abgehaltenen zweiten Friedenskonferenz von 1907. Herr v. Bethmann-Hollweg, der die ungeheure Gefahr des Krieges klar erkannt hatte und zu großen Opfern bereit gewesen wäre, um ihn zu vermeiden, der aber auch mit gutem Grunde gesagt hat, daß es unmöglich war, für das Deutsche Reich Oesterreich-Ungarn preiszugeben und dem Zerfall zu überlassen — als unbedingt glaubwürdiger Mann erklärt der damalige Reichskanzler (Betrachtungen zum Weltkriege S. 156), er habe das an Rußland gerichtete Ultimatum für schlechthin notwendig halten müssen, weil er sah und wußte, daß Rußland aus keinem anderen Grunde mobil gemacht hatte als in Absicht auf den Krieg gegen Oesterreich und gegen das Deutsche Reich. Er hat, unter dem Einfluß des damaligen Chefs des Generalstabes, Generals v. Moltke, zur förmlichen Kriegserklärung sich entschlossen, „weil unser für den Zweifrontenkrieg berechneter Mobilmachungsplan die sofortige Vornahme kriegerischer Handlungen vorsah und weil unsere Chancen in dem Ringen gegen eine gewaltige zahlenmäßige Uebermacht allein von äußerster Schnelligkeit im Handeln abhingen". Der berühmte Philosoph Herbert Spencer, der in Amerika, in den englischen Kolonien und in Ostasien eine noch größere Autorität ist als in England selber, der ein unbedingter Freund des Friedens war, ja, der 33 im Handeln abhingen-, von Bethmann-Hollweg, Theobald, Betrachtungen zum Weltkriege, I. Teil: Vor dem Kriege, Berlin 1919, S. 156.

Der Justizmord von Versailles

233

durch Aufhören der Kriege — er ist 1903 gestorben — damals schon die Erhaltung der europäischen Kultur bedingt hielt, sagt in dieser Hinsicht und gegenüber der Meinung, daß die schwachen Transvalrepubliken den Krieg um die Wende des Jahrhunderts verursacht hätten, weil sie in der Tat den Krieg erklärt hatten — Spencer wehrt als überlegener Denker diese einfältige Meinung ab, indem er sagt: nicht der den Krieg erklärt, sondern wie sogar die Indianerstämme wissen, wer zuerst zu den Waffen greift, ist der schuldige Urheber des Krieges. Im Verhältnisse der Großmächte zueinander ist das zarische Rußland es gewesen, das zuerst zu den Waffen gegriffen hat. Dies ist unbestreitbare historische Tatsache. Dadurch hat die deutsche Regierung sich genötigt gefunden, an die französische die Frage zu richten, wie sie sich verhalten wolle. Sie hat dies getan, obgleich sie es ganz genau vorher wußte, daß die französische Republik im sicheren Hinblick auf diesen längst bevorstehenden Krieg — den Krieg der Revanche — mit dem Zarismus verbündet war. Die Kriegserklärung war auch in diesem Falle nur eine durch die Notwendigkeit raschen Handelns gebotene Sache. Das rasche Handeln war notwendig wegen der seit vielen Jahren in den deutschen militärischen Kreisen oft erörterten ungeheuren Schwierigkeit eines Krieges gegen zwei Fronten. Wer schon 1890 als politisch Denkender gelebt hat, muß wissen, mit welchen schweren Sorgen schon damals diese Eventualität im Kreise der Kundigen erörtert worden ist, und wie man sich wohl der Schwäche des einen (wahrscheinlichen) Bundesgenossen, wie der Unzuverlässigkeit des anderen bewußt war. René Gerin hat schon — auch dies ist in der letzten Nummer der Berliner Monatshefte für internationale Aufklärung gedruckt worden — die Richtigkeit der Meinung deutlich gemacht, daß der Ausdruck agression und der Ausdruck imposée einen anderen Sinn haben können als den der absoluten Schuldthese. In Deutschland darf man sich darüber keiner Illusion hingeben, es wäre schlechthin töricht, dies zu tun. Wenn es den Franzosen ernst ist, diese unwahre These zu widerrufen, so mögen sie sie widerrufen und diesem Widerruf die Folge geben, die sie selber als logisch geboten längst erkannt haben. In der internationalen Meinung, d. h. im Urteil der unparteiisch Urteilsfähigen, ist sie ohnehin gerichtet. 23 28 28 34

des anderen, d. i. Italiens. agression [frz.] svw. „Angriff", „unvermuteter Angriff". imposée [frz.] svw. „auferlegt"; aber auch: „belegt mit" (z. B. einem Namen); u. a. gerichtet — vermutbarer Setzfehler im Original (Tönnies 1932b: 6): „gesichtet".

[Die Lebenssumme] Auf Grund meiner Lebenserfahrung empfehle ich jungen Männern und Frauen dringend, nicht mit Skrupeln und Zweifeln über schlechthin unlösbare Probleme sich zu plagen, sondern, wenn sie mit einem regen und tatkräftigen Erkenntnistrieb begabt sind, diesen frühzeitig und dann nachhaltig in Reih und Glied mit dem normalen und gesunden Gange der wissenschaftlichen Erkenntnis dahin zu wenden, wo sie Grund haben zu erwarten, daß sie wenigstens dem gegenwärtigen Stande des Wissens auf dem Gebiete, das sie gerade interessiert, gerecht zu werden vermögen, um der Erhaltung und Ueberlieferung dieses Wissens lehrend zu dienen, vielleicht sogar dazu beizutragen, dieses Erbgut ein wenig zu vermehren. Soviel ich sehe, ist ein solcher Fortschritt heute ganz besonders noch in allen anthropologischen Wissenschaften möglich, daher auch in der Soziologie und Soziographie — so nenne ich die empirische Soziologie — und betone immer, daß hier das am meisten entwicklungsfähige Ackerfeld liegt, wenn man ganz und gar im Geiste der Naturwissenschaften auf die Wirklichkeiten des sozialen Lebens nach der Vorschrift des großen Laplace die Methoden anwendet, die auf Beobachtung und Berechnung gegründet sind. Uebrigens meine ich als Regeln für den wissenschaftlich denkenden Menschen und für eine wissenschaftliche Weltanschauung aufstellen zu dürfen:

i [Die Lebenssumme]

— Erschienen ist dieser Antwortbrief Tönnies' (ohne eigenvergebe-

nen Titel) im „Stuttgarter Neuen Tagblatt", „Die Sonntags-Seite" Nr. 2 vom 10. 1. 1932, S. 1, in Fraktur, als Teil eines Umfrageberichts von Eugen Gömörl [sie!]. Dessen Titel („Die Lebenssumme bedeutender Geister") wurde hier genutzt (sein Untertitel: „Bekannte Persönlichkeiten über die Grundlehren ihres Lebens"). Der redaktionelle Vorspann lautet: „Unser Wiener Mitarbeiter ist an bedeutende, erfolgreiche Persönlichkeiten mit der Frage herangetreten: ,Welche sind die Lehren, die Sie als das Resümmee Ihres reichen Lebens Ihren Mitmenschen mitteilen und hinterlassen könnten? Was betrachten Sie gewissermaßen als das Fazit, die Grundlehre, ihres Lebens?' Wir veröffentlichen hier einige der ebenso interessanten, wie vom literarhistorischen Gesichtspunkt aus wertvollen und lehrreichen Antworten." Tönnies' Antwortabdruck ist von allen (Knut Hamsun, Ricarda Huch, Graf Hermann Keyserling, Max Planck, Hans Carossa, Werner Sombart, Stefan Zweig, Alfons Paquet) der längste.

[Die Lebenssumme]

235

1. Man hege Ehrfurcht vor dem unermeßlichen und unlösbaren Rätsel des Daseins, von dessen ewigem Geheimnis niemand eine Ahnung hat, der da wähnt, daß irgendwelche Religion uns der Erkenntnis näher bringen könne; ebensowenig aber wer da wähnt, daß Wissenschaft und Technik, deren Größe niemand mehr als ich bewundern kann, an das Problem der Probleme auch nur rühren. Freilich müssen wir 2. mit Geduld die fernere Entwicklung des Denkens und Forschens solange als wir leben, verfolgen, und dürfen uns freuen über diese gewaltigen Leistungen unseres Zeitalters, und dürfen hoffen, daß die Wissenschaft auch in dem Sinne fortschreiten wird, daß sie das soziale Problem zu bewältigen vermöge. Sie wird es vermögen, wenn es gelingt, der Aufmerksamkeit auf diese Aufgabe und der Hingebung an sie eine solche Konzentration und Disziplin einzuflößen, wie sie in den Naturwissenschaften und der Technologie längst von selbst sich versteht. 3. Ebenso wichtig für eine besonnene und beruhigte Denkungsart ist, wie mit zunehmenden Jahren immer tiefer Goethe erkannt hat, die Resignation: etwas was für junge Männer und Frauen kaum erreichbar, vielleicht nicht zu empfehlen, jedenfalls bitter ist, für das Alter, wenigstens das höhere, sehr viel leichter und um so mehr notwendig sich darstellt: wenn auch durchaus nicht geraten werden darf, daß man aufhöre, mit der Jugend zu leben und zu denken; nicht geraten werden soll, in Wüsten zu fliehen, „weil nicht alle Blütenträume reiften", oder auch nur sonst von der Welt sich zurückzuziehen — wie denn die echte Entsagung nicht verdrossen und verdrießlich sein darf, nicht ein Studium des Todes, sondern nach Spinozas Anweisung eine fortgesetzte und vertiefte Meditatio Vitae.

22 Blütenträume

Aus: Goethe, Johann Wolfgang, Prometheus ( 1 7 8 5 u. ö.): „Wähntest du

etwa, [|] Ich sollte das Leben hassen, [|] In Wüsten fliehen, [|] Weil nicht alle [|] Blütenträume reiften?" 25 Meditatio

Vitae [lat.] svw. „Innewerden des Lebens", „sich sinnend ins Leben vertiefen".

Höffding und die Sozialdemokratie Mit Harald Höffding, dem dänischen Philosophen, der am 2. Juli 1931 starb, ist eine Gestalt aus dem Leben geschieden, die nicht nur für sein dänisches Vaterland, sondern für den ganzen Kulturkreis, dem es angehört, eine hervorragende Bedeutung gehabt hat. Nicht am wenigsten für Deutschland, denn teils durch Uebersetzungen, zum kleineren Teil auch durch von ihm selber geschaffene deutsche Ausgaben gehörten alle seine größeren Werke auch der deutschen philosophischen Literatur an, und sind durch deren Vermittlung in die anderen großen Literaturen übergegangen. Besonders auch in Großbritannien und in Amerika ist Höffding bekannt und hoch geschätzt worden, wie die Verbreitung seiner Schriften und viele Ehrenbezeugungen, die ihm zuteil wurden, bekunden. Höffding war ein Mann von weit- und tiefgehender Bildung. Seine Philosophie wollte durchaus wissenschaftlich sein und gehört in den Kreis jener Erneuerung einer wissenschaftlichen Philosophie, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Frankreich durch Comte, in England durch Stuart Mill, Herbert Spencer und andere, in Deutschland durch Wundt, Avenarius, Paulsen bezeichnet wird. Keiner dieser Denker ist unberührt geblieben von dem Charakter, den dies Zeitalter rasch und in immer ausgesprochenerer Weise annahm, dem des Kapitalismus und der mit ihm sich entwickelnden, gegen ihn und über ihn hinausstrebenden Arbeiterbewegung. Wenn auch keiner von ihnen von der Philosophie und von einem ihr traditionell anhängenden halbwegs soziologischen Studium der Religion sich ab- und wie Karl M a r x einem vertieften Studium des wirtschaftlichen Lebens sich zugewandt hat — denn auch Stuart Mill blieb, wenngleich mit starkem Zweifel, in den Geleisen der i Höffding

und die Sozialdemokratie

— Dies ist der erste von Tönnies' beiden Nekrologen

für den ihm so verbundenen Präzeptor der Philosophie, ja der Wissenschaft Dänemarks (vgl. in diesem Band S. 280—285, sodann Bickel, Cornelius und Rolf Fechner, Hgg.: Ferdinand Tönnies Harald Höffding[.] Briefwechsel, Berlin 1989). Titel und Erscheinungsort — Die Gesellschaft^] Internationale Revue für Sozialismus und Politik, hgg. von Rudolf Hilferding, 1932, Jg. 9, Nr. 1 (Januar, S. 75—79) — dokumentieren beide den Entschluss des Autors, angesichts Hitlers Erfolgen weder bloß nominell (als lebensspät entschlossenes Neumitglied der SPD vom 1. 4. 1930) noch allein im deutschen Rahmen mit der Arbeiterbewegung zusammen zu wirken.

Höffding und die Sozialdemokratie

237

liberalen und klassischen Theorie — so haben doch alle den Sozialismus durchaus ernst genommen und sind mehr oder minder lebhaft für eine entschiedene Sozialreform, insbesondere für die staatliche und kommunale Sozialpolitik, eingetreten, ja haben, wenn auch zögernd, man kann sagen zu ihrem Leidwesen, der liberalen Ideologie wenigstens auf diesem Gebiete den Abschied gegeben. Es wäre eine lohnende Aufgabe, unter diesem Gesichtspunkt das Verhalten aller dieser Denker zu prüfen und zu kritisieren, und zu gewahren, wie sie allmählich unter dem Einfluß der Erfahrung ihre Denkungsart gewandelt haben, jeder auf seine Art. Höffding war ein Mann, der für seine Person über die großbürgerliche Entwicklung nicht zu klagen hatte. Er stammte aus ihr: Sohn eines Kopenhagener Kaufmanns, der aus bescheidenen Anfängen einen Flachshandel zu bedeutender Höhe geführt hatte, so daß sein Wohlstand ungeachtet großer Familie diesen hochbegabten Sohn frei sich entwickeln lassen und seiner Ueberzeugung folgen lassen konnte, als diese ihm gebot, nachdem er das theologische Amtsexamen mit Auszeichnung bestanden hatte, dem priesterlichen Beruf für immer den Rücken zu kehren. So hat Höffding, seit 1871 Dozent, 12 Jahre später ordentlicher Professor in seiner Vaterstadt, mit dieser und der kleinen Nation, deren Hauptstadt sie ist, zusammengelebt und zusammengewirkt, ohne sich je dauernd von ihr zu entfernen. Er hat eine Wirksamkeit außerordentlichen Umfanges und großer Tragweite entfaltet, erst als 72jähriger trat er 1915 in den Ruhestand. Nun ist Dänemark ja kein Industrieland, Kopenhagen aber immerhin eine große Stadt und es hat in ihr früh eine sozialdemokratische Partei sich entwickelt, die auf Grund eines im dänischen Bauern- und Handwerkertum herkömmlichen demokratischen Bewußtseins und von tüchtigen Persönlichkeiten geführt, den Erfolg gehabt hat, daß der kleine Staat heute eines sozialdemokratischen Ministeriums sich erfreut, dessen Präsident ein emsiger Schüler Höffdings gewesen ist. Wie man denken kann, ist Höffding, wenngleich er nicht nur in Dänemark, sondern zugleich in Europa gelebt hat, nicht ein wirklicher Sozialist geworden. Es hätte wohl gar zu fremdartig in seine Umgebung hineingeschaut und ihn im Kreise seiner Kollegen und Freunde völlig isoliert. Und doch hat Herr Stauning bei Gelegenheit der Bestattung Höff29 Präsident: Der Tabakarbeiter, dann Gewerkschafter und sozialdemokratische Politiker Thorvald Stauning (1873 — 1942) war 1924—26 und seit 1929 dänischer Ministerpräsident.

238

Schriften

dings, indem er auf den schönen Lorbeerkranz hinwies, den der König und die Königin dem Toten gewidmet hatten, geäußert: zu seiner Studentenzeit habe es für revolutionär gegolten, Höffdings Vorlesungen zu besuchen; dieser Ruf aber ist wohl mehr von den Theologen als von den Arbeitgebern und den Politikern ausgegangen. Schon in der ersten deutschen Ausgabe seiner Ethik (Leipzig 1888) beschäftigt sich Höffding mit der sozialen Frage und spricht darin aus, es sei einem Fortschritt der Verhältnisse der Arbeiter zu verdanken, daß die soziale Frage von ihnen selbst aufgestellt werden konnte. Seine Lehre geht dahin, die soziale Frage sei eine ethische Frage; es widerstreite dem Ideal einer menschlichen Gesellschaft, „daß eine größere oder kleinere Anzahl menschlicher Wesen nur als passive Masse dastehen, als untergeordnete Mittel und Werkzeuge, deren Genüsse und Leiden nicht in Anschlag gebracht werden, wenn die Rechnung des sozialen Fortschritts oder Rückschritts abgeschlossen werden soll". Die sozialistische Theorie sei eine entschieden idealistische, insofern sie auf der Ueberzeugung beruhe, der menschliche Wille vermöge es, der Bildung einer harmonischen menschlichen Gesellschaft alle Hindernisse aus dem Wege zu räumen und so sei der Sozialismus mit den besten Gedanken des 18. Jahrhunderts verwandt, obschon er sonst durch seinen Antiliberalismus eine Reaktion dagegen bezeichne. Er habe es verstanden, die Arbeiter zu erwecken und zu begeistern, habe ihre Gedanken auf Ideale und Aufgaben gelenkt, die weit mehr umfassen als den engen Kreis, worin der isolierte Selbsterhaltungstrieb sich bewege. In der zweiten deutschen Ausgabe (1905) finden wir diesen Gedanken weitergeführt und höher entwickelt. Er beschäftigt sich hier auch mit der Entwicklung der sozialistischen Lehren, indem er vom ursprünglichen utopischen den philanthropischen Sozialismus unterscheidet und die 6 Ausgabe seiner Ethik: „Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse", Leipzig [11 1888. Das Zitat zur sozialen Frage findet sich auf S. 272; das Direktzitat „daß eine größre oder kleinere Anzahl [...]" sonst genau so auf S. 276; das indirekte zur sozialistischen Theorie auf S. 303. Höffding hatte seine große Studie am 7. 4. 1887, also im gleichen Monat wie Tönnies seine „Gemeinschaft und Gesellschaft" abgeschlossen (vgl. Höffding ebd., S. V). 25 In der zweiten deutschen Ausgabe: Höffdings Ausführungen finden sich schon in: „Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse", [„unter Mitwirkung des Verfassers nach der vielfach geänderten und erweiterten zweiten dänischen Ausgabe"), Leipzig 2 1901, auf den Ss. 387, 388 [hier das Zitat: der Urtext hat ein Komma nach „Richtung", seine Schlusswendung lautet „dieselben als ewige Ideen und Wahrheiten zu erblicken"], 393 und 374ff.

Höffding und die Sozialdemokratie

239

dritte Gestaltung lieber den spekulativen als den wissenschaftlichen Sozialismus nennen will. „Die wissenschaftliche Bedeutung, welche Karl M a r x und Friedrich Engels, die Begründer dieser Richtung unzweifelhaft haben, besteht vorzüglich darin, daß sie den geschichtlichen Charakter der nationalökonomischen Begriffe und Sätze verfochten, während man sonst geneigt war, in diesen ewige Ideen und Wahrheiten zu sehen." Der dänische Philosoph meint dann, daß im Gegensatz zu diesen dreien hauptsächlich in England eine Tendenz zur Geltung komme, der man den Namen des empirischen Sozialismus geben könne, den er seinerseits begünstigt, indem er den Marxismus ebenso kritisiert, wie er sonst der spekulativen Philosophie gegenübertritt. Nachdrücklich erhebt er dabei seine Stimme, nicht nur zugunsten einer Veränderung der bestehenden Ordnung der Arbeit und des Eigentums in sozialem Geiste, hauptsächlich durch die Gesetzgebung, sondern auch für die Förderung und zum mindesten die Nicht-Hemmung der freien wirtschaftlichen Vereinigungen der Arbeiterklasse in Gewerkschaften und Genossenschaften. Als die dänische Sozialdemokratie im Jahre 1921 ihr 50jähriges Jubiläum feierte, fand sich Höffdings Name unter der Glückwunschadresse, die angesehene Männer der Wissenschaft der Partei zugehen ließen. In einer Betrachtung späterer Jahre hatte er betont, daß er dem Sozialismus näher gekommen sei, und zwar vorzugsweise in zwei Punkten: in seinem wichtigsten Grundgedanken und in den Hauptzügen seiner Kritik der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung. Diese zwei Punkte seien allen Formen des Sozialismus gemeinsam. Was die Selbstprüfung und Selbsterkenntnis für den einzelnen Menschen bedeute, das bedeute eine solche Kritik für die Gesellschaft: sie sei die notwendige Voraussetzung für jeden Versuch der Besserung. Der Philosoph hat sich sonderlich bemüht, noch in späteren Jahren den Gewerkschaften, die in der dänischen Sprache Fachvereine heißen, noch mehr als früher gerecht zu werden. So sagt er: „Erst durch die Fachvereine ist die bürgerliche Selbständigkeit der Arbeiter zur Anerkennung gelangt und für den einzelnen ist die Erziehung durch seine Organisation von großer Bedeutung, um sein Persönlichkeitsgefühl, seine Tüchtigkeit, seine Sympathie mit anderen zu entwickeln. Es entsteht auf diese Weise gleichsam eine große Familie um ihn herum, als deren Glied der Arbeiter sich fühlen kann. Es ist kurz gesagt eine ganze Erziehung vom Egoismus zur Sympathie, von blinder Roheit zu klarsehender Kraft, vom Kampf zu friedlicher Verhandlung, was hier vor sich geht. Und dies alles geschieht auf dem Wege der Freiheit — es gibt keine bessere Antwort auf die Klagen dessen, der unsere

.240

Schriften

Zeit als eine bloße Zeit der Auflösung betrachtet, als ihn auf die soziale Entwicklung und die ethische Bildung hinzuweisen, die hier vor sich geht. Das Gemeingefüge entwickelt sich durch Zusammenleben und Zusammenwirken, durch gemeinsames Schicksal und gemeinschaftliche Arbeit." Praktisch hat Höffding immer für das Volkshochschulwesen sich interessiert und ist auch in dessen Dienst tätig gewesen. Ferner hat er öfter zugunsten der Arbeitslosen öffentlich geredet: Die Zeitung Sozialdemokraten stellte ihn am Tage nach seinem Verscheiden in einem {freilich nicht sehr gelungenen) Holzschnitt als Redner in einer Volksversammlung dar. — Der Erwähnung wert ist es auch, daß er die Konsequenz aus seinem Eintreten für die Gewerkschaften nicht gescheut hat, das Streikbrechen als eine unmoralische Handlung zu verurteilen. „Wenn die Arbeitsniederlegung wirklich im Interesse des ganzen Standes ist, so ist es unzweifelhaft die Pflicht des einzelnen, solange auszuharren wie möglich." Obgleich heute die Entwicklung des Lebens lauter und deutlicher für den Sinn und die Notwendigkeit der Regulierung des Kapitalismus und also für die Umwandlung der Gesellschaftsordnung in eine sozialistische spricht, so wird man doch in Deutschland heute mehr als etwa vor 40 Jahren seine liebe Not haben, einen einflußreichen Philosophen oder sonst einen Schriftsteller zu finden, der auch bei den Gegnern dieser Entwicklung und den verständnislosen Anklägern des „Marxismus" so vieler Achtung und Beachtung genösse, daß sein Wort auf ihre Denkungsart irgendwelchen Einfluß zu üben vermöchte. Es ist vielmehr eine stillschweigende Konvention geworden, alles derartige totzuschweigen, oder im günstigsten Falle mit der einfältigen Miene wohlwollender Ueberlegenheit darüber zu lächeln. Wir werden diesen Zustand noch eine gute Weile als eine der fatalen Folgen des Weltkrieges ertragen müssen. Von langer Dauer kann er nicht bleiben. Die ungeheure Krise redet eine zu vernehmliche Sprache. Wenn Marx im Jahre 1873 in seiner Vorrede zur zweiten Auflage mit Recht meinte, die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft mache dem praktischen Bourgeois am schlagendsten sich fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Zyklus, den die moderne Industrie durchlaufe und in deren Gipfelpunkt 4 gemeinschaftliche

Arbeit — Zitat nicht ermittelt.

14 solange auszuharren 34 Gipfelpunkt

wie möglich — Zitat nicht ermittelt.

der allgemeinen

Krise — Karl Marx beendet im Jahr des heraufziehenden

„Gründerkrachs" sein Buch („Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band. Buch I: Der Productionsprozess des Kapitals") im „Nachwort" wie folgt (1872:

Höffding und die Sozialdemokratie

241

der allgemeinen Krise, was würde er heute sagen! Er sah damals schon — im Januar 1873 ohne Konjunkturstatistik und dgl. — daß sie im Anmarsch sei, „obgleich noch begriffen in den Vorstadien", und sie werde durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes wie die Intensität ihrer Wirkung auch den Glückspilzen des neuen Preußisch-Deutschen Reiches „Dialektik einpauken". Und so geschah es. Die Folgen der damaligen Weltkrisis, die als eine schleichende, wenn auch mit vorübergehender Besserung, von 1876 ab über 12 Jahre sich erstreckte, waren noch nicht überwunden, als Marx die Augen schloß. Glückspilze hat es nachher wieder in sehr großer Menge und mit sehr großem Uebermut gegeben. Der Weltkrieg war zum guten Teile eine mittelbare Folge des Uebermuts, der in Deutschland wie in den andern großen Staaten des Hohen Bürgertums sich bemächtigt hatte und fast zwangsläufig in die Führung der Politik, auch der auswärtigen überging, um von dieser wieder auf einen großen Teil des Volkes zurückzuströmen. Unter den ungeheuren Ereignissen hat auch der Kapitalismus, der sich jetzt so gern die Wirtschaft nennt, schwer gelitten. Dennoch wußte die immer handlungsfähige Gewinnsucht des Handels auch im Kriege, auch in der Revolution, auch in der Inflation und Deflation ihre Geschäfte zu machen. Und nach dem Triumph der westlichen Mächte konnte es nicht fehlen, daß in Deutschland eine große Verarmung eintrat, die aber gemäß den vielen Widersprüchen des Systems nicht verhinderte, daß zweimal eine scheinbare neue Blüte sich entwickelt und zu neuem Uebermut geführt hat, unter dessen Folgen wir heute seufzen, wie nach dem Worte des Horaz die Achäer unter dem Wahnwitz der Könige. Es sind nicht nur Böswillige, sondern auch unwissende Toren, die heute die Meinung unter ebenso Unwissenden verbreiten, an diesem Unglück sei eine sozialistische Herrschaft schuld, die niemals vorhanden gewesen ist, oder es sei das angebliche Monopol der Gewerkschaften, das die Verbesserung der Wirtschaft 822), und Tönnies nimmt es in der Weltwirtschaftskrise beziehungsreich auf: „Die widerspruchsvolle Bewegung der kapitalistischen Gesellschaft macht sich dem praktischen Bourgeois am schlagendsten fühlbar in den Wechselfällen des periodischen Cyklus, den die moderne Industrie durchläuft, und deren Gipfelpunkt — die allgemeine Krise. Sie ist wieder im Anmarsch, obgleich noch begriffen in den Vorstadien, und wird durch die Allseitigkeit ihres Schauplatzes, wie die Intensität ihrer Wirkung, selbst den Glückspilzen des neuen heiligen, preussisch-deutschen Reichs Dialektik einpauken." 25 Wahnwitz der Könige Quidquid

delirant

— Q. Horatius Flaccus (lat., in: Episteln, I, 2, 14 [zahlr. Ausg.]):

reges, plectuntur

büßen die Griechen."

Achivi.

Dt. etwa: „Was immer die Kön'ge wüten,

242

Schriften

gehemmt oder unterbrochen habe. All dieses Gesäusel aufrichtiger und unaufrichtiger Meinungen wird rasch übertönt werden durch die wirklichen Ereignisse, die dem Sozialismus mehr nützen werden als ihm die heute mehr als zuvor feindliche Gedankenrichtung jener intellektuellen und antiintellektuellen Schichten zu schaden vermag, die bewußt oder 5 unbewußt in der Unterdrückung und Vernichtung sozialistischer Lehrmeinungen ihr persönliches Interesse und wohl gar die Zukunft der Nation meinen emporblühen zu sehen. Daher wird das Urteil den wenigen Denkern, die, der Tagesmeinung entzogen, deren Entwicklung ins Angesicht schauten, wenn sie auch nicht sie vorausgesehen haben, um so 10 heller leuchten, und dieser Nachruhm wird auch das ohnehin so bedeutende Ansehen Harald Höffdings ferner verklären.

Zur Erkenntnis des genossenschaftlichen Geistes Wer für die Internationalität der Genossenschaften ein hinlängliches Interesse besitzt und deren Bedeutung anerkennt, ist auch mit dem Namen des Dr. Henry Faucherre bekannt, der im Verbände der schweizerischen Konsumvereine (VSK.) die literarische Seite mit Hingebung und Erfolg pflegt. Es liegen hier zwei kleine, aber durchaus wertvolle Schriften, die von ihm herrühren, vor, beide aus dem genossenschaftlichen Seminar der Stiftung von B. Jaeggi hervorgegangen, die ihrem Inhalte nach einander ergänzen 1 . Der Name Pestalozzi als eines großen Pädagogen ist weltbekannt und erfreut sich wie in der Schweiz, seiner Heimat, so in Deutschland besonders hoher Schätzung. Weniger bekannt ist die Bedeutung, die in Pestalozzis Erziehungslehre das genossenschaftliche Prinzip hat, wie es auf den 23 kleinen Seiten der ersten dieser Schriften dargestellt wird. In seiner Einleitung stellt Faucherre die Wechselwirkung zwischen Genossenschaft und Erziehung dar, indem der Kerngedanke der genossenschaftlichen Frage: sich selber helfen und andere durch Verbundenheit stärken, hervorgehoben wird. „Um das zu erreichen, müssen wir uns einander anpassen." Die richtige Erziehung wird dazu leiten, indem sie die Anlagen, die in jedem normalen Menschen zu dieser gegenseitigen Hilfe vorhanden sind, heranzieht und ihren Sinn, ihre Notwendigkeit erkennen lehrt. Acht Grundsätze Pestalozzis will unser Gewährsmann aus dessen Riesenwerk für die genossenschaftliche Erziehungslehre herausschälen und näher bestimmen; nämlich 1. das selbstschöpferische Prinzip, 2. das 1

Abriß der Erziehungslehre Pestalozzis in Beziehung zum Genossenschaftswesen, 23 Seiten. — Grundriß der Genossenschaftskunde, 22 Seiten. Beide Basel. Buchdruckerei des VSK., 1931.

l Zur Erkenntnis des genossenschaftlichen Geistes — Der Beitrag, eine Doppelrezension in dem Wochenblatt „Konsumgenossenschaftliche Rundschau" (Hamburg, 20. 2. 1932, Jg. 29, S. 148 f., Fraktur), bezeugt Tönnies' währende Verbundenheit mit der internationalen Genossenschaftsbewegung; so auch zur Schweiz, vgl. seinen Beitrag „Die schweizerischen Konsumgenossenschaften und ihr Verband" (Tönnies 1918; TG, Bd. 11). 4 Faucherre war Vorsteher des Departments „Presse und Propaganda" der VSK. 25 Abriß - vgl. Faucherre 1931a, 1931b und 1933.

244

Schriften

Prinzip der Führung, 3. der Auslese, 4. der Elementarbildung, 5. der inneren Anschauung, 6. wird das Gesetz der Harmonie oder das Gleichgewicht der Kräfte, 7. der Individualität und der Gemeinschaft, endlich 8. das Prinzip der Nähe dargestellt. „Nur derjenige, der das Nahe völlig beherrscht, wird befähigt sein, weiterzubauen, um sich größere Aufgaben zur Lösung zu stellen." Das Nahe und Übersichtliche ist das Natürliche und Naturgemäße. Das uns zunächst Umgebende sollen wir gründlich und tief erforschen und erkennen. Aus dieser Erziehungslehre leitet nun Faucherre einige wichtige genossenschaftliche Grundsätze ab, die in der Forderung einer stufenmäßigen Entwicklung gipfeln: daß nämlich von der lokalen Genossenschaft zum nationalen Verband und von diesem zum internationalen Bund fortgeschritten werde, der die Schaffung der Wirtschaftsgemeinschaft bedeutet. Schließlich wird da noch die strenge Beobachtung einer klaren und festen Ordnung in Haus und Geschäftsbetrieb eingeschärft und endlich über die Rückvergütung als Ausgabenersparnis und über Kapitalbildung gesprochen. „Genossenschaftliches Kapital ist segensreich und nützlich. Aus der Individualkraft bildet durch Addition sich Kooperativkraft und aus dieser durch mehr als Addition, sozusagen als Produkt eine ihrem Wesen nach neue Kraft, die Gemeinkraft: in dieser liegt das Geheimnis der genossenschaftlichen Stärke." Etwas spezieller, aber in äußerster Knappheit werden diese Lehren in der zweiten kleinen Schrift entwickelt. In 25 kurzen Sätzen geht eine Darstellung der wichtigsten Wirtschaftsbegriffe voraus, die davon ausgeht, was Wirtschaft überhaupt, was Volkswirtschaft, was Bedürfnisse und ihre Einteilung, was Arbeit, was Produktion und Konsumtion bedeutet. So ist auch von Kapital, von Einkommen, von Grundrente, Zins und Lohn die Rede, und der Grundsatz wird eingeprägt (19), daß jeder Betrieb nach dem wirtschaftlichen Prinzip, das heißt mit dem kleinsten Aufwand an Arbeitskraft und Kapital, geführt werden soll, um eine möglichst hohe Gütererzeugung zu erreichen. Damit hängt naturgemäß das Preisproblem, die Arbeitsteilung und Arbeitszerlegung nahe zusammen. Der Gedanke schreitet dann fort, um das Situationsbild der modernen Wirtschaft als einer wesentlich unharmonischen zu zeichnen und (23) die Frage der richtigen Verteilung des Einkommens aus der gesamten Gütererzeugung zu stellen, also auf die Gegensätze von Produzenten und Konsument, von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, den Streit zwischen ihren Verbänden hinzuweisen. Es wird endlich betont, wie aus dem Widerstreit der Interessen für die heutige Volkswirtschaft und den

Z u r Erkenntnis des genossenschaftlichen Geistes

245

Staat soziale Aufgaben erwachsen: Arbeiterschutz, Versicherung, Wohnungssorge, Arbeitsnachweis, Wohlfahrtseinrichtungen, Tarifverträge usw., endlich die Förderung der Selbsthilfe. In einem kurzen Absatz wird dargestellt, wie Gewerkschaften und Genossenschaften einander ergänzen. „Die Genossenschaften, insbesondere die Konsumgenossenschaften, sind Selbsthilfeorganisationen, die in ihrem Endziel anstreben, die gesamte Wirtschaft auf eine neue solide Grundlage zu stellen und umzuwandeln." Dieser Gedanke wird im zweiten Teile der Schrift als Genossenschaftskunde näher begründet. Der Leser wird eingeführt in den Fortgang von der Bedarfs- zur Erwerbswirtschaft, und wie unter dem Drucke dieser, die den Menschen vom wirtschaftlichen Mittelpunkt zurückdränge, eine neue Gemeinschaftsbewegung, deren Hauptvertreter die Konsumgenossenschaften sind, entstanden sei. In der Art seien sie, als Schutzverbände der Verbraucher gegen Übelstände und Mißbrauch im Kleinhandel begonnen, das bedeutsamste Organ geworden, deren Interessen im Handel und durch ihn auch in der Produktion wahrzunehmen. Wie der einzelne Mensch wächst mit seinen größeren Zwecken, und seine Zwecke wieder mit seiner Einsicht und Erfahrung, so auch die Konsumgenossenschaften. Sie erfüllen ihr Wesen im Streben nach einer gerechteren Güterverteilung und in der Bildung einer Wirtschaftsgemeinde, die als Basis den Konsum anerkennt und erst auf Grund der festgestellten Bedürfnisse die Produktion organisiert und regelt. „Die Konsumvereine streben also eine neue bessere und gerechtere Wirtschaftsordnung an, in deren Zentrum als wichtigste wirtschaftliche Macht die organisierte und bewußte Kundschaft der Mitglieder steht." An diesem Punkte mündet nun die Lehre wieder im Erziehungsproblem. Der 21. Leitsatz betont, daß intensive genossenschaftliche Erziehung zur Erweckung und Ausbildung des genossenschaftlichen Geistes notwendig ist: nur dieser mache für Erfassung der genossenschaftlichen Idee, also für die Selbsthilfe in Gemeinschaft, empfänglich. Einige sich anschließende Sätze führen dann noch in die genossenschaftliche Ideengeschichte ein, der Dr. Faucherre eine besondere Schrift gewidmet hat 2 . Hier steht natürlich wiederum Pestalozzi und stehen seine Nachfolger im Vordergrund, und die geschichtlichen Daten der schweizerischen Bewegung und ihrer verschiedenen Genossenschafts2

Umrisse einer genossenschaftlichen Ideengeschichte. Erster Teil (mit sieben Porträts in Text), 1 9 2 5 , 127 Seiten (Genossenschaftliche Volksbibliothek, Heft 19). Diese Darstellung bezieht sich auf Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien, D ä n e m a r k Deutschland, schließt also die Schweiz nicht ein.

und

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Schriften

arten werden in einer Weise vorgestellt, die auch für Genossenschafter anderer Länder lehrreich und förderlich ist. Von allgemeiner Gültigkeit ist ferner auch, was, wenn auch gar zu knapp, über Aufbau der Organisation eines Konsumvereins und endlich über den schon erwähnten stufenmäßigen Aufbau der Konsumgenossenschaften ausgesprochen wird. Die beiden kleinen Hefte sind durchaus gemeinverständlich und regen in hohem Grade dazu an, sich mit dem Genossenschaftswesen gründlicher und grundsätzlicher zu beschäftigen. Daß es daran noch immer gebricht, ist leicht erklärlich, zumal in einer Zeit der schweren Not, wie es diejenige ist, in der wir eben heute leben. Freilich kann diese Not auch, wie sie es oft in der Geschichte gewesen ist, zur Lehrmeisterin werden, und der Ausblick in eine, wenn auch noch ferne Zukunft, den uns die von Pestalozzis Geist erfüllte Genossenschaftskunde und genossenschaftliche Erziehungslehre gewährt, sollte auch zur tröstenden Erhebung dienen, deren der Haushalter und die Hausfrau sogar dann bedürfen, wenn ihnen schon unmittelbar nur an den kleinen wirtschaftlichen Vorteilen gelegen ist, die der Verkehr in „unserem eigenen Laden" bedeutet. Wenn nur diese Bedeutung richtig bewußt wird: in ihrem wesentlichen Unterschied von dem scheinbaren und oft sehr zweifelhaften Vorteil, den sonst etwa das Kaufen in einem Geschäft im Vergleich mit der Konkurrenz, darbieten mag, so ist schon der Weg gebahnt dafür, dem Konsumverein immerdar, aus Überzeugung und aus genossenschaftlichem Geiste, den Vorzug zu geben, um eine Brücke ins Land der Zukunft zu schlagen. Denn wie es im neunten Satz der Genossenschaftskunde heißt: „Der Händler verkauft, der Konsumverein verteilt." Und wenn hinzugefügt wird: der Konsumverein dient den Konsumenten, so will freilich bekanntlich auch jeder Händler uns dienen, und mancher versteht das in vorzüglicher Weise, aber er kann uns nur dienen wollen insoweit, als es seinem Hauptzwecke, dem der Erzielung eines möglichst ausgiebigen Handelsgewinns, dient.

Hegels Naturrecht Zwra Gedächtnis an Hegels Tod (f 14. November Inhaltsverzeichnis:

1831)

N a t u r r e c h t u n d Liberalismus S. 247. — Sozialismus S. 249. — Renais-

sance des N a t u r r e c h t s S. 249. — Verhältnis Hegels zur M o n a r c h i e , z u m scholastischen, z u m r a t i o n a l e n N a t u r r e c h t S. 251; zur historischen Rechtsschule S. 253. — Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft S. 254; v o m Staat S. 258. — Ansätze von gemeinschaftlichem N a t u r r e c h t S. 261. — G e m e i n s c h a f t l i c h e Verhältnisse im N a t u r r e c h t S. 263.

Die vorwaltende wissenschaftliche Denkungsart versteht als Naturrecht die im 18. Jahrhundert zur Blüte gelangte Lehre von der natürlichen Freiheit und Gleichheit der Menschen, die in der Regel als eine Tatsache, zuweilen aber vielmehr als ein Postulat der Vernunft aufgefaßt wurde, nebst den daraus sich ergebenden Folgerungen für eine Gestaltung der Gesetzgebung und also des Rechtes, die selber als vernünftig, darum als allgemein und notwendig zu postulieren sei; wo aber eine gemeinsame gültige Gesetzgebung es nicht gebe, wie zwischen den Personen unabhängiger und souveräner Staaten, da müsse um so mehr das natürliche Recht als Völkerrecht zur Geltung gelangen, die Vernunft also als ein allseitiger richtiger und humaner Wille sich bewähren. Diese Idee entsprach ihrem Wesen nach der allgemeinen Tendenz auf Freiheit gegenüber den vielfachen Bindungen herrschaftlicher und genossenschaftlicher Art, die das System der mittelalterlichen und in die „Neuzeit" fortgesetzten sozialen Verfassungen bezeichneten. Der Liberalismus wird oft als Individualisi Hegels Naturrecht

— Dieser zu Tönnies' Verständnis der n a c h k a n t i s c h e n Philosophie un-

umgängliche Beitrag in „Schmollers J a h r b u c h f ü r Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich" (hgg. von A r t h u r Spiethoff, 1932, Jg. 56, Erstes H e f t [von 6], S. 7 1 — 85; Fraktur) w u r d e anscheinend (der red. Briefwechsel scheint verloren) in der Fahne (wohl nicht im M S , vgl. C b 54.34: 72) n a c h H o l l a n d gegeben, d o r t sehr schnell übersetzt u n d erschien (sogar vorab?) in einer nl. Übersetzung m i t ganz geringfügigen (hier vermerkten) Textvarianten in „ M e n s en M a a t s c h a p p i j " (Hegels natuurrecht[.} herinnering

aan Hegels dood

(14 November

Ter

1831), Jg. 8, 1. J a n u a r 1932, S. 276—290).

Die a n g e n o m m e n e (und jedenfalls auch sprachkundigere) Letztautorisierung Tönnies' h a t jedoch die Entscheidung für die A u f n a h m e der deutschsprachigen Textfassung in die T G veranlasst; die Seitenverweise (o. Zeilen 3—7) w u r d e n angeglichen. — Im gleichen H e f t veröffentlichte Tönnies auch eine Rezension (s. u. S. 475—477). 22 Liberalismus

— im nl. Text liberalisme

hervorgehoben.

248

Schriften

mus charakterisiert: dies ist nicht unrichtig, wird aber leicht mißverstanden, weil das soziologische Merkmal des Gedankens darin nicht ausgedrückt wird. Das Mißverständnis, als ob es um eine antisoziale Tendenz sich handle, ist ungeheuerlich, angesichts der Tatsache einer fortwährenden starken und durch alle Kräfte des Zeitalters begünstigten Vermehrung und Verwicklung der sozialen Beziehungen und Verhältnisse, der Vereine und Körperschaften, angesichts der gleichzeitigen Entwicklung des Staatsbegriffs, der über alle persönlichen Herrschaftsverhältnisse hinauswächst und eben gemäß der Lehre des Naturrechts hinauswachsen muß, als alleiniger „Inhaber aller Zwangsrechte"; wenngleich die Doktrin immer unentschieden blieb zwischen der Ausdehnung individueller Freiheiten und Rechte, worin die Freiheiten und Rechte freier Vereine und Sozietäten eingeschlossen wurden auf der einen Seite, der unbeschränkten Ausdehnung der Befugnisse des Staates auf der anderen. Der ersteren Tendenz wurde am meisten die seit dem Ausgang des Jahrhunderts und bis über die Hälfte des 19. Jahrhunderts hinaus vorherrschende Meinung des wirtschaftlichen Liberalismus gerecht, die zuerst im physiokratischen System, dann in der vielbewunderten Lehre des Adam Smith ihren Ausdruck fand, und ungeachtet der inzwischen erfolgten Diskreditierung des Naturrechts als eine auch naturrechtlich beglaubigte Lehre siegreich vordrang, wie sie denn allerdings auch in ihren Ursprüngen mit der naturrechtlichen Denkweise nahe zusammenhing. Es war zugleich die Lehre vom reinen Rechtsstaat, die den Beruf und die Bestimmung des Staates auf die Funktion des Schutzes der Person und des Eigentums (wohl auch des Besitzes an öffentlicher Geltung), insbesondere aber dann der Verträge einschränkte: jene Art des Liberalismus, die seitdem als Manchester-Lehre und als das Gebot des Gehenlassens (laissez faire, laissez aller) oder der Nichteinmischung der Staatsgewalt in das wirtschaftliche Leben, ein Gegenstand allgemeiner öffentlicher Mißbilligung geworden ist, wenngleich noch in allerjüngster Zeit das Manifest der elf Spitzenverbände des deutschen Kapitalismus den hoffnungslosen Versuch macht, den Wert der kapitalistischen Gesellschaftsordnung in einem Augenblicke zu retten, wo dieser Wert in sich selber tiefer als je zusammengesunken ist. Längst hat dieser Idee gegenüber, die der Witz eines bedeutenden Mannes als die Idee, die dem Staate die Rolle eines Nachtwächters übriglasse, der Gedanke des Wohlfahrtsstaates neu 28 laissez faire, laissez aller — [frz.] svw. „lasst es geschehen, lasst's laufen". 35 Witz eines bedeutenden Mannes — Ferdinand Lassalle zugeschrieben.

Hegels Naturrecht

249

sich erhoben, den in den so viel engeren Verhältnissen des vorrevolutionären sozialen Lebens der aufgeklärte Absolutismus regierender Fürsten und Staatsmänner zu verwirklichen beflissen war, obschon seine wirklichen Leistungen zumeist, gleich denen der Revolution, hauptsächlich solche der Befreiung gewesen sind, also der Durchführung jener naturrechtlichen Ansichten dienten, deren unvorhergesehene und nicht gewollte Frucht alsdann eben die unpersönliche Herrschaft des Kapitalismus zwangsläufig geworden ist, die in der Ablehnung aller volkswirtschaftlichen und dadurch auf sozialen Ausgleich hinwirkenden Funktionen des Staates gipfelt, und in diesem Sinne mit nicht geringen Erfolgen den Staat selber von sich abhängig zu machen versucht hat. Einhellig und klar ist demgegenüber nur der Gedanke des Sozialismus, der selber aus den Voraussetzungen des Liberalismus hervorgegangen und ihn zu vollenden gesonnen ist, indem er jene andere Entwicklung aus den gleichen Voraussetzungen, die der unpersönlichen Herrschaft des Kapitals (oft auch „Plutokratie" genannt) zugute kommt, ablehnt. Dies ist der Sinn der sozialistischen Arbeiterbewegung und der durch sie genährten sozialen Reform, in deren Richtung jedoch andere antikapitalistische und in diesem Sinne antiliberale Elemente mit der Arbeiterbewegung sich begegnen: teils auf Wiederherstellung vorliberaler und vorgesellschaftlicher, zumeist religiös-ethisch begründeter Denkweise gerichtet, die eben als solche den Ansprüchen einer gemäßigten und in überkommenen Vorstellungen beharrenden Arbeiterbewegung entgegenkommen; teils auf Grund einer scheinbar patriarchalisch-gemeinschaftlichen Gesinnung, mit der auch das kaufmännische, aber am leichtesten das Gewinnstreben des Grundeigentums gern sich umkleidet. Wir überschauen heute die Entwicklung des 19. Jahrhunderts und dreier Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. In bezug auf die Rechtsphilosophie, die eine nicht unbedeutende Rolle in den politischen und wirtschaftlichen Kämpfen der Zeit gespielt hat, darf als Ergebnis wohl eine, wenn auch noch keineswegs vollendete, Renaissance des Naturrechts gewürdigt werden, die in der sozialistischen oder schlechthin der sozialen Idee enthalten ist. Inzwischen war — und am ausgesprochensten in Deutschland, wo das rationalistisch-liberale Naturrecht des 18. Jahrhunderts seine höchste Entfaltung als Disziplin der Hochschulen gefunden hatte — dieser ihrer Blüte ein beinahe vollständiger Verfall gefolgt: der Sieg der historischen Rechtsschule, die das Naturrecht als falsch, als sinnlos und lächerlich verwarf und nur positives Recht gelten ließ: dieses habe, nach der Mannigfaltigkeit der Verhältnisse und Bedürfnisse in ver-

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Schriften

schiedenen Staaten, ja in verschiedenen Landesteilen eines Staates, naturgemäß sich verschieden entwickelt, so daß es eben in der Naturgemäßheit dieser Entwicklung, vorzugsweise durch die auf dem Rechtsgefühl des Volkes beruhende Gewohnheit, demnächst aber auch durch die juristische Gelehrsamkeit und richterliche Weisheit neuen Umständen angepaßt, schwerlich durch eine verallgemeinernde Gesetzgebung verbessert werden könne. Dies ist das System Friedrich Karl von Savignys, der längst als Begründer und Meister der historischen Rechtswissenschaft gefeiert worden ist. Seine Philosophie beruht in der halb biologisch, halb mystisch angelegten Philosophie Scbellings, die ihrem Wesen nach antirevolutionär, also konservativ und, insofern als der Liberalismus schon seit mehr als 100 Jahren siegreich vorgedrungen war, reaktionär durch ihre Tendenzen gewirkt hat. Ihre Wirkungen entsprachen im allgemeinen der wirklichen Lage des deutschen Volkes, insofern als in dem am meisten modernen deutschen Staate, in Preußen, die ständischen Mächte ihre Herrschaft wiederherzustellen mit Erfolg beflissen waren, und wenn auch durch die liberale Gegenbewegung seit 1830 und die kapitalistische Entwicklung seit 1840, die alsbald auch in ihren sozialistischen Reflexen zutage trat, nach der gescheiterten Revolution 1848/49 um so fester sich behaupten konnte. Zu gleicher Zeit fand in den vielen übrigen deutschen Staaten zumeist nur eine langsam fortschreitende industrielle und soziale Entwicklung statt, wenngleich das Bedürfnis einer allgemeinen Gesetzgebung für das bürgerliche oder Privatrecht nicht völlig unterdrückt werden konnte: nur im Königreich Sachsen, dem einzigen Mittelstaate, der einen ausgesprochenen industriellen Charakter trug, hat es zur Abfassung eines bürgerlichen Gesetzbuches geführt, das, am 2. Januar 1863 erlassen, erst am 1. März 1865 in Kraft getreten ist, zu einem Zeitpunkte also, als diese durch den Wiener Kongreß 1814 begründete Epoche des Deutschen Bundes ihrem Ende sehr nahe war. Auch hatte dieser es immerhin im Jahre 1861 zur Vorlage eines Allgemeinen Handelsgesetzbuches gebracht, das von den „souveränen" deutschen Staaten eingeführt wurde. Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für das Deutsche Reich ist, wie bekannt, erst am 1. Januar 1900 in Kraft getreten. io 12 15 19

Schellings — im nl. Text nicht hervorgehoben. reaktionär — im nl. Text reaktionnair hervorgehoben. Preußen — im nl. Text Pruisen nicht hervorgehoben. 1848/49 - im nl. Text 1848-'50.

Hegels Naturrecht

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Hegels Naturrecht hat, wie seine gesamte Philosophie, einen ganz besonderen, eben durch seine Besonderheit bedeutenden Charakter. Es steht im ausgesprochenen Gegensatz gegen die historische Rechtsschule. Es will durchaus rational und darum allgemein-gültig sein. Aber es ist rational im konservativen Sinne und berührt sich dadurch nahe mit dem allgemeinen Charakter des preußischen Staates, nämlich mit dessen Monarchie. Der konservative Sinn hat im 19. Jahrhundert eine doppelte und daher zweideutige Tragweite. Er kann Erhaltung und wenn möglich Neubelebung der mittelalterlichen Elemente bedeuten, das heißt des Bauerntums und Handwerkertums und der herrschenden Stände, mithin auch der römischen Kirche sowohl als der geringeren Kirchen. Er kann aber auch auf die absolute Monarchie, also den Staat des Frühkapitalismus, der die feudalen Mächte zu zerstören beflissen war und nur einen gehorsamen Hof- und Militäradel, eine gehorsame protestantische Kirche brauchen konnte, diese aber als Instrumente der Herrschaft durchaus brauchte, bedeuten. Ebenso kann der rationale und mutative Sinn einmal die Denkungsart der Bourgeoisie bedeuten, die gegen den Adel und seine ländliche Herrschaft das städtische, zumal das großstädtische, Interesse hervorhebt und die absolute Monarchie durch eine geschriebene Verfassung und durch Mitwirkung des Volkes (das heißt ihrer selbst als der Repräsentanten des Volkes) an Gesetzgebung und Regierung, beschränken will, zugleich als gemäßigte Aufklärung im liberalen Protestantismus niederschlägt — einerseits; als aufbegehrender Wille des zunächst langsam heranwachsenden Proletariats andererseits, das mit der Herrschaft der Bourgeoisie auch die des Adels und der Geistlichkeit abzuschütteln sich zum Ziele setzt, und eine Neugestaltung des gesamten sozialen Lebens, auf der Basis eines demokratischen Staates und einer wissenschaftlichen, gegen Katholizismus und Protestantismus gleichgültigen Weltanschauung, ins Auge zu fassen. Der preußische Staat trug, zumal nach seiner Wiederherstellung und Vergrößerung, infolge der Überwindung Napoleons diese Elemente als schlummernde in sich: ihre scheinbare Ausgeglichenheit hat Hegel in Berlin erlebt. Ihrem eigentlichen Kerne nach entspricht seine Philosophie am meisten dem, was heute durch die Stürme eines Jahrhunderts hindurch als die fortgeschrittenste Denkungsart, die des Proletariats, hervorgetreten ist. Seine eigene Gesinnung war in dem Maße liberal, die den revolutionären Charakter des Liberalismus abgestreift hatte, nachdem er in der 16 mutative

— svw. „wandlungsfähige", „bewegliche".

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Schriften

öffentlichen Meinung durch die Schreckenszeit der französischen Revolution ein Gegenstand des Abscheus geworden war. Dieser Liberalismus hing sich einerseits an den aufgeklärten Absolutismus, wie er noch in der Bauernbefreiung und der Steinschen Städteordnung, ja sogar noch in der Gewerbeordnung von 1818, zugunsten einer freieren Entfaltung des ökonomischen Fortschritts und des Nationalreichtums gewirkt hatte; anerkannte aber auch das Bedürfnis einer Mitwirkung der bürgerlichen Gesellschaft am Staate, die er als eine Erneuerung des Ständestaates auffaßte. Dieselbe Tendenz kam aber auch, wie in den Anfängen der großen französischen Staatsveränderung, und wiederum in der konstitutionellen Charte Ludwigs XVIII., zumal nachdem der letzte der drei Brüder als Karl X . König geworden war, den Aspirationen der alten Stände, des Adels und des Klerus entgegen. So konnte aus dem Hegelianismus jede der drei politischen Richtungen sich nähren, die im 19. Jahrhundert miteinander gestritten, widereinander gerungen haben: die konservative, die liberale und die sozialistische. Die erste dieser Richtungen lebte sich hauptsächlich als spekulative Theologie aus, und die Zeitschrift, die seit 1837 als Ersatz der von Hegel selber ins Leben gerufenen Berliner Jahrbücher für Wissenschaft und Kritik ins Leben trat, wollte Philosophie und spekulative (protestantische) Theologie zugleich aus sich darstellen. Hegels eigene, wenigstens am meisten ausgeprägte Richtung ging allmählich in das allgemeine Bewußtsein über und wurde fast wider ihren Willen, sicherlich gegen Hegels persönliche Wünsche, in den Bewegungen von 1848 bis 1850 revolutionär; sie hatte noch ihre Nachklänge im Nationalliberalismus, der von 1866 an etwa 12 Jahre lang in der deutschen Politik soweit zur Geltung kam, als die cäsaristische Beherrschung des öffentlichen Lebens durch den preußischen Ministerpräsidenten und ersten Reichskanzler des neuen Deutschen Reiches es zuließ. Die sozialistische Tendenz endlich war in Keimen vorhanden und trat in der sogenannten Hegeischen Linken, wenn auch erst mehr als zehn Jahre nach Hegels Tode, stürmisch hervor. Dieser radikale Geist äußert sich zunächst als religionsphilosophische Kritik Feuerbachs, und mit diesem Lichte erfüllten sich so weitausgreifende kühne Denker wie Karl Marx und Friedrich Engels. Marx eröffnete seine „Bemerkungen zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie" in den Deutsch-französischen Jahr27 durch den preußischen 28 sozialistische 34 Bemerkungen

Tendenz

Ministerpräsidenten

— d. i. Bismarck.

— im nl. Text socialistische

zur Kritik der Hegeischen

nicht hervorgehoben.

Rechtsphilosophie

— Karl M a r x genau (in:

Z u r Kritik der Hegel'schen Rechts-Philosophie. Deutsch-französische Jahrbücher, Lfg.

Hegels Naturrecht

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büchern 1844 mit dem Satze: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendet, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik." Er meinte, die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie, die durch Hegel ihre konsequenteste, reichste und letzte Fassung erhalten habe, sei sowohl Analyse des modernen Staates und der mit ihr zusammenhängenden Wirklichkeit, als auch die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst sei. „Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die anderen Völker getan haben: ,Deutschland war ihr theoretisches Gewissen'." „Wenn also der Status quo des deutschen Staatswesens die Vollendung des ancien régime ausdrückt, die Vollendung des Pfahls im Fleische des modernen Staats, so drückt der Status quo des deutschen Staatswissens die Unvollendung des modernen Staats aus, die Schadhaftigkeit seines Fleisches selbst." Betrachten wir nunmehr diese spekulative Staats- und Rechtsphilosophie selber in ihrem Verhältnis zum scholastischen Naturrecht, zum rationalen Naturrecht und zur historischen Rechtsschule, so kann man 1/2, Paris 1844, S. 7 1 - 8 5 ; hier n.: MEGA, Erste Abt., Bd. 2, Berlin 1982, S. 170): „In Deutschland ist die Kritik der Religion im Wesentlichen beendigt und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik." Tönnies hält sich den ganzen Absatz über ziemlich eng an M a r x ' Text: „Die Kritik der deutschen Staats- und Rechtsphilosophie, welche durch Hegel ihre konsequenteste, reichste und letzte Fassung erhalten hat, ist beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit, als auch die entschiedene Verneinung der ganzen bisherigen Weise des deutschen politischen und rechtlichen Bewußtseins, dessen vornehmster, universellster, zur Wissenschaft erhobener Ausdruck eben die spekulative Rechtsphilosophie selbst ist. [...] Die Deutschen haben in der Politik gedacht, was die andern Völker gethan haben. Deutschland war ihr theoretisches Gewissen. [...] Wenn also der status quo des deutschen Staatswesens die Vollendung des ancien régime audrückt, die Vollendung des Pfahls im Fleische des modernen Staats, so drückt der status quo des deutschen Staatswissens die Unvollendung des modernen Staats aus, die Schadhaftigkeit seines Fleisches selbst." (A. a. O., S. 176 f.) 12 Status quo — [lat.] svw. gegenwärtiger Zustand. 13 ancien régime — [frz.] wörtlich „die alte Herrschaftsweise", „das alte Regiment"; redensartlich, ggf. sehnsüchtig für die höfische Gesellschaft vor der Französischen Revolution 1789 benutzt. 17 diese spekulative Staats- und Rechtsphilosophie — Tönnies hält sich im folgenden Absatz an „Georg Wilhelm Friedrich Hegel's Grundlinien der Philosophie des Rechts, oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse", hgg. von Eduard Gans, S t u t t g a r t Bad Cannstatt 1964 [Berlin 1833],

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Schriften

mit einigem Grunde sagen, daß sie auch hierin die drei Parteien in sich zusammenfaßt. Das konservative Element des Kirchentums kommt in Hegels Lehre insofern zu voller Geltung, als sie ihren eigenen Satz, daß das Wirkliche vernünftig sei, auch dahin deutet, sie enthalte den gleichen Inhalt wie die Religion, das heißt die „vollendete" (absolute) Religion des Christentums; überdies strebt Hegel zurück zur theologischen Einheit von Recht und Moral, indem er sie in der Idee des freien Willens, der den freien Willen selber will, zusammenfaßt. Er nennt das Höchste das „Konkret-Wahre", wozu also der abstrakte Begriff und folglich das abstrakte oder formelle Recht nur die Vorbereitung oder die Anlage sei. Ebenso wie die Negation dieses abstrakten Begriffes in dem anderen abstrakten Begriff, der die Sphäre der Moralität begreift, als Synthese, das heißt als Sittlichkeit oder sittliche Substanz zur Einheit und Wahrheit gelangt. Während aber der Scholastiker die Wahrheit und Vollendung nur in der von Gott selber gestifteten Kirche sehen und anerkennen kann, so ist Hegel ganz weltlich und rationalistisch, wenn er die konkrete sittliche Substanz als den Staat denkt, den er die Freiheit in ihrer konkretesten Gestaltung nennt. Man wird aber mit Recht finden, daß in der Darlegung der Sittlichkeit der erste Abschnitt, der ihr erstes Dasein — „ein natürliches in Form der Liebe und Empfindung, die Familie" — wiederum eine Übereinstimmung mit der Moraltheologie aufweist, wenn der religiöse Charakter der Ehe und Familie betont und die Ehe an sich für unauflöslich erklärt wird. Ferner empfängt die Stufe der bürgerlichen Gesellschaft ihre Charakteristik dahin, daß die unmittelbare Einheit der Familie in eine Vielheit zerfallen ist und die konkrete Person, die sich als besonderer Zweck darstellt, als ein Ganzes von Bedürfnissen und eine Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür, das eine Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft enthalte die Besonderheit für sich, einerseits als sich nach allen Seiten auslassende Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zufälliger Willkür und subjektiven Beliebens, andererseits als unendlich erregt und in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkür, sowie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt. Die bürgerliche Gesellschaft, gemäß dieser Beschrei-

2 Das konservative 20 „ein natürliches

Element

— im nl. Text konservatieve

in Form der Liebe und Empfindung,

hervorgehoben. die Familie"

— trotz der An- und

Abführung ein indirektes Zitat: Hegel ( 1 9 6 4 [ 1 8 3 3 ] : 2 3 7 ; §§ 1 5 6 , 1 5 7 , 158). 33 beschränkt

— In diesem Satz hebt der nl. Text die Worte eene, eenerzijds

nicht hervor.

und

anderzijds

Hegels Naturrecht

255

bung, enthält in sich das Wesen des liberalen Naturrechts, wie es unter Hegels Gesichtspunkten nicht als ein System von Vorstellungen und Gedanken, sondern als eine relativ vernünftige Wirklichkeit erscheint — obgleich sie ihm in diesen Gegensätzen und ihrer Verwicklung das Schauspiel ebenso der Ausschweifung, des Elends und des beiden gemeinsamen physischen und sittlichen Verderbens darbietet. „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatpersonen, wenn sie ihr eigenes Interesse zu ihrem Zwecke haben." — Diese Stufe der bürgerlichen Gesellschaft hat man, sagt Hegel bedeutungsvoll am Schlüsse seiner Einleitung, häufig für den Staat angesehen. So läßt er denn auch die Rechtspflege und somit zunächst das Recht als Gesetz und den Schutz des Eigentums das zweite Hauptmoment der bürgerlichen Gesellschaft sein, nächst dem System der Bedürfnisse, und begreift die Polizei und die Korporation als die Vorsorge gegen die „in jenen Systemen zurückbleibende Zufälligkeit und die Besorgung des besonderen Interesses als eines gemeinsamen". Hegel kommt hier alsbald auf die Armut zu sprechen (§ 241) als einen Zustand, der den Individuen die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft läßt und der, indem sie ihnen zugleich die natürlichen Erwerbmittel entzogen und das weitere Band der Familie „als eines Stammes" aufhebt, dagegen sie aller Vorteile der Gesellschaft — Erwerbsfähigkeit von Geschicklichkeiten und Bildung überhaupt, auch der Rechtspflege, Gesundheitssorge, selbst oft des Trostes der Religion usw. — mehr oder weniger verlustig macht. „Die allgemeine Macht übernimmt die Stelle der Familie bei den Armen, ebensosehr in Rücksicht ihres unmittelbaren Mangels, als der Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen." In mehreren weiteren Sätzen verfolgt Hegel zunächst, wie in der Carität das Zufällige des Almosens, der Stiftungen wie des Lampenbrennens der Heiligenbilder usw., durch öffentliche Armenanstalten, Krankenhäuser, Straßenbeleuchtung usw. ergänzt werde; wie bei fortschreitender Bevölke-

4 obgleich

— im nl. Text hoewel

6 Verderbens

nicht hervorgehoben.

— im nl. Text bederf

nicht hervorgehoben. E x a k t lautet das Zitat dann

(Hegel 1 9 6 4 [ 1 8 3 3 ] : 2 6 7 ; § 187): „Die Individuen sind als Bürger dieses Staates Privatwelche ihr eigenes Interesse [ . . . ] " .

personen, 8 Diese Stufe 16 Armut

-

Hegel ( 1 9 6 4 [ 1 8 3 3 ] : 8 7 ; § 3 3 , Zusatz).

— im nl. Text armoede

nicht hervorgehoben; das folgende Zitat ist der Schluss-

satz von Hegels 5 2 4 1 ( 1 9 6 4 [ 1 8 3 3 ] : 3 1 7 ) , er hebt „ A r m u t " hervor; Abführungszeichen sind hier einkorrigiert. 27 Carität

— svw. „Nächstenliebe".

256

Schriften

rung und Industrie durch die Verallgemeinerung des Zusammenhanges der Menschen, vermöge ihrer Bedürfnisse und der Weisen, die Mittel für diese zu bereiten und herbeizubringen, die Anhäufung

der

Reichtümer

sich vermehre auf der einen Seite, wie auf der anderen die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse, womit die Unfähigkeit, Empfindung und der Mangel des Genusses der weiteren Freiheiten, besonders der geistigen Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhänge (§ 243). Hegel führte in dem folgenden § 2 4 4 aus, das Herabsinken einer großen Masse unter das M a ß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige

regu-

liere — und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen, führe — bringe die Erzeugung des „Pöbels"

hervor, „die hinwiederum zugleich

die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige

Reichtümer in

wenige

Hände zu konzentrieren, mit sich führt". Im Zusatz (die Zusätze wurden zuerst in den nach Hegels Tode 1833 von Eduard Gans herausgegebenen Grundlinien der Philosophie des Rechts bekannt gemacht) hebt unser Philosoph hervor, Armut an sich mache keinen zum Pöbel; dieser werde erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. ... „Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden, als sein Recht anspricht." Im Zustande Gesellschaft

der

gewinne der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, das

dieser oder jener Klasse angetan werde. „Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende" (§ 2 4 4 Zusatz). Es ist merkwürdig und bedeutend, daß Hegel das Recht in der Form des Gesetzes und das Gericht als Element der Rechtspflege, und also die Rechtspflege überhaupt, dem Begriff der bürgerlichen

Gesellschaft

unterordnet; aber auch die Polizei und die Korporation, worin er freilich 14 Die

Erzeugung

des

„Pöbels"

-

Hegel

(1964

[1833]:

318;

% 244)

genau:

„[...]

unverhältnißmäßige Reichthümer in wenige Hände zu koncentriren, mit sich führt." Die Zitate aus dem „Zusatz" s. Hegel (1964 [1833]: 319). 24 Im Zustande der Gesellschaft — im nl. Text toestand van de maatschappij nicht hervorgehoben. 31 Begriff der bürgerlichen vorgehoben.

Gesellschaft

— im nl. Text burgerlijke

maatschappij nicht her-

Hegels Naturrecht

257

die bürgerliche Gesellschaft sich vollenden, also den Übergang zu einer höheren Gestaltung vorbereiten läßt. Er will damit nicht nur das in der Besonderheit wirkliche Recht durch das Merkmal bezeichnen, daß die ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums bewirkt werde, sondern auch, daß die Sicherung der Subsistenz und des Wohls der einzelnen, daß „das besondere Wohl" als Recht behandelt und verwirklicht sei. Hier kommt er auf den Begriff der allgemeinen Familie, die das Individuum einen „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft" werden lasse ( § 2 3 8 ) . „Die bürgerliche Gesellschaft muß ihr Mitglied schützen, seine Rechte verteidigen, so wie der einzelne den Rechten der bürgerlichen Gesellschaft verpflichtet ist" (das. Zusatz). Er kommt hier auch auf die Erziehung als öffentliche, auf das Recht der Gesellschaft „gegen die Willkür und Zufälligkeiten der Eltern" zu reden, und durch das Recht der Bevormundung gelangt er auf die Pflicht der Sorge für die Armut. „Durch diese ihre Dialektik wird die bürgerliche Gesellschaft über sich hinaus getrieben, zunächst diese bestimmte Gesellschaft, um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat oder überhaupt an Kunstfleiß usw. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen." Diese in der Form ziemlich unklare, im Sinne leicht verstehbare Betrachtung führte ihn auf das Meer und auf die Kolonisation (§ 247, 248). Wenn schon der Polizei auch Vorsorge für die Interessen, die über die Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft hinausführen, aufgegeben wird, so kehrt (§ 249) damit das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück (§ 249); dies mache die Bestimmung der Korporation aus, die als auf das besondere Wesen gerichtet, dem Gewerbestand vornehmlich eigen sei, während der Ackerbauende als der allgemeine „das Allgemeine" für sich zum Zwecke seiner Tätigkeit habe. Die Korporation sei neben der Familie die zweite in der bürgerlichen Gesellschaft begründete „sittliche Wurzel" des Staates (§ 255). Der Zweck der Korporation habe seine Wahrheit in dem an und für sich allgemeinen Interesse und dessen absoluter Wirklichkeit: so gehe die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in den Staat über, die hierin sich vollendende Entwicklung und die unmittelbare Sittlichkeit durch die Entzweiung der bürgerlichen Gesellschaft hindurch ... ist der „wissenschaftliche Beweis" des Begriffs des Staates, der in der Wirklichkeit darum vielmehr das erste ist; somit erhalte in der Entwicklung der

20 das Meer — im nl. Text weder de zee, noch weiterhin im Satz korporatie ben.

hervorgeho-

258

Schriften

bürgerlichen Gesellschaft die sittliche Substanz ihre unendliche Form, die als zweites Moment die Form der Allgemeinheit, die Form des Gedankens (§ 256) in sich enthält. „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee — der sittliche Geist als der offenbare sich selbst deutende substanzielle Wille, der sich denkt und weiß und das, was er weiß und insofern er es weiß, vollführt" ( § 2 5 7 ) . Es schließt sich hieran eine Kritik der naturrechtlichen Staatslehre, deren Verdienst Rousseau zugeschrieben wird, dem Fichte gefolgt sei, daß sie den allgemeinen Willen nicht als das an und für sich Vernünftige des Willens, sondern nur als das Gemeinsame, das aus diesem einzelnen Willen als bewußtem hervorgehe, verstanden haben. Hier ist der Punkt, wo am deutlichsten hervortritt, wie Hegel über den Liberalismus des rationalistischen Naturrechts hinausstrebt, aber keineswegs im Sinne der historischen Rechtsschule gegen jenes polemisiert, als ob es einfach unrichtig, ein verhängnisvoller historischer Irrtum wäre. Daher schließt sich hier eine weitausgeführte Ablehnung des „anderen Gegenteils" seines Gedankens, den Staat in der Erkenntnis als ein für sich Vernünftiges zu fassen. Diese Ablehnung nimmt die Gestalt einer Zermalmung der Hallerschen „Restauration der Staats-Wissenschaft" an, der er den bittersten H a ß gegen alle Gesetze, Gesetzgebung, alles förmlich und gesetzlich bestimmte Rechte und eine „unglaubliche Crudität" nicht ohne Grund zur Last legt. Wie nun Hegel selber den Staat beschreibt als A. inneres, B. äußeres Staatsrecht, wie er in der konstitutionellen Monarchie die Vollendung des Staates zu erkennen glaubt und sodann den Staat in der Weltgeschichte sich verwirklichen und sich vollenden, aber auch untergehen läßt, werde als bekannt vorausgesetzt. Hier wenn irgendwo finden wir den Philosophen in die Grenzen seines Zeitalters und seines Lehramtes eingeschlossen. Charakteristisch dafür ist, daß er die Persönlichkeit des Staates nur als eine natürliche Person wirklich sein läßt, als den Monarchen, dessen Begriff sei, nicht ein abgeleitetes, sondern das schlechthin aus sich Anfangende zu sein (§ 219). Wenn Hobbes schlicht und nüchtern die Repräsentation des Staates, dessen Begriff als einer 8 Rousseau

im nl. Text nicht hervorgehoben.

18 Zermalmung der Hallerschen „Restauration [•••]": von Haller, Carl Ludwig, Restauration der Staatswissenschaft, 2. Aufl., 6 Bde., Winterthur 1820 und 1825. Im nl. Text ist Haller nicht hervorgehoben. 21 Crudität

svw. „Rohheit".

30 den Monarchen — im nl. Text ist weder hier monarch, tioneele monarchie hervorgehoben.

noch im Folgesatz tot

konstitu-

Hegels Naturrecht

259

unsinnlichen Person das eigentliche Objekt seiner schaffenden Konstruktion ist, lieber in die H a n d eines Monarchen als einer Versammlung legen will, ausschließlich aus Gründen der Zweckmäßigkeit und obwohl er weiß, daß auch manche Gründe dagegen sprechen, so hebt sich Hegels Monarchismus als ein durchaus prinzipieller davon ab; er meint die fürstliche Gewalt als die notwendige Einheit und Vollendung des politischen Staates, der in der Weltgeschichte zur konstitutionellen Monarchie sich ausgebildet habe, zu beweisen. (Bekanntlich erklärt Hobbes, wie nach ihm A. Comte, solche „gemischte Monarchie" für ein Unding.) Den Sinn und die Notwendigkeit der fürstlichen Gewalt glaubt er aus der Souveränität des Staates, die nur als die ihr selbst gewisse Subjektivität und als die abstrakte Selbstbestimmung des Willens, worin das letzte der Entscheidung liege, ableiten zu sollen: es sei dies das Individuelle des Staates als solches, „der selbst nur darin Einer ist" (§ 279). Die Subjektivität aber sei in ihrer Wahrheit nur als Subjekt, die Persönlichkeit nur als Person, und in der zur reellen Vernünftigkeit gediehenen Verfassung habe jedes der drei M o m e n t e des Begriffes (der Souveränität) seine für sich wirklich ausgesonderte Gestaltung. „Dies absolut entscheidende Moment des Ganzen ist daher nicht die Individualität überhaupt, sondern Ein Individuum, der M o n a r c h " (das.). Die Persönlichkeit des Staates sei nur als eine (natürliche) Person, der Monarch, wirklich. — Mit dem monarchischen Charakter des historischen preußischen Staates hängt der aristokratische Charakter nahe zusammen. Er k o m m t auch bei Hegel zu gehöriger Geltung, wenngleich offenbar sein Staat über die berühmte Dreiteilung erhaben sein soll und er mit Bewunderung für den tiefen Blick Montesquieus sich dahin ausspricht, es sei zur ganz müßigen Frage geworden, welche die vorzüglichste unter den Staatsformen sei (§ 273). Ausdrücklich entscheidet er sich antidemokratisch, wenn er die Volkssouveränität zu den verworrenen Gedanken rechnet, denen die „wüste Vorstellung des Volkes" zugrunde liege (§ 279), und wenn er das ständische Element als das vermittelnde Organ zwischen der Regierung und dem „in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volke" betrachtet (§ 302). In dem Sprachgebrauch seiner Zeit, der noch Stände und Volksvertretung gleichsetzte, findet er die Vereinigung der Stände der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt und der Stände in politischer

14 „der selbst nur darin Einer ist" — Hegel hebt in diesem Satz einzig das Wort „Einer" hervor (1964 [1833]: 381; §279). 23 aristokratische — im nl. Text nicht hervorgehoben.

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Schriften

Bedeutung erhalten (§303). Der eine Stand der bürgerlichen Gesellschaft — er meint hier den „substanziellen Stand" der Güterbesitzer — enthalte das Prinzip, das für sich fähig sei, zu dieser politischen Beziehung konstituiert zu werden, es sei der „Stand der natürlichen Sittlichkeit" und werde zugleich Stütze des Thrones und der Gesellschaft (§ 305 und 307). In den anderen Teil des ständischen Elements fällt die „bewegliche Seite" der bürgerlichen Gesellschaft, und so bringt von den zwei im ständischen Elemente enthaltenen Seiten jede in die Beratung eine besondere Modifikation: die ständische Versammlung wird sich somit in zwei Kammern teilen (§308 und 312). Die große Menge wird teils auf die Öffentlichkeit der Ständeverhandlungen als auf ein großes, die Bürger vorzüglich bildendes Schauspiel, woran am meisten das Volk das Wahrhafte seiner Interessen kennen lerne, teils auf „das Zusammen", welches öffentliche Meinung heißt, verwiesen, worin Wahrheit und endloser Irrtum unmittelbar vereinigt sei. Hieran knüpfen sich sinnige Betrachtungen darüber, daß es vielfach nicht wahrhafter Ernst in der unmittelbaren Äußerung der öffentlichen Meinung sei, nur mit dem Substanziellen oder Inneren der öffentlichen Meinung sei es wahrhaft Ernst — „dies kann aber nicht aus ihr, sondern eben darum, weil es das Substanzielle ist, nur aus und für sich selbst erkannt werden", das Wahre in der öffentlichen Meinung zu finden sei die Sache des großen Mannes (§317 und 318). Wenn man nach der bedeutenden Vorbereitung und auf Grund des prachtvollen Einganges über die Wirklichkeit der sittlichen Idee große Erwartungen hegt über das, was der Staat wirklich leisten solle, so wird man enttäuscht. Denn Hegel behandelt eigentlich nur Verfassungsfragen und das „äußere" Staatsrecht, also auch Völkerrecht, Verhältnis zu anderen Staaten in Krieg und Frieden und schließlich die Weltgeschichte als das Weltgericht. Keine Spur ist mehr vorhanden von jener vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegenden und quälenden Frage, der sozialen Frage, die er freilich niemals so genannt hat, von den Momenten, um welche sich die Desorganisation der bürgerlichen Gesellschaft drehe (§ 255). Seine Einsicht und Voraussicht ist hier am Ende. Seine Lehre heischt Ergänzung und Vollendung. Auch in dem Gedankensystem von Marx und Engels hat sie diese nicht gefunden. Dies System hat einen 14 öffentliche Meinung — im nl. Text publieke opinie nicht hervorgehoben. 27 und das „äußere" Staatsrecht — im nl. Text ist weder dieses „und" (en) noch drei Zeilen tiefer sociale hervorgehoben, hingegen eine Zeile danach das „so" (zoo).

Hegels Naturrecht

261

Grund dazu gelegt, indem die ökonomische Basis des sozialen Lebens überhaupt bloßgelegt wird, und indem es hinweist darauf, daß mit dieser schon in den Anfängen ihrer in Umwälzung begriffenen Basis auch der ungeheure Überbau, gemäß historisch natürlicher Notwendigkeit, umgewälzt werde und werden müsse: dieser Uberbau ist in erster Linie der juridische und politische, demnächst erst der intellektuelle und moralische. Die Hegeische Staatsidee ist die Idee der antiken Polis, auf das massenhafte und in unendliche Dimensionen ausgedehnte soziale Leben der heutigen Zeit angewandt und übertragen. Darum setzt diese Anwendung schon eine tiefe Umgestaltung der intellektuellen und moralischen Momente, also der Erziehung und des Unterrichts, voraus. Nur bessere und einsichtigere Menschen werden es vermögen, den besseren Staat, die Verwirklichung des sittlichen Geistes, zu schaffen. Aber Hegels Gedanke kann allerdings dafür als ein Wegweiser dienen.

Ich glaube in Hegels Rechtsphilosophie den Versuch und Beginn dessen zu erkennen, was ich ein gemeinschaftliches Naturrecht nenne 1 . Ein solches hat es sonst nur gegeben (und gibt es noch heute) als scholastisches, das heißt als eingetaucht in angebliche übernatürliche Wahrheiten, also in Theologie. Es war ein wirklicher und bedeutender Fortschritt des wissenschaftlichen Denkens dem gegenüber, daß es die sozialen Tatsachen, das Recht und den Staat, ganz und gar zurückführte auf die eigenen Gedanken, also die eigenen Willen der Menschen selber, womit es, sofern es seiner selbst gewiß war, nicht eine historische Begründung verlangte, als ob die Menschen jemals, und zumal in primitiven Verhältnissen, bewußt einen Sozialvertrag und dergleichen geschlossen hätten, sondern die Naturrechtslehrer, an deren Spitze Thomas Hobbes steht, wollten sagen: so müssen und so können nur vernünftig, das heißt wissenschaftlich denkende Menschen richtige oder normale Vertragsverhältnisse, also auch die Verträge, wodurch ein Staat ins Leben tritt, denken, und müssen daraus die Konsequenzen ziehen, die Hobbes selber mit der härtesten 1

Vgl. des Verfassers „Einführung in die Soziologie" (Stuttgart 1931) § 42 S. 217 ff.

4 umgewälzt werde und werden müsse — im nl. Text moet nicht hervorgehoben. 17 gemeinschaftliches — im nl. Text gemeenschappelijk nicht hervorgehoben. 32 des Verfassers „Einführung /.../": Tönnies, Ferdinand, Einführung in die Soziologie, [1. Aufl.], Stuttgart 1931; ESoz s. TG, Bd. 21.

262

Schriften

Folgerichtigkeit zugunsten eines unbeschränkten Staatswillens, also des unbedingten Übergewichts des öffentlichen über das Privatrecht, zieht. Diese Konstruktionen beruhen ohne Zweifel in der Idee, daß von Natur nur die einzelnen erwachsenen Individuen gegeben sind, von denen jedes so etwas wie eine Macht darstellt, insofern nämlich jeder am vernünftigen Denken ebenso wie an den durch vernünftiges Denken lenkbaren Kräften oder Fähigkeiten teilnimmt, zum Beispiel daß, wie Hobbes sagt, jeder den anderen zu töten vermag; darum vermag auch ein jeder mit dem anderen einen Vertrag zu schließen. Es liegt in diesen Konstruktionen das Abbild eines sozialen Lebens, wie es in einem gewissen, unentwickelten Zustande immer vorhanden gewesen ist, aber im 17. und 18. Jahrhundert eben in einer mächtigen Entwicklung begriffen war und erst im 19. und 20. Jahrhundert zu einer ungeheuren Vervollkommnung gelangt ist: eine Welt, die, insoweit sie zusammengehalten wird, wesentlich durch Verträge auch über alle Staatsgrenzen hinweg, außerdem wesentlich durch Gesetze innerhalb eines Staates, zusammengehalten wird; und der Staat selber wird immer mehr ein rationales Gebilde, ein Leviathan, wie Hobbes ihn dachte. Dieser Gedanke ist in meinem Begriffe durch und durch gesellschaftlich und so ist das Naturrecht in diesem seinem historisch so mächtig gewordenen Sinne. Der Protest gegen dieses Naturrecht und seine Ansprüche entsprangen — wenn wir von den Protesten des Glaubens absehen — dem Gefühl und einem über sich selber unklaren Wissen, das in der Regel wieder in der Rückkehr zur theologischen vermeintlichen Wissenschaft mündete. Die historische Rechtsschule ermangelte, wie Otto Gierke, der tief und stark mit ihr sympathisierte, rügt, der Philosophie, wenngleich sie an derjenigen Schellings sich orientierte; denn diese hat keine dauernde Autorität gewonnen und war begrifflich unklar. Aber auch der Sozialismus und Kommunismus — Gedankensysteme, die ebenso wie die konservative Gesinnung der Historiker gegen den Liberalismus und Kosmopolitismus sich aufbäumen, aber nicht wie jene umkehren, sondern darüber hinausführen wollen — haben nicht vermocht, ein neues Naturrecht zu verfassen. Ich gebe einem solchen den Namen des gemeinschaftlichen Naturrechts, indem ich geltend mache, daß Gemeinschaft als Einheit und Verbindung zwischen Menschen nicht nur ebenso natürlich ist wie Gesellschaft, sondern für den Menschen als solchen, auch für den denkenden und vernünftig wollenden Menschen, mit einem anderen Sinne, nämlich wenn sein Gefühls16 innerhalb

— im nl. Text binnen nicht hervorgehoben.

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Hegels Naturrecht

leben mitwirkt und dadurch sein Wollen als „Wesenwille" sich gestaltet, natürlicher ist als Gesellschaft, die ausschließlich an die berechnende und wägende Vernunft, die Gleiches um Gleiches erwerben wollende, sich wendet (als „Kürwille"). Hier muß von den im biologischen Sinne und gemäß den biologisch begründeten Verhältnissen des Seelenlebens vorhandenen Zusammenhängen der Menschen, also insbesondere dem Aufeinanderangewiesensein von Mann und Weib, von Eltern und ihren Erzeugnissen, von den an denselben Eltern und dadurch an denselben Gütern teilhabenden Individuen als den biologischen Fundamenten ausgegangen werden. In ihrem Zusammenleben bilden sich durch die Natur der Sache, das heißt ihr reales Verhältnis und Aufeinanderangewiesensein, Regeln, die durch Gewohnheit befestigt, durch Einsicht beglaubigt werden und als Recht sich darstellen, sobald als sie dem Zweifel, der Anfechtung oder Verletzung gegenüber, durch den Richter, durch das Gericht behauptet oder wiederhergestellt werden. Denkbar ist ein System und also ein Gemeinwesen, das in dieser Weise, ohne daß es dazu der eingebildeten Hilfe übersinnlicher Mächte bedarf, ein natürliches Recht aufrichtet und pflegt, das aus der Idee der Gemeinschaft erwächst und in Gemeinschaft die Gerechtigkeit zu verwirklichen als sein höchstes Ziel erkennt und verfolgt. Es müßte in Herrschaften und in Genossenschaften sich aufbauen, die einen wie die anderen aber am gemeinsamem Eigentum an den wesentlichen Elementen des Zusammenlebens teilhaben; es müßte eine gemeinsame Denkungsart, die an wissenschaftlichen Kriterien sich bewährt, pflegen und einem gemeinsamen Willen willig gehorchen. Wenn in Wirklichkeit — so in der „mittelalterlichen Praxis" — öffentliches Recht und Privatrecht vielfach ungeschieden blieben, so hat die gesellschaftliche Theorie des Naturrechts das Privatrecht durchaus in den Vordergrund gestellt und das öffentliche Recht nach diesem Muster konstruiert. Das gemeinschaftliche Naturrecht würde umgekehrt verfahren: die Zugehörigkeit zu einem Verbände, und zwar am ehesten zu dem praktisch bedeutendsten Gemeinwesen, also das Bürgerrecht, müßte das Modell für das Recht aller Verhältnisse sein, deren Wesen eben darin bestünde, in Gemeinschaft mit anderen Menschen ver-

i Wesenwille

— im nl. Text Wesenwille

4 (als „Kürwille") 12 Regeln

und natuurlijker

nicht hervorgehoben.

fehlt im nl. Text.

— im nl. Text regels nicht hervorgehoben.

31 Bürgerrecht

— im nl. Text wird weder hier burgerrecht,

(een) hervorgehoben.

noch im Folgesatz „einem"

264

Schriften

bunden zu sein. Also auch mit einem

anderen Menschen: so wäre die

Ehe nicht sowohl ein durch das Belieben der Eheschließenden bedingter Vertrag, als vielmehr eine die Individuen bedingende Gemeinschaft, ein Bund, der ihnen seine Gesetze auferlegt; wie denn überall Rechte und Pflichten in eins gedacht würden als das besondere Wesen des Bandes, das die Seelen umschlingen will. D a ß nun in Hegels Rechtsphilosophie ein gewisses Streben nach einer solchen neuen Begründung des Jus naturale schwebt, glaube ich aus dem Charakter der umfangreichen Einleitung

über den Willen und die Frei-

heit entnehmen zu dürfen, wenn er zum Beispiel im Zusatz zu § 7 von den beiden Momenten des Selbstbewußtseins anhebt, das einmal als Allgemeines sich wisse, „als die Möglichkeit, von allem Bestimmten zu abstrahieren", dann aber als Besonderes mit einem bestimmten Gegenstande, Inhalt, Zweck sich wisse und dann das Konkrete und Wahre als die Allgemeinheit bestimmt hat, so erläutert er dies im Zusatz dahin, das, was wir eigentlich Willen nennen, enthalte jene beiden Momente in sich. „Ich ist zuvörderst als solches reine Tätigkeit, das Allgemeine, das bei sich ist; aber dieses Allgemeine bestimmt sich, und insofern ist es nicht mehr bei sich, sondern setzt sich als ein anderes und hört auf, das Allgemeine zu sein. Das Dritte ist nun, daß es in seiner Beschränkung, in diesem anderen bei sich selbst sei, daß, indem es sich bestimmt, es dennoch bei sich bleibe und nicht aufhöre, das Allgemeine festzuhalten: dieses ist dann der konkrete Begriff der Freiheit,

während die beiden

vorigen Momente durchaus abstrakt und einseitig befunden worden sind. Diese Freiheit haben wir aber schon in der Form der Empfindung zum Beispiel in der Freundschaft und Liebe. Hier ist man nicht einseitig in sich, sondern man beschränkt sich gern in Beziehung auf ein anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung als sich selbst." So ist auch zu deuten, wenn der Philosoph nicht will, daß das Recht die Freiheit beschränke, sondern lehrt, daß die Freiheit im Rechte sich erfülle. Ich meine, daß dies seinen guten Sinn hat, wenn man den Menschen nicht a priori als ein freies und gleiches Individuum, sondern als ein durch angeborene oder angekorene soziale Verhältnisse bedingtes Wesen an die Spitze der Theorie stellt. Hier würden dann die gesellschaftlichen Verhältnisse und alles Individuelle sich ergeben und folgen, also auch Eigen8 Jus naturale — [Iat.] ius naturale: „Naturrecht". 17 „Ich ist zuvörderst [...]" — im nl. Text Ik hervorgehoben. 23 der Freiheit — im nl. Text vrijheid nicht hervorgehoben.

265

Hegels Naturrecht

tum und Vertrag in den Bedeutungen, die sie auch innerhalb eines gemeinschaftlichen Eigentums und innerhalb des Rechtes, das sich von selbst versteht, behalten. Hingegen ist das gesellschaftliche Naturrecht immer unfähig gewesen, gemeinschaftliche Verhältnisse zu verstehen und zu konstruieren. Die Lehre sieht sich genötigt, alles Derartige aus Verträgen abzuleiten oder doch in Quasi-Verträgen zu begründen. So spielt auch im deutschen B.G.B, das ganze Familienrecht und das daran angeschlossene Erbrecht eine untergeordnete Rolle, und die Kommentatoren kommen in die Verlegenheit, durch die Überschrift „Bürgerliche Ehe" zum Ausdrucke zu bringen, daß die Ehe nicht bloß ein Gegenstand rein weltlicher bürgerlich-rechtlicher Natur sei, sondern auch einen religiössittlichen Charakter habe und insoweit dem „kirchlichen" Einflüsse verbleibe — es solle aber damit nicht gesagt werden, daß es zwei Ehen gebe, eine bürgerliche und eine kirchliche, sondern es gebe nur eine Ehe, die neben ihrer rechtlichen Natur auch eine kirchliche „Seite" habe: eine leere Behauptung, die schon einen ganz verschiedenen Sinn gewinnt, je nachdem die römisch-katholische oder eine protestantische Kirche oder gar eine „Freikirche" damit gemeint sein mag. Hier ist der vollkommene Verzicht darauf, die Ehe naturrechtlich und ethisch zu denken und zu begreifen. In der Tat ist bei weitem der größere Teil (73 von 97 Seiten) dem ehelichen Güterrecht gewidmet, und im zweiten Abschnitt, der „Verwandtschaft" überschrieben ist, begegnet der nicht begründete Satz: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten nicht als verwandt", ein Satz, durch den das natürliche Verhältnis offenbar als unwesentlich hingestellt und nicht mehr als die Wurzel des rechtlichen Verhältnisses begriffen wird, wie es in einem gemeinschaftlichen Naturrecht unbedingt begriffen werden müßte; in der Tat geht Hegel auch niemals an der „natürlichen Basis" der Ehe und Familie vorbei.

4 gemeinschaftliche Zeilen tiefer quasi 15 : eine leere

Verhältnisse

— im nl. Text weder gemeenschappelijke,

noch zwei

hervorgehoben.

Behauptung

bis zu denken

und zu begreifen

fehlt im nl. Text ganz; eine

Zeile tiefer ist „Güterrecht" (huwelijksgoederen) nicht hervorgehoben. Der anschließend zitierte Gesetzestext w a r 1 9 3 2 der § 1 5 8 9 Abs. II BGB (RGBl Nr. 2 1 vom 18. 8. 1896).

Sie wissen nicht, was sie tun Der Ueberlieferung nach soll der Urheber der christlichen Religion, als man ihn ans Kreuz schlug, diese Worte gesprochen haben, um seine Ankläger und Richter zu entschuldigen. Diese Entschuldigung paßt buchstäblich auf die Wähler des Adolf Hitler. Sie wissen ganz gewiß nicht, was sie tun. Denn wenn sie wirklich den Erfolg gehabt hätten, und es wäre eingetreten, was sie als völlig gewiß verkündet haben, daß dieser braunschweigische Regierungsrat, von dem man sonst nichts weiß, als daß er eine außerordentliche Gewandtheit im Schimpfen und Schelten durch Rede und Schrift hat, daß dieser in jeder Hinsicht geringfügige Mann der Deutsche Reichspräsident geworden wäre und einen würdigen und bewährten Träger dieses höchsten Amtes verdrängt hätte — was dann? Das „System" wäre dann freilich schleunigst abgeschafft worden. Aber was wäre an seine Stelle getreten? Vor dieser Frage stehen mehr als 90 v. H. jener Wähler mit offenem Munde gaffend. Sie wissen es nicht. Sie haben nur eine knabenhafte Meinung darüber, die Meinung, daß dieser junge Oesterreicher der Retter sei — der Retter wovor? Gemeint

i Sie wissen nicht, was sie tun. Die Überschrift, von Tönnies selbst vergeben, ist Zitat eines Kreuzeswortes Jesu (Lukas 23,34: oü yap oiSaaiv t ! ttoioüctiv). Seine alarmierte Zuschrift ist die erste von mehreren öffentlichen Stellungnahmen gegen Hitlers Politik (s. o. das Inhaltsverzeichnis nach Sachgebieten, S. IX—XI). Zum Grund: Auffällt, wie Tönnies betont, dass die (von ihm selbst vielfach vertretene) Schuldlosigkeit Deutschlands am Ersten Weltkrieg (s. u. Anm. S. 268, s. o. S. 229—233) vom Wahlkämpfer Hitler desgleichen propagiert, aber zu gefährlichen Folgerungen geführt wird. Zum Anlass: Hitler hatte (in der direkten Neuwahl des Reichspräsidenten) vor einer Woche den Amtsinhaber zum 2. Wahlgang genötigt; unterstützt von den republiktragenden Parteien (SPD, Zentrum, Deutscher Staatspartei, 7 Jahre zuvor noch seinen Gegnern) hatte Hindenburg aber am 13. 3. 1932 mit 5 3 % gegen Hitler (37%, Thälmann 10%) obsiegt. „In einer Zuschrift an die ,Montags-Zeitung'", so der red. Vorspann ebenda (Kiel, 21. 3. 1932, S. 6; Fraktur), „nimmt der berühmte Soziologe der Kieler Universität, Geheimrat Professor Dr. Tönnies, zu den Hitler-Wählern anläßlich der Reichspräsidentenwahl Stellung. Er sagt unter dem Titel: ,Sie wissen nicht, was sie tun':" 7 dieser braunschweigische Regierungsrat — Der damals viel zitierte Skandal: Da Hitler als Österreicher zum Reichspräsidenten gar nicht hätte kandidieren dürfen, hatte ihn die Regierung des Landes Braunschweig rechtzeitig verbeamtet, somit zum deutschen Staatsbürger gemacht. 12 Träger dieses höchsten Amtes — d. i. Hindenburg.

Sie wissen nicht, was sie tun

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ist offenbar: der Retter vor dem wirtschaftlichen Abgrund, an dessen Rande wir bald seit Jahresfrist stehen. Einsichtigere und urteilsfähigere Leute als diese armseligen Judenfresser und kümmerlichen Dilettanten, sehen mit guten Gründen voraus, daß der angebliche Retter uns in den Abgrund hinabstoßen würde. Im günstigsten Falle dürfte man hoffen, daß ihm mit dem Amte auch eine gewisse Dosis von Verstand zuwüchse, von dem man bisher noch kaum eine Spur wahrgenommen hat: daß er also erkennen würde, es bleibe ihm nichts übrig als in den Spuren des verhaßten Systems weiterzuschreiten, also nach wie vor die dringenden Bedürfnisse des Reiches, der Länder, vollends der Gemeinden durch schwerlastende Steuern zu decken und sich zu bemühen, den zerrütteten ausländischen Kredit unserer Industrie im Auslande aufrechtzuerhalten oder vielmehr wiederherzustellen, nachdem er schon zu gutem Teile durch die unsinnige Gebarung jener alles Wissen baren Partei — schwer zerrüttet worden ist. Er würde ferner in der Bahn des Systems so große Aufwendungen wie möglich von reichswegen für die Erleichterung der Landwirtschaft, aber auch — um der Arbeitslosigkeit Einhalt zu tun — der Industrie auf sich nehmen, deren Bewilligung Sache des Reichstages ist. Also würde dieser neue Präsident, der gewiß den einen Vorzug vor dem alten hätte, den Vorzug der Jugend, vielleicht sich daran genügen lassen, eine Reihe kleinerer Dummheiten zu machen, z. B. die Beeinträchtigung der staatsbürgerlichen Rechte unserer jüdischen Mitbürger; er würde etwa auch sich bemühen, den Ritt des abgesetzten Kaisers durchs Brandenburger Tor und die „legale" Bestrafung derer, die 1918 und 1919 das Deutsche Reich gerettet haben und durch eine neue Verfassung seither sein Fortbestehen unter dem alten schwarz-rot-goldenen Banner gesichert haben, gegen die unermüdlichen in Ermordungen und Attentaten und vielen Schmähungen zutage tretenden Versuche, eine unfähige und unmöglich gewordene Monarchie — oder gar mehrere solche? — wiederherzustellen. Wollen das die 11 Millionen Hitler-Wähler? Man hat doch Grund, etwas höher über die politische Einsicht dieser vermeintlich besseren und besten Deutschen zu denken. Vermutlich würden keine zwei von diesen Millionen die Rückberufung Wilhelms II. auf seinen Thron bejahen. Sie wäre aber die notwendige Folge des Programmes, wenn es diesen Namen verdient, auf das der Hitler mit seinem Hakenkreuz sich festgelegt hat. Denn ein mussolinischer Faschismus, der

14 jener alles Wissens 23 des abgesetzten

baren Partei — d. i. die NSDAP.

Kaisers — d. i. Wilhelm II.

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Schriften

in Italien als Herrschaft der Analphabeten über die des Lesens und Schreibens Kundigen möglich ist, wäre im Deutschen Reich unmöglich. Die einzige Möglichkeit für den falschen Mussolini wäre die Wiederherstellung der Monarchie, mag er sie jetzt wünschen oder nicht. Sie wird sich selber wünschen. Der Hitler hat in einer Sondernummer 22 seiner berüchtigten Zeitung in dem dort gewohnten großen Druck verkündet, der Kampf seiner Partei müsse mit der Vernichtung des 9. November 1918 enden. In dieser Sportpalastrede schmeichelt er sich, daß die heute in Deutschland herrschende Ueberzeugung, daß die Kriegsschuldlüge, die Locarno-, Dawes- und Young-Verträge unmöglich seien, daß sie unseren und am Ende sogar den Ruin der Wirtschaft der Welt bringen, nur erreicht worden sei, weil in zehn und hunderttausenden von Kundgebungen, Versammlungen, Reden und öffentlichen Ansprachen „wir" unser Volk darüber belehrten (er und sein „hohes" Gefolge). Der dieses schreibt, hat selber über die Kriegsschuldfrage, als einer der ersten, eine Broschüre und bald ein Buch verfaßt (Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914). Ebenso wie er hat in diesem Sinne der Demokrat Hermann Lutz, der angesehene Professor der Geschichte Hans Delbrück, hat besonders mit Erfolg der Graf Montgelas, hat der Leipziger Professor der Geschichte Erich Brandenburg, hat Professor Fritz Kern in Bonn, hat der ehrwürdige Lujo Brentano und noch viele andere, von denen die meisten den Verdacht, von Herrn Hitler beeinflußt zu sein, als eine lächerliche Beleidigung empfinden würden für die internationale Aufklärung gewirkt. Ganz besonders aber muß in dieser Hinsicht die Leistung der „Berliner Monatshefte", die früher den Titel „Die Kriegsschuldfrage" trugen, hervorgehoben werden und ihres Leiters des Dr. h. c. Alfred v. Wegerer, durch diese seine Tätigkeit und seine Schrift „Die Widerlegung der Versailler Kriegsschuld-These". Ich kenne diese Literatur und habe in ihr nie eine Erwähnung jenes Verdienstes gefunden, dessen der Hitler sich rühmt. Die wissenschaftliche Welt weiß davon nichts. Man weiß nur, daß der Mann und daß sein Gefolge unablässig geschimpft hat, weniger über die Franzosen, jedenfalls sehr viel mehr 5 seiner berüchtigten

Zeitung

— d. i. „Der Völkische Beobachter", Tages- und offizielle

Parteizeitung der NSDAP. 16 eine Broschüre

und bald

ein Buch:

„Die Schuldfrage: Rußlands Urheberschaft nach

Zeugnissen aus dem Jahre 1914", Berlin 1919, und drei Jahre später „Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914", Berlin 1922; Schufr 27 seine

Tätigkeit

Berlin 1928.

und seine Schrift:

und ZarB s. TG, Bd. 12.

„Die Widerlegung der Versailler Kriegsschuldthese",

Sie wissen nicht, was sie tun

269

über die Deutschen, die (wie es auch die gegenwärtige Regierung tut) immer unermüdlich bemüht gewesen sind, die fürchterlichen Härten, die als Folgen des Krieges und seines Ausgangs uns bedrückten, und zum größten Teil noch bedrücken, zu mildern und die mit diesem redlichen nicht phrasenhaften Bemühen einen bedeutenden Erfolg gehabt haben. Solche Erfolge sind ganz gewiß nicht durch das Dasein und das nur durch Dreistigkeit sich auszeichnende Verhalten jener durchaus minderwertigen Partei, sondern trotz dessen erreicht worden. Der Hitler wird uns sagen, er wisse von alledem nichts — wovon weiß er was? Ich habe immer nur Redensarten und Prahlereien in den Schriften, die von dieser Seite kamen, gefunden. In einem Kieler Wochenblatt, dessen Rang noch unter dem Beobachter steht (Volkskampf vom 9. 3. 1932) wirft ein unbekannter junger Mann die Frage auf, wer denn außer Herrn Crispien und dem Prälaten Kaas Hindenburg wählen werde. „Und Hindenburg läßt sich wirklich von diesen wählen!" Die Antwort haben dem Jüngling 18 6 6 1 7 3 6 Männer und Frauen am 13. März schleunig gegeben. Möge den vielleicht der Einsicht fähigen Mann dies Ergebnis zum Nachdenken bringen! 7 jener durchaus minderwertigen Partei — d. i. abermals die NSDAP. 12 Rang noch unter dem Beobachter — „Der Volkskampf[.] Das deutsche Wochenblatt in Kiel", lt. Impressum „das offizielle Organ" der NSDAP, wird mit dem reichsweiten „Völkischen Beobachter" (s. o. Anm. S. 268) verglichen. Tönnies bezieht sich (bei der dem Wahlkampf gewidmeten „Werbenummer" vom 9. 3. 1932) auf den ungezeichneten Beitrag „Das fromme Zentrum. Prälat Kaas wählt Hindenburg." (S. 2). — Auf S. 4 war er in der linken von vier Spalten selber angegriffen worden: „Professor Tönnies trägt sich als Erster in das Eiserne Buch ein. Dieser alte Mann und — ,Universitätsprofessor!' — ließ sich bei dem oben genannten Akt von der ,Volkszeitung' abbilden, bekanntlich eines der übelsten Hetz- und Lügenblätter der Sozialdemokratie. Aber da finden diese Gebildeten und Anständigen nichts dabei — nur wenn der Dr. Goebbels angeblich Hindenburg beleidigt, dann ist das Marolin schnell bei der Hand. Es ist gewiß nicht das erste Mal, daß sich der Kieler Professor Tönnies in eine „neue Front" einreiht, sich in eine besondere Liste einträgt. Das nächste Mal schätzungsweise bei den Einzeichnungslisten der SPD. gegen den Faschismus 1923. ... Jedes Jahr macht ja die SPD. mit großem Tamtam und ,Millionen von Unterschriften' eine neue, große Organisation auf, um durch neue Masken die Altersrunzeln zu verstecken. Tönnies ist bei jeder Neugeburt des alten Kindes dabei. Gratulamur, professore!" 16 18 661 736 — Es dürfte sich bei der Zahl um ein vorläufiges Endergebnis handeln, dessen Quelle nicht ermittelt wurde; endgültig erhielt Hindenburg 18 651 497 Stimmen (Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich, Jg. 51, Berlin 1932: 546f.).

[La gravité de l'heure] On a souvent prétendu que les grands armaments sont une garantie pour la paix, mais c'est le contraire qui est à craindre. Ces armaments, loin d'écarter le danger, risquent plutôt de l'accroître. De même que nôtre conscience personelle éclairée nous incite à faire s notre possibile pour éviter la guerre, la conscience des peuples devrait les faire agir également. C'est le seul moyen de reprendre confiance dans le maintien de la paix, condition essentielle de tout travail régulier et de toute réforme sociale.

i [La gravité de l'heure] — Hélène Claparède-Spir hat für ihre Appell-Sammlung „Le Témoignage des Elites[.] Voix de France, de Belgique [|] de Grande-Bretagne, d'Allemagne [|] d'Autriche, de Tchéchoslovaquie [|] de Pologne et des Etats-Unies", Paris 1932, auch Tönnies angesprochen, mit dem sie in losem Briefwechsel stand (SHLB, Cb 54.56). S. a. den Editorischen Bericht (S. 520f.).

[Forord] Der wohlwollenden und verständnisvollen Charakteristik meiner Bemühungen um die Soziologie habe ich nichts hinzuzufügen, ausser dass ich Prof. Bosse herzlich dankbar bin für die von ihm geleistete mühsame 5

und uneigennützige Arbeit. Ich freue mich besonders als Verfasser des von ihm übersetzten Buches mit der skandinavischen Gelehrtenwelt in eine nähere Verbindung zu treten, nachdem ich ihr immer mit lebhafter Sympathie gegenübergestanden habe. Meine innige Freundschaft mit Harald Höffding, an dessen Bestattung ich im vorigen Jahre trauernden

10 Anteil nahm, hat mehr als 4 0 Jahre lang bestanden. Er hatte lebhaften Anteil an meinen Hobbes-Forschungen und an einer Spinoza-Studie genommen, als ich ein unbekannter junger Mann war, und diesem Interesse schreibe ich es zu, dass er meiner im Jahre 1887 zuerst erschienenen Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft" seine emsige Aufmerksamkeit i5 zugewandt und noch in seinen späteren Schriften oft auf sie zurückgekommen ist. Schon im Jahre 1889 hielt er einen Vortrag in der Studentersamfund in Kopenhagen, dessen Text dann im ersten Bande seiner „Mindre Arbejder" wieder abgedruckt wurde (1899). Er widmet im Vorworte dieses Buches meinem Werke eine besondere Anmerkung, weil ich

i lForord] ist als Tönniestext, datiert „Kiel Mai 1932", ohne eigene Überschrift (auf den Ss. XVI —XVIII) dem „Forord til den norske utgave (norw.: „Vorwort zur norwegischen Ausgabe") von Ewald Bosse hinzu gefügt, das dieser seiner Übersetzung „Innledning til | SOCIOLOGIEN | av | Ferdinand Tönnies | President i ,Deutsche Gesellschaft | für Soziologie' | Norsk Utgave" (Oslo 1932 im Fabritius & Senners Forlag) mitgegeben hat. Tönnies, den seit 45 Jahren mit dem Erfolge seiner Theorie Unzufriedenen, hat die schnelle Übersetzung seiner Summa „Einführung in die Soziologie" (Tönnies 1931a, ESoz s. TG, Bd. 21) erfreut (vgl. auch seinen werbenden Hinweis im Höffding-Nekrolog, s. u. Anm. S. 285). Ein Zeugnis wissenschaftlicher Würdigung Bosses gibt er 1935 in der (hierorts S. 428—442 folgenden) gewichtigen Abhandlung „Das Recht auf Arbeit". 14 „Gemeinschaft und Gesellschaft" — GuG vgl. TG, Band 2. 16 Vortrag in der Studentersamfund — Haffding, Harald, „Social Pessimisme", in: Tilskueren. Maanedsskrift for Literatur, Samfundssporgsmaal og almenfattelige videnskabelige Skildringer (Kopenhagen), 1890, Jg. 7, Juni, S. [464]-477; Wiederabdruck in: Heffding, Harald, „Mindre Arbejder", Kopenhagen 1899, S. [142] —157, mit Briefzitaten Tönnies' und Anmerkungen dazu im „Forord" [Vorwort], S. VI—VIII; dt. (aus dem Dan. von Lise Tönnies) „Sozialer Pessimismus", im Bickel/Fechner 1989: [294] —305.

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brieflich gegen seine Charakteristik des „sozialen Pessimismus", den er mir ein wenig zur Last gelegt hatte, Einwände erhob. Auf Grund dieser Einwände bittet er, in seiner feinen Weise, den nordischen Leser, das Wort als Charakteristik meiner Anschauung mit allem möglichen Vorbehalt aufzunehmen. Am Schlüsse dieser Bemerkung heisst es, dass das Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft" langsam aber sicher einen hervorragenden Platz in der soziologischen Literatur gefunden habe. Diese Würdigung war für den Verfasser ehrenvoll, aber in Wahrheit verfrüht. Z u wirklicher Geltung ist das Werk erst 10 bis 20 Jahre später gelangt, und dies steht in nahem Zusammenhange mit dem Fortschritte des soziologischen Denkens im deutschen Bereich, der in Begründung einer Gesellschaft für Soziologie (1910) und in der Abhaltung von Soziologentagen seinen Ausdruck fand; ich hatte einen Anteil am Präsidium (mit Simmel, M a x Weber u. a.). Bald trat indessen ein vernichtendes Schicksal in Gestalt des Weltkrieges zwischen unsere friedlichen Arbeiten. Erst 1922 waren wir in der Lage unsere Arbeiten wieder aufzunehmen, und seitdem bin ich der alleinige Präsident der neugestalteten Gesellschaft gewesen. Dass die Soziologie fast eine Modesache geworden war, ist für uns wegen der vielen Missverständnisse, die sich darin kundgaben, keine reine Freude gewesen. Überdies ist die allgemeine finanzielle und ökonomische Lage, unter der Deutschland schwer leidet, für die Entwicklung des prinzipiell längst als wertvoll anerkannten soziologischen Hochschulunterrichts eine schwere Hemmung geblieben. Während des Krieges habe ich zweimal nach Stockholm und Upsala und Göteborg Reisen unternommen und mir sehr wertvolle Beziehungen zu ausgezeichneten Gelehrten wie Pontus Fahlbeck, Harald Hjärne, Gustav F. Steffen, angeknüpft und gepflegt; andere wie zu den Philosophen Reinhold Geijer und Malte Jacobsson freute ich mich zu erneuern. Leider habe ich mit der einen glücklichen Ausnahme — Jacobsson — seither das Verscheiden aller dieser von mir hochgeschätzten Männer beklagen müssen. Nach dem Kriege durfte ich einige Wochen als Gast der deutschen Gesandtschaft in Oslo verleben, wo ich ausser mit diesem Kreise, an dessen Spitze Herr Gerhard v. Mutius stand, besonders mit Dr. Hermann Harris Aall Verkehr gepflogen und daraus, noch mehr aber aus meinem späteren Verkehr hier in Kiel mit Professor Dr. Ewald Bosse, eine vermehrte Kenntnis, besonders des in seiner gegenwärtigen Gestalt jungen, sonst durch Alter hoch ehrwürdigen Staates Norwegen gewonnen habe.

[Forord]

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Es ist mir eine Genugtuung, durch mein übersetztes Werk, um das sich Herr Bosse ein so grosses Verdienst erworben hat, in ein neues Verhältnis zur skandinavischen Welt zu treten: ein Verhältnis, das mir, solange ich lebe, wertvoll und wichtig sein wird.

Der Sinn der Familie Das Wort „Familie" heimelt uns an und wir würden uns freuen, es als ein altes und echtes deutsches Wort begrüßen zu können. Das wäre aber unrichtig, denn es ist in unserer Sprache wenig mehr als 200 Jahre alt. Was hat man ehemals gesagt, um dieselbe Sache zu benennen? Am liebsten hat man in der gebildeten Welt des Wortes Haus sich bedient, wie noch um die Mitte des 18. Jahrhunderts der treffliche Fabeldichter und Moralphilosoph Geliert in seinen Briefen regelmäßig das Haus grüßen läßt und von dieser Redeweise haben auch wir einen Rest behalten in den Grüßen von Haus zu Haus. — Die Sprachforschung ergibt, daß auch in dem Worte Familie eine urarische Wurzel steckt, die in der alten für heilig gehaltenen Sprache der Hindu Dhama lautet und im Oskischen, einer der alten Sprachen Italiens, Fama hieß, aus dem Oskischen aber ist das Wort Familia ins Lateinische übergegangen: das Urwort war famel, das so viel als Hausdiener hieß, und famulus wird wohl noch heute in Leipzig der Studierende genannt, der dem Professor helfend zur Hand geht. So ist die Familie ursprünglich das dienende Personal in einem größeren Hause. Auch bei uns ist die Bedeutung nicht einheitlich. Man kann einen dreifachen, ja einen vierfachen Sinn begreifen: 1. meinen wir, die Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kindern, und es gibt den Nebensinn, daß eigentlich erst die Kinder die Familie machen oder daß wenigstens ein Kind dazu gehört — dagegen kann der Vater oder die Mutter fehlen, wie schlimm das auch für die Familie sein mag. 2. Der zweite Sinn nähert sich wieder dem Ursinn, er rechnet nämlich auch das Gesinde zur Familie, für den bäuerlichen und bürgerlichen Haushalt auch heute noch oft ein notwendiger Anhang, weil auch Knechte und Mägde des Bauern, Lehrlinge und Gesellen des Handwerkers dazu gehören. Das Wort Gei Der Sinn der Familie — Im Juni 1932 publizierte Tönnies diesen Artikel im (mntl. unter einer Kieler Redaktion herauskommenden) „Bundesblatt für den Reichsbund der Kinderreichen Deutschlands zum Schutze der Familie e.V." (Jg. 12, Nr. 6, S. 42 f., Druckort Berlin; Fraktur). Er sprach damit populärwissenschaftlich und familienpolitisch (nachhaltig, weil dieses Heft auch als „Werbeexemplar" diente) und konnte aber die Vorarbeit zu seinem erst kürzlich erschienenen wissenschaftlichen Beitrag „Die moderne Familie" nutzen (1931b, s. TG, Bd. 21); s. u. S. 286ff.

D e r Sinn der Familie

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sinde ist seinem Sinne nach dem Wort Familie nahe verwandt, es hat in der alten hochdeutschen Sprache Kisindo den Reisegefährten, daher auch leicht ein bewaffnetes Reisegefolge bedeutet, war also naturgemäß für große Herren und Frauen zahlreich. Noch in der niederdeutschen holländischen Sprache hat das Wort den volkstümlichen Sinn der Familie. Bei uns ist vom Gesinde meistens nur das Dienstmädchen geblieben, das wir neuerdings eine Hausangestellte oder Hausgehilfin nennen. In England freilich ist auch der männliche Bediente sogar in den Städten noch eine häufige Erscheinung und bezeichnet die Größe und den Reichtum eines Hauses. Noch vor 30 Jahren gehörte vor allem der Kutscher dazu und der Groom, der neben ihm seinen Platz hatte, um abzuspringen und den Kutschenschlag zu öffnen. Es gab natürlich auch in Deutschland Herrschaften, die diesen Luxus nicht entbehren mochten. Heute ist oft der Chauffeur an die Stelle des Rosselenkers getreten. Allgemein aber wird längst beobachtet, daß das Gesinde, besonders in den Städten, immer weniger wird, zumal wenn man es vergleicht mit der Volksmenge. Im Deutschen Reich war dieser Anteil schon 1882 bis 1907 von 29 auf 20 von 1000 gefallen. Das Halten von Dienstboten ist wesentlich durch die Größe des Einkommens, also durch Wohlstand und Reichtum, bedingt, und so hat es für uns in den Nachkriegsjahren sozusagen von selbst sich vermindert, zumal wenn man nur Hausgehilfen darunter versteht, die Obdach und Nahrung als Teil ihres Arbeitslohns erhalten. Mehr und mehr aber ist im städtischen Haushalt an die Stelle dieses Restes von äußerlicher Zugehörigkeit zur Familie ein bloßes Arbeitsverhältnis getreten, in dem die Arbeitszeit nach Stunden durch Geldlohn erledigt wird. Und doch gibt es noch immer die Dienstbotenfrage und gab es vor kurzem noch die besondere Dienstbotenordnung, die auf der Tatsache der Hausgenossenschaft beruhte. Diese hat ohne Zweifel für die „Herrschaften" noch einen nicht geringen Wert und zuweilen auch einen Wert für die Bediensteten. Der dritte Sinn der Familie ist der erweiterte Sinn, wo sie mit den Personen, die man heute den Haushaltungsvorstand nennt, und neben den Kindern andere auch erwachsene Personen, die zu jenen als Schützlinge sich verhalten, umfaßt. Man kann diese wieder unterscheiden nach verschiedenen Graden, natürlichen und minder natürlichen: Stiefkinder, Pflegekinder, adoptierte Kinder, dauernde Gäste. Sie gehen wiederum über in tatsächlich dienende Personen, denen etwa ausdrücklich eine familiäre Stellung angeboten oder von ihnen selber verlangt wurde: wohl immer weibliche. Man pflegt sie neuerdings als Haustöchter auszuzeich-

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Schriften

nen, was einen guten Sinn hat, aber auch vom Uebel ist, wenn es zugleich von den etwa auch zum Hause gehörigen Dienstmädchen abheben soll. So gibt es endlich den vierten Sinn der Familie, worin sie gewissermaßen zurückkehrt zu einer uralten und höchst bedeutsamen Geltung, die wir soziologisch als Sippe oder Klan verstehen: es wird allgemein anerkannt als von viel älterer Herkunft und Bedeutung verglichen mit der für uns doch weitaus wichtigeren der Einzelfamilie, die jetzt in der Regel durch die gemeinsame Wohnung und Haushaltung sich abscheidet. Der Klan (das Wort ist schottisch und hat in der Geschichte schon lange einen guten Klang) wird bei allen primitiven Völkern und Stämmen beobachtet, oft mit Unterabteilungen, und die Organisation des Stammes, auch der Völkerschaften ist regelmäßig ein Bund von Klans, die aus ein und derselben Wurzel stammen und allmählich wie Aeste und Zweige eines Baumes auseinandergewachsen sind. Im Lande Dithmarschen hatten noch vor einigen hundert Jahren unter dem Namen Schlachten und Kluften die Klans eine gewaltige Bedeutung, und auf der Insel Fehmarn, die eine Kolonie der Dithmarsen war, haben sie dem Namen nach als Vetterschaften sich erhalten und tun wohl außer daß sie von Zeit zu Zeit Schmäuse abhalten, noch etwas, ihren ärmeren Gliedern zu helfen. Ein Rest des Klans ist auch die echte patriarchalische Familie, deren Wesen dadurch gegeben ist, daß die jungen Familien der Söhne zuweilen auch wie im Alten Testament der Töchter unter dem Dache und der Herrschaft des Hausvaters bleiben. Mir wollte vor vielen Jahren ein Chinese — er sprach englisch — den Unterschied zwischen unserem und dem chinesischen sozialen Leben klarmachen, indem er sagte: ihr habt die Familie, wir haben die Familie und den Vater — er verstand natürlich als Familie Frau und Kinder. Neuerdings aber berichten die jungen Chinesen, daß die alte Großfamilie im Aufbruche ist, die jungen Leute wollen unabhängig sein und für sich allein ihr Nest bauen. Wir wissen andererseits, daß sogar unter uns die heutigen Notstände des Wohnens einen gewissen Patriarchalismus oder Matriarchalismus zuweilen wieder aufleben lassen. Ein Rest des Klanverhältnisses bleibt auch sonst in der Verwandtschaft, wenigstens wenn sie am gleichen Orte wohnt oder wenn durch andere Ursachen besonders innige Verhältnisse mit Oheimen, Tanten, Vettern, Cousinen sich entwickeln oder erhalten konnten. Wie alle sozialen Verhältnisse gemeinschaftlichen Charakters werden auch diese oft durch Z a n k , Neid und Interessengegensätze gestört, oft völlig zerstört, indem die Eintracht in Zwietracht, die Verwandtenliebe in Verwandtenhaß sich wandelt. Das kommt öfter in reichen Familien und

Der Sinn der Familie

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Familiengruppen vor als in armen und schlichten. Denn es ist dort eine neue und besondere Ursache wirksam, die auch sonst leicht die vorhandenen natürlichen oder geschaffenen Bande sprengt: das Geld, zumal infolge von Erbteilungen, wo sich leicht Meinungsverschiedenheiten über Tatsachen und über Rechte entwickeln, zumeist aber einfach Habgier, Neid, Abgunst, Eifersucht und andere unedle Leidenschaften, wie solche oft in Romanen geschildert werden und im Leben viel Leid und Kummer verursachen und begründen. Auch in der vereinzelten, der engeren Familie wirken die Fragen des Mein und Dein oft zersetzend und zerrüttend, auch wenn es nur um unbedeutende Mengen und Arten von Gütern sich handelt. Bei weitem die größte Menge der heutigen Familie besteht nur aus Eltern, oft auch nur aus einem Elter, und Kindern oder einem einzigen Kinde; ohne Dienstboten, wenigstens ohne solche, die der Haushaltung angehören; auch ohne Gewerbegehilfen, die immerhin noch einen regelmäßigen Anhang einiger Zweige des Handwerks bilden und dann Kost und Obdach beim Meister empfangen. Nicht selten gehören noch andere Hausgenossen, am ehesten Verwandte in aufsteigender Linie, zur Haushaltung, die heute in der Regel durch die Sozialversicherung ein Kostgeld zu zahlen vermögen, was ihre Stellung naturgemäß verbessert. Nicht zur Familie gehören etwaige Aftermieter, am wenigsten solche, die nur ein nächtliches Obdach suchen und finden: Schlafburschen und Schlafmädchen, Kunden armer Haushaltungen, Zeugen von Not und Elend. Innerhalb der neueren sozialen Entwicklung ist die Familie immer mehr unproduktiv (steril) geworden. Noch ist die ländliche, bäuerliche wie Herrenfamilie, regelmäßig produktiver, als die städtische. Auch auf dem Lande sind freilich mehr und mehr die Leistungen an besondere Wirtschaften übergegangen, wenngleich diese abhängig von ihren Kunden bleiben. Am merkwürdigsten ist in dieser Hinsicht wohl der Untergang der Spinnstube, worin einst ganz regelmäßig die ländliche Hausfrau, wenn Flachs gebaut wurde, mit ihren Mägden die Faser zum Leinengarn verspann, der oft auch im eigenen Haushalt gewebt wurde. Vor 50 Jahren war es auch unter den ärmeren Bauern des Mittelrückens von Schleswig noch üblich, die eigene Wolle zu spinnen und zu weben und endlich, indem etwa ein Schneider oder eine Schneiderin ins Haus (auf die Stör) genommen wurde, Kleidungsstücke fertig herzustellen. Dagegen waren es Hüte und Mützen, die längst als Waren gekauft wurden. Die Verfertiger waren, solange als noch Zunftzwang herrschte, meistens Bewohner zunftfreier Flecken, in Schleswig-Holstein gab es viele solche

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und ihre Handwerker fanden regelmäßigen Absatz auf den Jahrmärkten. Heute findet man ihre Stände nicht mehr. Zur käuflichen Ware sind fast alle Gebrauchsgegenstände geworden und auch im entlegensten Dorfe gibt es einen Laden, der alles feilhält. Die Heimarbeit, die immer noch in weitem Umfange besteht und hauptsächlich Frauen, aber auch Greise und Kinder beschäftigt, ist wesentlich Lohnarbeit im Dienste meist städtischer Händler und Fabrikanten, zum großen Teil übelberufen durch armselige Lohnverhältnisse und unbegrenzte Arbeitszeiten, so daß die Ueberführung solcher Betriebe in Fabriken eine wesentliche Verbesserung bedeutet, wenn auch die häusliche Gemütlichkeit dabei zum Opfer gebracht wird. Daß das Familienleben in seiner praktisch sich selbst fördernden Betätigung immer weniger geworden ist, lehrt schon ein Blick auf die Tatsache, daß ein viel größerer Teil des Volkes vor 100 Jahren noch auf dem Lande oder in Städten meist im eigenen Häuschen und eigenem Garten gewohnt hat: Der Garten trug nicht nur zur Ernährung, sondern auch zur Erholung und zur Freude des Alltags bei. Einen Ersatz gewähren die Schrebergärten, die auch wirtschaftlichen Wert haben, und ohne solchen die Ausflüge in ländliche Umgebung und schöne Gegend, die oft auch den bescheidensten Familien im Sommer Erholung und Vergnügen gewähren; und im Winter meint auch die großstädtische Familie nicht ohne Grund, etwas voraus zu haben an Bildungselementen, wenn sie in der Lage ist, das Kino oder sogar das Theater zu besuchen. — Immerhin hat doch die Familie des Arbeiters durch die Beschränktheit des Wohnens viel Annehmlichkeit verloren, wie für uns alle das tägliche Leben von seiner ehemaligen Gemütlichkeit nicht wenig eingebüßt hat. Um so mehr Bedeutung hat es, daß im ganzen immer mehr die unendlich wichtige Aufgabe der sittlichen Erziehung heranwachsender Jugend uns bewußt geworden ist. Die Schule hat eine immer größere Bedeutung gewonnen, die Eltern werden heute mehr als zuvor aufgefordert, mit den Lehrern sich in Fühlung zu halten: wenn auch die Schule mit Recht ihre erzieherische Aufgabe neben der des Unterrichts zu pflegen in Anspruch nimmt, so bleibt doch den Eltern, oft genug der verwitweten oder eheverlassenen Frau allein die Aufgabe, das Kind an Ordnung, Sauberkeit und Fleiß und was mehr bedeutet, an Wahrhaftigkeit und Gehorsam zu gewöhnen. Man weiß, wie sehr und wie oft diese Aufgabe durch Armut und Not, besonders durch die Zustände des Wohnens, freilich auch oft durch die Unzulänglichkeit der zur Erziehung Verpflichteten, aber untauglichen Personen erschwert, verdorben, ja in ihr Gegenteil verkehrt wird. Krankheiten, besonders chronische, beeinträchtigen das Familien-

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Der Sinn der Familie

leben schwer, nicht weniger die Fehler und Laster der Personen, am häufigsten die Trunksucht des Mannes, aber auch Nachlässigkeit und Leichtsinn der Frau. Alle Uebel dieser Art zerrütten auch die Ehe der Armen, aber ebenfalls, wenn auch leichter verhüllt, die der Wohlhabenden und Reichen, und bei diesen führt sie eher zur Scheidung der Ehe, also zur Auflösung der Familie, und diese Erscheinungen befinden sich heute in rascher Zunahme, wie denn das gegenwärtige soziale Leben in allen Stücken noch von den schlimmen Nachwirkungen eines sittenverwüstenden Krieges bedrückt ist. Das werktätige Volk leidet am meisten unmittelbar und mittelbar unter allen Mängeln und Uebeln des Familienlebens. Wie lebhaft solche innerhalb des Proletariats empfunden werden, dafür gibt uns ein lebendiges Zeugnis, obgleich seitdem manches sich verändert hat, das Werk August Bebels: „Die Frau und der Sozialismus", das in mehr als 50 Auflagen bekannt geworden ist. Denn wie die Frau und Mutter die Seele der Ehe, also auch der Familie ist, so empfindet sie auch am schwersten alle ökonomischen und moralischen Zustände, die das gesunde Familienleben hemmen und beeinträchtigen, oft zerstören. Es ist eine wissenschaftliche Aufgabe, weil eine sittliche, eine sittliche Aufgabe, weil eine wissenschaftliche, die Erkenntnis aller dieser Tatsachen des Volkslebens zu vermehren und zu vertiefen. Sie betreffen auch, wenn auch mehr mittelbar, Familien, die sich ihres Wohlstandes und sogar Reichtums erfreuen und auf ihre Bildung oder gar Vornehmheit sich etwas zugute tun. Die Uebel haben hier eine andere Beschaffenheit und beruhen zumeist in einem zu leichten Leben. Die soziale Frage ist zum guten Teil eine sittliche Frage, und zwar eine Frage des Familienlebens. Ebenso sehr aber sind alle sittlichen Fragen verwurzelt in der sozialen Frage. Alles, was möglich ist an Verbesserung des Familienlebens und des sittlichen Lebens überhaupt, ja als die bloße Erhaltung dieser unschätzbaren Güter, ist geknüpft an eine soziale Reform großen Stils.

14 August Bebels: Die Frau und der Sozialismus, Zürich Auflagen und Umarbeitungen.

[211

1879, Berlin

50

1 909, zahlreiche

Zu Harald Höffdings Gedächtnis Die äußeren Konturen von Höffdings Leben sind die eines Mannes der Wissenschaft, dessen Tage rastloser Arbeit gewidmet waren. Schon im Jahre 1871 wurde der 27jährige Privatdozent an der Universität Kopenhagen; 1883 zum Professor der Philosophie ernannt, hat er als solcher eine Wirksamkeit von außerordentlichem Umfang und großer Tragweite entfaltet; erst als 72jähriger trat er 1915 in den Ruhestand. Um diese Zeit ist ihm die von der Carlsberg-Stiftung begründete Ehrenwohnung durch die dänische Nation verliehen worden, um ihn „in den Stand zu setzen, ohne wirtschaftliche Sorgen in schöner Umgebung seine Forschertätigkeit und soweit er mochte, seine Lehrtätigkeit fortzusetzen". Höffdings literarische und philosophische Schriftstellerei ist vorher und nachher umfassend gewesen, man kann in Frage stellen, ob seine Wirksamkeit größer gewesen ist durch das geschriebene oder durch das gesprochene Wort: jenes hat sich über die ganze Erde hin, durch die deutschen Übersetzungen vermittelt, ausgebreitet. Schon im Jahre 1913 folgte ich einer Einladung der dänischen M o natsschrift „Tilskueren", indem ich dem 70jährigen Höffding zu seinem Ehrentage meine Freude und meine Dankbarkeit für das, was er der Welt und mir gegeben hat, kundgab. Ich verband damit einen kurzen Überblick über sein Lebenswerk, indem ich in den Vordergrund das stellte, was mir als das am meisten Charakteristische in der Persönlichkeit des Denkers erschien: seine auch in Deutschland zu hohem Ansehen gelangte Tätigkeit — als Psychologe, als Ethiker, als Religionsphilosoph und als Verfasser einer Geschichte der neueren Philosophie — i Z u Harald Höffdings

Gedächtnis

— Dies ist der andere von beiden Nekrologen Tönnies'

für den bedeutenden dänischen Philosophen, den lebenslangen älteren Reisekameraden, in Deutschlands Fachorgan, den Kölner Vierteljahrsheften für Soziologie (Neue Folge der Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften, Red. Leopold von Wiese, 1 9 3 1 / 3 2 , Jg. 10, S. 2 3 6 - 2 4 2 ) . Vgl. Cb 5 4 . 3 4 : 7 6 , dazu in diesem Band S. 2 3 6 - 2 4 2 , und: Ferdinand Tönnies [ —] Harald Höffding[.] Briefwechsel, herausgegeben und kommentiert von Cornelius Bickel und Rolf Fechner (Bickel/Fechner 1 9 8 9 ) , mit aufschlussreichsten Regesten, Materialien, Registern und einem subtilen Kommentar. 18 Tilskueren

— Tönnies' Beitrag „Harald Höffding" erschien in der Kopenhagener „Tils-

kueren. Maanedsskrift for Literatur" a m 1 1 . 3 . T G , Band 9).

1913

(Jg. 3 0 , auf S. 2 3 3 — 2 3 9 ; vgl.

Zu Harald Höffdings Gedächtnis

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habe ich nach Verdienst hervorgehoben. Ich schloß damit, auszusprechen, daß die so skizzierte Entwicklung ihrem Abschlüsse noch nicht nahe zu sein scheine. „Wenn auch ein 70jähriger schwerlich noch Gedankenwege betreten wird, die durchaus neu erscheinen, so liegen doch in einem rastlos wirkenden menschlichen Geiste so viele Samenkörner, daß es nicht wundernehmen kann, wenn auch noch in späten Erntetagen schöne Früchte zur Reife gelangen." Diese Hoffnung hat in den seitdem verflossenen 18 Jahren in einer kühne Erwartungen übertreffenden Weise sich verwirklicht, und doch sind diese Jahre eine Zeit gewesen, in der es kaum noch ein Jahr der politischen Ruhe für Europa gegeben hat. Höffding hat die Erde in einem Zeitpunkt verlassen, dessen Ungeist allem Hohn spricht, was seinen, des John Stuart Mill Dänemarks, Idealen gemäß war. Auch die neutralen Länder blieben nicht verschont von der unerhörten Sturmflut, deren Wogen so verhängnisvoll den größten Teil Europas überflutet haben. Wenn auch der alte Philosoph, soviel ich weiß, nicht öffentlich an dem Streit über Wesen, Ursachen, Verlauf und Ziele des Weltkrieges teilgenommen und für seine Person der strengsten Unparteilichkeit sich beflissen hat, so sind doch Wirkungen seiner mitfühlenden Persönlichkeit bis in die abgelegensten Winkel gedrungen, in denen Kriegsgefangene geschmachtet haben. Als Vorsitzender des dänischen Roten Kreuzes hat Höffding mit großer Aufopferung der Aufgabe sich gewidmet, die Gefangenenlager, insbesondere die russischen, mit Büchern und Schriften zu versehen und hat zu diesem Zwecke auch aus seinen eigenen Beständen viele Beiträge gespendet, die, wohl meistens in deutscher Sprache, auch deutschen und österreichischen Gefangenen vorzugsweise zugute gekommen sein dürften. Ohne seinen Namen zu kennen, ist sicherlich mancher, der so ins Elend verbannt war, ihm dankbar geworden. — Inzwischen blieb ihm hinlängliche Muße, an seinem Lebenswerke weiterzuarbeiten. Kurz vor seinem 70. Geburtstage hat der Philosoph sein Werk „Der menschliche Gedanke, dessen Formen und Aufgaben" vollendet, das er selbst als ein abschließendes bezeichnet hat, wenn er auch keineswegs damit Schluß gemacht hat. Energisch und arbeitsfroh verfaßte er bald danach zwei Beiträge zur Kategorienlehre, unter dem Titel „Totalität als Kate30 Der menschliche Gedanke — Der menschliche Gedanke, seine Formen und seine Aufgaben. Erweiterte Ausgabe der „Philosophischen Probleme". Leipzig 1911; vgl. Philosophische Probleme, Leipzig 1903. 34 Totalität als Kategorie — Totalitet som Kategori. En erkendelsesteoretisk Undersogelse, Kopenhagen 1918b, in: Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskabs Skrifter,

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Schriften

gorie" (1917) und „Relation als Kategorie" (1921), die alsbald auch in die deutsche Literatur übergegangen sind. Gleich so vielen Vorgängern hatte Höffding eine Vorliebe für erkenntnistheoretische Untersuchungen. Er selber sagt, daß er nicht meine, dadurch seine eigene Erkenntnis zu verbessern, sondern, weil es immer aufs neue sein Interesse wecke, die Formen zu untersuchen, in denen der Trieb zum Erkennen seine Befriedigung finde, komme er so gern darauf zurück. Es handelt sich hier um die große Frage der Methode, welcher kein wissenschaftlicher Mann sich entziehen kann, eine Frage, die daher jeden geistig interessierten Menschen in stetig neuen Kontakt mit der Philosophie bringen muß. Obschon nun diese Probleme immer wieder zurückführen auf die Gedankenwelt Kants, der auch Höffding so viel verdankt, so sind es doch zwei andere Philosophen von höchstem Werte, an die er mit besonderer Liebe sich anschließt: 1. Plato, dessen merkwürdigen Dialog Parmenides Höffding noch in einer kleinen Schrift von 1920 eindringlich behandelt hat; 2. Spinoza, dessen berühmter Ethica er zwei Jahre früher eine tiefgehende Analyse widmete. Außer diesem Dreigestirn ist es sein Landsmann Sören Kierkegaard, dessen tiefsinniger Gedankenarbeit wir bei Höffding fortwährend als einer innerlich bewegenden und anfeuernden Paradoxie begegnen; ja in seiner Jugend hat Kierkegaard Epoche gemacht — unter dessen Einfluß hat Höffding das theologische Studium aufgegeben. Wir finden diesen Einfluß auch wieder in Höffdings Beitrag zu dem großen dänischen Sammelwerk über das 19. Jahrhundert, das Aage Friis dirigierte; dieser Beitrag heißt „Leitende Gedanken im 19. Jahrhundert" 7. Raekke, Historisk og Filosofisk Afd., III.2 [dt.: Der Totalitätsbegriff. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Leipzig 1917]. l Relation als Kategorie — Der Relationsbegriff[.] Eine erkenntnistheoretische Untersuchung, Leipzig 1922. 15 Parmenides — „Bemserkninger om den platoniske dialog Parmenides", in: Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab Filosofiske Meddelser, I, 2, Kopenhagen 1920b (dt.: „Bemerkungen über den platonischen Dialog Parmenides", Berlin 1921, in: Bibliothek für Philosophie, Bd. 21). Vgl. Harald Heffding, Parmenides fra Elea. (1901), in: Mindre Arbejderf.] Anden Rsekc (dän., svw. „Parmenides von Elea", in: „Kleinere Schriften, Zweiter Band"), Kopenhagen 1905, S. [ 1 4 1 ] - 1 4 9 . 17 Ethica — „Spinoza's Ethica. Analyse og Karakteristik", Kopenhagen 1918c, in: Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskabs Skrifter, 7. Rsekke, Historisk og Filosofisk Afd., III.3 [dt.: Spinozas Ethica[.] Analyse und Charakteristik^] Heidelberg / 's Gravenhage / London 1924], 25 Leitende Gedanken im 19. Jahrhundert — Harald Hoffding, Ledende Tanker i det nittende Aarhundrede, Kopenhagen 1920a, in: Dat nittende Aarhundredef.] Skildrede af

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und erschien 1920. Nach den drei großen Gesichtspunkten, unter denen das geistige Leben des Jahrhunderts hier betrachtet wird: 1. Wissenschaft, 2. Soziales Leben, 3. Religion, wird an letzter Stelle das „Persönlichkeitsprinzip" hervorgehoben, für das Höffding eine besonders ausgesprochene Sympathie kundgibt. Für den Norden zeichnet dieses Buch auch dadurch sich aus, daß seine Denker und wissenschaftlichen Größen mehr als sonst der ihnen gebührenden Anerkennung gewürdigt werden. Höffding schreibt: „Es ist von hervorragenden Wortführern der Literatur in energischer und genialer Weise auf die individuelle menschliche Persönlichkeit, auf die Bedeutung des ,Einzelnen' hingewiesen worden, dessen Bedürfnis und Drang die Religion — was immer dieses Wort in weiterem oder engerem Sinne bedeuten möge — genug tun solle." Als der bekannteste Vertreter dieses Persönlichkeitsprinzips wird Carlyle hervorgehoben. In seinen Spuren habe der Amerikaner Emerson sich bewegt und unabhängig von diesem in nordischen Landen Erik Gustav Geijer, Frederik Christian Sibbern und Sören Kierkegaard. Von diesen sei Kierkegaard der bedeutendste. Was die Religion angeht, so erklärt er, ebenso wie Carlyle, Aufrichtigkeit und Redlichkeit für das, was zuerst und zuletzt nottue. Als Kierkegaard in seiner letzten großen Polemik gegen die offizielle Kirche zu sagen gedrängt wurde, was er eigentlich wolle, antwortete er: „Ganz schlicht, ich will Ehrlichkeit." So ist auch Höffdings Schrift „Leitende Gedanken" ein ganz persönliches Buch. Es stellt den wissenschaftlichen, den philosophischen, den sozialen Geist des 19. Jahrhunderts so vor, wie er sich in unseres Philosophen Persönlichkeit reflektiert; diese Persönlichkeit aber ist nicht die eines jungen Schriftstellers, der schon das vergangene Jahrhundert nur von außen zu kennen vermag, sondern eines Mannes, der selbst einen großen Teil des Jahrhunderts denkend miterlebt hat und der alle Strömungen, die sich darin bewegten, auf sich wirken ließ. Es ist ein Kenner seiner Zeit, der sich hier mitteilt und selbst mitgewirkt hat, das Gepräge der Zeit zu bestimmen. Wenn er in der Einleitung sagt: „Es können verschiedene Gedankenrichtungen bei ein und derselben Persönlichkeit sich geltend machen, ohne daß ihre volle Harmonie möglich wird", so ist es gerade die Harmonie, die seiner eigenen Persönlichkeit das reiche und

nordiske Videnskabsm£end[.] Redigered af Aage Friis, Bd. 30. Vgl. Harald Hoffding, Seren Kierkegaard. En Karakteristik (1903), in: Mindre Arbejder[.] Anden Raeke (dt. svw. „Eine Charakteristik", in: „Kleinere Schriften, Andrer Band"), Kopenhagen 1905, S. [181] —191.

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erfreuliche Gepräge gibt. Dies tritt auch in dem letzten Buch, auf das noch hingewiesen werden möge, hervor, dem Buch über den „großen Humor" oder wie der Titel der deutschen Ausgabe lautet: „ H u m o r als Lebensgefühl". Es ist in noch höherem Grade als die leitenden Gedanken ein persönliches Buch. Man darf es vielleicht als das Vermächtnis des Philosophen an Mitwelt und Nachwelt bezeichnen. In dieser Untersuchung, die den H u m o r als einen seelischen „Gesamtzustand" schildert, ist gleichzeitig eine Ermahnung enthalten: sie lehrt die menschlichen Dinge ungeachtet aller Gebrechen, alles Kummers und aller Sorgen in einem versöhnenden Lichte mit einem Lächeln der Weisheit betrachten, alle Torheiten mit Nachsicht und alle bösen Geschehnisse der kritischen Stimme des Gewissens gemäß beurteilen. Wenn es auch für Höffding — und wir gehen hierin einig mit ihm — noch höhere Normen der Lebensansicht gibt, so ist doch für ihn der große H u m o r einer der idealen menschlichen Typen, und er bekennt, daß er selbst eine gewisse Zärtlichkeit hege für Dichter und Schriftsteller, die nach seiner Schätzung ihm eine größere Fähigkeit verleihen, solchen H u m o r zu verstehen. Unter den Philosophen ist Sokrates ihm der ganz große Humorist. Höffding selber hatte Züge in seinem Wesen, die an Sokrates erinnern: die milde und heitere Art, auf dem Grunde tiefen Ernstes, die volkstümliche Sinnesart, und das Bestreben, alle Erkenntnis dem sittlichen Leben des Volkes zugute kommen zu lassen. Seine Gedankenrichtung war in mehr als einer Hinsicht soziologisch, die Eigenschaft als korrespondierendes Mitglied unserer Gesellschaft für Soziologie war ihm sehr willkommen. Er ist der Soziologie schon in der ersten deutschen Ausgabe seiner Ethik (Leipzig 1888) entgegengekommen, indem er den Abschnitt „Soziale Ethik" mit einem Kapitel „Die Ethik und die Soziologie" eröffnete. Sein dauerndes Interesse hat er auch dadurch kundgegeben, daß er schon 1889 vor der „Studentersamfund" in Kopenhagen einen Vortrag über mein Werk gehalten hat (ehe wir uns persönlich kannten), der dann in den ersten Band seiner Mindre Arbejder — Kopenhagen 1899 — aufgenommen wurde. Auch in seinen späteren Werken hat er, wie ich dankbar anerkenne, öfter darauf Bezug

3 Humor als Lebensgefühl — exakt: H u m o r als Lebensphilosophie, Leipzig/Berlin 1918a. 26 Ausgabe seiner Ethik: „Ethik. Eine Darstellung der ethischen Prinzipien und deren Anwendung auf besondere Lebensverhältnisse.", Leipzig [ 1 'l888, S. [182] f.; 2 1901, S. [257] f. 31 Mindre Arbejder — (dän., svw. „Kleinere Schriften"), Kopenhagen 1899.

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genommen. Der Tag der Soziologie ist freilich in Skandinavien noch nicht aufgegangen. Eine Bewegung dafür ist aber vorhanden: ich verweise auf die Bemühungen des Norwegers Prof. Ewald Bosse, der mein neues Buch „Einführung in die Soziologie" in seine Sprache übersetzt, 5 und auf den gegenwärtigen Inhaber des Höffdingschen Lehrstuhles Frithjof Brandt, der ein gewichtiges Werk über Hobbes verfaßt hat und schon dadurch der Soziologie näher tritt; endlich auf den leider früh verstorbenen Schweden Gustav F. Steffen, der eine Soziologie in vier Bänden verfaßt hat, und den Göteborger Professor Malte Jacobsson, von 10 dem wir manche Leistung erwarten dürfen.

4 in seine Sprache 6 ein gewichtiges

übersetzt

— s. o., S. 271, Tönnies' Vorwort zu Bosses Übersetzung.

Werk über Hobbes

— Brandt, Frithiof, Den Mekaniske Naturopfattelse

hos Th. Hobbes, Kopenhagen 1921 (dän., svw. „Thomas Hobbes' mechanische ,Natur'Auffassung"). Der Höffdingschüler Brandt spricht darin vielenorts Tönnies an (vgl. S. XI, 1, 347 u. a. m.), und dieser rezensiert die engl. Fassung noch 1932 (Tönnies 1932cc, s. u. S. 494f.). 8 eine Soziologie

in vier Bänden

— Steffen, Gustaf F., Sociologi [.] En Allmän samhälsläre,

4 Bände in 2 Teilen, Stockholm 1 9 1 0 - 1 1 .

Das soziale Leben der Familie Es bedarf wohl keines Beweises, daß die letzte Folgerung aus dem unbedingten Freiheitsstreben oder dem Individualismus, der mehr ist als eine bloße Meinung oder Gesinnung, die Anarchie wäre. Und diese Anarchie wäre das Ende der Familie. Der Sozialismus ist das Gegenteil des Anarchismus, aber er ist auch der Erbe des Liberalismus und seine Theorie sieht zuweilen ihre Aufgabe in dieser radikalen Konsequenz, die man auch oft dieser Theorie zur Last gelegt hat unter dem Schlagwort der freien Liebe. Aber man darf sagen, daß der Sozialismus, wie er praktisch, sei es in der wirtschaftlichen oder in der politischen, überwiegend auch wie er in der geistigen Bewegung auftritt, keineswegs für eine solche Folgerung eintritt, sondern höchstens im Sinne eines gemäßigten liberalen Bekenntnisses für eine minder strenge Gestaltung des Ehebandes und somit der Grundlage der Familie sich einsetzt. Darin bewährt sich die Kraft einer eingewurzelten volkstümlichen Überzeugung, daß ein vernünftiges und gesundes soziales Leben ohne die Institution der geordneten Familie nicht gedeihen kann. In Wahrheit darf man wohl sagen, daß die heutige Familie mit ihrer Grundlage der monogamischen Ehe seit Jahrtausenden sich bewährt hat. Sie ist nicht nur in der religiösen, sondern auch in der politischen Gesetzgebung festgelegt und in dieser auch durch das Strafrecht geschützt, das den Begriff der Polygamie oder Vielweiberei — die Vielmännerei ist nur als ethnographische Merkwürdigkeit vorhanden — überhaupt nicht kennt, aber die „Bigamie" verbietet. Seltsam ist es gewiß, daß Fürsten, über die von ihnen selbst gegebenen oder doch bestätigten Gesetze sich erhaben fühlend, des öfteren nicht nur durch Ehebruch, und zwar unverhohlenen, sich über die Monogamie hinwegzusetzen dreist genug waren, sondern auch eine zweite Ehe, gelegentlich vielleicht eine dritte einzugehen, die dann als eine Ehe zur linken Hand oder eine morganatische Ehe unterschieden wird; wie auch sonst i Das soziale

Leben der Familie.

— Auch dieser Beitrag (vgl. o. Anm. S. 274) fußt noch

auf Tönnies' wissenschaftlicher Vorarbeit zu „Die moderne Familie" (in: A. Vierkandt, Hg., Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931, S. 122—131; Abdruck:

TG,

Band 21). Er erschien in „Soziale Praxis" (Zentralblatt für Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege, Berlin, hgg. von Frieda Wunderlich und Wilhelm Polligkeit, Jg. 41, H e f t 27, Sp. 8 2 2 - 8 2 8 ) am 7 . 7 . 1932.

Das soziale Leben der Familie

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z. B. in China und in der Türkei, wo wenigstens bis in unsere Zeit die Polygamie gesetzlich war, eine Hauptfrau von den Kebsweibern sich abhob und in der Regel auch nur die Kinder dieser Hauptfrau als Erben der monarchischen Herrlichkeit geduldet wurden. Die monogamische Ehe ist ihrem Prinzipe nach wohl niemals wieder so angefochten worden wie sie in der trüben Zeit des deutschen Volkes während des dreißigjährigen Krieges und nachher in Frage gestellt werde. Der Kreistag des Kreises Franken (Deutschland war seit 1500 in 6 Kreise, aus denen später 10 wurden, eingeteilt) beschloß am 14. Februar 1690, wegen der großen Entvölkerung jeder Mannesperson zu erlauben, 2 Weiber zu nehmen; und es sind damals mehrere Schriften erschienen, die sich noch bis ins 18. Jahrhundert fortsetzten, worin die Polygamie verteidigt wurde, meistens unter frommer Berufung auf die mosaische Gesetzgebung und die Sitten der Patriarchen. Ein solcher Schriftsteller, der unter dem Einfluß eines vornehmen Mannes stand und unter verschiedenen Namen schrieb, behauptete nachdrücklich, daß es keine ärgere und abscheulichere Sklaverei gebe als die häusliche, welche mit der Monogamie immer verknüpft sei. Dieser Mann stand an der Spitze der berühmten Gelehrtenschule in Schulpforta, und hieß Johann Lyser. Bisher hat die monogamische Ehe alle Zweifel und Anklagen siegreich überstanden, nicht nur in der Gesetzgebung, nicht nur in der öffentlichen Meinung, sondern auch in der Volksseele. Daß aber eine losere Auffassung der Ehe allmählich und mit großen Schritten in dieser unserer Zeit sich entwickelt hat, am meisten wohl in ausgesprochen protestantischen Ländern, aber auch in katholischen, soweit sie vom Geiste der Aufklärung erfaßt worden sind, tritt am deutlichsten in der fortwährenden bedeutenden Zunahme der Ehescheidungen hervor, und die Tendenz, durch Lockerung des strengen und oft hartdrückenden Bandes sie zu erleichtern, macht sich auch in den Gesetzgebungen geltend, selbst wenn man einstweilen von den Neuerungen im russischen Reiche absieht, von denen man dahingestellt sein lassen muß, welche sich dauernd erhalten werden. Immerhin ist es noch in den Staaten der europäischen Kultur durchaus die Regel, daß die Ehe lebenslänglich bleibt und daß auch die Notwendigkeit oder wenigstens die Natürlichkeit und Normalität dieser Ehe empfunden wird. Und zwar gilt sie als notwendig oder wenigstens als normal, zum Teil aus Rücksicht auf die Frau, die oft durch Scheidung ins Elend hinabgestoßen wird, in weit höherem Maße aber um der Kinder willen, die aus der Ehe hervorgehen. Darum muß für Beurteilung der Ehe und der Familie, die in unserem Sprachgebrauch sogar erst als

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Schriften

vorhanden gedacht wird durch das Dasein wenigstens eines Kindes, durchaus unterschieden werden zwischen der kinderlosen und der bekindeten Ehe; wiederum dann zwischen der kinderarmen und der kinderreichen Ehe. Längst ist Frankreich als Land einer weit überwiegenden kinderarmen Familie bekannt, in minder ausgeprägter Weise aber auch andere romanische Länder, Spanien, ungeachtet seines strengen Katholizismus, also des tiefgehenden Einflusses der Priesterschaft, schon seit dem 17. Jahrhundert. Erst neuerdings erfaßt die Bewegung für Beschränkung der Kinderzahl auch die germanischen, auch die skandinavischen Länder, nachdem sie schon längst der sozialen Oberschicht, wenigstens dem Teil, der nicht mit großem Grundbesitz oder sonst mit großem Reichtum ausgestattet war, nicht fremd gewesen ist und sonst längst die Städte, insbesondere die volkreichsten, von den ländlichen Familien, in denen zum großen Teil die Ehen früher geschlossen werden, unterschieden hat, aber auch z. B. die deutschen von den polnischen Familien da, wo sie unter demselben Staatsdache lebten, wie in Preußen und in Österreich. Im allgemeinen hat, besonders auf dem Lande aber auch in den Städten, das Proletariat immer durch Kinderreichtum sich ausgezeichnet — begünstigt wie es war durch frühe Eheschließungen, durch Naturallohn und durch die Gelegenheit, Kinder schon im jugendlichen Alter nützlich, auch im Lohnverhältnis, beschäftigt werden zu lassen, was teils durch die Schulpflicht, teils durch besondere und heilsame Gesetzgebung beschränkt worden ist. Mehr oder minder, aber im ganzen doch deutlich, bewußt ist den Menschen, man darf sagen von jeher, daß sie als Vater und als Mutter eines Kindes die Pflicht haben, das Kind nicht nur zu ernähren, sondern auch zu erziehen. Bei Eltern, die in der Ehe zusammenleben, versteht sich dies freilich viel eher von selbst als bei natürlichen Eltern, deren gemeinsame Verpflichtung gegen das Kind oft schweren Hemmungen unterworfen ist und zwar hauptsächlich von Seiten des Vaters, wenn die Legitimierung des Kindes durch nachfolgende Ehe ihm nicht gefällt, so daß er meistens ein unnatürlicher Vater wird. In vielen Fällen meint er seine Pflicht hinlänglich dadurch zu erfüllen, daß er die gesetzlich vorgeschriebenen Alimente durch Geldzahlungen erledigt. Wenn ein solches Kind von der Mutter in eine spätere Ehe mit einem anderen Manne eingebracht wird, so ist das oft moralisch ein größeres Unglück für das Kind als wenn die Mutter mit ihm allein bleibt. Selten können aus dieser natürlichen Elternschaft andere als unnatürliche Verhältnisse entspringen und die Erziehung wird in der Regel schwer beeinträchtigt werden.

Das soziale Leben der Familie

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Freilich konkurriert mit der elterlichen Erziehung heute wohl in ganz Europa die Schulerziehung: denn in diesem Punkte bedeutet auch die Sowjetregierung eine bedeutende Verbesserung, obschon in Rußland noch immer das Los vieler infolge des Krieges vernachlässigter und verwahrloster Kinder Aufsehen und Entsetzen erregt hat. Normale Eltern wissen wohl, daß der häuslichen Erziehung, obschon sie durch die Schulerziehung eingeengt ist, ein breiter Spielraum bleibt. Die ehemals wohl im größten Teile des Volkes übliche und herkömmliche Strenge, ja Härte der häuslichen Erziehung hat offenbar sehr nachgelassen, wenn auch von Zeit zu Zeit Fälle von Grausamkeit, und noch mehr von verständnisloser Torheit öffentlich bekannt werden, besonders wenn sie zu Gerichtsverhandlungen führen. Oft wird aber auch große Weichlichkeit und Schlaffheit der Erzieher bemerkt, die nicht selten sich außerstande fühlen, oft auch nicht den guten Willen haben, sich ernstlich um die Kinder zu kümmern. So ist vielleicht in der proletarischen oder doch proletaroiden Familie, die heute, zumal in den Großstädten, der Zahl nach weit überwiegt, mehr als die bewußte Erziehung die unbewußte durch die gute Beschaffenheit von Gemüt und Charakter der Eltern die eigentlich wichtige Art, und zumeist für die Zukunft des Kindes entscheidend. Ebenso ist nach der moralischen Seite die charakterliche Beschaffenheit des Lehrers und der Lehrerin, zusammen mit ihrer Einsicht und Weisheit, von hoher Bedeutung. Überhaupt darf man von der wachsenden Verbreitung des Wissens heilsame Folgen nach allen Seiten hin erwarten und schon in mancher Hinsicht beobachten. Die Einsicht, daß man Kindern nicht alkoholhaltige Getränke geben darf und überhaupt ihnen auch andere Stimulantien fernhalten soll, ist offenbar während des letzten halben Jahrhunderts merklich gewachsen, ebenso die Einsicht in den Wert der Reinlichkeit, der Sauberkeit, auch des Anstandes und guten Tones. In jeder Hinsicht aber ist das für Hauswesen und Erziehung den Ausschlag gebende Moment das alltägliche Leben der Familie, und dieses ist in erster Linie bedingt durch das Einkommen, also für die große Menge durch den Arbeitslohn. Nicht nur die Gesundheit der Kinder, sondern auch der Eltern, von deren Wert für das Gedeihen der Kinder man nicht leicht eine zu hohe Vorstellung sich bilden wird, ist dadurch zum guten Teile, wenn auch keineswegs ausschließlich bedingt. Da ist zunächst das Wohnen: gehöriger Luftraum, die Beschaffenheit der Luft, wofür oft Bewohner, auch ohne daß es etwas kostet, besser sorgen könnten als es geschieht —, in der Hauptsache aber ist es eine Geldfrage, und war bis-

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Schriften

her noch fast ausschließlich eine Frage des Geschäftes. Ähnlich ist es mit der zweckmäßigen Ernährung, worüber oft noch ungenügende Vorstellungen verbreitet sind, oft auch gewinnsüchtige Absichten das vernünftige Urteil beeinträchtigen: Quacksalber drängen sich Würmern gleich gern in einen Haushalt und oft mit relativ größerem Erfolg gerade in den armen. Das größte Unglück der proletarischen Familie, aber durchaus nicht dieser allein, pflegt die Trunksucht des Mannes (viel seltener der Frau) hervorzurufen. Aber auch in dieser Hinsicht sind die ernsten Bemühungen der Heilung während der letzten Jahrzehnte nicht vergebens gewesen. Freilich wurde auch in dieser Hinsicht eine günstige Entwicklung durch den Krieg schwer unterbrochen. In viele Familien trägt auch die Unsittlichkeit in dem bekannten engeren Sinne, also besonders die Prostitution, ihre Trübsal und Zerrüttung hinein. Hier wie überall ist Ermahnung und Predigt nicht immer wertlos, wird aber durchaus weniger vermögen als die Verbesserung der Lebensverhältnisse. Ein weites Feld bleibt in dieser Hinsicht der sozialen Reform, besonders durch die Sorge für eine günstige Gestaltung der weiblichen Arbeit, durch die Besserung des Schadens, dem die Kinderpflege fortwährend ausgesetzt ist durch die langen Abwesenheiten der Mütter, die in Arbeit stehen, und durch die weiten Entfernungen zwischen Wohnung und Arbeitsstätte. In wohlbegründeter Weise ist längst für alle Mängel und Übel des Familienlebens der großen Menge des Volkes die kapitalistische Form des wirtschaftlichen Lebens verantwortlich gemacht worden. Heute, unter dem Druck einer ungeheuren Zerrüttung, ist man in weitesten Kreisen geneigt, die Zerstörung dieser Form nicht nur zu verlangen, sondern sie als sehr viel leichter und reibungsloser vorzustellen als sie sein kann. Auch in dieser Hinsicht ist eine höchst ungenügende Ordnung besser als die Anarchie; und die bestehende Ordnung ist nicht nur durch Gewohnheit tiefbefestigt, sie enthält auch Elemente, deren Zweckmäßigkeit nicht von heute auf morgen oder übermorgen ersetzt werden kann. Gleichwohl ist hier eine ungeheure Aufgabe gestellt. Es ist ein sittliches Postulat geworden, der Wiederkehr eines solchen Zustandes, wie wir in diesen Jahren ihn erleben, vollends des Zustandes, wie wir ihn in den ersten Jahren nach dem Weltkriege erlebt haben, mit allem Ernste und mit aller Tatkraft vorzubeugen: eine Aufgabe, die nur unter Führung wissenschaftlicher Erkenntnis gelöst werden kann, und es darf mit Genugtuung begrüßt werden, daß schon hin und wieder die Politik beginnt, der Wissenschaft

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sich unterzuordnen: daß also der entscheidende Wert der Sozialwissenschaft auch von Juristen und Diplomaten hie und da eingesehen wird. Wir dürfen daher mit Freude und Hoffnung die Forschungen der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit begrüßen, deren Publikationen bisher teils allgemeine Studien enthalten (Heft 1 — 4), an denen Gertrud Bäumer, Hilde Lion, Hilde Adler-Rehm und Marianne Weber zusammengewirkt haben — teils Forschungen über Bestand und Erschütterung der Familie in der Gegenwart betreffend, für die Alice Salomon und Gertrud Bäumer die Verantwortung übernommen haben und von denen bisher 7 Bände erschienen sind. Der Gesamtplan der Studien, welche die zweite Kategorie der Forschungen betreffen, enthält noch eine lange Reihe solcher Studien, z. B. über Umfang und Ursachen der Geburtenbeschränkung, über Umfang und Wirkung von eheähnlichen Verhältnissen auf das Familienleben, über das Schicksal des unehelichen Kindes, über den Familienzusammenhang der ledigen berufstätigen Tochter, zur Soziologie der Ehescheidungen und der Ehescheidungsweisen, über den Charakter der Familien kriminell gewordener Jugendlicher und andere. Alice Salomon hat zu diesen Forschungen eine kurze Einführung geschrieben, deren erster Satz lautet: „Die Forschungen wurden unternommen, weil die Bedeutung der Familie für das soziale Leben heiß umstritten ist, und weil man über Bestand und Erschütterung, Leistungen und Versagen der modernen Familie nichts weiß." Derselbe Satz dient auch für die größere Einführung derselben Verfasserin, die den Gesamtplan und die Methode des bedeutsamen Vorhabens der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit darlegt. Ich habe im Herbst 1930 in der Untergruppe des Soziologentages, die der Soziographie gewidmet war und sich fortsetzen wird, meine Ansicht über deren Wesen und Zweck und über ihr Verhältnis zur Statistik — ehemaligen und modernen Sinnes — dargelegt, und diese Darlegung hat damals und später einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich bekenne, daß ich damals noch von dieser Deutschen Akademie kaum etwas gewußt habe; ich hätte sonst nicht versäumt, auf sie hinzuweisen. Ich finde diese Forschungen nicht nur ungemein wichtig und io erschienen

sind.

Hier Fußnotenhinweis der Red. auf andere Artikel (Heft 7, Sp. 210

[ - 2 1 5 ] ; Heft 27, Sp. 835 f., 859). 23 Derselbe

Satz — Vgl. Salomon, Alice und Marie Baum (Hgnn.), „Das Familienleben

in der Gegenwart[.] 182 Familienmonographien", [Berlin] 1930, Einführung, S. 7. Der Gesamtplan bildet „Anhang 1", ebd. S. 376. Dem Vorsatzblatt „Forschungen" entnahm Tönnies vermutlich die Verfasserinnennamen der Hefte 1 — 4.

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Schriften

wertvoll, ich halte auch Frauen für ganz besonders berufen, in diesem Sinne tätig zu sein zum Behuf der empirischen Beobachtung und Durchleuchtung des inneren Lebens der sozialen Verhältnisse, Samtschaften und Verbände. Die Frau hat insbesondere zum Familienleben ein tieferes und intimeres Verhältnis als es im allgemeinen dem Manne eignet. Wie dies intuitiv und deduktiv jeder weiß, so gibt jeder dieser Bände, und die gesamte Idee eines solchen Studiums, den induktiven Beweis dafür. Meine Meinung ist nicht, daß es darum geboten sei, dies ganze Gebiet dem Geist und Fleiß der Frauen bedingungslos zu übergeben. Wohl aber werde ich ihnen gern anheimgeben, dafür den Ton anzugeben und die Wege zu weisen. Forschungen dieser Art im großen Stile zu

organisieren,

würde zum mindesten ein Institut in Anspruch nehmen nach Art der Kaiser-Wilhelm-Institute, die bisher dem Dasein und die Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Forschung ganz und gar fremd bleiben, wenn auch mehrere eine mittelbare Beziehung darauf geltend machen können, namentlich diejenigen für Anthropologie und das jüngste für Hirnforschung. Es ist allerdings ganz neuerdings ein nichtnaturwissenschaftliches Institut zu den so bedeutsamen naturwissenschaftlichen hinzugekommen: es bezieht sich — auf deutsche Geschichte. Ich bekenne, daß ich es für durchaus überflüssig halte. Der Erforschung der deutschen Geschichte stehen alle Wege offen: Archive und Bibliotheken des In- und Auslandes, die gelehrte Betätigung an allen Hochschulen, die Gunst aller Regierungen, Geldmittel, die in besseren Zeiten als den gegenwärtigen reichlich zur Verfügung stünden und auch jetzt offenbar noch leidlich vorhanden sind. Ich kenne die Finanzierung der Deutschen Akademie für Frauenarbeit nicht. Für die gesamte Soziographie, deren Sinn und Notwendigkeit mit mir, ich darf wohl sagen, alle deutschen Soziologen mit Überzeugung würdigen, kennt man bisher keine Finanzen. Meine eigenen Arbeiten in diesem Gebiete, die bald auf 50 Jahre sich erstreckt haben, sind gelegentlich mit kleinen Beträgen, die einen Teil meiner — zumal früher nicht unerheblichen — Auslagen ersetzten, durch die Preußische Akademie der Wissenschaften, neuerdings durch die Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft und durch die Schleswig-Holsteinische Universitätsgesellschaft gefördert worden, was ich durchaus und dankbar anerkenne. Ich bin aber sehr wahrscheinlich nunmehr zu alt geworden, um noch außer anderen Arbeiten, deren Vollendung mir am Herzen liegt, für jene einen Abschluß zu erleben, der mich befriedigen könnte. Ich hoffe indessen, meine aufgehäuften Materialien guten Händen und gleichgesinntem Streben zu hinterlassen, und ich wünsche lebhaft, daß

Das soziale Leben der Familie

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diese soziographische, empirische Richtung der Soziologie mit derjenigen zusammenfließen möge, die durch den großen Vorgang der Deutschen Akademie in hoffnungsvoller, ja bewunderungswürdiger Weise eingeschlagen wurde. Wie die Soziale Frage in ihrer gesamten Bedeutung sich 5 nicht irre machen läßt durch die verständnislose unkundige „Erklärung" einer Regierung des Reiches oder irgendeines deutschen Staates, so wird auch die von der Sozialen Frage postulierte theoretische und induktive Sozialwissenschaft an der Ungunst, die ihren Fortschritt bisher gehemmt hat und~wahrscheinlich dank der Stupidität gewisser augenblicklich vor10 waltender Parteirichtungen noch ärger und verhängnisvoller hemmen wird, nicht scheitern. Innerhalb der ungeheuerlichen Wirrsal, die infolge der Weltkrise heute auf dem Leben und Denken des deutschen Volkes lastet, erhebt gerade die Soziale Frage dringender als je zuvor ihr Haupt und wird es nicht wieder senken. Darum ist auch dem Studium der sozia15 len Tatsachen seine Zukunft gewiß. Und unter den sozialen Tatsachen gibt es keine, die wichtiger wären als die Tatsachen der Familie.

Takt in der Politik Bemerkungen

zu einer unerfreulichen

Episode

Was der Takt bedeutet im sozialen Leben überhaupt, kann uns nur die Erfahrung lehren. Denn oft erfahren wir, daß mit einem glücklichen, vollends mit einem feinen Takt, viele Schwierigkeiten gelöst werden, besonders solche, die aus den Verschiedenheiten der sozialen Stellung, also des Ranges, des Vermögens, sogar der Klugheit und Bildung entspringen. Noch mehr aber erfahren wir in dieser Hinsicht negativ: der Mangel an Takt ist oft verhängnisvoll. Und er läßt sich allzuoft beobachten im Verhalten der Höhergestellten zu denen, die weniger sind oder weniger vorstellen als sie. Jene verletzten und kränken oft, ohne es zu wollen, ihre Mitmenschen, von denen sie meinen, daß sie durch jede Art einer nicht unfreundlichen Anrede sich geehrt fühlen müssen, oder daß sie das Boshafte und Verächtliche ihrer Redeweise und ihres Tones nicht merken, weil sie eben einfache Leute seien. Die gröbsten Irrtümer werden in dieser Hinsicht von Herren und Damen begangen, die sich ihrer überlegenen Bildung sicher fühlen und durch mangelhaften Takt sich auszeichnen. Wir hatten einen Monarchen, der mit Geistesgaben nicht übel ausgestattet war und ohne Zweifel den guten Willen hatte, nicht ohne Weisheit zu regieren, auch schon als guter Christ eines gewissen Wohlwollens für sein Volk und besonders für die Leidenden, die Armen sich fähig und i Takt in der Politik.

Ferdinand Tönnies wurde mit diesem politischen Angriff auf die

Reichsregierung vom „Vorwärts" (Berliner Volksblatt[.] Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschland^] Jg. 4 9 , Nr. 3 3 1 , Morgenausgabe, S. l f . ; Fraktur) am Sonnabend, dem 16. 6. 1 9 3 2 , auf die Titelseite gehoben, rechts oben in die H a u p t k o m mentarspalte; mit einem Vorspann: „Man darf wohl erwarten, daß diejenigen, die es angeht, dem berühmten Verfasser, dem Altmeister der deutschen Soziologie, für seine wohlgemeinten Lehren dankbar

sein werden! Red. d. V.". Links daneben erscheint

zweispaltig der Aufmacher: „SA.-Ueberfall in Halle." („Sturm auf Gewerkschaftshaus / Blutige Köpfe für die Angreifer"), darunter aber, kaum zufällig, gleich breit laufend ein Appell-Artikel an die wohl beabsichtigte Kommentar-Zielgruppe: „An die Angestellten!" („Am 3 1 . Juli entscheidet die Reichstagswahl über euer Cb 5 4 . 3 4 : 5 7 . 19 Wir hatten einen Monarchen

— d. i. Wilhelm II.

Schicksal.")

— S. a.

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Takt in der Politik

sicher fühlte. Aber er ermangelte des Taktes beinahe gänzlich. Er wurde in Europa verrufen durch seine Taktlosigkeit, und auch mancher aufrichtige Verehrer seiner Person und seiner kaiserlichen, auch königlichen Majestät hat ihm in Gedanken zugerufen: O, wenn du geschwiegen hättest! Einmal schien sogar eine Krise seiner Regierung aus einer Reihe von Taktlosigkeiten, die plötzlich offenbar wurden, hervorzugehen. Sein leitender Minister ließ sich von ihm das Versprechen geben, eine gute Weile zu schweigen. Kurze Zeit hat er es ausgehalten, dann wurde er rückfällig und seine Taktlosigkeiten nahmen weiter ihren Lauf. Ob und wie sie zu seinem Sturze beigetragen haben, kann im einzelnen noch nicht nachgewiesen werden. Wenn Taktlosigkeiten meistens in Worten geschehen, so gibt es doch auch Taktlosigkeiten in Handlungen, und die Ueberschreitung der holländischen Grenze, die im Volk allgemein als „Fahnenflucht" gedeutet wurde, war in Wirklichkeit vielleicht nur eine neue große Taktlosigkeit. Haben wir heute ein Kabinett der Taktlosigkeit? Eine Taktlosigkeit haben die Ratgeber des Reichspräsidenten allerdings sich zuschulden kommen lassen, als sie ihn bewogen, aus den Trümmern der Deutschnationalen Partei eine Regierung zu bilden, die ihrem Wesen nach eine nationalsozialistische Regierung ist in fadenscheinigen Deutschnationalen Kleidungsstücken. Eine Taktlosigkeit war es, daß diese Regierung mit einer Erklärung sich einführte, in der sie den Wohlfahrtsstaat verspotten zu sollen meinte: angesichts unerhörter Notstände, denen die 4 O, wenn

du geschwiegen

Latein (Si tacuisses,

hättest!

philosophus

Dt. Übersetzung eines Reims aus dem Gelehrten-

mansisses,

svw. „Hättest du geschwiegen, w ä r s t , w e i s e '

du geblieben"). Dieser Sprachstil aus dem humanistischen Gymnasium ist Festhaltens wert, weil selbst im „Vorwärts" ununterdrückbar: Obwohl Tönnies die Stimme heben will, ist das ihm so ungewohnt, daß er den Hörerkreis durch Antikisieren wieder verkleinert. Typisch auch, was er für eine Schlusspointe hält (vgl. u. Anm. S. 2 9 8 ) . 6 Sein leitender

Minister

— Erwähnt wird hier das Interview Wilhelms II. vom 2 8 . 10.

1 9 0 8 , er stehe in Deutschland als Englandfreund allein. Dies löste im Reich eine Verfassungskrise, in England Verstimmungen aus („Daily-Telegraph-Affäre"). Auf Druck u. a. des Reichskanzlers Bernhard Fürsten von Bülow sagte der Kaiser am 17. 11. 1908 künftige Zurückhaltung zu. 14 Fahnenflucht

— Der Deutsche Kaiser, König von Preußen und Oberbefehlshaber Wil-

helm II. floh vor der Novemberrevolution 1918 nach Holland und lebte dort noch 1932. 16 Kabinett

der Taktlosigkeit

— gemeint ist das „Kabinett der nationalen Konzentration"

des Reichskanzlers Franz von Papen seit dem 1. 6. (bis zum 3. 12.) 1 9 3 2 . 17 des Reichspräsidenten 18 aus den Trümmern partei (DNVP).

— d. i. von Hindenburg. der Deutschnationalen

Partei

— d. i. die Deutschnationale Volks-

296

Schriften

vorige Regierung auf Kosten einiger hilfsbedürftiger und unfähiger Grundbesitzer abzuhelfen eben beflissen war. Der diese Erklärungen verfaßt hat, dürfte eine dünne Notiz in einem alten Kollegienheft gefunden haben, das einem jener ehemaligen Professoren nachgeschrieben war, die noch den Liberalismus des Gehen-Lassens und Geschehen-Lassens hochhielten, dem damals auch im Sinne des Nichts-als-Freihandels die Gelehrten der Landwirtschaft freudig huldigten. Leider macht manches, was zu seiner Zeit durchaus ernst genommen ward und es verdiente, im Lichte eines späteren Tages leicht einen komischen Eindruck. Eine Taktlosigkeit war es von einem Minister des Innern, der einer Republik zu dienen sich verpflichtet hat, zu bekennen, daß er nach der Wiederherstellung der Monarchie sich sehne und nur aus Mitleid mit dem armen Volke, das einiger Schonung bedürfe, wolle er sich enthalten, unmittelbar auf die Gegenrevolution hinzuarbeiten. Aus Mitleid möchte man unterlassen, die Reihe der Taktlosigkeiten aufzuzählen, deren der Chef dieses Kabinetts zum Schaden der guten Sache, die er ohne Zweifel im besten Sinne zu vertreten wünschte und meinte, in Lausanne sich hat zuschulden kommen lassen. Konnte er nicht vorher wissen, daß er durchaus ungeeignet war, einen taktvollen und in derselben Sache schon erfahrenen und geschätzten Mann wie Herrn Brüning zu ersetzen? Wenn der Ausfall der preußischen Landtagswahlen den Ratgebern des Reichspräsidenten die Meinung eingab, der überwiegende Volkswille sei nunmehr „rechts" gerichtet, hätten diese Barone nicht den guten Takt haben müsi auf Kosten

einiger hilfsbedürftiger

und unfähiger

Grundbesitzer

— dies meint das Sied-

lungsprogramm der Regierung Brüning („Osthilfegesetz") von 1931, das diesen Hindenburgs Unterstützung kostete. des Innern — Der neue Reichsinnenminister Frhr. von Gayl hatte am 9. 6. 1932

10 Minister

vor dem Reichsrat (von der Presse stark beachtet) erstmals programmatisch gesprochen und gesagt: „Ich würde mir erbärmlich vorkommen, wenn ich auf dem Ministersessel versuchen würde, meine [...] selbsterworbene Überzeugung zu verleugnen, daß ich die Monarchie für die angemessenste Staatsform für ein Volk inmitten des Herzens von Europa halte" (Schwerin 1972: 175). 15 der Chef

dieses

Kabinetts

— Am 16. 6. war noch nicht klar: von Papen heimste am

9. 7. 1932 als Reichskanzler auf der Weltschuldenkonferenz von Lausanne die Verhandlungserfolge seiner Vorgänger ein, die Streichung aller restlichen Reparationen für den Ersten Weltkrieg, wie sie zuletzt (seit 1930) noch der Young-Plan (gemildert) aufrecht erhalten hatte. 21 den Katgebern 23 hätten

diese

des Reichspräsidenten Barone

die Meinung

eingab

— wieder: von Hindenburgs.

— Die (erstmals in der Weimarer Republik) mehrheitlich adelige

Reichsregierung von Papen wurde nach der ihre Berufung meldenden Schlagzeile des „Vorwärts" vom 1. 6. 1932 als „Kabinett der Barone" redensartlich.

Takt in der Politik

297

sen, zu erkennen und zu erklären, daß keineswegs sie durch den Volkswillen, wie immer man dessen scheinbare Zeichen deuten mochte, gemeint waren; daß überhaupt die Wahl in Preußen keinen Grund gab, noch einmal — für die Mehrzahl zum viertenmal innerhalb weniger Monate — Bürger und Bürgerinnen im ganzen Reiche an die Wahlurne zu rufen, und daß die von oben geschehene Wahl in Verbindung mit den Taten dieses neuen Kabinetts nur geeignet war, eine tiefe Verstimmung hervorzurufen. Hat denn die Reichsverfassung ohne guten Grund die Wahl regelmäßig für vier Jahre gelten lassen wollen? Ist denn die Haken kreuz-Partei nicht schon viel zu stark vertreten gewesen durch 110 Abgeordnete, die ihr Mandat dadurch ausübten, daß sie davonliefen?! — Ein Kabinett der Taktlosigkeit kann nicht lange bestehen und wird niemand zur Ehre, geschweige zum Ruhme gereichen. Es wird eine der unerfreulichsten Episoden in der kurzen Geschichte der deutschen Republik bilden, zumal da es mit dem Geiste, wenn nicht mit dem Buchstaben der neuen Reichsverfassung in Widerspruch steht. Seine Bildung sollte dem heiseren Geschrei derer genug tun, die ohne einen Funken von politischem Verständnis sämtliche frühere Regierungen der gleichen Verurteilung unterwarfen: Regierungen, die sehr verschieden zusammengesetzt waren, zumeist aber aus Männern, die von verschiedensten Parteilagern stammend doch in gutem Willen übereinstimmten, dem Reiche aus den ungeheuren Schwierigkeiten der Zeit emporzuhelfen, und innerhalb deren fast jeder einzelne an Geist und Fähigkeit mehr Garantien bot als je zwei zusammen von den neuernannten Herren: Garantien für ihre Fähigkeit, für ihren Verstand. Dies galt besonders für den, der an der Spitze jenes letzten Kabinetts stand und inmitten eines durchdachten Planes seiner Arbeit entrissen wurde, für den eben vorher noch die Präsidentenwahl dargetan hatte, daß er mit dem wiedergewählten Reichspräsidenten noch eine große Mehrheit der Nation auf seiner Seite hatte; entrissen wurde, weil unberufene Auch-Politiker, von einem ausländischen Dilettanten angeführt, meinten, in seinem „System" das ganze republikanische System zu stürzen und also die republikanische Reichsverfassung tödlich zu treffen.

9 Hakenkreuz-Partei — d. i. die NSDAP. 25 an der Spitze jenes letzten Kabinetts stand Heinrich Brüning, Reichskanzler 1930—32. 27 die Präsidentenwahl — die Tönnies gerade zum Anlass der Warnung vor Hitler genommen hatte (s. o. Anm. S. 266). 30 von einem ausländischen Dilettanten — d. i. vom Österreicher Hitler.

298

Schriften

Möge jeder, der die Gegenrevolution und Wiederherstellung der Hohenzollern nicht will, diese Erkenntnis sich zu eigen machen und gemäß dieser Erkenntnis sich an der Wahlhandlung beteiligen. Er wird sich selber und seinen Klassen- oder Standesgenossen dadurch vielen Kummer ersparen — jenen Kummer, den immer diejenigen erleben, die nachher s klug sind — wie Epimetheus in der griechischen Sage! —.

6 Epimetheus,

[gr.] „der nachher Bedenkende", war in der griechischen Sage der Halb-

bruder des Kulturbringers Prometheus („des zuvor Bedenkenden").

Schleswig-Holsteiner, hört! O f f e n e r Brief a n meine L a n d s l e u t e in der N o r d m a r k Ich spreche zu euch, meine lieben Landsleute, als ein alter Mann. Ein alter Mann ist ein erfahrener Mann und die Erfahrung bedeutet gerade in politischen Dingen viel. Auf Grund meiner Erfahrung und meiner Beobachtung des sozialen Lebens, die mehr als 60 Jahre gedauert hat, behaupte ich, daß der Weg, den die sogenannte Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei geht und euch führen will, ein Irrweg ist. Aus dem Wahn, als ob er ein richtiger Weg wäre, kann es nur ein trübseliges Erwachen geben, wenn man wirlich diesen Weg gehen würde. Diese NSDAP, ist eine Partei, die keine Partei sein will und doch sein muß, eine Partei, die einen Ausländer, der unsere Verhältnisse gar nicht kennt, zum Führer hat, einen Mann, den ein unklares, schwärmerisches, auf Unkenntnis der Wirklichkeit beruhendes Denken auszeichnet, der mit seinem schwachen Geiste sich einbildet, Probleme zu lösen, an denen i Schleswig-Holsteiner, hört! Hervorgehoben wie sonst nie — übermorgen war die Reichstagswahl — veröffentlichte Tönnies diesen Appell am Freitag, dem 29. 7. 1932, auf der Titelseite der Tageszeitung „Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung". („Organ für das arbeitende Volk", Kiel, Jg. 39, Nr. 176, S. 1; Fraktur. Die beiden Kopfzeilen nehmen links 3 Spalten ein; die dritte lautet: „Von Geheimrat Ferdinand Tönnies, Prof. an der Universität Kiel, Dr. phil., Dr. jur. h. c., Dr. rer. pol. h. c." Beide sodann im Text selbst hervor gehobenen Aufrufzeilen werden hier entsprechend vergrößert, also ausnahmsweise nicht nur kursiviert. Nicht wiedergegeben wird der Kunstgriff der Setzerei, typographisch jeden zweiten Absatz des Offenen Briefes etwas schmaler und enger auszubringen. Redaktioneller Aufmacher über alle 4 Spalten ist „Haut sie zusammen!", Untertitel „Diebesgeschrei der Reaktion — Macht Schluß am Sonntag!"; plakativ schließt „Wählt Liste 1 Sozialdemokraten!" die Seite ab.) - Tönnies' innerer Anschluss besonders an den hier vorangehenden Text ist unverkennbar (s. o. S. 294—298). 13 einen Ausländer — d. i. den geborenen Österreicher Hitler — s. o. Anm. S. 266. 16 mit seinem schwachen Geiste — Hier ist der Rechtsbegriff der „Geistesschwäche" einschlägig (BGB: Entmündigung, § 6,1, Z. 1, RGBl Nr. 21 vom 18. 8. 1896). Der juristisch gelehrte Tönnies vertraute mit solcher Wortwahl im Falle eines Beleidigungsprozesses womöglich auf den Wahrheitsbeweis, zumindest auf ein für Hitler absehbar peinliches Gutachterverfahren; auf sein Urteil, Hitler sei „geistig nicht gesund", wird verwiesen (s. u. Anm. S. 307).

300

Schriften

teils durch die Jahrhunderte, teils wenigstens seit etwa hundert Jahren die besten Geister der Nation gearbeitet haben; sie ist eine Partei, deren Endziel eine heillose Zerrüttung aller Verhältnisse sein würde, die allmählich sich gebessert hatten, bis eine Weltkrisis eingetreten ist, unter der auch die von Reichtum strotzenden Vereinigten Staaten Amerikas ebenso schwer leiden wie unser verarmtes deutsches Reich: die Vereinigten Staaten, die von dem schrecklichen Weltkrieg nur Gold und Gewinn eingeheimst haben, während er in Europa ungefähr ebensoviel zerstört hat, wie vor 300 Jahren der 30jährige Krieg. Adolf Hitler redet töricht als einer, der vom Wesen und den Ursachen dieser Katastrophe des kapitalistischen Wirtschaftssystems nichts weiß und in seiner Unwissenheit die Schuld auf die deutsche Arbeiterklasse zu schieben wagt, und auf die Partei, die Rechte und Interessen der deutschen Arbeiterschaft vertritt; sie ist eine Partei, die allen alles verspricht und zwar so, daß das, was dem einen versprochen wird, die Versprechungen, die dem anderen gegeben werden, unmöglich macht; eine Partei, die aus bewußter Unwahrhaftigkeit, groben Irrtümern und blinden Gefühlen, die sie an die Stelle wissenschaftlichen Denkens schiebt, zusammengesetzt ist; kurz, eine Partei, zu der ein Denkender, zumal ein politisch Denkender, sich nicht bekennen kann. Ich halte es für meine Pflicht, vor der Verworrenheit und dem Aberglauben zu warnen, die in dieser Partei herrschen, weil nur unheilvolle Folgen daraus hervorgehen können. Ich für meine Person, aber auch meine Angehörigen und meine Freunde, die es auf Grund gemeinsamer wissenschaftlicher Arbeit geworden sind, wir stimmen f ü r die Liste 1, weil wir überzeugt sind, daß die SPD. die sicherste Schutzwehr der bestehenden Verfassung ist, Schutzwehr gegen die offenen oder verstoh13 auf die Partei — d. i. die SPD. 15 sie ist eine Partei — d. i. nunmehr die NSDAP (grammatikalisch ungeschickt, typographisch aber eindeutig). 29 die sicherste Schutzwehr der bestehenden Verfassung-, Ein materieller Verfassungsbruch der Reichsregierung (nach Tönnies' Urteil ohnehin einer latent nationalsozialistischen, s. o. S. 295, Z. 19—21) lag nur neun Tage zurück: der Putsch in Preußen. Reichskanzler von Papen hatte Tönnies' eigene, sozialdemokratische Landesregierung am 20. 7. 1932 amtsenthoben („Preußenschlag").

Schleswig-Holsteiner, hört!

301

lenen Begünstiger einer Wiederherstellung der Monarchien: es ist kein Wunder, daß die ehemaligen Monarchen, ihre Familien und ihre Günstlinge, nach dieser Wiederherstellung sich sehnen, obgleich sie wissen, daß sie ein politisches Chaos im Gefolge hätte. Hüten wir uns davor, solange es Zeit ist.

Urteile und ihre Zuverlässigkeit Nicht ohne Bewegung wird ein Freund der Konsumgenossenschaften die Mitteilungen aufnehmen, die in Vollrath Klepzigs Aufsatz „Die Leistungskraft der Konsumgenossenschaften" enthalten sind. Zwei hohe Gerichtshöfe stehen einander gegenüber. Der Spruch des höchsten Gerichtshofes hat entscheidende Geltung. Daraus folgt aber nicht, daß er unzweifelhaft richtig ist. Salvo errore — unter Vorbehalt des Irrtums — muß über jedem gerichtlichen Erkenntnisse stehen. Und man ist nicht gehalten, zu vermuten, daß das jedesmal höhere Gericht auch das weisere sei. Das letzte Erkenntnis bedeutet nicht die letzte Erkenntnis. So ist auch nicht gesagt, daß ein Gutachten des „Instituts für Konjunkturforschung" in einer Frage des Konsumvereinswesens die richtige Einsicht besitzt. Was die Konsumvereine im Lande Thüringen betrifft, so würde ich vermuten, daß die Gerichte in Thüringen, insbesondere das Oberlandesgericht in Jena, eher in der Lage sind, die Verhältnisse und Betriebskosten des Einzelhandels in Thüringen zu kennen oder kennenzulernen, als das Reichsgericht in Leipzig ungeachtet seiner überlegenen Autorität. Ich zweifle, ob irgendeinem hohen oder minder hohen Gericht hinlänglich bekannt ist, in welcher Weise die Wörter „Durchschnitt" und „durchschnittlich" gebraucht werden. Ein oberflächlicher und leichtfertiger Gebrauch dieser Wörter läßt sich ganz besonders im Geschäftsleben i Urteile und ihre Zuverlässigkeit.

— Diese Urteilsschelte erschien im Wochenblatt „Kon-

sumgenossenschaftliche Rundschau" („Organ des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine e. V. und der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine m. b. H . , H a m b u r g 1 " , Jg. 29, Sonnabend, 10. 9. 1 9 3 2 , Nr. 3 7 , S. 7 1 4 ; Fraktur; Trägerin: Verlagsgesellschaft deutscher Konsumvereine m. b. H . , zu deren Geschäftsführern

Vollrath

Klepzig zählte, dem unser Autor hier beispringt). Tönnies' Interesse an der Genossenschaftsbewegung ist alt (vgl. „Höffding über Konsumgenossenschaften", im gleichen Organ, damals „Wochen-Bericht der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine", 1 9 0 1 , S. 7 3 0 f . ; T G , Band 5; sowie überhaupt GuG, 3 „Die

Leistungskraft

der Konsumgenossenschaften"

TG, Band 2).

— ebd.

(„Konsumgenossenschaft-

liche Rundschau", 3. 9. 1 9 3 2 , Nr. 3 6 , S. 6 9 8 f.). Diesem Beitrag entnimmt Tönnies die wesentlichen Einzelheiten. Das „Institut für Konjunkturforschung" (Berlin) w a r eine 1 9 2 5 e r Ausgründung des Statistischen Reichsamtes unter Beteiligung der Spitzenverbände der Wirtschaft (auch der Genossenschaften; 1 9 9 8 : „Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V.").

Urteile und ihre Zuverlässigkeit

303

beobachten. Es ist nur allzu üblich, wenn jemand im Grunde nur sagen will und sagen kann, es sei etwas „manchmal" so und so oder auch nur, er kenne solche und solche Fälle, daß er hinzufügt — vielleicht gedankenlos, vielleicht mit ganz bestimmter Absicht —: es ist durchschnittlich so oder es ist im Durchschnitt nicht so. Wenn damit etwas bekräftigt oder wohl gar bewiesen werden soll, was in hohem Grade unwahrscheinlich ist, so ist der Verdacht begründet, daß mit Absicht ein mehrdeutiger Ausdruck gebraucht wird. Denn in der Tat, auch die meisten Leser sind leicht zufrieden, zumal wenn ihnen überhaupt die Sache angenehm ist, das als regelmäßig zu verstehen, was als durchschnittlich vorhanden behauptet wird. Ein wissenschaftlich-statistisches Verständnis ist auch den Juristen in der Regel — ich sage nicht durchschnittlich — ebenso fremd wie etwa die wissenschaftliche Astronomie oder Chemie. Die Gerichte holen in solchem Falle Gutachten ein, und nicht ohne Grund hat das Reichsgericht erwartet, daß das Institut für Konjunkturforschung wisse, was ein Durchschnitt ist, und also wohl eine richtige Schätzung der durchschnittlichen Kosten des konsumgenossenschaftlichen Betriebs ebenso wie des anderen Lebensmitteleinzelhandels vornehmen könne. Aber gewiß nicht mehr als eine Schätzung! Und Schätzungen bleiben immer um so mehr unsicher, je größer und mannigfacher das Gebiet ist, über das man eine Schätzung anstellt. Daher ist der Statistiker vom Fach gegen Schätzungen in hohem Grade mißtrauisch. G. von Mayr unterscheidet Schätzungen eines zeitlich späteren Zustandes auf Grund früherer Zählungen und Messungen, und Schätzungen, wenn eine allgemeine unmittelbare Beobachtung der in Frage stehenden Tatsachen nicht möglich ist, wenn aber gewisse Erscheinungsformen dieser Menge, die einen Rückschluß auf die zu erfassende Masse gestattet, beobachtbar sind. Er sagt gerade von dieser Art der Schätzung, sie entbehre den Charakter der Zuverlässigkeit. Nicht mehr als solche einzelne Beobachtungen können der Natur der Sache nach im gegebenen Falle vorliegen. Demnach muß die allgemeine Behauptung, daß die Betriebskosten der Konsumgenossenschaften durchschnittlich um 4 0 % höher liegen als bei den Lebensmitteleinzelhändlern, als eine dreiste und frivole Behauptung betrachtet werden nach Art der Behauptungen, die man hinlänglich kennt aus Presse und Wahlflugblättern gewisser Parteien, die ohne alles Studium und ohne alle Kenntnis das Blaue vom Himmel herunter behaupten, ebenso wie sie dadurch berüchtigt sind, daß sie versprechen, was sich widerspricht und sich ausschließt, also sinnlos oder absurd ist. Das allermindeste, was zur Begründung einer

304

Schriften

solchen im höchsten Grad unwahrscheinlichen Behauptung wissenschaftlich geboten wäre, würde eine förmliche und öffentliche Enquête sein, eine parlamentarische oder Regierungsenquête: die letztere wäre sogar, wenn von einer Regierung wie der heutigen Reichsregierung eingesetzt, immer noch zuverlässiger. Jedenfalls müßte eidliches Verhör der interessierten Zeugen vorgeschrieben sein. Auch dann noch sind sehr scharfe Kautelen gegen tendenziöse und wahrscheinlich falsche Angaben dringend geboten, z. B. auch die schärfsten Vorschriften über den Begriff der „Kosten"! Denn gerade hier ist der gröbste Mißbrauch möglich und sogar gemäß der üblichen Moral des Geschäftslebens sehr wahrscheinlich. Glaubwürdiger als das Urteil auch des höchsten Gerichts wäre das Urteil einer Kommission von wissenschaftlich sachverständigen, unabhängigen Personen, deren es in Sachen des Genossenschaftswesens im allgemeinen und der Konsumgenossenschaften im besonderen sowie der Praxis des Handels im allgemeinen und des Lebensmitteleinzelhandels im besonderen im Deutschen Reich etwa einundeinhalb Dutzend geben mag. Ohne in Anspruch zu nehmen, ein solcher Sachverständiger zu sein, möchte ich hiermit solche auffordern, ihr Urteil über die Wahrscheinlichkeit und Begründetheit der hier in Frage stehenden Behauptung kundzugeben. Ich für meine Person nehme nur das Urteil eines Logikers und Soziologen für mich in Anspruch und kann das Urteil Klepzigs, daß das Reichsgericht, d. h. dessen zweiter Zivilsenat nicht in der Lage war, die fragliche Behauptung für bewiesen zu halten, nur bestätigen.

21 das Urteil eines Logikers

und Soziologen

— hier ist auch ein mittelbarer Anlass zu

suchen: Tönnies nimmt als Soziograph und Statistiker Stellung, also zu einem seiner Themen dieser Jahre.

Erhebung? Wer den Mann reden hörte, der sich rühmt, daß er vor 13 Jahren „als namenloser unbekannter Soldat seinen Weg eingeschlagen habe", daß er nie umgekehrt sei und nicht umkehren werde, pflegt zu sagen: wie immer man über den Inhalt seiner Reden denken möge, er sei ein guter, ein bedeutender Redner. Ich habe nicht den Vorzug, zu denen zu gehören, die Adolf Hitler reden hörten. Ich würde mir aber, grundsätzlich und meiner Erfahrung nach, niemals durch eine leere Redegewandtheit imponieren lassen, sondern fühle mich verpflichtet zu fragen: was sagt denn der Mann, was hat er gesagt? Ich habe eine Provinzialzeitung vor mir, in der mit offenbarer Begeisterung über eine Hitlerrede berichtet wird. Diese Rede ist in Flensburg, am 23. April vor angeblich 5 0 0 0 0 Menschen gehalten worden, und es wird ausgesprochen, der Mann habe ungefähr dieselben Ausführungen wie in Kiel, Winsen a. d. L. und in Hamburg gemacht. Man darf wohl hinzufügen: an hundert anderen Orten. Der ohne Zweifel sehr wohlwollende Bericht der „Hamburger Nachrichten" wird wiedergegeben. Was steht darin? Durch die nationalsozialistische Bewegung sei ein Band gezogen worden um alle Deutschen. Es sei sehr schlimm bestellt um die heutigen Parteien: sie hätten nun fast vierzehn Jahre lang regiert und seien nicht i Erhebung? — Ausgehend von der Analyse einer ihm vorliegenden (nicht einer selber angehörten) Hitlerrede veröffentlicht Tönnies sein Urteil in: Deutsche Republik („Begründet von der Republikanischen Arbeitsgemeinschaft Ludw. Haas, Paul Lobe und Josef Wirth", Bd. 6, II. Teil, Frankfurt a. M. April-September 1932, S. 1168-1170). Naheliegend, dass es bereits im April verfasst wurde (d. h. nach den Reichspräsidentenwahlen, s. o. S. 269), spätestens aber vor der Reichstagswahl vom 31. 7. 1932 (vgl. den lt. Satz). Der Artikel wird redaktionell (in den beiden ersten Sätzen wohl auf Tönnies' eigne Worte gestützt) eingeleitet: „Nicht um den Lesern der ,Deutschen Republik' etwas zu sagen, was ihnen neu sein könnte, nimmt der greise Gelehrte, der Vorsitzende der ,Deutschen Gesellschaft für Soziologie', das Wort zu den nachstehenden Ausführungen. Aber er hält sie gerade für die Pflicht eines Mannes, der die Geschichte des Deutschen Reiches von 1871 (Ferdinand Tönnies war damals 16 Jahre alt) bis heute denkend durchlebt hat, sich so stark und eindeutig zu dem Phänomen Hitler zu äußern. Wir fügen hinzu, daß nicht allein die Reife des Alters, sondern auch der Weltruf, den Ferdinand Tönnies sich mit seiner wissenschaftlichen Arbeit erworben hat, seiner Stimme besonderes Gewicht geben." (Korrekt war Tönnies „Präsident" der DGS.) 10 eine Provinzialzeitung — nicht ermittelt.

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in der Lage, ihre Leistungen für sich sprechen zu lassen. Sie könnten nicht behaupten, daß sie Deutschland in seiner Wirtschaft gerettet hätten, daß es „glücklicher" geworden sei. Darum „müssen" sie versuchen den Gegner, d. h. die Nationalsozialisten, mit einer Flut von Lügen und Verleumdungen von gefälschten und verfälschten Verdächtigungen herunterzusetzen. Wenn man ihm, Hitler, noch 30 Jahre Zeit gebe zur Arbeit, „dann werden nicht dreizehn, sondern 60 Millionen hinter uns stehen". Man sage, die Nationalsozialisten würden die deutsche Wirtschaft ruinieren. „Was kann überhaupt an der deutschen Wirtschaft noch ruiniert werden?" Man sage, daß die Herrschaft des Nationalsozialismus Inflation bedeute. „Wer hat sich auf dem Gebiete des Inflationswesen denn bisher so unübertrefflich sachverständig erwiesen? Unsere bisherigen Parteien." Man sage, ihr wollt die Errungenschaft der Revolution abbauen. Welche denn? — Man sage die Sozialerrungenschaften der Revolution. „Wo sind sie denn?" „Sie sollen nicht dauernd von sozialen Errungenschaften sprechen, sondern sollen sie doch benennen." „Sie wissen genau, es ist heute von Errungenschaften keine Rede mehr. Nur Zusammenbruch, Elend, Verkommen, Ruin. Das ist die eigentliche Errungenschaft." Man sage: wir würden die Finanzen zerstören. „Wer könnte heute die Finanzen noch in Unordnung bringen? Im Reich, in den Ländern und den Kommunen haben sie unübertrefflich gezeigt, wie man ein gesundes Finanzwesen (er meint das von 1919!!) restlos demoliert." In diesem Stile wird dann fortgefahren, mit der Schilderung der heutigen — Weltkrise, einer Krise, die in den siegreichen Staaten Großbritannien und den Vereinigten Staaten, ganz in gleicher Weise sich geltend macht wie in dem armen Deutschen Reich und in Oesterreich. Das ist die Redeweise eines nicht nur unverantwortlichen, sondern eines schlechthin unwissenden und gewissenlosen Mannes, der sich für einen Politiker ausgibt und nichts ist als ein — Redner. Es wird fortgefahren, die „Systemparteien" suchten heute von einer Zerstörung Deutschlands in der Zukunft zu reden und möchten damit gern vergessen machen, daß man Deutschland bereits zerstört habe! „Das ist das Ergebnis ihrer Arbeit und sie wissen das auch." Daraus erkläre sich das kleinliche und erbärmliche Lügen. Aus der Flut der Verleumdungen erkenne man, wie verloren die Sache sei, für die mit solchen Mitteln geworben werde. Es folgt dann die übliche Ruhmredigkeit, mit dem Schlüsse, daß das deutsche Volk in der größten Erhebung begriffen sei, und es wird unverhohlen hinzugefügt, das sei sein, des Redners, Verdienst: die größte Erhebung des schon zerstörten Deutschlands.

Erhebung?

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In diesem Stile wagt es ein Mann, der auf keine Leistung außer auf einen mißratenen Putsch in München und auf ein gebrochenes Ehrenwort hinweisen kann, von sämtlichen anderen Partien zu reden, von den Männern und Frauen insgesamt, die sich noch zutrauen gegen ihn zu votieren. Ich behaupte: das ist entweder die Redeweise — und dies glaube ich nicht — eines Schwindlers, oder die Redeweise eines geistig nicht gesunden Mannes. Ein drittes gibt es nicht. Für mich ist noch in diesem Augenblicke die Tatsache, daß dieser Mann so gesprochen hat (in hundert Orten, darunter in den volkreichsten Städten), unglaublich. Ich muß mich fragen: Wohin ist das „Volk der Dichter und Denker" geraten? Ist der deutsche Geist wirklich durch den Weltkrieg so heruntergekommen? Oder ist der Erfolg des Redners Hitler nichts als der Ausdruck einer geistigen Zerrüttung, die als eine fürchterliche Folge der kapitalistischen Wirtschaft keineswegs zum erstenmal, aber wahrscheinlich in so arger Weise wie niemals zuvor, auf den Nationen Europas und Amerikas lastet, und man kann sagen, auch auf die ganze übrige Erde ausstrahlt? Ich glaube allerdings, daß dem so ist; daß aber auch außer dem besonderen und vernichtenden Unheil, daß unser Vaterland betroffen hat, die Ausdehnung des Wahlrechtes durch die sonst so kluge Weimarer Verfassung auf politisch unreife junge Männer und Frauen, eine verhängnisvolle Schuld hat. Und ich leuge daher, daß wirklich eine Willenskundgebung, an der diese mit fast 7 Millionen beteiligt sind (so etwa würde sich bei einer neuen Reichstagswahl das Verhältnis stellen: 7 : 3 6 ) eine Willenskundgebung des deutschen Volkes ist; und ich behaupte, daß, wenn diese politisch minderwertigen Jahrgänge ausgeschaltet würden, das Ergebnis nicht nur ein vernünftigeres, sondern auch ein im Sinne der Demokratie sachgemäßeres sein würde.

2 Putsch in München 2 ein gebrochenes

— Hitlerputsch 9. 11. 1923.

Ehrenwort

— Hitler hatte vor dem Reichsgericht (im „Ulmer Reichs-

wehrprozess", Sep./Okt. 1930) die Legalität seiner „Bewegung" beschworen. Worin genau Tönnies den Wortbruch sieht, äußert er hier nicht; unterschiedliche Anlässe sind denkbar. 6 eines geistig nicht gesunden

Mannes

— Vermutlich in der hier dokumentierten Beschäfti-

gung mit Hitler wird es erstmals unbemäntelt ausgebracht: Tönnies' Urteil, jener sei wahnsinnig (vgl. auch das Sachregister: „Geisteskrankheit: Hitler"). 10 Ich muß mich fragen gen").

— im Original steht offenbar ein Setzfehler („Ich mich mich fra-

Rudolf Goldscheid (1870-1931) Wenn wir des nun hingeschiedenen Mannes trauernd gedenken, so wendet sich unser Blick zu allererst seinen Verdiensten um die neuere Entwicklung der Soziologie und vor allem um die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zu. Der Gedanke einer solchen Gesellschaft hat zuerst in ihm Gestalt gewonnen; das Zustandekommen des ersten

Soziologentages

1910 war sein Verdienst: er hatte die oft wenig dankbaren Besuche jener Gelehrten nicht gescheut, die in Österreich und Deutschland seiner Schätzung nach ein hinlänglich lebhaftes Interesse für die Sache hätten; und der Erfolg war nicht gering. Die unvermeidliche Stockung, die mit dem Ausbruch des Weltkrieges in diese Bestrebungen hineinkam, ist nach dem Ende dieser erschütternden Episode nicht leicht überwunden worden; an der Uberwindung hat Goldscheid mit redlichem Eifer teilgenommen und hat von Anfang an bis zu seinem Scheiden dem Geschäftsführenden Ausschuß als Beisitzer angehört, auch, soweit er es vermochte, jeder Tagung oder jeder Sitzung des Rats und Ausschusses beigewohnt, und des öfteren als Vertreter des Vorsitzenden die Verhandlungen geleitet. Der Milde und Ausgeglichenheit seines persönlichen Wesens hat sich wohl nicht leicht, wer ihn kennen lernte, entziehen können; die Fülle seines Wissens und Denkens ist wohl nicht in weiten Kreisen außerhalb Wiens, wo er eine soziologische Gesellschaft begründet hat, und außerhalb anderer freidenkender Kreise Österreichs bekannt geworden. Solche sind auch im Reiche von ihm als eifrigem Anwalt des Deutschen Monisten-Bundes berührt worden. Sein Lebenslauf ist übrigens die Geschichte seiner literarischen Wirksamkeit. Diese war ganz erfüllt von einem energischen ethischen Idealismus, den er in mehreren Gestalten zur Geltung gebracht hat; immer neu,

i Rudolf Goldscheid — In den Kölner Vierteljahrsheften für Soziologie (Neue Folge der Kölner Vierteljahrshefte für Sozialwissenschaften, Red. Leopold von Wiese, 1931/32, Jg. 10, S. 430—433) hält Tönnies diese Totenrede aus langer und dankbarer Kenntnis: Goldscheid hatte 1909 die DGS initiiert, die Tönnies, noch jetzt Präsident, seit Anfang repräsentiert.

Rudolf Goldscheid

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lebhaft anregend, mit hohem Ernste und in dem Sinne als ein „bester" Mann, den der antike Dichter meint, wenn er denjenigen den besten nennt, der immer auf Hoffnungen vertraut — Goldscheids Vertrauen, das er in die künftige Veredlung des Menschentums setzte, wurde durch den Weltkrieg und dessen Folgen einer harten Probe unterworfen, und er ließ sich nicht irre machen. Er versuchte auch einzugreifen in die Lenkung der Geschicke, die auch auf deutscher und österreichischer Seite die Wahrheit des berühmten Ausspruches, den ein Staatsmann getan hat, bestätigte: ein junger Mann wisse nicht quantilla sapientia regatur mundus1. Im Herbst 1914 sollte in Wien neben dem deutschen Soziologentage, den wir dorthin legen wollten, ein Weltfriedenskongreß stattfinden, für den Goldscheid einen Vortrag verfaßt hatte über „Das Verhältnis der äußeren Politik zur inneren". Am Schlüsse seiner im September jenes Jahres datierten Vorrede zur gedruckten Ausgabe dieses Vortrages meinte er, erst wenn der Menschheit internationale Organe wachsen würden, die zu verhüten imstande seien, daß der Staat, der dem Problem des Weltfriedens ebenso hilflos gegenüberstehe wie der Einzelne ohne zielbewußte Förderung des Staates den sozialen Aufgaben — erst dann werde die Morgenröte einer neuen Geschichtsepoche anbrechen, wo wir reif genug geworden seien, auch das letzte Gesellschaftsproblem zu bewältigen, dessen Lösung noch nicht auf dem Wege ist: die Ordnungen der Völkerbeziehungen durch die Macht des Geistes statt durch die Schärfe des Schwerts. Um von dem außerordentlichen Reichtum seines Geistes und seines Wirkens eine Andeutung zu geben, glaube ich den Bereich seiner Arbeit chronologisch in drei Teile scheiden zu sollen. Der erste Teil wird durch das Jugendwerk „Zur Ethik des Gesamtwillens" bezeichnet, das im Jahre 1902 erschienen ist (Leipzig, Reisland, 2 5 0 S.). Es nennt sich Erster Band, und auf den geplanten Zweiten Band wird oft hingewiesen. Wie 1

durch eine wie geringe Menge von Weisheit die Welt regiert werde.

2 den der antike Dichter 8 ein Staatsmann

meint — indirektes Zitat, nicht ermittelt. (Antik?)

— „Weißt du nicht, mein Sohn, mit wie wenig Klugheit der Erdkreis

regiert wird?" (Gern dem schwed. Kanzler Axel Oxenstierna zugeschrieben, lat.: Aut nescis, mi fili, quantilla prudentia

regatur

orbis?).

12 einen Vortrag verfaßt hatte: „Das Verhältnis der äusseren Politik zur innern. Ein Beitrag zur Soziologie des Weltkrieges und Weltfriedens", Wien/Leipzig 1914. 27 „Zur Ethik des Gesamtwillens" ziger] Band. Leipzig 1902.

„Eine sozialphilosophische Untersuchung." Erster [ein-

310

Schriften

der Inhalt selber, so zeugen die 136 Anmerkungen von der Weite und Tiefe des Wissens und Forschens, die schon damals Goldscheid auszeichneten. Charakteristisch für dies Werk ist der erste Satz seiner Einleitung „Aufgabe der Sozialwissenschaft ist es, unter der Zugrundelegung der Bedingungen menschlichen Lebens überhaupt, die Zwecke menschlichen Gemeinschaftslebens objektiv zu bestimmen". Er sieht voraus, daß man in unserer Zeit der Realpolitik und, wie er gegen Ende des Buches sagt, des Rentabilitarismus („ein scheußliches Wort für eine noch scheußlichere Sache", sagt er in der Anmerkung 113) eine Ethik ausbauen zu wollen, als „ideologisches" Bemühen gebrandmarkt werden dürfte. Der Philosoph dürfe sich dadurch nicht abschrecken lassen. Die letzten drei Kapitel dieses Buches hat der Verfasser sechzehn Jahre später mit einer Vorrede neu drucken lassen („Reine Vernunft und Staatsvernunft"). Die zweite Phase in Goldscheids Denken bewegt sich ganz und gar um den Begriff der Menschenökonomie, auf den unser Philosoph seitdem den größten Wert gelegt hat; und dieser Begriff ist es, der seinen Namen wohl am meisten bekannt gemacht hat, wie es auch bezeichnend ist, daß das von ihm erfundene Wort oft, ohne daß seines Namens Erwähnung geschieht, gebraucht wird. Das umfangreiche Werk, worin Goldscheid die Grundlegung der Sozialbiologie darstellen wollte, trägt den Haupttitel „Höherentwicklung und Menschenökonomie" und bildet den 8. Band der philosophisch-soziologischen Bücherei (Leipzig 1911). Schon drei Jahre früher hatte der Verfasser als Programmschrift den neuen Begriff eingeführt in Verbindung mit Entwicklungswerttheorie und Entwicklungsökonomie. Der Inhalt des größeren Werkes (664 S.) ergibt sich aus seinem Thema. Am wichtigsten sind vor dem Ausblick auf die Menschenökonomie die Kapitel „Selektion", „Vererbung", „Das Reproduktionsproblem". Und doch stellt auch dies große Werk nur einen ersten Band dar: die nächsten „Bände" sollten der Untersuchung des Entartungsproblems, des Völkerkampfes, der Konkurrenz — und der Rassenfrage gewidmet sein, und im Grundriß eines Systems der Menschenund Völkerökonomie gipfeln — die Menschenökonomie sei die Lehre vom organischen Kapital, dem wichtigsten Naturschatz, über den ein 13 „Reine

Vernunft

und Staatsvernunft",

Leipzig/Wien 1 9 1 8 („Sonderabdruck der drei letz-

ten Kapitel aus dem 1 9 0 2 erschienenen Buche , Z u r Ethik des Gesamtwillens"'). 20 trägt den Haupttitel

„Höherentwicklung u. [sie!] Menschenökonomie[.] Grundlegung

der Sozialbiologie", Leipzig 1 9 1 1 . 23 als Programmschrift:

„Entwicklungswerttheorie,

ökonomie. Eine Programmschrift." Leipzig 1 9 0 8 .

Entwicklungsökonomie,

Menschen-

Rudolf Goldscheid

311

Land verfüge; eine soziologisch exakte Analyse der Bedürfnisse sei ihr zugrunde zu legen. Die heutige Kulturgesellschaft — heißt es in diesem Ausblick — zehre von ihrem organischen Kapital, sie greife die Reserven unseres Seins und Habens an — durch Übersteigerung der Intensität der Arbeit und ganz besonders durch Hineinzerrung der Frau in den Produktionsprozeß. Die Menschenökonomie lasse sich definieren als Methode der Höherzüchtung unter mannigfacher Ausschaltung des ökonomisch allzu primitiven Verfahrens der Naturauslese. An die Schäden des Krieges für das organische Kapital der Menschheit ist in dem 1911 erschienenen Buche nicht besonders gedacht, nur die „menschenökonomische Bilanz" des Kriegsbudgets wird auf 12 Seiten hereingezogen. Daß unser Freund in diesem großen Entwurf nicht fortgefahren hat, ist ohne Zweifel dem Ausbruch des Weltkrieges zuzuschreiben, der seine Gedanken, wie der meisten von uns, tief aufregte und unmittelbar in die politische Richtung trieb. Ein neuer Begriff tritt nun in den Mittelpunkt seines fruchtbaren Denkens, der Begriff der Finanzsoziologie, den wiederum eingeführt zu haben, sein Verdienst ist. Seine im Jahre 1917, also mitten im Kriege erschienene Schrift „Staatssozialismus oder Staatskapitalismus" nennt er einen finanzsoziologischen Beitrag zur Lösung des Staatsschuldenproblems. Der Grundgedanke dieser Studie, die sich dann in mehreren Schriften und in Goldscheids Beitrag zum grundlegenden Teil des von Gerloff und Meisel herausgegebenen Handbuchs der Finanzwissenschaft fortgesetzt hat, ist der wechselseitige Funktionalzusammenhang zwischen Staatsfinanzen und gesellschaftlicher Entwicklung. Das Buch ist mit fortwährender Rücksicht auf die durch den Krieg aufgegebenen Probleme und die Erwägung seiner wahrscheinlichen Folgen geschrieben. Es ist erfüllt von der Gewißheit, daß in der Meinung, Kriegsentschädigungen seien unentbehrlich, die verhängnisvollste Verkennung der Lage ausgesprochen sei, in der Staaten und Völker nach dem Kriege tatsächlich sich befinden würden. Es komme nur auf umfassende „Repropriation" des Staates und auf systematisch durchorganisierte Erweiterung der Gemeinwirtschaft an. Bei Aufrechterhaltung des überkommenen, verschuldeten Steuerstaates werde die Lösung der sozialen Frage „Ein finanzsoziologischer Beitrag zur Lö18 „Staatssozialismus oder Staatskapitalismus"[.] sung des Staatsschulden-Problems", Wien/Jena 1917 (4. u. 5. Aufl. Wien/Leipzig 1917). 21 in Goldscheids Beitrag „Staat, öffentlicher Haushalt und Gesellschaft. Wesen und Aufgabe der Finanzwissenschaft vom Standpunkte der Soziologie", in: Wilhelm Gerloff/ Franz Meisel (Hgg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Erster Band, Tübingen 1926, S. 1 4 6 - 1 8 4 .

312

Schriften

uns künftig noch viel mehr erschwert sein als bisher. Dieser Grundgedanke findet einen erneuten Ausdruck in dem Sanierungsprogramm: „Sozialisierung der Wirtschaft oder Staatsbankerott", das nach der Revolution mit dem ganzen Pathos des Sozialisten verfaßt wurde. Goldscheid hob mit gutem Grunde im 2. Hefte der „finanzpolitischen Zeitfragen" (1922) hervor, daß er schon fünf Jahre früher, als der Krieg noch tobte, mit aller Bestimmtheit vorausgesagt habe, daß die

Finanzfrage

nachher den Mittelpunkt aller Politik und aller Wirtschaftskämpfe bilden werde; es sei längst zur unbestreitbaren Tatsache geworden. Und doch hat sich erst in der ungeheuren Krise des gegenwärtigen Jahres die volle Wahrheit dieser Tatsache herausgestellt. O b Goldscheid noch dazu sich geäußert hat, weiß ich nicht. Die Grundgedanken seiner Finanzsoziologie erfaßte und verbreitete gleichzeitig Josef Schumpeter

in der kleinen Schrift: Die Krise des Steuer-

staates (Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie, 4. Heft). In dieser Schrift heißt es, Goldscheids Verdienst werde es immer bleiben, daß er als erster den gebührenden Nachdruck auf eine neue Betrachtungsart der Finanzgeschichte gelenkt habe. Schumpeter, der seitdem ein führendes Haupt der deutschen Sozialökonomie geworden ist, weicht von Goldscheid dadurch ab, daß er eine weniger stürmische Lösung des Problems fordert und erwartet. Aber in dem Grundgedanken, daß der Steuerstaat etwas sei, das überwunden werden müsse, und in nicht ferner Zeit überwunden sein werde, stimmt er mit Goldscheid überein, ebenso wie in der These, daß der Kapitalismus seine Arbeit getan habe, und daß eine kapitalsatte, durch Unternehmergehirn streng rationalisierte Volkswirtschaft vorhanden sei, so daß man mit Ruhe der im Sozialismus unver3 „Sozialisierung

der Wirtschaft

oder

Staatsbankerott"[.]

„Ein Sanierungsprogramm",

Leipzig/Wien 1919. 5 im 2. Hefte

der „finanzpolitischen

Zeitfragen":

„Die inflationistische Zersetzung der

Demokratie. Von Dr. R. Goldscheid — Wien", in: „Halt mit der deutschen Papiergeldflut!",

„Finanzpolitische Zeitfragen", Schriftenfolge der Deutschen Gesellschaft für

Reichserbrecht, 1 9 2 2 / 2 3 , Heft 2, Stuttgart 1922, S. 3 - 1 0 . 14 Josef

Schumpeter

— Das Lob Goldscheids steht auf S. 6 und 61 von: Schumpeter,

Joseph, Die Krise des Steuerstaates (in: Zeitfragen aus dem Gebiete der Soziologie, hgg. von der Soziologischen Gesellschaft in Graz. In Verbindung mit Josef [sie!] Schumpeter, Hugo Spitzer und Ferdinand Tönnies geleitet von Julius Bunzel). Graz und Leipzig 1918. Die Prognose des (durch den Krieg nur „hinausgerückten" — S. 59) Endes des Steuerstaates macht den Abschluss. Das von Tönnies dann eingemahnte Versprechen Schumpeters, seine Analyse eingehender zu begründen, erfüllte dieser erst 1942 (engl. Erstauflage von „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie").

Rudolf Goldscheid

313

meidlichen Verlangsamung der bloß wirtschaftlichen Entwicklung entgegensehen könne — denn Sozialismus bedeute Befreiung des Lebens von der Wirtschaft und Abwendung von ihr. Aber — meint Schumpeter — die Stunde sei noch nicht gekommen, der Krieg habe sie hinausgerückt, noch gehöre sie der Privatunternehmung und mit ihr auch dem Steuerstaat. Schumpeter hat das mit der kleinen Schrift gegebene Versprechen, diese seine Ansichten und Lehren eingehender zu begründen, bisher nicht erfüllt. Aber schon hat mancher erkannt — die neueste ungeheure Weltkrise ist der denkbar beste Lehrmeister dafür —, daß die nächste große Aufgabe darin liegt, aus dem armen, vom Kapital abhängigen Staat einen reichen Staat zu machen, und daß die demokratischen Formen nur die Vorbereitung und Einleitung dazu bilden. Aus dem Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit wird ein politischer Kampf zwischen Kapital und Staat. Das Kapital hat — darauf ist Goldscheids Theorem vorzugsweise gerichtet — das dringende Interesse, den Staat relativ arm und verschuldet zu belassen, und hat immer dahin gewirkt, ihn in diesem Sinne zu drücken und zu verkleinern, so daß es geradezu eine Frage der Befreiung geworden ist, den Staat aus den Fesseln zu lösen, in die ihn das Kapital geschlagen hat. Man wird Goldscheid, seinen ganzen Vorzügen nach, wie in deren Mängeln richtig charakterisieren, wenn man darauf hinweist, daß er mehr gewollt hat, als ein Mensch vermag, er strebte danach, den Theoretiker und Praktiker, den Denker und den Reformpolitiker in seiner Person zu vereinigen und sein Wohlstand, seine schöne Häuslichkeit, der Obhut einer trefflichen Gattin sich erfreuend, die auch seine Reisen ständig begleitete, die kinderlose Familie und seine Unbelastung durch Amt oder andere berufliche Pflichten, waren Momente, die seinem Schaffen und Wirken eine hinlänglich feste Basis gaben. Sicherlich hätte ihm, wenn ihm ein längeres Leben wäre gegönnt gewesen, noch vieles gelingen können, zu vollenden, was jetzt unvollendet geblieben ist; aber die rastlose Lebhaftigkeit seines Geistes hätte wahrscheinlich nach immer neuen Seiten ihn entfalten lassen, und an der Konzentration hätte es, wie bisher, gemangelt, die ihm wahrscheinlich ein näheres Gehörfeld zu sichern vermocht hätte, das ohnehin der Privatgelehrte oft entbehren muß, und auch wer etwa einen großen Teil seines Lebens als Privatdozent mit einem kleinen Kreise von Schülern verbringt, wird eher verkannt und verdunkelt als der Normalgelehrte hohen Stiles, der im Glänze 29 gegönnt

— im Urtext steht versehentlich „vergönnt gegönnt".

314

Schriften

der öffentlichen Lehrtätigkeit und etwa durch die Mitgliedschaft an einflußreichen Akademien, durch das Gefolge großer Scharen von Schülern und Anhängern, weithin sichtbar hervorragt. Und doch ist es merkwürdig, wie oft die posthume Würdigung hier ausgleichend wirkt, zugunsten eben jener, die während ihres Lebens durch die Nebelwolken der Gleichgültigkeit und des Unverständnisses nicht hindurchgedrungen waren oder doch unablässig gegen widrige Umstände und feindseliges Totschweigen zu ringen hatten. Man denke an Gestalten auf dem Boden der philosophischen Schriftstellerei wie Feuerbach, Schopenhauer, Dühring, Marx und Engels, denen manche Namen von minder weitem Aktionsradius hinzugefügt werden könnten. — Von Goldscheid wird dauernd gelten, was Wilhelm Ostwald (Annalen der Naturphilosophie) über sein Jugendwerk geschrieben hat, daß es die Arbeit eines selbständigen Denkers von großer Unabhängigkeit und reinstem Willen sei, daß in ihm das Werk einer neuen philosophischen Persönlichkeit vorliege, „von deren künftiger Entwicklung und von deren Einfluß auf den Gedankeninhalt der nächsten und weiteren Zukunft noch sehr Erhebliches zu erwarten ist". In der Tat haben seine späteren Schriften immer wieder denselben Eindruck hervorrufen müssen: den einer bedeutenden und von seinen Idealen tief erfüllten Persönlichkeit.

12 Wilhelm Ostwald, Hg., „Annalen der Naturphilosophie", Bd. 3, Leipzig 1904, Rez. von Rud. Goldscheid, „Zur Ethik des Gesamtwillen" (s. o. Anm. S. 309), S. 3 4 4 - 3 4 6 . (Die Anführungszeichen des Zitats stehen in Tönnies' Nekrolog irrtümlich schon vor den Worten „einer neuen"; das originale Ostwaldzitat S. 345 hat „sowie von deren Einfluß" und „sehr erhebliches".)

Ladislaus v. Bortkiewicz (1868-1931) Der ordentl. Professor und Direktor des Staatswissenschaftlich-Statistischen Seminars an der Universität Berlin Dr. Ladislaus v. Bortkiewicz stammte aus einer militärischen polnischen Familie. Sein Vater war Oberst der russischen Armee. In St. Petersburg, dem heutigen Leningrad, am 7. Aug. 1868 geboren, ist Bortkiewicz auch in dieser Hauptstadt erzogen worden und studierte an ihrer Universität Jurisprudenz; bestand auch das juristische Staatsexamen. Schon eine von dem Einundzwanzigjährigen verfaßte mathematisch-statistische Untersuchung über „Sterblichkeit und Langlebigkeit der orthodoxen Bevölkerung des europäischen Rußlands" begegnete so großer Aufmerksamkeit, daß sie in die Schriften der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, und dies war wohl die Ursache, daß er vom russischen Unterrichtsministerium zur Fortbildung ins Ausland geschickt wurde. Offenbar hat er nur, oder doch am meisten, durch die deutsche Wissenschaft sich gefesselt gefühlt, nachdem er zuerst in Straßburg Schüler von G. F. Knapp, dann aber Schüler von Lexis in Göttingen wurde; er setzte seine staatswissenschaftlichen Studien in Wien und Leipzig fort, um 1895 in Straßburg sich zu habilitieren, kehrte für einige Jahre nach Rußland zurück und war als Beamter im russischen Verkehrsministerium tätig. Er hat sich dann nach Berlin umhabilitiert und wurde im Jahre 1901 außerordentlicher, erst 1920 ordentlicher Professor an der Universität. Er ist unvermählt geblieben. — Seine literarische Tätigkeit blieb vorzugsweise der Statistischen Methode und ihrer Theorie gewidmet. Große und

i Ladislaus von Bortkiewicz: Unmittelbar auf Goldscheids Nekrolog (Tönnies 1932q, s. o. S. 308 — 314) folgt dieser hier (Tönnies 1932r). Er gibt Zeugnis von des Verfassers lebenslangem, auch wissenschaftstheoretischem statistischen Engagement. (Vgl. auch die Anm. zu S. 317, Z. 16.) 9 von dem Einundzwanzigjährigen verfaßte mathematisch-statistische Untersuchung — russ., nicht ermittelt; Tönnies zieht vermutlich die Lebensbeschreibung aus Bortkiewicz' Doktorarbeit heran („Die mittlere Lebensdauer. Die Methoden ihrer Bestimmung und ihr Verhältnis zur Sterblichkeitsmessung", Phil. Diss. Göttingen, Jena [1892, o. S.]).

316

Schriften

dauernde Bedeutung hat die kleine Schrift (52 S.). „Das Gesetz der kleinen Zahlen" gewonnen und ist nebst manchen anderen wertvollen Beiträgen die Ursache gewesen, daß ihm aus mehreren Ländern Ehrenmitgliedschaften und andere Auszeichnungen zuteil wurden: so ist er ordentliches Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts und der Straßburger wissenschaftlichen Gesellschaft zu Frankfurt a. M . geworden, auch Mitglied der schwedischen Akademie der Wissenschaften gewesen. Über das Gesetz der kleinen Zahlen mögen hier einige Worte gesagt sein. Schon dem trefflichen Süßmilch seinem Wesen nach bekannt war das Gesetz der großen Zahlen, das wohl zuerst von Poisson mathematisch begründet und formuliert worden ist, und dessen Wesen darin besteht, daß in Zahlen gemessene Ereignisse bei einem gewissen Grade der Häufigkeit eine Regelmäßigkeit zeigen, bei der im Verhältnis zum bleibenden Durchschnitt die Abweichungen immer geringer werden, wie am Beispiel des Würfelspiels oft erläutert worden ist, und Süßmilch erkannte in solcher Regelmäßigkeit die „göttliche O r d n u n g in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts". Bortkiewicz stellt nun fest, daß es viele statistische Reihen gebe, die aus kleinen absoluten Zahlen bestehen, und daher von der Statistik bisher kaum eines Blickes gewürdigt wurden, weil in der Tat bei so kleinen Zahlen die zufälligen Ursachen zu stark sich geltend machen. Dem scharfsinnigen Mathematiker aber ist nun daran gelegen, gerade die Gesetze des Zufalls an solchen Daten zu untersuchen, also die Frage zu prüfen, ob die Lehren der Wahrscheinlichkeitsrechnung darauf anwendbar seien. Es hat sich ihm ergeben, daß auch die bei solchen Reihen gefundenen Schwankungen den Voraussagungen der Theorie fast vollständig entsprechen; darin eben bestehe das Gesetz der kleinen Zahlen. Bortkiewicz geht hier in den Spuren von Lexis, indem er sein drittes Kapitel der Theorie des „Fehlerexzedenten" widmet und darauf eine Hypothese und ein Schema der „wechselnden Wahrscheinlichkeit" gründet; er meint durch Verwendung kleiner Ereigniszahlen den relativen Fehlerexzedenten bzw. die Wirkung der Veränderungen der Wahrscheinlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren und auf diese Weise eine nahezu normale Dispersion herbeizuführen. Auch wer 1 „Das Gesetz

der kleinen

Zahlen",

Leipzig 1898 (S. 16: „ v o m S t a n d p u n k t e der Wahr-

scheinlichkeitsrechnung aus"). 16 göttliche

Ordnung

— J o h a n n Peter Süßmilch, Die göttliche O r d n u n g in den V e r ä n d e r u n -

gen des menschlichen Geschlechts, aus der G e b u r t , d e m Tode, u n d der F o r t p f l a n t z u n g desselben erwiesen, 2 Teile, Berlin ' ' ' 1 7 4 1 . 28 sein drittes

Kapitel

-

1898: 2 6 - 3 9 .

Ladislaus v. Bortkiewicz

317

der mathematischen Begründung dieser Lehre sich entziehen muß, weil er ihr nicht zu folgen vermag, wird die prinzipielle Bedeutung der Sache nicht verkennen. G. v. Mayr, der durchaus ein nicht mathematischer Statistiker geblieben ist, was seinem Verdienst um die Statistik in dem von ihm gemeinten Sinne keinen Eintrag tut, meinte, die Stabilität der kleinen Zahlen, bei der Bortkiewicz verweilte, sei wesentlich durch den Umstand bedingt, daß es da um Beobachtungselemente sich handle, die von konstanten Grundursachen in überwiegend entscheidender Weise beherrscht werden. Ich behaupte aber, daß schon die Beschäftigung mit diesen kleinen Zahlen und die Tatsache ihrer relativen Stabilität genügt, um Mayrs Definition der Statistik, wonach sie als Wissenschaft die Zustände und Erscheinungen des sozialen Lebens, soweit solche in statistisch erfaßbaren sozialen Massen zum Ausdruck kommen (Statistik und Gesellschaftswissenschaft I. Bd., II. Aufl., S. 31), schwer zu erschüttern. (Ich muß mir versagen, bei dieser Gelegenheit hierauf einzugehen.) Zu wiederholten Malen, und zwar soviel ich sehe, zuerst in dem Schmoller gewidmeten Sammelwerke „Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im 19. Jahrhundert (XIII, S. 1 bis 57) hat Bortkiewicz die Bevölkerungstheorie

behandelt, die ja auch für die theoretische Soziolo-

gie von großer Wichtigkeit ist, wie die Sozialbiologie überhaupt. Bortkiewicz hat das Studium der Frage weitergeführt in dem Bändchen „Bevölkerungswesen" (Aus Natur und Geisteswelt 670, B. G. Teubner 1919): das leider sehr schlecht gedruckte Büchlein zerfällt in einen ersten Teil, der die Bevölkerungsstatistik in weitem Rahmen darstellt, und einen zweiten Teil „Bevölkerungslehre in geschichtlicher Darstellung", der durch eine knappe Behandlung der Hauptprobleme, als besonders der Malthusschen Bevölkerungstheorie, ihrer Anhänger und Gegner, bemerkenswert ist. Es überwiegt bei unserem Autor die Verteidigung der Malthusschen Lehren, und er meint, die seit Malthus offenbar gewordene

13 Statistik und Gesellschaftswissenschaft — die Rede ist von Georg von Mayr, Statistik und Gesellschaftslehre, Erster Band, Theoretische Statistik, Zweite umgearbeitete und vermehrte Auflage, Tübingen 1914, § 13, S. 31. 16 in dem Schmoller gewidmeten Sammelwerke — Die Bevölkerungstheorie, in: S. P. Altmann u. a. (Hgg.), Die Entwicklung der deutschen Volkswirtschaftslehre im neunzehnten Jahrhundert, (Gustav Schmoller zum 70. Geburtstag), Leipzig 1908, Tl. XIII, S. 1 — 57. Diesem Beitrag Bortkiewicz' schloss sich damals sogleich (Tl. XIV, S. 1—42), also für Tönnies durchaus erinnerbar, sein Beitrag ESozD an (Tönnies 1908, s. TG, Bd. 8). 21 „Bevölkerungswesen", zumal S. 55—96.

Leipzig und Berlin 1919; darin Diskussion des Malthusianismus

318

Schriften

und von ihm nicht vorausgesehene Tatsache, daß in den Ländern der europäischen Kultur eine Abnahme der ehelichen Fruchtbarkeit zutage getreten ist, sei nicht dazu angetan, die Grundfesten der Malthusschen Theorie zu erschüttern. Bortkiewicz hat am 30. September vorigen Jahres unserer Untergruppe für Soziographie beigewohnt und in der Diskussion als erster das Wort ergriffen: seine Diskussionsrede umfaßt im Bericht

Seiten.

Er verließ die Sitzung, ehe sie beendet war; ich hatte ihm daher kurz geantwortet, schon vor dem Schlußwort, und ausgesprochen, daß an seiner Zustimmung, als einer bewährten Autorität, die ich hochschätze, mir besonders viel gelegen wäre. Er gab seine Absicht kund, sich noch literarisch zu der Frage zu äußern. Meines Wissens ist er dazu nicht gekommen. Nachdem er unsere Sitzung verlassen hatte, habe ich ihn leider nicht wiedergesehen. Ich habe einige Gründe, die sich auch auf jene Diskussionsrede gründen, worin er mir erhebliche Zugeständnisse gemacht hatte, während er einige Momente geltend machte, die ihn in bezug auf die Soziographie „etwas zweifelhaft" sein ließen, zu vermuten, daß es mir gelungen wäre, wenn nicht der verehrte Kollege uns und der Wissenschaft entrissen wäre, ihn noch für meine Ansicht zu gewinnen: ich hätte ihn zu überzeugen versucht, daß die Soziographie, an die Stelle der vermeintlichen „Statistik als Wissenschaft" gesetzt, der Ausgangspunkt einer großen Entwicklung werden kann, in der die Methode Statistik zu höchster, aber doch nicht ausschließlicher

der

Geltung gelangen

würde. Wie Mayr ausdrücklich feststellt, ist seine „Statistik als Wissenschaft" ausschließlich auf das Material der „Statistischen Kunst" gegründet, und diese dient nach ihm „insbesondere zu öffentlichen Verwaltungszwecken, mit Beiseitesetzung weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisbestrebungen". Das will sagen, die Statistik als Wissenschaft ist eine unfreie Wissenschaft: sie ist gehemmt nicht nur durch die Statistik als Methode, sondern auch durch die Statistik als Kunst, d. h. begrenzt durch die Leistungen der amtlichen Statistik, die zum größten Teile freilich sehr bedeutend und auch für die Soziographie unentbehrlich sind. Aber die Soziographie entspricht der Grundidee der Wissenschaft, sie ist 5 am 30. September

vorigen

Jahres

— „Verhandlungen des Siebenten Deutschen Soziolo-

gentages vom 2 8 . September bis 1. Oktober 1 9 3 0 in Berlin", Schriften der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Tübingen 1 9 3 1 , S. 2 0 7 — 2 1 2 ; Tönnies' Erwiderung folgt S. 2 1 2 , vgl. auch sein Schlusswort S. 2 3 1 f. (s. T G , Bd. 2 1 ) . 25 das Material

der „Statistischen

lagenwerk ( 1 9 1 4 : 3 1 ) .

Kunst"

— Tönnies zitiert noch einmal Mayrs Grund-

Ladislaus v. Bortkiewicz

319

ihrem Wesen nach frei, d. h. sie bedient sich jeder Methode, die für ihre Zwecke taugt und gründet sich auf jedes Material, das für ihre Zwecke geeignet ist. Der nun verstorbene Gelehrte hat noch auf das von mir versandte Rundschreiben, die Soziographie betreffend, von Bad Nauheim aus am 4. April dieses Jahres geantwortet. Er sei bereit, durch Anregung entsprechender Arbeiten mitzuwirken. „Mich interessiert namentlich die Frage der Binnenwanderungen. Für diese Frage war übrigens vor einigen Jahren im Kultusministerium Interesse vorhanden." Er schreibt noch über die langwierige Grippe, die er überstanden habe und daß er erst Anfang Mai zu lesen anfangen wolle. Er starb am 15. Juli 1931. Bortkiewicz war ein Mann von nicht alltäglichem wissenschaftlichen Ernst. Die „deutsche" Gründlichkeit hatte in ihm wie in vielen anderen, die nicht durch ihre Geburt zu uns gehören, einen ihrer besten Vertreter. Er war aber durch seine eigene Wahl ein guter Deutscher geworden, auch als bewußter Staatsbürger der deutschen Republik, und hat der Deutschen Demokratischen Partei angehört — ob er mit ihr auch in die Staatspartei übergegangen ist, weiß ich nicht. Er war ein Mann von anspruchslosem, reserviertem, aber durchaus liebenswürdigem Wesen, und hat sich unter seinen vielen Schülern wie unter Kollegen und Freunden großer Beliebtheit erfreut. Sein Name bleibe auch in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Ehren! —

16 als bewußter

Staatsbürger

der deutschen

Republik

— in einem Wissenschafternachruf

eines Fachorgans dieser sich bis zu einer möglichen Parteimitgliedschaft vorwagende Satz: Tönnies w a r 1 9 3 2 alarmiert.

Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland Wenn ich meiner Eigenschaft als Präsident der Societas Hobbesiana den Vorzug verdanke, Mitglied der Deutsch-Britischen Gesellschaft geworden zu sein, so hat mich dies auf den Gedanken geführt, daß es für manche Mitglieder unserer Gesellschaft einen Wert haben möchte, einiges über die historische und literarische Bedeutung des großen Denkers zu vernehmen, dessen Lebenszeit, obwohl sie schon im Jahre der Armada begann, über mehr als Dreiviertel des 17. Jahrhunderts sich erstreckt hat, und der außer durch seine Werke, die heute wie zu seiner eigenen Zeit vieler Bewunderung teilhaft werden, auch dadurch merkwürdig ist, daß er jene ganze Epoche durchlebt hat, die Goethe eine der prägnantesten der Weltgeschichte nannte. Wenn auch unser Deutschland im 17. Jahrhundert eine trübe und düstere Zeit durchlebt hat, an die uns die gegenwärtigen Nöte erinnern mögen — damals wie heute infolge eines zerrüttenden, damals noch viel langwierigeren Krieges — so hat doch auch die deutsche Nation des 17. Jahrhunderts an dem allgemeinen geistigen Fortschritt inneren und äußeren Anteil genommen und hatte ihre Bedeutung als die Nation des Heiligen Reiches noch nicht eingebüßt: wenngleich ihre schöne Literatur, die von ihrer Schönheit viel verloren hatte, im Ausland kaum Beachtung fand, so gab es doch wissenschaftliche Leistungen, denen man Beachtung und Anerkennung zu zollen, nicht umhin konnte: es werde nur erinnert an Johann Kepler, dessen Entdeckungen von den Lehren des Kopernikus und Galileis untrennbar ist und die auch von Hobbes gerühmt und bewundert worden sind, der ihn einen ebenso vorzüglichen Geometer und i Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland

— Auf Tönnies' Initiative hin erscheint

dieser Beitrag in der „Deutsch-Britischen Rundschau", Monatsschrift der Deutsch-Britischen Gesellschaft (Anglo German Club London) Sitz Wiesbaden e. V., 1932, Nr. 4 (Oktober), S. 76—78, d. h. in einem sonst durch eher regional eingeworbene Beiträge charakterisierten Klubblatt. 11 eine der prägnantesten

der Weltgeschichte

— indirektes Zitat nicht ermittelt; dass

Goethe sich in diesem Sinne geäußert habe, legt die 1935 von Tönnies rezensierte Sprüchesammlung nahe (s. u. S. 503), ihre Nrn. 792 (ausgezeichnete Männer des 16./17. Jh.) und 1026 (im 16. Jh. „gehörten die Wissenschaften nicht diesem oder jenem Menschen, sondern der Welt") sind einschlägig.

321

Der Philosoph T h o m a s Hobbes in Deutschland

Astronom wie Philosophen nennt. So gab es auch den Danziger Astronomen Hevelius, der in einem großen Briefwechsel mit den anderen Naturforschern Europas stand; diese Briefe harren noch heute zum großen Teile der Veröffentlichung. Ebenso war in der damaligen Gelehrtenrepublik zu etwas späterer Zeit rühmlich als Mathematiker, Physiker und universaler Philosoph, aber auch als Staatsmann und politische Größe für die europäischen Geschicke bedeutend G. W. Leibniz, auf den Thomas Hobbes mächtig gewirkt hat. Nicht nur manche Stellen des Leibniz'schen Schrifttums zeugen davon, sondern auch zwei Briefe, die er, der viel jüngere Denker, ehrerbietig an den greisen großen Engländer richtete, sie werden im British Museum aufbewahrt und ich habe den wichtigeren — der andere ist unvollendet — vor etwa fünfzig Jahren neu und korrekter, als er bis dahin bekannt war, herausgegeben. Zu den frühesten Verehrern des Hobbes in Deutschland gehörte ferner — der in mancher Hinsicht ein Gegenspieler des Leibniz war, aber seinen Ruhm nur in der Richtung auf die Rechts- und Staatsphilosophie erworben hat — Samuel Pufendorf: schon in seinem frühesten Werke im Jahre 1660 bekennt er, daß er ihm nicht wenig verdanke, dessen Hypothese in dem Buche De Cive freilich etwas nach Unheiligem schmecke, übrigens aber höchst scharfsinnig und tüchtig sei; wie denn Pufendorfs großes Werk (acht Bücher) über das Natur- und Völkerrecht, das für lange Zeit diesem deutschen Gelehrten einen ehrenvollen Namen in Europa gesichert hat, fast auf jeder Seite die Spuren des Einflusses, den sein viel geschmähter Vorgänger auf ihn geübt hat, trägt. Unbedingter noch bekennt sich einer seiner Nachfolger zu Hobbes und wird sein leidenschaftlicher Apologet, der hallische philosophische Jurist Nikolaus Hieronymus Gründling, dessen Bruder J a k o b Paul zum Tabakskollegium des preußischen Soldatenkönigs gehörte, und von diesem mit dem Freiherrntitel geziert wurde. Der ungefähr gleichzeitig in Leipzig als Anwalt moderner Denkungsart schon äußerlich durch den Galanteriedegen, den er auf dem Katheder trug, sich kennzeichnete, Christian Thomasius, war auch einer der ersten, die dem Hexenprozeß zu Leibe gingen, den sein 17 in seinem frühesten

Werke — Pufendorf, Samuel, Elementorum jurisprudential universa-

lis libri II [lat., svw. Der Elemente der allgemeinen Jurisprudenz zwo Bücher], H a a g 1660. 19 De Cive — T h o m a s Hobbes, Elementa philosophica de cive [lat.; dt. svw. Die philosophischen Grundlagen bezüglich des ,Bürgers'], Amsterdam 20 Pufendorfs

großes

11647

u. ö.

Werk: Pufendorf, Samuel, De jure natura: et gentium libri VIII [lat.,

svw. Vom Natur- und Völkerrecht acht Bücher], Ausg. letzter H a n d , Amsterdam 1 7 0 4 .

322

Schriften

Kollege Benedict Carpzov noch mit höchstem Ernst und verhaltener Wut über die Tücken des Gott-sei-bei-uns mit orthodoxem Eifer vertreten hat. Thomasius war der typische Vertreter der deutschen Aufklärung; und solange als deren Glanz leuchtete, also bis in die französische Revolution hinein, blieb auch des Hobbes Name, obschon viel angefochten, ruhmvoll bestehen, aber schon als unter dem Titel „Des Engelländers T h o m a s Hobbes Leviathan oder der kirchliche und bürgerliche Staat" 2 Bände, (Halle 1794) erschienen — die Uebersetzung war von der lateinischen späteren Ausgabe verfertigt — meint der Uebersetzer seine Vorerinnerung mit den Worten einleiten zu müssen: „Darf man denn wohl einen so verdächtigen Mann wie T h o m a s Hobbes in Deutschland auftreten lassen", und am Schlüsse dieser Vorrede meint er: „Schwerlich werden die Engländer, vor der Hand wenigstens, ihres Landsmannes Arbeiten weiter als höchstens in der Studierstube nutzen." In der Tat ist Hobbes mehr und mehr in England mit den Schatten des Totschweigens zugedeckt worden; dies hat auch dazu beigetragen, daß sein Name in der Geschichte der Philosophie erst spät im 19. Jahrhundert den ihm gebührenden Rang erhalten hat. Man bestreitet mir nicht das Verdienst, obwohl ich nur ein Deutscher bin, dazu mitgewirkt zu haben; und ich erlaube mir, die Leser der „Deutsch-Britischen Rundschau" darauf aufmerksam zu machen, daß — insbesondere für meine deutschen Landsleute — eine Biographie mit Darstellung der gesamten Philosophie des Hobbes — „Thomas Hobbes Leben und Lehre" — in dritter Auflage vorliegt (Stuttgart, Friedr. Frommanns Verlag

1925).

Außerdem habe ich eine frühe — wenn auch der Verfasser schon im 52. Lebensjahre stand — und hervorragende Schrift in deutscher Uebersetzung herausgegeben: „Klassiker der Politik, Bd. 13, T h o m a s Hobbes' Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen mit einer Einführung von Ferdinand Tönnies" (Verlag Reimar Hobbing, Berlin 23 eine Biographie:

Vgl. Hobs

(„Hobbes[.] Leben und Lehre", Stuttgart

Hobbes[.] Der Mann und der Denker", Osterwieck

21912,

11896,

Stuttgart

„Thomas

31925);

TG,

Band 3. 29 mit einer Einführung

von Ferdinand

Tönnies,

vgl. Tönnies, Ferdinand, Vorwort, Einf.

u. Hg., „Thomas Hobbes[.] Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen (Elements of L a w ) " , Berlin 1 9 2 6 ; T G , Band 18. Tönnies' Pionieredition [ 1 1 8 8 9 ] war: „Thomas Hobbes[.] T h e Elements of L a w Natural and Politic[.] Edited with a Preface and Critical Notes by Ferdinand Tönnies, Ph. D. To which are subjoined selected extracts from unprinted Mss. of T h o m a s H o b b e s " , Cambridge

21928.

Der Philosoph Thomas Hobbes in Deutschland

323

1926). Das englische Original trägt den Titel „Elements of Law natural and politic" und ist in seiner echten Gestalt, das heißt als Ganzes und in sehr verbessertem Texte im Jahre 1889 zum erstenmal herausgegeben worden. Ein Abschnitt dieses Buches war in stark fehlerhaftem Text 5 unter dem Titel „Human Nature" längst bekannt, vom Baron Holbach ins Französische übersetzt und kein geringerer als Diderot hatte ihm das Zeugnis mitgegeben: „Es ist ein Buch, das man sein Leben lang lesen und kommentieren kann — ein Meisterwerk der Logik und der Vernunft." Diese Originalausgabe, deren Auflage zum größeren Teile durch 10 eine Feuersbrunst zerstört worden ist, wurde vor einigen Jahren (1928) von der Cambridge University Press, die auch in Neuyork und in Tokio ihre Vertretung hat, neu herausgegeben, dank dem wertvollen Interesse und der Bemühung die Herr Professor Sorley in Cambridge dem Gegenstande gewidmet hat.

7 Zeugnis — nicht ermittelt. 9 Diese Originalausgabe — s. o. Zeile 1.

Hobbes und Spinoza Die Namen dieser beiden Denker wurden im 17. Jahrhundert oft zusammen genannt. Der seinerzeit berühmte englische Prediger Samuel Clarke, mit dem auch Leibniz korrespondiert hat, nennt jene beiden, von denen Leibniz viel gelernt hatte, die „Brutisten", womit er wohl sagen wollte, daß sie nur die rohe Materie (brüte matter) kannten und anerkannten: es ist wenig Wahres daran, aber doch dies, daß sie darüber einig waren und in ihrem Zeitalter damit ziemlich allein standen, das gesonderte und reale Dasein von Seelen oder Geistern, besonders deren mögliche Sichtbarkeit — als Gespenster — zu leugnen; wie entschieden man noch daran glaubte, davon zeugt auch das Schicksal, das im Lande Spinozas dem Balthasar Bekker und seinem Hauptwerk von 1680 „De Betoverlde Wereld" widerfuhr; mit der Absetzung Bekkers (1692) fand es seinen Abschluß. — Zusammen figurieren auch Hobbes und Spinoza, und an ihrer Spitze Lord Herbert of Cherbury, in dem Buche des Kanzlers der Kieler Universität Christian Kortholt „De tribus magnis impostoribus" (1680), das ebenso wie die Schrift Bekkers drei Jahre nach Spinozas, ein Jahr nach dem Tode des Hobbes erschienen ist. Hobbes langes Leben ist, ebenso wie Spinozas kurzes Leben, das ganz in dem des älteren Zeitgenossen enthalten ist, merkwürdig. Was Spinoza von Hobbes empfangen hat, ist längst erkannt und des öfteren erörtert worden im Gebiete der Rechts- und Staatslehre, worin Hobbes zunächst kaum einen verstehenden Nachfolger gefunden hat; in diesem einen aber den, der viele von geringerem Werte aufwiegt. Merkwürdig ist, daß die Lehre des Hobbes in der Gestalt, die ihr der Holländer Pieter van Hove (de la Cour) gegei Hobbes und Spinoza — Tönnies publizierte diesen Hinweis in „Forschungen und Fortschritte", dem auf Kurzbeiträge aus allen Disziplinen eingerichteten, dreimal mntl. erscheinenden Berliner „Nachrichtenblatt der Deutschen Wissenschaft und Technik [|] mit Unterstützung der deutschen wissenschaftlichen Körperschaften herausgegeben von Karl Kerkhof" (Jg. 8, Nr. 33, 20. 11. 1932, S. 421 f.). Ein anderer Spinoza-Beitrag von Julius Ebbinghaus ging immerhin voraus (S. 420 f.). Vgl. Tönnies 1931d (TG, Bd. 21). 12 Balthasar Bekker, „De Betoverlde Wereld", Leuwarden/Amsterdam 1690—93 (nl.); dt.: „Bezauberte Welt", Leipzig 1781 (Bde. I, II) und 1782 (Bd. III). 15 in dem Buche des Kanzlers, Christiani Kortholti: De tribus impostoribus magnis liber, Kiloni 1680 (lat., dt. svw. Christian Kortholts Buch von den drei großen Betrügern, zu Kiel 1680).

Hobbes und Spinoza

325

ben hatte, eine praktische Bedeutung durch ihren Einfluß auf den Staatsmann Jan de Witt gewonnen hat; es ist eines der Verdienste Karl Gebhardts, dies nachgewiesen zu haben, und daß der Theologisch-Politische Tractat auch in dieser Richtung eine unmittelbare Bedeutung gewonnen hat. Es darf dem an die Seite gestellt werden, daß auch unmittelbar die Lehre des Hobbes in seinem eigenen Lande eine Wirkung auf den Staatsmann seiner Zeit, Oliver Cromwell, übte: wir wissen davon freilich nur die allgemeine Tatsache, aber kaum etwas Näheres. Von den Urkunden des Protektorats ist vieles durch die Eiferer der Restauration vernichtet worden. Auch heute noch kennt das offizielle England diese Zeit nur als die ersten zwölf Jahre der Regierung Karls II.! — Ich sehe die Verwandtschaft der beiden Philosophen hauptsächlich darin, daß beide mit aller Klarheit und Entschiedenheit zum System der geschlossenen Kausalität sich bekannt haben, also besonders den Begriff der Notwendigkeit im Unterschiede von allem Zufälligen und schlechthin Freien, insbesondere vom „Wunder" auszubilden beflissen waren. Daher sind beide die ersten philosophischen Verkünder und Verteidiger des Determinismus geworden, als der Anwendung kausaler Erkenntnis auf die menschlichen Handlungen. Ihre Lehre beruht darauf, daß sie scharf unterscheiden zwischen der objektiven Gegebenheit der wirklichen und natürlichen Zusammenhänge einerseits, des menschlichen Bewußtseins und der subjektiven Durchdringung dieser Zusammenhänge andererseits. Dabei ist es auffallend, daß keiner von beiden auf den Begriff der Wahrscheinlichkeit gekommen ist; auffallend besonders bei Hobbes, der in einem besonderen Kapitel den Unterschied des Wirklichen und des Möglichen behandelt hat, den er dem Unterschied von Ursache und Wirkung unterordnet. Freilich herrscht auch heute noch in der wissenschaftlichen Behandlung des Problems viel Unklarheit. Wie Spinoza vom fallenden Stein sagt: wenn er denken könnte, so würde er sich für frei halten, so hatte vor ihm Hobbes erklärt, jedes Ding würde meinen, sich frei zu bewegen, wenn es wüßte, daß es bewegt werde, und nicht wüßte, was die Bewegung verursacht. „Ein hölzerner Kreisel, der von einem Knaben gepeitscht wird und hin und her läuft, bald gegen eine Wand, bald gegen die andere, bald sich drehend, bald Menschen an die Schienbeine stoßend, würde, wenn er seine eigene Bewegung empfände, meinen, daß sie von seinem eigenen Willen ausgehe, es sei denn, daß er fühlte, was ihn peitschte." Und bezeichnend für die Schätzung der

32 „Ein hölzerner

Kreisel

[...]"

— Hobbes 1841: 55; dort auch das Anschlusszitat S. 326.

326

Schriften

menschlichen Natur, derjenigen Schopenhauers verwandt, die darauffolgende Frage: „Ist ein Mann etwa weiser, wenn er nach der einen Stelle um eine Wohltat, nach einer anderen um ein gutes Geschäft hin und her rennt ... indem er meint, er tue es ohne andere Ursache, als seinen eigenen Willen, weil er nicht sieht, welche Peitschen es sind, die seinen Willen als Ursachen bewegen?" — Vor 5 0 Jahren habe ich eine Studie über Spinoza verfaßt, worin ich darauf hinwies, daß er im Laufe der Entwicklung, die vom kurzen Tractat — einer Schrift, die erst im 19. Jahrhundert bekanntgeworden ist — zu seinem großen Hauptwerk verläuft und die auch noch innerhalb der Ethica erkennbar ist, von einer intellektualistischen zu einer voluntaristischen (der Kunstausdruck wurde hier zum ersten Male gebraucht) Ansicht des menschlichen Wesens und Willens fortgeschritten ist. Es wurde der Vorgang des Hobbes in diese Richtung hervorgehoben und die Vermutung ausgesprochen, daß Spinoza unter dem Einfluß seiner Bekanntschaft mit den Werken des Hobbes diese Wandlung seines Denkens erfahren habe. Wir wissen freilich von dem Umfange seiner Kenntnis wenig: gewiß ist nur, daß er die schon damals berühmte Schrift „De Cive" gekannt hat; diese ist freilich durchdrungen von jenem voluntaristischen Gedanken, der an Schopenhauer erinnert und in der Tat bewirkt hat, daß dieser immer zu Hobbes emporgeschaut hat, wenngleich auch seine Kenntnis des Vorgängers nicht groß war. Ich würde heute nicht mehr mit der gleichen Zuversicht die These von dem Einfluß des einen Denkers auf den anderen und jüngeren geltend machen; darf aber doch hervorheben, daß Harald Höffding,

dessen ich in Verbindung mit Spinoza

gern gedenke, in seiner Geschichte der neueren Philosophie von meiner damaligen Abhandlung sagt, es sei darin „dieser Punkt", nämlich die Abhängigkeit der Vorstellungen von Trieb und Willen, „in glänzender Weise aufgeklärt", und es sei von mir mit großer Wahrscheinlichkeit vermutet worden, daß es der Einfluß des Hobbes sei, der „diese letzte Änderung in Spinozas Auffassung hervorgebracht habe".

7 Vor 50 Jahren:

Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza (Spin, Tönnies 1883; s.

TG, Bd. 1). 18 die schon

damals

berühmte

Schrift:

Thomas Hobbes, Elementa philosophica de cive

(lat.; dt. svw. Die philosophischen Grundlagen bezüglich des ,Bürgers'), Amsterdam H6A7

25 Harald

u. ö.

Höffding,

„Geschichte der neueren Philosophie. Eine Darstellung der Philo-

sophie von dem Ende der Renaissance bis zu unseren Tagen." Leipzig 1895: 360.

Mein Verhältnis zur Soziologie Ich hatte mich früh philosophischen Studien zugewandt und diese etwa von 1877 an auf Thomas Hobbes, besonders auf dessen rechts- und staatsphilosophische Schriften, konzentriert. Von da aus ging mein Weg allgemein in die englische Literatur über diese Gegenstände und führte mich bald auch zu Herbert Spencer. Von ihm ging ich dann zurück auf Auguste Comte. Hier hatte ich die beiden großen Autoren der damaligen Soziologie, zu denen sich mir, als Deutscher von Gewicht, bald Albert Schäffle gesellte. Schäffles Werk „Bau und Leben des sozialen Körpers" ist ganz organizistisch gedacht gleich dem Spencerschen, aber noch mehr in die einzelnen Analogien ausgeführt, die mich damals sehr interessierten, indem ich gleichzeitig mich bemühte, meine biologischen Kenntnisse zu erweitern und zu vertiefen. In der Rechtsphilosophie empfing ich eine starke Anregung teils durch R. v. Ihering, teils durch Sir Henry Maine, und beschäftigte mich auch mit der vorzugsweise deutschen Literatur des rationalen Naturrechts von Pufendorf an, und mit der historischen Rechtsschule wie den Romantikern, die jenes Naturrecht verleugneten und ablösten. So habe ich mit lebhaftem Interesse damals (etwa 1881) auch Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst gelesen. — Ich faßte den Vorsatz, den wahren Sinn des Naturrechts sowohl als den der Kritik, i Mein Verhältnis zur Soziologie — „Von Gefahren ist die wissenschaftliche Arbeit gleich mancher anderen Arbeit immer umringt" (s. u. S. 348). Ferdinand Tönnies schreibt sich keinen Nachruf, noch will er wirken. Richard Thurnwald räumte ihm dafür in seiner Zs. (Tönnies 1931c), dann in seinem Sammelwerk „Soziologie von heute[.] Ein Symposion der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie" (Leipzig 1932: 103 — 122) nach acht anderen (d. h. nach Andreas Walther, Hans Freyer, Johann Plenge, Pitirim A. Sorokin, Morris Ginsberg, William F. Ogburn, Robert M. Maclver und S. Rudolf Steinmetz) das vorletzte Wort ein (das auf diese Mitautoren nach Abhandlung des Hauptgegners von Wiese auch S. 345—348 eingeht), bevor Thurnwald den Schluss machte. (Zu Textvarianten s. den Editorischen Bericht, S. 521.) 8 bald Albert Schäffle — Albert E. Fr. Schäffle: Bau und Leben des socialen Körpers[.] Encyklopädischer Entwurf einer realen Anatomie, Physiologie und Psychologie der menschlichen Gesellschaft mit besonderer Rücksicht auf die Volkswirthschaft als socialen Stoffwechsel. 4 Bde. Tübingen 1 8 7 5 - 8 1 . 19 auch Adam Müller: Müller, Adam Heinrich, Die Elemente der Staatskunst. 3 Teile, Berlin 1809.

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Schriften

die es vernichten wollte, zu erfassen, gelangte so dahin, mir ein Bild von der ganzen umfassenden Wirkung des Rationalismus, den ich bald als Prinzip des wissenschaftlichen Denkens überhaupt erkannte, zu gestalten. So gelangte ich zu dem Bemühen, alle irrationalen und minder rationalen Gedankenbildungen psychologisch „verstehen" zu wollen, und zwar dahin, daß sie niemals schlechthin unvernünftig seien, sondern ihren eigenen Sinn haben müssen, der zuletzt auf das menschliche Wollen zurückführe. Denn bald gestaltete sich mir die Verallgemeinerung, daß das Soziale schlechthin aus menschlichem Wollen, aus einem Zusammenwollen hervorgehe, und dessen Wesen zu durchdringen, machte ich mir zur Aufgabe. Zur Klärung meiner Gedanken trug dann stark das Studium des wissenschaftlichen, also hauptsächlich des Marxischen Sozialismus bei, dem ich gleichzeitig in diesen Jahren lebhaft ergeben war: schon 1878 habe ich mit Eifer den ersten Band des Kapitals studiert, aber auch Rodbertus und sein Interpret Adolf Wagner regten mich jahrelang an. Zugleich war ich ethnologischer Erkenntnisse beflissen und habe aus meinen gewonnenen Kenntnissen Bachofens Mutterrecht und des Amerikaners Morgan Ancient Society als Werke hervorgehoben, die mir einen tiefen Eindruck gemacht hatten; ich hätte auch eine Reihe anderer Werke dieser Art benennen können, besonders englische und französische wirkten auf mich, die in die vermutlich frühesten Phasen des sozialen Lebens der Menschheit einzudringen versuchten, z. B. Hearn The Aryan household, Fustel de Coulanges La cité antique. Erst später lernte ich die bedeutenden Werke des deutschen Juristen Leist kennen und würdigen. 14 mit Eifer den ersten Band-, Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie. Erster Band. Buch I: Der Productionsprozess des Kapitals. Zweite verbesserte Auflage. Hamburg 1872. 17 Bachofens Mutterrecht-. Johann Jacob Bachofen, Das Mutterrecht, Stuttgart 1861. is des Amerikaners Morgan — Lewis H. Morgan: Ancient Society or Researches in the Lines of H u m a n Progress from Savagery through Barbarism to Civilization, New York 1877. 22 Hearn — William Edward Hearn: The Aryan Household, its Structure and its Development[.] An Introduction to Comparative Jurisprudence, London/Melbourne 1879. 23 Fustel de Coulanges — Numa Denis Fustel de Coulanges: La cité antique[.] Etude sur le eulte, le droit, les institutions de la Grèce et de Rome, Paris 1864. In Tönnies' Nachlass befanden sich noch die sehr einschlägigen: Burkhard W. Leist: Graeco-italische Rechtsgeschichte, Jena 1884, u. ders.: Alt-Arisches Jus Civile. 2 Abtheilungen, Jena 1892 u. 1896. (Leist veröffentlichte zumal noch: Alt-Arisches Jus Gentium, Jena 1889, und: Zur Geschichte der römischen Societas, Jena 1891.)

Mein Verhältnis zur Soziologie

329

Aus diesen Studien und Gedanken ist die Schrift Gemeinschaft und Gesellschaft hervorgegangen, deren erste Auflage den Untertitel trägt: Abhandlung des Kommunismus und des Sozialismus als empirischer Kulturformen. Ich wollte damit sagen, daß man in diesen vielberufenen Schlagworten nicht bloße Phantasmen, ausgeklügelte Ideale und Utopien, sehen dürfe, sondern Erscheinungen des wirklichen sozialen Lebens begreifen solle. Dies war in bezug auf den Kommunismus gar nichts neues, denn die Begriffe vom Urkommunismus, Agrarkommunismus und dergl. waren schon damals geläufig. Ich meinte nun darzustellen, daß der ebenfalls schon damals vielberufene und als für die Neuzeit charakteristisch gefundene „Individualismus" nichts weiter als ein ideeller Grenzpunkt sei in dem großen Prozeß, der vom Kommunismus zum Sozialismus, von Gemeinschaft zu Gesellschaft führe. So hatte ich schon in der Vorrede ausgesprochen, es gebe keinen Individualismus in Geschichte und Kultur, außer wie er ausfließe aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibe, oder wie er Gesellschaft hervorbringe und trage. Und so wird auf der vorletzten Seite des Textes ausgesprochen: „Die ganze Bewegung kann ... begriffen werden als Tendenz von ursprünglichem (einfachem familienhaften) Kommunismus und daraus hervorgehendem, darin beruhendem (dörflich-städtischem) Individualismus zum unabhängigen (großstädtisch-universellen) Individualismus und dadurch gesetzten (staatlichen und internationalen) Sozialismus". Dabei war meine Meinung, daß schon im ganzen Vertragswesen, und besonders in der Assoziation, die Keime des Sozialismus enthalten sind, daß es also in dem parallel laufenden Fortschritt von bürgerlicher Gesellschaft und Staat nur um eine sozial-gesetzlich bedingte allmähliche Steigerung des Faktors Staat sich handele, wobei ich nicht nur an den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung, der diese Steigerung notwendig macht, sondern auch an meines gelehrten Gönners Adolf Wagner „Gesetz" des Wachstums der Staatstätigkeiten dachte. Immer sah ich in der ganzen historischen Bewegung vom Mittelalter her die allmähliche Befreiung des Kationalismus und die zunehmende Herrschaft des befreiten als i Gemeinschaft und Gesellschaft.] Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig l l ' l 8 8 7 ; TG, Band 2, GuG. 13 schon in der Vorrede — GuG (Tönnies 1887: XXIX): „Man versteht aber leicht: es gibt keinen Individualismus in Geschichte und Cultur, außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt, oder wie er Gesellschaft hervorbringt und trägt." 17 auf der vorletzten Seite — GuG (Tönnies 1887: 293); dort minimale Varianten: „Communismus", „gesetztem", „internationalem", „Socialismus").

330

Schriften

schlechthin notwendige Prozesse, und zwar Prozesse des menschlichen Geistes in seiner Gestaltung als Wille. Im Willen den Kern des menschlichen Wesens zu begreifen, war ich schon in früher Jugend durch Schopenhauer angeleitet worden, legte aber auf die metaphysische Verallgemeinerung, also die (wie ich auch heute finde) unzulässige Erweiterung des Willensbegriffes keinen Wert, sondern kehrte bald dahin zurück, den Willen als etwas spezifisch Menschliches, als appetitus rationalis aufzufassen. Lange Zeit habe ich dann in Gedanken daran gearbeitet, den Unterschied des vernünftigen Willens festzustellen, der dem Unterschiede von Gemeinschaft und Gesellschaft entspreche. Ich kam endlich so auf die Formel: „Da alle geistige Wirkung als menschliche durch die Teilnahme des Denkens bezeichnet wird, so unterscheide ich: den Willen, sofern in ihm das Denken, und das Denken, sofern in ihm der Wille enthalten ist." Wesenwille und Willkür, so benannte ich damals die Begriffe, habe aber schon in der dritten Auflage den Terminus Kürwille eingeführt wegen des ganz verschiedenen, aber auch nicht einheitlichen Sinnes, der mit dem Terminus Willkür verbunden zu werden pflegt. Das Theorem, dem ich neuerdings entscheidendes Gewicht zuschreibe für das Verständnis der ganzen Lehre, war in dem Buche noch nicht mit hinlänglicher Klarheit dargestellt worden: daß nämlich Verhältnisse und Verbände immer verstanden werden müssen, außer wenn sie von außen her gemacht und sozusagen aufgenötigt werden, autonom, als nämlich aus dem eigenen Willen derer, die in ihm verbunden sind, bestehend und unmittelbar nur in deren Bewußtsein vorhanden, wie z. B. geheime Gesellschaften es ausschließlich sein wollen. In zweiter Instanz sind sie dann freilich auch für andere Personen und deren etwaige eigene Verhältnisse und Verbände vorhanden, die das Dasein jener an bestimmten Merkmalen erkennen und sie anerkennen, wenn sie irgendwie in ein Verhältnis oder in eine Verbindung mit jenen einzutreten gesonnen sind; und dies wird hauptsächlich dadurch bedingt sein, daß gleichartige Verhältnisse und Verbindungen vorhanden sind. Das am schwersten wiegende Beispiel dafür ist die völkerrechtliche Anerkennung eines Staates 7 appetitus

rationalis

— [lat.] wörtlich svw. „rationales Verlangen", (umfasst auch: „wis-

sen Wollen"). 10 auf die Formel: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Zweite erheblich veränderte und vermehrte Auflage, Berlin 1912, S. 103 (dort exakt: „sofern darin der Wille"); TG, Band 2, GuG. 15 in der dritten Auflage: Gemeinschaft und Gesellschaft!.] Grundbegriffe der reinen Soziologie, Berlin 3 1920; TG, Band 2,

GuG.

Mein Verhältnis zur Soziologie

331

und seiner Regierung durch andere Staaten und ihre Regierungen; positiv und negativ höchst wichtige Ereignisse in der Geschichte der Staaten. Sie begegnet aber auch in einfacheren privaten Sphären, z. B. die Anerkennung einer Gewerkschaft durch die Leiter eines Großbetriebes oder einen Arbeitgeberverband, womit man jene Arbeiterverbindung als vorhanden und als verhandlungsfähig gelten läßt, wie im Völkerrecht die Anerkennung auch die Aufnahme eines diplomatischen Verkehres regelmäßig im Gefolge hat. Auch ist etwa unter Studierenden einer Hochschule gegenseitige Anerkennung ihrer Verbände in ihren verschiedenen Wirkungen von ähnlicher Bedeutung. — Nachdem meine Arbeit zur reinen Soziologie — wie ich sie später nannte — etwa zwei Jahrzehnte hindurch fast geruht hatte, weil mir zu geringes Verständnis der Probleme entgegenkam, und ich inzwischen, von Jugend auf an der Bevölkerungs- und Moralstatistik stark interessiert, mich solchen Studien, insbesondere der Verbrecherforschung, hingegeben hatte, bin ich bald nach Beginn des neuen Jahrhunderts zu jener Begriffs weit zurückgekehrt, für die nun ein günstigerer Wind aufgekommen war, und habe in einem Vortrage über das Wesen der Soziologie (Schriften der Gehe-Stiftung 1907) nach einem gemeinsamen Begriff für soziale Verhältnisse und soziale Verbände gesucht, zwischen denen ich aber einen dritten vermittelnden Begriff für notwendig hielt, und ich meinte, daß dieser im „sozialen Willen" gefunden werden müßte. Bald aber erkannte ich, daß dieser Begriff heterogen ist, weil durch ihn eben nicht etwas Dingliches bezeichnet wird, und eben dieses nur durch sozialen Willen sein Dasein gewinnt. So bin ich denn auf den Begriff der sozialen Samtschaft gekommen, der eine Erweiterung sozialer Kreise bedeuten soll, während ich diese nur als die objektiven Einheiten mehrerer sozialer Verhältnisse — z. B. die Familie, ein Freundeskreis — verstehen will, die als solche mittelbar auch von denen, die ihnen angehören, bejaht zu werden pflegen. Samtschaften aber denke ich als einen festeren Bestand habend, gleich Verhältnissen und Verbänden unmittelbar im Denken und Wollen ihrer Mitglieder vorhanden, z. B. einen Stand, oder was ich als ideellen Typus der Samtschaft begreife, eine Partei, bei der eben der Unterschied von einem Verbände

18 über das Wesen der Soziologie — „Das Wesen der Soziologie. Vortrag, gehalten in der Gehe-Stiftung zu Dresden am 12. Januar 1907", in: Neue Zeit- und Streitfragen, hgg. von der Gehe-Stiftung zu Dresden, Jg. 4, Heft 3 (von 9 p. a.), S. [1] —28; zgl.: Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, Band 13, Dresden 1907, S. [51]—78; TG, Band 8. Die Ausführungen zum „sozialen Willen" befinden sich auf S. 61 ff. des Jb. (zgl. S. 11 ff. des H. 3).

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Schriften

deutlich zutage tritt: die Samtschaft ist als solche unorganisiert, wie z. B. der Adel in einem Lande oder eben eine Partei, sie kann sich aber eine Organisation schaffen und dies wird oft genug beobachtet. Beispiele großer unorganisierter Samtschaften sind z. B. das Volk, die Gesellschaft, die Christenheit, die Protestanten, die Freidenker und andere; zuletzt die ,Menschheit', als Idee verbunden. Nachdem ich so drei Arten von Verbundenheiten unterschieden hatte, wird man mich fragen, w a r u m ich diese nicht, wie es mehrere andere angesehene Soziologen getan haben, unter dem Namen der Gruppe zusammengefaßt habe. Ich glaube starke Gründe zu haben, diesen Namen zu verwerfen. Im Gebrauche dieses Namens verrät sich die Unbekanntschaft mit oder die Abweichung von dem Grundgedanken, der meine Theorie dieser Verbundenheiten bestimmt; daß sie nämlich von innen gesehen und erkannt werden müssen, wovon in der äußeren Gruppierung oder Haufenbildung nichts enthalten ist. Eine Gruppe von Menschen gewahre ich auf der Straße, wenn ein Dutzend oder mehr Individuen um die Stätte eines Unfalles oder einer Schlägerei sich gesammelt haben; man mag eine solche Erscheinung auch soziologisch betrachten, aber soziologische Wesenheiten — diesen Terminus hatte ich nun gefunden — sind sie nicht. Ich lasse dahingestellt sein, ob es nicht noch zweckmäßiger sei, den Ausdruck soziale Gestalten an die Stelle zu setzen; ich habe zunächst Wesenheit vorgezogen, weil er mir besser darauf hinzudeuten scheint, daß daran gelegen ist, die subjektive Begründung aller Verbundenheiten zu betonen, denn diese ist der Kardinalpunkt meiner Theorie. 1 Die Grundzüge dieser meiner Gesamt-Theorie habe ich zuerst in einer Abhandlung „Einteilung der Soziologie" entwickelt, die in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 19 (1925) Heft 1 (abgedruckt in Soziologische Studien und Kritiken, II. Sammlung S. 430 bis 443) erschienen ist. Mit einer geringen Modifikation halte ich diese Einteilung auch heute fest und habe sie einer „Einführung in die Soziologie" zugrunde gelegt, die im Herbst des Jahres 1931 erschienen ist. Diese Einführung bezieht sich fast ausschließlich auf die theoretische oder reine 1

Auch könnte das Mißverständnis entstehen, es werde auf die Gestalt-Psychologie hingedeutet.

n „Einteilung der Soziologie" — in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Jg. 19, ; 1925[ä], S. 1 - 1 5 ; Abdruck i. R. von SSK: TG, Band 17. 31 „Einführung in die Soziologie" — Stuttgart 1931; TG, Band 21, ESoz.

Mein Verhältnis zur Soziologie

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Soziologie, weil eben diese die für den Begriff der Soziologie als einer besonderen Wissenschaft charakteristischen Begriffe und Theorien enthalten soll. Ich unterscheide aber von ihr die angewandte und die empirische Soziologie und habe beiden zusammen einen kurzen orientierenden Abschnitt am Schlüsse jener Einführung gewidmet. Nachdem aber einmal der wissenschaftliche Sprachgebrauch der Soziologie einen viel weiteren Sinn gegeben hat, so habe ich für zweckmäßig gehalten, den Gegenstand dieses weiteren Sinnes, der die Sozialbiologie und die Sozialpsychologie in sich einschließt, als generelle Soziologie zusammenzufassen und von ihr die spezielle, die ich auch die eigentliche Soziologie nenne, zu unterscheiden. Innerhalb dieser steht dann die reine Soziologie an der Spitze. Meine Einteilung ist zum Gegenstande eingehender und sorgfältiger Prüfung durch L. v. Wiese gemacht worden (Kölner Viertel) ahrshefte für Soziologie V. Heft 4). Wiese hatte schon vorher im 1. Teil seines Werkes „Allgemeine Soziologie" sein Verhältnis zu meinen Theoremen dargelegt, es ist wie natürlich zum großen Teil das gleiche geblieben. Ich halte mich zunächst an die jüngere Kritik. Wiese meint, meine beiden Grundbegriffe als Einheit gewährende Ausgangspunkte anzunehmen, müsse er ablehnen, weil die Gefahr dieser Antithese in einer von mir selbst nicht gewollten, aber bei meinen Schülern sehr deutlich hervorgetretenen Bewertung und Zweiteilung in Gut und Böse (Gesellschaft als böse, Gemeinschaft gleich gut) liege. Er selber wolle Antithesen, an die sich Vorurteile und Bewertungen heften können, möglichst ganz vermeiden. Der geehrte Kritiker ist des öfteren auf diesen Punkt zurückgekommen und meint hier alsbald, daß die Kraft des Unbewußten in meiner Seele gegen mein Urteil zeuge, ich habe das Werturteil nicht gewollt. Ich fühle mich dadurch veranlaßt, mich ausführlicher darüber auszusprechen. Es könnte sein, und wäre meinem Gedanken nicht durchaus fremd, daß ich außer der Parallele des individualen Willens auch die Parallele eines normalen menschlichen Lebensablaufes im Auge gehabt hätte und noch hätte. Wenn es meine Aufgabe wäre, einmal die Merkmale der Evolution des 14 Prüfung durch L. von Wiese — Leopold von Wiese: Tönnies' Einteilung der Soziologie, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, Jg. 5 ( 1 9 2 5 - 1 9 2 6 ) , 1926[b], S. [ 4 4 5 ] - 4 5 5 (zgl. Heft 4, S. [105] —115). — Alle Aufsätze dieses Heftes waren Ferdinand Tönnies „in Verehrung und Dankbarkeit zu seinem 70. Geburtstage" gewidmet. 15 im 1. Teil seines Werkes — Leopold von Wiese: Allgemeine Soziologie als Lehre von den Beziehungen und Beziehungsgebilden der Menschen, Tl. I: Beziehungslehre, München/ Leipzig 1924, S. 36 f., 39.

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Individuums — der Kindheit und Jugend und des frühen Mannesalters —, oder etwa der Frau bis zum vollendeten Klimakterium, biologisch-medizinisch darzustellen, und dieser Darstellung gegenüber die Involution, also das spätere Mannes- oder Frauenalter nebst dem Greisenalter, so würde man ohne Zweifel Grund haben, zu bemerken, daß die eine Schilderung (der Evolution) diese als etwas überwiegend Erfreuliches, Günstiges, Gutes, die andere (der Involution) hingegen als etwas Trauriges, Trübes und Böses kontrastiere. Wenn etwa eine solche Charakteristik die aufsteigende und die absteigende Linie einer Kultur treffen wollte, etwa unserer Kultur, und die Meinung geltend machte, die aufsteigende jugendliche Hälfte sei seit einigen Jahrhunderten, etwa mit dem Schluß des sogenannten Mittelalters beendet, hingegen in der anderen Hälfte, der absteigenden Linie, seien wir noch mitten inne und müßten die Prognose stellen, daß sie notwendigerweise zu einer Zerrüttung und zum Zerfalle teils schon geführt habe, teils weiterführe, so würde dies Urteil wohl durch L. v. Wiese und durch alle, die mit ihm im Geiste einer wesentlich liberalen Denkungsart leben, als unrichtig zurückgewiesen werden. Ausdrücklicher als L. v. Wiese hat Franz Oppenheimer dies getan. Er macht es mir geradezu zum Vorwurf, daß ich von den leidigen Phänomenen des Alterns gesprochen habe, die im sozialen und im individuellen Leben unerbittlich zunehmen. Er meint, jede Gesellschaft könnte die schwersten Verfallerscheinungen zeigen, ja könne sogar ganz und gar zugrunde gehen: aber dann handle es sich jedesmal um eine Krankheit, und nicht um eine Erscheinung des Alterns. Es könne sich um nichts anderes handeln. Das müsse einmal ernstlich verstanden und beherzigt werden, denn es sei der Schlüssel zu der gesamten Theorie und Praxis der Soziologie. Oppenheimer hält allerdings die gegenwärtige Gesittung, die gegenwärtige Zivilisation für krank, ebenso nennt er die Kultur eine kranke, in Paroxysmen aufschießende und ebenso rasch wieder sinkende krampfhafte, „wie wir eine kranke Wirtschaftsgesellschaft, einen kranken Staat, ein krankes Recht und eine kranke Sitte oder Konvention haben", und er verwahrt sich gegen den Vorwurf, damit subjektive Werturteile auszusprechen (wie ja v. Wiese offenbar diesen Vorwurf gegen 30 „wie wir eine kranke

Wirtscbaftsgesellschaft

[...]"

— Franz Oppenheimer: System der

Soziologie. I. Bd.: Allgemeine Soziologie. 1. Halbband: Grundlegung. Jena 1922, S. 435. Die Gesellschaft sei krank, nicht aber alternd: „Wir erblicken mit schwerem Bedauern auch Toennies im Lager der Theoretiker dieser [letzteren] Auffassung" (Fußnote S. 433; vgl. S. 345 und, in diesem Bande, o. S. 144). Tönnies' letzte Nennung Oppenheimers hierorts betont eine Gedankennähe (so auch Oppenheimer 1922: 340—349).

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mich oder meine angeblichen Schüler erhebt): wer selber von Altersverfall und dergleichen spreche, dürfe den Vorwurf nicht erheben, denn diese Begriffe schließen ebenso ein Werturteil in sich und zwar ein ganz auf dieselbe Weise gewonnenes. Ich wende die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft nicht so auf eine Kulturentwicklung an, wie L. v. Wiese zu meinen scheint, daß sie die eine, also etwa die jugendliche Periode für gut, die andere, etwa die des Alters, für böse erkläre, um dann die Güte der einen aus der Gemeinschaft, die üble Beschaffenheit der anderen aus der Gesellschaft abzuleiten. Sollte jemand so geredet haben, so ist er ganz gewiß nicht mein Schüler gewesen, denn ich halte solche Rede durchaus für fehlerhaft. Meine Ansicht ist ganz und gar von anderer Art. Ich kenne keinen Kulturzustand, in dem nicht Elemente der Gemeinschaft und Elemente der Gesellschaft gleichzeitig vorhanden, also gemischt wären; überdies beide immer mit Feindseligkeiten stark legiert. Und zwar, obgleich auch Gemeinschaft zu höheren und edleren Formen gelangt, so ist doch Gesellschaft das eigentliche variable Element, das die Kultur steigert, aber sie auch in Zivilisation überführt — um mich dieser Begriffe, die in solchem Sinne schon in der ersten Auflage meiner Schrift vorkommen, wiederum zu bedienen; auch Oppenheimer betont in aller Schärfe denselben Gegensatz. Der eigentliche Faktor der Gesellschaft, der diese ungeheure Umwälzung bewirkt, ist ein wirtschaftlicher Faktor, und zwar der Handel. Für meine Auffassung ist der Handel in seiner Entwicklung nichts anderes als das kapitalistische System, und in dessen Beurteilung weiche ich von den tausend Sozialisten, die ihn vor mir, mit mir, nach mir beurteilt haben, nicht wesentlich ab, oder wenn ich abweiche, so in dem Sinne, daß ich mich einer objektiven Würdigung dieses ganzen Prozesses der letzten Jahrhunderte ernstlicher befleißige. Ich verkenne nicht die ungeheuren, Orte und Völker verbindenden Wirkungen des Handels, nicht seine Leistungen zur Befreiung und Entbindung individueller Kräfte des Willens und des Geistes. Vor allem sehe ich in seinem Gefolge die Wissenschaft, mit deren Kampf gegen die Unwissenheit, also gegen alle Art von Aberglauben und Wahn, ich in tiefster Seele sympathisiere. Und darin habe ich nie geschwankt: wenn es in Gemeinschaft und Gesellschaft nicht so deutlich hervortritt, wie ich schon damals gedacht habe, so hat das nur seinen Grund in der Ökonomie des Werkes gehabt, und ich könnte aus meinen datierten Aufzeichnungen jener und noch früherer Jahre den Beweis dafür führen, daß es meine Denkungsart von Jugend auf gewesen ist. Meine besondere Beschäftigung mit Denkern wie Hobbes und Spinoza dürfte ebenfalls

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dafür Zeugnis abgeben. Ich habe von der romantischen Schwärmerei so viel auf mich wirken lassen, als ich darin sachlich und besonders aus dem Gesichtspunkte der Ästhetik Begründetes gefunden habe (so habe ich auch mit nicht geringem Wohlwollen, freilich durchaus nicht mit überschwenglicher Bewunderung, den Adam Müller aufgefaßt). Die Romantik als Bekenntnis muß immer den Protestanten und den Freidenker in den Schoß der allein seligmachenden Kirche zurückführen, denn er sucht mehr nach Beruhigung seines Gemütes und nach ästhetischem Genuß als nach Wahrheit. Die Meinung, daß ich einer solchen Denkungsart fähig wäre, hat mich von jeher lächeln, wenn nicht lachen gemacht. Es ist allerdings mein Gedanke, daß selbst in dem Falle, den ich als den günstigsten für die gegenwärtige Zivilisation schätze: daß es nämlich gelingen werde, sie in allmählichem Fortschritt durch sozialistische Organisation abzulösen, das Ende unabwendbar wäre, nicht das Ende der Menschheit, auch nicht das der Zivilisation oder Kultur, wohl aber das Ende dieser Kultur, deren Merkmale durch das Erbe Roms bezeichnet werden. Als das Erbe Roms betrachte ich in diesem Sinne nicht nur das Imperium romanum, dessen Überlebsei der Weltkrieg in Gestalt von drei Kaisertümern vernichtet hat, sondern auch — obschon sie viel länger leben wird — die römische christliche Religion, worin die Ströme des Hellenismus und des Spätjudentums zusammengeflossen sind; ein Erbe, dessen eigentliche und echte Träger dieselben Nationen gewesen sind, die sich durch die romanischen Sprachen und zum größten Teile eben durch die Bewahrung der römischen Religion als die echten Erben bewähren; während die germanischen Nationen mehr eigenes Gut in die Erbmasse hineingetragen und diese Elemente miteinander zu verschmelzen gewußt haben. Ich komme zurück auf Wieses Kritik, die ich nur in dem einen Punkte abgewehrt zu haben meine, wo die Kritik anerkennt — und sie hebt dies Zugeständnis sogar im Druck hervor —, daß meine Antithese als heuristisches Prinzip fruchtbar sei, aber sie erdrücke die Problematik, wenn sie als feststehende Wahrheit aufgefaßt werde. „Hier ist noch alles zweifelhaft und unerledigt: ob wirklich unser Gefühl nur die Gemeinschaft bejaht, die Gesellschaft aber ein bloßes Produkt zwecksetzenden Denkens ist." Besonders fraglich sei die Zuordnung der einzelnen Gebilde zu jener oder dieser Kategorie (es werden Beispiele meiner Zuord18 Imperium

romanum

(lat., korrekt: „Romanum") svw. Römisches Reich.

32 Hier ist noch alles zweifelhaft

— Leopold von Wiese (1926 b: 451).

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nung gegeben). Die ganze Problematik der Familie sei schon durch ihre bloße Zuordnung zur Gemeinschaft gleich zu Anfang erledigt, während die soziologische Analyse, durchaus mit Skepsis genährt, doch erst sehr gewissenhaft und realistisch an der Hand der Tatsachen nachprüfen müsse, wie weit die heutige Familie wirklich eine Gemeinschaft ist — Strindberg habe die Familie gerade nicht als Gemeinschaft zu sehen vermocht! Als Ursache dieses Widerspruchs kann ich nur Mißverständnisse gelten lassen. In Wahrheit habe ich ja nur ein heuristisches Prinzip gesucht, und die Sache ist die, daß ich eben das als Gemeinschaft begreife, was ein gemeinsamer und verbundener Wesenwille bejaht, und das als Gesellschaft, was als Produkt gemeinsamen und sich verbindenden Kürwillens, folglich auch gemeinsame Zwecke setzenden Denkens anzusprechen ist. Es ist Wiese aufgefallen, daß ich manche soziale Verhältnisse als gegenseitig-gemeinsam gewollt ansehe, bei denen die Freiheit des Willens sehr fraglich sei. Ich bemerke dazu, daß mir dies genau bekannt gewesen ist. Auf der folgenden Seite ist dasselbe gemeint, wenn der geehrte Kritiker schreibt: „Wir möchten glauben: viele Menschen leben in sozialen Verhältnissen (das Wort durchaus im Tönnies'sehen Sinne), ohne sie als ,seiende und dauernde zu bejahen und zu wollen' („der Bien m u ß " ) . " Hier gilt dasselbe. Der Kritiker vergißt, daß ich Normalbegriffe schaffen wollte, deren Gegenstände mit einer leichten Abänderung des Max Weberschen Terminus ich ideelle Typen nenne (den Begriff Normalbegriff habe ich selber für mich schon um das Jahr 1880 gebildet und auch schon in meiner ersten Auflage 1887 gebraucht: das Wort kommt zwar nur einmal im Texte vor, die Sache aber ist auch gemeint, wenn es in der Vorrede heißt: denn alle reine Wissenschaft bezieht sich ausschließlich auf solche Gedankendinge). Ich habe nie im geringsten daran gezweifelt, daß es eben zunächst um meine Gedankendinge sich handelt, wenn ich die Idee geltend mache, daß Gemeinschaft sei, was der Wesenwille bejahe, und daß soziale Verhältnisse aus positiven seelischen Verhältnissen in dem Maße entstehen, als diese auch als seiende und dauernde bejaht und gewollt werden. Ich würde allerdings sagen, daß 6 Strindberg

— noch indirektes Zitat von Wieses (1926b: 451); vgl. die damalige deutsche

Redensart „der reine Strindberg" für schwere Ehezerwürfnisse. 19 der Bien muß — redensartlich svw. „es muss sein, auch wenn es gar nicht geht"; anekdotisch aus Niederdeutschland und dem Ostseeraum belegt: Auch wenn die Biene („der Bien") faustgroß ist, muss sie in einen normalgroßen Bienenkorb hinein. Vorangehendes Zitat: von Wiese 1926b: 452; folgendes Zitat zum „Normalbegriff": GuG, Tönnies 1887: X I X .

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manche soziale Verhältnisse der Wirklichkeit so weit entfernt von diesem Typus liegen, daß ich sie nicht einmal mehr mit demselben Namen nennen würde: so wenn das Wollen (äußerlich oder innerlich) erzwungen ist, obschon das römische Recht bekanntlich den Satz enthält: „quamquam coactus tarnen voluit." Über den Begriff des Wollens oder vielmehr über die Mannigfaltigkeit der psychischen Tatsachen, die der Sprachgebrauch in den Wörtern Wille und wollen zusammenhält, habe ich seit den Anfängen meines Philosophierens fortwährend gedacht, und das Hauptergebnis dieses Denkens ist die Scheidung von Wesenwille und Kürwille gewesen, überdies aber die Unterscheidung der verschiedenen Formen beider, wobei ich besonders Gewicht darauf lege (vgl. die Schrift: „Die Sitte"), in Gewohnheit und Gemüt den individualen, wie in Brauch und Sitte den sozialen Willen erkannt und beschrieben zu haben. Wieses Kritik richtet sich besonders gegen meine Abweichungen von seiner eigenen Lehre, die als Beziehungslehre längst eine erhebliche Geltung gewonnen hat; wenn er aber meint, mit der Wahl des Wortes Verhältnisse wolle ich anscheinend seinen Begriff Beziehungen vermeiden, so muß ich darauf aufmerksam machen, daß ich schon im ersten Paragraphen meines Textes von 1887 das Buch mit den Sätzen eröffnet habe: „Die menschlichen Willen stehen in vielfachen Beziehungen zueinander; jede solche Beziehung ist eine gegenseitige Wirkung, die insofern als von der einen Seite getan oder gegeben, von der anderen erlitten oder empfangen wird." Ich unterscheide dann bejahende und verneinende Wirkungen — zu verstehen unter den vielfachen Beziehungen —, unterschied auch damals Verhältnisse gegenseitiger Bejahung und dadurch bedingte Verbindungen. „Auf die Verhältnisse gegenseitiger Bejahung wird diese Theorie als auf die Objekte ihrer Untersuchung gerichtet sein." Im Begriff Verhältnis tadelt der Kritiker die unklare Vermengung von Beziehung und Gebilde. Er verhehlt nicht, daß er damit seine eigene Terminologie als maßgebend hinstellt, ohne zu fragen, ob bei mir etwa eine andere Scheidung zwischen Beziehungen und Gebilden vorliege, und ob ich diese zu rechtfertigen in der Lage sei. Das bin ich nun allerdings, obgleich ich, wie dem Kritiker bekannt ist, anstatt seines Gebildes den Begriff der sozialen Wesenheit oder Gestalt setze. Es ist aber schon in 4 quamquam

coactus

tarnen voluit [lat.] svw. „obwohl gezwungen, war er dennoch wil-

lens". 11 „Die Sitte" — Tönnies 1 9 0 9 , Sit-, s. T G , Band 8. 19 mit den Sätzen eröffnet 25 und dadurch

bedingte

habe:

— GuG

Verbindungen

(Tönnies 1 8 8 7 : 3, dort K o m m a vor „als"). — GuG

(Tönnies 1 8 8 7 : 3); dort „Objecte".

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jenen Sätzen, womit die Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft" eröffnet wurde, ausgesprochen, daß ich als Beziehungen sowohl verneinende Wirkungen als bejahende verstehen wollte, während ich als soziale Verhältnisse nur solche gegenseitiger Bejahung typisch verstehe. Ich anerkenne die Wichtigkeit der Beziehungslehre. Im ersten Kapitel seiner Beziehungslehre erklärt Wiese die Beziehung, nebst dem sozialen Prozeß und dem Gebilde, für eine der drei Grundkategorien der Soziologie. Die Beziehung sei ein Vorgang, bei dem zwei oder mehrere Größen so miteinander in Verbindung kommen, daß jede als selbständige Größe bestehen bleibt, daß aber jede Veränderungen erfährt und eine teilweise Übereinstimmung und Gemeinschaft in Einzelheiten hervorgerufen wird. „Beziehungen können schließlich so häufig und so stark werden, daß als ihre letzte Wirkung die Vereinigung der Größen eintritt." Darauf folgt unmittelbar der Satz: „Hier in unserer Lehre von den menschlichen Beziehungen handelt es sich nicht bloß um logische, sondern um gelebte, eben soziale Beziehungen." Diese Sätze kann ich nur dahin deuten, daß die menschlichen Beziehungen als positive oder als solche der Anziehung, nicht der Abstoßung (nicht nur die Sprache, sondern auch die Physik unterscheidet ja von altersher das Ziehen vom Stoßen, Anziehung und Abstoßung) gemeint sind, und demnach müßte die Beziehungslehre es nur mit freundlichen Beziehungen zwischen den Menschen zu tun haben. Das entspricht auch allein dem gewöhnlichen sowohl als dem wissenschaftlichen Sprachgebrauch, von dem doch auch Wiese offenbar nicht zu weit abweichen will. Beziehungen zu einem Menschen abbrechen oder — von einem Staate aus — die Beziehungen zu einem anderen Staate abbrechen oder lösen, ist immer so viel wie an die Stelle von etwas Positivem das Negative treten lassen, es ist das regelmäßige Vorspiel des Krieges. Daß die Beziehungen hier diplomatische heißen, bedeutet offenbar nur eine Qualifizierung, keine Unterscheidung von anderen Beziehungen, jedenfalls nicht von feindlichen. Wiese aber erklärt (Beziehungslehre S. 10) und hebt im Druck hervor: es gebe zwei Grundbeziehungen zwischen Menschen, die Beziehungen des Zu- und, nach der Verbindung zwischen ihnen, des Miteinander auf der einen Seite, des Aus- und (nach der Trennung) Ohneinander auf der anderen Seite. „Alle Beziehungen und Beziehungsgebilde lassen sich auf die elementaren Vorgänge Binden

11 in Einzelheiten

hervorgerufen

wird — von Wiese (1924: 3) wird wortgetreu wiedergege-

ben (allerdings sperrt er „menschlichen" und setzt „soziale" in Anführungszeichen). 30 Wiese aber erklärt

— ( 1 9 2 4 : 10); nach „Vorgänge" dort ein Doppelpunkt.

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und Lösen zurückführen." Diese Erweiterung des Begriffes entspricht durchaus dem, was ich in jenen Sätzen meinen Begriffen zugrunde legen wollte: daß nämlich Beziehungen zwischen Menschen bejahende oder verneinende sind. Ich wollte die verneinenden von der reinen Soziologie ausschließen, indem ich sie auf soziale Beziehungen einschränke. Das halte ich auch heute für notwendig: es ergibt sich aber daraus die Diskrepanz zwischen meiner und der Wieseschen Terminologie, indem ich von Anfang an soziale Verhältnisse und soziale Verbindungen unterschieden habe, Wiese dagegen — ungefähr im gleichen Sinne — Beziehungen (die bei ihm auch feindliche sein können und doch „soziale" heißen sollen) und Gebilde — die doch in Wieses Sinne unbedingt als soziale oder, wie er lieber sagt, zwischenmenschliche Phänomene aufzufassen sind — unterscheidet. Alles was er über Gebilde ausführt, kann nicht wohl anders verstanden werden, und wir begegnen einander durchaus, wenn er S. 25 „diese sozialen Gebilde, obwohl wir imstande und oft geneigt seien, sie als außer uns menschlich seiende, über uns herrschende zu denken und zu fühlen, in Wahrheit doch nur in unseren Seelen existieren" läßt. Meine Lehre unterscheidet sich aber dadurch, daß ich auch die sozialen Verhältnisse und die erst später von mir zwischen Verhältnissen und Verbindungen eingeschalteten Samtschaften „nur in unseren Seelen" existieren lasse: mit anderm Worte: sie sozusagen als Vorstufen der Körperschaft hinstellen will, es kündigt sich etwas Personhaftes in ihnen an. Ich denke z. B. an ein Verhältnis wie das Verlöbnis zwischen Mann und Weib, zumal wenn es als heimliches ganz in sich selber beruht. Es bedeutet eine lebhafte und innige gegenseitige Bejahung auf Grund eines gegenseitigen Versprechens, das aber weit mehr bedeutet als bloßes Versprechen einzelner Leistungen: es ist das Versprechen, d. i. die Erklärung des gemeinsamen Willens, die communio totius vitae miteinander einzugehen, also die Bejahung des Verhältnisses selber. Dies Verhältnis ist viel mehr als eine gegenseitige Beziehung oder als eine Summe von solchen. Diese pflegen vorauszugehen. Man hat sich — wieder ist ein ideelltypischer Fall gemeint — kennen gelernt, man ist in Beziehungen zueinander getreten, etwa indem man Begegnungen und Begrüßungen, wenn auch

15 wenn er S. 25 — (1924: 10). Die Zitation mischt Direktes mit Indirektem, von Wiese sagt: „So sehr wir imstande und oft geneigt sind, diese sozialen Gebilde als außer uns Menschen Seiendes, über uns Herrschendes zu denken und zu fühlen, so existieren sie in Wahrheit doch nur in unseren Seelen". 28 communio

totius vitae — [lat.] svw. „Gemeinsamkeit des ganzen Lebens".

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nur stumme, Tanz und Spiel, nicht vermied, sondern suchte. Die Beziehungen vermehrten und verstärkten sich etwa durch Besuche des Jünglings in der Familie des Mädchens. Man kam einander näher (alles was die Beziehungslehre als Kontakte — primäre und sekundäre — registriert, kommt hier in Frage). Nicht selten werden die Beziehungen wieder abgebrochen, wofür es verschiedene Ursachen und Gründe geben kann, aber auch nicht selten führen sie zur Verlobung. Verlobungen sind schwerer zu lösen als bloße Beziehungen, weit schwerer noch die Ehe, in der das Verlöbnis sich erfüllt: warum? Das Verlöbnis unterscheidet sich von noch so nahen Beziehungen dadurch, daß es immer gedacht wird als Pflichten schaffend (also Ansprüche auf der anderen Seite), vor allem die Pflicht der Eheschließung, aber auch in sich schon der Aufmerksamkeiten, der Korrespondenz usw. Alle sozialen Verhältnisse haben mit den übrigen sozialen Wesenheiten, wie ich sie nenne, also mit den sozialen Gebilden in Wieses Terminologie, gemein, daß sie eben die Menschen binden und verbinden, daß sie ihren Willen den Individuen auferlegen, Rechte und Pflichten hervorbringen: es gilt z. B. schon von einer echten Freundschaft, obgleich sie nicht mit Versprechungen geschlossen wird: das Verlöbnis ist eine sehr besondere Art von Freundschaftschließung. In seiner Kritik legt Wiese Wert darauf, den Unterschied zwischen Beziehungen und Gebilden in dem Sinne zu betonen, daß nach seiner Terminologie auch Gebilde Verhältnisse' seien; er sagt: z. B. Paarverhältnisse. Warum kommt denn in dem ganzen Werke v. Wieses der Begriff des Verhältnisses nicht vor? Er fehlt im Sachregister des ersten wie des zweiten Bandes, obgleich von ihm das „Verhalten" der Menschen zueinander in seiner ganzen Bedeutung erkannt und zur Geltung gebracht wird. — Ich betrachte die Beziehungslehre als ein wertvolles Praeludium der Soziologie, weil sie nach meiner Auffassung ihrem Wesen nach Sozialpsychologie ist. Eben darum halte ich für notwendig, im psychologischen Sinne auch feindselige Beziehungen als Beziehungen gelten zu lassen, wie es in der Abhandlung „Einteilung der Soziologie" ausgesprochen wurde: die Sozialpsychologie lasse uns erkennen, wie die Menschen durch mannig-

27 Praeludium — 1932 sogar für den alten Tönnies eine altertümelnde Schreibweise für „Präludium", vielleicht also wie ein lat. Wort, d. h. auch ganz wörtlich, zu übersetzen: von Wieses „Beziehungslehre" würde dann zum (bloßen) „Vor-Spiel". Tönnies benutzt an vergleichbarer Stelle als Dachbegriff (als ,„Mantel'Wissenschaft" bei von Wiese 1926b: 446) die „Allgemeine Soziologie" für die drei Disziplinen der (bei Tönnies: „Speziellen") „Soziologie" (bestehend aus „Reiner" und „Angewandter Soziologie" und „Soziographie"), der „Sozialpsychologie" und der „Sozialbiologie".

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fache Motive zusammengeführt, zusammengehalten, einander genähert, andererseits aber durch ebenso mannigfache Motive entzweit, verfeindet, voneinander entfernt werden. Als ich dies geschrieben habe, kannte ich Wieses Beziehungslehre noch nicht oder nur aus den Proben in den Kölner Vierteljahrsheften. Ich meine aber, daß ich hier durchaus übereinstimme mit dem Grundgedanken der Beziehungslehre, daß es zwischen den Menschen immer ein Binden und Lösen gebe — aber ein Binden von Beziehungen? Diese Sprachwidrigkeit will auch Wiese, wie mir scheint, nicht, wenn er sagt: alle Beziehungen und Beziehungsgebilde lassen sich auf die elementaren Vorgänge Binden und Lösen zurückführen. Ich meine, wenn das Zurückführen auf Entstehung, Gestaltung, Ursprung zurückweist, so ist es eben nur die Bindung, wodurch eine soziale Wesenheit (wie ich sage anstatt Beziehungen und Beziehungsgebilde) entstehen kann, nicht durch den Prozeß der Lösung; wie ein Organismus nur dadurch, daß er erzeugt und geboren wird, aber nicht dadurch, daß er sich auflöst und stirbt, ins Dasein gelangt; umgekehrt ins Nichtsein. Wiese hält meinen Begriff der Samtschaft und der Körperschaft und, was wichtiger ist, die Unterscheidung zwischen beiden für wertvoll. Er meint, ich wolle vielleicht die beiden nicht als sich gegenseitig ausschließende Größen, sondern die Körperschaft nur als eine besondere Art der Samtschaft angesehen wissen. Ich kann dies nicht bestätigen. Freilich halte ich alle Einteilungen von Begriffen, in denen das Gemeinsame hervorgehoben werden soll, für künstlich, und für nützlich nur, insofern als sie zum Verständnis der Gegenstände dienen. So z. B. die Unterscheidung des Menschen von anderen Säugetieren. Es gibt freilich Samtschaften, die in Körperschaften übergehen, einfach indem sie sich organisieren; z. B. — mein Musterbeispiel — eine politische Partei und die organisierte Partei als ein Verein. Wie sehr sie doch verschieden bleiben, ist allbekannt. Z u einer Partei pflegen sich auch viele zu rechnen, die dem Verein nicht angehören, aber etwa regelmäßig in ihrem Sinne wählen: in diesem Sinne pflegt eine Partei leicht zehnmal so viele Anhänger als „eingeschriebene Mitglieder" zu haben. Die Erklärung des Begriffs Körperschaft als Person scheint meinem Kritiker zu juristisch gedacht, „die

3 voneinander

entfernt

4 nur aus den Proben

werden

— Tönnies 1 9 2 5 a : 3.

— Als Herausgeber gönnte von Wiese seiner eigenen „Beziehungs-

lehre" stets vielen R a u m . 33 meinem

Kritiker

— von Wiese (1926b: 4 5 2 f.); Zitat auf S. 4 5 3 (darin „juristische Per-

s o n " in Anführungszeichen).

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Rechtsfiktion juristische Person scheint dabei mehr, als für die Selbständigkeit soziologischen Denkens wünschenswert ist, Pate gestanden zu haben." Ich behaupte, daß es soziologisch außerordentlich wichtig ist, das juridische Denken und seine Figmente als eine Art des soziologischen Denkens zu verstehen, das freilich zu anderen als soziologischen Zwecken sich ausgebildet hat. Und in Wahrheit ist ein solches Denken viel allgemeiner als die praktisch wichtigste Art: das juristische Denken. Jeder studentische Bund begreift sich als eine Person, so tritt er seinen Mitgliedern gegenüber, so tritt er nach außen hin gegen andere auf, nicht anders eine Gewerkschaft oder Genossenschaft: ob im geltenden Rechte anerkannt oder nicht. Juristische Personen im Sinne des Gesetzes sind sie dadurch noch lange nicht — wie die britischen Trades unions sich Jahrzehntelang dagegen gesträubt haben, als juristische Personen rechtlich verantwortlich gemacht zu werden, weil sie mehr Nachteil als Nutzen davon erwarteten, aber sie agierten als Personen. In der Theorie hat schon Pufendorf mit gutem Grunde den weiteren Begriff der ,moralischen' Personen gebildet, die er als private, und als öffentliche unterscheidet, und versteht unter ihnen überhaupt teils einzelne Menschen, teils solche, die durch ein moralisches Band „in ein System verknüpft seien", betrachtet im Zusammenhange mit ihrem Stande oder dem Amte „worin sie in einem gemeinsamen Leben sich bewegen". Der Kritiker verwirft auch meine Einteilung der Samtschaften und Körperschaften in ökonomische, politische und geistig-moralische. Wie sonst setzt er seine eigene Einteilung von Massen, Gruppen und Kollektiva als eine soziologisch bessere dagegen. Es würde zu weit führen, hier meine Einteilung zu rechtfertigen. In seinem Hauptwerke (Allg. Soziologie I. S. 37) läßt er meine Samtschaften seinen Massen und Gruppen, meine sozialen Verbände oder Körperschaften seinen abstrakten Kollektiva ,entsprechen'. Auch dies erwähne ich hier nur, um anzudeuten, daß ich meine Begriffe für zweckmäßiger und soziologisch richtiger halte, wie er die seinen für zweckmäßiger und soziologisch richtiger hält. Sub judice Iis est.

15 In der Theorie

hat schon

Pufendorf

— Vgl. Samuel Pufendorf, De jure N a t u r « et gen-

tium libri VIII. (Lat., svw.: Vom Natur- und Völkerrecht 8 Bücher.) Amsterdam 1 7 0 4 , S. 7 (dort § 12 über die „personae morales"). 26 In seinem 31 Sub judice

Hauptwerke

— „Beziehungslehre" (von Wiese 1 9 2 4 : 3 7 ) .

Iis est — [lat.] „Dem Richter liegt die Sache vor." D. h. svw. „Darüber wird

nicht hier, sondern vor Gericht entschieden."

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Nur noch ein Wort über die Tragfähigkeit meiner ,voluntaristischen' Erklärung der „Gebilde", die ebenfalls durch den geehrten Kritiker angezweifelt wird. Er will überhaupt nichts davon wissen, daß man von den Motiven der in Betracht kommenden Menschen ausgehe, über die man „solche Allgemeinheiten nicht aussagen" könne! Das reißt freilich eine Kluft zwischen uns auf. Dagegen, daß ich als Samtschaft das Volk anführe, wird eingewandt: aber es gibt überall in der Welt zahllose Einzelmenschen, die lieber einem anderen Volke angehören würden, wenn sie überhaupt die Wahl hätten. Ich bedaure, daß ich diesen Einwand als ungültig bezeichnen muß. Er geht wieder darauf zurück, daß Wiese die Grundsätze meiner Begriffsbildung — Normalbegriffe — und ihrer Gegenstände — ideelle Typen — anzuerkennen sich weigert. So meint er hier, meine „in der Heimaterde wurzelnde Denkweise", daß zwischen dem Wesenwillen der Menschen und den Verhältnissen, in die sie geboren sind, eine tiefe und feste Harmonie bestehe, sei ein Ideal, oft eine mit großer Zähigkeit von Ethikern und Politikern festgehaltene Fiktion; „es ist aber nicht immer Wirklichkeit". Ich habe es nicht als Ideal, sondern als ideellen Typus darstellen wollen — da versteht es sich von selbst, daß nicht alle Erscheinungen darunter fallen können, die man etwa Grund hat danach zu benennen; so wie unser Erdball ohne Zweifel eine sonderbare Art von Ball oder Kugel ist und doch an diesem mathematischen Normalbegriff gemessen wird. Ich war und bin für die mir gewidmete Kritik nur dankbar, erkenne es aber als unvermeidlich, daß, wer sein eigenes System als das allein richtige oder gar allein mögliche hinstellt, zu meinem sich ablehnend verhalten muß. Wiese meint in einer Gemeinsamkeit des Strebens könnten er und ich uns verbünden. Auch ich halte dies für möglich, ja für wirklich, ungeachtet des starken Widerspruchs, den nicht ich gegen die Beziehungslehre, aber Wiese gegen die Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft als Grundbegriffe erhoben hat. Indessen hat auch Wiese's knappe Darstellung der Soziologie in der Sammlung Göschen die Bedeutung meiner Begriffe „zum mindesten als heuristisches Prinzip" anerkannt, 4 über die man „solche Allgemeinheiten nicht aussagen" könne! — von Wiese (1926b: 453); im Original stehen die Abführungszeichen irrtümlich vor dem Ausrufezeichen. 13 „in der Heimaterde wurzelnde Denkweise" — von Wiese (1926b: 453 f.). 23 mir gewidmete — von Wiese 1926b. 30 Wiese's knappe Darstellung — Leopold von Wiese, Soziologie[.] Geschichte und Hauptprobleme, Berlin/Leipzig [11 1926[a], S. 76—79; das Zitat vom „heuristischen Prinzip" steht S. 78.

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wenn auch mit Vorbehalt. Ich anerkenne die Beziehungslehre, wenn auch nicht in allen Einzelheiten ihres reichen Inhaltes, ohne Vorbehalt, nicht als „Unterbau" neben der Sozialpsychologie, wie A. Walther es will, sondern als die Sozialpsychologie in Absicht auf die reine Soziologie. So heiße ich auch den Grundgedanken des Symposions, das Verbindende, nicht das Trennende unter den verschiedenen Richtungen herauszuarbeiten, um so einen festen Kernbestand der Wissenschaft zu gewinnen, allerdings willkommen, halte aber für unmöglich, im Gespräch, darum auch in einer Rede beim Gastmahl, das Gemeinsame allein zu betonen, ohne das zu negieren, was einem nicht gemäß ist, oder was man sich nicht assimilieren kann. Die wissenschaftliche Erörterung ist immer Disputation gewesen, und immer ist der Streit und Widerspruch auch hier der Vater des Fortschritts gewesen. Darum meine ich auch, daß es bei einem Symposion nicht nur um verträgliche und freundschaftliche Reden, sondern auch um so etwas wie einen Sängerkrieg sich handeln muß, wenn auch jeder Sänger allen anderen gerne zugesteht, daß sie auch eine Stimme haben und etwas von der Musik verstehen. Da aber auch im Gebiete der Wissenschaften und der Künste die Macht der Mode sehr bedeutend ist, so ist der Alte immer in der Gefahr, als altmodisch oder veraltet oder überwundener Standpunkt angesehen, vielmehr nicht angesehen, und außer Kurs gesetzt zu werden; wenngleich dem einen oder dem anderen das angenehme Los zuteil wird, nachdem er längst versunken war, geistig wieder ausgegraben zu werden. Wer heute jung ist, denkt, wenn er morgen alt wird, selber anders über das Alter als in seiner Jugend. Die Mode hat in der Wissenschaft heute eine Gewalt bekommen, die ihr vor zwei Menschenaltern noch fremd war und die der Sache fremd ist: als ob nämlich die jedesmal neueste Erscheinung eine große Wahrscheinlichkeit für sich hätte, auch die beste zu sein, was man bei einigem Überblick über die Dinge und über die Entwickelung des Denkens leugnen muß. Es kommt vor, ist aber durchaus nicht die Regel. Ich freue mich, daß ich in den bisherigen Symposionreden ziemlich vieles finde, was ich bestätigen darf oder was von mir früher Gesagtes und Gedachtes bestätigt. Zuerst erscheint es mir als äußerst wertvoll und wichtig, daß die ersten drei Redner, die Herren Walther, Freyer, Plenge, in wichtigen Stücken übereinstimmen, und von dem wichtigen ist mir das wichtigste, 3 wie A. Walther es will — Andreas Walther, Zur Verwirklichung einer vollständigen Soziologie, im gleichen Band (Thurnwald 1932: 7—9 i. V. m. S. 4).

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was eben Freyer durch das Wort Wirklichkeitswissenschaft ausdrückt; und was er über die Mannigfaltigkeit der Probleme, die darin liegen, ausspricht, hat meinen vollen Beifall. So bin ich auch einverstanden, wenn Freyer es einem richtigen Gefühl für die Systemform der Soziologie zuschreibt, daß die französische wie die deutsche Soziologie als Wissenschaft vom gegenwärtigen sozialen Leben begonnen hat. Daß in der soziologischen Durcharbeitung der gegenwärtigen Gesellschaft empirisch deskriptive und theoretisch-systematische Fragen untrennbar sich verschränken, daß es aber besonders dringend für die soziologische Behandlung von Gegenwartsfragen ist, auch ohne Theorie die Tatsachen empirisch zu beschreiben, ist völlig meinem Sinne gemäß. Was er über das Leipziger Institut mitteilt, ist für jeden ermutigend, der als akademischer Lehrer in diesem Sinne zu wirken vorhat. Um so mehr darf es begrüßt werden, daß auch Plenge, dessen Forschungsinstitut für Organisationslehre und Soziologie einen so ernsten wissenschaftlichen und zugleich originellen Charakter hat, mit den beiden ersten Rednern den Sinn und die Aufgaben der Soziographie so vollkommen würdigt, wie ich längst gewünscht habe, eine allgemeine Übereinstimmung herbeizuführen und eine große Kooperation in die Wege zu leiten. Auch L. v. Wiese arbeitet mit seinen Schülern bekanntlich in dieser Richtung, obschon hier offenbar die statistische Methode, die sonst fälschlich und in ganz verschiedenem Sinne zur Wissenschaft erhoben wird, sichtlich zu kurz kommt. Vortrefflich sagt Plenge: der Soziologe brauche überall die Statistik und müsse überall über sie hinaus gehen. Auch ich bin der Meinung, daß der Verein für Sozialpolitik große Verdienste um die „soziographische Erfassung unserer Umwelt" hat; ebenso aber halte ich viele Arbeiten der reinen Statistiker, gerade unserer deutschen, aber auch z. B. der nordischen, für gute soziographische Arbeiten, und bin der Meinung, daß diese Statistiker Befriedigung finden müßten in der Soziographie anstatt in der zweideutigen Statistik, die doch in Wirklichkeit heute nur eine Methode und freilich außerdem eine bureaukratische Institution (noch im Sinne der alten sonst begrabenen Statistik gedacht) vorstellt. Ich kann der Soziographie nicht gedenken, ohne hier der bedeutenden Anregung Erwähnung zu tun, die S. R. Steinmetz nach dieser Richtung hin, und durch seine Lehrtätigkeit offenbar noch mehr, als in unserer gelehrten 25 Verein für Sozialpolitik

— korrekt seit 1872: „Verein für Socialpolitik". Johann Plenge

sagt in: „Fachdisziplin, Totalgesellschaft und Pantologie", im gleichen Band (Thurnwald 1932: 29) exakt: „hinaussehen".

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Welt bekannt geworden ist, gegeben hat. Auch ihm scheint es Nr.VIII, S. 9 für den angehenden Soziologen durchaus erwünscht, mit der direkten eigenen Feststellung aktueller Erscheinungen anzufangen, aber nicht zu vergessen, daß Abnormitäten nicht aktueller und reeller sind als die Norm, daß eine Kaschemme nicht interessanter und lehrreicher ist als eine gesunde Familie: „Eine soziographische Propädeutik wäre vielleicht das allerbeste." Ich spreche den Wunsch aus, daß Steinmetz diese verfassen möge. — Über die Symposion-Reden der Herren Sorokin, Ginsberg, Ogburn, Maclver möchte ich nur sagen, daß ich zwar nicht damit zufrieden bin, wenn der letztgenannte Kollege mitteilt, in Amerika sei die Soziologie großenteils geradezu Sozialpsychologie geworden (was er auch selbst nicht zu billigen scheint), wohl aber ist es mir willkommen zu hören, wenn auch nicht neu, daß sie durchaus beflissen ist, die quantitativen Methoden anzuwenden, und daß sie ein großes eindrucksvolles Material, soziale Verhaltungsweisen betreffend, gesammelt, geordnet und korrelations-statistisch bearbeitet hat: das ist eben Soziographie. Es ist ja auch nicht überraschend, zu hören, daß die amerikanische Soziologie den Einflüssen „theologischer Spitzfindigkeiten" stärker ausgesetzt gewesen ist als die europäische, und daß daraus ihre gegenwärtige Neigung, die Theorie gänzlich aufzugeben, zum guten Teil sich erkläre. Nach Maclver ist es besonders lehrreich, Sorokin zu lesen (IV), der auch der typologischen Methode (die ich durchaus zu Grunde lege) Anerkennung zollt und ihre Anwendung in einer großen Zahl soziologischer Disziplinen unvermeidlich findet (S. 6) ... Auch haben wir allen Grund, dem kräftigen Wörtlein, das er über die Pseudosoziologie und ihre Schädlichkeit ausspricht, einen mächtigen Widerhall zu wünschen. Auch die Rede Ginsbergs enthält manche Momente, die ich durchaus billige: daß die Biologie viel zu einer wissenschaftlichen Soziologie beitragen könne und 5 Kaschemme — S. Rudolf Steinmetz hat gleichenorts in „Die Soziologie als positive Spezialwissenschaft" (Thurnwald 1932: 101) „Verbrecher- und Dirnenkneipe". (Im Original ein Druckfehler: „Propedentik".) — William F. Ogburns Beitrag: „Die Kultursoziologie und die quantitativen Methoden" wird weiter nicht erörtert. — R. M. Maclvers Urteil („geradezu Sozialpsychologie") steht ebd. in „Gegenstand und Methode der Soziologie" (Thurnwald 1932: 85). 21 der auch der typologischen Methode [...] Anerkennung zollt — ebd. in „Die Soziologie als Spezialwissenschaft" (Thurnwald 1932: 50 f.); Pitirim A. Sorokins Abscheu vor „Pseudo-Soziologen" dient (in der scharfen Übersetzung von Maria Lebedew) seinem Beitrag zum Finale (Thurnwald 1932: 53). 26 Auch die Rede Ginsbergs — Morris Ginsberg ebd. in „Grenzen und Aufgaben der Soziologie" (Thurnwald 1932: 6 3 - 6 7 ) .

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daß die Beziehungen zwischen Psychologie und Soziologie sehr eng sind und sein müssen, finden wir hier ebenso richtig ausgesprochen, wie ich im ganzen den Bemerkungen zustimme, die er am Schlüsse seiner Rede über das Verhältnis zur Philosophie ausspricht. Man kann dies durchaus gelten lassen und doch mit Steinmetz finden, daß abstrakte Raisonnements, rein logisch postulierte Gebilde, bei der Untersuchung der Wirklichkeit nur sehr wenig Anhalt bieten; wenn er aber hinzufügt, dieser Anhalt dürfte obendrein nicht ohne Gefahr für die wirkliche Arbeit sein und daß man der Beweisführung oft zu wenig aufmerksame Sorge widme, so ist das zwar vollkommen richtig, hängt aber nicht notwendig zusammen. Von Gefahren ist die wissenschaftliche Arbeit gleich mancher anderen Arbeit immer umringt. Es gilt eben, dieser Gefahren sich bewußt zu sein und sie durch gehörige Behutsamkeit zu vermeiden. „Ihre (der Soziologie) zentrale Aufgabe wird darin bestehen müssen, die einzelnen gesellschaftlichen Beziehungsphänomene und Gebildestrukturen — ich sage dafür einfach: die sozialen Strukturen und ihre Veränderungen — aus den geschichtlichen Gesamtzuständen, denen sie angehören, zu begreifen, sie als Bestandteil, als Bedingung oder als Ausdruck einer historisch bestimmten sozialen Lebenswelt zu verstehen" (Freyer, Symposion II, S. 262). Darum lasse ich nicht nur die Hoffnung an der Wiege der Soziologie stehen, sondern ich will gern mitarbeiten, um diese Hoffnung zu nähren, „daß diese Wissenschaft die Krisis des Zeitalters überwinden könne, indem sie sie durchschaut, und daß Politik eines Tages angewandte Soziologie sein werde, wie Technik angewandte Physik ist". „Wenn von dieser Hoffnung auch nur ein bescheidener Bruchteil Wirklichkeit werden soll, so kann das nur geschehen, indem die Soziologie als eine Wissenschaft eigenen Prinzips und eigenen Rechts konstituiert wird" (ebenda S. 258). Ich füge diesen Aussprüchen Freyers nur hinzu, daß es ein offenbarer Mißbrauch und eine Mißnamung ist, wenn die „Politik" heute noch als die Lehre vom Staat und vom Staatsleben oder als allgemeine Staatslehre in den Vorlesungsverzeichnissen fortlebt — sie hat ihren Sinn und Inhalt als der Terminus für die Motive der tatsächlichen oder normalen Praxis eines Staatsmannes oder eines Kollegiums von Gesetzgebern; man kann allerdings diese Praxis auch theoretisch behandeln, so gut wie andere Praxis und Kunst; aber solcher 14 „Ihre (der Soziologie)

zentrale

Aufgabe

[•••]" — H a n s Freyer, Soziologie als Wirklich-

keitswissenschaft ( = Symposion II), Zeitschrift f ü r Völkerpsychologie und Soziologie 5: S. 2 5 7 - 2 6 6 .

Mein Verhältnis zur Soziologie

349

Theorie muß, wenn sie nicht in der Luft schweben soll, die theoretische Soziologie zugrunde gelegt werden: dies wäre auch in Auguste Comtes Sinne die „positive Politik", als Lehre vom sozialen Leben des Menschen schlechthin. Den Gebrauch der Theorie für ethisch-politisches Wollen 5 und Wirken kann man allenfalls „praktische" Soziologie nennen.

[Das Dasein des Theaters] Ich betrachte das Dasein des Theaters als ein wesentliches Element veredelter Gesittung. Im Bewußtsein dieses seines Wesens erkenne ich auch die notwendig daraus sich ergebende Einsicht in die hohe Aufgabe des Theaters: des ernsten wie des heiteren, des musikalischen wie des gesprochenen. Diese Aufgabe steht ästhetisch wie moralisch auf gleicher Höhe. Daran kann es in keiner Weise irre machen, daß von je her die wirklichen Darbietungen der Bühne oft dahinter zurückgeblieben sind, ja zuweilen eine gänzliche Verkennung solcher Aufgabe erkennen ließen. Wenn dadurch wirklich die Idee des Theaters vermindert würde, so ließe mit gleicher Kraft des Argumentes sich folgern, daß der Wert des Schulunterrichts durch die Unzulänglichkeit so vieler Lehrer oder durch die Mängel der Methoden des Unterrichts vermindert werde. Das eine wie das andere wird niemand im Ernst behaupten dürfen — für viel gefährlicher halte ich die Herabsetzung des Theaters zu einem bloßen Mittel für ein Erwerbsgeschäft, eine kapitalistische Unternehmung. Alles Hohe, Echte und Tiefe im sozialen Leben kann dadurch allerdings verdorben werden. Darum hat die Schaubühne allen gerechten Anspruch darauf, der sorgsamen Pflege der Kultur-Abteilungen in den Regierungen der Staaten und der Gemeinden angelegentlich empfohlen zu werden. Sie sollten alle Tage sich erinnern, daß der Menschheit Würde in ihre Hand gegeben ist und daß nur durch die Schätzung des Guten und Schönen, das uns überi [Das Dasein des Theaters] — Dieses Bekenntnis zu einem in der Weltwirtschaftskrise gefährdeten Provinztheater erschien in: Hessisches Landestheater Darmstadt (Blätter des Hessischen Landestheaters, Heft 1, 1932/33, verantwortlich für den Text Kurt Hirschfeld Darmstadt, S. 2 f., ohne Überschrift); als zweiter derartiger Beitrag nach dem von Conrad [sie!] Adenauer. Dessen Platzierung ist ein behutsames Signal für den Charakter des Ganzen: Darmstadt gehört 1932 zwar zu Hessen, aber Adenauer wird wohl nicht als Oberbürgermeister von Köln gefragt, sondern als (seit 1920) Präsident des durch den Preußenputsch (s. o. Anm. S. 300) ebenfalls entmachteten Preußischen Staatsrates. Nach Tönnies folgen Texte von Gustav Härtung, Friedr. Muckermann S. J., Alfons Paquet, Emil Waldmann und Alfred Weber. 21 der Menschheit Würde — „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, [|] Bewahret sie." Friedrich Schiller (Lehrgedicht „Die Künstler", V. 4 4 3 / 4 [1789 u. ö.]); schon das vorangehende Wort „Schaubühne" ist betont schillersch (vgl. „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet" [1784/1802 u. ö.].

[Das Dasein des Theaters]

351

liefert wurde, das Gute und Schöne den kommenden Generationen erhalten und weitergegeben werden kann, gleich den Fackeln in der Republik des Plato (B. I). Das gilt für das Theater wie für alle Kulturgüter, und mehr als für manche andere. Mehr als je müssen wir heute in Deutsch5 land dies betonen und unermüdet wiederholen, da der Weltkrieg, in Verbindung mit anderen Kulturschäden schwerster Art, alles Niedrige und Unreine aus den Tiefen „frechen Städtelebens" an die Oberfläche treibt, und Menschen, die von den innersten Motiven wahrer Gesittung niemals berührt worden sind, für sich in Anspruch nehmen, die politischen und 10 geistigen Geschicke gebildeter Nationen zu lenken. Ich schreibe dies, nachdem ich seit früher Jugend und seit mehr als 60 Jahren, die Entwicklung der europäischen Kultur studiert und beobachtet habe.

8 von den innersten Motiven wahrer Gesittung niemals berührt — keine ziellose Larmoyanz; vergleicht man die bereits wiedergegebenen Texte (S. 299 ff. und 305 ff., vor allem dort S. 307), so ist hier ungenannt doch streithaft Hitler angesprochen.

Fridericus" Es war die erste Nummer des „Fridericus", die ich, seitdem dieses Wochenblatt besteht, erworben habe, und ich erwarte, daß es auch die letzte sein wird: die Nummer 51 dieses Jahres, die an ihrer Spitze den Artikel „Arbeiterkonsumvereine vor dem Zusammenbruch. 25 Millionen Mark Spareinlagen verloren." trug. Ich vermutete darin ein Muster jener Parteilichkeit zu finden, die in offenbarer Schadenfreude ihren Genuß hat und zu gleicher Zeit den Schaden eines verhaßten Gegners in einem Lichte darstellt, das geeignet sein soll, den Schaden, wenn möglich, zu vergrößern. Diese Vermutung hat mich nicht getäuscht. Es ist in der Tat ein Muster der Publizistik, wie sie wohl von jener Seite her nicht eben selten begegnet: das Günstige wird verschwiegen, das Ungünstige auf das schärfste beleuchtet. Daß im Deutschen Reiche der Jahresumsatz von 1354 berichtenden Vereinen nur 475 Millionen Mark in der kaum notdürftig wiederhergestellten Währung betrug; im Jahre 1931 der gleiche Umsatz von 1216 Vereinen 1939 Millionen Mark, also mehr als l'A Milliarden Mark betrug, wird sorgsam geheimgehalten — oder ist es ein Irrtum, den ich hege? — Denn ich fühle mich recht selten bewogen, die Zeitung des Herrn Holtz zu lesen, werde daher jede Berichtigung gern empfangen; es wäre ja möglich, daß dies große Wachstum des Umsatzes einmal wäre ausgebeutet worden, um die Gefährlichkeit dieser Selbsthilfe der Arbeiterklasse für den trotzdem unablässig zunehmenden Einzelhandel privater Unternehmer in Zahlen darzutun. Es hätte aber 1 „Fridericus" — Dieses in eine Tageskritik eingebettete Lob der Genossenschaftsbewegung erschien wieder (vgl. o. S. 302 ff.) im Hamburger Wochenblatt „Konsumgenossenschaftliche Rundschau" („Organ des Zentralverbandes deutscher Konsumvereine e.V., und der Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Consumvereine m. b. H.", Jg. 29, Sonnabend, 31. 12. 1932, Nr. 53, S. 1036; Fraktur). 2 die erste Nummer des „Fridericus", genau: Jg. 15, 1932, Nr. 51 (= 3. Dezemberausgabe der sonnabends erscheinenden [scharf antisozialistischen, antidemokratischen, „zentrums"-feindlichen, antipazifistischen und antisemitischen] Berliner Wochenzeitung). Die Titelseite füllt fast, über alle drei Spalten hinweg, der Aufmacher des Herausgebers/ Autors F. C. Holtz: „Arbeiter-Konsumvereine vor dem Zusammenbracht.] 25 Millionen Spareinlagen verloren!" Hintergrund dieser Verluste war die deflationäre Bankenkrise 1931 gewesen (Zusammenbruch u. a. der Darmstädter und Nationalbank, hohe Verluste der Einleger).

.Fridericus"

353

auch ein Berichterstatter wohl einmal die Bedeutung der konsumgenossenschaftlichen Bewegung in einigen anderen Ländern hervorheben können; zum Beispiel die Mitgliederzahl der Vereine in Großbritannien und Irland, wo sie von 4,6 Millionen im Jahre 1923 auf 6,3 Millionen im 5 Jahre 1930 gewachsen ist und der Jahresumsatz gleichzeitig von 282 Millionen auf mehr als 333 Millionen zugenommen hat. Auch Schweden, wo in der gleichen Zeitspanne der Umsatz von 208,5 auf 349,7 im Jahre 1931 gestiegen ist; endlich auf die kleine Schweiz, wo die Zahl der Mitglieder sich langsam entwickelt und sich seit 1924 nur von 352 000 auf 10 370000 vermehrt hat, der Jahresumsatz in entsprechender Weise. Wer diese Tatsachen im „Fridericus" läse — und es sind unter den Lesern und Leserinnen viele harmlos unbefangene junge Mädchen und Frauen, die sich gern belehren lassen —, könnte leicht auf den Gedanken kommen, daß die konsumgenossenschaftliche Bewegung stark und ihr Fortschritt i5 unausweichlich sei; er würde sich dann das Urteil bilden, daß der Mißerfolg einiger Konsumvereine nicht viel zu bedeuten hat, so ernst er genommen werden muß und so gerecht auch der Tadel ist, den die verantwortlichen Führer dieser Vereine auf sich gezogen haben. Diese Wirkung aber wäre Herrn Holtz ohne Zweifel durchaus unwillkommen.

Das Breslauer Ereignis Ohne Zweifel ist der Fall ernst. Er zeigt uns eine Gefahr, die in Wahrheit „untragbar" ist, und die ich, der ich wahrlich kein Freund pathetischer Ausdrücke bin, die Gefahr eines Rückfalles in Barbarei nennen muß. Der Antisemitismus ist seinem Wesen nach vulgär und kann nur vulgäre Wirkungen haben. Aber von diesen Wirkungen hat bisher die höher gebildete, also auch die akademische Welt und die Gelehrtenrepublik schlechthin, sich freizuhalten gewußt. Es ist eine Ueberlieferung der Universitäten, die sich auch den übrigen Hochschulen mitgeteilt hat, weder einen Unterschied der Konfession noch einen Unterschied der entfernteren Herkunft, der sogenannten Rasse, gelten zu lassen, wenn die Tüchtigkeit eines Gelehrten und die Eignung eines Dozenten erwogen wird. In manchen anderen Ländern werden auch Professoren sogar in dauernde Stellungen berufen, die einer fremden Sprache angehören, und die dann wohl gar in ihrer eigenen Sprache dozieren dürfen, wenn sie der Sprache des Landes nicht hinlänglich mächtig sind. Das haben wir in Deutschland nicht nötig. Auch außerhalb des Reiches ist unser Sprachgebiet weit genug, um selbst für fremdländische Gelehrte deutscher Sprache die Tore offen zu halten, und sogar aus Skandinavien oder Holland wird solchen Ausländern Zutritt gewährt, die etwa im vollen Besitz unserer Sprache und auch gute Kenner ihrer Literatur sind. Der internationale Charakter der Wissenschaft ragt als ein Turm über die Fluten des immer mannigfacher gewordenen und in seinen Grenzen jeder Pflege würdigen nationalen Lebens hervor. i Das Breslauer

Ereignis

— Silvester 1 9 3 2 reagiert Tönnies tief beunruhigt auf den Bres-

lauer Skandal, auf die antisemitischen, terroristischen Ausschreitungen an der Universität gegen den gerade erst auf den Lehrstuhl für Deutsches Recht berufenen Ernst Joseph Cohn (vgl. Heiber 1 9 9 1 : 115 — 132). Die liberal-weltoffenste deutsche, die „Vossische Zeitung" bringt seinen Beitrag als Leitartikel (Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen / Gegründet 1 7 0 4 ; Sonnabend, den 3 1 . 1 2 . 1 9 3 2 , Nr. 6 2 7 , S. 1 f., MorgenAusgabe; Fraktur). Er nimmt die rechte von drei Spalten ganz ein (links zweispaltigzurückhaltend der Aufmacher:

„Hilfe mit Vorbehalten"

[der frz. Senat hatte eine

Finanzhilfe an Österreich beschlossen]). Unter der Autorzeile erscheint „o. ö. Professor an der Universität Kiel" und dann: „Von dem Altmeister der deutschen soziologischen Forschung erhalten wir zum Fall Breslau folgende Zuschrift:" (s. a. Editorischer Bericht, S. 5 2 1 f.).

Das Breslauer Ereignis

355

Daß in weiten Kreisen des Volkes eine natürliche Abneigung gegen „die Juden" wie wohl gesagt wird, in Wirklichkeit wohl nur gegen manche Juden, angetroffen wird, ist eine unleugbare Tatsache, und es ist jedem Manne und jeder Frau unbenommen, danach zu handeln, zum Beispiel auch den gesellschaftlichen Verkehr mit Personen abzulehnen, die ihnen unsympathisch sind. Freilich begegnen wir schon hier gewissen Einschränkungen, indem die Macht der Konvention, und auch die der guten Sitte, sich geltend macht, die eine Ausnahmebehandlung von Personen, mit denen man etwa durch Kollegialität oder sogar durch Verwandtschaft verbunden ist, darum, weil man sie persönlich nicht leiden mag, verwehren. Indessen ist dies von minderer Bedeutung. Wichtig ist hingegen, daß weder Universitäten oder andere Hochschulen, noch deren Fakultäten, und daß ebenso die in Betracht kommenden Regierungen und Ministerien in Deutschland seit mehr als hundert Jahren keine Ausnahmen zum Nachteil der Juden mehr kennen. Auch die so oft reaktionäre preußische Regierung, auch die nachgeordneten Behörden in ihr, haben wenigstens im letzten halben Jahrhundert nicht gewagt, weder die Lernfreiheit jüdischer Studierender noch die Lehrfreiheit und die Entwicklung jüdischer Hochschullehrer merklich zu hemmen. Sie haben pöbelhaften Wünschen und Zumutungen getrotzt, auch wenn solche je zuweilen aus den eigenen Kreisen der Gelehrten hervorgingen. Der Anlaß, den der Hohe Breslauer Senat genommen hat, um einen wohlbestallten, ordentlichen Professor für untragbar zu erklären, ist fast komisch. Die Art, wie man für sich Rundfragen, deren Beantwortung eine unbezahlte Mitarbeit an der fragenden Zeitung oder Zeitschrift zu bedeuten pflegt, erledigt, ist eine reine Privatsache, um die nur in einem sehr hervorstechenden Falle irgendeine Behörde Grund haben kann, sich zu bekümmern. Im gegebenen Falle ist die Beantwortung durch unseren Kollegen Cohn so harmlos wie möglich. Sie zeichnet sich sogar aus durch gedeckte Form und unanfechtbaren Inhalt. Nicht ohne Grund scheint er den Russen für einen geistigen Arbeiter, also des Schutzes für würdig zu halten. Er tritt aber nicht etwa dafür ein, dem Herrn Trotzki den Aufenthalt im Deutschen Reiche zu gestatten. Er deutet sogar an, daß schwere Bedenken dagegen geltend gemacht werden können. — Vielleicht hat eine Zufallsmehrheit des Senats das eine Mal, so wie es sich geziemte, das andere Mal eine andere Mehrheit anders entschie15 Auch

— Wohl zwei Irrtümer: Im Tönnies 1932x steht „Aber" und Z. 20 „ja" anstatt

„je". 31 den Russen

— Leo Trotzki suchte 1932 ein neues Exil.

356

Schriften

den. Jedenfalls ist ein akademischer Senat, der in offenbarer Weise den Ansprüchen der Straße, wie sie schon in diesen Blättern genannt wurden, nachgibt, einhelliger Verurteilung durch alle Hochschullehrer wert, denen an der Ehre und dem gesunden Herkommen der Hochschulen gelegen ist. 5 Ich schweige hier — weil es mit der Sache nur lose verknüpft ist — davon, daß es immer auch von den Juden selber, besonders auch von ihrer geistigen Vertretung, abhängt, wie und mit welchem Erfolg sie den Ausgleich zwischen ihrer uralten und der spezifisch modernen Gesittung, zumal in deren deutscher Prägung, suchen und finden. 10

Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914 Was hier vorgelegt wird 1 , möge eine soziographische Studie in Steinmetz' Sinne genannt werden, nachdem wir diesen Sinn mit geringen Veränderungen uns zu eigen gemacht haben. Er beruht auf der Erkenntnis, dass die Statistik, deren Wichtigkeit als Methode von selbst einleuchtet, nicht selber eine wirkliche Wissenschaft ist, und dass die Wissenschaft, die wir Soziographie nennen, dasjenige leisten will, was die blosse Statistik niemals leisten kann, nämlich Erkenntnis der bedeutendsten Erscheinungen des sozialen Lebens, wie wir es fortlaufend beobachten, in ihren Ursachen und Wirkungen, in ihrer soziologischen Notwendigkeit, unter gegebenen Voraussetzungen. Zur Erkenntnis dieser Voraussetzungen gehört, dem Prinzip aller empirischen Wissenschaft gemäss, Vergleichung: um die Aehnlichkeiten und die Unterschiede gleichartiger Tatsachen zu finden und festzustellen; wofür die Methode, vermöge derer die Tatsachen selber festgestellt werden, an sich gleichgültig ist; die statistische Methode aber den Vorzug hat, dass ihr die amtlichen Feststellungen grosser Mengen gleichartiger Tatsachen, die sonst überhaupt nicht oder doch nur in ungenügender Weise festgestellt werden können, zugrunde liegt. Demnach könnte es scheinen, dass eine Arbeit wie die vorliegende von sonst sogenannten statistischen Untersuchungen nicht eigentlich verschieden sei. Indessen wird, wer solche kennt, vielleicht einige Merkmale gewahr werden, wodurch die Soziographie als solche von den Statistiken der Statistiker sich abhebt. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, die dreizehn Provinzen Preussens in ihrem früheren Bestände, wie er bis 1920 dauerte, in bezug auf die 1

Hilfe für diese Arbeit haben geleistet Fräulein Helga Schulze-Boysen, Stud. Lauritz Lauritzen, Dr. Ernst Jurkat und besonders Stud. Heinrich Striefler.

I Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884 — 1914 erschien in der Festgabe von „Mens en Maatschappij" zum 70. Geburtstag von Sebald Rudolph Steinmetz (der „Steinmetznummer" der nl. Zweimonatsschrift, Jg. 9, Doppelheft 1/2, 20. 1. 1933, S. [234] —254), als 19. von 20 internationalen (nl., dt. und engl.) Beiträgen. Tönnies' eigene Fußnote war ursprünglich am hier fortgelassenen Verfassernamen verankert. — Das empirische Geschenk kontrastiert zu Steinmetz' Fazit ebenda (1935: 74), alle Werke Tönnies' täten deutlich dar, dass er hauptsächlich Philosoph wäre und geblieben sei.

358

Schriften

männlichen Selbstmorde, die in ihnen während der Jahre 1885 bis 1914, also in dreimal zehn Jahren, sich ereignet haben, zu vergleichen. Dabei ist, wie es in der amtlichen Statistik schon üblich war, der Stadtkreis Berlin seiner grossen Volkszahl wegen auch als eine „Provinz" gerechnet worden; und vom heutigen Gross-Berlin, das eine wirkliche Provinz ist, gehörte ein Teil, der mehrere Stadtkreise für sich umfasste (Charlottenburg, Schöneberg, Wilmersdorf und Neu-Cölln Rixdorf), vor 1920 noch zur Provinz Brandenburg. — Der kleine süddeutsche Landesteil Hohenzollern, der im Jahre 1849 mit dem preussischen Staat vereinigt wurde, ist der Rheinprovinz angefügt worden. Wir haben nun zunächst die männlichen Selbstmordfälle in diesen dreissig Jahren auf die mehr als 15jährige männliche Bevölkerung bezogen. Obgleich immer eine kleine Zahl von jüngeren Selbstmorden vorkommt, sogar einzelne solche von weniger als 10jährigen Knaben, sind doch nur die über 15jährigen zur Vergleichung herangezogen worden; denn als ein Mutterschoss, aus dem regelmässig in einem wenig schwankenden Verhältnis diese Begebenheiten hervorgehen, kommen jene jüngeren Altersklassen nicht so in Betracht, dass sie für die Gesamtzahl der Fälle sozusagen mitverantwortlich gemacht werden können und dass ihre Hinzurechnung mit der Hinzurechnung jener seltenen Fälle das Gesamtergebnis charakteristisch abwandeln könnte, das vielmehr in unserer Rechnung — der Berechnung auf die mehr als 15jährige männliche Einwohnerschaft — seinen angemessenen Ausdruck findet. Dabei sind die Ergebnisse der Volkszählung, die in Preussen wie im übrigen Deutschen Reiche von 1875 bis 1910 alle 5 Jahre stattgefunden hat, zugrunde gelegt worden und für die dazwischenliegenden Jahre mit Einschluss des Zählungsjahres selber, da die Zählungen am 1. oder 2. Dezember stattfanden, sind Zahlen angesetzt worden, die von den Zahlen der einen Zählung sich entfernen und denen der anderen sich nähern, ohne dass es hier nötig schien, ein gleichmässiges Wachstum zugrunde zu legen, da ohnehin eine Beziehung auf die Zahl der Hunderte von männlichen Einwohnern genügen muss. In der nun folgenden Tabelle I sind für die Provinzen die Durchschnitte dieser dreissig Jahre zusammengestellt worden. In Spalte 2 zunächst die Durchschnitte der absoluten Zahlen der Selbstmordfälle, in Spalte 3 die Durchschnitte der relativen Selbstmordhäufigkeit; Spalte 4 gibt uns die mittlere Abweichung von dieser relativen Selbstmordhäufigkeit in den dreissig Jahren an, während Spalte 5 diese mittlere Abwei-

359

Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914

Tabelle I 1 8 8 5 - 1 9 1 4 betrug die Zahl Durchschnitt pro Jahr

Die mittlere Abweichung von dem Durchschnitt betrug

bezogen auf absolut

100.000 männl.

bezogen auf absolut

Einw. über 15 Jahre 1 Ostpreussen Westpreussen

. . . .

Berlin

diesen Durchschnitt in %

2

3

4

243

40,0

3,0

7,5

160

35,0

2,5

415

65,7

3,9

7,1 6,0 10,1

5

Brandenburg

706

67,5

6,8

Pommern

216

44,0

2,8

6,4

Posen

141

27,9

3,0

10,8 6,2

Schlesien

885

64,1

4,0

Sachsen

663

75,2

4,5

6,0

336

71,6

3,5

4,9

Hannover

438

52,6

2,4

4,6

Westfalen

305

30,7

3,2

10,4

. . .

308

51,9

2,7

5,2

. . . .

561

30,1

2,7

9,0

Schleswig-Holstein

Hessen-Nassau Rheinprovinz

.

chung wieder relativiert um dieselben untereinander vergleichbar zu machen. Vergleichen wir zunächst die Zahlen der relativen Häufigkeit untereinander, so treten zwei Differenzen am auffallendsten hervor: 1) Der Unterschied zwischen den älteren Provinzen Preussens, die in der politischen und Tagesprache oft als Ostelbien zusammengefasst werden, und den neueren, die an städtischer Kultur überlegen sind, zugleich durch ihren bäuerlichen Charakter gegenüber dem des landwirtschaftlichen Grossbetriebes sich auszeichnen, ist im Ganzen der, dass die Frequenz des männlichen Selbstmordes im Westen grösser ist als im Osten, der Tatsache entsprechend, dass überall die Selbsttötung erheblich häufiger in Städten als auf dem Lande sich ereignet, und im allgemeinen auch auf dem Lande mit dem Grade der Bildung steigt. i Tabelle I — Abweichend von der Vorlage werden ab hier in den Tabellen alle Prozent(Vom-Hundert-, %-)Zahlen kursiv

gesetzt (also z. B. „4,3" anstatt wie im Original

„4. 3 "); jedoch bleiben die ebenfalls auftretenden Promille-(Vom-Tausend-, %o-) und Vom-Hunderttausend-Zahlen recte.

360

Schriften

2) Der Unterschied der Provinzen mit überwiegend protestantischer und denen mit überwiegend katholischer Bevölkerung, der auch sonst in Deutschland, auch in der Schweiz und anderen Ländern wahrgenommen wird, bildet eine bedeutsame Ausnahme zu jener Erscheinung. Hier sind es in Preussen die Provinzen Westfalen und Rheinland, die als westliche gleichwohl durch die niedrigsten Ziffern sich auszeichnen. Ebenfalls ist von den östlichen, bei denen überhaupt relativ niedrige Ziffern bemerkt werden, die Provinz Posen, in der das katholische Element am stärksten überwog, im Durchschnitt die niedrigste. Auch Westpreussen unterscheidet sich hierin von Ostpreussen durch die beiden Merkmale: höheres Verhältnis der katholischen (polnischen) Bestandteile, niedrigeres Verhältnis des männlichen Selbstmordes. Die Landesteile Berlin und Brandenburg stellen keine Ausnahme durch die Höhe ihrer Selbstmordziffern dar; die Groszstadt schreitet auch in dieser Hinsicht an der Spitze. Und zwar ist der Durchschnitt der Provinz Brandenburg noch etwas höher als der von Berlin. Dazu ist zu bemerken, dass in dieser ganzen Zeitspanne (s. oben) zu Brandenburg eine grosse Menge Einwohner gehörte, die in Wahrheit Einwohner von Berlin waren, dem sie heute auch verwaltungsrechtlich zugerechnet werden. Während nun hier die Sphäre der Weltstadt ihren Einfluss deutlich geltend macht, so werden doch die Ziffern des männlichen Selbstmordes nahezu erreicht vom Durchschnitt der grossen Provinz Schlesien und werden übertroffen durch die zwei Provinzen Sachsen und SchleswigHolstein, die in der Landeskultur und der Schulbildung hervorragen; aber andere, schwer erkennbare Ursachen wirken in beiden mit, die Häufigkeit dieser Katastrophen zu vermehren. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die mittleren Abweichungen von den Durchschnitten, wie wir sie in Spalte 5 vergleichbar in Prozenten ausgedrückt finden, so zeigen sich nicht unerhebliche Differenzen. Die Höhe der mittleren Abweichung ist ein Produkt aus einer Reihe verschiedener Ursachen: zunächst wirken einmalige mehr oder weniger zufällige Abweichungen auf sie ein (diese sind um so wahrscheinlicher, je geringer die absolute Zahl der Selbstmordfälle in dem betreffenden Landesteil sind); dann aber bleiben die Veränderungen in der Alterszusammensetzung, die in besonders starkem Masse durch Ab- und Zuwanderungen bewirkt werden, nicht ohne Einfluss auf die Selbstmordfrequenz der einzelnen Jahre, diese Veränderung kann sich durch die ganzen dreissig Jahre erstrecken, aber auch innerhalb dieser Zeit schwankend sein; ferner bleiben Veränderungen in der sozialen Zusam-

Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914

361

mensetzung der Bevölkerungsteile (nach Stadt und Land, nach wirtschaftlicher und beruflicher Tätigkeit) nicht ohne Wirkungen. — Diese verschiedenen Ursachen werden in der Hauptsache als lange Entwicklung, d. h. als allmähliche Veränderung der Selbstmordfrequenz wirksam. Ausserdem ist die Höhe der mittleren Abweichung aber auch noch abhängig von regelmässigen konjunkturellen Schwankungen, die auch wiederum in den verschiedenen Landesteilen verschieden stark wirksam sind. 2. Z u m behuf der Untersuchung dieses Zusammenhanges will die gegenwärtige Studie die zeitliche Entwicklung dieser männlichen Selbstmordfälle in Preussen untersuchen, und sieht davon ab, die allgemeine Entwicklung der Selbstmordhäufigkeit zu erörtern; sie will vielmehr nur diese Häufigkeit im Ganzen und im Einzelnen in ihrem Verhältnis zur wirtschaftlichen Lage des Volkes erörtern, wie diese durch die Veränderungen der Konjunktur in ihrer jeweiligen Verbesserung und Verschlechterung bezeichnet wird. Dabei ist eine frühere umfangreiche Untersuchung 2 des Verfassers, die zwar in ihrer Ausdehnung noch weiter gespannt, aber hauptsächlich auf die deutsche Entwicklung in den Jahren 1 8 7 2 bis 1913 sich bezog, zugrunde gelegt worden, indem die Ergebnisse dieser Untersuchung einen Wechsel von je vier und vier Jahren begründen, wie in der Abhandlung selber eingehend dargestellt worden ist. 3. Acht Merkmale sind in jener Untersuchung nach einer besonderen Methode, nämlich nach jedesmaligen Inkrementen und Dekrementen der einzelnen Jahre — in bezug auf die jeweilig vorher gegangenen —, errechnet und aus diesen In- oder Dekrementen sind für die Jahrvierte die Durchschnitte gewonnen worden. Es liegen also zu Grunde für jedes Jahr 1 8 7 2 - 1 9 1 3 : 1.) Die Werte sämtlicher Bergwerkserzeugnisse im Deutschen Reiche 1 8 7 2 - 1 9 1 1 in Millionen Mark. 2.) Die Werte sämtlicher Hüttenerzeugnisse im Deutschen Reich ebenso in Millionen Mark. 3.) Die Werte des Spezialhandels ebenso in Millionen Mark. 4.) Die Betriebseinnahmen der vollspurigen Eisenbahnen. 2

Gedruckt im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" Bd. 39 Heft 1 und 3 (Juli 1914 u. Juli 1915).

34 Gedruckt

im „Archiv für Sozialwissenschaft

und Sozialpolitik":

Ferdinand Tönnies, Die

Gesetzmäßigkeit in der Bewegung der Bevölkerung (Bd. 39, Heft 1, 1914, S. [ 1 5 0 ] - 1 7 3 , Heft 3, 1915, S. [ 7 6 7 ] - 7 9 4 ) ; GBB, in: T G , Band 9.

362

Schriften

5.) Die Betriebsdauer der Hochöfen in Wochen. 6.) Die Portoeinnahmen der deutschen Reichspost in Tausend Mark. 7.) Die Durchschnittsbeträge der in Umlauf gesetzten Wechsel, in Durchschnittsbeträgen auf den Kopf der Bevölkerung in Mark. 8.) Die Zahl der Eheschliessungen im Deutschen Reich. Zusammen sollen diese Merkmale als Charakteristika jedes Quadrienniums angesehen werden. Es hat sich für sämtliche acht Merkmale ergeben, dass in regelmässigem Wechsel eine überwiegend günstige und eine überwiegend ungünstige Höhe des Durchschnitts in diesem Zeitraum einander ablösen, wie hier in Kürze dargestellt werde. Ich stelle nun die Abwechslung der relativen Zunahmen — die jedesmal eine günstige Konjunktur in diesen vier Jahren bedeuten — und der relativen Abnahmen — von denen das Gegenteil gilt — in der Art zusammen, dass jedesmal durch Vorzeichen und Ziffer das Verhältnis jedes Jahrvierts zum vorhergehenden bezeichnet wird. Die folgenden Ziffern bedeuten also, dass jedes betrachtete Jahrviert ein mehr oder weniger an durchschnittlichem Inkrement oder Dekrement der betrachteten Summen — Werte der Bergwerkserzeugnisse usw. in Millionen oder Tausenden oder Einheiten oder Fällen (der Eheschliessungen) — ergibt, wobei von selber offenbar wird, dass das Wachstum Zeichen günstiger, die Abnahme ungünstiger Konjunktur darstellt — berechnet als Durchschnitt der Inkremente oder Dekremente jedes Jahres innerhalb jedes Jahrviertes im Verhältnis zum vorhergehenden Jahre und in %o der Ziffer dieses vorhergehenden Jahres. Die Ergebnisse jener Untersuchung stellen als Tabellen in zweifacher Gestalt sich dar. Tabelle II lässt unter H die Jahrvierte günstiger Konjunktur einander folgen, unter N die Jahrvierte ungünstiger. Hier sind unter H lauter Ziffern mit dem Plusvorzeichen vor dem pro mille berechneten Durchschnitt; unter N eine Mehrzahl von solchen mit dem Minusvorzeichen. Dass aber jedes Jahrviert unter N, verglichen mit dem vorausgehenden Jahrviert (unter H), ohne Ausnahme immer ein Minus ist, während unter H die Jahrvierte, mit den vorausgehenden N verglichen, auch bei dieser Vergleichung lauter Plus, aber mit vergrösserten Zahlen, aufweisen, soll die Tabelle IIa deutlich machen, die zugleich alle unsere Daten in chronologischer Folge wiedergibt, sodass die Tabelle II von links nach rechts, die andere (IIa) von oben nach unten gelesen werden muss. 36 von oben nach unten gelesen werden muss — Tab. II und IIa gemäß „Errata"-Meldung der Zs. im nächsten Heft korrigiert.

363

Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914

Tabelle II H

N

1872/75 1880/83 1888/91 1896/99 1904/07 1876/79 1884/87 1892/95 1900/03 1908/11 1

+99

+ 83

+ 150

+ 104

+ 89

-64

+

7

-22

+61

+31

2

+ 98

+59

+ 86

+ 119

+ 103

-21

+27

-70

-14

+22

3

+35

+31

+50

+73

+ 89

+ 23

-

-

2

+32

+34

4

+ 88

+ 38

+53

+ 66

+ 61

+

+ 22

+28

+ 26

+45

5

+

1

+74

+

8

+67

+ 43

-65

-11

-10

0

6

+ 52

+49

+ 55

+70

+48

+35

+44

+48

+ 47

+ 44

7

+22

+ 14

+38

+66

+ 69

-45

-13

-

1

+

3

-

1

8

+42

+ 13

+ 19

+32

+21

-35

+ 11

+

9

-

4

+

5

7

5

-

6

Tabelle II a 2.

1. +

3.

4.

5.

6.

7.

8.

-12

-81

-66

-17

-67

-77

+31

+ 139

+ 14

+ 59

+48

1872/75

. . . .

3

+74

1876/79

. . . .

-163

-119

+55

1880/83

. . . .

+ 147

+ 80

+

1884/87

. . . .

-76

-32

-36

-16

-85

-

5

-27

-

2

1888/91

. . . .

+ 143

+59

+55

+31

+ 19

+ 11

+41

+

8

1892/95

. . . .

-172

-156

-52

-25

-18

-

-39

-10

1896/99

. . . .

+ 126

+ 189

+75

+38

+77

+22

+ 67

+23

1900/03

. . . .

-43

-133

-41

-40

-67

-23

-63

-36

1904/07

. . . .

+28

+ 117

+57

+35

+ 43

+

1

+ 66

+25

1908/11

. . . .

-58

-81

-55

-16

-49

-

4

-68

-16

8

7

4. Es sind nun von 1884 an: 1. in Tabelle III. für die gleichen Jahrvierte die amtlich festgestellten Zahlen männlicher Selbstmorde im ganzen preussischen Staat, 2. in Tabelle IV. und IVa. dieselben Zahlen — aber bezogen auf 100 000 über 15 Jahre alte männliche Personen — in den dreizehn preussischen Provinzen berechnet und zunächst untereinander geschrieben worden; sodann von 1888 an ist jedes Jahrviert mit dem ihm vorausgehenden verglichen worden, um die Ergebnisse mit denen der genannten Merkmale des sozialen Lebens (Tab. II. und IIa.) zu vergleichen. Dabei ist zu verstehen, dass für den Selbstmord die sozial günstigen Jahrvierte diejenigen sind, in denen das Steigen der bisher behandelten Werte im Deutschen Reich, beobachtet wurde: wenn die Wahrscheinlichkeit zugrunde gelegt wird, dass in diesen Jahren die Häufigkeit

364

Schriften

des Selbstmordes eher ab- als zunimmt; umgekehrt in den schlechten Jahren. Da nun bei den grösseren und absoluten Zahlen auch eine geringe Zunahme noch als relative Abnahme und überhaupt, wenn sonst grössere Zunahmen regelmässig beobachtet werden, als günstiges Zeichen des Jahres oder Jahrviertes gedeutet werden darf, so wird die Entwicklung im gesamten Preussen dahin ausgesprochen, dass sie in ihren absoluten Zahlen durchaus dem Schema des angezeigten Wechsels entspricht: steigende wirtschaftliche Konjunktur — abnehmender Selbstmord; sinkende wirtschaftliche Konjunktur — zunehmender Selbstmord. Tabelle III Die männlichen Selbstmörder

in Preussen

im

A

B

Jahrviert

absolute

Veränderung

Zahl d. Fälle 1884/87

absolut

in %

- 4,3 + 10,3 - 0,9 + 11,1 + 2,3 + 10,8

19 2 5 8

1888/91

18 4 2 9

-

1892/95

20331

+ 1.902

1896/99

20158

-

1900/03

22397

+ 2.239

1904/07

22921

+

1908/11

25 3 9 4

+ 2.473

829 173 524

Die Tabelle III zeigt unter B, dass die Veränderungen fast vollkommen der Erwartung entsprechen — denn wenn auch für 1904—07 ein kleines positives Inkrement vorliegt, so bedeutet das doch eine bedeutende Abnahme ( — 8,8) gegen das vorausgehende Jahrviert, und das folgende letzte wieder eine Zunahme ( + 8,5) in fast gleicher Höhe. 5. Das gleiche Ergebnis zeigt sich auch für die Zahl der Selbstmorde in den einzelnen Provinzen (Tab. IV), die wir — was die In- und Dekremente von Jahrviert zu Jahrviert betrifft — in Tabelle IVa. betrachten. Hier ist zunächst festzustellen, dass in immerhin acht von den dreizehn Landesteilen der Wechsel in erwarteter Weise beobachtet wird, während er in fünf mehr oder weniger gestört ist. — Betrachten wir die einzelnen Jahrvierte, so zeigt sich, dass die Veränderungen des zweiten Jahrvierts gegen das erste (1888/91 gegen 1884/87) in 10 Provinzen durch Minusund in 3 durch Pluszeichen gekennzeichnet sind; im folgenden Jahrviert

365

Der Selbstmord von Maennern in Preussen 1884—1914

Tabelle IV A u f 1 0 0 . 0 0 0 Uber 1 5 j ä h r i g e m ä n n l i c h e P e r s o n e n k o m m e n m ä n n l i c h e S e l b s t m o r d e in den Provinzen

cu

c

V

Lukrez Ludwig XVIII. (1755-1824)", 252

dt.

Philo-

frz. Kg.

Lukrez (Titus Lucretius Carus) (98—55 v. Chr.)", röm. Naturphilosoph und Dichter 101, 219, 446, 539 Luther, Martin ( 1 4 8 3 - 1 5 4 6 ) " 461, 547 f. Lutz, Hermann (1881nach 1942), dt. Zeithistoriker Lyser Leyser

268

Maclver, Robert Morrison (1882-1970), schott./nordamerik. Politologe, 1940 Präsident der American Sociological Society 327, 347 de Magelhäes, Fernäo (1480-1521)" 160 Magellan -» Magelhäes Maine, Sir Henry James Sumner (1822— 1888), engl. Jurist und Rechtshistoriker 106 f., 219, 327 Malthus, Thomas Robert (1766— 1820)" 317 Marx, Karl (1818-1883)* 215, 219, 236, 2 3 9 - 2 4 1 , 252 f., 260, 314, 411, 481 Mascher, Heinrich Anton (1824-1898), dt. Rechtshistoriker 398 Mason, Robert (1588 oder 1589-1662), engl. Gelehrter und Jurist 450, 4 5 2 454, 543 f. Masterman, [vmtl.] Lucy Blanche (bl. 1934), lib. engl. Sozialpolitikerin, Witwe von Charles Frederick Gurney Masterman (1874-1927), brit. Politiker 402 Maxwell, Vaughan (f 1931), engl. Übersetzer 495

582

Apparat

von Mayr, Georg (1841-1925) tiker

", dt. Statis-

Harro Schulze-Boysen; Großnichte von

it./frz. Kar-

Müller, Adam Heinrich (Ritter von Nitters-

303, 317 f., 487

Ferdinand Tönnies

Mazarin, Jules (1602 — 1661)", dinal und Staatsmann

(65)

dorf) (1779-1829)",

Meinecke, Friedrich ( 1 8 6 2 - 1 9 5 4 ) * , dt. Historiker

561

Meisel, Franz (1853 — 1939), österr. Finanzwissenschaftler

311

Meitzen, August (1822-1919),

dt. Statisti-

ker und Agrarhistoriker Mersenne,

Marin

485

1[1588-1648)'',

Mönch und Mathematiker

frz.

448, 537 f.,

540, 542 ), Schwei-

516

Metz, Rudolf ("'1891), Geistesgeschichtler, Gymnasialprof. in Heidelberg Michel Angelo

Michelangelo

Michelangelo

Buonarrotti

(1475 — frz. Histori-

7

Mill,

John

Stuart

236,

(1806-1873)*

281, 473, 478 Molesworth, engl. Hg.

Sir

William

Parlamentarier

(1810-1855), und

Hobbesdt.

Chef des Generalstabs 1906-1914

232

Montesquieu, 1755)"

Charles

(1689—

259

ker (Kriegsursachen 1914) André

268 frz.

("1884),

Pascalfor-

445, 538

Morgan, Lewis Henry (1818 —1881)", nordamerik. Ethnologe

328

Moser, Justus (1720-1794)",

dt. Schrift-

steller, Historiker, Staatsmann

393 f.,

398 Moses (2. Jt. v. Chr.)* Kulturkritiker,

Esteban

(1617—

93

Mussolini, Benito ( 1 8 8 3 - 1 9 4 5 ) *

267

von Mutius, Gerhard ( 1 8 7 2 - 1 9 3 4 ) , dt. Diplomat und kulturphilos. Schriftsteller; Tönnies in Oslo und Kopenhagen als dt. behilflich

272,

459-464,

545-550

Napoleon

I. Bonaparte

(1769-1821)*

Neumann, Therese (1898-1962)*, matisierte reuth")

(„Therese

dt. Stig-

von

Konners-

448, 541

Marquis de Newcastle -» Cavendish, William Niceforo, Alfredo (1876-1960),

it. Statisti-

ker, Kriminologe, Soziologe Nietzsche, Friedrich

561

(1844-1900)*

Nikolaus ser

459,

II.

(144) Jesuit,

russ.

(1868-1918)*,

Kai-

(232)

Noel, Estienne (Etienne) (1581-1660),

frz.

445, 538 f.

Ogburn, William Fielding nordamerik. Soziologe

dt.

Emigration

350

Mulachiè, Helga (1910— ), Schwester des (späteren Widerständlers gegen Hitler)

(1886-1956)*, 327, 347

Oldenburg, Henry ([zwischen

1617

und

2620]-!677), Bremer/engl. Diplomat; Sekretär der Royal Society

448, 541

Oppenheimer, Franz ( 1 8 6 4 - 1 9 4 3 ) *

334f.

„Orpheus der Zweite" (bl. 1932),

pseud-

onymer ns. Gelegenheitsdichter Osterkamp, Frank (1958-

Muckermann, Friedrich (1883-1946)*, 1933

Bartolomé

1682)*

(1860-1938),

bayer. General, Völkerrechtler, Histori-

scher

Murillo,

Physiker und Jesuit

Graf Montgelas, Maximilian

Morize,

327,

461 f., 547

447 f., 540

von Moltke, Helmuth (1848-1916)", de

Publizist

336

(192), 193, 251, 406, 506

92

1564)*

Michelet, Jules (1798-1874), ker

496

dt. Staats- und Ge-

sellschaftstheoretiker,

Gesandter

Merz-Benz, Peter-Ulrich (1953zer Soziologe

357

381

), dt. Philosoph,

Mitarbeiter dieses Bandes

XXIV

Ostwald, Wilhelm (1853-1932)*,

dt. Che-

miker, Naturphilosoph 314 Oxenstierna, Axel (1583 — 1654)*, Staatsmann

309

schwed.

583

Personenregister von Papen, Franz 297, 300

(1879-1969)"

295-

Paquet, Alfons (1881-1944)", dt. Schriftsteller 234, 350 Pascal, Blaise (1623-1662)'' 445, 538 Paulsen, Friedrich (1846-1908)", dt. Pädagoge und Philosoph, mit Tönnies befreundet 236, 535 Payne, Robert (1595 oder 1596-1651), engl. Gelehrter; Freund H o b b e s ' 451, 456, 544 Perikles (ca. 500-429 Pestalozzi, Johann

v. Chr.)" Heinrich

111, 219 (1746—

von Reichenau, Charlotte ( 1 8 9 0 - 1 9 5 2 ) , dt. Volkswirtin und Hauswirtschaftswissenschaftlerin 561 f. Reinhardt, Ernst (bl. 1935), dt. Verleger 519 Renouvin, Pierre (1893-1974)", frz. Historiker 229 Reuter, Fritz ( 1 8 1 0 - 1 8 7 4 ) " 177 (Hz.) de Richelieu, A r m a n d - J e a n du Plessis (.1585-1642)" 65,219 Ritsehl, H a n s (1897-1993), senschaftler 4 0 4 - 4 1 5 Ritter H u g o -» H u g o

dt. Finanzwis-

1827)" 243-246 Peter I., d. Gr. ( 1 6 7 2 - 1 7 2 5 ) " 491 Petty, Sir William (1623-1687)", engl. Pionier der vergleichenden Statistik, Freund H o b b e s ' 487 Pilatus (Pontius Pilatus) (?-39[?]) ! i (71) Planck, M a x ( 1 8 5 8 - 1 9 4 7 ) " 234 Piaton (427/428-347/348 v. Chr.)" 282, 351

(von) Rodbertus, Carl (1805-1875)", dt. Volkswirt 104, 219, 328 Röpke, Wilhelm (1899-1966)", dt. Soziologe und Volkswirt 522 Roscher, Wilhelm (1817-1894)", dt. Volkswirt 19, 219, 412 Rössiger, M a x Richard ("1888, bl. 1932), dt. Angestellten-Gewerkschafter 475 — 477, 500

Plenge, J o h a n n (Max Emanuel) (1874— 1963), dt. Soziologe 327, 345 f. Poisson, Denis (1781-1840)", frz. Mathematiker, Physiker 316 Pontius Pilatus

Rousseau, Jean Jacques 1778)" 78, 219, 258

Popper, Josef (1838—1921), österr. Ingenieur, Sozialreformer 437 Popper-Lynkeus —• Popper Poske, Martin (1970), dt. Politologe, Mitarbeiter dieses Bandes XXVIII Puchta, Georg Friedrich ( 1 7 9 8 - 1 8 4 6 ) " , dt. Jurist 399 (Frhr. von) Pufendorf, Samuel 1694)" 321, 327, 343

(1632 —

Quetelet, Adolphe (1796-1874)", Astronom und Statistiker 486 R a d b r u c h , Gustav (1878-1949)",

belg.

dt. Jurist

und Rechtspolitiker 521 Raffael (Raffaelo Santi) ( 1 4 8 3 - 1 5 2 0 ) " (von) Ranke, 119, 219

Leopold

Ratzel, Friedrich (1844-1904)", Geograph 160, 219

92

(1795-1886)" dt. (Sozial-)

(1712 —

Sagnac, Philippe (1868-1954), frz. Historiker 7 C o m t e de Saint-Simon, Claude Henri de Rouvroy ( 1 7 6 0 - 1 8 2 5 ) " 468 Salmon, Christopher Verney ("1901,

bl.

1929), engl. Philosoph 496 f. Salomon, Alice (1872-1948)", dt. Volkswirtin, Sozialpädagogin und Frauenrechtlerin, Emigration 1937 291 von Savigny, Friedrich Karl (1779-1861)", dt. Jurist 138, 219, 250, 399 Schäffle, Albert (1831-1903)", dt. Volkswirt und Soziologe 327 (von) Schelling, Friedrich'Wilhelm (17751854)" 250, 262 (von) Schiller, Friedrich

(1759-1805)"

5 f., 93, 149, 169, 214, 217, 219, 350 Schlüter-Knauer, Carsten (1955— ), dt. Politologe, 1986—90 wiss. Referent der F T G , Mit-Hg. der T G XXIII Schmalenbach, H e r m a n ( 1 8 8 5 - 1 9 5 0 ) , dt./ Schweiz. Sozialphilosoph 562

584

Apparat

Schmoller,

Gustav

(1838-1917)",

Volkswirt 178, 219, 317, 404 Schneersohn, Fischel (1887-1958),

dt.

de Spinoza, Baruch [Benedictus] (1632 —

dt./isr.

1677)" 190, 219, 235, 271, 282, 3 2 4 326, 335, 466 Stauning, Thorvald (1873-1942)", dän.

Pädagoge und Psychologe 388 Schopenhauer, Arthur (1788-1860)" 326

314,

Schulze-Boysen, Helga - * Mulachie Schumpeter, Josef (Joseph Alois) (1883 — 1950)'', österr. Volkswirt und Soziologe 312 f., 409 Schwartz, Hermann -» Schwarz Schwarz, Hermann ( 1 8 6 4 - 1 9 5 1 ) , dt. Philosoph und Psychologe 495 Seiden, John (1584-1654)*, engl. Jurist, Politiker, Orientalist Shakespeare, William 93, 383

448 (1564 — 1616)''

6,

Sibbern, Frederik Christian (1785 — 1872), dän. Philosoph 283 f. Siemsen, Anna (1882-1951), dt. Pädagogin, wie Tönnies Verteidigerin von E. J. Cohn, Emigration 381 f., 521 Simmel, Georg (1858 — 1918)'' 272 Smith, Adam ( 1 7 3 2 - 1 7 9 0 ) " 104, 179, 219, 248, 414, 485 Snyder, Alice D. (1887-1943),

nordamerik.

Anglistin 473 f. Sokrates (470-399 v. Chr.)" 284, 505 Gf. zu Solms(-Rödelheim und Assenheim), Maximilian Ludwig) (1893-1968), dt. Soziologe, von Tönnies promoviert, mit ihm befreundet, Stifter des Forscherheimes Assenheim 390, 518 f. Sombart, Werner (1863-1941)" 47, 54, 192, 219, 234, 418 f., 421, 501, 525, 528 Sorbiere, Samuel (1615 — 1670), frz. Schriftsteller und Übersetzer, Arzt; Briefwechsel mit Hobbes u. a. 448, 541 Sorley, William Ritchie (1855-1935), engl. Philosophiehistoriker

323, 562

Sorokin, Pitirim A. ( 1 8 8 9 - 1 9 6 8 ) "

327,

347, 562 Spencer, Herbert ( 1 8 2 0 - 1 9 0 3 ) "

189, 219,

232, 236, 327 Spickermann, Ralf (1968— ), dt. Soziologe

XXIV

Politiker

237

Steffen, Gustav F. (1884-1921), schwed. Historiker, Politiker 272, 285 Reichsfrhr. vom und zum Stein, Heinrich Friedrich Karl (1757-1831)" 394, 485 Steinmetz, Sebald(us) Rudolph (1862 — 1940)", nl. Soziologe 327, 3 4 6 - 3 4 8 , 357, 488, 562 Stenzel, Oliver, (1970), dt. Historiker XXIV Sterne, Laurence (1713-1768)" 508 Stoltenberg, Hans Ludwig (1888-1963), dt. Soziologe, Tönnies' Schüler, zeitweise Sekretär des Forscherheimes Assenheim von Max Gf. Solms 562 Storm, Theodor ( 1 8 1 7 - 1 8 8 8 ) " XXIII, 68, 219, 224 Striefler, Heinrich (1905- nach 1975), dt. Soziologe und Siedlungspolitiker, Assistent von Tönnies und Max Solms, Mitredakteur an GdN 357, 519 Strindberg, (Johan) August (18491912)" 337 Süßmilch, Johann Peter (1707-1767)", preuß. Pastor und Statistiker 316, 485 Tacitus, Publius Cornelius (50—ca. 116)" 63, 423, (530) Taine, Hippolyte (1828-1893), frz. Geschichtsphilosoph 7 Takata, Yasuma (1883— nach 1961), jap. Soziologe und Wirtschaftswissenschaftler 562 Tarde, Gabriel ( 1 8 4 3 - 1 9 0 4 ) * 399 Thälmann, Ernst (1886-1944)" 266 Thibaut, Anton Friedrich Justus (1772 — 1840)*, dt. Jurist, Musikwissenschaftler 138, 219 Thomasius, Christian (1655 —1728)", dt. Jurist, Philosoph, Gegner der Hexenprozesse 321 Thomsen, Anton (1877-1915), dän. Philosoph 496 f.

585

Personenregister Thorvaldsen, Bertel

(1770-1844)"

460,

547

tin

Thukydides ( 4 6 0 - 3 9 5 v. Chr.)'' Thurnwald,

Richard

dt.

327, 562

de Tocqueville, Alexis (1805-1859)''

7 pas-

(1855 — 1936)"

Publizistin,

von Max Weber

sim

350, 522

"

Weber, Marianne (1870-1954), rechtlerin,

Tönnies,

Ferdinand

X X I V , 522

Weber, Alfred ( 1868-1958)

111

(1869-1954)",

Ethnologe und Soziologe

Weber,

Max

dt. FrauenNachlass-Hgn.

291, 483

(1864-1920)"

337,

272,

406, 482 f.

Tönnies, Lise (1957— ), dän./dt. Germanistin

Wassing, Jacqueline (1964— ), nl. Germanis-

X X I V , 271, 545

Tönnies, Marie (Henriette Wilhelmine, geb. Sieck) (1865-1937), dinand Tönnies Torricelli, Physiker

verheiratet mit Fer519

Evangelista

(1608-1647)-',

445, 536, 539

Troeltsch, Ernst (1865-1923)", loge und Philosoph

dt. Theo-

85, 219

Trotzki, Leo (Lew) Dawidowitsch 1940)"

it.

(1879—

355

von Wegerer, Alfred ("1880 Wernicke, Wolfgang ("1908 Volkswirt Wieland,

dt.

268 bl. 1936),

dt.

562 Christoph

Martin

(1733 —

87

1813)"

von Wiese (und Kaisers Waldau), Leopold 280, 327, 3 3 3 - 3 4 4 , 346,

(1876-1969)" 428, 562

Wiese-Krukowska, Annette (1961—

), dt.

Politologin, Mitarbeiterin dieses Bandes,

(de Silva y) Velasquez, Diego Rodriguez (1599-1660)" 93 Vere (Veere), Sir Horace (1565-1635), engl. Militär, 1622 Kommandeur im Dreißigjährigen Krieg 452 92 da Vinci, Leonardo (1452 — 1519)"

grüne Politikerin

dt.

Statistiker und Volkswirt 478 Wagner, Adolph (Heinrich Gotthilf) (1835-1917)" 137 f., 219, 328 f., 412, 535 Wagner, Richard ( 1 8 1 3 - 1 8 8 3 ) " ' 143 Wallas, Graham ( 1 8 5 8 - 1 9 3 2 ) , engl. Politologe 113, 219 Wallis, John (1616-1703), engl. Mathematiker 448, 541 Walther, Andreas ( 1 8 7 9 - 1 9 6 0 ) , dt. Soziologe, 1927-1945 Professor in Hamburg 327, 345

XXIV

Wilbrandt, Robert (1875-1945), wirt und Sozialpolitiker Wilhelm

II.

dt. Volks-

562 Dt.

Kai-

Windscheid, Bernhard (1817-1892)",

dt.

ser

(1859-1941)",

267, 294 f.

Jurist Wagemann, Ernst Fr. (1884-1956)",

bl. 1931),

zeithistorischer Publizist

432

de Witt, Jan (Johan) Staatsmann

(1625-1672)",

nl.

325

Wunderlich, Frieda ( 1 8 8 4 - 1 9 6 5 ) , lib. dt./ nordamerik. Soziologin, Volkswirtin, Sozialpolitikerin, 1933

Feministin,

Emigration

286

Wundt, Wilhelm ( 1 8 3 2 - 1 9 2 0 ) "

236

Zander, Jürgen (1939— ), dt. Soziologe, Archivar,

erschloss

Tönnies'

Nachlass

X X I I I , 518 Zweig, Stefan ( 1 8 8 1 - 1 9 4 2 ) "

234

Sachregister Die Wörter folgen einander alphabetisch; diakritische Zeichen werden dabei außer Acht gelassen (ä, ä = a; 5, c = c; 1 = i; 1 = 1; n = n; ö, 0 = o; ü = u); Ligaturen werden aufgelöst (se = ae; ff = ff; y = ij; n = nn; oe = oe; ß = ss).

In diesem (sog. Renkenden') Sachregister wurden die Hinweise nicht mechanisch, sondern nach herausgeberischem Urteil generiert. Die sehr ausgearbeitete, oft scheinbar umgangssprachliche tönniessche Terminologie (z. B. „Gewohnheit", „Sitte") wurde sorgfältig berücksichtigt; jedoch auch die lexikalisch fortentwickelte der Soziologie. Manche Schlagworte, die Tönnies zuweilen exakt, zuweilen lax benutzt (z. B. „England"), wurden etlicher Zweifelsfälle halber getrennt vom Oberbegriff (hier z. B. „Großbritannien") ausgewiesen. Die Einordnung zusammengesetzter Schlagworte richtet sich nach den Substantiven, auch bei festen Fügungen. („Soziale Frage" suche also unter „Frage, soziale".) Alle Worte, die der alphabetischen Reihung nicht dienen, sind kursiv abgesetzt; also auch alle Weiterverweise. Fette Seitenzahlen geben an, dass ein ganzer (Teil-)Beitrag zu diesem Schlagwort dort beginnt. (Innerhalb des Beitrags wurde dasselbe Schlagwort dann nicht noch einmal vergeben.) Ein kürzeres, von Ferdinand Tönnies für den GdN autorisiertes (und hier eingearbeitetes) Sachregister findet sich oben auf S. 220—223. Abbildung: Höffding Aberglaube

139,

Ägypten

240

168,

203,

220,

335,

295, 401 Abkehr

125

agogische Frauenarbeit 65, 1 5 8 , 1 9 3 , 2 0 5 , 2 2 0 , 2 5 0

Absterbestatistik

213

Abstieg einer Kultur Adel

2 2 0 s. a.

Adel als Samtschaft

sche

Agrarwirtschaft 332

Agrarwirtschaft

Person,

329

28-30,

170, s. a.

Gutsherrschaft

178,

198,

Grundherr-

Preußi-

der

Wissenschaften,

Schwedi-

316 500

Akteur, Kollektiver s. Person,

2 2 0 , 4 9 1 f. s. a. Bauer; s. a.

Wissenschaften,

der

Akademiker

136

Agrarkommunismus

schaft;

sche

291 482

292

Akademie

18, 1 6 0

Agrargeschichte

Akademie (Heidelberg) Akademie

218, 334

65, 79, 111, 220, 2 5 0

Afrika

168

Akademie, Deutsche, für soziale und päd-

Absolutismus

Ackerbau

154

Ahnenverehrung

juristische;

s.

kollektive

Aktiengesellschaft Alkoholismus

78

220, 290

Alliierte und assoziierte M ä c h t e 5.

Mächte

588

Apparat

Almende alôd

Antisemitismus: Russland

105 f., 220

Antisemitismus

71, 200

A l t b ^ g e r t u m s. Bürgertum, Alter

382 f.

Arbeit

Altern

Zivilisation

144,

tigkeit

Heimarbeit,

Altertum

Arbeiter

403

17, 20, 104, 154 s. a.

Altona (Stadt) Amerika

220 s. a.

153, 159 5. a. Staaten,

Verei-

Amerika

Amerika: Höffding

64,

101 f., 115,

220,

236

A m e r i k a : Spencer

Arbeiterklasse

80,

186, 194,

239,

125,

279, 352, 439, 499, 501 s. a.

Amerika: Philosophie

und Proletariat;

465

s. a.

Klasse 251 288

307

Arbeiterklasse: K i n d e r r e i c h t u m

Amerika: Wirtschaftsordnung

410

Arbeiterklasse

452

keit

A m t , Kaiserliches Statistisches Reichsamt,

478 s. a.

und

251

sche

220

(XIX), 297, 299, 305, 500

Ordnung

Arbeitlosigkeit s.

Anarchismus

502

Arbeitsdienst

bände

330

476

Arbeitslehre

294, 475, 499

Angestellte und Beamte 5. Beamte

442

A r b e i t s g e m e i n s c h a f t freier Angestelltenver-

331

A n e r k e n n u n g , völkerrechtliche

Arbeitslosigkeit

437

Arbeitsdienst, freiwilliger

286

A n e r k e n n u n g , tarifrechtliche

und

An-

Arbeitslose

430 430

Arbeitslosenunterstützung

gestellte Angestellte: Delegationstheorie Angestellte und Proletariat Anglo G e r m a n schaft,

s.

animalisch

Gesell-

Mensch

199, 207 f.

Animismus Anomie

220 s. a.

91 s. a.

Sozialprestige Intellektua-

lismus Ansicht, voluntaristische s.

Voluntarismus

486

19, 20, 21, 83, 90, 110, 135, 179,

220 s. a.

124, 220, 430, 433 s. a.

Altersarbeitslosigkeit;

s. a.

267, 354, 381, 519

Antisemitismus (Begriff)

323

Jugendar-

beitslosigkeit 402

Arbeitspflicht s.

Arbeitszwang

Arbeitspflicht, zivile s. Arbeitsproduktivität Arbeitsrecht

433

115 Zivildienst 101

413

Arbeitsteilung

5 2 f . , 108, 157, 176, 220

Arbeitszwang

432, 437, 442 s. a.

dienst

Altertum

Antisemitismus

Arbeitslosigkeit

Arbeitsmarkt

Ansicht, intellektualistische s.

Anthropologie

Arbeitgeberbe-

440 f.

Arbeitslosigkeit, strukturelle

394

Ansehen, soziales

teiligung

Arbeitslosigkeit: E n g l a n d

168

388 f.

Anpassung

436, 440

Arbeitslosenversicherung:

477

Club London

500

Arbeitslosenversicherung

475

Deutsch-Britische

animal rationale

Antike

352

Arbeiterkonsumvereine

Anarchie s. a.

Angestellte

Wissenschaftlich-

Arbeiterpartei, Nationalsozialistische Deut-

Statistisches

A n a r c h i s m u s und Familie

403

Arbeiterklasse und D e m o k r a t i e

A m e r i k a : Weltwirtschaftskrise A m s t e r d a m : Descartes

Angestellte

Arbeiterklasse und Arbeitslosigkeit

232

Analphabetismus

Arbeit

236, 249

50

nigte, von

Tä-

220, 411, 436, 499

Arbeiterbewegung

Antike

Kooperation,

usw.

Arbeit gegen Kapital

156 Altersarbeitslosigkeit

383 —

82, 170, 220, 408, 428 s. a. Frau-

enarbeit,

360, 365

modernen

387

Shakespeare

385

altes

Alter und Selbstmord der

und

Architektur Arier, arisch

93, 142 201

Zivil-

589

Sachregister Aristokratie s. Adel Arithmetik, politische 486 s. a. England: Statistik Armut: Bosse 430 Armut: Hegel 255 Asien 18, 153 f. Asien: Philosophie 465 Assoziation 77, 78, 81, 83, 220, 329, 408 Assoziation des Kapitals 77, 132, 220 Ästhetik 350, 503 Astronomie 182 Atheismus 190 Athen 1 1 0 - 1 1 2 , 153, 158 Atlantik 153-155 Aufhebung .469 f. Aufklärung 287, 395, 401, 422, 470, 529 Aufklärung: Deutschland, 17. u. 18. Jh. 322 Aufrichtigkeit 283 s. a. Redlichkeit; s. a. Wahrheitsliebe Aufrichtigkeit und NSDAP 300 Aufstieg einer Kultur 218, 334 Aufstieg, sozialer 48, 74, 125, 413 Augsburg 111, 167, 490 Außenhandel 129, 192, 220 s. a. Handel Austausch 170, 175, 183 s.a Tausch Australien 161 f. Australien 407

(Staat):

Nationalbewusstsein

Autarkie 104 Automat(ion) 113, 220 Autonomie 330, 388 f. Bad Nauheim: von Bortkiewicz 319 Balkan 57 Bankkapital s. Kapital Bankwesen 52, 132, 220, 352 s. a. Geld Barbarei 160, 171, 354, 381 Basel 157 Bauer(n) 36, 48 f., 177, 220, 395, 500 s. a. Agrar[...]; s. a. Dorf; s. a. Pächter Bauern: Selbstmord 359 Bauernbefreiung 58, 134, 220 Bauernkriege 220 5. a. Jacquerie Bauernlegen 60, 136 Baukunst s. Architektur Bayern 191

Beamte

500

Beamte und Angestellte 477 Beamtentum 19, 406 Bedarfsdeckungswirtschaft 220 Bedürfnis 167, 169, 198 Bedürfnisse, staatliche 409 Begriffne,) 220 s. a. Normalbegriff Begriff, abstrakter: Hegel 254 Bejahung 413 Belgien 158 Belgien: Nationalbewusstsein Beobachtung 299 Bergbau 178

407

Berlin: von Bortkiewicz 315 Berlin: Hegel 251 Berlin: Immigration 388 Berlin: Koigen 386, 388, 390 Berlin (Provinz) 358 Berlin: Selbstmord 359 ff. Berlin: statistische Einheit 358 Berlin: Tönnies 1933 390 „Berliner Jahrbücher für Wissenschaft und Kritik" 253 „Berliner Monatshefte" 268 Bern: Koigen 386 f. Beruf 56, 499 Besitz 397 Besitz von Tauschmitteln 172 Betrieb 220 s. a. Großbetrieb Betriebsrecht 432 Bevölkerung 144, 171, 174, 179, 192, 220 Bevölkerungsstatistik 331 Bevölkerungstheorie 317 315 Bevölkerungs Wissenschaft Bewegung, kooperative s. Genossenschaftsbewegung Bewegung, nationalsozialistische s. Arbeiterpartei, Nationalsozialistische Bewegung (Physik) 448 Bewunderung 220 s. a. Sozialprestige Bewusstsein s. a. Nationalbewusstsein; s. a. Volksbewusstsein Beziehungen, bejahende 339 f. Beziehungen, soziale 338, 340 f., 416 Beziehungen, verneinende 339 f. Beziehungslehre 338 f., 341 f., 344 Beziehungslehre: Tönnies 338

590

Apparat

BGB s. Bürgerliches Gesetzbuch Bibliothek, Britisches Museum 5. Museum Bildung 394 s. a. Erziehung Bildung, humanistische 5 Bildung, politische 123 Bildung und Selbstmord 360 Bildung, wissenschaftliche 466 Binden und Lösen 339 f., 342 Binnenland 153 Biologie 183, 347, 467 Birmingham 51 Boden 67 f. Bodenkultur s. Agrarwirtschaft Bodenschätze 158 Böhmen 157 Bolschewismus 410 f. Bönhase 50 Bonn: Fritz Kern 268 Böse, das 190 Bourgeoisie 65, 75, 186, 220, 250, 499 Brandenburg (Kurfürstentum) 156 Brandenburg (Provinz) 358 Brandenburg (Provinz): Selbstmord 359 ff. Brasilien 160 f. Brauch 338 Braunschweig 156 Braunschweig (Land): Hitler 266 Bremen 111 „Brennessel" [Zs.] 385 Breslau: Cohn 354, 381 Brüderlichkeit 413 Brutisten 324 Buchführung, Doppelte 421 Bulgarien 210 Bulgarien: Arbeitsdienst 437 Bulimie 448 Bund, Deutscher 406 Bundesstaat 122, 220 Burenkrieg s. Krieg (Burenkrieg) Bürger 61, 121 5. a. Bourgeoisie; Bürgertum Bürgerkrieges) 187, 220 Bürgerkrieg, Nordamerikanischer 187 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) s. buch, Bürgerliches

s. a.

161, Gesetz-

Bürgerrecht^

263, 429

Bürgerschaft als Staatsbürgerschaft Bürgertum 5. a. Bürgertum, altes Bürgertum, neues Bürokratie Byzanz

405

Bourgeoisie 75 65, 75 s. a.

Bourgeoisie

412

160, 220 s. a.

Konstantinopel

Cambridge (Großbritannien) 211 Cäsarismus 252, 421, 470, 528 Charakter s. Familien-; Stammes-; charakter Charisma s. a. Heil Charlottenburg 358 Chatsworth: Hobbes 448 Chemie 183, 220 Chile 161

Volks-

China 144, 162 f., 493 China: Eheformen 287 China: Familie 276 Christenheit als Samtschaft 332 Christentum 84 f., 201, 209, 220, 336, 526 f. Christentum: Hegel 254 Christentum, irisches 93 Christentum, katholisches 191 Christentum, katholisches, und Selbstmord 360 Christentum, praktisches 434 Christentum, protestantisches 396, 507 s. a. Protestanten Christentum, protestantisches, und Selbstmord 360 Christentum: Urchristentum 85 „christlich-germanisch" 425 Chronologieprinzip: T G X X I , 515 City, City-Bildung 220 s. a. Großstadt Civitas Dei 84 Civitas Romana 84 Civität 137, 201 Clan 5. Klan Cleve s. Kleve Commonwealth: Spencer 232 Congrès international de philosophie, (8.) 465

591

Sachregister Daily-Telegraph-Affäre 295 Dänemark 155, 459, 545 Dänemark: Höffding 236 f., 280 Dänemark: Nationalbewusstsein 407 Dänemark: Volkshochschulen 460 Dansk Utsyn [dän. Zeitschrift] 459 Darmstadt: Theater 350 Dasein 342 Dawes-Plan 268 Delegationstheorie (Angestellte) 475 Demographie s. Bevölkerungswissenschaft Demokratie 127, 307, 387 Demokratie: Hegel 259 f. Demokratie, liberale 407 Demokratie, nachkapitalistische 407 Demokratie, parlamentarische 407 Demokratie, vorkapitalistische 407 Den Haag siehe Haag Denken 182, 197, 220 Denken, dialektisches 220 s. a. Dialektik Denken, historisches 400 Denken, juristisches 343 Denken, rationales 400 Denken, wissenschaftliches 220 Denker 5. a. Wissenschaftler Depression, wirtschaftliche s. a. Krise; s. a. 'Weltwirtschaftskrise „Der Kaufmann von Venedig" [Bühnenstück] 383 f. Destruktion 113, 180 Destruktionsmittel 180 Determinismus s. Gesetz und Zufall die Deutschen s. Deutschland Deutschland 49, 60 f., 64, 83, 99, 212 s. a. Bund, Deutscher; s. a. Reich, Deutsches; s. a. Reich, Heiliges Römisches Deutschland 1932 233 Deutschland: Allgemeines Handelsgesetzbuch 250 Deutschland: Arbeitslosenversicherung 436, 440 Deutschland: Arbeitslosigkeit 403 Deutschland: Avenarius 236 Deutschland: BGB 250 Deutschland: Demokratie 407 Deutschland und Frankreich 229, 522 Deutschland: Gesinde 275

Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: Deutschland: 346

Hobbesianismus 320 Hochschulen 354 Höffding 236 Industrialisierung 250 Kapitalismus 248, 250 Kierkegaard 461 f. Liberalismus seit 1830 250 Naturrechtslehre 249 Paulsen 236 Pestalozzi 243 Schrebergärten 402 Selbstmord 360 Soziologie 272, 308, 327,

Deutschland: Soziographie 346, 488 s. a. Reich, Deutsches: Statistik Deutschland: Sprachkenntnisse 495 Deutschland: Stadtentwicklung 489 Deutschland: Volkscharakter 423, 533 Deutschland: Wirtschaftsordnung 410 Deutschland: Wundt 236 Dialektik 140, 216 „Die Brennessel" s. „Brennessel" „Die Kriegsschuldfrage" s. „Kriegsschuldfrage" Dienen 30 Dienstbotenfrage s. Hausangestellte Dienstleistung 52 f. Differenzierung 35, 176 Dissolution 97 s. a. Evolution Distanz, soziale 395 Dithmarschen: Klans 276 Dogma 121 Dominikaner 191 Doppik s. Buchführung, Doppelte Dorf, Dorfverfassung 105, 142, 171, 176, 220, 392 Drittmittel: Tönnies 292 Duell 398 Dumping(-S;yste?w) 131, 220 Düna 154 Durchschnitt (Begriff) Egoismus

302

38, 220

Ehe 27, 37, 141, 176, 220, 264, 286, 341 s. a. Monogamie; s. a. Polygamie Ehe, bürgerliche 265

592

Apparat

Ehe linker Hand

286 s. a. 264

Ehe und Selbstmord

365, 371

89, 140, 146, 165, 198, 218,

307

Eigentum

Entwicklung, geopolitische

506

Entwicklung, historische

Ehrfurcht bei Tönnies 62, 67,

235

Entwicklung

174, 220, 397,

431 f. s. a. Gemeineigentum;

s. a.

413, Privat-

eigentum

75, 139,

schen

151 5

individuellen

des

Men-

72

Entwicklung der Kultur s.

Kulturentwick-

lung

Eigentum (Entstehung)

71, 431 f.

Eigentum an Produktionsmitteln Eigentum und

Entwicklung des sozialen Menschen 135

Recht auf Arbeit

Entwicklungsökonomie

431 f.,

435

Epos

181 f.

Einheitsgewerkschaft

Einkaufsgenossenschaft(en) Einsicht

414

263

Eintracht

X X , 276

Einzelhandel

60

Erfahrung

182, 191, 209, 299

Erfindung

179

Erkenntnis

475 s. a.

161

Erklären, Erklärung

Elastizität (mathematisch-statistisch)

380

Erlösung

368

Ernährung s.

Emigration

388

Eroberung

Nahrung 171 s. a.

Ertragsgesetz

193

Ende der Neuzeit s. Neuzeit: 211, 4 5 2 - 4 5 8 , 490 s. a.

Großbritannien

England: Arbeiter aufs Land

Groß-

Arbeitslosenversicherung

England: Arbeitslosigkeit England: Demokratie

402

Erziehung: Hegel Erziehung, strenge Ethik

288 289

121, 469, 503 434

275

Ethik: Höffding

England: Hobbes

447

„Ethische Kultur" [Zs.]

England: Jakob I.

449

Ethnos s. a.

England: Mill

„Ethos" [Zs.]

384f.

Eugenik

236

England: Recht auf Arbeit England: Sozialismus

430,436

239

Unter-

257

England: Gesinde

England: Juden

s. a.

richtswesen

Ethik: Bosse

407

Arbeitslose

220 s. a. Bildung;

Erziehung, elterliche

434

England: Arbeitslosenversicherung s.

Erziehung

Imperialismus

174

Erwerbslose s.

Ende

49 f., 60, 71, 93, 109, 155, 157,

78, 467

191, 401

Elektrizität

britannien:

Enquête

216, 282, 318, 357, 466, 474,

496

246, 302, 352

Eisenbahn

Vererbung

Erhebung (Methode) Konsumgenossenschaf-

und

142, 220

Erbuntertänigkeit

476

310

144

Erblehre s.

161

72

310

Entwicklungswerttheorie Epidemie

Einheit, staatliche

England

220

188

Ehrerbietung

Empirie

Evolution

Entwicklung, geistig-moralische

279, 287

Ehrenwort: Hitler 1930

Einheit

Erhebung

125

Entwicklung, biologische

356

ten

304 s. a.

Entfremdung 401, 493 s. a.

265

Ehescheidung Ehre

288

Entwicklung

Ehe und Naturrecht Eherecht

Enquête

Polygamie

Ehe, kinderarme und kinderreiche

Europa

280 503

Volkstum 388

311 s.a.

Rassenfrage

18, 70, 144, 153 f., 160, 162, 187,

220, 295

England: Spencer

232, 236

Europa: Genossenschaftsbewegung

England: Statistik

481, 485 f.

Europa, nördliches

18 s. a.

414

Skandinavien

Sachregister Europa: Philosophie 465 Europa, südliches 18 Europa und Weltkrieg, Erster 300 Europa: Weltwirtschaftskrise 307 Europa: Wirtschaftsordnung 410 Europäisierung 162 Evolution 33, 89, 97, 101, 220 s. a. Entwicklung Exekutive 82 Export 129 s. a. Außenhandel Fahnenflucht: Wilhelm II. 295 Familie 148, 220, 268, 331, 337 Familie und Angestellte 476 Familie und Arbeitslosigkeit 402 Familie (Begriff) 274 Familie: Hegel 254, 257 Familie, Kleinhaltung 220 Familie: Produktivität 277 Familie, proletarische 289 Familie, proletaroide 289 Familie: Sinn 274, 289 Familiencharakter 394 Familienpolitik 279 Fanatismus 401 Fanatismus, nichtreligiöser 469 Faschismus s. Fascismus Fascismus 267 Fehde 187 Fehmarn: Klans 276 Feind(e), Feindlichkeit 78 f., 220, 394 feôd 71, 220 Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft XXIII Fernhandel 29 5. a. Handel Fest 141, 148 feste Lebensformen s. Lebensform Feudalherren 220 s. a. Herrentum Feudalismus 71, 158 Finanzsoziologie 311—313 Fischerei s. Wildbeutertum Fiskalpolitik 130, 186 s. a. Steuerstaat Flämisch s. Sprachkenntnisse Flensburg: Hitlerrede 305 Florenz 110, 155 flüssige Lebensformen s. Lebensform Forscher s. Wissenschaftler

593

Forschungsinstitut für Organisationslehre und Soziologie 346 Fortpflanzung s. a. Sexualität Fortschritt 23, 80, 113, 192, 198, 218, 220, 401 s. a. Kulturfortschritt, s. a. Rückschritt Fortschrittsfeindschaft 218 Frage, soziale 124, 125, 222, 238, 260, 279 Fragebogen 473 Franken (Reichskreis): Polygynie 287 Frankfurt am Main: Straßburger Wissenschaftliche Gesellschaft 316 Frankfurter Schule (534) Frankreich 49 f., 60 f., 65, 93, 126, 155, 157 f., 204, 212, 490 Frankreich 1914 231 Frankreich: Comte 236 Frankreich: Demokratie 407 Frankreich und Deutschland 229, 522 Frankreich: Recht auf Arbeit 429 Frankreich: Soziologie 346 Frankreich: Statistik 486 Frau(en) 24, 26, 30f., 63, 148, 169 f., 353, 405, 473, 492 s. a. Geist, weiblicher Frau und Ehescheidung 287 Frau: Entwicklung 334 Frau und Sitten 400 Frau und Sozialforschung 291 f. Frau und Sozialismus 279 Frauenarbeit 311 Freiburg 111 Freidenker(tum) 44, 87 f., 157, 203, 212, 221, 336 Freidenker als Samtschaft 332 Freihandel 130, 185, 193, 221, 295 Freiheit 42, 73, 76, 83, 110, 115, 128, 193, 221, 391, 412 f., 421, 527 s. a. Pressefreiheit Freiheit der Arbeit 128 Freiheit (Begriff) 264 Freiheit, gemeine 394 Freiheit des Gewissens s. Gewissensfreiheit Freiheit des Handels s. Freihandel; s. Handel, freier Freiheit und Sitte 391

594

Apparat

Freiheit und Z w a n g mus; s. a.

221 s. a.

Determinis-

Freiheit

Geist und Wille

Freiheitsrechte, soziale

Geistig-moralische

87, 221

Freimeister

50 f., 221

wicklung,

Wochenende

Geistlichkeit

Freizügigkeit

221

Geld 44, 171, 221,

Freundschaft Frevel

221 s. a.

264, 341, 405, 413, 506

Klerus

411

Kapital 173

Geldpolitik, staatliche s.

Währungspolitik

Geldwesen s. Geld

396

„Fridericus" / W o c h e n b l a t t j 352

Gelehrtenrepublik

Friede

G e l e h r t e n r e p u b l i k : 11. Jh.

187, 270 s. a.

Landfriede

Friedensvertrag (Versailles 1919) s. a. Weltkrieg,

Erster:

Frühkapitalismus

229, 475

Führer, F ü h r e r s c h a f t

Geltung

354 320

98, 221

Gemeinde

Ursachen

83, 106, 221

G e m e i n d e (Kirchengemeinde)

192

Frühkapitalismus: Kultur

Gemeineigentum

499

168, 221 s. a.

Herr-

schaft Funktionenteilung

Fürst(-Untertan-Verhältnis)

40,

74,

76,

senschaft

s. a.

413, 433

G e m e i n s c h a f t und Gesellschaft Garten

278

6, 31, 35,

145, 172, 335, 344, 404, 443, 535

g a s f ö r m i g e L e b e n s f o r m e n s.

Lebensform

Gebietsherrschaft

Herrschaft

221 s. a.

Gebilde, soziale(s) Gebrauchswert Gedächtnis

404

Sprachgenos-

usw.

G e m e i n s c h a f t (Begriff)

181, 221

gemeine

103, 221, 262, 397,

s. a. Genossenschaft;

108

Eigen-

tum Gemeinschaft

169

56, 84 f.

67, 69, 221 s. a.

Gemeinfreiheit s. Freiheit,

Funktion

Ent-

G e l d h a n d e l s. Geld Geld-Macht

331

s.

30, 51, 129, 172, 180, 221, 397, 492

G e l d k a p i t a l 5.

394 Freundeskreis

Entwicklung

Geld: A b s c h a f f u n g

79 Fremde)

299, 307

geistig-moralische

Freizeit s. a.

F r e m d e (Fremdheit)

410

Geisteskrankheit: Hitler

222

Freimaurer

Fremder (der/die

221

Geist, wissenschaftlicher

338, 340, 343, 498 175

G e f a h r s. a. Risiko; Gefüge

391

Gefühl

409, 466

Geist der Arbeit

ma

und

Gesellschaft:

„ G e m e i n s c h a f t " als gut

333, 335 405

G e m e i n s c h a f t und I n d i v i d u u m G e m e i n s c h a f t des O r t e s

235 281

438

83, 392, 405 s. a.

Nachbarschaft

s. a.

Wagnis

G e m e i n s c h a f t und Staat

406

G e m e i n s c h a f t : Volk s.

Volksgemeinschaft

Gemeinschaftsdenken G e m e i n w e s e n (Begriff)

99

Geist, genossenschaftlicher

G e m e i n Wirtschaft

243

409 405

311, 4 0 4

Geist des H a n d e l s

99 f.

G e m e i n w i r t s c h a f t und G e m e i n s c h a f t

Geist, m ä n n l i c h e r

27, 29, 147, 150

G e m e i n w i r t s c h a f t , monistische

Geist des Mittelalters Geist, m u t a t i v e r Geist der Neuzeit

26, 139, 150, 184

26, 222 s. a.

Geist, weiblicher

Innovation

Gemüt

8, 520

91 27, 29, 142, 147, 150

Genie

404

410 f.

336, 338

Gemütlichkeit Generation(en)

3, 416, 518, 545

„Geist der N e u z e i t " (Fortsetzung) Geist, p r o d u k t i v e r

Sche-

208 f.

G e m e i n s c h a f t , ideelle

168

G e d u l d bei Tönnies Gefangenenlager

Gemeinschaft

278 22, 24, 221

92, 462, 509

Genossenschaft

43, 107, 111, 243, 245,

263, 343, 492 s. a.

Einkaufsgenossen-

Sachregister Schäften usf.; s. a. Gewerkschaften und Genossenschaften; $. a. Realgemeinde Genossenschaft: Pestalozzi 243 Genossenschaft: Europa 245 Genossenschaft und Staat 414 Genossenschaftsbewegung 245, 353, 414 Genossenschaftswesen 304, 411 f. Genuss 3 6 Geopolitik 151 Gerechtigkeit 435 Germanen, Germanien 63, 106, 221, 492 5. a. Nordgermanen Gesang 149 Geschichte 5, 7, 213, 221, 388 Geschiedene und Selbstmord 5. Ehe und Selbstmord Geschlecht 221 Geschlechtstrieb s. Sexualität Geschmack 391 Geschwister 462, 549 Gesellschaft 77, 89, 197, 221, 262, 404, 408, 433 „Gesellschaft" als böse 333, 335 Gesellschaft, bürgerliche 329 Gesellschaft, bürgerliche: Hegel 254, 257 Gesellschaft, Deutsch-Britische 320 Gesellschaft, Deutsche, für Soziologie XIX, 272, 284, 305, 308, 319 Gesellschaft für Ethische Kultur 87 Gesellschaft, die große 113, 221 Gesellschaft als Samtschaft 332 Gesellschaft für soziale Reform und Recht ««/•Arbeit 439 f. Gesellschaft für Soziologie s. Deutsche Gesellschaft [...] Gesellschaft, Soziologische, in Graz 312 Gesellschaft, Soziologische, in Wien 308 Gesellschaftsvertrag 78, 261 Gesetz der großen Zahlen 316 Gesetz der kleinen Zahlen 316 Gesetz des Wachstums der Staatstätigkeiten 329, 412 Gesetz und Zufall 213, 325 Gesetzbuch, Bürgerliches (Deutschland 1900: BGB) 68, 138, 250, 265, 431 Gesetzgebung 221 Gesetzmäßigkeit, historische 221

595

Gesinde 274 f. Gesindezwang 135 Gesinnung, patriarchalisch-gemeinschaftlich 249 Gespräch 392 Gestalt, soziale 332, 338 Gestaltpsychologie 332 Gewalt 168, 181, 407 Gewalt, Dritte s. Jurisdiktion Gewaltenteilung 82, 221 Gewerbestand: Hegel 257 Gewerkschaften 343, 476, 489 Gewerkschaften: Anerkennung 331 Gewerkschaften: Angestellte 475 Gewerkschaften: Höffding 239 Gewerkschaften und Genossenschaften 239, 245 Gewerkschaftsbund der Angestellten 475 Gewissensfreiheit 123, 128, 221 Gewohnheit 25, 69, 154, 209, 338, 391 Gewohnheitsrecht 398 Glaube s. Religion Gleichheit 24, 199, 221, 354, 413 Globalisierung XX s. a. Kapitalismus; s. a. Weltmarkt Gnosis 426, 533 Göteborg: Tönnies 272 Göttingen 485 Göttingen: Achenwall 484 Göttingen: von Bortkiewicz 315 's Gravenhage s. Haag Graz: Soziologische Gesellschaft 312 Grenzkosten 174 Griechen 63, 200 s. a. Antike Griechenland 153, 158, 210 Grönland 160 f. Großbetrieb 184 Großbritannien 57, 61, 93, 126, 155, 158, 162 f., 192, 478 5. a. England Großbritannien 1914 232 Großbritannien: Arbeitslosenversicherung 440 Großbritannien: Gewerkschaften 343 Großbritannien: Höffding 236 Großbritannien: Konsumgenossenschaften 353 Großbritannien und (Nonf-jlrland 131

596

Apparat

Großbritannien: Recht auf 436

Arbeit

Großbritannien: Statistik 483 Großbritannien: Weltwirtschaftskrise

429,

306

Großhandel s. Handel Großrussland 107 Großstadt 109, 176, 192, 203, 391 Grundbesitz 80 Grundbesitz: Hegel 260 Gründerkrach 366 G r u n d h e r r s c h a f t 36, 39, 60, 205, 221 Gruppe 332 Gutachten 302 Gutsherrschaft 177 Gutswirtschaft und Selbstmord 359, 370 H a a g : Weltfriedenskonferenz Habsucht 384 H a d e r s. Konflikt Halle an der Saale: Gundling Hamburg 111 H a m b u r g : Hitlerrede 305 „ H a m b u r g e r Nachrichten": 305

232

321

Hitlerreden

H a n d b u c h , Statistisches 480 Handel 29 f., 38, 4 6 - 4 8 , 5 3 - 5 5 , 68, 77, 101, 104, 159, 175 f., 180, 187, 209, 221, 335, 413, 490, 511 s. a. Außenhandel; s. a. Einzelhandel; s. a. Kleinhandel; s. a. Zwangshandel H a n d e l (Begriff) 492 H a n d e l , freier 128 s. a. Freihandel Handelsgesetzbuch, Allgemeines 250 Handelshochschule Kiew 387 Handelskapital s. Kapital Handelskrieg 181, 187 Handelspolitik 129, 221 H ä n d l e r 51, 171, 392 s. a. Handel; s. a. Kaufmann Handwerk

2 8 - 3 1 , 36, 42, 50, 111, 177,

184, 221, 277, 398, 500 H a n n o v e r (Kurfürstentum) 156 H a n n o v e r (Provinz): Selbstmord 359ff. Hansa, Hanse 155, 157, 490 Häresie 63, 86, 221 Häresie, politische 65 H a u s (Begriff) 274

Hausangestellte 275, 500 Haushaltung 221 Hauswirtschaft, geschlossene 104 Hauswirtschaft, moderne 105 Heer 407 Hegelianismus s. a. Linkshegelianismus Heidelberg: Weber, M a x 482 Heidentum 221 Heil 401 Heimarbeit Held 91

221, 278

Hellas s. Griechenland Hellenismus 336, 425 f., 522 f. H e r r s. Herrentum Herrenschicht 30 Herrenschicht, alte 80 Herrenschicht, neue 80, 172 Herrenstand, Herrenstände 171 f., 221 Herrentum 36, 39, 221 Herrschaft 53, 79, 168, 171, 175, 189, 221, 263, 419, 526 s.a. Gebietsherrschaft; s. a. Herrenschicht H e r r s c h a f t und Genossenschaft 263 Herrschaft, patriarchalische 413 Hessen: Theater 350 Hessen-Nassau: Selbstmord 359 ff. Heteronomie 388 f. Heuristik 336, 344 Hexenhammer 191 Hexenprozesse, -Verfolgung 221, 321 f., 396 Hexenwahn 191 Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine 476 Historische Gesetzmäßigkeit s. Gesetzmäßigkeit Historische Rechtsschule s. Rechtsschule, Historische Historismus 327, 468 Hitlerputsch 1923 307 Hobbes-Gesellschaft s. Societas Hobbesiana Hobbesianismus: Deutschland Hobbesianismus: Niederlande Hochkapitalismus 192

320, 324 325

H ö f e s. a. Kultur, höfische Hohenzollern (Fsm.) 358 Holland (Gesamtstaat)

s.

Niederlande

597

Sachregister Holland-Gehen Holstein 155

393

Interesse 409 s. a. Konsumenteninteresse Interessenverbände 435 Involution des Individuums 334 Irland 93, 155

Hörigkeit 221 s. a. Bauern homme moyen 488 s. a. Durchschnitt Humanismus 5, 158, 221 Humanität 221, 401 Humankapital s. Kapital, organisches Humor 284, 463, 508, 549 f. Hunger 144, 169 Hussiten 157 Husum 5

Irland: Konsumgenossenschaften 353 Irland: Statistik 483 Irrationalismus (1934) 466 Irrtum 217 Islam 201, 210, 491 Island 160 f. istanbul 5. a. Byzanz; s. a. Konstantinopel Italien 92, 139, 153f., 158 s.a. Oberitalien

Ich 38 Ideal und Wirklichkeit 344 Idealismus 467 Idealismus, ethischer 308 Idealtyp: Weber 337 ideell-typisch s. Typus, ideeller Ideologie 203, 499 s. a. Zauber-Macht Illumination 87 Illusionen 410 Imperialismus rung .

126, 181, 185 5. a.

Italien: Fascismus Jacquerie

Erobe-

Imperium s. Reich, Römisches Import 5. a. Außenhandel Indien 106 f., 144, 154, 160, 162 f. Individualismus 31, 35, 56, 67, 74, 89, 94, 209, 221, 247, 329, 382, 412 Individualismus (Begriff) 329 Individualismus und Familie 286 Individuen, Individuum 38, 408 Individuum: Hegel 257 indo-europäisch 201 Industrialisierung 158, 192 Industrie 50, 221 Industriekapital s. Kapital Industriepolitik 185 Inflation 132, 312 Innovation

26, 98, 101, 154, 209

s.a.

Geist, mutativer Institut, Internationales Statistisches 316 Institut für Konjunkturforschung 302 Institut für Sozialforschung (Paris) 428 Institut für Soziologie (Kiel) XXIV Institut für Soziologie (Leipzig) 346 Intellektualismus 326 Intelligenz 221

268

493

Jagd 491 s. a. Wildbeutertum Jahrbuch, Statistisches 478 Jahrmärkte 221 Jansenismus 212 Japan 40, 144, 162, 436, 493 Jena: Oberlandesgericht 302 Jena: Siemsen 382 Jenseits 191 Jesuiten 445, 538 joking s. Spott Juden 46, 355 f., 401, 425, 532 Juden: Bürgerrechte 267 Juden in England 384 f. Juden im Russischen Reich 387 Judenfeindschaft (Begriff) 383 Judentum 4 5 - 4 8 , 191, 197, 200, 221, 382, 389 s. a. Spätjudentum Judentum bei Goethe 509 Jugend 221 Jugend und Wahlrecht 319 Jugendarbeitslosigkeit 403 Jurisdiktion 79, 82, 127 Jurisprudenz s. Recht usf. Kabinett der Barone 296 Kabinett der nationalen 295 Kaiser-Wilhelm-Institute schung 292 Kaisertum 117 f. Kalifornien 161

Konzentration und

Sozialfor-

598 Kampf s. Konflikt Kampf zwischen Kapital und Staat Kanada 160 f.

Apparat

313

Kanada: Nationalbewusstsein 407 Kapital 67, 80, 82, 101, 175, 181, 221, 409, 416, 432, 523 Kapital, abstraktes s. Kapital Kapital als Funktion 432, 435 Kapital, organisches 310 Kapital, produktives s. Kapital Kapitalismus 49, 55, 57, 67, 100, 115, 126, 192, 221, 236, 241, 290, 300, 307, 335, 350, 404, 408, 410, 412 f., 431, 433 s. a. Frühkapitalismus; s. a. Spätkapitalismus; s. a. Staatskapitalismus Kapitalismus: Angestellte 474 Kapitalismus, moderner 406 Kapitalismus: Schumpeter 312 Kapitalismus, unpersönlicher 114 Kapitalisten s. Bourgeoisie; s. Kapitalismus Kartell 78, 410 Kastilien 93 Kaufherr s. Kaufmann Kaufleute s. Kaufmann Kaufmann 53, 76, 104, 173, 193 s. a. Händler Kausalität 325, 497 Keim 167, 168, 200 Ketzer(ei) 44, 221 s. a. Häresie Kiel: Bosse 429 Kiel: Hitlerrede 305 Kiel: NSDAP 382 Kiel: Tönnies 382 Kiew: Koigen 387 Kind 177, 288, 358 Kind: Entwicklung 333 f. Kind, uneheliches 288 Kind, uneheliches, und Verwandtschaft 265 Kinderarmut, Kinderreichtum 288 Kinderreichtum s. Kinderarmut Kirche 56, 75, 84, 85, 121, 139, 190, 221, 468 s. a. Christentum Kirche, Griechisch-Orthodoxe 210 Kirche, Lutherische 212 s. a. Protestanten Kirche, Römisch-Katholische 20, 86, 90, 159, 210, 419, 526 s. a. Papsttum

Kirche und Staat s. Staat und Kirche Kirchenaustritt 221 Kirchengeschichte 202, 210 Klan 171, 221, 276, 494 Klasse 79, 186, 221, 498 Klassenbewusstsein 43, 221 Klassenkampf 79 f., 101, 175, 193, 221, 313, 407, 432 Klassenkonflikt s. Klatsch 149

Klassenkampf

Kleidung 221, 396 s. a. Mode Kleinhandel 500 Klerus 84, 89, 158 Kleve [Hzm.] 485 Kluften 276 Koalition(en) 221 s. a. Bündnis Kollegialität 355,413 Kolonien (20. Jh.): Wirtschaftsordnung 410 Kolonien (20. Jh.): Genossenschaftsbewegung 414 Kommunikation s. a. Markt und Gespräch Kommunismus 262, 329, 410 f. s.a. Agrarkommunismus Kommunismus (Theorie) 429 Konfession 354 Konflikt 26, 80, 168 s. a. Krieg Konflikt, religiöser 101 Konflikt, sozialer 74, 76, 79, 101, 115, 128 Soziologentag; Kongress s. a. Congrès; s. a. s. a. Weltfriedenskongress Königreich, Vereinigtes s. Großbritannien und (Nord-)Irland Königtum (regnum) 65, 118 s. a. Monarchie Konjunktur 221, 433 Konjunktur und Krise: Selbstmord 361, 3 6 4 - 3 6 6 , 376, 379 f. Konjunktur, sinkende s. Krise Konkret-Wahres: Hegel 254 Konkurrenz 37, 51, 74, 181, 221, 310, 408, 411 Konnersreuth: „Therese von K." 448 s. a. Bulimie Konservativismus 194, 204, 250, 428 Konstantinopel 158 s. a. Byzanz

599

Sachregister Konsum 408-410 Konsum, demonstrativer 172 Kosument(en) 221 Konsumenteninteresse 130 Konsumgenossenschaft(en) 245 f., 302, 352 Konsumverein 5. Konsumgenossenschaft Kontakt 341 Kontingenz 325 Kontrakt s. Vertrag Konvention 88, 355, 394 Konzern 78 Konzil 202 Kooperation 179 Kopenhagen: Brandt 494 Kopenhagen: Goethe 459, (546 f.) Kopenhagen: Höffding 237, 280 Kopenhagen: Kierkegaard 459, 546 Kopenhagen: von Mutius 459, (546 f.) Kopenhagen: Nietzsche (459), (546) Kopenhagen: Tönnies 271, 284 Körper (Physik) 445, 448 Körperschaft 35, 80 f., 340, 342 Körperschaft, religiöse 468 Korporation: Hegel 257 Kosnjopolitanismus 262, 461, 547 Kosten 174, 180 5. a. Grenz-, Kriegskosten usf. Kosten (Begriff) 304 Kredit 132, 174, 221 Kredithandel 132 Kreise, soziale 331 Kreuz, Rotes (Dänemark) 281 Krieg 180, 186, 221, 230, 310, 339 s. a. Bürgerkrieg; s. a. Handelskrieg; s. a. Weltkrieg; s. a. Zweifrontenkrieg Krieg (Burenkrieg): Ursachen 233 Krieg, Dreißigjähriger 300, 452 f., 490, 543 f. Krieg, moderner 187 Krieg, Russisch-Japanischer 162 f. Kriegsfolgen 188 Kriegskosten 186 Kriegsschuld s. Kriegsursachen Kriegsschuld (Burenkrieg) s. Krieg (Burenkrieg): Ursachen

Kriegsschuld (Erster Weltkrieg) s. krieg, Erster: Ursachen „Kriegsschuldfrage" [Zs.] 268 Kriegstechnik 179, 221 Kriegsursachen 188 Kriminologie 331

Welt-

Krise 221, 240f., s.a. Konjunktur und Krise Krise: Marx 240 f. Krise, ökonomische 217 s. a. Weltwirtschaftskrise Krise und Selbstmord s. Konjunktur und Krise: Selbstmorde Kritik 189, 203 Kult(«s) 26, 63, 168, 200, 211, 221, 395 Kultur 17, 158, 221, 335f. s.a. Abstieg einer Kultur; s. a. Aufstieg einer Kultur; s. a. Entwicklung einer Kultur Kultur, ästhetische 504 Kultur, ethische 85, 220, 504 s. a. „Ethische Kultur" lZs.]; s. a. Gesellschaft für Ethische Kultur Kultur, höfische 142 Kulturabstieg s. Abstieg einer Kultur Kulturakt 388 Kulturaufstieg s. Aufstieg einer Kultur Kulturcäsur 5. Kulturzäsur Kulturende 144, 336, 425, 532 Kulturentwicklung 19, 31, 154 Kulturformfen,) 329 Kulturfortschritt 124, 221 Kulturgebiet(e) 221 Kulturzäsur 22, 218, 221 Kultus 221 s. a. Kult Kunst 29, 46, 91, 92, 142, 183, 221 Künste, bildende 92 f., 142 Kürwille 64, 98, 149, 180, 263, 338 Küste 153 Lage 498, 501 Laie 43, 221 Lancashire 50 Lancelot (Bühnenfigur) 384 Landarbeiter 500 Landesherr 221 Landfriede 187 s. a. Friede Landleben 184

600

Apparat

Landwirtschaft

184 f.

s. a.

Agrarwirt-

schaft 296

467 geistig-morali-

Libertinismus

Leben, geistig-moralisches

Liebe

197, 208

Leben, ökonomisches s. Leben,

wirtschaft-

liches

248, 434

123, 221 s. a. Freiheit

und

169, 264, 462, 549

Linkshegelianismus Liquidität

Leben, organisches: Arten Leben, politisches Leben, soziales

206

197 222

Lebensform, feste

197

391

Lebensform, flüchtige s. Lebensform,

gas-

förmige

Lissabon

160

Literatur

93

Logik

473

Lohn

222

Lebensform, flüssige

391

Lebensform, gasförmige

391

Lebensmitteleinzelhandel

und

Konsumge-

Lotterie Lübeck Lyrik

234

Ledige und Selbstmord s. Ehe und

Selbst-

mord 51 Gesetzgebung 221

Lehnswesen

Poesie

Leibeigenschaft

(auch:

60,

ältere)

134,

221 Leibeigenschaft, jüngere Leibeigenschaft,

Geld-Macht

Macht, physische

173

Macht, politische

42, 222

Leibeigenschaft,

jüngere Leiden (Stadt): Descartes

Leipzig: Thomasius

und

Malerei

Zauber-Macht assoziierte:

128 191

462, 549 5. a. Künste,

315

Manchester

317 f.

51

Manchester-Liberalismus Mann, Männer

302

männlicher

Leipziger Schule

346

Mann und Arbeitslosigkeit

Leistung, soziale

169

Mann: Entwicklung

Liberal Party (Großbritannien)

Mark [Grafschaft]:

81 f., 115, 137 f., 194, 221,

Markt

492

51, 115

247, 250, 258, 262, 295, 381, 428, 469 f.,

Markt und Gespräch

504 f. s. a. Manchester-Liberalismus;

Marktwirtschaft

s. a.

341

485

Markgenossenschaft

402

Nationalliberalismus

403

333 f.

Mantelwissenschaft: von Wiese

402

Liberal Women's Conference (GroßbritanLiberalismus

248

26, 30 f., 63, 357, 405,

511 s. a. Geist,

321

bildende

190

Malthusianismus

268

Marxismus

Ver-

231

Magie, schwarze Malmesbury

Leipzig: Erich Brandenburg Leipzig: Reichsgericht

sailles 1919

452

346

Leipzig: von Bortkiewicz

Alliierte

Machtkonflikt

60, 135

neue s.

Mächte,

505

171, 175, 222, 262, 407

Macht (kraft Zaubers) s.

40

Lösen

111, 155 222 s. a.

Macht (kraft Geldes) s.

Legislative 5.

und

222

Macchiavellismus, Machiavellismus Macht

Lehnsherr

Arbeiterklasse

211

Lösen und Binden s. Binden

303

Lebensrat: Tönnies

268

Lohnarbeiterschaft s. London

nossenschaften

252

221

Locarno: Verträge

Leben, wirtschaftliches

nien)

474

82, 248

Sitte

sches

Leipzig

Liberalismus und Staat

Liberalismus, wirtschaftlicher

Leben, geistiges s. Leben,

Leeds

286

Liberalismus und Sozialpolitik

Lausanne: Weltschuldenkonferenz Leben

Liberalismus und Familie

392

408

127, 215, 222, 260, 386

Sachregister Marxismus: Höffding 238 f. Maschine 114 Massenarbeitslosigkeit s. Arbeitslosigkeit; s. Weltwirtschaftskrise Materialismus 214, 222, 467 f. Mathematik 192, 466, 542 f. Mathematik: Hobbes 450 Matriarchalismus 1932 276 Mäzenatentum bei Hobbes 451 Mechanik 183, 192, 285, 448, 541 Meer 154, 257 Meinen, Meinung 203, 217 Meinung, öffentliche {auch: Öffentliche) 126, 190, 193, 222, 260, 392 Meinung, öffentliche: Goethe 510 Meistersang 143 Meistertum 36, 39 Mensch 17, 38, 72, 167, 413 Menschenökonomie 310 Menschenrechte 429 Menschenwürde 350, 434 Menschheit 309 Menschheit als Samtschaft 332 mental 207 f. Mentalität (auch: politische) 499 Merkantilismus 129, 131, 222, 420, 527 s. a. Neomerkantilismus Messe 51 Metaphysik 388, 468 Methode 357 Methodologie 469 Militär 193, 205 Militarismus 140 Minnesang 142 f. Mittel und Zweck 113,222 Mittelalter 18, 19, 20, 21, 22, 26, 29, 42, 69, 90, 92f., 140f., 146, 189, 222 s.a. Geist des Mittelalters Mittelmeer 110 Mittelstand 499 Mittelstand, alter 499 Mittelstand, neuer 477 Mobilität, horizontale s. Nomaden; s. Wanderungfen) Mode , 3 4 5 , 391, 399 5. a. Kleidung Mode in der Wissenschaft 345 modern, Moderne 74, 144, 156, 518

601

Monarchie 69, 79, 193, 222, 421, 528 Monarchie, absolute s. Absolutismus Monarchie, gemischte 259 Monarchie: Hegel 258 Monarchie und Hitler/NSDAP 268, 300 Monarchisten 1932 267, 296 Monisten-Bund, deutscher 308 Monogamie 286 Monopol 37, 126, 222 Montenegro 210 Moral 122, 203, 350 s. a. Sittlichkeit Moralität, positive 222 Moralstatistik s. Statistik München: Hitlerputsch 307 München: Koigen 386 Münster in Westfalen 346 Münzregal 132, 222 Museum, Britisches: Bestände 321 Musik 93 f., 143, 222 Müßiggang 403 Muster s. Kulturform Mutativer Geist s. Geist, mutativer Mutter 147, 169 Mutter, uneheliche 288 Mystik 222, 389 Nachahmung 208, 399 Nachbarschaft 222 s. a. Gemeinschaft des Ortes Nachtwächterstaat 248 Naher Osten, Nahost 170, 222 Nahrung 170, 222 Namenregister ( G d N ) 219 Nationalbewusstsein 406 Nationalismus 186, 522 Nationalitätenstaat 406 Nationalliberalismus 252 Nationalreichtum 222 Nationalsozialismus 469, 502 Nationalsozialismus des Kabinetts Papen 295 Nationalsozialisten 305 Nationen, germanische 336 Nationen, romanische 336 Natur 467 Natur, vormenschliche 167 Naturalwirtschaft 411

602

Apparat

Naturrecht 85, 136, 222, 247, 429 Naturrecht, gemeinschaftliches 247 Naturrecht, gemeinschaftliches: Hegel 261 Naturrecht, gemeinschaftliches, und Scholastik 261 Naturrecht, gesellschaftliches 262 Naturrecht: Hegel 247 Naturrecht: Hobbes 261 Naturrecht, liberales 255 Naturrecht, rationales 253, 327, 404, 434 Naturrecht, scholastisches 253 Naturwissenschaft(en) 396, 482 Naturwissenschaften: Hobbes 444, 496 Naturzustand 78, 222 Nauheim s. Bad Nauheim Nekrolog: von Bortkiewicz 315 Nekrolog: Goldscheid 308 Nekrolog: Höffding 236, 280 Nekrolog: Koigen 386 Neomerkantilismus 131, 222 Neubau s. Innovation Neubürgertum 222 s. a. Bourgeoisie Neue Welt s. Welt, Neue; s. a. Amerika Neuerung s. Innovation Neufundland 160 Neuköln 358 Neuseeland 161 Neuseeland: Nationalbewusstsein 407 Neustädte 50, 222 Neuzeit 15, 33, 95, 151, 176, 189, 192, 247, 518 s. a. Geist der Neuzeit Neuzeit: Ende 142 Neuzeit und Wirtschaft 391 Neva 154 Nichtsein 342 Niederlande 131, 155, 295, 490 Niederlande: Hobbes 324 Niederlande: Hochschulen 354 Niederlande: Soziographie 490 Niederlande: Statistik 487 Niederländisch s. Sprachkenntnis Nihilismus, moralischer 386 Nomaden 198 Nordamerika 158 s. a. Staaten, Norddeutschland 154 Norden 153, 156

Vereinigte

Norden Europas, Nordeuropa Skandinavien Nordgermanen: Humor 463 Norditalien s. Oberitalien Nordsee 155

222 s. a.

Normalbegriff 337, 344, 406 Norwegen 155, 272 Norwegen: Bosse 429—440 Norwegen: Nationalbewusstsein 407 Norwegen: Tönnies 271 Norwegen: Volkswirtschaft 430 Norwegen: Zivildienst 437 Notenbank 133 Notenprivileg 133, 222 Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaft 292 Notwendigkeit 5. Determinismus Novemberrevolution s. Revolution, Deutsche, 1918 NSDAP s. Arbeiterpartei, Nationalsozialistische Nürnberg 143, 155, 157, 490 Nutzen, Nützlichkeit 400, 409 Oberitalien 40, 61, 110, 155 f., 159, 490 Oberlandesgericht Jena 302 Oberschicht und Kinderarmut 288 Öffentlichkeit 90 s. a. Meinung, öffentliche Okzident 153 Optik 447 f., 540, 542 Oranjerepublik (233) Orden, Deutscher 156 Ordnung, Ordnung und Anarchie 290 Organisationslehre 346 Organizismus: Schäffle 327 Orient 153 f., 162, 179, 222, 489 Oslo: Tönnies 272, 462, 549 Ostasien: Spencer 232 Ostelbien: Selbstmord 359 Osten 153, 163 Österreich 110, 156 f., 205 Österreich: Kinderreichtum 233 Österreich: Soziologie 308 Österreich: Weltwirtschaftskrise 306 Österreich-Ungarn 1914 232

222,

603

Sachregister Österreich-Ungarn: 406

Nationalbewusstsein

Osthilfegesetz 296 Ostpreußen: Selbstmord

359 ff.

Ostsee 154-156 Ottensen 50 Oxford 211 Ozean, Stiller s. Pazifik Pächter, Pachtsystem 49 f., 59, 222 Pädagogik: Goethe 507 Pädagogik: Pestalozzi 243 Palästina 200, 425, 532 Papsttum 117 f., 157, 222 Paris 157 f. Paris: Koigen 386 Paris: Hobbes 447 Partei, Parteien 26, 80, 204, 209, 222, 331 s. a. Arbeiterpartei; s. a. Staatspartei; s. a. Volkspartei; s. a. Weltanschauungspartei Partei, Deutsche Demokratische 319 Partei als Körperschaft 342 Partei, Sozialdemokratische, Deutschlands 299 Parteikampf s. a. Konflikt Patriarchalismus 41, 240 Patriarchalismus 1932 276 Patriziat 39, 42, 111, 184, 222 pattern of culture s. Kulturform Pazifik 161 f. Pazifismus bei Tönnies 270, 520 Person, kollektive 39 Person, juristische 119 f., 330 Person, moralische: Pufendorf Personenregister (GdN) 219 Persönlichkeit 89 Pertinenzprinzip: T G Peru 161, 492 Peru: Arbeitsdienst Pessimismus

343

516 437

271 f.

Philosophie

201, 247, 327, 387, 396, 444,

465, 476, 496 Philosophie: Goethe 507 Philosophie: Hegel 247 Philosophie: Hegel: Stammeln 467 Philosophie und Historische Rechtsschule 262 Philosophie: Höffding 236, 280 Philosophie: Kierkegaard 461 f., 548 Philosophie: Nietzsche 461, 547 Philosophie: Schelling 250 Physik 183, 444 Physik, angewandte 348 Physiokraten 49, 131, 248 Pietät 189 Pietismus 212 Piatonismus 426, 533 Plutokratie 249 Pöbel: Hegel 256 Poesie 142, 149 Poiein, ttoieTv 28 Polen (Staat) 155 f. Polen (Etbnos in Preußen): mord 360 Polis 83, 109, 222, 261 Politik 117, 208, 294, 469 Politik, positive 349 Politologie 204 s. a. Wissenschaft, sche

Prag: Philosophiekongress 1934 P r a t t e i n , TTpctTTSiv

28

Petersburg

Praxis

Pflanzenbau s.

Agrarwirtscbaft

Presse, Pressefreiheit 222, 508 Prestige s. a. Sozialprestige Preußen 126, 156, 205, 251, 490 Preußen: Angestellte 476

496

Phantasie

92, 168, 209, 222, 427, 533

Pharisäer

190

politi-

Polyandrie 286 Polygamie 41, 286 f. s.a. Ehe linker Hand Polygynie 5. Polygamie Pommern: Selbstmord 359 ff. Populismus 428 Portugal 155, 160 Posen (Provinz): Selbstmord 359ff. Positivismus 468 Potempa: Mord 382 Prag 157

Petersburg s. St. Phänomenologie

Selbst-

415

465

604

Apparat

Preußen: Antisemitismus 355 Preußen: Aristokratie 259 Preußen: Hegel 251 Preußen: Kinderreichtum 288 Preußen: Reaktion 250 Preußen: Reichtum 484 f. Preußen: Revolution 1848 250 Preußen: Selbstmord 357 Preußen: Staat 259 Preußen: Statistik 357, 485 Preußenschlag 300, 350 Priestertum (sacerdotium) 118 Privateigentum 222, 491 s. a. alód; s. a. Eigentum Privatrecht, Internationales 230 Privatrecht und Völkerrecht 230 Produktion 113, 180 Produktionsmittel 180, 409 Produktivgenossenschaften 414 Produktivität der Arbeit s. Arbeitsproduktivität Prognose 163, 186 Proletariat 222 s. a. Arbeiterklasse Proletariat, ländliches 393 Proletarismus 501 Proletismus 501 Prostitution 290 Protektionismus 130, 222 Protestanten, Protestantismus 158, 204, 222, 336 s. a. Christentum; s. a. Kirche; s. a. Reformation Protestanten als Samtschaft 332 Prozess, sozialer und historischer 97 — 102, 222 Psychologie 347 Psychologie: Höffding 280 Quäkertum 135 Quasi-Vertrag 265 Rache 384, 397 f., 508 Rasse 354 Rassenfrage 310 s. a. Eugenik Rationalismus 180, 212, 222, 328 f., 416, 523 Rationalität, wirtschaftliche 410 Reaktion 222 s. a. Rückschritt

Realgemeinde 106 Recht 24, 72, 122, 199, 208, 222, 343, 399, 413 s. a. Gewohnheitsrecht [usw.] Recht, abstraktes: Hegel 254 Recht auf Arbeit XX, 428 Recht auf Arbeit: Begründung 431 Recht auf das Arbeitsprodukt 431 Recht auf Beschäftigung 435 Recht: Hegel 256 Recht, rationales 405 Recht, Römisches 52, 72, 159, 222 Rechtskritik 302 Rechtsordnung 127 Rechtsphilosophie: Hegel 252 f., 261 Rechtsphilosophie: Naturrecht 249 Rechtsprechung s. Jurisdiktion Rechtsschule, Historische 138, 249, 253, 258, 262, 327, 399 s. a. Philosophie und Historische Rechtsschule Redlichkeit 283, 508 s. a. Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe Reformation 26, 202, 211, 222 Regensburg 118 Reich, Britisches s. Großbritannien Reich, Deutsches 40, 126, 138, 213 s. a. Deutschland; s. a. Reich, Heiliges Römisches Reich, Deutsches, 1914 231 f. Reich, Deutsches, 1919 231 Reich, Deutsches: Angestellte 476 Reich, Deutsches: Arbeitslosenversicherung s. Deutschland: Arbeitslosenversicherung Reich, Deutsches: Konsumgenossenschaften 352 Reich, Deutsches: Recht auf Arbeit 429 f., 431, 436, 439 Reich, Deutsches: Selbstmord 363, 379 Reich, Deutsches: Soziologie s. Deutschland: Soziologie Reich, Deutsches: Statistik 480 Reich, Deutsches: Versailles 1919 231 Reich, Deutsches: Weltwirtschaftskrise 267, 300, 306 Reich, Heiliges Römisches (Deutscher Nation) 65, 110, 118, 155 f., 406 Reich, Osmanisches 210 Reich, Römisches 21, 48, 117, 139

Sachregister Reich, Römisches: Erben 336 Reich, Russisches s. Rüssland Reichsamt, Statistisches 302, 480 Reichsgericht 302, 304 Reichspräsidentenwahl 1932 s. Wahl Reichsstädte 110, 143, 211 Reichstag (Mainz) 187 Reichstag (Regensburg) 118 Reichstagswahl 31.7.1932 s. Wahl Reichswirtschaftsrat 475 Reichtum 222, 482 f. s. a. Nationalreichtum Reichtum: Hegel Reisen 89

256

Religion 62, 66, 168, 181, 190, 200, 203, 222, 283, 395, 422, 465, 468, 529 5. a. Kirche Religion, christliche s. Christentum Religion: Goethe 507 Religion, griechische 112 Religion, islamische s. Islam Religion, jüdische 20, 46 s. a. Judentum Religionsphilosophie: Feuerbach 252 Religionsphilosophie: Höffding 280 Renaissance 23, 92 f., 158, 222 Rentabilitarismus 310 Reparationen 311 Repropriation des Staates 311 Republik 127, 184, 222, 297 Republikanismus 319 Reservearmee, industrielle 434 Reservefonds für Arbeitslose 441 Resignation bei Tönnies 235 retreatism s. Abkehr Revolution

95, 222, 439 s. a.

Jacquerie

u. a.m. Revolution (Begriff) 97 Revolution, Deutsche, 1848 61, 250 Revolution, Deutsche, 1918, und Hitler

268, 306

Revolution, Französische, 1789

61, 65,

192, 205, 421, 484, 528 Revolution, Französische, 1789, und Recht auf Arbeit 430 Revolution, Französische, 1789, reurs 252

und Ter-

605

Revolution, Französische, 1848, und Recht auf Arbeit 430 Revolution der Produktionsverhältnisse 114 Revolution der Produktivkräfte 114 Revolution der Technik 115 Rezeption des Römischen Rechts 222 s. a. Recht, Römisches Rhein 156 Rheinland (Provinz) 358 Rheinland (Provinz): Selbstmord 358 ff. Rheinprovinz s. Rheinland (Provinz) Rhetorik: Hitler 305 Richterliche Gewalt 222 5. a. Gewalt, Richterliche Richtertum 41, 168 s. a. Herrschaft; s. a. Recht Richtungsgewerkschaft 476, 489 Risiko s. Gefahr; s. Wagnis Rixdorf 358 Röhmmorde 508 Rom 139, 153 f., 157 f., 191, 200, 202, 210 Romantik 143, 327, 336, 470 Romantik und Schwarmgeisterei s. Schwarmgeisterei Rückschritt 401 s. a. Reaktion Ruhm s. Sozialprestige Rumänien 210 437 Rumänien: Arbeitsdienst Rumänien: Koigen 388 Russland 57, 135, 155, 1 6 2 - 1 6 4 , 210, 491 s. a. Großrussland; s. a. Sowjetunion Russland 1914 231, 233 Russland: Antisemitismus 387 Russland: von Bortkiewicz 315 Russland: Emigration 388 Russland: Gefangenenlager 281 Rüstung 270 's Gravenhage s. Haag Sachenrecht 432 Sachregister (GdN ) 220 Sachsen 156 Sachsen (Königreich): Bürgerliches Gesetzbuch 250 Sachsen (Provinz): Selbstmord 359ff.

606

Apparat

Sadduzäer

Schweiz: Nationalbewusstsein

190

samfund [norw.:

„Gemeinschaft"]

433

Samtschaft(en)

35, 56, 62, 80, 222, 331,

Sekte

Sanktion, negative

400

Schätzung (Begriff)

303

Scheidung s.

430

360

Selbständige und

Gesellschaft

30, 193, 498, 501 s.a.

Herren-

schicht Schicht (ung), soziale Schifffahrt

169, 498

Schlachten (Familienform) Schlesien: von Mutius

463, 550

Schlesien (Provinz): Selbstmord Schleswig (Herzogtum)

155 277

264

357

Selbstständige s.

Selbständige

Selbstverwaltung

222

210 154, 392, 491

Seuche s.

Epidemie

Sexualität

168 f. 383 f.

Siedlungsgemeinschaften

(Provinz):

Heimarbeit

(Provinz):

Selbstmord

277

411

359 ff.

Sippe Sitte

Schmähbriefe an Tönnies

385

Scholastik

Sitten

Schollengebundenheit Schöneberg Schönheit

60

358

Schwaben Schwärmerei

257, 260

354 157, 212, 462 f., 550

Skandinavien: Hochschulen Skandinavien: Soziologie

252

Skandinavien: Tönnies

Unterrichtswesen

Skeptizismus

278

Sklaverei

297

Schutzzollpolitik

75, 141, 254, 400

Skandinavien

483

278,402

Schule und Familie Schulpforta

Skandal

155, 157 f.

Schreckensherrschaft Schule s. a.

400

Solidarität

157

Sorge

336, 424, 427, 470,

531,

354 285, 346

271

466

72,134-137,161,222

Societas Hobbesiana 185

320

411

167

Souveränität

120, 222

Souveränität des Volkes: Hegel

534 Schwärmerei und Hitler

Sowjetunion

(XXIII), 299

Schwarmgeisterei und Romantik

Schweden: Konsumgenossenschaften Schweiz: Genossenschaften

353

Sowjetunion: Eherecht

287

Sowjetunion: Irrtümer

411

438

Sowjetunion: Kinderverwahrlosung

243

Schweiz: Konsumgenossenschaften

259

24, 68, 435

Sowjetunion: Bodenreform

470

65, 155

353

Sitten

396

Sittlichkeit: Hegel

Schottland: Statistik Schrebergarten

391

391, 393, 399 s. a. Frau und

Sittlichkeit

Schönheit und Nutzen Schottland

Sitten

Sitten, religiöse

147, 179

411

25, 56, 142, 222, 338, 355, 391, 465

Sitte und Freiheit

261

Sied-

276

s. aber:

396

s. a.

lungsgenossenschaften Siedlungsgenossenschaften

Schleswig-Holstein

433

„Gesellschaft"]

Shylock [Bühnenfigur]

5

Schleswig-Holstein

Selbstmord

Sesshaftigkeit 359 ff.

Schleswig (Landschaft): Bauern Schleswig-Holstein

Selbstbewusstsein

Serbien

276

Untergruppe

499 f.

selskap [norw.:

182, 222

410

56, 85, 222

Sektion (Soziologentag) s.

Ehescheidung

Schema 5. a. Gemeinschaft

Schweden

Schweiz: Recht auf Arbeit Schweiz: Wirtschaftsordnung

Sankt s. St.

Schmuck

407

243

Schweiz: Selbstmord

340, 342, 344, 413

Schicht

Schweiz: Pestalozzi

Sowjetunion: Recht auf Arbeit

289

431, 437

Sachregister Sowjetunion: Wirtschaftsordnung 410 Sozialbiologie 310, 317, 333 „Sozialdemokraten" [dän. Zeitung] 240 Sozialdemokratie 64, 137 s. a. Partei, Sozialdemokratische Sozialdemokratie in Dänemark 237, 239 Sozialdemokratie und Höffding 236 Sozialdemokratie und Tönnies XIX, 236 Sozialgebilde s. Gebilde, soziales Sozialhygiene: Bosse 431 Sozialisierung 311, 411 Sozialismus 82, 126 f., 222, 249, 262, 313, 328f., 408, 411, 469, 501 s.a. Staatssozialismus Sozialismus und Anarchismus 286 Sozialismus, empirischer 239 Sozialismus und Familie 279, 286 Sozialismus: Höffding 237 f. Sozialismus, philanthropischer 238 Sozialismus, proletarischer 501 Sozialismus und Recht auf Arbeit 429 Sozialismus: Schumpeter 313 Sozialismus, spekulativer 238 Sozialismus (Ursprung) 329 Sozialismus, utopischer 238 Sozialismus und Wille 238 Sozialismus, wissenschaftlicher 238 Sozialisten 335 Sozialphysik: Bosse 431 Sozialphysik: Quételet 488 Sozialpolitik 237, 475 Sozialpolitik: Bosse 431 Sozialpolitik und Liberalismus 5. Liberalismus und Sozialpolitik Sozialpolitik und Recht auf Arbeit 434, 438 f. Sozialprestige 90 s. a. Ansehen, soziales Sozialpsychologie 345 Sozialpsychologie und Beziehungslehre 341 Sozialreform 237, 279, 290 Sozialreform, Bismarcksche 43 f. Sozialstaat 244 Sozialvertrag s. Gesellschaftsvertrag Sozialwissenschaft(en) 484 Sozialwissenschaft: Z u k u n f t 1932 234 Soziobiologie s. Sozialbiologie

607

Soziographie 291 f., 304, 319, 346 f., 357, 498, 502 Soziographie: Z u k u n f t 1932 234 Soziologentag 1910, (1.) 308 Soziologentag 1914 (gescheitert) 309 Soziologentag 1930, (7.) 291, 318, 498 Soziologentage 272 Soziologie 6, 167, 195, 222, 327 s. a. Wissenschaft, soziale Soziologie, angewandte 348 Soziologie: Aufgaben 218 Soziologie und Beziehungslehre 341 Soziologie: Hinführung 341 Soziologie, nationale s. Deutschland: Soziologie [usw.} Soziologie, praktische 349 Soziologie, reine 331 — 333, 345 Soziologie, spezielle 333 Soziologie, theoretische 332 f., 348 f. Soziologie: Tönnies passim Soziologie: Z u k u n f t 234 Soziologische Gesellschaft s. Gesellschaft, Soziologische Sozionomie 388 f. Spanien 93, 155, 160 Spanien: Demokratie 407 Spätjudentum 336 Spätkapitalismus 499 Spekulation 174, 222 Spinnstube 277 Spinozismus 324, 505 Spinozismus: Hobbes 325 Spiritualismus 467 Spott 395,508 Sprache 57, 207, 222 Sprachkenntnisse in Deutschland 495 Sprachgenossenschaft 57, 464 St. Petersburg 155 St. Petersburg: von Bortkiewicz 317 St. Petersburg: Koigen 387 Staat 78, 81, 83 f., 119, 121, 127, 132, 173, 181, 185, 190, 197, 222, 257, 329, 397, 4 0 4 - 4 0 6 , 413, 416, 523 s. a. Gesetz des Wachstums der Staatstätigkeiten Staat: Anerkennung 330 Staat und Cäsarismus 470

608

Apparat

Staat und Gemeinschaft s. und Staat

Gemeinschaft

Staat und Genossenschaft s. Genossenschaft und Staat Staat: Gervinus 405 Staat: Goldscheid 312 f. Staat:.Hegel 252 f., 255, 258, 261 Staat: Hobbes 258, 262 Staat und Kirche 222 Staat und Liberalismus 248, 428 Staat, mittelalterlicher 405 Staat, rationaler 406 Staat: Ritsehl 407 Staat und Sitte 398 Staat: Wohlfahrtsstaat 249 Staat als Zwangssystem 128 Staaten, Vereinigte, von Amerika 49, 57, 134, 136, 144, 161 f., 376, 436, 491 Staaten, Vereinigte, von Amerika: Kapitalkonzentration 408 Staaten, Vereinigte, von Amerika: Nationalbewusstsein 407 Staaten, Vereinigte, von Amerika: Soziologie 347 Staaten, Vereinigte, von Amerika: Statistik 481 Staaten, Vereinigte, von Amerika: Weltwirtschaftskrise 126, 300, 306 Staaten, Vereinigte, von Amerika: Wirtschaftsordnung 410 Staatsgefühl s. Nationalbewusstsein Staatsgewalt 120 Staatskapitalismus 311, 409 Staatsmann 91, 180, 415 Staatspartei 319 Staatssozialismus 127, 222, 311, 438 Staatsvolk 404 Staatswerkstätten 438 Staatswirtschaft 222 s. a. Volkswirtschaft Stadt 31, 50, 61, 107, 109, 142, 146, 155, 184, 188, 203, 222, 391, 417, 419, 489, 524, 526 s. a. Großstadt; s. a. Reichsstädte Stadt der Stadt und Städte s. Stamm

Neuzeit 186 Selbstmord 359 Stadt 56

Stammescharakter 394 Stand 24, 30, 56, 222, 331, 398 s. a. Herrenstand usf. Stand: Hegel 259 Stände s. Stand Standesbewusstsein: Angestellte 475 Statistik 213, 315, 317 f., 331, 346, 357, 478 Statistik: Geschichte 483 Statistik, vergleichende 484 Steuerstaat 312, 409 s. a. Fiskalpolitik Stiftung 484 Stoa 85, 426, 533 Stockholm: Tönnies 272 Stör als Arbeitsform Yll Strafrecht, Internationales 230 Strafrecht und Völkerrecht 230 Straßburg 157 Straßburg: von Bortkiewicz 315 Straßburger wissenschaftliche Gesellschaft [in Frankfurt a.M.] 316 Streik: Höffding 240 Streit s. Konflikt Struktur; Strukturen,), soziale 97, 348 Subsistenzwirtschaft s. Bedarfsdeckungswirtschaft Südafrika 407

(Staat):

Nationalbewusstsein

Süddeutschland 156 Süden 153, 156 Syndikat (kapitalistisch) 410 System, kapitalistisches s. Kapitalismus System des Zwangs s. Staat als Zwangssystem Tagelöhner 393 Tagewerker 499 Taktlosigkeit) 294. 511 Tanz 142 Tätigkeit 28, 198 Tausch 104, 171 f., 222, 392, 492 Austausch Tauschgesellschaft 405, 407, 410 Tauschhandel s. Handel (Begriff) Tauschmittel 174 Tauschwert 53, 175

s.a.

609

Sachregister Technik

76, 101, 113, 115, 178, 183, 192,

198, 222, 418 s. a. Terreurs s.

Schreckensherrschaft

Teufelsglaube Theater

Kriegstechnik

190

142, 350

Theologie

202, 222, 396

T h e o l o g i e , spekulative T h e o r i e , liberale s.

Liberalismus

4 6 7 s. a. animal

rationale 167

Universität Kiel

X I X , XXIV, 324, 430

508

Ferdinand-Tönnies-

Gesellschaft

386

Universität Prag

157

T r a c h t s.

200

222 s. a.

1930) Überlieferung

423-427,529-534,548

Transport

222 s. a.

Transvaal

233

Treue

141, 222

Trieb

417, 5 2 4

T r u n k s u c h t s.

Verkehr

U n t e r t a n (en)

Staat und

Genossen-

287

39 s. a.

Idealtyp

83, 104, 337, 344, 406

USA s. Staaten,

Vakuum Vater

Venedig

222 234 490

222, 354

Universität Berlin (Friedrich-Wilhelms-Uni315, 386 386 f.

Amerika

444-447, 537-540 276 288

206, 208 110, 155, 160, 223

Verantwortung

384

412

Verband, Verbände

20

U n g a r n : Soziographie

von

40, 170

Venedig: Shakespeare

U m f r a g e an T ö n n i e s

Universität Bern

179

Vereinigte,

Vater, unehelicher

157, 307

versität)

329, 492

466

Vater in C h i n a

498

347

Universität

272 154

Urteilskraft, ästhetische

vegetativ

Ungarn

121, 222

42,172,222

Urteilskritik 302

Türkei: E h e f o r m e n

Überlieferung

(Soziologentag

37, 50, 408, 499

Unterrichtswesen

Urteilskraft

s c h a f t 415

Typologie

Unternehmer

Urkommunismus

T u n n e l b a u zwischen

Typ, psychischer

Soziographie

291, 318

Ural (Gebirge)

Alkoholismus

T y p ( u s ) , ideeller

292

Uppsala: T ö n n i e s

78, 408

Typ, Typus

386 Universität

Universitätsgesellschaft, Schleswig-HolsteiUntergruppe

Kleidung

Tradition Tragik

281 f.

315, 387

315

317

Universität Z ü r i c h

nische

Totenverehrung

346

Universität Paris

Universitäten s.

T o t a l i t ä t bei H ö f f d i n g

386

Universität M ü n s t e r

Universität Wien XIX—XXIV,

Tönnies-Gesellschaft 5.

280

315, 321, 346

Universität S t r a ß b u r g

614 f.

Ulm

387

Universität St. Petersburg

Absterbestatistik

Tönnies-Gesamtausgabe

Trust

. 321

Universität M ü n c h e n 302

T i e r z u c h t s. Viehzucht Todesstrafe

315, 485

Universität Halle

Universität Leipzig

381

Tier-Mensch-Übergangsfeld Todesfälle s.

285

Universität G ö t t i n g e n

Universität K o p e n h a g e n

Thüringen: Konsumgenossenschaften Tier

354, 381, 521

Universität G ö t e b o r g

Universität Kiew

252

Thüringen: Hochschulen

Universität Breslau

35, 263, 413 s. a. In-

teressenverbände Verband der schweizerischen ' eine

243

Verband, sozialer Verbindung, soziale

58, 330 f. 340

Konsumver-

610

Apparat

Verbrauch; Verbraucher s. Konsum; menten Verbraucherinteresse s. resse

Konsu-

Konsumenteninte-

Verein 86, 223, 404 Verein als Körperschaft 81, 342 Verein für Socialpolitik 346 Verein für Socialpolitik und Recht auf Arbeit 439 f. Vereinigung s. 'Verein Vererbung 394 Verfassung 223 Verfassung (Deutsches Reich 1871) Verfassung (Deutsches Reich 1919) 297

399 267,

Verfassung (Deutsches Reich 1919) und SPD 300 Verfassung (Deutsches Reich 1919): Wahlrecht 307 Verfassung, Weimarer s. Verfassung (Deutsches Reich 1919) Vergemeinschaftung 411 s. a. Gemeinschaft Verhältnis, soziales 330f., 3 3 8 - 3 4 1 , 413 Verkehr 22, 114, 157, 159, 223 Verlöbnis 340 Verlobung s. Verlöbnis Vernunft 149, 394, 400 Verrat 387 Versailles: Friedensvertrag 1919 s. Friedensvertrag Verstädterung s. Stadt Verstand 149, 197 Verstehen 328 Vertrag 36, 329 s. a. Quasi-Vertrag Vertragstheorie 78 f., 223 Verwaltung 127, 223 Verwandtschaft 71, 223, 265, 355 Viehzucht 170, 178, 492 Vielmännerei s. Polyandrie Vielweiberei s. Polygamie Virginia 160 f. Volk 30, 56f., 173, 223, 391, 405 Staatsvolk Volk, griechisches s. Griechen Volk, jüdisches s. Judentum Volk, römisches s. Rom

s.a.

Volk als Samtschaft Völkerbund 309 Völkerrecht 230

332, 344

„Völkischer Beobachter" [Tageszeitung} 381-383 Volksbewusstsein 406 Volksbildung 223 s. a. Unterrichtswesen Volkscharakter 394, 427, 533 Volksempfinden, gesundes 382 Volksgemeinschaft 405 Volkshochschule: Dänemark 460, 547 Volkshochschule: Höffding 240 „Volkskampf" /Wochenblatt/ 382 f. Volkspartei, Deutschnationale 295 Volkstum 407 s. a. Ethnos Volkstümlichkeit s. a. Populismus Volkswille 307 Volkswirtschaft 173. 223 5. a. Staatswirtschaft Volkszählung 358 Voluntarismus 325 Vorurteil 101 „Vorwärts" /Tageszeitung] 294 „Vossische Zeitung" [Tageszeitung] 521 f. Wagnis 180 s. a. Gefahr Wahlaufruf 299 Wahl: Reichspräsident 1932 266 Wahl: Reichstag 31. 7. 1932 294, 299, 307 Wahlmündigkeit 307 Wahn 335 s. a. Hexenwahn; s. a. Schwärmerei Wahn, politischer 427 Wahrheit und Scholastik 254 Wahrheitsliebe 336, 509 s. a. Aufrichtigkeit Wahrscheinlichkeit 316 Währungspolitik 132 Wales 24 Wandel, sozialer 31, 125, 146, 171, 439 s. a. Kulturentwicklung Wanderungen,) 45, 154, 176, 223, 393 Wanderung und Selbstmord 360 Ware 29, 53, 223 Wechselwirkung(en) 208 ff., 217, 223 Wehr, Wehrfunktion 169, 223

611

Sachregister Weib s. Frau Welt, Neue 222 s. a. Amerika Weltanschauung 465 Weltanschauung, wissenschaftliche 234 Weltanschauungspartei 223 s. a. Partei Weltfriedenskonferenz, 2., 232 Weltfriedenskongress (Wien 1914) 309 Weltgeschichte 17, 223 Welthandel 55 s. a. Fernhandel; s. a. Handel Weltkrieg, Erster 311, 479

144,

156,

178,

300,

Weltkrieg, Erster, und Alkoholismus 290 Weltkrieg, Erster, und Gemeinschaft 439 Weltkrieg, Erster, und Handel 51 Weltkrieg, Erster, Kriegsschuld s. 'Weltkrieg, Erster, Ursachen Weltkrieg, Erster: Kulturschäden 307, 351 Weltkrieg, Erster, und Soziologie 308 Weltkrieg, Erster, und die Soziologie in Deutschland 272 Weltkrieg, Erster, Ursachen 229, 241, 268 Weltmarkt 223 5. a. Weltwirtschaft Weltpolitik und Schleswig-Holstein 5 Weltschuldenkonferenz 1932 296 Weltwirtschaft 223, 410, 493 Weltwirtschaft und Genossenschaft 244 Weltwirtschaftskrise 126, 240, 300, 306 f., 313 Werkzeug 114, 179, 223 Wert s. a. Gebrauchswert; s. a. Tauschwert Werte des Mittelalters 143 Werte der Neuzeit 143 Wesen, jüdisches (Goethe) s. Judentum Wesenheit, soziale + soziologische 332, 338 Wesenwille 64, 150, 263, 330, 338, 413 Westen 153, 163 Westen Europas, Westeuropa 223 Westfalen (Landschaft) 393 Westfalen (Provinz): Selbstmord 359 ff. Westindien 160 f. Westpreußen: Selbstmord 359 ff. Widerstand des Volkes 173 Wiedertäufer 211 Wien 158

Wien 1914 309 Wien: von Bortkiewicz 315 Wien: Soziologie 308 Wildbeutertum 170 Wildheit 171 Wille 35, 91, 172, 197, 307, 309, 325, 327, 330, 338, 343, 417, 524 s. a. Kürwille; s. a. Wesenwille Wille: Einheit des Willens 223 Wille, freier: Hegel 254 Wille: Koigen 388 Wille, sozialer 331 Wille und Sozialismus 238 Willen s. Wille Willkür 330 s. a. Kürwille Wilmersdorf 358 Winsen an der Luhe: Hitlerrede 305 Wirklichkeitswissenschaft 345 Wirtschaft 103, 208, 215 s.a. Bedarfsdeckungswirtschaft Wirtschaft, dezentrale 411 Wirtschaft, zentrale 412 Wirtschaftsgenossenschaft 494 Wirtschaftsgeschichte 489 s. a. Bauern Wirtschaftsordnung, dualistische 408 Wirtschaftspolitik 125 Wirtschaftssubjekt 103 Wissen 182, 217 Wissenschaft 29, 46, 92, 142, 182 f., 189, 192, 197, 203, 209, 223, 335, 354, 394, 416, 466, 523 Wissenschaft, Politische; Wissenschaft, politische und soziale 204, 223 Wissenschaft, soziale 223 s. a. Wissenschaft, politische Wissenschaftler 44, 76 Wissenschaftsethik 218 Wissenschaftskolleg zu Berlin XXIV Witwer und Selbstmord s. Ehe und Selbstmord Wochenende 223 Wohlfahrtsstaat 249, 295 Wohnen, Wohnungszustände 223, 289 Wollen 5. Wille Wucher 383 Wunder 325 Würde s. Menschenwürde Young-Plan

268, 296

612

Apparat

Zauber-Macht 173 s. a. Ideologie Zeichen 207 Zeitungswesen s. Meinung, öffentliche Zensur XX Zentralverwaltungswirtschaft s. Staatswirtschaft; s. Wirtschaft, zentrale Zentrum [Partei] 83 Zinsverbot 420, 527 Zivildienst, zivile Arbeitspflicht 437 5. a, Arbeitsdienst Zivilehe s. Ehe, bürgerliche Zivilisation 223, 335 f. Zivilstand s. Ehe Zoll, Zölle 223 5. a. Schutzzoll

Zollverein, Deutscher 131 Zufall 223 s. a. Gesetz und Zufall Zunft, Zünfte 50, 61, 177, 184, 223 Zürich: Koigen 386 Zusammenarbeit 5. Kooperation Zwangsarbeit s. Arbeitszwang Zwangsgewalt s. Gewalt Zwangshandel (erzwungener Handel) 54, 77 Zweck 466 Zweifrontenkrieg 232 Zweikammersystem: Hegel s. Hegel Zwei-Schwerter-Lehre

117 f.

Demokratie:

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band

1 1875 — 1892: Eine höchst nötige Antwort auf die höchst unnötige Frage: „Was ist studentische Reform" — De Jove Ammone quaestionum specimen • Schriften • Rezensionen

Band

2 1887: Gemeinschaft und Gesellschaft

Band

3 1893 — 1896: „Ethische Cultur" und ihr Geleite — Im Namen der Gerechtigkeit — L'évolution sociale en Allemagne — Hobbes • Schriften • Rezensionen

Band

4 1897-1899: Der Nietzsche-Kultus - Die Wahrheit über den Streik der Hafenarbeiter und Seeleute in Hamburg — Über die Grundtatsachen des socialen Lebens • Schriften • Rezensionen

Band

5 1900—1904: Politik und Moral — Vereins- und Versammlungsrecht wider die Koalitionsfreiheit — L'évolution sociale en Allemagne (1890-1900) • Schriften

Band

6 1900-1904: Schriften • Rezensionen

Band

7 1905-1906: Schiller als Zeitbürger und Politiker - Strafrechtsreform — Philosophische Terminologie in psychologischsoziologischer Ansicht • Schriften • Rezensionen

Band

8 1907—1910: Die Entwicklung der sozialen Frage — Die Sitte • Schriften • Rezensionen

Band

9 1911 — 1915: Leitfaden einer Vorlesung über theoretische Nationalökonomie — Englische Weltpolitik in englischer Beleuchtung • Schriften • Rezensionen

Band 10 1916—1918: Die niederländische Übersee-Trust-Gesellschaft — Der englische Staat und der deutsche Staat — Theodor Storm — Weltkrieg und Völkerrecht — Menschheit und Volk • Schriften Band 11 1916—1918: Schriften • Rezensionen Band 12 1919-1922: Der Gang der Revolution - Die Schuldfrage Hochschulreform und Soziologie — Marx — Der Zarismus und seine Bundesgenossen 1914 • Schriften

Plan der Tönnies-Gesamtausgabe Band 13 1919-1922: Schriften • Rezensionen Band 14 1922: Kritik der öffentlichen Meinung Band 15 1923 — 1925: Innere Kolonisation in Preußen insbesondere der ehemaligen Provinzen Posen und Westpreußen — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung I • Schriften Band 16 1923 — 1925: Schriften • Rezensionen Band 17 1926 — 1927: Das Eigentum — Fortschritt und soziale Entwicklung — Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung II — Der Selbstmord in Schleswig-Holstein Band 18 1926—1927: Schriften • Rezensionen Band 19 1928-1930: Der Kampf um das Sozialistengesetz 1878 - Soziologische Studien und Kritiken. Sammlung III • Schriften Band 20 1928-1930: Schriften • Rezensionen Band 21 1931: Einführung in die Soziologie • Schriften • Rezensionen Band 22 1932—1936: Geist der Neuzeit • Schriften • Rezensionen Band 23 Nachgelassene Schriften Band 24 Schlussbericht zur T G • Gesamtbibliographie und -register

Ernst Troeltsch • Kritische Gesamtausgabe im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf und Volker Drehsen, Gangolf Hübinger, Trutz Rendtorff Ernst Troeltschs weitgespanntes Werk umfaßt Schriften zur Theologie und Philosophie, Kulturgeschichte und Politik. Als klassischer Diagnostiker der Moderne, dessen vielseitige Fragestellungen aus den Problemen einer modernen historisch-kritischen Theologie erwuchsen, überschritt er Grenzen überkommener Disziplinen. Troeltsch legte damit im frühen 20. Jahrhundert Fundamente für eine übergreifende historische Kulturwissenschaft. Die Kritische Gesamtausgabe wird gemeinsam von Theologen und Historikern herausgegeben. Sie ediert Troeltschs Texte nach historisch-kritischen Grundsätzen neu und macht sie zum Teil erstmals zugänglich. Die Troeltsch K G A soll das Werk eines protestantischen Intellektuellen der klassischen Moderne erschließen helfen, der in sehr unterschiedlichen disziplinaren Diskussionszusammenhängen eine breite Wirksamkeit entfaltet hat. Die nach chronologischen sowie sachbezogenen Gesichtspunkten aufgebaute Ausgabe wird 20 Bände zuzüglich Register und Werkverzeichnis enthalten. Als erste Bände werden erscheinen: B A N D 5: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) 1998. 24 x 16 cm. Ca. XIV, 320 Seiten. Mit einem Tafelteil. Leinen. Einzelpreis: Ca. D M 2 6 8 , - / ö S 1956,-/sFr 2 3 9 , Serienpreis: Ca. D M 2 2 8 , - / ö S 1664,-/sFr 2 0 3 , B A N D 7: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (1906/1909/1922) (voraussichtlich 2000) B A N D 16: Der Historismus und seine Probleme (1922) (in zwei Teilbänden: 16/1-2; voraussichtlich 1999)

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