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German Pages [265] Year 2008
Burkhard Liebsch
Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997215
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Burkhard Liebsch Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen
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In der Frage nach der Verbindlichkeit des Versprechens angesichts Anderer und im Zusammenleben mit vielen anonymen Anderen zeigt sich die Brisanz zerbrechlicher sozialer Verhältnisse, die elementar auf Verlässlichkeit angewiesen sind. Dabei ist das Versprechen kein Allheilmittel gegen Unverbindlichkeit und Unzuverlässigkeit. Nicht zuletzt die europäische Geschichte ist gepflastert mit unverantwortlichen Versprechen einer maßlosen politischen Rhetorik, die kaum mehr überzeugt. Nüchternheit ist also geboten, wenn man den Versuch unternimmt, Quellen der Verbindlichkeit menschlicher Lebensformen nachzugehen, die sich im gegebenen Wort oder im gelebten Versprechen zeigt. Der Autor: Dr. phil. Burkhard Liebsch ist apl. Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum.
https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
Burkhard Liebsch
Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen Quellen und Brennpunkte der Sozialphilosophie
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
Originalausgabe Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2008 www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg ISBN 978-3-495-48212-4
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Teil A Das Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie I.
Das gegebene Wort: Zerbrechlichkeit und Verbindlichkeit des Versprechens im Lichte historischer Quellen . . . . . . . . . . . . . .
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1.
Angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Geschichte moderner Sozialphilosophie . Zur Verbindlichkeit des gegebenen Wortes . . Sein Wort geben . . . . . . . . . . . . . . . Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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39 47 56 66 71
Kommentierte Brennpunkte . . . . . . . . . . . . . . . Versprechen als Taktik: Niccolò Machiavelli . . . . . . . Unbedingte Treue, noch im Krieg: Hugo Grotius . . . . .
75 75 79 82 87 91 93 96 98 100 105 108 113
2. 3. 4. 5.
II. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.
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Nichts als Worte – im Blick des Souveräns: Thomas Hobbes Von Natur aus verbunden: Samuel v. Pufendorf . . . . . Versprechen – bloß als Mensch: John Locke . . . . . . . Versprechen als Konvention: David Hume . . . . . . . . Zwischen Obrigkeit und Untertanen: Christian Wolff . . Unter den Augen der Anderen: Jean-Jacques Rousseau . Unbedingte Aufrichtigkeit: Immanuel Kant . . . . . . . Sittlicher Zwang: Georg Wilhelm Friedrich Hegel . . . . Versprechen in souveräner Freiheit: Friedrich Nietzsche . Diesseits des Heiligen: Emile Durkheim . . . . . . . . .
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Inhalt
Teil B Das Versprechen in der Philosophie der Gegenwart I. 1. 2. 3. 4. 5.
II. 1.
2.
3.
4.
6
Gelebtes Versprechen: Selbst-Bezeugung und Geschichte . . . . . . Versprechen und Identität . . . . . . . . . . Das Versprechen als Akt . . . . . . . . . . . In ethischen und moralischen Kontexten . . . Versprechen und Vertrauen . . . . . . . . . Im Zeichen des Verrats . . . . . . . . . . . .
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Kommentierte Brennpunkte . . . . . . . . . . . . . Das Versprechen als Akt und Institution . . . . . . . 1.1 Erzeugung von Verbindlichkeit: Adolf Reinach . 1.2 Versprechen als Tun: John L. Austin . . . . . . .
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1.3 Normalisiertes Versprechen als Konvention: John R. Searle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Das Versprechen im Vorschein idealer Verständigung: Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschliche Lebensformen als Versprechen . . . . . . . 2.1 Fairness als Maßgabe des Versprechens: John Rawls . 2.2 Gerechtigkeit als Versprechen demokratischer Lebensformen: Judith Shklar . . . . . . . . . . . . 2.3 Zu Wort kommen und Gehör finden: Jacques Rancière . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Versprechen der Sprache, des Gesprächs oder der Gemeinschaft: Jean-François Lyotard . . . . . . . . Das bezeugte Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zwischen Treue und Verrat: Gabriel Marcel . . . . . 3.2 Versprechen, Identität und Ordnung: Hannah Arendt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Versprechen als Modus der Selbst-Bezeugung: Paul Ricœur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Eine Ontologie des Versprechens: Robert Spaemann . Versprechen zwischen Un-Möglichkeit und Übermaß . . 4.1 Befremdetes Versprechen: Maurice Blanchot . . . . 4.2 Geschichte als Versprechen – Vom Andern her: Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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169 172 176 176 179 183 187 190 190 194 197 201 205 205 209
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Inhalt
4.3 Zuviel versprochen: Emmanuel Levinas . . . . . . . 217 4.4 Versprechen als responsives Geschehen: Bernhard Waldenfels . . . . . . . . . . . . . . . . 222
Epilog Das gegebene Wort als Zumutung Im Horizont einer Kultur des gelebten Versprechens . . . . . 231 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Siglen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
Namenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263
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Vorwort
Gemeinschaften, Ethnien, Gesellschaften, Staaten und internationale Machtgefüge sind in den Sog einer Globalisierung geraten, die keine soziale oder politische Lebensform unberührt und unangefochten lässt. Zwischen weltfremder Abgeschiedenheit, mit der manche liebäugeln, die sich diesem Prozess dennoch zu entziehen versuchen, und entschlossener Flucht nach vorn in ein neues Nomadentum, das sich von jedem Nomos einer umgrenzten Form des Zusammenlebens zu lösen versucht, haben Gesellschaften einen schweren Stand. Von außen und innen geraten sie derart unter Druck, dass nicht einmal mehr sicher ist, ob es in Zukunft noch Gegenstände dieser Art geben wird, denen mit den Mitteln einer traditionellen Gesellschaftsanalyse und –kritik beizukommen wäre. Dass in Folge einer globalen Ökonomisierung und Temporalisierung der menschlichen Lebensverhältnisse alles »Bestehende« zu »verdampfen« droht und sich in seiner Flüchtigkeit auflösen könnte, ist im Anschluss an Karl Marx bis hin zu Marshall Berman längst zu einem Topos sog. Zeitkritik geworden, die allerdings sehr leicht ihrerseits in den Sog der Prozesse geraten kann, die sie beschreibt. 1 Das liegt um so näher, wie sie ihre Kategorien einfach ihrem neuerdings so sehr veränderten, ja bis zur Unkenntlichkeit entstellten Gegenstand entnimmt. Statt von Gesellschaft ist von Schwärmen, Mobs und Herden flüchtiger Netznutzer die Rede, die sich in hochkontingenten Prozessen zu immer neuen Konfigurationen zusammenfinden, um sie nicht selten ebenso schnell wieder aufzulösen, wie sie sich gebildet haben. Was in diesen Konfigurationen ausgetauscht wird, unterläuft traditionelle Grenzen zwischen Geschriebenem und Gesprochenem, Privatem und Öffentlichem, Formellem und Informellem, sachhaltiger Mitteilung und expressiver Selbstdarstellung genau so nachhaltig wie der Status derer, die elektronisch miteinander verkehren. Vielfach kennt man einander nicht oder weiß nicht, Vgl. M. Berman, All That is Solid Melts into Air, New York 1982; Z. Bauman, Liquid Modernity, London 2000.
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Vorwort
welche Identität sich hinter einer virtuellen Adresse verbirgt. Ob das, was man mitteilt, morgen noch gilt, steht dahin; es ist bloß mehr oder weniger wahrscheinlich oder schlicht bedeutungslos. Und ob auf diejenigen, die leibhaftig gar nicht präsent sind, noch in irgend einem Sinne Verlass ist, erscheint schon als deplatzierte, anachronistische Frage in Zeiten, in denen angeblich allein zählt, welche elektronische Fassade man präsentiert, welches nahezu beliebig manipulierbare Profil man von sich selbst erstellt und wie es abgerufen wird, etc. Wer auf diese Weise die Beschreibung heutiger Kommunikationsstrukturen ohne weiteres in eine kryptonormative Anforderung übersetzt, zieht sich allerdings den Verdacht zu, sich den beschriebenen Prozessen quasi hysterisch auszuliefern, deren unbestreitbare Brisanz uns in der virtuellen Gegenwart doch nicht von sich aus sagen kann, ob und wie sie das affizieren und transformieren, was man sich bislang unter vergesellschaftetem Leben vorgestellt hat. Umgekehrt muss man allerdings zugestehen, dass es nicht mehr als Selbstverständlichkeit durchgeht, gesellschaftliches Leben habe ungeachtet der schon von Hegel wahrgenommenen Flüchtigkeit der Bedürfnisse, deren »System« nach seiner berühmten Definition die Gesellschaft ausmacht, weiterhin unangefochten substanziellen Bestand. 2 Heute sind wir mit einer unerhört gesteigerten Temporalisierung der Bedürfnisse und mit einer nur noch schwer theoretisch zu beschreibenden, welt-weiten Verflechtung menschlicher Lebensformen konfrontiert, die alle konventionellen Grenzen unterläuft. In Zeiten des Internet kann keine Rede mehr sein von stabilen Grenzen der Zugehörigkeit bis hin zu Völkern und Staaten, die Hegel in seiner Darlegung ihres geschichtlichen Widerstreits wie vollständig differenzierte Individuen gegeneinander antreten ließ, um gewaltsamem Konflikt die Entscheidung über ihre unvereinbaren Gegensätze zu überlassen. Auch wenn es eine irreführende Generalisierung wäre, zu meinen, nunmehr könne weltweit jeder mit jedem in elektronischen Austausch treten (den nicht zuletzt die Zensur wie in China und im Iran offenbar höchst wirksam zu unterbinden weiß), liegt es doch auf der Hand, dass sich die entfesselte Kommunikation aus der Umklammerung durch vorgegebene, rechtlich formierte und politisch be2 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt am Main 1986, §§ 189–208.
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Vorwort
herrschte Ordnungen sehr weitgehend zu lösen begonnen hat. Das aber könnte sie auf Dauer mit einem unabsehbaren Strukturverlust bezahlen, wenn sowohl der Status der Kommunikationsteilnehmer als auch die Spuren, die sie im Netz hinterlassen, am Ende kaum mehr von der Flüchtigkeit eines Gerüchts zu unterscheiden sind, wie der niederländische Medienwissenschaftler Geert Lovink meint. Damit ist nur eine Herausforderung unter vielen genannt, neu zu bedenken, was wir unter gesellschaftlichem Leben oder sozialen Lebensformen verstehen; und zwar vor allem im Hinblick auf ihre verbindliche Dimension. Ausgehend von dem intuitiven Befund einer sehr weitgehenden Erosion sozialer Verbindlichkeit fordert dieses Buch deshalb in einem kontrolliert-anachronistischen Verfahren dazu auf, gewissermaßen den Blick zurück zu wenden in die Geschichte der neuzeitlichen Sozialphilosophie, die m. E. nicht erst mit Hegels Begriff der Gesellschaft, sondern mit der radikalen Frage einsetzt, was gewisse Lebewesen, denen man zugetraut hat, vernünftig zu reden, durch das, was sie sagen oder einander zusagen, miteinander verbindet. Der neuzeitlichen Sozialphilosophie kommt in dieser Perspektive bis heute ein unvermindertes Gewicht zu, insofern sie jegliche Berufung auf eine bereits vorgegebene, bestehende bzw. substanzielle Verbundenheit durchkreuzt und in Rechnung stellt, dass ungeachtet einer natürlichen Begabung zu vernünftiger Rede jegliche Verbindung zwischen den Menschen abzureißen droht; allerdings weniger durch eine exzessive, aber unverbindliche Kommunikationsfreude, als vielmehr durch die Gewalt, die sie einander antun. Wie auch immer die Kommunikations- oder Verständigungsverhältnisse sich zukünftig ändern werden, handelt es sich nicht allemal um kommunikative Transformationen menschlicher Lebensformen, die wenigstens versprechen müssen, dass man so weit wie möglich auf Gewalt gegeneinander verzichtet? Ob es sich hier um eine – höchst prekäre, niemals gesicherte – »Grundlage« menschlicher Lebensformen handelt, die auch in Zeiten unerhört liquider Kommunikation nicht ganz aus dem Auge verloren werden darf, bleibe dahin gestellt. 3 (Ein starkes Indiz dafür ist die epidemisch sich ausbreitende Erfahrung eminent gewaltsamen Missbrauchs privatester Informationen und Bilder, die ohne Einwilligung Anderer im Internet preisgegeben werden.) Gegenstand dieses BuVgl. v. Verf., Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Eine Einführung, Weilerswist 2007.
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Vorwort
ches ist die Virulenz der Frage nach einer solchen Grundlage in der Geschichte philosophischer Reflexion des sogenannten »Sozialen«, das, so ursprünglich es die Menschen zu verbinden scheint, erst durch die Erfahrung radikaler Gewalt als solches zum Vorschein und als legitimer, wenn nicht wichtigster Gegenstand zur Geltung gekommen ist. Von Natur aus ist kein »soziales«, schon gar kein gewaltfreies Zusammenleben garantiert. Wenn überhaupt etwas die Menschen ursprünglich miteinander verbindet oder sie aneinander fesselt, dann die Gewalt, die alle ihre sozialen und politischen Verhältnisse zu zerstören droht. Dafür spricht kulturgeschichtlich gewiss viel mehr als für eine ursprüngliche Bestimmung zu friedlichem Zusammenleben, in der manche bis heute den eigentlichen Sinn des Politischen zu erkennen meinen. Das bedeutet freilich keineswegs, die Rede von einem solchen Sinn des Politischen sei realitätsfern und deshalb abwegig. Aber sie muss sich doch einer prima facie ihr widersprechenden geschichtlichen Realität stellen, um überzeugend zu sein. Andererseits liegt nirgends, in keiner objektiven Realität das Soziale einfach als Gegenstand vor. Es begegnet vielmehr als gewaltsam nachträglich in Frage gestelltes sog. Zwischenmenschliches, das womöglich kategorial überhaupt nicht zureichend zu fassen ist. Das jedenfalls wird behauptet von Sozialphilosophen, die es vom Dialog her denken und das Soziale angesichts des Anderen oder im Angesicht des Anderen zu entziffern versuchen. Schließlich sind es allemal Andere, an die sich menschliche Rede im Dialog wie im Diskurs wendet als Adressaten alles Gesagten, aber auch als Empfänger dessen, was man ihnen zusagt oder verspricht. Anderen gegenüber äußert man nicht nur Gesagtes, sondern gibt man sein Wort und stiftet auf diese Weise jedes Mal eine Verbindlichkeit, deren Ursprung, Geltung und Dauerhaftigkeit bis heute ungelöste Rätsel zu sein scheinen. Gewiss fühlen und wissen sich Menschen nicht allein durch Versprechen einander verbunden. Und die Bedeutung des Versprechens reicht weit über das Gespräch von Angesicht zu Angesicht hinaus bis ins internationale Recht, das verlangt, Versprechen und Verträge seien zu halten (pacta sunt servanda). 4 Gleichwohl kann man den Standpunkt vertreten, in der Frage nach der Verbindlichkeit des Versprechens angesichts Anderer und im Zusammenleben mit vielen anonymen Anderen zeige sich wie kaum sonst irgendwo die Brisanz 4
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D. Diner, Weltordnungen, Frankfurt am Main 1993, S. 67, 97.
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Vorwort
sozialer, aber zerbrechlicher Verhältnisse, die elementar auf Verlässlichkeit angewiesen sind. Dabei verspricht das Versprechen nicht, ein Allheilmittel zu sein. Nichts steht im Gegenteil mehr im Verdacht, nur leere Worte zu produzieren, wie gerade die Versprechung, auf die man besser nichts geben sollte. Schließlich ist auch die moderne europäische Geschichte, auf die wir zurückblicken, gepflastert mit unverantwortlichen Versprechen einer maßlosen politischen Rhetorik, die kaum mehr überzeugt. Nüchternheit ist also geboten, wenn man den riskanten Versuch unternimmt, Quellen der Verbindlichkeit menschlicher Lebensformen nachzugehen, um zu ermitteln, inwiefern sie unverzichtbar sein könnten – sei es für explizit Zugesagtes, sei es im Modus verbindlichen Lebens selbst, ohne das wir wohl keinen Pfifferling geben würden auf das so oft beschworene Versprechen politischer, zumal demokratischer Lebensformen, eine unabdingbare Gerechtigkeit einzulösen. Zwischen »gelebtem Versprechen« und der Zukunft dieser Lebensformen besteht vielleicht ein nur schwacher und nur schwer einsichtig zu machender Zusammenhang. Doch es lohnt sich, Spuren nachzugehen, die in diese Richtung weisen, wenn es aller elektronischen Kommunikationsfreude und unberechenbaren Flüchtigkeit des Sozialen zum Trotz nach wie vor auf die Frage ankommt, ob wir in Zukunft mehr sein werden als nur ein Gerücht, auf das keinerlei Verlass ist. Wenn es vom menschlichen Selbst, also davon, wer wir sind, nichts Besseres zu berichten gibt, sollte man die Rede von politischen Lebensformen, die auch nur das geringste Vertrauen verdienen, gleich mit als hoffnungslosen Anachronismus »vergessen«. Gleichsam als Gegenprobe mögen die vorliegenden Einführungen in die Bedeutung des Versprechens im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie (Teil A – I) sowie in der Philosophie der Gegenwart (Teil B – I) mit den dazu gehörigen Kommentaren zentraler Texte (Teile A – II und B – II) dienen, die jeweils mit sparsamen Hinweisen auf sekundäre Literatur ergänzt wurden, um vielfältige Anschlüsse zu ermöglichen. Vorgelegt wird so keine fugenlose Theorie des Versprechens, sondern der Versuch, die radikale sozialphilosophische Brisanz dieses Phänomens in geschichtlicher Perspektive herauszuarbeiten. In diesem Sinne haben die Kommentare zu den ausgewählten Textstellen den Charakter einführender Problematisierungen. Für die freundliche Unterstützung dieses methodischen
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Vorwort
Experiments und die Aufnahme des Manuskripts in das Programm des Verlages danke ich herzlich Lukas Trabert. Fbr., im Winter 2007
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Einleitung
Die Stiftung des Wortes findet nicht in einem homogenen und abstrakten Milieu statt, sondern in einer Welt, in der es zu helfen und zu geben gilt. Emmanuel Levinas 1
»Nur durch das Wort werden wir zum Menschen, nur durch das Wort stehen wir miteinander in Verbindung«, schreibt Michel de Montaigne in seinem Essay über die Lügner. 2 Das Wort steht hier für die aufrichtige Rede, die vom Gesagten auf das wirklich Gemeinte und Beabsichtigte schließen lässt und keinen Verdacht nährt, ihr Adressat werde womöglich arglistig und systematisch getäuscht. Im Vertrauen auf das Wort glauben wir Anderen und stehen genau im Maße des Glaubens an sie in einem »menschlichen« Verhältnis zu ihnen. So könnte man extrapolieren, was Montaigne sagen wollte. Nur im fortgesetzten Vertrauen auf das Wort bzw. auf den Anderen, der es äußert oder gibt, kann demnach ein solches Verhältnis bestehen bleiben, das durch nichts anderes von Natur aus garantiert scheint. Fällt man also aus einem menschlichen Verhältnis in dem Maße heraus, wie das Vertrauen, das wir dem Anderen bzw. dem schenken, was er sagt und zusagt, gestört oder gar zerstört erscheint? Reißt dann wirklich jede Verbindung ab? Während man sich Jahrhunderte lang mit Paraphrasen der berühmten Aristotelischen Definition des Menschen als eines »sprechenden Lebewesens« (zoon logon echon) begnügt hatte, das erst in der Zugehörigkeit zu einer politischen Lebensform (bios) zum Menschen im engeren Sinne (zoon politikon) wird, wirft Montaigne ein ganz neues Licht auf die Frage, was Menschen, die zunächst nur mit 1 E. Levinas, Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, Freiburg i. Br., München 1987, S. 313. 2 M. de Montaigne, Die Essais, Stuttgart 1953, S. 44 (= Essais, Paris 1950, éd. A. Thibaudet, S. 55).
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Einleitung
der Befähigung zu vernünftiger Rede begabt sind, eigentlich zu Menschen macht. Ihm geht es nicht darum, dass diese Lebewesen dazu in der Lage sind, Wahres zu sagen in der Form einer möglichst eindeutigen Aussage 3, sondern darum, dass Menschen sich im Vertrauen aufeinander aneinander wenden können. Ist das nicht auch die Voraussetzung jeglicher Aussage von Wahrheit in eindeutig Gesagtem? Liegt dem Gesagten nicht allemal das Sagen voraus, das sich an Andere wendet und darin die Ansprechbarkeit Anderer in Anspruch nimmt – noch vor jedem gegebenen Wort? Liegt nicht darin, dass man einander auf Erwiderung hin anspricht 4 , eine elementare Glaubenszumutung 5 , die schon die einfachste Anrede – sei es auch in der Form eines stummen Blicks – prägt? Setzt nicht jede Sprachphilosophie, die sich auf Strukturen expliziter Rede beschränkt, und jede politische Philosophie zu spät an, die sich auf das Zustandekommen von Verbindlichkeit durch ausdrücklich Gesagtes stützt? Ohne das Geschehen eines ein- oder gegenseitigen Sagens, das sich an Andere wendet, kann es überhaupt kein Versprechen und keinen Vertrag geben, in dem man Verbindlichkeiten fixiert. So gesehen stiftet die an Andere gewandte Rede im Vertrauen auf sie eine originäre Bindung, die nicht immer schon auf einer solchen, bereits vorgegebenen Verbindlichkeit beruhen kann. Der Gedanke einer solchen originären, aber keineswegs unverbrüchlichen Bindung ist vor allem dort aufgekommen, wo eine zuvor unbefragt als vorgegeben vorausgesetzte religiöse oder in der Natur des Menschen liegende Verbindlichkeit nicht mehr überzeugte. An der Schwelle zur Neuzeit, die schließlich jede Vorstellung einer umfassenden und vorgegebenen Ordnung ruinieren wird, in die sich die Menschen nur einzufügen hätten, fragt Hugo Grotius aus »Sorge um die menschliche Gemeinschaft« nach Formen der Verbindlichkeit, die Bestand hätten, »selbst wenn es Gott nicht gäbe«. 6 Genügt es, einem Fremden die Hand zu geben als Zeichen einer verbindlichen Zusage?
Aristoteles, Metaphysik, Stuttgart 1970, 1006 a/b. K. Löwith, »Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen«, in: Schriften 1, Stuttgart 1981, S. 9–197, bes. § 27. 5 Vgl. J. Derrida, »Glaube und Wissen«, in: ders., G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt am Main 2001, S. 72. Hier ist allerdings von einer »Glaubensbezeugung« die Rede. 6 Vgl. D. u. H. Willoweit, »Das Versprechen – Problemgeschichtliche Aspekte eines rechtsphänomenologischen Paradigmas«, in: Perspektiven der Philosophie 14 (1988), S. 307–328, hier: S. 312, 317. 3 4
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Einleitung
Gibt es praktische Zeichen, die herbeiführen, was sie bezeichnen? Kann man sich allein durch Gesagtes oder zu verstehen Gegebenes gewissermaßen in die Hand eines Anderen begeben, um ihm verpflichtet zu bleiben? Wie soll ein Anderer darauf vertrauen können? Diese bis in unsere Gegenwart hinein radikalisierten Fragen läuten die Sozialphilosophie der Neuzeit ein, die im 20. Jahrhundert schließlich zur Ersten Philosophie aufgerückt ist. 7 Gewiss tauchen diese Fragen am Beginn der Neuzeit nicht wie aus dem Nichts auf. Die Pflicht, Zugesagtem treu zu bleiben, hatte schon Cicero begründet. 8 Und die Wahrhaftigkeit der Äußerung von Absichten hatte Thomas v. Aquin als Nebentugend aus der von Aristoteles beschriebenen Gerechtigkeit abgeleitet. Schließlich glaubte er von Gott erwarten zu können, dass er Wort hält, weil er gerecht sei, und übertrug diese Erwartung auf die Menschen. Aber weder göttliche Zusagen noch Verheißungen begründen einen Anspruch auf deren Einlösung. 9 Wird Verbindlichkeit zwischen Menschen demgegenüber nicht gerade dadurch möglich, dass man einander Ansprüche einräumt? Macht man sich dabei lediglich aus eigener Machtvollkommenheit zum Schuldner, der sich auf die Erfüllung solcher Ansprüche verpflichtet? Führt die autonome, aber grundsätzlich reversible Selbstbindung einer freien Person eine verlässliche Rechtsverbindlichkeit herbei? Kommt so tatsächlich eine »fremdpersonale Bindung« zustande? Bedarf diese auch eines Glaubens an sie auf Seiten derer, die sich auf Zugesagtes verlassen und Anderen vertrauen? 10 Können Versprechen überhaupt gelingen ohne diese Vertrauenszumutung? Wenn es grundsätzlich Sache des Anderen ist, dem man sein Wort gibt, es sich als Zusage geben zu lassen und sich auf das Zugesagte zu verlassen, entzieht sich das Gelingen von Versprechen dann nicht subjektiver Autonomie? Solche Fragen werden in der Neuzeit zwar nicht zum ersten Mal gestellt, doch macht sich nun eine zunehmende Entsicherung aller Voraussetzungen bemerkbar, die zuvor auf der Annahme beruhten, die Menschen seien einander entweder als politische Lebewesen, als
Vgl. Anm. 45 zu Kap. A – I (S. 54). Zum Zusammenhang von Treue und Aufrichtigkeit des Versprechens vgl. R. Ginters, Versprechen und Geloben, Düsseldorf 1973, S. 21 ff. 9 Vgl. D. u. H. Willoweit, »Das Versprechen«, S. 315–319, sowie M. Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, Köln, Graz 1959, S. 11 f., 40, 44. 10 Vgl. ebd., S. 27, 34, 51, 115. 7 8
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Einleitung
Angehörige der gleichen Lebensform, als Mitglieder eines Gemeinwesens oder der gleichen Glaubensgemeinschaft »immer schon« bzw. von Natur aus miteinander verbunden. Statt dessen rückt ins Blickfeld, wie prekär jede menschliche Bindung, Verbindung oder Verbindlichkeit sein muss, die nicht auf einer vorgegebenen, ein für allemal eingerichteten Ordnung beruht, sondern originär gestiftet und wiederholt erneuert werden muss, wenn sie sich nicht alsbald in nichts auflösen soll. Erst in der Moderne wird bewusst, was besonders Apologeten des Dialogs das Zwischenmenschliche genannt und als Milieu der originären Formierung menschlicher Bindung und Verbindlichkeit herausgearbeitet haben. Erst am Beginn des 20. Jahrhunderts wird in dieser elementaren, u. a. Anregungen Johann Gottfried Herders, Wilhelm v. Humboldts und Ludwig Feuerbachs aufgreifenden Perspektive auch die Sprache neu bedacht. Sprache, nicht als gelassene Aussage des Wahren, sondern als vorgängiges Sichwenden an Andere oder als Erfahrung des Exponiertseins im beredten Blick oder in der flehentlichen Anrede, in der stummen Bitte oder im verzweifelten Schrei ist für die Lobredner des Dialogischen ein ereignishaftes Geschehen zwischen uns, das sich nicht auf ein einfaches Äußern, Aussagen oder auf die Praxis einer Performanz reduzieren lässt, die bereits fertig vorliegenden Regeln einer subjektiven Kompetenz folgen würde. Vor allem ist Sprache stets wieder zu erneuerndes Geschehen der Bindung an Andere oder der Rückbindung (religio), das in keiner Weise eine Beziehung »herstellen« kann, wie oft in technizistischer Sprache gesagt wird. Keine Beziehung, Bindung oder Verbindung kann Bestand haben, die nicht durch fortgesetztes, technisch nicht zu bewerkstelligendes Sichwenden an Andere und in erneuter Ansprechbarkeit mit Leben erfüllt wird. So gesehen vollzieht sich Sprache als ein fragiles Geschehen der Inanspruchnahme Anderer auf die Erwartung einer Erwiderung hin, die nie garantiert ist und oft genug ausbleibt oder restlos enttäuscht, die aber nicht selten auch zur erdrückenden Last wird. Wie prekär dieses, von Martin Buber über Karl Löwith und Hannah Arendt bis hin zu Emmanuel Levinas und Bernhard Waldenfels beschriebene geradezu an-archische Geschehen des Zwischenmenschlichen stattfindet, wird bis heute immer wieder verdeckt von philosophischen Theorien, die den Sinn menschlicher Rede auf den Austausch von Zeichen, Informationen oder möglichst rationalen 18
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Einleitung
Überzeugungen und Argumenten zu reduzieren neigen. 11 Zwar ist ein Dialog in diesem Sinne nicht gering zu schätzen (wie sich spätestens dann zeigt, wenn er verächtlich verworfen wird und jede Hoffnung auf vernünftiges Gespräch zerstört), doch bezieht er sich scheinbar nur auf einen vernünftigen Sinn des Redens miteinander, zu dem man niemanden wiederum allein mit guten Argumenten überreden oder überzeugen kann. Denn das setzt allemal schon voraus, dass man der Stimme des Anderen Gehör schenkt und sich im Hören auf den Anderen als aufgeschlossen erweist. Wenn diese präethische Voraussetzung nicht erfüllt ist, kann ein Gespräch nicht einmal beginnen. 12 Wie wenig dies bedacht worden ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die menschliche Stimme ebenso wie das Hören, Zuhören und Aufeinander-hören erst in jüngster Zeit philosophisch eindringliche Beachtung gefunden haben. 13 Selbst wenn aber jene Voraussetzung einmal erfüllt ist, können wir streng genommen nicht wissen, ob wir auch weiterhin mit ihr werden rechnen dürfen. Kein noch so heiliges Versprechen, kein noch so dramatisch beeideter und sanktionierter Vertrag kann garantieren, dass die im ein- oder gegenseitig gegebenen Wort etablierte Verbindung bestehen bleiben wird. Dass Menschen miteinander »in Verbindung bleiben« (wie eine geläufige Redensart besagt), ist so wenig gesichert wie der Befund Montaignes, dass sie »durch das Wort« tatsächlich miteinander in Verbindung stehen. Beides verlangt nach einem streng genommen unvorhersehbaren Wiederanknüpfen, das zwischenzeitlich ausbleibt und oft genug überraschend für immer unmöglich wird. Jede noch so stabile Verbindung kann im Prinzip jederzeit abbrechen und bleibt von Gewalt und Tod überschattet. Daran kann auch das geradezu maßlose Versprechen nichts ändern, sie über den Tod hinaus aufrechterhalten zu wollen. Vgl. B. Waldenfels, »Ein fugenloser Dialog«, in: Philosophische Rundschau 53 (2006), Heft 2, S. 99–107. 12 P. Ricœur, »Religion, Atheism, and Faith«, in: A. MacIntyre, P. Ricœur, The Religious Significance of Atheism, New York, London 1969, S. 56–98, hier: S. 71 ff. In der Philosophie Ricœurs und entschiedener noch bei Levinas und Derrida wird jene Voraussetzung im Sinne einer »gastlichen« Aufgeschlossenheit menschlicher Subjektivität beschrieben, die jedem Gespräch und Diskurs zugrundeliege; vgl. v. Verf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br., München 2008. 13 Vgl. B. Waldenfels, »Hearing oneself speak«, in: L. Lawlor (Hg.), Derrida’s Interpretation of Husserl, Memphis 1994, S. 65–77; D. Kolesch, S. Krämer (Hg.), Stimme, Frankfurt am Main 2006; v. Verf., »Die Stimme des Anderen. Kritische Anmerkungen zu ihrer aktuellen ›Rehabilitierung‹«, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie (i. V.). 11
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Einleitung
Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, hat man dem Versprechen zugetraut, eine zwischenmenschliche Verbindlichkeit zu begründen, der die Zeit nichts sollte anhaben können, die früher oder später alles dem Nichtsein überantworten wird, wie Aristoteles lehrte. Das Wort, das einer dem Anderen gibt, sollte nicht »Schall und Rauch« sein wie das Selbst, das sich morgen schon als ein anderes herausstellen kann, wie Montaigne lehrte. Es sollte unbegrenzter Veränderlichkeit widerstehen können als etwas, das von dem Moment an gilt, in dem es vernommen und angenommen wird. Legt nicht derjenige, der jemandes Wort »abnimmt«, den Anderen darauf fest, sich daran zu erinnern und in diesem Sinne sich künftig als derselbe zu erweisen, der es gegeben hat? Wird sich derjenige, der mir heute sein Wort gibt, in Zukunft wirklich noch daran erinnern? Wird er morgen noch derselbe sein (oder sein wollen), der mir zuvor sein Wort gab? Wenn wir uns ständig verändern und – Michel Foucault oder Richard Rorty zufolge – sogar versuchen sollten, Andere zu werden, um unser Leben nicht in schierer Wiederholung zu erschöpfen, hat es dann irgend einen Sinn, sich auf unser gegebenes Wort zu verlassen oder Anderen zu vertrauen? Dagegen spricht auf den ersten Blick vor allem der nicht erst seit Niccolò Machiavelli, Michel de Montaigne und Montesquieu vielfach gebrandmarkte rhetorische Missbrauch politischer Sprache, der eine Kultur des Verdachts gegen Beschwörungen von Ehrlichkeit, Redlichkeit und Ernsthaftigkeit nach sich gezogen hat. Wer glaubt, rhetorisch hervorheben zu müssen, dass man seinen politischen Versprechungen »wirklich« glauben kann, dass er »wirklich« meine, was er sagt, und dass dasselbe von jedem Anderen zu verlangen sei, entlastet die politische Kultur keineswegs vom uferlosen Verdacht, sondern nährt womöglich eine Art Ekel und Verachtung gegen jede Rede, die ihre Glaubwürdigkeit zur Schau stellt oder beweisen will (statt das entsprechende Urteil Anderen zu überlassen). Selbst eine Philosophin wie Judith Shklar, die zahllosen Verästelungen einer solchen Kultur des Verdachts und des misanthropischen Überdrusses angesichts allzu oft missbrauchter moralischpolitischer Sprache nachgegangen ist, zeigt sich aber von der außerordentlichen Bedeutung des Versprechens für menschliches Zusammenleben überzeugt. Dabei bleibt sie freilich nicht beim Wort stehen, das jemand einem Anderen gibt. Zumal eine demokratische Lebensform sei von dem Versprechen unabtrennbar, kraft der Sprache »menschliche« Verhältnisse zu etablieren. Shklar identifiziert 20
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eine demokratische Lebensform geradezu mit diesem gelebten Versprechen – ungeachtet des Befundes, dass Unglaubwürdigkeit, Unzuverlässigkeit und Betrug zu normalen Charakteristika der demokratischen Lebensformen des Westens geworden sind. 14 Dabei stützt sie sich weniger auf eine absolute Verpflichtung, die Sprache aufrichtig zu gebrauchen und Versprechen zu halten (wie es eine Deontologie auf den Spuren Kants tun würde); vielmehr begreift sie menschliches Vertrauen in das, was Andere sagen und versprechen, als eine Art Heilmittel gegen die Unabsehbarkeit der menschlichen Verhältnisse. Vertrauen ist demnach nur eine Antwort »to the limits of foresight«. 15 Es kompensiert einen Mangel an Wissen, basiert aber nicht auf einem Glauben an Andere. (Dass darin ein wesentlicher Unterschied liegen könnte, ist Shklar nicht aufgefallen. 16 ) Spricht nicht tatsächlich vieles dagegen, sich auf gegebene Versprechen zu verlassen und Anderen, die uns ihr Wort gegeben haben, Vertrauen zu schenken? Sollten wir nicht auch uns selbst misstrauen angesichts einer offenkundigen »Unzuverlässigkeit des menschlichen Wesens, das niemals dafür einstehen kann, wer es morgen sein wird«, wie Hannah Arendt behauptet? 17 Im Versprechen mag sich zwar der Wille bekunden, sich in der Zukunft an das gegebene Wort gebunden zu fühlen. Aber dieser Wille hat doch keine Macht über die Zukunft, in der es bekanntlich immer anders kommen kann als geplant oder erhofft. Nachträglich kann auch der erklärte Wille, Wort halten zu wollen, ins Wanken geraten. Veränderte Umstände können dazu zwingen, sich vom Versprochenen zu entbinden (oder von ihm entbunden zu werden) und das Versprochene als solches in Abrede zu stellen. Dagegen gewährt selbst ein »heiliges« Versprechen keinerlei Sicherheit oder Gewissheit, dass es später noch gelten wird, oder gar, dass es auch wirklich eingelöst werden wird. Immer wieder hat man deshalb behauptet, Versprechen seien »nichts als bloße Worte« – worin sich allerdings auch eine auffällige Geringschätzung menschlicher Rede überhaupt offenbart. Als reichlich einfältig erscheint es dem zufolge, sich von Versprechen nicht bloß »prinzipiell unverbindliche«, insofern leere WorJ. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge, London 1984, S. 70, 183 f., 191 f. Ebd., S. 151. 16 Vgl. ausführlich dazu Teil B – I in diesem Band. 17 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 4 1985, S. 231 ff., 239 ff. Siehe dazu das Kap. 3. 2 im zweiten Teil dieses Bandes, sowie Kap. B – I, 1., Anm. 9. 14 15
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te zu versprechen. Kann sich nicht immer erst später, im Vorhinein also niemals verlässlich erweisen, ob wirklich Wort gehalten wird? Schlägt nicht der insoweit »gegen Null tendierende Wert« des gegebenen Wortes von der unabsehbaren Antwort auf die Frage, ob es gehalten werden wird, auf den Sinn des Wort-gebens selbst zurück? Niemals kann der Versprechende garantieren, dass er Wort halten wird. Wer das Gegenteil beteuert, wird nur um so unglaubwürdiger erscheinen. Ein Versprechen ist keine sichere Vorhersage. Heißt das, dass diejenigen, denen etwas versprochen wird, gut beraten sind, selbst heiligsten, beeideten und aufrichtig beteuerten Versprechen allenfalls unter innerem Vorbehalt oder besser noch gar keinen Glauben zu schenken? Ist jedes Versprechen in diesem Sinne als leere Versprechung zu entlarven, auf die man besser nicht bauen sollte? Verstärkt nicht gerade jeder Nachdruck, mit dem man sein Wort gibt, das Misstrauen in das gegebene Wort und in denjenigen, der es gibt? Der Versprechende kann weder seine Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit noch seine spätere Verlässlichkeit beweisen. Darüber vermag auch nicht hinwegzutäuschen, wer Gott als Zeugen anruft oder magische Strafen heraufbeschwört für den Fall, dass er sein Versprechen vergessen oder verraten sollte. Angesichts einer Zukunft, die niemand vorweg im Griff hat, scheint jedes Versprechen zuviel zu versprechen. Das gilt nicht nur für absolute Versprechen in der Form göttlicher Zusagen und Verheißungen, die nur jenseits der Zeit sich erfüllen könnten, sondern auch für jedes profane gegebene Wort. Aber verspricht nicht auch derjenige unvermeidlich, der sein Wort nicht gibt, um sich nicht leerer Versprechungen schuldig zu machen? Verspricht nicht, wer überhaupt spricht, allein dadurch schon, sich wahrhaftig zu äußern? Ist nicht in diesem Sinne »jeder Satz ein Versprechen«? 18 Zwischen hyperbolischen, maß-losen Versprechen, denen man keinen Glauben schenken will, einerseits und einer derart ausufernden, am Ende mit menschlicher Rede zusammenfallenden Bestimmung des Versprechens andererseits erstreckt sich ein weites Feld des Wort-Gebens und –Haltens, das sozialphilosophisch noch wenig erkundet ist. Pauschale Geringschätzung von Versprechen als »bloßer Worte« verbaut sich ein genaues Verständnis dieses Feldes ebenso wie eine leichtfertige 18 Vgl. M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt, München 2005, S. 10, sowie H. A. Prichard, »The Obligation to Keep a Promise«, in: Moral Obligation, Oxford 2 1957, S. 169–179, hier: S. 172.
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Hochschätzung, die es der Souveränität eines von Anderen unabhängigen, ganz autonomen Selbst überließe, zu bezeugen, wer es in Wahrheit ist. Der vorliegende Band erkundet die Topografie dieses Feldes im sozialen und politischen Denken der Neuzeit (Teil A) und in der Philosophie der Gegenwart (Teil B). Dabei dient die Annahme als Ausgangspunkt, dass sich in der Neuzeit, vor allem zur Zeit Hobbes’ und seiner Zeitgenossen, eine radikale, durch nichts aus der Welt zu schaffende Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen herausgestellt hat, die erstmals die Frage aufwerfen musste, inwieweit ihr durch eine Verbindlichkeit zu begegnen ist, die allein einer Praxis des Zusagens zu verdanken ist. Zweifellos stellt das Versprechen in dieser Praxis nur eine Form des Zusagens unter anderen dar – neben Formen der Verabredung, des Vereinbarens, des Zusicherns, des Beteuerns, des Vertrages, des Gelobens, Beeidens und Verheißens. Aber es repräsentiert doch eine herausragende Form vielfach explizit verbindlichen Zusagens, die in eben dem Moment Verbindlichkeit originär stiftet, wo die Zusage geschieht. So kann im Geschehen des Versprechens die Entstehung verbindlicher zwischenmenschlicher Sozialität gewissermaßen in statu nascendi beobachtet werden, wenn auch die Erfüllung des Zugesagten oft weit bis in eine unabsehbare Zukunft hineinreicht, die sie ausstehen lässt. Gewiss kennt das klassische politische Denken Formen menschlicher Verbundenheit – wie die Freundschaft, die für Platon und Aristoteles im Zeichen des Guten die Integration einer politischen Lebensform verbürgt – und Formen der Herstellung von Verbindlichkeit wie den Vertrag oder die informelle Abmachung – vom nexus über den einseitigen contractus und die nicht klagbare formlose Übereinkunft in Form eines pactum bis hin zur stipulatio als bis in die Neuzeit hinein gültiger schuldbegründender Rechtsform. Aber diese Begriffe beziehen sich auf die Frage, welche Verbindlichkeit etwa damit verbunden ist, wenn man etwas verspricht, und in welcher Form das geschehen kann. Im traditionellen Arsenal des juridischen Denkens wird aber kaum je das Problem zur Sprache gebracht, ob man sein Wort geben muss (oder will) und welche Verbindlichkeit oder menschliche Verbundenheit im Geben des Wortes selbst liegt. Zudem verschwendet man im Rahmen dieses Denkens kaum Gedanken auf implizite Versprechen bzw. auf Formen der Verbindlichkeit, die man eingeht, ohne explizit etwas zu versprechen, und die doch einem Versprechen gleich kommen. Muss einer A
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dem anderen überhaupt ausdrücklich sagen »ich sorge für dich«, um durch die effektive Übernahme einer fürsorglichen Rolle quasi ein entsprechendes Versprechen zu geben und durch das eigene Leben einzulösen? Könnte es nicht sein, dass gerade dort, wo kein verbales Aufhebens vom Versprochenen gemacht wird, verlässlichste Verbindlichkeit von Quasi-Versprechen vorliegt, als die die Praxis menschlicher Lebensformen in der diachronen Dimension der Sorge füreinander zu rekonstruieren wäre? 19 Führt so gesehen das Interesse an expliziten Formen des Versprechens womöglich eher in die Irre? Gibt man Versprechen nicht gerade dann, wenn gestörtes Vertrauen durch ausdrückliche Versicherungen wieder hergestellt werden soll? Beziehen sich jene Begriffe (nexus, stipulatio etc.) noch auf einen bereits etablierten Code juridischer Institutionen, so denkt erstmals Lessius zu Beginn des 16. Jahrhunderts den Akt des Versprechens als ein performatives Zeichen, das selbst »herbeiführt«, was es bezeichnet. 20 Ohne Lessius zum Sprechakttheoretiker avant la lettre hochzustilisieren, kann man in diesem Ansatz doch einen deutlichen Hinweis auf die performativ Ordnung stiftende Valenz des Versprechens erkennen, auf die sich das überwiegend naturrechtliche Vertragsdenken unausgesprochen stützt. Gerade in diesem Denken ist aber die performative Dimension des Versprechens dennoch nachhaltig der Aufmerksamkeit entgangen und das Versprechen als eigenständige Rechtsfigur nach und nach verschwunden oder im juristischen Vertrag aufgegangen. Allerdings werden am Beginn der Neuzeit Vertrag und Versprechen noch vielfach aufeinander bezogen gedacht, v. a. bei Hugo Grotius und Samuel v. Pufendorf, die sich auf die Voraussetzung jedes Vertrages besinnen, dass man einander wahrhaftig das Wort gibt, dass man sagt, was man denkt, nicht lügt, usw. Von einer Konvention kann das nicht abhängen, wenn Versprechen in der Form eines Vertrages eine Ordnung des Zusammenlebens überhaupt erst stiften sollen. Außer-ordentliche Versprechen stiften Verbindlichkeit, wenn D. h. hier liegt eine Forschungsaufgabe, zumal im Fall der Fürsorge sofort deutlich ist, dass das »Versprochene« sich u. U. auf die langfristige Dimension einer Lebensform bezieht, ohne dass es möglich wäre, genau anzugeben, wie und durch welches Tun es einzulösen wäre. Wer Sorge zu tragen verspricht, weiß so gesehen nicht genau, was er tut, indem er dies als für sich verbindlich erachtet. Gerade diese Voraussetzung wird aber vielfach als unbedingt erforderlich bezeichnet für die Gültigkeit von Versprechen, die als glaubwürdig gelten sollen. 20 Vgl. M. Diesselhorst, Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, S. 24. 19
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überhaupt, dann nur durch ein geradezu irrationales, Anderen zugemutetes Vertrauen, das jeder (zureichenden) institutionellen Absicherung entbehrt. Wenn auch bereits etablierte gesellschaftliche Systeme und Lebensformen stets nachträglich daraufhin zu befragen sind, ob man der jeweiligen Form des Zusammenlebens zustimmen kann, ob man die getroffenen Regelungen von Macht- und Herrschaftsverhältnissen legitim findet usw., dann hat die Rückbesinnung auf ein Versprechen, sich diesen Formen unter der Voraussetzung des Verzichts auf »Selbstjustiz« einzufügen, keineswegs nur die Bedeutung einer genealogischen Reminiszenz. 21 Vielmehr ist das (hobbesianische) Problem der Konstitution einer wenigstens im Innern, auf dem Weg des Versprechens pazifizierten Ordnung nach wie vor virulent. Und es wäre sehr naiv anzunehmen, dieses Problem sei hinsichtlich der westlichen Rechtsstaaten in der Vergangenheit bereits endgültig gelöst worden. Auch dort, wo sich stabile Staaten bilden konnten, wachsen doch ständig neue Generationen nach, denen sich besonders unter Bedingungen versagter Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zunehmend wieder die Frage stellt, ob und wie sie sich ihm auch nur im Geringsten verbunden sehen sollen. Wer nichts mehr zu verlieren hat, wird sich allenfalls noch von Sanktionsdrohungen einschüchtern lassen, aber gewiss nicht mehr an ein Versprechen des Gewalt-Verzichts gebunden wissen. 22 An die Aktualität dieser Fragestellung reicht das klassische Vertragsdenken nicht heran. Bis heute umkreist es die verschiedenen Vorstellungen, die man sich von moderner Staatsbildung auf dem Weg des Versprechens, des Vertrages oder einer bloßen Übereinkunft gemacht hat und befragt die subjektseitigen Voraussetzungen, die dabei zum Zuge gekommen sind, besonders unter dem Aspekt der Selbstbindung eines Subjekts, das sich nicht nur in eine staatliche Bis heute ist umstritten, ob ein überwiegend als fiktiv und hypothetisch eingestufter Vertrag als Versprechen zu begreifen ist, das nur stillschweigend vorauszusetzen ist, ohne dass es je hätte explizit gegeben werden müssen. Wie kann ein solches Versprechen aber Verbindlichkeit stiften? 22 Im Rückblick scheint fraglich, ob der im Vertragsdenken implizierte Gewalt-Verzicht je auch den Verzicht auf sprachliche Gewalt, d. h. auf Verletzung und Vernichtung in und mit Worten eingeschlossen hat. Vgl. v. Verf., »›Wilde‹ Gewalt und das Versprechen des Gewalt-Verzichts«, in: Zerbrechliche Lebensformen, Berlin 2001, Kap. 12. Dieser Zusammenhang findet sprachphilosophisch erst in jüngster Zeit Beachtung. Vgl. J. Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, Kap. 13; v. Verf., Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit, Weilerswist 2007. 21
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Ordnung einzufügen verspricht, sondern auch im ökonomischen Austausch sein Wort geben und halten kann. Dabei fließen moraltheologisches Erbe (Verbot der Lüge) und neuzeitliche Vertragslehre zusammen. 23 Die Frage ist, inwieweit dieses Erbe bereits verblasst und von entmoralisierten, funktionalistischen Argumenten abgelöst worden ist, die darauf abstellen, dass die soziale Ordnung infolge generalisierten Vertrauensverlusts zusammenbrechen müsste, wenn man nicht auf Versprechen bauen könnte. Muss man dabei auf die Sünde der Lüge oder (mit Kant) auf die Vernunftwidrigkeit selbst bloß vorbehaltlicher Wahrhaftigkeit rekurrieren, oder genügt es, mit David Hume auf kluge Einsicht in diesen Zusammenhang zu setzen? Ist durch zunehmende funktionale Systemintegration das Versprechen (wie auch das Vertrauen, das es in Anspruch nimmt) zunehmend entbehrlich geworden, oder kommt es unter den Bedingungen eines massiv ausgeweiteten ökonomischen Verkehrs nun gerade zu einer Blüte des Vertrauens auch in Fremde? 24 Will man Antworten auf diese Fragen näher kommen, so ist es unvermeidlich, dem Akt des Versprechens selbst und der Frage, ob es soziale Verbindlichkeit originär stiften kann, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Zunächst noch in einem juridischen Rahmen geschieht das besonders in Adolf Reinachs, inzwischen klassischer Arbeit über »Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts«. Erst die mit John L. Austin einsetzende Sprechakttheorie aber besinnt sich linguistisch darauf, was überhaupt geschieht, wenn jemand sein Wort gibt. Sagen heißt: etwas mit Worten tun, lehrt Austin im Anschluss an Ludwig Wittgenstein. Im Nachhinein mag es verblüffend erscheinen, dass eine derart schlichte und elementare Einsicht so spät zur Geltung gekommen ist. 25 Zwar ist schon in der Antike vom MenWie G. Hartung zeigt in seinem Beitrag »Zur Genealogie des Versprechens. Ein Versuch über die begriffsgeschichtlichen und anthropologischen Voraussetzungen der modernen Vertragstheorie«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 277–294. 24 Montaigne hielt das offenbar für undenkbar. Einem alten Kirchenvater zufolge, auf den er sich beruft, ist es »besser für uns, mit einem Hund zusammenzuleben, den wir kennen, als mit einem Menschen, dessen Sprache wir nicht verstehen. ›Ein Fremder ist ja eigentlich für den Menschen kein Mensch‹« (Plinius). Vgl. M. de Montaigne, Die Essais, S. 45. So gesehen kann man einem Fremden kein Versprechen geben und sich von Fremden auch kein Wort geben lassen. 25 Nicht weniger auffällig ist, dass man die sprachanalytische Deutung symbolischen Handelns weitgehend auf expliziten Sprachgebrauch beschränkt hat. Auch in dieser Hinsicht hätte man von Montaigne lernen können, der fragte: »Was sagen sich Verliebte 23
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schen als »sprechendem Lebewesen« die Rede, doch hat erst nach J. G. Herder, W. v. Humboldt und einem weiteren »Jahrhundert der Sprachvergessenheit« (Jürgen Trabant 26 ) die mit Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen (1923) und mit Wittgensteins Aufweis des inneren Zusammenhangs von Sprachspielen und Lebensformen einsetzende Sprachphilosophie die performative Dimension menschlicher Rede aufgedeckt. In dieser Perspektive gilt nicht länger die möglichst eindeutige Aussage, sondern die Äußerung bzw. das an Andere adressierte Sagen selber als grundlegendstes Phänomen menschlicher Sprachlichkeit als einer weltkonstitutiven Praxis. In der Rede nehmen demnach Lebensweltformen Gestalt an, indem diejenigen, die zusammen leben, im Verhältnis zueinander etwas mit Worten tun, die nicht nur etwas über eine bereits vorhandene Welt aussagen, sondern selbst Konturen einer Welt entwerfen. Die auf der Basis der »Philosophie der normalen Sprache« entfaltete Sprechakttheorie, die sprachliche Strukturen des Handelns mit Worten detailliert beschrieben hat, orientierte sich vielfach an für soziale und politische Lebensformen grundlegenden Phänomenen wie dem Versprechen. Dabei hat sie zwar Aspekte der eigentümlichen Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen wie etwa die fragile Verbindlichkeit des gegebenen Wortes ans Licht gebracht, dem aufeinander angewiesene Wesen vertrauen müssen, wollen sie sich nicht einem gewaltsamen Naturzustand überantworten. Aber die Kehrseite des Aufeinanderangewiesenseins, die Verletzlichkeit derer, die in zerbrechlichen, von Widerstreit, Differenz und Gewalt ständig beunruhigten Lebensformen zusammen leben, hat die zeitgenössische Sprachphilosophie noch kaum bedacht. Dabei leuchtet doch ohne weiteres ein, dass Sprechakte nicht nur »verbinden« bzw. Verbindlichkeit stiften wie ein gegebenes Wort etwa, dass man vielmehr auch mittels der Sprache Gewalt ausüben, d. h. »schlimme Dinge mit Worten tun« kann, wie man in Anlehnung an Austin sagen könnte. 27 nicht alles mit den Augen: Zorn, Versöhnung, Bitten, Danken, Verabredungen usw. ›Auch das Schweigen kann sehr wohl noch bitten und sprechen.‹ Und erst recht mit den Händen. Sie brauchen wir zum Auffordern, zum Versprechen, zum Rufen und Beschwören […].« Jede Körperbewegung, meint Montaigne schließlich, »sage etwas«, »und zwar in einer Sprache, die man nicht zu lernen braucht und die jeder versteht« – womöglich auch der Fremde, der so gesehen dem Hund überlegen scheint (vgl. ebd., S. 206 f.). 26 J. Trabant, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Sprache denken, Positionen aktueller Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 1994, S. 9–26. 27 Ich lasse dahingestellt, ob nicht gerade in sprachlicher Gewalt auch eine Verbindung A
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Betrifft das auch das Versprechen? Lassen sich etwa Drohungen als Versprechen verstehen? Oder muss Versprochenes allemal versprechen, Anderen zugute zu kommen? Kann aber nicht das, was jemandem in diesem Sinne versprochen wird, Anderen zugleich als bedrohlich erscheinen? In Austins Terminologie betrifft diese Frage die perlokutionären Effekte von Versprechen. Diese Effekte hat er allerdings selber nur wenig untersucht. Austin beschränkte sich zunächst auf eine Analyse dessen, was man tut, indem man ein Versprechen äußert. Dabei war er zu dem Schluss gelangt, dass es kein eindeutiges grammatikalisches Kriterium für das Vorliegen eines Versprechens gibt und dass auch die Übersetzbarkeit von Äußerungen in explizit performative Form nicht entscheidend weiter hilft. 28 So legte er nahe, dass das Versprechen seinem Sinn nach damit zusammenhängen könnte, dass es einem Anderen gegeben wird. Paul Ricœur spricht in diesem Zusammenhang von Interlokution. 29 Bei John R. Searle, der das Versprechen ausdrücklich auf eine normalisierte Konvention beschränkt, tritt dieser wesentliche Aspekt des gegebenen Wortes wieder ganz in den Hintergrund. 30 Searle untersucht nur die sprachliche Infrastruktur des gegebenen Wortes – auf Kosten der Performanz des Wort-gebens selbst 31 , aber auch auf Kosten der Selbst-Bindung des Versprechenden an das gegebene Wort. Searle interessiert sich fast ausschließlich für die Frage, wie ein Versprechen zustande kommen kann, das als solches gilt, so dass man sich auf es berufen kann. Ein Versprechen, das alle sprachlichen Voraussetzungen dafür erfüllt, »lizensiert« Andere, sich auf das gegebene Wort zu verlassen, und berechtigt sie für den Fall der Nichteinhaltung des Versprochenen dazu, entsprechende Gründe zu verlangen, wie Robert Brandom in seiner Theorie »expressiver Vernunft« feststellt. 32 Dabei geht es nicht um eine Übertragung eines Rechts im engeren Sinne. Vielmehr sind nicht zu verrechtlichende, gewissermaßen derer sich zeigt, die sich in sie verstricken. Vgl. N. Loraux, »Das Band der Teilung«, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 31–64, hier: S. 35, 56. 28 J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 2002, S. 109. 29 P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 59. 30 Kritisch zu dieser Beschränkung: B. Waldenfels, Die Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt am Main 1999, S. 156, 165 ff. 31 Vgl. S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2001, Kap. 4. 32 R. Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt am Main 2000, S. 249 ff.
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weichere (jedenfalls nicht klagbare) Ansprüche im Spiel, über deren Tragweite man sich nicht täuschen sollte: Sie tangieren die Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit derer, die ihr Wort geben, und damit deren Selbstsein. Es ist nicht zu erkennen, wie eine allein auf den illokutionären »Witz« (point) von Sprechakten abstellende Analyse dem Verhältnis zwischen Selbst und Anderem angemessen Rechnung tragen könnte; und zwar um so weniger, als das Versprechen als interlokutionäres Geschehen sich nicht in der Zeit einzelner Akte erschöpft. Vielfach zielt die illokutionäre und perlokutionäre Wirkung des Versprechens auf eine langfristige Diachronie ab. Manchmal löst erst ein ganzes Leben das Versprochene ein, etwa in der Weise der Fürsorge, die sich »Zeit nimmt«, ohne je (genug) Zeit zu »haben«. Fragen der zeitlichen Erfüllbarkeit, der Befristung und des Aufschubs des Versprochenen wirft die Sprechakttheorie im engeren Sinne nicht auf, wo sie sich auf Äußerungen allein konzentriert. Aber man äußert sich im Kontext von Lebensformen, für die das Geäußerte von höchst langfristiger Bedeutung sein kann, beispielsweise wenn das nicht eingelöste Versprechen nachträglich auf den Sinn des ursprünglichen Versprechens zurückschlägt und es in Frage stellt. Was für das Selbst im Kontext sozialer Lebensformen auf dem Spiel steht, kommt stärker in den Blick bei Autoren wie Hannah Arendt oder Paul Ricœur. Speziell Ricœur knüpft einerseits vielfach an die Sprechakttheorie an, verzichtet aber andererseits nicht darauf, das Versprechen als interlokutionäres Geschehen zwischen Selbst und Anderem zu begreifen. Erst dadurch kommt der Zusammenhang von Versprechen und Erinnerungspflicht, an die der Versprechende sich bindet, sowie das Vertrauen des Anderen und die Bedeutung des gebrochenen Wortes bis hin zum Verlust der Glaubwürdigkeit, aber auch bis hin zu Nachsicht und Verzeihen ins Spiel. Unter welcher Voraussetzung darf man überhaupt versprechen, fragte Nietzsche. Seine Antwort zielte auf die souveräne Freiheit des Versprechenden ab. Nur wer über sie verfügt, dürfe und könne überhaupt etwas versprechen. Aber ein souveränes Subjekt wird auch jederzeit dazu in der Lage sein, sich vom Versprochenen zu entbinden. Dagegen teilt Ricœur mit Arendt die Einschätzung, kein menschliches Wesen könne je ganz aus eigener Kraft dafür einstehen, wer es morgen sein werde. Nur ein Selbst kann sein Wort geben – dank eines Anderen aber, dem ein Versprechen zu geben ist. Dabei ist jedes Versprechen unvermeidlich »übermäßig«, wie Derrida insistiert: Es A
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verspricht in gewisser Weise immer zuviel und macht sich insofern der Maß-losigkeit verdächtig. Deshalb ist jeder auf die Nachsicht Anderer angewiesen. Inwieweit wir auf sie bauen können, wessen Rede (oder implizit gegebenes Wort) überhaupt als Versprechen zählt, ob und inwieweit man sich darauf verlässt und welche Folgen das gebrochene Wort hat, entscheidet sich gleichfalls nur im Kontext sozialer Lebensformen, dem weder eine vertrags- noch eine sprechakttheoretische Analyse allein gerecht werden kann. Im Spannungsfeld zwischen rechtlichen Verträgen und dem Gebrauch explizit performativer Verben erstreckt sich ein weites Feld expliziter, aber auch impliziter Versprechen, das noch lange nicht als ausgelotet gelten kann. Deshalb beschränkt sich der vorliegende Band nicht darauf, Spuren des Versprechens im neuzeitlichen Denken sozialer und politischer Verbindlichkeit nachzugehen (Teil A), sondern bringt über die Stiftung von Verbindlichkeit vermittels des gegebenen Wortes als Akt und Institution (Teil B – II. 1) hinausgehend im Kontext menschlicher Lebensformen (Teil B – II. 2) den Zusammenhang von Versprechen und Selbstsein zur Sprache (Teil B – II. 3). Schließlich wird sich eine mehrfache Überforderung des gegebenen Wortes abzeichnen: im Zeichen des Un-Möglichen, aber auch eines Übermaßes, das buchstäblich zuviel verspricht (Teil B – II. 4). Es wird sich zeigen, dass überhaupt keine Verbindlichkeit mittels des gegebenen Wortes zu stiften ist, wenn man nicht gewärtigt (und ggfs. bereit ist), in gewisser Weise zuviel zu versprechen. Der mögliche Verrat des gegebenen Wortes ist der Bereitwilligkeit, sein Wort zu geben, unvermeidlich bereits einbeschrieben. Besonders dann, wenn ein außerordentlicher und unbedingter Anspruch des Anderen, dem das Versprechen stets Antwort gibt, seinerseits jedes Maß und jede Ordnung überschreitet. Nach der Lektüre dieses Bandes wird man vielleicht deutlicher sehen, ob man sich angesichts der unvermeidlichen Übermäßigkeit des Versprechens und der Unbedingtheit eines fremden Anspruchs, wie er bei Levinas und Waldenfels zur Sprache kommt, auf eine Sprachverachtung zurückziehen kann, die jedes gegebene Wort als »leeres« oder »hohles« abtun würde. Tatsächlich laufen nicht wenige kulturkritische Diagnosen gegenwärtig geradezu auf eine Liquidierung des Versprechens in diesem Sinne hinaus. Man fragt sich, ob nicht eine funktionale Systemintegration an die Stelle des Versprechens getreten ist; ob Medien wie das Geld und sein ökonomischer Kreislauf nicht als Surrogate zu ver30
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stehen sind; ob das Versprechen nicht in seiner Verrechtlichung aufgeht, ohne deren Basis es zwar »sittlich lobenswert«, aber »nicht kontrollierbar« und insoweit auch »unerheblich« zu sein scheint. Diejenigen, die sich vom Versprechen noch immer mehr versprechen, sind am Ende »selbst schuld am Kredit, den sie dummerweise gegeben haben«. 33 So wäre das, worin ein Versprechen Verbindlichkeit beanspruchen mag, schließlich in einer Kultur der Unverbindlichkeit aufgehoben, die allenfalls funktionale Surrogate bereit hält. Wenn es in einer Welt doppelt kontingenter Beziehungen, wie sie die Luhmannsche Systemtheorie beschreibt, inzwischen allein darauf ankommt, stabile Erwartungen (und Erwartungserwartungen) zu ermöglichen, so kommen Recht und Ökonomie demnach weitgehend ohne Versprechen aus. Wir wären gut beraten, uns nichts mehr vom Versprechen zu versprechen und erst recht jedem übermäßigen Versprechen mit größtem Misstrauen zu begegnen. Wenn heute das Versprechen neu bedacht wird, so muss man in der Tat auch dem exzessiven Missbrauch des gegebenen Wortes und des Vertrauens Anderer Rechnung tragen, den wir insbesondere der politischen Rhetorik des vergangenen Jahrhunderts zu verdanken haben. Danach wird kaum jemand, der sie in Erinnerung hat, der Gewissenlosigkeit von Zukunfts-Versprechen Glauben schenken, von denen man sich nicht mehr korrumpieren lassen will. 34 Sollten wir uns nun aber, nach dieser traumatischen Erfahrung, weigern, überhaupt noch irgendeinem Versprechen Glauben zu schenken? Sollte man keinen Gedanken mehr darauf verschwenden, im Modus des vielfach bereits zum Klischee verkommenen »gelebten Lebens« Versprechen selbst einzulösen? An denjenigen, die dazu neigen, könnte sich bewahrheiten, was Siegfried Lenz von den Gleichgültigen sagt: sie haben den Kampf verloren, ohne ihn je aufgenommen zu haben. 35 Dieser Kampf hat im eigenen Misstrauen seinen entschiedensten Gegner. Zum Abschluss dieser Einleitung sind einige Erläuterungen desVgl. M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 94, 300, 316, 320 f., 327 f., 392 sowie Anm. 55, S. 57 in diesem Band. 34 Den historischen Kontext dieser Überlegungen habe ich an anderer Stelle ausführlich beleuchtet; vgl. v. Verf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005; Revisionen der Trauer. In philosophischen, geschichtlichen, psychoanalytischen und ästhetischen Perspektiven, Weilerswist 2006. 35 S. Lenz, »Das Doppelgesicht der Gleichgültigkeit (1961)«, in: Beziehungen. Ansichten und Bekenntnisse zur Literatur, München 2 1970, S. 68–72. 33
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sen angezeigt, wozu die nachfolgenden Seiten dienen mögen. Bereits im Titel setzt dieses Buch einen deutlichen Akzent, indem es das Versprechen nicht nur, wie üblich, als aus freien Stücken gegebenes Wort aufzufassen nahe legt. Wird das explizit oder implizit gegebene Wort praktisch, in der diachronen Dauer des Lebens eingelöst, so handelt es sich insofern um ein gelebtes Versprechen, das mit der ihm eigenen Verbindlichkeit und Zeitlichkeit bislang allenfalls ansatzweise philosophisch Beachtung gefunden hat. Allzu sehr hat sich die Sprachphilosophie am Paradigma der Aussage oder des Ausdrucks orientiert. Doch kündigt sich u. a. in der Geschichte des modernen Dialogismus eine radikale Revision dieses Paradigmas an. Als grundlegend gilt hier der Anspruch, der ein sprachliches Geschehen von Anrede und Erwiderung überhaupt erst eröffnet. Der auf der weit zurückreichenden Spur dieses Gedankens bei Philosophen wie Franz Rosenzweig, Martin Buber und Emmanuel Levinas betonte Vokativ als neues Paradigma erschöpft sich nicht im expliziten Anruf des Anderen. Als »ansprechend« auf der Spur des Anspruchs des Anderen kann wie gesagt auch der scheinbar sprachlose Blick oder die stumme Geste gelten, die nach einer verantwortlichen Antwort verlangt. Wo die Sprache in dieser Weise nicht als Aussage oder Ausdruck, sondern vom Verlangen nach Antwort her gedacht wird, erscheint das Subjekt, an das der Anspruch ergeht, geradezu als Versprechen einer Antwort. So gesehen wäre von einem Versprechen auszugehen, das wir als Antwort gebende Subjekte sind – auch ohne dass wir unser Wort gegeben hätten. In dieser Perspektive kommt dem Versprechen eine quasi-ontologische Bedeutung zu. Speziell in den frühen Schriften von Levinas – bis hin zu Totalität und Unendlichkeit (1961) – ist der Gedanke, menschliche Subjektivität geradezu als ein Versprechen zu deuten, seinerseits als Antwort auf die historische Erfahrung zu verstehen, die diesem Ansatz radikal widersprochen zu haben scheint. 36 Hat nicht die massenhafte 36 Zu diesem Zusammenhang vgl. v. Verf., Geschichte als Antwort und Versprechen, Freiburg i. Br., München 1999, wo die Philosophie von Levinas mit Nachdruck in eine konkrete historische Perspektive gerückt wird. Von der immanenten Entwicklung der Philosophie von Levinas, die statt vom Versprechen vom Paradigma des Befehls (dezidiert anti-ontologisch) ausgeht, sehe ich hier ab. Der Ausgangspunkt des Befehls überzeugt kaum. Besonders deshalb nicht, weil Levinas selbst zugeben muss, dass die Bedeutung des Befohlenen ohnehin nur durch die Antwort zustande kommt, die ein verantwortliches Subjekt gibt. Ein Befehl im strikten, engeren Sinne dürfte das kaum zulassen. Hier ist mehr »Versprechen einer verantwortlichen Antwort« im Spiel, als
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Liquidierung von Millionen Menschen im Zuge einer industrialisierten Vernichtungsmaschinerie bewiesen, dass im Prinzip jeder Andere in ein vollkommen gleichgültiges Etwas verwandelt und wie Abfall beseitigt werden kann? Vermochte dieser Gewalt irgend etwas zu widerstehen, noch in der Vernichtung selbst? Levinas traut sich tatsächlich eine affirmative Antwort auf diese Frage zu. Selbst im Schweigen bestimmt der Anspruch des Anderen uns so wie jeden noch so gleichgültig seine »Arbeit« verrichtenden Täter Levinas zufolge zu einer verantwortlichen Antwort. Diese Bestimmung zum Versprechen einer solchen Antwort könne keine Gewalt aus der Welt schaffen, glaubt Levinas. So anfechtbar eine solche Position erscheinen mag, so sehr verlangt sie danach, genauer zu bestimmen, wie dieser Anspruch des Anderen überhaupt zur Geltung kommt und wozu der Anspruch herausfordert. Offensichtlich ist nicht irgend eine Antwort, sondern gerade eine verantwortliche Antwort gemeint (die gewaltsam auch verweigert werden kann). Ist aber eine Phänomenologie, der sich Levinas methodisch verpflichtet fühlt, nicht deutlich überfordert mit der Aufgabe, einen derart prä-ethisch gefassten Anspruch in der Erfahrung des Angesprochenseins vom Anderen aufzuweisen? Ist diese Erfahrung nicht weit vielfältiger, als es den Anschein hat in einer Ethik, die den Anspruch des Anderen ohne weiteres als Herausforderung zur Verantwortung deutet? Wenn andererseits menschliche Subjektivität vom Anspruch des Anderen her als Versprechen einer verantwortlichen Antwort zu begreifen wäre, müsste man dann nicht weiter gehen und anzugeben versuchen, wie sie dieses Versprechen aktiv, im praktischen Leben einlösen könnte? Müsste man so gesehen also nicht auf die uns vertrauteren Bedeutungen des gelebten Versprechens und des gegebenen Wortes zurückkommen? Dieses Buch lässt sich als Versuch lesen, für diese Fragen gewissermaßen eine Schneise zu schlagen. Ausgehend vom sozialphilosophischen Paradigma der höchst fraglichen Verbindlichkeit des gegebenen Wortes, das sich in der Moderne weder auf eine »immer schon« gegebene Verbundenheit der Menschen miteinander noch auf eine unanfechtbare Autorität des Heiligen stützen oder ohne weiteres Gott zum Zeugen anrufen kann, arbeitet es sich vor zum Aufbrechen der Frage nach einer Ansprechbarkeit vom Anderen her, die Levinas selbst wahr haben will. Insofern lese ich ihn in diesem Kontext gewissermaßen gegen den Strich. A
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allem Reden über etwas vorausgeht. Dass diese Ansprechbarkeit wie angedeutet radikal im Lichte der historischen Erfahrung in Zweifel zu ziehen ist, soll nicht beschönigt werden. Im Gegenteil: man muss sich ganz neu mit dem Problem auseinander setzen, ob ein nicht zu liquidierender Anspruch des Anderen wenigstens als glaubwürdig bezeugt gelten kann – wenn schon nicht davon auszugehen ist, dass er sich beweisen lässt. 37 Strengen hegelschen Ansprüchen wie dem, sich als »Zeugnis des Geistes« bewahrheiten zu lassen, kann die Bezeugung, die Levinas im Sinn hat, nicht genügen. 38 Muss sie darum jeglicher geschichtlichen und kulturellen Wirksamkeit entbehren? Oder vermag die Bezeugung des Anspruchs des Anderen eine im »objektiven Geist« einer Kultur nicht aufzuhebende eigene Kraft zu entfalten, von der man sich noch keinen Begriff gemacht hat? Wie soll man sich eine solche Kraft vorstellen, wenn das Versprechen einer verantwortlichen Antwort, das für Levinas im Sinn menschlicher Subjektivität liegt, nicht auch zur praktischen Gestaltungsaufgabe einer für Andere verantwortlichen Kultur wird? 39 Nachdem der Teil A das Versprechen im konventionellen Sinne des Wortes im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie situiert und Brennpunkte philosophischen Fragens nach seiner Verbindlichkeit, Struktur und Tragweite in flankierenden Kommentaren zu Schlüsselstellen 40 maßgeblicher Quellen markiert hat, arbeitet der Teil B heraus, wie jene Fragen nach und nach ins Zentrum philosophischer Aufmerksamkeit rücken, um schließlich in das skizzierte Problemfeld des inneren Zusammenhangs eines vom Anspruch des Anderen her gedachten Versprechens mit einer Kultur zu münden, die ihm gerecht zu werden »verspricht«. So wird dieses gegenwärtige Interesse am Versprechen zur Maßgabe einer nachträglichen Quellenlektüre, deren Aufgabe hier nicht darin besteht, etwa eine einlinige Fortschrittsgeschichte der Philosophie des Versprechens oder deren lückenlose Begriffsgeschichte nachzuzeichnen. Heute sind wir Vgl. E. Levinas, Ethik und Unendliches, Graz, Wien 1986, S. 80 ff. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Werke 16, Frankfurt am Main 1986, S. 50, 147, 160, 203, 210, 212. 39 Ausführlich dazu: v. Verf., »Kritische Kulturphilosophie als restaurierte Geschichtsphilosophie? Anmerkungen zur aktuellen kultur- und geschichtsphilosophischen Diskussion mit Blick auf Kant und Derrida«, in: Kantstudien 98 (2007), Heft 2, S. 183–217. 40 Dem entsprechend fällt die Auswahl sowohl der Autoren als auch der Texte bewusst selektiv aus und wird mit sparsamen Hinweisen auf sekundäre Literatur so ergänzt, dass sich mühelos Anschlussstellen zu weiter führenden Diskurskontexten ergeben. 37 38
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mit einer komplexen Topografie sehr verschiedener, aber nicht beziehungslos auseinander fallender Bedeutungen dieses Wortes konfrontiert, deren Verflechtung in den Text-Kommentaren des Teils B herausgearbeitet wird. Das Versprechen, das wir angesichts des Anderen je schon sind, könnte nur um den Preis erheblicher Konfusionen mit dem Versprechen identifiziert werden, das man gibt oder in der Dauer seines Lebens einlöst. Und vom Versprechen, das jemand gibt oder in der Weise der praktischen Einlösung lebt, führt ein weiter (vielleicht allzu weiter) Weg zum Gedanken einer Kultur, die der Verantwortung im Zeichen des Anderen gerecht zu werden »verspricht«. Erschleicht man sich auf diese Weise mit bloßen Äquivokationen, die durch Anführungszeichen nicht zu kaschieren sind, leichtfertige Pointen? Handelt es sich womöglich um eine bloße Redensart, wenn davon die Rede ist, dass man sich von kulturellem Leben für die Zukunft etwas »verspricht«? Dem hält Levinas energisch die Forderung entgegen, die Kultur von der Ethik aus zu beurteilen, sofern sie sich mit einer zentralen und unverzichtbaren Herausforderung konfrontiert sieht: sich zur Verantwortung für den Anderen nicht indifferent zu verhalten (was auch immer kulturelles Leben sonst noch leisten mag). 41 Eine Kultur, die das nicht verspricht, verdiente demnach ihren Namen nicht. Aber eine Kultur kann genau genommen gar nichts versprechen, es sei denn diejenigen, die sie mit Leben erfüllen, wissen sich praktisch auf jene Herausforderung verpflichtet und lösen die ausstehende Antwort ein – nicht in einer fragwürdigen moralischen Rhetorik des gegebenen Wortes, sondern als gelebtes Versprechen, das zu denken gibt. Insofern – das ist die zentrale Hypothese, von der sich der vorliegende Band inspirieren lässt – muss es eine vielleicht nur schwache, aber hoch bedeutsame Verbindung geben zwischen den herauszustellenden polymorphen Bedeutungen des Versprechens, das im Modus sprachlichen Lebens geschieht, das wir geben und auf das wir uns verpflichtet sehen in einer praktischen Perspektive, die sich in eine offene künftige Geschichte hinein erstreckt. Wenn man sich von letzterer voller Verachtung abwendet, weil die Vergangenheit bereits im Übermaß mit gebrochenen Versprechen gepflastert ist, so dass man sich von der Zukunft nichts mehr versprechen mag, so vielleicht gerade deshalb, weil man die praktische Wirklichkeit gelebter Versprechen aus dem Auge verloren hat, die ohne besondere mo41
E. Levinas, Humanismus des anderen Menschen, Hamburg 1989, S. 50. A
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ralische Rhetorik auskommen. Ob ein derart ausgeweiteter Begriff des Versprechens wirklich überzeugt, wird kritische Prüfung erst noch ergründen müssen. Allerdings sollte sie nicht dogmatisch verfahren, indem sie den konventionellen Sprechakt unbefragt zum Maßstab legitimer Verwendung des Wortes macht. Längst haben sich weiter führende Wege philosophischer Reflexion geöffnet, die die Frage provozieren, ob nicht bereits in der Lebensform sprechender Wesen ein zukunftsträchtiges Versprechen liegt. Als bloße Metapher ist das nicht ohne weiteres abzutun. Schließlich sind wir selbst metaphorische Wesen und als solche auf befremdliche Umwege der Deutung rückhaltlos angewiesen.
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Teil A Das Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie
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I. Das gegebene Wort: Zerbrechlichkeit und Verbindlichkeit des Versprechens im Lichte historischer Quellen Versprechen auf eine ethische Zukunft, die aufgehört hat, ›Jenseits‹ zu sein. Vladimir Jankélévitch 1
1.
Angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen
Bis weit in die Moderne hinein beherrschte die Frage, was etwas ist und was wir sind, das philosophische Denken. Sie stellte sich als ontologisches Problem in Horizont des Seins, in dem der Mensch den ihm angemessenen Ort zu finden suchte. Der klassische metaphysische Horizont dieses Fragens ist gewiss verblasst. Dass heute nur noch »nachmetaphysisch« zu denken sei, mag man allerdings bezweifeln. Weder kann die Trennung zwischen metaphysischem und nicht-metaphysischem Denken einfach als historische Tatsache behauptet oder gar dekretiert werden, noch fügen sich dieser Unterscheidung ohne weiteres die Probleme, vor die sich das philosophische Denken gestellt sieht und in die es sich verstrickt. 2 Selbst Kant, der für viele endgültig das nachmetaphysische Denken eingeläutet hat, bewegt sich mit seinen berühmten drei Fragen – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? –, die am Schluss der Kritik der reinen Vernunft in der Frage kulminieren, was der Mensch sei, noch in metaphysischen Bahnen. »Wenn es irgendein allgemeines Kennzeichen der Metaphysik gibt, so kann dieses an den zitierten vier Fragen Kants abgelesen werden: Es ist die Bestimmung der Metaphysik durch die Frage nach dem Was-Sein«, die darauf abzielt, das Er- und Befragte in eine universale Seinsordnung einzufügen bzw. es
V. Jankélévitch, Der Tod, Frankfurt am Main 2005, S. 464. Vgl. E. Angehrn, Der Weg zur Metaphysik. Vorsokratik, Platon, Aristoteles, Weilerswist 2000.
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Das gegebene Wort
als einer solchen Ordnung in Wahrheit immer schon eingefügt begreiflich zu machen. 3 Eben diese, ihrerseits zumeist unbefragte Voraussetzung einer solchen Ordnung ist in der Moderne zerbrochen (obwohl sie als Reminiszenz in der Rede von einer »Ordnung der Dinge« 4 noch lange fortlebt). In Folge dessen kann die Frage, was wir sind, als ungenügend, ja verfehlt erscheinen. Und zwar in dem Maße, wie uns in einer fragilen und fragmentarischen Welt, die immer wieder Gefahr läuft, sei es in einem indifferenten Pluralismus von Ordnungen, sei es aufgrund eminenter Gewalt zu zerfallen, weit mehr die Frage nach dem Selbst, danach also, wer wir sind, beschäftigen muss. In Spannungsfeldern zwischen verschiedenen, miteinander konfligierenden, interferierenden, aber auch bedrohlich auseinander fallenden und zerstörten Ordnungen stellt sich unweigerlich ein sog. »Identitätsproblem« für diejenigen, die sich in diesen Feldern bewegen und situieren müssen; und zwar so, dass sie auch heterogenen, heterotopischen und –chronischen Ordnungen angehören können. 5 So gesehen wäre es eigentlich zu erwarten, dass bereits Kant danach fragt, wer wir sind, denn ihm ist die metaphysische Voraussetzung einer ontologisch verbürgten Ordnung, in der alles und jeder seinen Platz fände, bereits ganz und gar problematisch geworden. Doch wird ihm wie auch der gesamten neuzeitlichen Philosophie, sofern sie geradezu eine »Paraphrase« des (von Kant so genannten) cartesianischen »Satz des Bewusstseins«, des cogito darstellt 6 , bis heute vorgeworfen, die Frage zu verfehlen, wer wir sind. Diese Frage wiederum wird heute überwiegend identitätstheoretisch expliziert; und zwar in narrativistischen Theorien des Selbst einerseits, die sich auf die geschichtlich-nachträgliche Ausformung von Antworten auf die Wer-Frage konzentrieren, und in einer praktischen Philosophie der in die Zukunft weisenden Bezeugung des Selbst im gegebenen Wort andererseits. Ricœur, der Erzählung und Versprechen in seiner Philosophie R. Wiehl, Subjektivität und System, Frankfurt am Main 2000, S. 32. Irreführend (bzw. allenfalls ironisch zu verstehen) ist so gesehen die Übersetzung von M. Foucaults Lets mots et les choses (1966) mit dem Buchtitel Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1974. Das Buch beschreibt ja gerade die Genealogie der Zerstörung einer Dinge und Worte selbstverständlich verknüpfenden, unverbrüchlichen Ordnung. 5 Vgl. R. Wiehl, Subjektivität und System, S. 23. 6 Vgl. M. Riedel, »Grund und Abgrund der Subjektivität. Nachcartesianische Meditationen«, in: Hören auf die Sprache, Frankfurt am Main 1990, S. 17–29, hier: S. 23. 3 4
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Angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen
des Selbst zusammen zu denken versucht hat, wirft seinerseits dem an Descartes anschließenden Denken vor, diesen Begriff zu verfehlen. Dabei stellt sich Descartes durchaus die Frage, wer er sei als vom Anderen Getäuschter. Schaut man näher hin, so zeigt sich, wie sehr er in eine Zeit gehört, die von einer tiefgreifenden Vertrauenskrise der zwischenmenschlichen Verhältnisse erfasst war. Seinem angeblich verhassten Antipoden Hobbes stand Descartes immerhin so nahe, dass dessen 1643 anonym in Paris erschienene Schrift De cive (in der Hobbes deutlich die radikale Verunsicherung zu erkennen gab, die in seiner Zeit in der Frage eingetreten war, wer die Menschen im Verhältnis zueinander sind) zunächst ihm, Descartes, zugeschrieben werden konnte. 7 Der Philosoph der reinen Gewissheit und der Philosoph des kriegerischen Naturzustandes standen einander näher, als es oft wahrgenommen wird. Doch haben beide, Descartes und Hobbes, keine explizite Theorie des Selbst entfaltet. Eher untergründig wird in ihrem Denken auf jeweils unterschiedliche Weise die Wer-Frage virulent. Statt in der Gewissheit sucht Hobbes in unumschränkter staatlicher Souveränität seine Zuflucht. Dadurch hat er, der mehrfach auf das Versprechen eingeht, den Zusammenhang mit der Frage, wer wir sind, zugleich verdeckt. Entscheidend war für ihn allein, dass man sich souveräner Herrschaft unterwirft; es kam ihm nicht darauf an, wer sich unterwirft. In dem Maße aber, wie eine allein auf politische Souveränität gestützte Beherrschung der Zerbrechlichkeit moderner Lebensformen nicht überzeugend schien, wurde die Aufmerksamkeit auf andere Gründe ihrer Stabilität gelenkt – zu denen unter anderem das gehaltene Versprechen zählt. Auf der Spur des gegebenen Wortes stoßen wir zunehmend auf die Herausforderung, in den Augen Anderer auf verlässliche, glaubwürdige und wahrhaftige Weise »jemand« zu sein, d. h. eine praktische Antwort auf die Frage zu geben, wer man ist. Im Hinblick auf diese Frage kommt dem Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie eine zentrale Bedeutung zu. Hobbes führt vor Augen, dass sich die Menschen in der Anarchie einer nicht rechtlich und politisch gehegten Koexistenz ihres Lebens niemals sicher sein können; und er will zeigen, wie sie die Unsicherheit ihres nackten Lebens dazu motivieren kann, sich einer politischen Ordnung zu unterwerfen, die ihnen weitgehend Sicher7
Vgl. R. Specht, Descartes, Reinbek 9 2001. A
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heit verspricht. Zugleich verdeckt die allein von souveräner Herrschaft garantierte Ordnung, wie Hobbes sie entwirft, durch ihren äußeren Zwangscharakter aber auch, dass ganz und gar ungewiss bleibt, wer die äußerlich pazifizierten Wesen im Verhältnis zueinander eigentlich sind. Verzichten sie nur unter Vorbehalt und unter dem Eindruck einer äußeren Sanktionsdrohung auf tödliche Gewalt? Oder ist Gewalt-Verzicht integraler Teil dessen, als wer sie sich verstehen in moralischer Hinsicht? Die Identität der moralischen Wesen, die sich im Verhältnis zueinander auf Restriktionen einer souverän beherrschten Ordnung einlassen, erscheint als überaus fraglich. Was sie sind, glaubt Hobbes ausgehend vom krypto-teleologischen Begriff der Selbsterhaltung noch bestimmen zu können. Im Leviathan (1651) entfaltet er schließlich eine umfassende Anthropologie auf der Grundlage dieses Begriffs. 8 Aber wer diese Wesen sind, scheint radikal ungewiss, insofern die Freiheit, zu äußerster Gewalt zu greifen, ein unaustilgbares Misstrauen nährt. Diese Freiheit ist nicht aus der Welt zu schaffen, da jedes politisch beherrschte Subjekt weiterhin über die Möglichkeit verfügt, »das Größte« zu tun (nämlich den Anderen ums Leben zu bringen) und sich im Zuge dessen vom menschlichen Zusammenleben radikal zu entbinden. Hobbes verzichtet auf jeden metaphysischen Rückhalt einer den Menschen angemessenen Ordnung. Er lässt die das Zusammenleben wenigstens äußerlich befriedende Ordnung auf kontingente Weise aus einem ursprünglich keinem Anderen verpflichteten nackten, allein an seiner Selbsterhaltung interessierten Leben Einzelner entstehen, die sich in ihrer Schutzlosigkeit auf eine stabile politische Lebensform angewiesen erfahren. 9 Aber keine politische Ordnung – Zum historischen Kontext vgl. G. Buck, »Selbsterhaltung und Historizität«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt am Main 1976, S. 208–302. 9 Nicht weil jeder »des Menschen Wolf«, d. h. ein ständig lebensbedrohliches Wesen wäre, sondern weil es immer einige gibt, die jederzeit zu äußerster Gewalt greifen könnten. Mit Recht weist P. de Man auf die hypothetische Metaphorizität in diesem Ansatz hin: Die generalisierte Furcht vor Anderen kann sich nicht auf eine empirisch abzustützende oder gar verifizierbare Realität gründen. »Ob man seinen Mitmenschen trauen kann oder nicht, bleibt immer eine offene Frage, wenn man nicht gerade an Verfolgungswahn leidet oder ein Narr ist.« Die metaphorische Rede vom Menschen als Wolf, die vorgibt, bloß festzustellen, was der Fall ist, läuft für de Man auf einen schlichten Irrtum hinaus, weil sie an ihre eigene referenzielle Bedeutung glauben lässt (P. de Man, »Metapher«, in: Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt am Main 1993, S. 231–262, hier: S. 247 f.). 8
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auf deren Sinn die Beschreibung dieses Lebens erkennbar bereits vorgreift – kann die Zerbrechlichkeit der entsprechenden Lebensformen ganz aus der Welt schaffen, die auch durch souveräne politische Herrschaft nicht zu beheben ist. Damit ist zum ersten Mal radikal die Frage aufgeworfen, auf welcher Grundlage eine derart prekäre Ordnung überhaupt beruhen kann, wenn man einmal von der schieren Negativität der Angst vor Gewalt und von generalisierter Furcht vor den Anderen sowie von einer mit Sanktionen drohenden politischen Souveränität absieht, die ihrerseits ja aus der Anarchie des so überaus gefährdeten nackten Lebens erst entstehen soll. Finden sich etwa in dieser Anarchie selber positive Momente, auf die sich die Gründung einer politischen Ordnung stützen kann und die der Zerbrechlichkeit politischer Lebensformen entgegenwirken? 10 Müssen diejenigen, die sich in eine solche Ordnung einfügen, nicht wenigstens versprechen, auf vernichtende Gewalt zu verzichten? Und vermag nicht wenigstens (wenn nicht gar allein) ein solches Versprechen an die Ordnung zu binden und Verbindlichkeit zu stiften? Kann sich eine verlässliche politische Ordnung wirklich allein auf einschüchternde Sanktionsdrohungen stützen und auf jede echte Verbindlichkeit verzichten? 11 Traditionell dachte man Verbindlichkeit vom römischen Recht her als stipulatio, als eine Art Verbalkontrakt, oder als pactum (eine Solche Fragen stellen sich überhaupt nur, wenn man E. Cassirers (von F. Bacon hergeleiteten) Rat beherzigt: »we must learn how to obey the laws of the social world before we can undertake to rule it« (The Myth of the State, New Haven, London 1946, S. 295). Historisch ging der Versuch der Beherrschung des Sozialen aber dem Verstehen voraus. Heute wäre auch die Rede von Gesetzen und ihrer Berherrschbarkeit in Frage zu stellen. 11 Nur am Rande sei hier auf die klassische Alternative zur negativen Sanktionsmacht verwiesen, deren Extrem die unverhüllte Gewaltausübung wäre: eine Partizipationsmacht, die mit Sanktionen und Gratifikationen arbeitet und spielt. Aber wenn diese Macht nicht funktioniert, schlägt sie sehr leicht wieder in Gewalt um, die, bevor sie physisch vernichtet, auch zu einschneidenden symbolischen Exklusionen greifen kann, deren Opfer zu Parias werden. Kritisch gegen eine Sanktionsmacht, die nur mit Gewalt droht, hat sich schon H. Arendt gewandt. Selbst der Despot muss, um überhaupt schlafen zu können, auf Teilhabe Anderer an seiner Macht und auf Loyalität oder Zustimmung setzen. Dagegen baut die Partizipationsmacht ganz und gar auf letztere. Aber diese schematische Gegenüberstellung lässt leicht übersehen, wie die Partizipationsmacht in pure Sanktionsmacht umschlagen kann, die in einer Praxis des Einschüchterns ihre eigene Ohnmacht zu erkennen gibt und gerade deshalb der offenen Gewalt nahe kommt. Vgl. H. Arendt, Macht und Gewalt, München 10 1995, S. 36–58; J. P. Reemtsma, Die Gewalt spricht nicht, Stuttgart 2002, S. 25 ff. Es ist ein Desiderat, diese unterschiedlichen Formen politischer Macht und das Versprechen zusammen zu denken. 10
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Das gegebene Wort
formlose, nicht klagbare Übereinkunft) und contractus (ein auf einseitiger Haftung beruhendes Schuldverhältnis). Obwohl sie bereits von Cicero auf die menschliche »Vernunft und Rede« gegründet worden war, dominierte doch das Verständnis einer allein im gegebenen juridischen Rahmen zustande kommenden Verbindlichkeit – vor allem in der Form eines nexus, der keineswegs jeden mit jedem beliebigen Anderen verbindet, sondern bspw. in einem förmlichen, durch Formeln und Gesten bekräftigten Geschäft erst herzustellen war. Besonders das am Beginn der Neuzeit sich entwickelnde grenzüberschreitende Wirtschaftsleben machte eine Abweichung von der bis dahin unbestrittenen Geltung römischer Konzepte juridischer Verbindlichkeit erforderlich. Erst jetzt taucht der Gedanke einer auch gegenüber Fremden durch bloß konsensuale Übereinkunft entstehenden »natürlichen Verpflichtung« (obligatio naturalis) auf. 12 So wird denkbar, dass man dazu verpflichtet ist, sein Wort zu halten, weil man es gegeben hat – und zwar auch außerhalb einer etablierten rechtlichen Ordnung im Verhältnis zu Fremden, die ihr nicht zugehören. Allein das gegebene Wort sollte nunmehr diese Verpflichtung stiften können. In diesem Sinne bezeichnet Lessius zu Anfang des 16. Jahrhunderts Versprechen und Schenkungen als signa practica, »die gerade das herbeiführen, was sie bezeichnen«. Man kann gewiss nicht so weit gehen, darin einen Vorgriff auf Austins Philosophie performativer Verben und illokutionärer Kräfte zu sehen 13 ; zweifellos steht diese Kennzeichnung aber am Beginn einer sich von bereits vorgegebenen juridischen Rahmen befreienden Besinnung auf die Frage, was es heißt, verbindlich zu sprechen, d. h. sein Wort zu geben und allein deshalb zu halten, weil man es gegeben hat. Noch lange gilt das Versprechen freilich schlicht als Übertragung eines Rechts, wobei man annimmt, Verbindlichkeit beruhe entweder auf der Geltung des bereits etablierten Rechts oder liege überhaupt nicht vor. Noch Ende des 18. Jahrhunderts werden in diesem Sinne Verträge (als gegenseitige Versprechen) als Mechanismen »vollkommener Verpflichtung« zwischen Menschen charakte-
Vgl. F. Vollhardt, »Von Thomasius bis Höpfner. Aspekte der naturrechtlichen Vertragslehre im 18. Jahrhundert«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München 2005, S. 127–136; G. Hartung, »Zur Genealogie des Versprechens«, ebd., S. 277–293. 13 Vgl. R. Campe, »Making it Explicit«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 18–39. 12
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risiert, die an sich »gar nicht oder nur unvollkommen verbunden« sind. 14 Nirgends wurde aber eine Ordnung menschlichen Zusammenlebens selber als durch Versprechen originär zu stiftende gedacht. Hobbes eröffnet diesen Denkweg, indem er alle Menschen als ursprünglich (wie aus dem Boden geschossene Pilze) unverbundene und insofern Fremde aufeinandertreffen lässt, die in einer Situation äußerster Gefährdung einander eine Ordnung versprechen müssen, die, wie er meint, auch das Recht erst in Geltung setzt, das keine andere Grundlage haben könne. In dieser Perspektive fungiert das Versprechen nicht mehr in einer bereits vorgegebenen Dimension juridischer Verbindlichkeit, auf die es sich verlassen kann; vielmehr muss es diese Dimension erst erzeugen auf dem Weg der Inanspruchnahme des außer-ordentlichen Vertrauens Anderer in das gegebene Wort, das jeder zureichenden institutionellen Absicherung entbehrt. 15 Erst in einer Situation äußerster Entsicherung und Gefährdung, die zugleich die in keiner menschlichen Ordnung aufzuhebende Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen offenbart, zeigt sich in Hobbesianischer Perspektive, wer die Menschen im Verhältnis zueinander sind. Im Nachhinein hat es den Anschein, als sei diese Zerbrechlichkeit in der Geschichte des philosophischen Denkens kaschiert worden. Dass man mit Platon oder Aristoteles geglaubt hatte, eine angeblich in der menschlichen Natur liegende Teleologie bestimme uns zu einem im Sinne des Guten oder des Gerechten befriedeten Leben, erscheint nun als Beschönigung einer in Wahrheit radikalen, seit je her virulenten, aber erst in der Moderne schonungslos offenkundig gewordenen Gefährdung menschlichen Lebens im Angewiesensein auf Andere. 16 Nur im Bewusstsein dieser Gefährdung sind »verbindliche« Ordnungen menschlicher Koexistenz zu stiften, die zerbrechlich bleiben und als glaubwürdig nur angesichts ihrer nicht beschönigten Zerbrechlichkeit erscheinen können. Die originäre Stiftung J. F. Höpfner, Naturrecht des einzelnen Menschen der Gesellschaften und der Völker, Gießen 5 1790, S. 53. 15 Vgl. W. Hamacher, »Wilde Versprechen«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 171–198, hier: S. 177. 16 Zur Rekonstruktion eines entsprechenden Begriffs der Lebensform vgl. v. Verf., Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt, Berlin 2001; »Lebensform/ Lebenskunst«, in: P. Kolmer, A. G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Freiburg i. Br., München (i. V.). 14
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solcher Ordnungen muss in der Anarchie einer Koexistenz erfolgen, die nicht von vornherein durch eine vor-gegebene, etwa normative Ordnung oder durch eine in der menschlichen Natur angelegte Teleologie gesichert ist. 17 Die Philosophie, die die radikale, in keiner Ordnung je ein für allemal aufzuhebende Zerbrechlichkeit menschlicher Koexistenz zur Sprache bringt, ist mit Blick auf Hobbes als Sozialphilosophie zu bezeichnen. Nicht, weil der Terminus social philosophy bei ihm erstmals vorkäme (was von Eisler über Habermas bis hin zu Honneth behauptet wurde, aber als strittig gelten muss 18 ), sondern weil sich die zentrale Problematik seiner Philosophie der Sache nach um genau diese Fragen dreht. Vor diesem Hintergrund wird auch die spätere Wort- und Begriffsgeschichte der Sozialphilosophie verständlich (die allerdings nicht unmittelbar auf die Bedeutung führt, die ihr hier gegeben wurde). 19 Das möchte ich im Folgenden zeigen, indem ich zuerst an die Geschichte der neuzeitlichen Sozialphilosophie in ihren bisher vorliegenden Rekonstruktionen anknüpfe (2.); indem ich zweitens auf die in dieser Geschichte erfolgte Thematisierung des Versprechens eingehe und im Kontext des neuzeitlichen Kontingenzbewussteins einige Autoren zu Wort kommen lasse, die dem Versprechen eine zentrale Rolle in der originären Konstitution und/oder Aufrechterhaltung menschlicher Lebensformen zugeschrieben haben (3.). Schließlich werde ich genauer auf das Versprechen im Hinblick auf menschliche Identität eingehen, was zum Ausgangspunkt der Frage danach zurückführt, was bzw. wer wir sind als Wesen, die Keineswegs sind wir damit vor die klassische, schlechte Alternative gestellt, entweder einer Theorie der Selbsterhaltung »nackten« Lebens zu folgen (die noch Agamben mit Hobbes verbindet) oder dagegen eine Theorie des Selbstbewusstseins (d. h. vernünftiger Selbsterhaltung) zu setzen. Ein dritter Weg, der weiter unten angedeutet wird, führt auf die Spur einer unhintergehbaren sozialen Ansprechbarkeit in jener »Anarchie«. Zum fragwürdigen Begriff sozialer Ko-Existenz vgl. Anm. 66 zu Kap. B – I. 18 Vgl. R. Eisler, Kritische Einführung in die Philosophie, Berlin 1905, § 26, S. 351 ff.; J. Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt am Main 1978, S. 108; A. Honneth, »Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie«, in: ders. (Hg.), Pathologien des Sozialen, Frankfurt am Main 1994, S. 9–70, hier: S. 11; K. Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie, Magdeburg 2002, S. 25 ff. 19 Das angesprochene Problem originärer Ordnungsstiftung wird eher verdeckt, wenn man den Begriff Sozialphilosophie einfach mit dem Auftauchen einer neuen Ordnung zwischen dem Einzelnen und dem Staat in Verbindung bringt, wie es mit Blick auf Hegels Theorie der Gesellschaft in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (§§ 181 ff.) oft geschieht; vgl. H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Frankfurt am Main 2000, S. 263 ff. 17
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ihr Wort geben, um eine genuin soziale, originäre Verbindlichkeit zu stiften, die jeder anderen, sei es metaphysisch, sei es rechtlich oder politisch unanfechtbaren Grundlage zu entbehren scheint (4.). Den Abschluss bildet ein Resümee (5.).
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Seit Urzeiten leben Menschen in »sozialen« Beziehungen und Formen, doch ist die Frage, was unter dem Sozialen überhaupt zu verstehen ist, erst spät aufgeworfen worden. Während sich das politische Denken in einer bis weit in die Antike zurückreichenden Überlieferung verdankt, gibt es Soziologie als Wissenschaft, der sich diese Frage vor allem aufdrängte, erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts. 20 Sozialphilosophie ist, einschlägigen Forschungen zufolge, noch jünger. In Deutschland hat sie sich in begrifflich identifizierbarer Form mit dem Aufkommen der »sozialen Frage« im 19. Jahrhundert ausgebildet. Terminologisch spielt der Begriff erst bei Rudolf Stammler (1894/5), Georg Simmel (1894 ff.), und Ludwig Stein (1896/7) eine wichtige Rolle. Das Wort taucht, wie v. a. Kurt Röttgers gezeigt hat, in der Philosophie zwar viel früher auf – abgesehen von Nietzsche 21 bei Autoren wie Franz von Baader (1854), Moses Hess (1843) und Lucius-Junius Frey (1793). Erst im Kontext des Neukantianismus wird aber der Begriff konzeptionell gebraucht. Er steht hier für die erkenntnistheoretische Frage nach den Bedingungen der Erkenntnis des sozialen Lebens sowie für die Frage nach dessen Gesetzmäßigkeiten, wobei der Grundbegriff des Handelns aus Freiheit vorausgesetzt wird. In diesem Sinne ist Stammlers, von seiner Theorie des Anarchismus (1894) ausgehende Schrift Wirtschaft und Recht nach Doch jene Frage stellt sich lange vorher bereits in naturgeschichtlicher Sicht, u. a. auch wesentlich angeregt von einer kulturvergleichenden Perspektive, wie sie durch die Erfahrungen der Kolonialisierung, des Reisens über alle bekannten Grenzen hinweg usw. angeregt worden war. Vgl. die begriffsgeschichtlichen Hinweise zur Rede vom Sozialen bei F.-X. Kaufmann, Sozialpolitisches Denken, Frankfurt am Main 2003, S. 13 ff.; zur Geschichte der Sozialwissenschaften die Beiträge von R. v. Bruch und L. Raphael in: G. Hübinger, R. v. Bruch, F. W. Graf (Hg.), Kultur und Kulturwissenschaft um 1900, Bd. II: Idealismus und Positivismus, Stuttgart 1997; v. Verf., »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Sozialphilosophie, Freiburg i. Br., München 1999, S. 9–45 mit Hinweisen auf weiter führende Literatur. 21 In der Auseinandersetzung mit Malthus’ demografischer Theorie; vgl. F. Nietzsche, Sämtliche Werke 8 (Hg. G. Colli, M. Montinari), Stuttgart 1980, S. 167 (= SW). 20
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der materialistischen Geschichtsauffassung (1896) als eine »Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage« rezipiert worden (so von Karl Vorländer [1897] 22 und von Felix Krüger [1901] 23 ). Diesen Weg verfolgen dann auch Autoren wie Otto Gerlach, Paul Natorp und der Wundt-Schüler Rudolf Eisler u. a. 24 Vorländer denkt sich soziales Leben äußerlich durch Normen reglementiert, womit er auf der Linie von Kants Ansatz liegt, das Recht als äußere Regelung einander ins Gehege kommender Freiheiten zu begreifen. Die Materie des Zusammenlebens wird demnach rechtlich in eine Form gebracht zum Zweck der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, wobei eine Befriedigung fremder »Glückseligkeit« nur in Betracht kommt, wenn sich die Bestrebungen des Anderen als objektiv berechtigt erweisen. 25 Zwar soll ausdrücklich das ganze Gebiet der sozialen Erfahrung und die »Eigenart des sozialen Daseins« überhaupt gewürdigt werden, doch bleibt es dabei, dass die vermeintlich neue Sozialphilosophie nur auf der Grundlage der ihr vorausgehenden Rechtsphilosophie möglich erscheint. Das Gleiche lässt sich von Natorp sagen, der in seiner Sozialpädagogik (1899) im Anschluss an Stammler nach der »letzten Materie des Sozialen« fragt, als dessen Kern er das »Zusammenwirken« in der Arbeit und die dazu erforderlichen Regeln des Zusammenlebens herausstellt. Nur auf »äußere Regeln« des Rechts wird in Natorps Sicht aber soziales Leben gegründet. 26 In den Gesammelten AbhandlunK. Vorländer, »Eine Sozialphilosophie auf kantischer Grundlage«, Kantstudien 1 (1897), S. 196–216; R. Stammler, Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung [1896], Leipzig 2 1906. Auf die interessante, vor allem auf den Regelbegriff sich stützende nähere Bestimmung des Sozialen ist im verfügbaren Rahmen hier nicht weiter einzugehen. 23 F. Krüger, »Eine neue Sozialphilosophie auf Kantischer Basis«, Kantstudien 6 (1901), S. 284–298. 24 K. Röttgers, »Kant, Simmel und die Entstehung der Sozialphilosophie«, in: Simmel Newsletter 5, Nr. 1 (1995), S. 1–12; ders. »Konzepte von Sozialphilosophie im Spannungsfeld von Neukantianismus, Soziologie und Kulturphilosophie«, in: M. Plümacher, V. Schürmann (Hg.), Einheit des Geistes. Probleme ihrer Grundlegung in der Philosophie Ernst Cassirers, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, 1996, S. 233–255, hier: S. 233– 237. Der Autor hält die Stammlersche Prägung von Sozialphilosophie als kritische Frage nach der Denkbarkeit einer »sozialen Vernunft« für die historisch entscheidende und spricht insofern von einem eindeutigen Gründungsjahr der Sozialphilosophie (S. 243), wendet sich aber gegen den »Geburtsfehler« ihrer normativistischen Verkürzung, die dem Neukantianismus zuzuschreiben sei. 25 K. Vorländer, »Eine Sozialphilosophie auf kantischer Grundlage«, S. 199, 213 f. 26 P. Natorp, Sozialpädagogik, Stuttgart 1899, S. 134, 141, 144. Zur ähnlichen Engfüh22
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gen zur Sozialpädagogik (1922) setzt der Autor freilich skeptische Akzente, die auf die Spur eines weiteren Begriffs von Sozialphilosophie führen. Ein nur äußerlich pazifizierter Staat genüge nicht, er müsse als sittliche Wirklichkeit vielmehr bis ins Innere der Einzelnen vordringen und sich ihres Willens bemächtigen. 27 Sonst gelinge allenfalls eine gewisse Mäßigung des »inneren sozialen Krieges«, nicht aber dessen Überwindung unter äußerer rechtlicher Befriedung. Angesichts des Anderen als des »schlimmsten Feindes« stelle sich die Frage, wie eine »wahre innere Gemeinschaft« möglich sei, die zwar rechtlich abzustützen sei, nicht aber aus dem Recht entspringen könne. Natorp fragt nach »letzten Wurzeln« sozialen Lebens angesichts von Zeichen äußerster Entfremdung und Vergiftung durch inneren Krieg (der ihm bedrohlicher scheint als ein konventioneller Krieg mit einem äußeren, erkennbaren Gegner). Dabei stößt er mit Rousseau auf die Idee eines kollektiven Vertrages, durch den man sich »verträgt«. 28 Dieser Vertrag konstituiere nicht soziales Leben überhaupt, sondern betreffe nur dessen friedliche, dauerhafte Gewährleistung, die nach erfolgter freier Einwilligung eine andauernde Verbindlichkeit befriedeten Zusammenlebens ermöglichen soll. Hier bezieht sich der Begriff Sozialphilosophie auf die Realität sittlichen Lebens und fällt mit einem entsprechenden Begriff der Ethik praktisch zusammen. 29 Andere sprechen von der Materie sozialen Lebens in einem weiteren Sinne als »sozialem Dasein« überhaupt. 30 Paul Barth behandelt rung von Sozialphilosophie und Rechtsphilosophie bei Stammler vgl. in dessen Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, S. 129 f. In seiner das neukantianische sozialphilosophische Denken wesentlich anregenden Theorie des Anarchismus (Berlin 1894, S. 10) hat R. Stammler explizit die oben betonte Differenz zwischen normativen Regeln einerseits und dem zu Regelnden andererseits nahezu zum Verschwinden gebracht, indem er sozialem Leben nur unter der »Voraussetzung menschlich gesetzter Regeln« Sinn zusprechen mochte. Dagegen kommt im zuerst genannten Werk der Begriff des zu Regelnden ausdrücklich zur Geltung (S. 114). 27 P. Natorp, Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik, Stuttgart 1922, S. 66. 28 Ebd., S. 9, 11 f., 30, 45 f., 66. Vgl. F. Nietzsche, SW 13, S. 382. 29 P. Natorp, Gesammelte Abhandlungen zur Sozialpädagogik, S. 56, 64, 66 f. 30 O. Gerlach, »Kant’s Einfluß auf die Sozialwissenschaft in ihrer neuesten Entwicklung«, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 55 (1900), S. 644–663, hier: S. 648. Von einer ebenfalls seinerzeit präsenten sozialphilosophischen Reinterpretation Hegels sehe ich hier ab. Vgl. mit Blick auf K. Mayer-Moreaus Buch Hegels Sozialphilosophie, Tübingen 1910; H. Reichel, »Hegels Sozialphilosophie«, in: Archiv für Rechtsund Wirtschaftsphilosophie Bd. VI (1912/1913), S. 80 ff. Hegel, nicht Kant, der über keinen Ansatz zu einer Sozialethik verfüge, ist für O. Spann der eigentliche AnsatzA
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auch Wilhelm Wundt als Sozialphilosophen, bei dem sich ein entsprechend weites Verständnis sozialen Lebens findet. 31 Wundt lehnt sich zwar an einen ethisch-sittlichen Begriff des Sozialen an, verwendet stellenweise aber einen sehr weiten, nämlich ethnografisch angereicherten Ethikbegriff, der sich auf die Deskription menschlicher, sozialer Lebensformen überhaupt bezieht, die keineswegs in einer klassischen Ethik des Guten oder in Strukturen des Rechts und des Staates aufgehen. 32 Gegenstand der Sozialphilosophie in dieser weiten Bedeutung wäre von daher nicht nur das gesellschaftliche oder sittliche Leben, sondern die ganze Vielfalt der menschlichen Lebensformen, aus denen es sich aufbaut, wobei über die bloße Beschreibung hinausgehend die Frage nach dem Sinn menschlicher Koexistenz in Lebensformen im Spiel ist. Ähnlich weit gefasst ist der Begriff des Sozialen bei Ludwig Stein, der ausgehend von der Soziologie als der maßgeblichen Wissenschaft alle Formen menschlichen Zusammenlebens als Gegenstand der Sozialphilosophie gelten lässt, also nicht nur sittliche Lebensformen und nicht nur Formen der Zusammenarbeit im Lichte der sog. »sozialen Frage«. 33 Deutlich erkennbar ist eine Tendenz radikalisierten Fragens nach menschlicher »Soziabilität« überhaupt. 34 punkt der Sozialphilosophie; vgl. O. Spann, »Kantische und Marxische Sozialphilosophie«, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Leipzig 1912, S. 128–134. In die gleiche Richtung zielt M. Horkheimer, »Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung« [1931], in: Sozialphilosophische Studien, Frankfurt am Main 1972, S. 33–46. Hier geht allerdings der sozialphilosophischen »Deutung des Schicksals der Menschen, insofern sie nicht bloß Individuen, sondern Glieder einer Gemeinschaft sind« (S. 33), die Radikalität des Fragens nach der originären Stiftung verbindlicher Lebensformen wieder ab, deren Gegebenheit offenbar schon vorausgesetzt wird. Sozialphilosophie im hier vertretenen Sinne setzt dagegen die Einsicht voraus, dass der Einzelne weder als zoon logon echon noch als zoon politikon »immer schon« ein vergemeinschaftetes, ein vergesellschaftetes oder gar ein »Staats-Wesen« (F. C. Dahlmann) ist, dass vielmehr alle menschlichen Lebensformen einer niemals endgültig gelingenden originären Formierung bedürfen, die es ausschließt, dass man in der jeweiligen Form jemals restlos aufgeht. 31 Im Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie (Bd. IV, 1910/1911), S. 129 ff. 32 W. Wundt, Ethik. Eine Untersuchung der Tatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens, Stuttgart 1912. 33 L. Stein, Die sociale Frage im Lichte der Philosophie. Vorlesungen über Socialphilosophie und ihre Geschichte, Stuttgart 1897, S. 31; H. Holzhey, »Zum Verhältnis von Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie bei F. A. Lange«, in: J. H. Knoll, J. H. Schoeps (Hg.), Friedrich Albert Lange. Leben und Werk, Duisburg 1975, S. 207–225. 34 Für N. Luhmann handelt es sich hier um die »ungesicherte Möglichkeit von Sozialität überhaupt«; Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt am Main 1993,
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Was macht Menschen eigentlich dazu geeignet, in sozialen Lebensformen zusammen zu leben? Und wie soll man diese Frage beantworten, wenn nicht im Rückgang auf Urformen menschlicher Koexistenz, in denen menschliches Zusammenleben und –wirken angeblich am unverstelltesten hervortreten kann? Simmel ist, ebenfalls auf der Grundlage eines sehr weit gefassten Begriffs des Sozialen, einen anderen Weg gegangen, indem er einen Rückgang nicht auf Ur-, sondern auf Elementarformen sozialen Lebens vorschlug. Zwar bleiben seine Parerga zur Sozialphilosophie (1894), die auf einen Teil der Einleitung in die Moralwissenschaft von 1892/3 zurückgreifen, zunächst noch ganz an einem konventionellen Begriff von Ethik orientiert, doch wird dieser durch Simmels theoretischen Grundbegriff der Wechselwirkung unverkennbar gesprengt. Dabei überbrückt dieser Begriff nur höchst unzureichend 35 eine Fülle reichhaltiger Phänomene sozialen Lebens wie gegenseitiges Aufeinander-Angewiesensein, Widerstreit 36 und Dissens, dissoziierenden Streit, der vom Recht nicht zu hegen ist, 37 und (Un-)Versöhnlichkeit, sog. Unterschiedsempfindlichkeit als gesteigerte Individualisierungstendenz im Sinne einer besonderen Sensibilität für kleinste Unterschiede, Treue und Dankbarkeit infolge empfangener Gaben usw. Gerade dieses Beispiel zeigt, dass der Begriff der Wechselwirkung Phänomene wie ein »ideelles Fortbestehen« einer Beziehung in einseitiger oder gegenseitiger Dankbarkeit kaum angemessen zu erfassen vermag. 38 Gleichwohl entdeckt Simmel eine Fülle gleichsam »mikroskopischer« Phänomene, die wie die Dankbarkeit Verbindlichkeit stiften. Im »elementaren« Geschehen sozialen Lebens macht Simmel auf Prozesse aufmerksam, die es formen, umformen und zur Neuformung anhalten. Dabei zeichnet sich nicht nur immer wieder ein Widerstreit zwischen Leben und Form, sondern auch eine Tendenz zu mehr Leben ab. Leben, schreibt Simmel in S. 195. F.-X. Kaufmann versteht die mit Samuel v. Pufendorf und Hugo Grotius ansetzende naturrechtliche Tradition der philosophischen Neuzeit ganz von dieser Leitfrage her; vgl. Sozialpolitisches Denken, S. 15. 35 Es erübrigt sich an dieser Stelle, die längst erfolgte Kritik der sog. Formalen Soziologie in dieser Hinsicht zu wiederholen. 36 Siehe auch J. Cohn, Der Sinn der gegenwärtigen Kultur, Leipzig 1914, S. 110 ff. 37 G. Simmel, Soziologie, Frankfurt am Main 1992, S. 330 f. Keineswegs, betont der Autor hier, definiert das Recht das Minimum ethisch-friedfertigen Verhaltens, ohne das eine staatlich organisierte Gesellschaft auseinanderbrechen würde. 38 Ebd., S. 663, 668. A
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seiner Metaphysik der Lebensanschauung (1918), sei eigentlich ein Komparativ. Das Leben finde als Prozess auf der Suche nach einem »Mehr-Leben« und »Mehr-als-Leben« statt. 39 Damit kommt Simmel zweifellos Nietzsches Apologie eines Über-Lebens umwillen radikal befreiten Selbstseins nahe, das darauf abzielt, sich von jeder »gesellschaftlich gültigen Lebensform« irreversibel zu lösen. Zugleich wird ihm deutlich, dass sich ein derart befreites Selbstsein als gegen jede verbindliche Lebensform »treulos« erweisen muss. 40 Wenn ein derart befreites Selbst morgen ein anderes oder gar ein Anderer sein kann, läuft die Frage, wer es in verbindlicher Weise ist, scheinbar ins Leere. Daran ändern weder das Recht noch auch die Moral etwas, die Simmel nicht für zureichende Grundlagen sozialer Lebensformen gehalten hat. Zugleich hat er wie angedeutet auf eine Vielfalt von Bindungen und Verbindlichkeiten sozialen Lebens aufmerksam gemacht. Es ist genau diese Öffnung des sozialphilosophischen Blicks für die höchst prekäre Verbindlichkeit menschlicher Lebensformen, in der nun auch das Versprechen als ein ausgezeichneter Modus der Stiftung sozialer Verbindlichkeit zur Sprache kommt, die sich auf keine bereits gegebene oder verbindliche Ordnung stützen oder berufen kann. In dieser Perspektive hängt das Versprechen mit der Genealogie des sozialphilosophischen Denkens nicht zufällig eng zusammen. Denn letzteres lässt sich als Philosophie menschlicher Lebensformen auffassen, die u. a. in ethischen, gesellschaftlichen, rechtlichen und 39 G. Simmel, Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München, Leipzig 1918, S. 27. 40 Vgl. Kap. A – II, 11 zu Nietzsche in diesem Band. G. Simmel, Das individuelle Gesetz, Frankfurt am Main 1987, S. 154, 158; Grundfragen der Soziologie, Berlin, Leipzig 1917, S. 79, S. 161. Mit einer puren Formlosigkeit liebäugelt Simmel freilich nicht, wie sein Kommentar zum Futurismus zeigt; Aufsätze und Abhandlungen 1909–1918, Bd. II, Frankfurt am Main 2000, S. 214 f. Zwar hält er an einem Angewiesensein der Freiheit auf neue Formen fest, doch setzt er andererseits keiner Durchbrechung oder Überwindung irgend einer Form eine Grenze. Wie sich das mit der Vorstellung einer moralischen Verbindlichkeit verträgt, die etwa aufgrund ein- oder gegenseitiger Versprechen die Verlässlichkeit sozialer Lebensformen verbürgen könnte, klärt Simmel m. W. nirgends, auch nicht in der Einleitung in die Moralwissenschaft [1892], Frankfurt am Main 1989 (vgl. S. 181 zur Selbsterhaltung und –steigerung), wo man zweifellos eine Antwort auf diese Frage hätte erwarten können. In seinem Aufsatz über soziale Differenzierung spricht Simmel nicht von einer in diesem Sinne verbindlichen Grundlage sozialen, speziell gesellschaftlichen Lebens, sondern nur von dessen »Beharren« in objektiven Formen. Vgl. Aufsätze 1887–1890. Über sociale Differenzierung. Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), Frankfurt am Main 1989, S. 133 f.
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politischen Strukturen Gestalt annehmen, ohne indessen von Anfang an in verbindlicher Weise ethisch, sozietär, rechtlich oder politisch verfasst zu sein. Auf die Frage, wie Verbindlichkeit überhaupt möglich ist und wie sie originär gestiftet werden kann, wird nun gerade in der sozialphilosophischen Reflexion des Versprechens eine Antwort gesucht. Die Karriere der (explizit so benannten) Sozialphilosophie begann auffälligerweise im Zeichen eines Auseinandertretens von Ethik und Rechts- (bzw. Staats-) Philosophie. Der Spalt, der sich mit der sog. Emanzipation der Gesellschaft im 19. Jahrhundert 41 zwischen ihr und dem Staat auftat, hat zugleich auf die Spur einer nicht immer schon politisch-rechtlich formierten »Sozialität« geführt, die durch eine lange Tradition womöglich verdeckt worden ist, welche von der »Vor-Gegebenheit« ethischer, politischer und rechtlicher Ordnungen ausgegangen war. Das Grundproblem neuzeitlicher Sozialphilosophie taucht in dieser Perspektive dort auf, wo diese VorGegebenheit implizit oder explizit angezweifelt wurde und wo man zu fragen begann, wie das Soziale ursprünglich verfasst ist. 42 In radikaler Weise hatte bereits Hobbes eine verbindliche VorGegebenheit sozialer Ordnung verworfen und damit die Frage nahe gelegt, wie denn Verbindlichkeit originär gestiftet werden kann. Wie gesagt bedeutet das nicht, dass es Sozialphilosophie erst seit Hobbes gegeben hat oder geben konnte. Denn es wäre zu zeigen, dass die von ihm vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkrieges im 17. Jahrhundert zur Sprache gebrachten Grundprobleme des »Sozialen« implizit das Fragen danach seit je her beschäftigt hat, wie Menschen, die sich auf keine vor-gegebene Ordnung ihres Zusammenlebens ohne weiteres berufen können, verbindliche Lebensformen einrichten können. 43 (In diesem Sinne hat zuletzt J. Rancière in La Mesentente Vgl. Z. Batscha, H. Medick, »Einleitung«, in: A. Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1988, S. 7–91, hier: S. 33 f. 42 L. Stein rückt diese Frage auf interessante Weise in die Geschichte des utopischen Denkens: »Zur Sozialphilosophie der Staatsromane«, in: Archiv für Geschichte der Philosophie IX, Neue Folge, Bd. II (1896), S. 458–485, bes. S. 468. 43 So gesehen liegt es nahe, die viel älteren Rückführungen politischer Lebensformen auf eine Übereinkunft daraufhin neu zu befragen, ob sie nicht bereits auf die Spur jenes sozialphilosophischen Grundproblems führen; vgl. Aristoteles, Politik, Drittes Buch, Abschnitt 9 (1280 b), Reinbek 1994, S. 146, sowie zur Vorgeschichte der Idee des Gesellschaftsvertrags K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. 1, München 6 1980, S. 115 f., 161. 41
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[1995] die Anfänge des politischen Denkens von Hobbes her reinterpretiert. 44 ) So gesehen muss man aber deutlich unterscheiden, ob es um eine explizit terminologisch identifizierbare Sozialphilosophie geht, oder ob der Sache nach sozialphilosophisch gedacht wird. Letzteres kann der Fall sein, wo gar nicht ausdrücklich von Sozialphilosophie die Rede ist. Mein Vorschlag, dieser Schwierigkeit Rechnung zu tragen, läuft auf eine These in vier Punkten hinaus: (1.) im Kontext des historischen Aufkommens einer explizit konzipierten Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage kommt (2.) im Zeichen des Auseinandertretens von Ethik und Politik (bzw. Recht) ein weites Verständnis menschlicher Lebensformen zur Geltung, das die prinzipielle Frage aufwirft, (3.) wie sich Ordnungen menschlicher Koexistenz im Medium des Sozialen überhaupt originär formieren (und aufrecht erhalten), das nicht immer schon »in Ordnung«, d. h. ethisch oder rechtlich-politisch geregelt ist. (4.) Von dieser Frage her werden nachträglich auch in der Vorgeschichte sozialphilosophischen Denkens genuin sozialphilosophische Probleme erkennbar, die für menschliches Zusammenleben überhaupt von grundlegender Bedeutung zu sein scheinen. Das kann so weit gehen, dass im Nachhinein die Sozialphilosophie zur Ersten Philosophie aufrückt 45 , wo sich herausstellt, dass die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen »sozialer« Lebensformen, d. h. des Lebens mit und unter Anderen Vorrang genießt J. Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt am Main 2002, S. 29, 90. Tatsächlich ist der Sozialphilosophie im 20. Jahrhundert der Status einer prima philosophia zugesprochen worden, die zwar spät auf den Begriff gebracht wurde, aber der Sache nach als Frage, was der Andere uns eigentlich angeht und in welcher Beziehung wir zueinander stehen, wenn diese nicht durch eine vor-gegebene Ordnung definiert oder gesichert ist, zu den ursprünglichen Anliegen philosophischen Denkens überhaupt gehört. Daraus ergibt sich wiederum, dass Sozialphilosophie dem Sinn nach bereits dort vorliegen kann, wo nicht einmal das Wort bekannt war. Für Theunissen, der die Sozialphilosophie als transzendentale und dialogistische Sozialontologie rekonstruiert, ist die Erste Philosophie als Frage nach dem Anderen unabtrennbar von den anfänglichsten Fragen philosophischen Denkens; sie hat demnach letztere also nicht einfach abgelöst bzw. ersetzt; vgl. Der Andere, Berlin 2 1977, S. 1. Bei Theunissen wird allerdings ein entgegengesetztes Verständnis von Sozialphilosophie verdrängt, das gerade in der Abwendung von der ontologisch gefassten Was-Frage die Chance sieht, die Frage nach dem Anderen und danach, wer wir angesichts des Anderen sind, voranzubringen. Vgl. E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg i. Br., München 1992, S. 66 ff., sowie v. Verf., »Die Frage nach dem Anderen zwischen Ethik und Politik der Differenz: eine vorläufige Bilanz. Kant, Ricœur und Levinas im Horizont sozialontologischen Denkens«, in: Phänomenologische Forschungen II (2005), S. 193–220.
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vor jeder Metaphysik, die sich etwa in der Frage nach dem Sinn von Sein oder nach den letzten Gründen und Prinzipien dessen, was es gibt, erschöpft, ohne je die Begegnung mit dem Anderen zu denken, dem man sein Wort gibt oder der es uns abverlangt. Eine zureichende Grundlage für eine entsprechende Definition der Sozialphilosophie gibt die Etymologie freilich nicht her. Weder die Geschichte des Wortes Sozialphilosophie, die immer wieder auf Hobbes zurückgeführt wurde, noch auch die der Rede von Lebensformen, die sich hierzulande in der Philosophie spätestens mit Schleiermachers Übersetzung des Begriffs bios bei Platon eingebürgert hat, gibt von sich aus eindeutig über den Sinn einer Sozialphilosophie menschlicher Lebensformen Aufschluss. 46 Deshalb kann es sein, dass implizit Sozialphilosophie vorliegt, wo der Begriff nicht auftaucht; und dass umgekehrt die Verwendung des Begriffs in die Irre führt. Auf jeden Fall sind wir nicht der Aufgabe enthoben, selber anzugeben, was Sozialphilosophie ist oder sein sollte. Dem Sinn nach dreht sie sich, so meine These, mit zunehmender Radikalität um die Frage, was die Menschen »ursprünglich« einander angehen – und zwar gerade auch diesseits und jenseits der Formen ihrer eingespielten und eingewöhnten Koexistenz und angesichts der Erfahrung äußerster Gefährdung infolge von Krisen oder Zerstörungen dieser zerbrechlichen Formen. Diese Frage betrifft unmittelbar die Sinnkonstitution menschlicher Lebensformen. Worauf beruhen sie dem Sinn nach, wenn dieser nicht im Sein oder in einem idealen Sollen bereits vorgezeichnet sind? Worauf beruhen sie angesichts der in der Geschichte zutage getretenen eminenten Zerbrechlichkeit menschlicher Lebensformen? 47 In den hier nicht weiter zu entfaltenden hisWenn Natorp von »Rousseaus Sozialphilosophie« schreibt, so ist offenkundig nicht dasselbe gemeint wie bei Ludwig Stein, der die »Sociale Frage« in »Vorlesungen über Socialphilosophie« abhandelt, oder wie bei Simmel in dessen Parerga zur Sozialphilosophie oder in Windelbands kulturphilosophischer Transformation des Begriffs, die man weiter bis zur Cassirerschen Philosophie symbolischer Lebensformen verfolgen könnte. Siehe die Anmerkungen zur Begriffsgeschichte v. Verf., »Kulturelle Lebensformen – zwischen Widerstreit und Gewalt«, in: F. Jaeger, B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2004, S. 190–206. 47 Es wäre eine eigene Untersuchung wert, ob es dabei nur um ein buchstäbliches »InStücke-gehen« eines Ganzen ging, das möglichst wieder zusammenzusetzen wäre, oder ob – in heutiger Sicht wenigstens – das Fragmentarische und die Zerbrechlichkeit, auf die wiederholt Bezug genommen wird, nach einer anderen Logik, nicht als Privation eines ursprünglich heilen oder wiederherzustellenden Ganzen zu denken wären. Vgl. 46
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torischen Horizont dieser Frage möchte ich im Folgenden die sozialphilosophische Thematisierung des Versprechens rücken.
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Das sozialphilosophische Denken des 17. Jahrhunderts ist, namentlich bei Hobbes, Locke und Pufendorf deutlich von einem verschärften Kontingenzbewusstsein gekennzeichnet, in dem man der Einsicht Rechnung trägt, dass die Menschen nicht immer schon in ihren gegenwärtigen Lebensformen zusammengelebt haben. 48 Die vor allem durch die damaligen Reiseberichte offenkundig gewordene Vielfalt menschlicher Lebensformen wird in eine diachrone, d. h., wie es damals hieß, »naturgeschichtliche« Perspektive gerückt. 49 Die geschichtliche Reflexion konfrontiert die neuzeitlichen »Naturhistoriker« des Sozialen aber mit der Nicht-Ursprünglichkeit und kontingenten Entstehung aller Formen sozialen Lebens. Was in diesem Sinne Adam Ferguson (1767) für seine Gegenwart behauptete, musste ebenso für die Vergangenheit gelten: Die Menschen »stoßen gleichsam im Dunkeln auf Einrichtungen, die zwar durchaus das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht jedoch die Durchführung irgendeines menschlichen Planes«. 50 Von ihrem Ursprung gibt es keine Überlieferung. Ähnlich hatte sich ca. 80 Jahre zuvor (1689/1691) bereits John Locke geäußert. Im Second Treatise of Government artikuliert Locke deutlich die Schwierigkeit, auf die eine »naturgeschichtliche« Forschung nach den Ursprüngen menschlicher Lebensformen stoßen muss: Die Menschen beginnen erst dann nach ihrem Ursprung zu fragen, wenn die Erinnerung an ihn längst erloschen ist. 51 In der P. Lacoue-Labarthe, J.-L. Nancy, »Noli me frangere«, in: L. Dällenbach, C. L. Hart Nibbrig (Hg.), Fragment und Totalität, Frankfurt am Main 1984, S. 64–76. 48 Vgl. J. Starobinski, Montesquieu, Frankfurt am Main 1995, S. 109 f., 92 f. 49 Wobei die Naturgeschichte zunächst mit der Vorstellung eines Tableaus von Varietäten arbeitet und nicht Geschichte im modernen, verzeitlichten Sinne betreibt. S. Greenblatt, Wunderbare Besitztümer, Darmstadt 1994; Z. Batscha, H. Medick, »Einleitung«, in: A. Ferguson, Versuch, Abschnitt II, S. 7–96, hier: 21 ff.; W. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte, Frankfurt am Main 1978; ders., »Historisierung der Natur und Entmoralisierung der Wissenschaften seit dem 18. Jahrhundert«, in: Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart 1989, S. 7–38. 50 A. Ferguson, Versuch, S. 103, 258. 51 Vgl. Kap. A – II, 5.
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Geschichte kann man bspw. »keinerlei Beispiel dafür finden, dass sich eine Gruppe unabhängiger und gleicher Menschen zusammentat und auf diese Weise eine Regierung begründete und einsetzte«. 52 So bleibt nur ein sinngenetisches Verfahren, indem man nachträglich fragt, worauf die originäre Einrichtung einer geregelten, verbindlichen und verlässlichen Form menschlichen Zusammenlebens beruhen kann oder beruhen muss. Und genau hier glaubt Locke einen unanfechtbaren Ausgangspunkt gefunden zu haben. Er schreibt nämlich: »Nichts kann einen Menschen [zum Mitglied eines Staatswesens] machen als sein tatsächlicher Eintritt durch positive Verpflichtung und ausdrückliches Versprechen.« 53 Mitgliedschaft setzt dem Sinn nach ein explizites Versprechen voraus. So gesehen konnte es nicht genügen, mit Aristoteles zu konstatieren, der Mensch sei ein zoon logon echon, ein mit Vernunft begabtes Wesen und als zoon politikon von Natur aus zur vernünftigen Rede und zu politischem Zusammenleben bestimmt. Denn so gerät genau das, wodurch ursprünglich nicht aneinander gebundene Einzelne aus freien Stücken eine politische Lebensform stiften, aus dem Blick: das Versprechen mit der ihm eigenen originären Verbindlichkeit. Locke war scheinbar überzeugt, dass allein aus dem expliziten Versprechen (v. a. aus dem gegenseitigen Versprechen in der Form des Vertrages) soziale Verbindlichkeit erwachsen kann. Gewiss bindet menschliches Zusammenleben auch auf andere Weise – implizit vor allem schon dadurch, dass man überhaupt miteinander spricht und sich dabei auf die Wahrhaftigkeit Anderer verlässt 54 , darüber hinaus aber auch durch erfahrene Liebe, durch Wohlwollen und Gaben. 55 Doch im Versprechen bindet man sich ausdrücklich, um VerJ. Locke, Über die Regierung, Stuttgart 1992, S. 76. Auch Pufendorf hatte bereits den fiktiven Charakter seiner Überlegungen zum Ursprung des Staates betont. 53 Ebd., S. 95. Vgl. dazu S. 91 ff. in diesem Band. 54 Darauf stützt sich die Idee eines (u. a. von H. Grotius, S. v. Pufendorf und J. D. Michaelis angenommenen) »stillschweigenden Vertrages«, der schon vor jedem explizit gegebenen Versprechen gelten sollte, um speziell Lüge und jede andere Unwahrhaftigkeit auszuschließen; vgl. M. Annen, »Die Idee des ›stillschweigenden Vertrages‹ und die Wahrhaftigkeitsfrage«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 103– 125. Zur Anfechtbarkeit dieser Idee vgl. Anm. 36 zu Kap. A – II. Ob jenes Sichverlassenmüssen einen (anfechtbaren) Geltungsanspruch begründet, den etwa K.-O. Apel wiederum mit einem Versprechen der Wahrhaftigkeit vor jedem expliziten Versprechen in Verbindung bringt, ist bis heute umstritten. 55 Das ist in Theorien natürlicher Geselligkeit immer wieder behauptet worden, so auch von Cumberland gegen Hobbes; vgl. I. Fetscher, »Der gesellschaftliche ›Naturzustand‹ 52
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bindlichkeit zu stiften, um Ansprüche zur Geltung zu bringen und einzuräumen, die Andere dazu berechtigen, sich auf sie zu berufen. 56 Ausdrücklich hat allerdings erst Adolf Reinach (1913) einen solchen Standpunkt vertreten. Im Verspechen selbst, nicht in den Subjekten, die es geben, gründet für Reinach diese Verbindlichkeit. 57 Würden sie nur »wirklich« etwas versprechen, so würden auch teuflische Wesen soziale Verbindlichkeit stiften. 58 In diesem Sinne sind auch Menschen soziale Wesen, die nicht nur etwas zueinander sagen, um einander etwas zu verstehen zu geben, sondern sich auch an das Gesagte gebunden fühlen und für die diese Selbst-Bindung durch das Gesagte als Bindung an den Anderen zustande kommt. Die unauflösliche Verbindung zwischen der Geltung des Gesagten und der Bindung an den Anderen macht den sozialen Charakter des Versprechens aus. 59 So gesehen würde sich nicht schon in jedem x-beliebigen Sprechen und nicht erst in einer bereits etablierten Form des Zusamund das Menschenbild bei Hobbes, Pufendorf, Cumberland und Rousseau«, in: Schmollers Jahrbuch 80/II, Nr. 6 (1960), S. 1–45, hier: S. 38. Eine umfassende Analyse bindender Kräfte müsste weiter ausholen, als es hier möglich ist. Ohne wie Foucault so weit zu gehen, etwa »Markt und Moral« für längst voneinander getrennte Sphären zu verstehen, müsste man doch nicht-moralischen, durch den ökonomischen Verkehr selbst entstehenden Bindungen und Stablisierungen Rechnung tragen; vgl. M. Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt am Main 2004, S. 379, 388, 409–421; W. Knöbl, Spielräume der Modernisierung, Weilerswist 2001, S. 240 (zum Vertrauen als einer nur z. T. mit dem Versprechen verbundenen Quelle moralischer Stabilität), S. 269. Im Übrigen sehe ich ab von fragwürdigen Generalisierungen, die geradezu auf eine Liquidierung des Versprechens als eines Phänomens moralischer Verbindlichkeit hinauslaufen; sei es unter Hinweis auf seinen zwar sittlich lobenswerten, aber nicht kontrollierbaren und daher angeblich »unerheblichen« Charakter, sei es unter Hinweis auf das Recht, das im Gegensatz zu grundsätzlich unverbindlichen, bloßen Worten allein effektive Verbindlichkeit zu instituieren in der Lage sei, sei es unter Hinweis auf eine rein funktionale gesellschaftliche Integration durch Medien wie das Geld oder (doppelt kontingente) Erwartbarkeiten (Luhmann). 56 Darauf stützt sich wie gesagt die Konzeption einer »expressiven Vernunft« (R. Brandom), die das Versprechen als eine Selbstbindung an das gegebene Wort begreift, das Andere dazu berechtigt (lizensiert), sich auf es zu verlassen, und im Fall der Enttäuschung dazu berechtigt, Gründe zu verlangen. Damit rückt die Geltung des Versprochenen allerdings auf Kosten des Wort-gebens und der Bezeugung des Selbst im Versprechen in den Vordergrund. Im zweiten Teil (B – II) wird darauf zurückzukommen sein. 57 A. Reinach, Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1989, S. 168 f. 58 Vgl. Kap. B – II, 1 (S. 161 ff.). 59 Mit Recht insistiert aber A. Burkhardt (im Anschluss an Reinach), dass zwischen sozialer Verbindlichkeit und moralischer Verpflichtung zu unterscheiden ist und dass je nach Gegenstand des Versprochenen ganz unterschiedliche Grade der Verpflichtung vorliegen können; vgl. A. Burkhardt, »Zwischen Idealismus und Sprechakttheorie.
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menlebens, sondern gerade im Versprechen zeigen, was uns eigentlich zu »sozialen« Wesen macht, insofern es uns dazu befähigt, »verbindliche« Lebensformen (die dann auch politisch Gestalt annehmen können) einzurichten und aufrecht zu erhalten. 60 Hobbes glaubte freilich, man dürfe dem Versprechen nicht zuviel abverlangen, denn Worte an sich seien ohne bindende Kraft. Allein vermittels der Existenz eines politischen Souveräns könne ihrer Äußerung Verbindlichkeit zukommen. 61 Ist also das Versprechen gänzlich ungeeignet, die menschliches Zusammenleben fundierende Rolle zu übernehmen, die ihm Locke zuzuerkennen schien? Ich sage: schien, weil Locke nicht ausführlich zu dieser Frage Stellung nimmt. Er geht vom Begriff der Person als Eigentümer ihrer selbst aus und fragt nach einem Gesellschaftsvertrag, der dem allgemeinen Interesse an einem geregelten materiellen Austausch entgegenkommen könne, wenn sich alle an ihn halten. Demgegenüber kommt das ursprüngliche Geben des Versprechens gar nicht weiter zur Sprache. Locke scheint es als eine Konvention oder Institution bereits vorauszusetzen, als die es auch David Hume in seiner Untersuchung über die Prinzipien der Moral (ab 1748 geschrieben) behandelt. 62 Hume fragt sich allerdings weitergehend, wie es überhaupt zu sozialer Gemeinschaft kommen kann und welche Rolle das Versprechen dabei spielt. Warum verpflichtet man sich freiwillig, wenn man sein Wort gibt? Und gilt die eingegangene Verpflichtung unbedingt oder nur deshalb, weil der eigene Ruf (reputation) im Spiegel der Wahrnehmung Anderer oder der Verlust des Vertrauens auf dem Spiel steht? Wenn es so wäre, so läge eine gewisse Gemeinschaft freilich schon vor, in der man sich von Anderen abhängig erlebt. Verständlich würde so zwar, warum man Grund hat, sein Versprechen zu A. Reinachs Konzeption des Versprechens als ›sozialer Akt‹«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 237–255, hier: S. 250 f. 60 Bei Reinach wird zugleich deutlich, dass das Versprechen in diesem Sinne soziale Ansprechbarkeit voraussetzt. Wie dieser Gedanke im Kontext der hier weitgehend ausgesparten Sozialontologie in eine radikale Revision des Zwischen-Menschlichen einmündet, zeigt M. Theunissen, Der Andere, S. 379; zur Kategorie der Ansprechbarkeit S. 274, 283, 357. Reinach wird hier allerdings bescheinigt, diese Revision zu verfehlen, da er die einander Ansprechenden als bereits für sich seiende Personen voraussetze; vgl. ebd., S. 382, unten. In die richtige Richtung, das Versprechen vom Zwischen her zu deuten, schien dagegen W. Schapp zu gehen: S. 401. 61 T. Hobbes, Leviathan, Frankfurt am Main 1984, S. 137 f. 62 D. Hume, Untersuchungen über die Prinzipien der Moral, Stuttgart 1984, S. 121, 239; ders., A Treatise of Human Nature, Oxford 1978, S. 522 ff. A
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halten, nicht aber, warum man überhaupt sein Wort gibt, das einen in eine derartige Abhängigkeit von Anderen bringt. Liegt der Sinn des Versprechens letztlich darin, soziale Sicherheit zu gewährleisten? Beruht es in diesem Sinne auf einer vorgängigen Übereinkunft, in Sicherheit zusammen leben zu wollen? In diesem Falle würde das Versprechen mit seiner Verbindlichkeit wiederum von der Glaubwürdigkeit derer abhängen, die sich zu einer solchen Übereinkunft bereit gefunden haben. Damit ist das Rätsel der Verbindlichkeit des Versprechens nicht etwa gelöst, sondern nur vorverlagert auf die Ebene einer ursprünglichen convention, die sich ebenfalls nur als verlässlich erweisen kann, wenn ihr bzw. denen zu vertrauen ist, die sich auf sie eingelassen haben. 63 Übereinkunft wie Versprechen muten die eigene Glaub- und Vertrauenswürdigkeit immer schon Anderen zu, ohne dass sie im Geringsten beweisbar wäre. Jeder Versprechende nimmt sie auf der Seite derer, denen etwas versprochen wird, in Anspruch und liefert sich zugleich einem möglichen Vertrauensverlust aus, der dem gebrochenen Versprechen auf dem Fuße folgen kann. Um verbindliches Zusammenleben zu stiften, genügt es offenbar nicht, dass sich vernünftig redende Lebewesen zusammenfinden; und es genügt auch nicht, sich auf das Versprechen zu verlassen. Es kommt vielmehr auf den Sinn des Gebrauchs der Worte an. Wenn uns nichts außer bloßen Worten verbindet, deren Äußerung niemanden an sie bzw. durch sie an Andere bindet, was bewahrt uns dann vor dem Missbrauch des gegebenen Wortes? Der Gebrauch der Sprache verschärft auch die Möglichkeiten des Betrugs. Darauf hat schon Rousseau insistiert. 64 Allein im Vertrauen darauf, dass das Versprechen nicht gegeben wird, um den Empfänger des gegebenen Wortes irrezuführen oder zu hintergehen und infolge dessen zu verletzen, kann dem Versprechen die Verbindlichkeit zukommen, die ihm allzu oft (bis hin zur modernen Sprechakttheorie) als bloßem Akt zugesprochen worden ist. Weder das Sprechen im Allgemeinen noch auch das Versprechen im Besonderen verbindet die Menschen auf verbindliche Art und Weise, wenn beides nicht im Vertrauen darauf geschehen kann, dass derjenige, der ein Versprechen gibt, »meint, was er
Zur Rolle des Vertrauens im Kontext der Humeschen Theorie des Versprechens vgl. T. N. Klass, Das Versprechen, München 2002, bes. S. 187. 64 Vgl. I. Fetscher, »Der gesellschaftliche ›Naturzustand‹«, S. 36. 63
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sagt« und sich daran gebunden fühlen wird. (In diesem Sinne muss man auch sich selbst vertrauen.) Das aber bedeutet, dass man dem Versprechenden selbst vertrauen können muss. Keinem Versprechen ist gleichsam anzusehen, ob »wirklich« etwas versprochen wird, ob sich derjenige, der sein Wort gegeben hat, »wirklich« daran gebunden fühlt, usw. Das Vertrauen in den Anderen ist durch keinen Beweis zu erübrigen, der auf Gewissheit abzielt, wo es streng genommen nichts zu wissen gibt. Genauso wenig ist hier mit einer naturrechtlich begründeten absoluten Pflicht weiter zu kommen, unter allen Umständen wahrhaftig zu sein bzw. die Bedeutung der Worte nicht zu verletzen (H. Grotius) und in diesem Sinne das »Recht der Sprache« (Jakob F. Fries) zu achten. 65 Worauf es ankommt, ist nicht, was Pflicht ist (die womöglich ständig verletzt wird), sondern worauf wirklich zu vertrauen ist, so dass nicht jedes Mal radikal bezweifelt werden muss, ob und wie jemand sagt, was er denkt und verspricht. Es ist Humes Verdienst, in diesem Sinne besonders auf die Verletzlichkeit aufmerksam gemacht zu haben, die mit der niemals beweisbaren Vertrauenswürdigkeit sozialer Wesen verknüpft ist, deren Worten man Glauben schenkt. Das Versprechen lässt sich ohne riskierte Verletzbarkeit durch enttäuschtes Vertrauen überhaupt nicht denken. 66 So gesehen führt die von Rousseau aufgeworfene Frage, ob man sich in einem absoluten Sinne als freies Wesen überhaupt an Versprochenes gebunden fühlen muss, in die Irre. 67 Auf dem Spiel steht nicht allein die eigene Freiheit derer, die ihr Versprechen im Prinzip jederzeit brechen können und die vielleicht niemals überhaupt ihr Wort geben müssen, sondern die Verletzbarkeit Anderer, die sich uns im Vertrauen ausliefern, ohne je dessen gewiss sein zu können, ob wir es »verdienen«. Wer aus der eigenen Freiheit einen Vorbehalt gegen die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes glaubt Fries hat dies wiederum als Versprechen begriffen; vgl. M. Niehaus, »Recht der Sprache«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, S. 219–236, hier: S. 225. 66 Mit Recht bemängelt aber J. Shklar, dass die Philosophie des Versprechens vor allem auf Absichten abstelle, die Verletzbarkeit derer, denen etwas versprochen wird, bis heute jedoch weitgehend vernachlässige: Über Ungerechtigkeit, Frankfurt am Main 1997, S. 19 f. 67 Rousseau zieht sich hinsichtlich der Pflicht, sein Versprechen zu halten, schließlich auf einen »eingeborenen«, dem Gewissen bekannten Grundsatz zurück, ohne den seiner Meinung nach kein gegebenes Wort als absolut verbindlich betrachtet werden könnte; vgl. Emile oder Über die Erziehung [1762], Paderborn 6 1983, S. 81, 304. 65
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ableiten zu sollen, liefert sich seinerseits unbegrenztem Misstrauen aus, das er, aufgrund seines eigenen Vorbehalts, auch Anderen entgegenbringen muss, und das ihm entgegengebracht wird, sobald dieser Vorbehalt erkennbar wird. In der weiteren Geschichte sozialphilosophischen Denkens spielt das Versprechen zunächst nur eine marginale Rolle. Zwar behauptet etwa Christian Wolff 1721 68 , jede Gesellschaft sei geradezu ein Vertrag und der Vertrag ein gegenseitiges Versprechen. Doch wird speziell der Gesellschaftsvertrag, durch den sich überhaupt erst eine politische Willenseinheit als solche formiert, bereits von Rousseau als ein Konstitutionsakt, nicht als ein Versprechen gefasst, das seiner Ansicht nach erst unter der Voraussetzung eines solchen Aktes gelten kann. 69 Die explizit fiktiv gemeinte Konstruktion eines solchen Vertrages wird dann von der Historischen Rechtsschule (Friedrich K. v. Savigny, 1814) und von Hegel als ungeschichtlich zurückgewiesen. Vertrag und Versprechen kommen in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) nur mehr als immanente Phänomene eines bereits juridisch verfassten bürgerlichen Lebens in den Blick. 70 Der Staat hat hier gerade das auszuschließen, was die Fiktion eines ursprünglichen Versprechens (bzw. Vertrages) vorauszusetzen scheint: eine »bindungslose Vielzahl« von atomisierten Einzelnen, die einander ursprünglich nichts schulden oder verdanken und die sich, wie Max Scheler sagen wird, vermittels des Versprechens nur auf eine »willkürliche und künstliche Menschenverknüpfung« einlassen, sofern sie sich nicht auf »natürliche« (etwa »instinktive«) Art und Weise bereits verbunden wissen. 71 C. Wolff, »Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschheit« [1721], in: E. Pankoke (Hg.), Gesellschaftslehre, Frankfurt am Main 1991, S. 9–19, § 2. 69 J.-J. Rousseau, Politische Schriften I, Paderborn 1977, S. 72 ff., 216. Zur daran anschließenden Unterscheidung zwischen Vereinigungs- und Unterwerfungsvertrag (pactum unionis; pactum subjectionis) vgl. I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Frankfurt am Main 3 1980, S. 53. 70 G. W. F. Hegel, Werke 7, Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel, Frankfurt am Main 1986. Hierher gehört Hegels Diskussion von Real- vs. Konsensualvertrag, Schenkungsvs. Tauschvertrag. Hegel insistiert auf einer vernunftgemäßen Bestimmung zum Leben im Staat, die einen auf Willkür gegründeten Vertrag erübrige. S. 159. Im Übrigen stützt Hegel die Geltung des Versprechens nicht darauf, dass man »aus moralischen Gründen« allein sich »innerlich gleich« bleiben müsse, sondern auf den objektiven Zwang, »Person zu sein«. Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, Hamburg 1987, S. 211 (vgl. S. 105 ff. in diesem Band). 71 Vgl. R. Bubner, Zwischenrufe, Frankfurt am Main 1993, S. 109; M. Scheler, Vom 68
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Bei allen genannten Autoren bleibt die Frage nach der eigentümlichen Verbindlichkeit des gegebenen Wortes im Dunkeln. 72 Zwar versucht Emile Durkheim in seinen soziologischen Vorlesungen zur Physik der Sitten und des Rechts (1896) eine Erklärung, indem er auf den sakralen Ursprung des Versprechens im Eid aufmerksam macht: Die Anrufung eines heiligen Wesens macht es zum Garanten des gegebenen Versprechens. 73 Aber haben gegebene Worte infolge des in der Moderne eingetretenen Verlusts einer allgemeinen sakralen Grundlage nun »keine eigenständige Kraft« mehr? 74 Bezeugen sie nur noch reversible Absichten? Bedeuten gegebene Worte, auch solche, die einen ursprünglichen (oder zu erneuernden) Gesellschaftsvertrag begründen, nichts weiter? Beruht die Stabilität einer so gestifteten Ordnung nur auf der überlegenen Sanktionsmacht eines Souveräns, wie es bei Hobbes vorgesehen ist? Ist es am Ende schlicht ebenso unklug, sich auf Versprechen Anderer zu verlassen, wie das eigene gegebene Wort als unbedingt bindend zu betrachten? Auf diese Frage hat Kant eine kategorische Antwort 75 gegeben, die das Rätsel der Verbindlichkeit des Versprechens mit einem Schlage zu lösen scheint: Der Vertrag, als ein gegenseitiges Versprechen, setzt die Wahrhaftigkeit derer voraus, die anderen ein Versprechen geben. Die Wahrhaftigkeit ist die Basis aller auf Verträge zu gründenden Pflichten, »deren Gesetz, wenn man ihr auch nur die geringste Ausnahme einräumt, schwankend und unnütz gemacht wird. Es ist also ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen Umsturz der Werte, Bern 1955, S. 140; ders., Wesen und Formen der Sympathie, Bern 1974, S. 228. 72 Die historisch-genealogische Perspektive, in der etwa Nietzsche und Durkheim das Versprechen und seine Verbindlichkeit analysiert haben, muss hier außer Betracht bleiben. Vgl. M. Brusotti, »Die ›Selbstverkleinerung des Menschen‹ in der Moderne«, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 91 ff. 73 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts, Frankfurt am Main 1991, S. 255 ff. 74 Die Frage scheint falsch gestellt. Denn Durkheim erklärt ja gerade, dass gegebene Worte im sakralen Rahmen keine »eigenständige« Kraft, vielmehr nur vermittels des Heiligen Kraft besessen hätten. Eröffnet nicht erst die Desakralisierung die Möglichkeit, dem gegebenen Wort selbst zu vertrauen, ohne weitere Stützung als die Bindung ans Gesagte und an den Anderen, dem man es gibt? Kritisch zu Durkheim vgl. J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, S. 80 ff. 75 Auf den unbedingt verpflichtenden Charakter des Versprechens hatten zuvor auch schon Thomas v. Aquin und Hugo Grotius hingewiesen; vgl. G. Hartung, »Vertrag«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1971 ff., S. 962 ff. A
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einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein.« 76 Kant begründet die Verbindlichkeit des Versprechens freilich nicht im Lichte sozialer oder politischer Konsequenzen, die sich daraus ergeben könnten, dass man sein Wort bricht, sondern er geht von einer unbedingten Geltung des Versprechens aus, in die im Grunde keine Rücksicht auf Konsequenzen in den Augen Anderer oder auf Andere selbst hineinspielt. Das Versprechen bezieht er auch nicht auf die Frage nach einer naturgeschichtlich-ursprünglichen Instituierung von Formen menschlichen Zusammenlebens. In diesem Zusammenhang spricht er vielmehr von einem contractus originarius oder pactum sociale, den er nicht als historisches Faktum versteht, sondern als »Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes«. Man kann sich nämlich nachträglich fragen, ob Gesetze aus dem »vereinigten Willen«, d. h. aus einem Gesellschaftsvertrag hätten »entspringen können«; und zwar so, als ob jeder Bürger zugestimmt habe. Hier geht es freilich um ein »Recht, über ein Volk« zu herrschen und um die Legitimität eines solchen Rechts. 77 Hannah Arendt meint, »bei dem sogenannten Gesellschaftsvertrag zwischen einer bereits bestehenden Gesellschaft und einem außer ihr stehenden Herrscher« handle es sich um einen »nirgends belegten hypothetischen Urvertrag, der dazu dient, die Herrschaft zu rechtfertigen. In ihm wird vorausgesetzt, daß jeder Einzelne seine isolierte, von anderen unabhängige Kraft aufgibt und auf seine Macht verzichtet, um der ›Segnungen‹ einer regelmäßigen Regierung teilhaftig zu werden.« Was nun diesen Einzelnen betrifft, so verlangt »der Vertragsakt […] von ihm […] nicht eigentlich ein Versprechen, sondern nur seine ›Zustimmung‹, sich von einem Staat beherrschen zu lassen«. 78 Tatsächlich stellen wir an das Versprechen höhere Ansprüche. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt am Main 1977, S. 639 (= WA VIII); vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 378. 77 WA XI, S. 153, 197. Wo das Recht einen entsprechenden Legitimitätstest besteht, kann Folgsamkeit verlangt werden, so als ob sie aus einem originären Versprechen abzuleiten sei, einem legitimen Gesetz ohne Wenn und Aber auch Folge zu leisten. Zur Aktualität der Idee eines Quasi-Vertrags, der von der Möglichkeit nachträglicher Zustimmung her gedacht wird, vgl. H.-J. Grosse Kracht, »Jenseits von Mitleid und Barmherzigkeit. Zur Karriere solidaristischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert«, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaft 48 (2007), S. 13–38. 78 Was gewiss nicht auf eine bedingungslose, nicht mehr revidierbare Unterwerfung 76
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Auch eine Zustimmung, sich gewissen politisch-rechtlichen Bedingungen zu fügen, mag bindend sein. Und sie kann nicht ohne weiteres zurückgezogen werden. Doch etwas zu versprechen, bedeutet weit mehr, als in gewissen Grenzen solche Bedingungen bloß hinzunehmen. In Vita activa hat Arendt das selber betont, wo sie explizit sagt, der (horizontale) Zusammenhalt politischer Lebensformen sei allein auf die bindende Kraft gegenseitiger Versprechen gegründet. Erst durch Versprechen würden freie Wesen unter Bedingungen der Nicht-Souveränität füreinander »berechenbar« und verlässlich, so dass sie für Andere über die unmittelbare Gegenwart hinaus als »jemand« wiedererkennbar seien. 79 Arendt unterstellt dem Versprechen eine eminente Rolle hinsichtlich der Konstitution der Identität derer, die in politischen Lebensformen zusammen leben. Die wesentlich durch Versprechen konstituierte Identität wiederum soll auch die normative Struktur des Zusammenlebens tragen, die sich ihrerseits demnach auf Dauer nur als tragfähig erweisen kann, wenn sie wirklich das Selbstverständnis derer prägt, die sich nach ihr zu richten haben. 80 hinauslaufen muss bzw. darf. Vgl. H. Arendt, Über die Revolution, München, Zürich 4 1994, S. 220 f. 79 Im Unterschied zum fiktiven (»vertikalen«) Vertrag, der »zwischen einem Volk und seinem Herrscher geschlossen« wird, so dass aus ihm der Rechtsstaat entsteht, lasse sich die Entstehung einer Gesellschaft von einem »[horizontalen] Vertrag zwischen einer Anzahl von Privatpersonen« her denken. »In dem auf Wechselseitigkeit beruhenden und Gleichheit voraussetzenden Gesellschaftsvertrag, in dem eine Anzahl von Menschen sich zusammenschließt, um eine Gemeinschaft zu bilden, ist der eigentliche Inhalt des Vertragsaktes ein Versprechen und sein Resultat [eine consociation oder societas im römischen Sinn also] ein Bündnis«, das lediglich auf gegenseitigem Vertrauen in das gegebene Wort basiert. (Vgl. ebd.) 80 Diese Konstruktion erscheint allerdings in mehrfacher Hinsicht als anfechtbar. Wie steht es um die Abtrennbarkeit des Willens, zusammen zu leben, von der vertikalen Dimension des Beherrschtwerdens? Ist der (horizontale) Vertrag, den Arendt als ein gegenseitiges Versprechen begreift, nicht genauso dazu verurteilt, fiktiv zu bleiben, wie der vertikale Vertrag, der die Bedingungen legitimer Herrschaft betrifft? Man könnte immerhin eine nachträgliche Rekonstruktion eines Versprechens des GewaltVerzichts versuchen, die besagen würde, dass soziales Zusammenleben nur so verständlich wird, als würde ihm ein solches Versprechen zugrunde liegen. Eine solche Rekonstruktion würde besagen, dass ungeachtet faktischer Gewalt, die das Zusammenleben vielfach bis an den Rand des Zusammenbruchs bringt und zerstört, dem Sinn nach nur in einer Weise gut zusammen zu leben ist, die funktionieren muss, als ob man einander ein generalisiertes Versprechen des Gewalt-Verzichts gegeben hätte. Gewiss geht es zu weit, die (vielfach alternativlos) fortgesetzte Teilnahme an Formen des ZusammenA
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Hannah Arendts Position zeigt, wie sich im neuzeitlichen sozialphilosophischen Denken die Frage nach dem Versprechen und nach seiner Verbindlichkeit entscheidend verlagert hat. Während Kant die schon von Machiavelli, Montaigne, Hobbes u. a. geltend gemachten Zweifel an der Verbindlichkeit des Versprechens ganz und gar mit Hinweis auf eine kategorische Verpflichtung, es zu halten, ausräumen möchte, wird nun fragwürdig, ob wir umwillen des Zusammenlebens nicht Versprechen geben müssen – und welche »Zumutung« darin für diejenigen liegt, die ihr Wort geben oder ein gegebenes Wort »annehmen«. (Wer überhaupt kein Versprechen gibt, gerät scheinbar mit der praktischen Vernunft gar nicht in Konflikt, zerstört aber, wenn wir Arendt folgen, die Möglichkeit menschlichen Zusammenlebens überhaupt.) Zugleich wird die Aufmerksamkeit von der Frage weg gelenkt, ob wir als vergesellschaftete Wesen »immer schon«, wenigstens »implizit«, gewisse Versprechen gegeben haben müssen (oder ob sich menschliches Zusammenleben nicht so rekonstruieren lassen muss); statt dessen tritt die Bedeutung des Wort-gebens selber in den Vordergrund. Dieses Problem erschöpft sich nicht im Rekurs auf einen fiktiven Naturzustand, auf eine allererste vertragsförmige Einrichtung politischer Verhältnisse oder auf einen ersten Beitritt (also auf die beiden Modelle, die Hobbes, Locke, Hume u. a. vorschwebten). Es genügt, die Aufmerksamkeit auf aktuelle Krisen und auf das Hineinlebens bereits als »implizite« Zustimmung oder als Versprechen zu werten, sich seinen Bedingungen und Regeln zu fügen, wie M. Kaufmann zeigt: Rechtsphilosophie, Freiburg i. Br., München 1996, S. 105. Was wäre denn genau der Inhalt dieses Versprechens? Nur der Verzicht auf »Selbstjustiz«, für die man sich mit Blick auf das Gewalt-Monopol eines Souveräns entschädigen könnte? Auf welche Gewalttätigkeit muss man denn zu verzichten versprechen? Genügt es, im Sinne äußerlich rechtskonformen Verhaltens auf rechtswidrige Gewalt zu verzichten? Oder ist das Recht in der ihm häufig zugeschriebenen Funktion, eine Ausfallbürgschaft für den Fall des Versagens möglichst gewaltlosen Zusammenlebens zu übernehmen, völlig überfordert? Muss der Gewalt-Verzicht insofern über die Gewährleistung bloß äußerlicher Rechtmäßigkeit hinausgehen? Aber inwieweit kann man überhaupt auf Gewalt zu verzichten versprechen? Gewiss erschiene es doch nicht als glaubwürdig, wollte man etwa auch einer Gewaltsamkeit absagen, die man sich unfreiwillig zuzieht oder die man im eigenen Sein, Tun und Haben reproduziert wie die so genannte strukturelle Gewalt, die uns ungeachtet der Unfreiwilligkeit, mit der wir sie reproduzieren, nicht aus der Verantwortung für sie entlässt. Vgl. v. Verf., Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Eine Einführung, Weilerswist 2007.
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Sein Wort geben
wachsen in Formen guten Zusammenlebens zu richten. 81 In den beiden zuletzt genannten Fällen wird vielfach abverlangt, sein Wort zu geben. »Gib mir dein Wort« (nicht mehr zu lügen, zu stehlen …), sagt man, um entsprechend auf jemanden zählen zu können, der sich im Sinne des Versprochenen künftig als derselbe erweisen und sich an das Versprochene erinnern soll. Ihm soll also ein »Gedächtnis gemacht« werden, selbst für Schmerzhaftes und Peinliches, wie Nietzsche betont. Und so wird Identität originär formiert, rehabilitiert und neu formiert, die nicht wie die Selbigkeit von Dingen einfach besteht. Was »zugemutet« wird, ist beileibe nicht ein bloßer Sprechakt, der zusätzlicher Selbstverpflichtung bedürfte, sondern Treue zu sich, zum gegebenen Wort und, gleichursprünglich Treue zum Anderen, ja sogar zu einer Lebensform, die sie uns abverlangen kann, insofern sie damit unvereinbar ist, sein Wort nicht zu geben (und zu halten). Die Verbindlichkeit des Gesagten resultiert nicht aus einer monologischen Verpflichtung, wie sie Kant allein vom moralischen Gesetz her denkt; sie ist ebenso dem Anderen, der uns auf sie festlegt und der uns vertraut, zu verdanken wie das Verlangen, überhaupt sein Wort zu geben. 82 Nur dank des Anderen können wir überhaupt versprechen bzw. haben wir überhaupt etwas zu versprechen. Gewiss ist angesichts der unvermeidlichen Übermäßigkeit des Versprechens 83 die Sorge begründet, zuviel zu versprechen. Doch ein Rückzug aus dem Versprechen würde zwar vor dem Versagen angesichts absoluter Ansprüche bewahren, wie sie Kant geltend macht, müsste aber auch die Ansprechbarkeit durch Andere kaltstellen, die verlangen können, sein Wort zu geben. 84 Was das Versprechen von dieser Ansprechbarkeit her für menschliche Lebensformen überhaupt bedeutet, ist aus der Gegenprobe zu ersehen, die vorstellbar macht, was aus gänzlicher Indifferenz gegenüber einem solchen Verlangen folgen würde. Wer (ggfs. In einer ausführlicheren Diskussion der soziales Leben fundierenden Bedeutung des Versprechens wären diese vier Fälle deutlich zu unterscheiden. 82 Darauf wird in Teil B – I, 1 zurückzukommen sein. 83 Vgl. F. Nietzsche, SW 5, S. 293, 297; R. Spaemann, Personen. Über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 1996, S. 235 ff. 84 Von der Analyse des Versprechens her kann keine Rede davon sein, dass ursprünglich »unverbundene« Einzelne sich auf unerklärliche Weise auf das Zustandekommen eines Gesellschaftsvertrags einigen, wie es bei Hobbes vorgesehen ist. Die Möglichkeit des Vertragsschlusses setzt das Versprechen-können bereits voraus; und dieses wiederum setzt das Sprechen-können und das Vermögen voraus, Andere auf die Erwiderung eines Versprechens hin anzusprechen. Beides gerät bei Hobbes ganz aus dem Blickfeld. 81
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Das gegebene Wort
unter Hinweis darauf, nie ein den Sinn guten Zusammenlebens tragendes Versprechen gegeben zu haben) die Position einer reservatio moralis oder gänzlicher Indifferenz gegenüber jeglicher Zumutung, zu versprechen, einnähme und es strikt vermeiden wollte, sich durch soziale Verbindlichkeit vereinnahmen zu lassen, würde am Ende kein Selbst mehr aufrecht erhalten können, auf das man vertrauen könnte. Schon morgen wäre er möglicherweise ein ganz Anderer (was in manchen Theorien des Selbst als wichtigstes Ziel ausgegeben wird – man denke nur an Foucault 85 ). Er würde sich weigern, als jemand zu erscheinen, auf den (über gewisse Wahrscheinlichkeiten hinausgehend) zukünftig zu »zählen« ist. Würde er gleichwohl gewissen Erwartungen entsprechen, so würde das doch niemals darauf schließen lassen, wer er (oder sie) in einem verlässlichen Sinne ist. Ich verkenne nicht, dass gerade das einem im Sinne Nietzsches freien Menschen attraktiv erscheinen kann, der den vermeintlichen Vorteil eines verbindlichen sozialen Lebens nicht um den Preis der Einschränkung seiner souveränen Freiheit und der Zumutung, sich verlässlich als derselbe zu erweisen, bezahlen will. Bekanntlich erwog Nietzsche den Gedanken, ob es möglich sei, ein Tier zu züchten, das nicht etwa Versprechen geben und halten muss, sondern sein Wort geben darf, weil es frei und seiner Zukunft mächtig ist. Ein solches menschliches Tier wäre allerdings wieder nur das Produkt eines fremden Willens. Dagegen wäre der wahrhaft freie Mensch nicht länger »berechenbar« in Abhängigkeit von einer Erziehung oder Züchtung, die ihm Andere angedeihen ließen. Erst ein souveräner Mensch dürfte, jenseits der Sitte und aller pädagogischen Vorprogrammierung, etwas versprechen. 86 Aber er dürfte sich, um frei zu bleiben, niemals wirklich an das Versprochene gebunden fühlen. Müssen wir nicht zu Verrätern werden, wenn wir uns gewandelt haben? Sollten wir nicht alles daran setzen, nicht »an unserem höheren Selbst«, das unbedingt frei bleiben soll, Schaden zu leiden, statt uns zu verpflichten, einem Versprechen unter allen Umständen treu zu bleiben (SW 2, S. 355)? Ein souveränes Individuum könnte zwar Anderen vertrauen und sie dadurch auszeichnen. Aber es wird nicht Vgl. v. Verf., »Lebensformen des Selbst unter dem Druck der Bio-Politik. Kritische Überlegungen zu späten Denkwegen Michel Foucaults«, in: Philosophischer Literaturanzeiger 58, Nr. 3 (2005), S. 285–307. 86 SW 5, S. 292 f., sowie zum moralischen »Vorurteil« der Berechenbarkeit, die einer bestimmten Ordnungsvorstellung entstammt, SW 11, S. 632. 85
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Sein Wort geben
nur mit Vertrauen Anderen gegenüber »geizen«; es wird auch selber kaum welches verdienen, nachdem es sich von allen »Verfallsgebilden der Societät« verächtlich abgewandt hat, um nur noch der eigenen Freiheit verpflichtet zu bleiben. Das Ansinnen, wie ein »Souverain« zu versprechen (SW 5, S. 293), verkennt nicht nur, dass das Versprechen als gegebenes Wort unumgänglich das unverfügbare Vertrauen Anderer in Anspruch nehmen muss, kraft dessen allein das gegebene Wort auch »abgenommen« werden kann. Es verstellt darüber hinaus den Blick dafür, dass man sich die Zumutung, sein Wort zu geben, auf ebenso unverfügbare Weise vom Anderen her zuzieht. Stets ist das Versprechen selber schon eine Antwort auf die Herausforderung, sein Wort zu geben. Und darüber, ob oder wie 87 man sich diese Herausforderung zuzieht, verfügt man nicht. Sie ist jedem souveränen Tun entzogen. 88 Gewiss gibt es gute Gründe, einer bloß andressierten Moral zu misstrauen. Doch übersieht die genealogische Kritik an ihr, die einer von solcher Moral befreiten Souveränität zum Durchbruch verhelfen soll, die mögliche Gangbarkeit eines dritten Wegs, auf dem erst eine Kritik der Moral »aus Moralität« (Nietzsche) denkbar wäre: den Weg einer dem Anderen auf unumgänglich nicht-souveräne Weise antwortenden Moral, die dem Antwortenden, der sein Wort gibt oder Vertrauen schenkt und dadurch Andere auszeichnet, stets die Freiheit lässt, so oder so zu antworten, nicht aber die Freiheit, überhaupt nicht zu antworten. In dem Maße, wie die neuzeitliche Sozialphiloso-
Zu wenig zu Wort gekommen ist zugegebenermaßen ein wichtiger Gedanke Nietzsches, der besagt, es komme wesentlich darauf an, wie man verspricht. Vgl. Anm. 79 zu Kap. A – II, sowie F. Nietzsche, »Morgenröthe«, SW 3, S. 239. 88 Vgl. F. Nietzsche, »Zur Genealogie der Moral«, SW 5, S. 296 f., 278, Nr. 12, SW 11, S. 69. Auch in dieser Hinsicht erweist sich Nietzsche als ambivalent. Einerseits stellt er eine Umerziehung auch der menschlichen Affizierbarkeit, selbst des Ekels und des Schmerzes in Aussicht. Von den Empfindungen über sog. Wertschätzungen bis hin zum Gewissen ließe sich demzufolge alles abgewöhnen, angewöhnen, eingewöhnen, umgewöhnen. Alles, was uns »angeht«, wird als Folge von Urteilen aufgefasst, deren Veränderung auch auf die Empfindungen soll durchschlagen können, wenn nicht sofort, dann doch auf lange Sicht, so dass der Herrschaft über sich keine Grenze gesetzt scheint. Andererseits plädiert Nietzsche dafür, sich von den Dingen »in Besitz nehmen« zu lassen, um fruchtbar zu sein (SW 9, S. 450). Verfügt man auch darüber noch? Es ist einer der großen Widersprüche in Nietzsches Philosophie, dass er sich als Prediger einer souveränen Freiheit geriert, die er doch wieder einer heteronom sie heranzüchtenden Erziehung unterstellt und als inneres Befehlsverhältnis deutet, in dem das Selbst sich selbst das Gesetz gibt. Vgl. SW 11, S. 447, 516, 606. 87
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phie die Aufmerksamkeit vom verpflichtenden Charakter des gegebenen Wortes weg gelenkt und auf das Versprechen als originär Verbindlichkeit stiftendes Wort-Geben gerichtet hat, hat sie diesen dritten Weg zu öffnen begonnen. 89 Allein auf diesem Weg wird man einer bloß zwanghaften, andressierten Moral, die uns möglicherweise zum Narren hält, das Misstrauen aussprechen können, ohne eine andere, dem Anderen in Freiheit, aber niemals absolut souverän antwortende, wesentlich die Verbindlichkeit sozialer Lebensformen stiftende Moral bedenkenlos preiszugeben. Auf diesem Wege wäre die Moral nicht aufgrund einer souveränen Option ins Immoralische hinein zu überschreiten, wenn sie vom Anderen her auf den Plan gerufen wird. Aber sie würde einer antwortenden Freiheit überantwortet, die sich der Furcht, dem Befehl und auch dem Gesetz, nicht aber der Sensibilität angesichts ihr vorausliegender Ansprüche entzieht. In Freiheit vermittels des Versprechens gegebene Antworten auf solche Ansprüche beweisen nicht, wer wir sind. Sie können weder theoretische Zweifel noch praktisches Misstrauen einfach ausräumen. Angewiesen auf das Vertrauen Anderer bezeugen sie allenfalls ein zerbrechliches und verletzbares Selbst, das sich rückhaltlos ihrem Glauben an es überantworten muss, sofern es sich überhaupt auf die fragliche Verbindlichkeit sozialer Lebensformen einlassen will, die nicht allein auf Furcht, Zwang und gesetzlicher Ordnung beruhen und denen insofern unvermeidlich ein anarchisches Element eignet. Auf die Spur dieser, ihrerseits genealogischer Aufklärung harrenden Einsicht geführt zu haben, darin sehe ich die Bedeutung der mit Blick auf Hobbes und Nietzsche angesprochenen Reflexionen des Versprechens im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie.
Der heute besonders von Derrida beschritten wird, wo er das Versprechen nicht von Anfang an dem Willen unterstellt, sein Wort zu geben. Das Versprechen als Antwort, die auf einen unverfügbaren Anspruch gegeben wird, unterläuft jede souveräne Freiheit. So wird es von der Anrede her gedacht, die den Sinn der Sprache selber betrifft. Dabei gerät auch das Dogma, allemal verspreche man nichts »Unmögliches«, ins Wanken; vgl. J. Derrida, »Die Einsprachigkeit des Anderen«, in: A. Haverkamp (Hg.), Die Sprache der Anderen, Frankfurt am Main 1997, S. 15–42, hier: S. 39, und Kap. B – II, 4 in diesem Band.
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Resümee
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Resümee
Die Tradition der neuzeitlichen Sozialphilosophie hat von der Brüchigkeit und Kontingenz politischer Ordnungen her, die sie bedacht hat, die Frage aufgeworfen, was Menschen eigentlich einander angehen, wenn sie sich nicht auf eine vor-gegebene soziale, politische oder metaphysische Ordnung berufen können. Dabei hat sie auf die Spur einer unvermuteten Antwort geführt: Menschen sind einander ansprechende Wesen, denen vom Anderen her zugemutet wird, Wort zu halten, und, zuvor, ihr Wort zu geben. Das Wortgeben ist weder einklagbar, noch ist es Sache einer deontischen Moral. Keine Pflicht und kein Recht lehrt uns, ob und inwieweit wir uns überhaupt darauf einlassen sollen, etwas (oder sogar uns selbst) zu versprechen 90 – zumal nicht angesichts eines unvermeidlichen Übermaßes des Versprechens, das zunächst nicht zuviel oder gar nichts zu versprechen nahe legt. Wie die Moral, die bis heute die Frage nicht los wird »Warum überhaupt moralisch sein?« und keinen moralischen Grund dafür angeben kann, so ruft die Sozialphilosophie die Frage auf den Plan, warum überhaupt verbindlich zusammenleben, ohne indessen auf eine bereits gegebene Verbindlichkeit sich stützen zu können. Insoweit fallen die darin liegende Zerbrechlichkeit und die Kostbarkeit menschlicher Lebensformen, die dennoch Bestand haben, zusammen. Weit entfernt, auf ein für alle Mal gesicherter Vertragsgrundlage zu beruhen, verweisen sie auf ein stets prekäres Versprechen So gesehen wird in Krisen sozialen Lebens, wo jemandem angesonnen wird, sein Wort zu geben, eine wesentliche, nicht auszuräumende Fragilität der menschlichen Verhältnisse überhaupt sichtbar. Weder Recht und Gesetz, die man von einem bereits geschlossenen ursprünglichen Vertrag her verstehen kann, noch auch bereits eingespieltes gesellschaftliches Leben, das Arendt im gegenseitigen Versprechen begründet sieht, können diese Zerbrechlichkeit gänzlich überdecken. Sie scheint immer dann auf, wenn einer dem anderen zumutet, sein Wort zu geben und die entsprechende Möglichkeit der Weigerung das Scheitern jeglicher Verbindlichkeit denkbar werden lässt. Vgl. G. Ellscheid, »Die Verrechtlichung sozialer Beziehungen als Problem der praktischen Philosophie«, in: Neue Hefte für Philosophie, Nr. 17 (1974), S. 37–61. Auf interessante Weise macht der Autor auf Probleme der Verrechtlichung aufmerksam, die u. a. polemogene Wirkungen der Berufung auf das Recht betreffen (S. 42), wo Lebensformen versagen, die man kritisch am (allerdings anfechtbaren) Ideal rechtlich-zwangloser Integration misst (S. 50). Solche Kritik lässt freilich allzu leicht positive Funktionen des Rechts wie die Entlastung von einem »bis zum Überdruss« beschworenen »Vertrauen in ein gemeinsames Verständnis der Grundlagen menschlichen Zusammenlebens« vergessen (S. 59). Andererseits: bedarf gerade das Vertrauen in eine entsprechende Entlastungsfunktion des Rechts wiederum eines »sittlichen Grundes« (S. 60)? 90
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Das gegebene Wort
zurück, genauer: nicht nur auf das Wort-halten, sondern auf ein originäres Wort-geben, in dem soziale, allerdings hinsichtlich ihrer bindenden Kraft stets prekär bleibende Verbindlichkeit originär gestiftet wird unter der irreduziblen Voraussetzung der Ansprechbarkeit des Adressaten und dessen, dem abverlangt werden kann, sein Wort zu geben. Im Versprechen klingt die radikale, immer wieder aufbrechende Frage neuzeitlicher Sozialphilosophie an: warum überhaupt sozial, d. h. verbindlich mit und unter Anderen leben? Warum überhaupt Anderen vertrauen, die uns ihr Wort geben und im gleichen Zug zumuten, es als verbindlich zu betrachten? Versprechen und Vertrauen gehören zusammen. So wie ein nicht von Rechts wegen abverlangtes Versprechen in gewisser Weise nur grundlos gegeben werden kann, so kann das Vertrauen nur geschenkt werden – womöglich umsonst in allen Bedeutungen des Wortes. Allemal setzt es aber jene Ansprechbarkeit voraus, die weder den Versprechenden noch denen zur Disposition steht, die sich weigern, sich auf Einschränkungen ihrer vermeintlich souveränen Freiheit einzulassen. Dass diese Fragen faktisch über weite Strecken durch ein mehr oder weniger normalisiertes Zusammenleben niedergehalten werden, ist kein Einwand gegen ihren sozialphilosophisch grundlegenden Sinn. Gewiss gibt es keinen archimedischen Punkt außerhalb menschlicher Lebensformen, von dem aus man sie völlig distanziert aufwerfen könnte. Doch unser Verstricktsein in Lebensformen, die wir mit Anderen teilen, geht nicht so weit, ein Wiederaufbrechen dieser Frage in einem brüchig gewordenen Zusammenleben gänzlich zu verunmöglichen. Weder ein angeblich »ursprünglicher«, menschliches Zusammenleben überhaupt erst instituierender Vertrag noch ein erster Beitritt zu einer politischen Lebensform etwa (der gattungsgeschichtlich wie ontogenetisch weitgehend fiktiv bleibt) bewahrt uns vor einer nachträglichen, tief greifenden Entsicherung des Zusammenlebens. In einem solchen Falle steht nicht nur in Frage, ob wir Wort halten, sondern ob wir uns überhaupt noch auf verbindliche Beziehungen zu Anderen (wieder) einlassen sollen. 91 Indem ich die Nachträglichkeit dieser »Entsicherung« betone, binde ich sie zugleich an die bestimmte Situation, in der sie virulent wird, und vermeide es, nun dem Versprechen allein eine Leistung der »Instituierung« verlässlicher Lebensformen aufzubürden, an der schon das vertragstheoretische Denken gescheitert ist. Besonders angesichts überkomplexer politischer Systeme, die es mit einer Vielzahl heterogener Lebensformen zu
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Resümee
Die im Register der Ansprechbarkeit zur Geltung kommende Zumutung aber, sein Wort zu geben, um auf diese Weise Verbindlichkeit zu stiften, geht jedem Vertrag voraus (den man als gegenseitiges Versprechen rekonstruieren kann). Ihr kann man sich nicht entziehen, auch dann nicht, wenn man sich weigert, vermittels des Versprechens verbindliche Zukunft zu stiften, oder gar mit Nietzsche eine Befreiung von jeder moralischen Zumutung in Betracht zieht. Wenn wir heute an die Verbindlichkeit stiftende Rolle des Versprechens erinnern, so brauchen wir so gesehen nicht in die obsolete Ursprungsfiktion atomisierter Einzelner zurückzufallen, die scheinbar kraft des Versprechens erst soziale oder politische Beziehungen »herstellen«, ohne einander zuvor etwas anzugehen. Wem das Versprechen von einem Anderen her überhaupt zugemutet oder angesonnen werden kann, der muss sich immer schon als ansprechbar und insofern auch als soziales Wesen erweisen, das man auf die Erwiderung eines Versprechens hin ansprechen kann. Aber erst wenn diese Ansprechbarkeit nicht verleugnet wird, kann es zu einem Versprechen kommen, das verbindlich gilt und rationaler Bewertung unterliegt. Wer sich allein auf soziale Verbindlichkeit durch das geltende Wort konzentriert, übersieht leicht, dass das Geben des Wortes so wenig einklagbar ist, wie das nicht gegebene Wort geltungskritisch anzufechten ist. Wenn es stimmt, dass das Versprechen das Phänomen par excellence ist, in dem sich durch Ansprechbarkeit und geschenktes Vertrauen die Möglichkeit eröffnet, sich als verlässlich zu erweisen und soziale Verbindlichkeit zu stiften, so sehen wir hier, wie brüchig der Boden ist, auf dem soziales Zusammenleben, allen Rechten und Gesetzen zum Trotz, aufruht. Auch wer jene Ansprechbarkeit nicht leugnet, kann allerdings jede darin liegende moralische Verbindlichkeit bestreiten. Wer sich andererseits dazu bewegen lässt, etwas zu versprechen, kann weder beweisen, dass er »wirklich« etwas versprochen hat, noch ist durch das gegebene Wort selbst evident, dass eine effektive Bindung an den Anderen als Adressaten des Versprechens zustande gekommen ist. Im Vertrauen darauf liefert man sich unumgänglich einer ungewissen Zukunft aus. Das Vertrauen gilt aber nicht allein dem gegebenen Wort, sondern vielmehr demjenigen, der es gegeben hat. Im gehaltenen Wort bezeugt sich das Selbst, dem man vertraut. Im tun haben, scheint es wenig überzeugend, dem Versprechen eine sie generell gewissermaßen fundierende Rolle zuzuschreiben. A
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gebrochenen Wort schlägt das am Ende zerstörte Vertrauen ganz und gar darauf zurück, wer der Andere ist. Die Antwort auf diese Frage lässt sich in der Neuzeit nicht mehr unter Rekurs auf die Frage, was wir sind, d. h. mit den Mitteln traditioneller Ontologie angeben. 92 Insoweit die neuzeitliche Philosophie von Descartes über Kants transzendentales Ich bis hin zu ungezählten weiteren »Paraphrasen« des cogito auch das Selbst dem Vorbild dieser Frage unterworfen hat, ist auch sie, im Lichte der fragwürdigen Selbst-Bezeugung im Versprechen, zu einer sozialphilosophischen Revision herausgefordert. 93
Von dieser Konsequenz bleibt zuächst unberührt, ob sich eine andere Ontologie denken lässt (die wie in Sein und Zeit von der Leitfrage nach dem Wer des Daseins ausgeht) oder ob die Wer-Frage unumgänglich in ein »Jenseits« aller Ontologie und des WasSeins mündet, wovon Levinas schließlich überzeugt war (s. o., Anm. 45). Desgleichen unberührt bleibt die v. a. von Ricœur aufgeworfene Frage, ob man nicht eine Überkreuzung der Wer- und der Was-Frage bedenken muss. 93 Vgl. die Ansatzpunkte zu einer Revision jener Paraphrasen in einer ansatzweise sozialphilosophischen Perspektive, die sich auf das Selbst als Antwort auf die Frage Wer? konzentriert: C. Taylor, Quellen des Selbst, Frankfurt am Main 1996; v. Verf., »Einleitung. Fragen nach dem Selbst – im Zeichen des Anderen«, in: ders. (Hg.), Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs, Freiburg i. Br., München 1999, S. 11–43; B. Sandkaulen, »Dass, was oder wer?«, in: W. Jaeschke, dies. (Hg.), Friedrich Heinrich Jacobi, Hamburg 2004, S. 217–237; v. Verf., »Das menschliche Selbst in Geschichte und Gegenwart. Eine Bilanz der ›Hermeneutik‹ Michel Foucaults«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie (2008), (i. E.). 92
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II. Kommentierte Brennpunkte 1
Niemandsland zwischen Verrat und Verkündigung. Ilse Aichinger 2
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Versprechen als Taktik: Niccolò Machiavelli
Das Zusammenleben der Menschen unter dem Aspekt seiner Beherrschbarkeit so zu beschreiben, wie es ist, ohne philosophische Voreingenommenheit, das könnte man als das besondere, historisch erstmalige Anliegen Machiavellis verstehen. Deshalb hat man ihm des öfteren die Begründung einer modernen Wissenschaft des politischen Lebens und der Macht zugeschrieben. Demgegenüber hatte man seit der Stiftung Politischer Philosophie in der Antike menschliches Zusammenleben stets im Lichte einer vorausgesetzten teleologischen Bestimmung aufgefasst, die man ihm als von Natur aus innewohnend zuschrieb. Menschen leben, sprechen und handeln demnach letztlich umwillen des Guten oder der Gerechtigkeit, um die es ihnen in ihren Lebensformen (bioi) geht und gehen muss. Man versteht das menschliche Zusammenleben demzufolge überhaupt nicht, wenn man nicht weiß, worum es sich teleologisch dreht. So gesehen liegt in der Koexistenz der Menschen, in ihrem Zusammen-sein, bereits beschlossen, was es realisieren soll. Ein völliges Auseinanderfallen von Sein und Sollen kommt so nicht in Betracht. Zu beobachten sind allenfalls Defizienzen, mangelhafte Verwirklichungen dessen, was als zu Verwirklichendes »an sich«, von Natur aus, bereits feststeht. Tatsächlich, so könnte man Machiavellis Einwurf dagegen paraphrasieren, steht überhaupt nichts dergleichen fest. Das vorausWenn nicht anders vermerkt, beziehen sich bloße Seitenangaben im Text auf die unter den jeweiligen Abschnitten diskutierten Hauptwerke der Autoren, die am Anfang des betreffenden Abschnitts genannt werden. 2 I. Aichinger, Die größere Hoffnung, Frankfurt am Main 1960, S. 56. 1
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Kommentierte Brennpunkte
gesetzte teleologische Wissen ist bloß ein Vorurteil. Nicht nur lässt es sich auf der Basis empirischer Beobachtung nicht bestätigen. 3 Es lässt sich sogar widerlegen. Machiavelli verzichtet dem Anschein nach nicht bloß auf jegliche Anlehnung an teleologisches Denken; er redet auch einem Realismus das Wort, der glauben macht, nur zu registrieren, was man bei nüchterner Betrachtung immer schon hätte feststellen können. So aber kaschiert Machiavelli, dass auch er, nicht weniger als die philosophische Tradition, mit der er zu brechen behauptet, eine perspektivische Art und Weise darlegt, die menschlichen Verhältnisse wahrzunehmen und zu begreifen. Auch im fraglichen Realismus liegt eine theoretische Perspektive – allerdings eine Perspektive, die als solche gerade durch den Anspruch gewissermaßen maskiert ist, die menschlichen Verhältnisse so zu beschreiben, wie sie wirklich sind. Man hat diesen Realismus häufig als einen philosophischen Zynismus beschrieben, der nur darauf hinauszulaufen scheint, eine miserable politische Wirklichkeit fortgesetzten Wortbruchs hinzunehmen und wenn möglich zum eigenen Vorteil zu steuern. 4 Machiavelli scheint sich nicht nur nicht daran zu stören, dass Versprechen nicht als bindend zu betrachten sind. Er beschreibt nicht nur, sondern empfiehlt auch den Wortbruch als eine opportune politische Technik der Aufrechterhaltung von Herrschaft über Andere. Ihn beschäftigt nicht die Frage, ob man sein Wort unter allen Umständen halten sollte, sondern das Problem, ob es klug ist, das zu tun. 5 Er empfiehlt, das Versprechen bloß taktisch einzusetzen: »Ein kluger Herrscher kann und darf […] sein Wort nicht halten, wenn ihm dies zum Schaden gereichen würde und wenn die Gründe weggefallen sind, die ihn zu seinem Versprechen veranlasst haben. Wären die Menschen alle gut, so wäre dieser Vorschlag nicht gut; da sie aber schlecht sind und das gegebene Wort auch nicht halten würden, hast auch du keinen Anlass, es ihnen gegenüber zu halten.« 6 Offensichtlich fungiert als nicht-empirische Prämisse dieses Schlusses, was als eine Art Erfahrungstatsache ausgegeben wird: das Wissen, dass die Menschen schlecht sind. Daraus ergibt sich, was niemals empiEinmal ganz abgesehen davon, ob dieser Anspruch je erhoben worden ist. I. Berlin, »The Originality of Machiavelli«, in: The Proper Study of Mankind, London, Sydney 1998, S. 269–325. 5 Dabei hat sich die Klugheit vom Guten »emanzipiert«; vgl. D. Sternberger, Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt am Main 1984, S. 263 f. 6 N. Machiavelli, Il Principe/Der Fürst, Stuttgart 1986, S. 137. 3 4
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Versprechen als Taktik: Niccolò Machiavelli
risch zu bestätigen ist, sondern durch die Prämisse als bereits generell vorentschieden erscheint, nämlich dass niemand sein Wort halten würde. Daraus soll folgen, dass man sein Versprechen nicht zu halten braucht. Maßstab der Klugheit ist das, was man erreichen will, aber auch das, was man erreichen muss, wenn es gilt, politische Herrschaft aufrecht zu erhalten. Darüber wiederum entscheidet nicht bloß ein appetite for power einiger weniger Machtmenschen, sondern die Aufgabe politisch formierten Zusammenlebens selbst. Sobald und solange es eine politische Lebensform gibt, stellt sich dieses Problem. Und aus Machiavellis Sicht kann man ihm gar nicht ausweichen. Man muss politische Herrschaft ausüben und aufrecht erhalten, andernfalls gibt es überhaupt kein Zusammenleben. »The end is always the same: a State conceived after the analogy of Periclean Athens, or Sparta, but above all the Roman Republic. Such an end, for which men naturally crave […], ›excuses‹ any means; in judging means, look only to the end: if the State goes under, all is lost.« 7 In Wahrheit kommt Machiavelli ohne einen vorausgesetzten Zweck nicht aus, der jede Gewalt zu rechtfertigen scheint. Umwillen der Aufrechterhaltung des Staates ist alles erlaubt. Wer vor durchgreifenden Maßnahmen zurückschreckt, handelt politisch dumm und unrealistisch. Es ist nur klug, diese Einsicht allen politischen Gegnern zu unterstellen. Wer nicht jede Art des Betrugs, jede Art der Intrige und der Gewalt von ihnen erwartet, fällt früher oder später seiner eigenen Naivität zum Opfer. Jeder Andere kann im Prinzip jederzeit zu äußersten Mitteln greifen. Insofern lebt ein politisch Handelnder, der Machiavellis Ratschläge beherzigt, in der Tat in einer »constant expectation of war« im Rahmen einer »Ökonomie der Gewalt«. 8 Der empirische Ton mancher Passagen der Schrift über den Fürsten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Autor festschreibt, was er beschreibt. Menschen können demnach gegenwärtig und in Zukunft nicht umhin, so zu sein, wie er sie zeigt. Und darauf muss sich realistisches politisches Handeln einstellen. Folgt daraus aber (selbst wenn man letzteres zugibt), dass Politik und Ethik fortan getrennte Wege zu gehen haben? Geht im Falle dieser Schlussfolgerung das Beschreiben nicht in ein Festschreiben und schließlich in ein 7 8
I. Berlin, »The Originality of Machiavelli«, S. 307. Ebd., S. 306, 310 f. A
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Vorschreiben über? Und werden diese Übergänge nicht kaschiert von einem vermeintlichen Realismus, der sich darin zu erschöpfen scheint, nur festzustellen, was ist, und klug anrät, sich danach zu richten? 9 Die Form der Klugheit, um die es hier vorrangig geht, dient der sog. »Staatsraison«. 10 Mit diesem Begriff affirmiert man vielfach eine weitgehende Entmoralisierung von Politik, die somit auf eine Technik der Herrschaftssicherung reduziert wird. Es hat den Anschein, als sei diese Klugheit allein von einem politischen Realitätsprinzip diktiert – und als verdiene Politik erst, seit dem man das begriffen hat, wirklich ihren Namen. Politisches Handeln ist demnach ein kluges Verhalten, das auf Machterhalt abzielt und dabei ethisch indifferent sein muss. Jeglicher ethisch motivierte Einspruch dagegen wird zurückgewiesen. Insofern geht es nicht nur um eine Trennung von Politik und Moral, sondern darüber hinaus um die Zurückweisung einer ethischen Motivierung oder Ausrichtung des Politischen generell. Was auch immer die Ethik gelehrt hat, erweist sich als unzureichend, ja zerstörerisch für die Aufrechterhaltung politischer Herrschaft. Ethik, der ein fatales Missverhältnis zur politischen Wirklichkeit zur Last zu legen ist, wird tendenziell zu einer »unklugen« Privatangelegenheit. Sie will nicht wahr haben, wie die Menschen sind und um welchen Preis nur politische Lebensformen kraft der Herrschaft über sie faktisch aufrecht erhalten werden können. Machiavelli hingegen unterstellt, darüber abschließendes Wissen zu haben, und spart nicht mit schonungslosen Einsichten: Dauerhafte Institutionen müssten ggfs. »on the bones of innocent victims« gebaut werden. Es sei nur eine funktionale, keine ethische Frage, »how much vice is needed in order to maintain the state«. 11 Die Frage, ob dieses Ziel seinerseits sinnvoll oder gut ist, diskutiert Machiavelli nicht. Offenbar geht er davon aus, dass sich die Menschen, sobald sie einander ins Gehege kommen, gegenseitig vor eine fatale Machtfrage stellen: »Wer bewirkt, daß ein anderer mächtig wird, der richtet sich selbst zugrunde« (S. 29). Zugespitzt gesagt: wir sind zur kompetitiven Macht verurteilt, ohnmächtig, ihr zu entgehen. Über diese Macht haben wir keine Macht. Um jeden Preis muss Ebd., S. 272, 298, 316. Vgl. H. Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsraison in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987, S. 49. 11 I. Berlin, »The Originality of Machiavelli«, S. 294, 296. 9
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Unbedingte Treue, noch im Krieg: Hugo Grotius
man mit »skrupelloser« Macht überleben oder untergehen, einen dritten Weg gibt es im Grunde nicht – es sei denn, man zieht sich in ein unpolitisches Privatleben zurück, wo auch das gegebene Wort noch etwas gelten mag. Aber was sollte sicherstellen, dass hier wirklich andere Bedingungen gelten? Sich zurückzuziehen bedeutet nicht, sich retten zu können. Das wusste schon der Stoiker Seneca. Warum sollten im Rahmen einer privaten Lebensform, die seit der Antike mit despotischer Herrschaft in Verbindung gebracht wurde, andere Regeln gelten? Herrscht nicht auch im Privatleben eine Art Mikro-Politik? Warum sollte nicht jeder, der Andere zu beherrschen versucht, kein gegebenes Wort als für sich verbindlich betrachten? Und warum sollte man darüber nicht jeden beliebigen Anderen täuschen bzw. täuschen wollen, dem ein Versprechen gegeben wurde? Zweifellos muss die entsprechende Absicht geheim bleiben. Würde sie Anderen bekannt, wäre überhaupt kein Versprechen mehr möglich, denn niemand würde mehr glauben, dass sich derjenige, der es gegeben hat, an es gebunden fühlen wird, wenn es darauf ankommt. Wer andererseits den Vorsatz, weder ein eigenes Versprechen noch das Versprechen irgend eines Anderen als verbindlich zu betrachten, für sich behalten wollte, machte von vornherein jedes Vertrauen unmöglich, da für ihn gewiss wäre, dass jeder bei passender Gelegenheit sein Wort brechen würde. So wird man zum Gefangenen der eigenen, unwiderleglichen Projektion.
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Unbedingte Treue, noch im Krieg: Hugo Grotius
Grotius zitiert Silius Italicus mit den Worten, »dem Feinde [sei] selbst im Krieg sein Wort zu halten«. 12 Was zunächst als Empfehlung einer einzuhaltenden Regel eingestuft wird, führt im zweiten Schritt auf die Spur der Treue als Grund dafür, dass man Wort halten soll und muss. »Hört die Treue auf, so hört auch der menschliche Verkehr auf« (Aristoteles). Auf ihr ruht die menschliche Gemeinschaft. 13 Wer sein Wort nicht hält, zerreißt jegliche Verbindung zwischen den Menschen. Selbst kriegerisch ausgetragene Feindschaft vermeidet es H. Grotius, De jure belli ac pacis. Libri tres [1625], Tübingen 1950, 19. Kapitel, S. 549. Vgl. A. Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft [1767], Frankfurt am Main 1988, S. 362 f. 13 H. Grotius, De jure belli ac pacis, 25. Kapitel, I, S. 597. 12
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normalerweise, so weit zu gehen. Selbst tödliche Gewalt bewirkt nicht unbedingt, was der Wortbruch zur Folge hat: dass das »Band« zwischen den (verfeindeten) Menschen zerreißt. Das Band aber ist die Treue, wie Grotius mit Quintilian sagt: »die Treue ist das höchste Band im Verhältnis der Menschen untereinander; selbst unter Feinden wird die Treue gelobt und heilig gehalten«. Scheinbar bindet die Treue an das Gesagte und kraft des Gesagten an Andere, denen man sein Wort gegeben hat. 14 Doch bleibt man in Wahrheit nur sich selbst treu, wenn man im Verhältnis zum Feind, den man tötet, noch sein Wort hält. Bleibt er aber vorläufig am Leben, so wird umgekehrt jegliches menschliches Verhältnis zu ihm bereits vernichtet, wenn man das ihm gegebene Versprechen gebrochen hat. Schlimmer noch als kriegerische Gewalt, so scheint es, ist diese Vernichtung des menschlichen Verhältnisses. Der Feind, dem man »treu« bleibt (indem man das ihm Zugesagte einhält), ist noch ein Mensch, auch wenn man ihn tötet. »So sagt Ambrosius: ›Es ist klar, daß auch im Kriege die Treue und Gerechtigkeit innegehalten werden muß.‹ Und Augustinus sagt: ›Die versprochene Treue muß auch dem Feinde, gegen den man kämpft, gehalten werden.‹ Denn der Feind hört deshalb nicht auf, ein Mensch zu sein, und alle erwachsenen Menschen können sich durch Versprechen verpflichten.« 15 So erscheint die Treue (zum Gesagten, insbesondere zum Zugesagten) als Grund eines menschlichen Verhältnisses, das auch in der kriegerischen Feindschaft noch bestehen bleiben soll. Andererseits kann sie kein ein für allemal die Menschen verbindendes Band sein, wenn ein solches Verhältnis einerseits im Treuebruch ruiniert werden kann und wenn es andererseits erst hergestellt wird, indem man Anderen Treue verspricht, die in diesem Fall der Gegenstand des Versprechens ist. Keineswegs muss man Anderen Treue versprechen; man muss Als – durchaus offene – Frage taucht diese Überlegung tatsächlich erst nach A. Reinach im Umfeld der modernen Sprechakttheorie auf. Aber der Treue-Grundsatz scheint sie gleichsam vorwegzunehmen. Vgl. Kap. A – I. 15 Vgl. dagegen (im naturrechtlichen Rahmen) E. de Vattel, Le Droit Des Gens [1785], § 158. Dt. Das Völkerrecht oder Grundsätze des Naturrechts angewandt auf das Verhalten und die Angelegenheit der Staaten und Staatsoberhäupter, Tübingen 1959, § 158, S. 447 und § 174, S. 457 über die dem Feind in jedem Falle zu bezeigende menschliche Gesinnung und dagegen S. 525, 383, wo gleichwohl der »unmenschliche Feind« zur Sprache kommt, der »auszutilgen« sei. 14
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Unbedingte Treue, noch im Krieg: Hugo Grotius
ihnen überhaupt nichts versprechen. Aber wenn man ihnen etwas verspricht, muss man Wort halten. Man ist zur Treue (d. h. hier: zur Verbindlichkeit des Versprochenen) verpflichtet, die »aus der Gemeinschaft der Vernunft und der Sprache entspringt«. »Wenn es auch nach allgemeiner Ansicht erlaubt ist und nicht als Verbrechen gilt, den Feind zu täuschen, so folgt daraus noch nicht, daß das gegebene Versprechen gebrochen werden darf; denn die Pflicht zur Wahrheit ist älter als der Krieg und kann durch diesen wohl beschränkt werden; aber das Versprechen gewährt ein besonderes Recht« (S. 549; Hervorhebg. B. L.). Was auch immer konkret versprochen wird, die Treue wird, wenn sie nicht explizit Gegenstand des Versprechens ist, im Zugesagten gleichsam mit versprochen. So besteht die Pflicht zur Wahrheit »immer schon«, kraft einer ursprünglichen, dem Krieg scheinbar entzogenen Gemeinschaft. Die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes geht insofern dem Krieg voraus. Kann der Krieg sie nur verletzen oder aber sogar zerstören, wenn man Treue zum Versprochenen nicht übt, wenn man also sein Wort bricht, so dass auf diese Gemeinschaft angesichts der Gewalt und in der tödlichen Gewalt keinerlei Verlass mehr ist? Solange die Gegner »immerhin Menschen« sind, erwächst aus jedem gegebenen Wort Verbindlichkeit (auch wenn es sich nicht um einen förmlichen Vertrag handelt), wenn wir der naturrechtlichen Auffassung folgen. Diese bereits mit der »natürlichen« Pflicht zur Wahrheit oder Treue zwischen ihnen »gegebene« Verbindlichkeit ist Teil des sog. Naturrechts, also des Rechts, das den Menschen gegeneinander von Natur aus, weil sie Menschen sind, zusteht und das ihnen entsprechende Pflichten auferlegt. 16 Muss man also selbst Räubern gegenüber sein Wort halten? Vor dieser Konsequenz scheut Grotius dann doch zurück: Selbst wer sein Versprechen beeidet und sich »nicht einem Menschen, sondern Gott verpflichtet« hat, braucht keine Strafe zu fürchten, wenn er dem Verbrecher gegenüber sein Wort bricht, »weil es den Völkern aus Haß gegen die Räuber gefallen hat, selbst das gegen sie begangene Unrecht nicht zu beachten«. 17 Immerhin ist hier auch dann von einem So gesehen wäre weiter zu fragen, ob die naturrechtliche Begründung der Verbindlichkeit des gegebenen Wortes nicht gerade jede Rücksicht auf den Anderen als Anderen unterdrückt, folgt die Verbindlichkeit doch allein aus der Geltung des Naturrechts selbst. Vgl. G. Hoffmann-Loerzer, »Grotius«, in: H. Maier, R. Rausch, H. Denzer (Hg.), Klassiker des politischen Denkens, München 1968, S. 293–320. 17 H. Grotius, De jure belli ac pacis, S. 550 f., Abschnitte II und V. 16
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Unrecht die Rede, wenn man sein Wort einem Verbrecher oder infamen Menschen gegenüber nicht hält. Unter gewissen Umständen wird also die naturrechtlich vorgegebene Pflicht der Treue zum gegebenen Wort ignoriert, obwohl sie für eine unzerreißbare Verbindung zwischen den Menschen zu steht scheint. 18 Wer aber ist ein Mensch in dem Sinne, dass man ihm Treue schuldig ist? Nur derjenige, der der eigenen politischen Lebensform zugehört, wie es sich Aristoteles vorstellte? Demnach wäre man Unzugehörigen, Fremden und all jenen, die nicht im vollen Sinne als Menschen gelten, nicht schuldig, dass man sein Wort hält. Erst recht nicht denen gegenüber, die ihr menschliches Sein verwirkt haben. Grotius hält dagegen: »Selbst dem Sklaven muß Wort gehalten werden« (S. 556, VI). Wenn die Menschen Anderen gegenüber nicht Wort halten, gleichen sie »wilden Tieren, deren Gewalt doch alle verabscheuen« (S. 597). Das gebrochene Wort zerstört nicht das Sprechenkönnen, auf dem die menschliche Gemeinschaft beruhen soll. Gleichwohl macht es scheinbar sprachlos, weil auf Zugesagtes im Sinne der Treue keinerlei Verlass mehr ist. Die Gewalt des gebrochenen Wortes hat zur Folge, dass nichts Gesagtes oder Zugesagtes mehr angenommen wird. So wird man gleichsam sprachlos in der Sprache. Wilder Gewalt aber liefern sich nicht nur infame Menschen aus, die kaum mehr als solche gelten dürfen, sondern auch diejenigen, die ihr Wort nicht halten. Nicht nur sprachlose Tiere, auch sprechende Lebewesen, deren (gegebenes) Wort nichts mehr gilt und nicht mehr abgenommen wird, ziehen sich so gesehen solche Gewalt zu.
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Nichts als Worte – im Blick des Souveräns: Thomas Hobbes
Machiavelli »hatte den Kontinent entdeckt, auf dem Hobbes seinen Bau errichten konnte«. Wie ersterer verwirft er den klassischen Primat der Frage, wie die Menschen (zusammen) leben sollten. »Der richtige Weg zur Beantwortung der Frage nach der rechten GesellAuch für C. Thomasius bewährt sich diese Verbindung keineswegs immer. Denn unter Umständen zählen Andere nicht mehr als Menschen, wie er am Beispiel der Seeräuber zeigt; vgl. in der Göttlichen Rechtsgelahrtheit [1709], Hildesheim, Zürich, New York 2001, S. 201. Thomasius zufolge gibt es »Feinde aller Menschen« (wie die Seeräuber), denen gegenüber das »Gesetz der Natur« (d. h. das Naturrecht) nicht gilt.
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schaftsordnung besteht in einer Orientierung an dem, wie der Mensch tatsächlich lebt« 19 – nämlich im Zeichen der Furcht vor gewaltsamem Tod. 20 Können politische Institutionen versprechen, diese Furcht zu bannen, soweit sie von Anderen ausgeht (L, S. 83)? In dieser Frage verknüpft Hobbes seine eigene Biographie mit der zeitgenössischen politischen Erfahrung einer weitgehenden Entsicherung der Lebensverhältnisse im Bürgerkrieg seiner Zeit. Inspiriert von der resolutiv-kompositiven Methode Galileis (L, S. LXV 21 ) versucht er, diese Frage im Zuge eines radikalen fiktiven Modellversuchs zu beantworten. Hobbes schlägt vor, das gesellschaftliche Leben als völlig aufgelöst, d. h. als reduziert auf »Elemente« und deren Beziehungen zu betrachten, aus denen es sich zusammensetzt. Eine quasi-geometrische Konstruktion soll dann zeigen, wie diese Elemente nachträglich in einen Zustand der Vergesellschaftung eintreten können. Für sich genommen handelt es sich um Lebewesen, die unbedingt an ihrer Selbsterhaltung interessiert sind. Treten sie in Kontakt mit einander, so müssen sie umwillen der Selbsterhaltung nach Macht streben, selbst wenn es sie nach ihr nicht gelüstet, denn die wachsende Macht Anderer droht mit der Selbsterhaltung in Konflikt zu geraten. Man fürchtet, entweder unterworfen oder getötet zu werden. Jeder nimmt jeden Anderen als potenziell tödliche Bedrohung wahr. Darin liegt die fundamentale Gleichheit der Menschen, die sich in ihrer schieren Koexistenz rückhaltlos verletzender und vernichtender Gewalt exponiert wissen – d. h. auch dann, wenn niemand sie aktuell bedroht. Das bedeutet, dass sie einander unentwegt misstrauen. »Und wegen dieses gegenseitigen Misstrauens gibt es für niemanden einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie die Vorbeugung, das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu unterwerfen« (L, S. 95). Vermag die Sprache angesichts dieser niemals genügenden Vorbeugung, die eine Eskalation der Maßnahmen, mit denen man der angeblich stets wachsenden Macht Anderer zuvorzukommen sucht, Vgl. L. Strauss, Naturrecht und Geschichte, Frankfurt am Main 2 1989, S. 184. T. Hobbes, Leviathan, Frankfurt am Main 1984, Kap. 12, S. 82 ff. (= L), siehe auch Anm. 52 zu Kapitel B – I. 21 E. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1973; C. B. MacPherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus [1962], Frankfurt am Main 2 1980, S. 44, 119 f. 19 20
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zur Sicherung gegen die Gewalt beizutragen? Nachdem Hobbes die Menschen fiktiv in den sog. Naturzustand versetzt hat, in dem alle sozialen und politischen Verbindungen zwischen ihnen aufgelöst zu denken sind, erwägt er, ob sich die Misere einer ständigen Befürchtung und Vorbereitung des »Ernstfalls« aufheben ließe, in dem einer dem anderen Gewalt antut. 22 Diese Misere bedeutet für Hobbes bereits Krieg, der aber »nicht in tatsächlichen Kampfhandlungen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit [besteht], in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann« (L, S. 96). Kann man nicht zum gegenseitigen Vorteil einander versprechen, diesen Zustand aufheben zu wollen? Wäre nicht ein kollektives Versprechen in der Form eines Vertrages denkbar, der den Naturzustand als Kriegszustand in einem befriedeten gesellschaftlichen Leben liquidieren würde? Tatsächlich glaubt Hobbes, dass auch im Naturzustand, wo die Menschen scheinbar noch nichts oder nichts mehr verbindet, Verträge möglich sind. Als isoliert gedachte »Elemente« können Menschen seinem resolutiv-kompositiven Modell zufolge immerhin sprechen und sogar einander etwas zusagen. Und sie müssen kraft eines Versprechens oder Übereinkommens eine Verbindlichkeit originär stiften, die nicht ihrerseits wiederum auf eine bereits gegebene politische Ordnung oder soziale Verbindung zwischen ihnen zu stützen ist. Selbst Verträge, die nur »aus Furcht geschlossen worden sind, verpflichten«, auch einem Feind gegenüber (L, S. 106). Aber weder einseitige noch gegenseitige Versprechen gewähren wirklich die Sicherheit, dass sie erfüllt werden, »wenn keine bürgerliche Gewalt über den versprechenden Parteien errichtet ist« (L, S. 112). Erst wenn eine solche, souveräne Gewalt autorisiert worden ist, und zwar ein für allemal, so dass jedes Widerstandsrecht gegen sie erlischt 23 , gibt Vgl. I. Fetscher, »Der gesellschaftliche ›Naturzustand‹ und das Menschenbild bei Hobbes, Pufendorf, Cumberland und Rousseau«, Schmollers Jahrbuch 80/II, Nr. 6 (1960), S. 641–685. Hier wird deutlich, dass die Ungeselligkeit, die Hobbes beschreibt, weniger als ursprüngliche A-Sozialität, sondern viel mehr als Anti-Sozialität in der Sozialität zu verstehen ist, die keineswegs eine bloß fiktiv angenommene Vorstufe in sich aufhebt. 23 T. Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, Hamburg 1959 (= MB). Die einzige Ausnahme gibt der Abschnitt 18 an: »Niemand ist durch irgend einen Vertrag verpflichtet, dem, der ihn töten oder verwunden oder sonst verletzen will, keinen Widerstand zu leisten […]« (ebd., S. 94). Im Übrigen ist auf das gegebene Wort der souveränen Machtinstanz selbst kein Verlass, wie B. de Spinoza in seinem Theologisch-politischen Traktat (Hamburg 1976, S. XVI, 241 f.) feststellt. Das gilt auch zwischen verschiedenen Regie22
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es eine Garantie – vorausgesetzt, diese Gewalt registriert jedes Versprechen und vermag ihre Einhaltung zu überwachen. Diese Autorisierung denkt Hobbes als einen in die Form des Vertrages gemünzten Ausdruck des Willens aller, sich souveräner Herrschaft zu unterwerfen. Ist eine solche Form politischer Herrschaft erst einmal etabliert, gelten freilich andere Bedingungen. Die Macht des Souveräns soll das unbeschränkte Misstrauen angesichts des Gewaltpotenzials Anderer in Schach halten können, so dass Vertrauen und Treue möglich werden. Hobbes geht so weit, zu behaupten, unter dieser Voraussetzung sei »Treue […] das allein Bindende« (MB, S. 94). Und doch scheint ihm die »Kraft von Worten […] zu schwach […], um die Menschen zur Erfüllung ihrer Verträge anzuhalten«. Dagegen gebe es »in der menschlichen Natur nur zwei denkbare Hilfsmittel zu ihrer Stärkung, und diese sind einmal die Furcht vor den Folgen eines Wortbruchs, oder aber das Gefühl des Ruhms oder Stolzes, als jemand dazustehen, der einen Wortbruch nicht nötig hat« (L, S. 108). Weder auf das gegebene Wort als solches noch auf denjenigen, der es gegeben hat, ist ohne weiteres Verlass. Nur derjenige, der sich nach dem Eintritt in das äußerlich, durch souveräne Herrschaft befriedete gesellschaftliche Leben von der Reputation in den Augen Anderer abhängig macht, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit sein Versprechen halten. Aufgrund seiner anthropologischen Reflexion der Beschaffenheit menschlicher Lebewesen glaubt Hobbes allerdings zeigen zu können, dass zur Furcht voreinander im politischen Leben ein unstillbares Verlangen nach Glück hinzutritt, das solange andauert, wie ihm nichts im Wege steht. Dieses Verlangen manifestiere sich wiederum im »rastlosen Verlangen nach immer neuer Macht«, da nicht einmal die Mittel zu einem halbwegs »angenehmen Leben« auf Dauer sicherzustellen sind »ohne den Erwerb von zusätzlicher rungsgewalten im Hinblick auf die Verträge, die sie miteinander schließen. »Nur ein Tor, der das Recht der höchsten Gewalten nicht kennt, wird sich auf die Worte und Versprechungen dessen verlassen, der die höchste Gewalt in Händen hat und das Recht, zu tun was er will, und dem das Wohl und der Nutzen seiner Regierung höchstes Gesetz sein muß.« Der Inhaber dieser Gewalt würde Spinoza zufolge geradezu ein »Verbrechen« begehen, »wollte er zum Schaden seiner Regierung Versprechen halten«. Sobald er »etwas versprochen hat, von dem er einsieht, daß es seiner Regierung Schaden bringt, so darf er es nicht halten; sonst bricht er seinen Untertanen die Treue, zu der er doch in erster Linie verpflichtet ist, und die zu halten in der Regel heilig gesprochen wird.« A
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Macht« (L, 11. Kapitel). So sind alle im Modus einer komparativen Existenz, die ständig zum Vergleich mit Anderen zwingt, wiederum einer kompetitiven Macht unterworfen, der niemand entkommen kann. Deshalb nährt das gesellschaftliche Leben den generalisierten Verdacht, übervorteilt zu werden. Wie sollte da je auf das Wort eines Anderen Verlass sein, zumal wenn es dem Blick souveräner Herrschaft entgeht? Diese Überlegung mag Hobbes dazu bewogen haben, den Eid als Bekräftigung des Versprechens in Betracht zu ziehen. »Der Eid ist die einem Versprechen hinzugefügte Rede, durch welche der Versprechende erklärt, daß er, wenn er nicht Wort halte, auf die Barmherzigkeit Gottes verzichte.« Der Eid sei »eingeführt worden«, meint Hobbes, »damit durch die Rücksicht auf die göttliche Macht und durch die religiöse Scheu eine größere Furcht, das Versprechen zu verletzen, eingeimpft werde, als man vor den Menschen hat, denen unsere Werke verborgen bleiben können« (MB, S. 96). Hobbes spricht sich nicht dafür aus, dem Anderen zu vertrauen für den Fall, dass dieser keine Sanktionen für ein gebrochenes Versprechen erwarten muss. Vielmehr setzt er auf die Furcht des Anderen unter dem alles durchdringenden Blick Gottes, der auch ins Verborgene sieht. Allerdings wird »durch den Eid bei einem Gott, an den man nicht glaubt und den man daher auch nicht fürchtet, […] niemand gebunden«. Wie kann man aber wissen, ob den Versprechenden wenigstens die Furcht vor Gott bewegt? Überhaupt nicht. Im Übrigen ist der Eid (und im Grunde jede zusätzliche Versicherung, dass man Wort halten werde) eigentlich überflüssig, meint Hobbes. Denn der Eid bezieht sich auf die göttliche Strafe, die man nicht herausfordern könnte, wenn die Verletzung eines Vertrages (oder auch eines Versprechens) »nicht an sich unerlaubt wäre«. »Die Wirkung des Eides ist daher nur die, daß die von Natur zum Treubruch neigenden Menschen durch den Schwur größeren Anlaß zur Furcht haben.« 24 Aber man kann niemals wissen, ob sie ihr Versprechen wirklich in dieser Scheu abgeben. Auch der Eid kann in dieser Hinsicht täuschen. Wer Gott als absoluten Zeugen anruft, verschafft dem Anderen keine Gewissheit, so dass dieser auf ein prekäres Vertrauen angewiesen bleibt: Entweder vertraut er auf die Gottesfürchtigkeit des Versprechenden (wenn schon nicht auf dessen bloße Aufrichtigkeit), oder er vertraut auf dessen Furcht vor den genannten sozialen Kon24
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Von Natur aus verbunden: Samuel v. Pufendorf
sequenzen eines Wortbruchs, oder auf den Stolz des Anderen, es nicht nötig zu haben, sein Wort zu brechen. In jedem Fall gilt das Vertrauen nicht eigentlich dem Versprechenden selbst und seiner Person als »Urheber« des gegebenen Wortes (MB, S. 54). Ob er »wirklich« sein Wort gibt und sich daran gebunden fühlen wird, bleibt für jeden Anderen ebenso unkalkulierbar wie für den politischen Souverän. Selbst als »Erbe« eines göttlichen Blicks 25, der ins Verborgene sieht, hat er keine Einsicht in die Vertrauenswürdigkeit derer, die Anderen zumuten, ihnen ein gegebenes Wort abzunehmen.
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Von Natur aus verbunden: Samuel v. Pufendorf
Gegenwärtig herrsche so viel Hass unter den Menschen, »daß es viele gibt, die nicht zögern, aus blankem Neid oder aus der Gier nach dem Vermögen eines anderen, ihre Mitmenschen, […] auch Freunde und sogar solche, die sich um sie sehr verdient gemacht haben, zu vernichten«, stellt Samuel v. Pufendorf in seiner 1673 veröffentlichten Schrift Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur fest. 26 Derart beunruhigt von einer drohenden Zerstörung menschlicher Gemeinschaft fragt Pufendorf unentwegt, was ihr standzuhalten verspricht. Dabei steht das gegebene Wort mit an erster Stelle. Pufendorf vertraut ebenfalls nicht auf religiöse Beteuerungsformeln, »kraft derer wir für den Fall, daß wir eine Unwahrheit sagen, auf die Gnade Gottes verzichten oder die Strafe Gottes herausfordern«. Zwar wird »der Allmächtige gleichzeitig als Zeuge und als Rächer angerufen«, so dass sich »zwingend eine Vermutung für die Wahrheit der Worte« ergibt, die jemand »bei Gott« beeidet. Aber der Eid setzt schon voraus, dass es ein Vergehen wäre, etwa das im Versprechen Zugesagte nicht einzulösen. Keine noch so heilige Beschwörung ändert insofern etwas am Wesen des Versprechens oder des Vertrages als eines gegenseitigen Versprechens. »Ein bedingtes Versprechen wird durch einen Eid nicht zu einem unbedingten oder vorbehaltslosen. Und auch beim beeideten Versprechen besteht das Erfordernis der Annahme« (S. 103). Ohnehin erscheint es Pufendorf als durchaus fraglich, ob alle Vgl. M. Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004. S. v. Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur [1673], Frankfurt am Main 1994, S. 17.
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Menschen Gott fürchten oder zu fürchten haben. Wer Gott auch für den Fall des Wortbruchs nicht fürchtet, hat nur den Tod zu scheuen, »wer aber den Tod verachtet, der kann sich alles herausnehmen« (S. 56). Wer um sein Leben diesseits oder jenseits des Todes nicht fürchtet, kann sich demzufolge auch von jeglicher menschlichen Gemeinschaft entbinden. Einerseits wäre der Mensch »ohne Religion […] kein für die Gemeinschaft geschaffenes Wesen« (S. 50). Andererseits ist niemand zur Religiosität verurteilt. So baut Pufendorf vor allem auf das »Licht der Vernunft«, das in vernünftiger Einsicht zeigen soll, »was dazu befähigt, in Gemeinschaft zu leben«. Und das ist das auf irdisches Leben beschränkte, »allen Völkern gemeinsame« Naturrecht, das Ordnung und Sittlichkeit durch eine Norm bzw. durch ein »rechtliches Band« gewährleisten soll (S. 13 ff., 38). 27 Das Naturrecht wird wiederum einem fiktiven Naturzustand entgegengesetzt, in dem sich Pufendorf »vereinzelte Menschen« vorstellt, die zwar einer gemeinsamen Natur teilhaftig, im Übrigen aber einander »in nichts verpflichtet« sind (S. 142). Im Naturzustand kann keine Befehlsgewalt die Erfüllung von Versprechen erzwingen (S. 145). Insofern erscheint es »nützlich«, aus diesem Zustand herauszutreten. Das Naturrecht soll in dieser Perspektive einen als vernünftig einsichtigen Ausweg aus der (fiktiv bedachten) Natur des auf sich allein gestellten, vereinzelten Menschen garantieren. Der derart vereinzelt vorgestellte Mensch bedarf eines solchen Auswegs, weil kein Lebewesen schwächer ist als der Mensch bei Geburt. Seine ursprüngliche Hilflosigkeit zwingt ihn dazu, »am meisten auf seine Selbsterhaltung bedacht« zu sein, aber mit Hilfe Anderer, die ihn zugleich auch am meisten bedrohen (S. 45, 47). So stellt sich einerseits die Frage, wie der Staat Schutz bieten kann gegen das Übel, das von Anderen droht (S. 161); andererseits geht es darum, wie sich jeder betragen muss, um ein nützliches Mitglied einer staatlich formierten Gemeinschaft zu sein und zu bleiben. Beides soll das Naturrecht zeigen (S. 48), das zunächst von dem minimalen Anspruch des Verletzungsverbots ausgeht. Ohne Beachtung dieses Verbots kann überhaupt keine menschliche Gemeinschaft bestehen. Insofern bedeutet es die erste und wichtigste »absolute Pflicht« aller Menschen. 28 Andererseits soll das Naturrecht aber aus dem Gebot der Nächstenliebe resultieren, das für Pufendorf dazu aufruft, in rechter Gemeinschaft (socialitas) zusammen zu leben (S. 18). 28 Schon Epikur hat das gegenseitige Versprechen, einander nicht zu schädigen, als Fra27
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Von Natur aus verbunden: Samuel v. Pufendorf
Pufendorf begreift absolute Pflichten als »allen gemeinsame Verbindlichkeit, wodurch der Schöpfer alle Menschen ohne weitere Voraussetzung miteinander verbinden wollte«. 29 Sie sind »jedem Beliebigen«, auch Fremden gegenüber zu erfüllen, wohingegen hypothetische Pflichten nur gegenüber Anderen gelten, mit denen man bereits in einem bestimmten Verhältnis steht. 30 Absolute Pflichten definieren also eine »geschöpfliche«, gar nicht den Menschen selbst zu verdankende, immer schon bestehende Verbundenheit, von der sie sich allerdings absolvieren können. In diesem Falle würden sie nach Pufendorfs Ansicht nicht mehr einsehen, dass man »niemandem Schaden zufügen« soll. 31 »Das ist die umfassendste Pflicht, die alle ge einer elementaren Gerechtigkeit begriffen. Es ist ein Desiderat, neu zu klären, ob nicht das Sokrates zugeschriebene (implizite) Versprechen, als Bürger (nach den Regeln und Gesetzen der polis) zu leben, als primäres Versprechen des Gewalt-Verzichts zu rekonstruieren wäre. Mit Bezügen auf die Geschichte des vertragstheoretischen Denkens, das hier nur gestreift wird, vgl. dazu W. Kersting, »Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag«, in: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 901–954, hier: S. 905. 29 So besteht die besagte Verbindlichkeit auch hier nicht direkt zwischen den Menschen selbst, sondern nur durch den vermittelnden Dritten, als der hier Gott figuriert. 30 Alle diese Pflichten müssen in der Sicht Pufendorfs auf einen »stillschweigend geschlossenen« Vertrag sich stützen. Damit die »zwischenmenschlichen Pflichten, die eine Folge des Zusammenlebens in der Gesellschaft sind, um so regelmäßiger und nach festen Normen erfüllt werden, ist es notwendig, daß die Menschen Verträge miteinander abschließen über den Austausch von gegenseitigen Leistungen, die sie allein nach dem Gesetz der Menschlichkeit sich nicht einseitig von anderen versprechen lassen können. Deswegen war im vorhinein festzulegen, was der eine dem anderen gewähren solle, und was er wiederum von ihm erwarten und nach den Regeln des Rechts fordern könne. Und gerade das geschieht durch Versprechen und Verträge.« Beide Formen verbindlicher Vereinbarung setzen aber ihrerseits voraus, »daß jeder ein gegebenes Treueversprechen hält oder Versprechen und Verträge erfülle. Ohne dies nämlich ging[e] der größte Teil des Nutzens verloren, der sich für die Menschen durch Austausch von Diensten und Sachen ergeben kann« (S. 87). Jegliches durch bedingte Pflichten geregelte Zusammenleben setzt also voraus, dass man sich verbindlich etwas zusagen kann, um es zu regeln. Sich an die entsprechenden Regeln und Normen zu halten, sollte man versprechen im Interesse eines guten Zusammenlebens, das im Vergleich zum Naturzustand entschiedene Vorteile hat. Wenn aber dieses Interesse nicht vorausgesetzt werden kann, ist es um die Verbindlichkeit von Verträgen und Versprechen schlecht bestellt. In der Folge diskutiert Pufendorf Typen des Versprechens, die nicht für das Zusammenleben selbst konstitutiv sind, sondern in einer bereits vergemeinschafteten bzw. staatlich formierten Lebensform von Bedeutung sind. Dazu zählen einseitige Versprechen derer, die besonderes Ansehen genießen, ohne sich darum im Geringsten auf rechtliche Verpflichtungen einlassen zu wollen (S. 88), sowie unbedingte und reine Versprechen, die allesamt der Annahme bedürfen (S. 93). 31 Allerdings wäre es zu wenig, Andere nur nicht verletzen oder verachten zu wollen A
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Menschen als solche trifft. Sie ist aber auch am leichtesten zu erfüllen, da sie lediglich in der Unterlassung einer Handlung besteht. […] Aber sie ist auch die bei weitem wichtigste Pflicht, weil ohne sie das Leben der Menschen in der Gemeinschaft keinen Bestand haben kann« (S. 72). Das Nicht-schaden-sollen bezieht sich zunächst lediglich auf den Körper jedes Anderen, gegen den keine physisch verletzende Gewalt verübt werden soll, und auf seinen rechtmäßigen Besitz. In beiden Hinsichten zeigt sich der »Wille der Natur«, da »die Natur selbst will, daß zwischen den Menschen ein Band der Verwandtschaft besteht, kraft dessen es ein Unrecht ist, anderen zu schaden« (S. 146). Diese Norm soll angesichts aller Menschen gleichermaßen gelten. 32 Wer sie bestreitet oder sich über sie hinwegsetzt, läuft Gefahr, sich selbst aus der naturgegebenen menschlichen Gemeinschaft auszuschließen. Von Natur aus sind die Menschen keineswegs auf unverbrüchliche Art und Weise vergemeinschaftet. Auch der Friede einer dem Anschein nach stabilen Gemeinschaft kann im Prinzip »jederzeit in Krieg umschlagen«, in dem sich zeigt, dass »kein Tier wilder oder ungezähmter« ist als der Mensch (S. 146, 160), der die mutwillige Schädigung Anderer weder vermeidet noch überhaupt als Unrecht einstuft. So droht der innere wie der äußere Krieg alle absoluten Pflichten und damit die minimale natürliche Verbundenheit der in ihn verstrickten Menschen zu zerstören. Gebrochene Versprechen liefern vielfach Kriegsgründe. Andererseits sind Kriege aber nur durch vertragsmäßige Versprechen zu beenden, sofern die Krieg führenden Parteien ihm nicht so weit verfallen sind, dass sie einander nichts mehr verbindlich zusagen können. Im Krieg plant der Feind das Verderben des Anderen, für den sich deshalb die Frage stellt, was man dem Feind antun darf, wenn man »die Gebote der Menschlichkeit wahren« will, die es gebieten, selbst im Extremfall äußerster Gewalt niemandem mehr zu schaden, als es die eigene Verteidigung »oder die Durchsetzung unseres (S. 82). Positive Pflichten, auf denen die Gestaltung des Zusammenlebens beruht, sind so nicht zureichend zu begründen. 32 Darin liegt die Würde jedes Anderen als eines Menschen (S. 78). Zum historischen Kontext »menschenrechtlicher Sensibilisierungsprozesse«, die auf ein universales Recht auf körperliche Unversehrtheit hinauslaufen, vgl. S. van der Walt, »Einleitung«, in: dies., C. Menke (Hg.), Die Unversehrtheit des Körpers. Geschichte und Theorie eines elementaren Menschenrechts, Frankfurt am Main 2007, S. 7–24.
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Versprechen – bloß als Mensch: John Locke
Rechts und auch die künftige Sicherheit« erforderlich machen. Pufendorfs Konsequenz ist eindeutig: »auf keinen Fall darf man bei Zusagen und Absprachen eine Täuschung begehen« (S. 203). Würde das in der kriegerischen Gewalt gegebene Wort nicht verlässlich zählen, dann würde man auch keinen Krieg mehr beenden können (sofern er nicht aus Gründen schierer Erschöpfung oder friktionsbedingt von selbst aufhört). Selbst denen gegenüber, die alle absoluten Pflichten ignorieren und im Krieg exzessiv Andere derart schädigen, dass überhaupt keine natürliche Gemeinschaft mehr Bestand zu haben scheint, muss man sein Wort geben und halten können. Andernfalls liefert man sich der Gewalt schicksalhaft aus, in der keine absolute Pflicht oder Verbundenheit der Menschen Bestand hat. Nur wenn man einander gleichwohl noch etwas zusagen kann, besteht die Möglichkeit der Wiederherstellung einer Gemeinschaft, der man bloß als Mensch keineswegs ein für allemal angehört.
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Versprechen – bloß als Mensch: John Locke
Auch Locke bewegt die Frage, wie ausgehend von einem prä-politischen Status die Einrichtung eines befriedeten Zusammenlebens möglich ist. 33 Auch Locke bezeichnet diesen Status als einen Naturzustand, versteht diesen aber anders als Hobbes nicht als rückhaltlose Auslieferung an die von Anderen zu gewärtigende tödliche Gewalt. Im Naturzustand leben voneinander unabhängig gedachte, freie Person, die uneingeschränktes Recht auf alles haben, was sie mit ihren Händen erwirtschaften (ÜR, S. 5, 22, 35). In dieser Hinsicht sind sie gleich – und keineswegs zur Gewalt gegeneinander verurteilt. Der Naturzustand schlägt in einen Kriegszustand erst um, wenn einer sich entschließt, »gegen die Person eines anderen Gewalt zu gebrauchen« (ÜR, S. 19). Vor allem die Einsicht, dass das eigene Eigentum dagegen auf Dauer nicht zu sichern ist, motiviert dazu, den Naturzustand zu verlassen. Das geschieht, wenn man übereinkommt, »in eine Gesellschaft einzutreten und einen politischen Körper zu bilden« (ÜR, S. 13, 74 f.). Umwillen des Eigentumsschutzes, »in dem Vertrauen, daß nach festen Gesetzen regiert werde« (ÜR, S. 105), J. Locke, Über die Regierung, Stuttgart 1992 (= ÜR). Zum historischen Kontext der hier einfließenden »Arbeitstheorie des Eigentums« vgl. M. Brocker, Arbeit und Eigentum, Darmstadt 1992.
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muss man bereit sein, die eigene Freiheit insoweit einzuschränken. Nach dem Eintritt in die Gesellschaft bzw. in den Staat durch »positive Verpflichtung und explizites Versprechen« soll es niemandem mehr frei stehen, diese Einschränkung zu widerrufen (ÜR, S. 95). 34 »Von allen Menschen, die sich aus dem Naturzustand zu einer Gemeinschaft vereinigen, muß daher vorausgesetzt werden, daß sie die ganze Gewalt, die für das Ziel ihrer Vereinigung in die Gesellschaft notwendig ist, an die Mehrheit jener Gesellschaft abgeben […]. Und dies geschieht mit der bloßen Übereinkunft, sich zu einer politischen Gemeinschaft zu vereinigen – was schon den ganzen Vertrag ausmacht, der zwischen den Individuen, die in das Staatswesen eintreten oder es begründen, geschlossen wird und notwendig ist. So ist der Anfang und die tatsächliche Begründung einer politischen Gesellschaft nichts anderes als die Übereinkunft einer der Mehrheitsbildung fähigen Anzahl freier Menschen, sich zu vereinigen und sich einer solchen Gesellschaft einzugliedern. Dies und einzig dies gab oder vermochte den Anfang zu geben für jede rechtmäßige Regierung auf der Welt« (ÜR, S. 76). Ursprünglich war die ganze Welt ein Amerika – ein weites, freies Land, in dem sich voneinander unabhängige Eigentümer aus eigenem Entschluss politisch vereinigen konnten. Tatsächlich aber weiß man in der Regel nichts von der »Geburt« eines politischen Gemeinwesens. Denn »die Menschen beginnen erst dann nach der Geschichte ihrer Gründer zu fragen und nach ihrem Ursprung zu forschen, wenn die Erinnerung daran schon längst überlebt ist« (ÜR, S. 77, 81). Der typische Regelfall ist gerade nicht die Neugründung eines politischen Gemeinwesens 35, sondern das ungefragte Hineinwachsen in eines und der Eintritt von außen in ein bereits bestehendes. Deshalb fragt sich Locke, inwieweit die fortgesetzte Teilnahme am bereits politisch formierten Leben als »stillschweigende Zustimmung« zu deuten ist und in welchen Fällen sie in Frage gestellt wird (ÜR, S. 92). 36 Bei Descartes lesen wir dagegen, alle Versprechen, »durch die man seine Freiheit irgendwie beeinträchtigt«, seien als Maßlosigkeiten zu betrachten. Œuvres (Hg. C. Adam, P. Tannery), Paris 1897–1913, T. VI, S. 23 f. 35 Unter einem Staat (commonwealth) will Locke »jedwede unabhängige Gemeinschaft« verstehen, d. h. das, »was die Römer als civitas bezeichneten« – im Gegensatz zu community oder city als Begriffen, die für »untergeordnete Gemeinschaften unter einer Regierung stehen« (ÜR, S. 100). 36 Oft wird (wie schon bei Hume, »Über den ursprünglichen Vertrag«, s. u. Anm. 38) in diesem Zusammenhang auf Sokrates’ (in Platons Kriton, 44 c ff., erwähnte) Erklärung 34
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Versprechen als Konvention: David Hume
Der wichtigste Fall tritt dann ein, wenn die höchste Gewalt im Gemeinwesen, die »treuhänderisch« für es handeln sollte, das in sie gesetzte Vertrauen enttäuscht oder verrät, so dass Gegengewalt gerechtfertigt erscheint (ÜR, S. 114, 119). Wenn die höchste Gewalt »Gewalt ohne Recht« gebraucht, erzeugt sie den Kriegszustand und entbindet am Ende von allen menschlichen Pflichten und Rücksichtnahmen. Die für die Gewalt Verantwortlichen können »vernichtet werden wie irgendein wildes, reißendes Tier« (ÜR, S. 14, 140, 175). So entbindet ungerechtfertigte Gewalt auch von jedem Wort, das man unter ihrem Einfluss gegeben hat. »Gewaltsam und ohne alles Recht erzwungene Versprechen […] binden überhaupt nicht« (ÜR, S. 144). Demgegenüber kann man bereits im Naturzustand sein Wort geben und dabei das Vertrauen Anderer in Anspruch nehmen, denn Wahrheit und Treue, die dazu erforderlich sind, zeichnen »den Menschen als Menschen [aus] und nicht als Glied der Gesellschaft« (ÜR, S. 13; Hervorhebg. B. L.). Allerdings will Locke u. a. Atheisten davon ausgenommen wissen. Sie haben seiner Meinung nach auch keinen Anspruch auf Toleranz in einem politischen Gemeinwesen. »Sie sind nicht versprechens-, vertrags- und eidesfähig« – denn »wer Gott abschafft, löst alles auf«, auch jede menschliche Bindung und Verbindlichkeit, glaubt Locke. 37
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Versprechen als Konvention: David Hume
Auch Hume schreibt sich in die lange Reihe derer ein, die sich mit dem Gedanken auseinandersetzen, von einem vor-sozialen oder vorpolitischen Naturzustand her sei begreiflich zu machen, wie es zu einem im Inneren befriedeten und gerechten Zusammenleben komhingewiesen, sein langes Leben unter den Athener Gesetzen zeige, dass er stillschweigend ein Versprechen ihrer Befolgung gegeben habe; vgl. K.-O. Apel, »Zur geschichtlichen Entfaltung der ethischen Vernunft in der Philosophie II.«, in: ders., D. Böhler, G. Kadelbach (Hg.), Praktische Philosophie/Ethik: Dialoge, Bd. 1, Frankfurt am Main, S. 90–112, hier: S. 97, sowie S. Cavell, Cities of words, Cambridge, London 2004. Der Autor weist auf wichtige Modifikationen des tacit consent hin, die wie etwa die stillschweigende Resignation nicht offen zum Ausdruck kommen, die Zustimmung aber latent in Zweifel ziehen (S. 63–66). Kann eine stillschweigende Zustimmung nicht auch erschlichen und erpresst sein? Wodurch wäre sie vom stillschweigenden Dissens oder bloß unvermeidlicher Teilnahme am Leben mit Anderen zu unterscheiden? Siehe auch Anm. 54 zu Kapitel A – I (S. 57). 37 R. Specht, John Locke, München 1989, S. 19. A
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men kann. 38 Den Naturzustand bezeichnet Hume als »philosophische Fiktion« eines wilden Lebens, in dem »man sich gegenseitig kein Vertrauen schenken konnte«, so sehr beherrschten Not und Gewalt die Menschen. Den historischen Gehalt einer solchen Fiktion lässt Hume dahin gestellt. Doch gibt er zu bedenken, ob nicht alle Menschen zunächst »notwendigerweise zumindest in eine Familien-Gesellschaft hineingeboren und von ihren Eltern zu gewissen Formen des Betragens und Benehmens angehalten« werden (PM, S. 108 f.). Vermutlich hätten sich zunächst zerstreute Familien nach und nach zusammengeschlossen, um sich nach Regeln zu richten, die (inneren) Frieden, Ordnung und ein gemeinschaftliches Wohl sichern sollten. Solche Regeln können nach Hume aber nur innerhalb der Grenzen der Gesellschaft gelten. Außerhalb seien sie völlig nutzlos (PM, S. 111). In jedem Falle beruhten sie auf einer Übereinkunft (convention). Eine solche Übereinkunft hat zunächst nicht den Charakter eines Versprechens, das seinerseits vielmehr erst infolge einer Übereinkunft entsteht. 39 Doch scheint es Hume evident, dass »alle Verträge und Versprechungen sorgfältig erfüllt werden sollten, um den Glauben der Menschen aneinander und wechselseitiges Vertrauen zu gewährleisten, wodurch das allgemeine Interesse der Menschheit so sehr gefördert wird« (PM, S. 115). Zumindest soll dies gelten, sobald Menschen übereingekommen sind, zusammen zu leben umwillen der Bändigung jener wilden Gewalt durch Gerechtigkeit und Orientierung am allgemeinen Wohl. 40 Unter dieser Voraussetzung mache Zentral dazu der Essay Humes »Über den ursprünglichen Vertrag«, in: Politische und ökonomische Essays, Teilband 2, Hamburg 1988, S. 301–324, in dem er politischen Gehorsam als Folge von Gewalt, Gewohnheit und Loyalität erklärt und die Idee zurückweist, aufgrund eines ursprünglich gegebenen Versprechens sei man nur bis auf Weiteres und auf Widerruf zu politischer Loyalität verpflichtet. In den meisten Gegenden der Welt würde, wer das verkündet, sofort als Aufwiegler verhaftet (S. 305). 39 D. Hume, A Treatise of Human Nature. Book II, Of The Passions. Of Morals, Oxford 1978, S. 490; dt. Traktat über die menschliche Natur. Bd. 2, Über die Affekte, Über die Moral, Hamburg 1989, S. 233. 40 So ist das Einhalten von Versprechen »verpflichtend geworden« (»Über den ursprünglichen Vertrag«, S. 316). Für J. L. Mackie trifft Humes Erklärung des Versprechens als eines Verfahrens nach wie vor zu, »das Menschen, deren Motive im wesentlichen eigennütziger Art sind, befähigt, einander nicht-gleichzeitige Hilfe auf Gegenseitigkeit zum Wohl aller zu leisten, und das im allgemeinen den einzelnen mit gutem Grund auf ein zukünftiges Verhalten des anderen vertrauen läßt«; Ethik, Stuttgart 1981, S. 138, 143 f. 38
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Versprechen als Konvention: David Hume
eine Willenserklärung allein niemals ein Versprechen verbindlich. Der erklärte Wille muss nach Hume vielmehr »durch Worte oder Zeichen ausgedrückt werden, um einem Menschen eine Verpflichtung aufzuerlegen. Sobald der Ausdruck eingeführt wurde, um als Zeichen des Willens zu dienen, wird er bald zum wichtigsten Teil des Versprechens; auch wird jemand dadurch nicht weniger an sein Wort gebunden, wenn er insgeheim seiner Absicht eine andere Richtung gibt und innerlich seine Zustimmung vorenthält.« Es ist notwendig, »daß die Worte ein vollkommener Ausdruck seines Willens sind, ohne jedes gegenteilige Anzeichen« (PM, S. 120 f.). »Sagt ein Mensch, daß er irgend etwas verspricht, so drückt er in der Tat den Entschluß aus, das Versprochene zu leisten; gleichzeitig unterwirft er sich durch den Gebrauch dieser Wortformel [form of words] für den Fall, daß er die Leistung unterläßt, einer Strafe, nämlich der Strafe, die darin besteht, daß ihm nicht wieder getraut wird.« 41 So hat jeder ein eigenes Interesse an der Erfüllung des Versprochenen. Hume nennt dieses Interesse sogar den »erste[n] Grund der Verpflichtung zur Erfüllung« von Versprechen, die keineswegs nur einen subjektiven Entschluss bekunden, etwas tun oder unterlassen zu wollen. 42 Die Not und Gewalt des Naturzustandes, in dem die Menschen sich als aufeinander angewiesen erfahren, weil sie Mangel erleiden und Gewalt gegeneinander verüben, denkt Hume aufgehoben aufgrund einer kollektiven Übereinkunft, die noch nicht die Verbindlichkeit eines Versprechens hat. 43 Ihrerseits stiftet diese Übereinkunft erst Verbindlichkeit so, dass man gewisse soziale Akte als verbindlich gegebenes Wort gelten lassen kann. Dabei nimmt sie aber ein Vertrauen auf die künftige Fortgeltung dessen in Anspruch, worin man übereingekommen ist; ein Vertrauen, das nur gewährt werden kann, aber niemals einfach zu verabreden ist. Jede gegenseitige Verabredung, einander zu vertrauen, müsste im Übrigen bereits Vertrauen in Anspruch nehmen. Nicht historisch, wohl aber logisch liegt die nicht-verbindliche Übereinkunft der Verbindlichkeit des gegebenen Wortes voraus, die D. Hume, A Treatise of Human Nature. Book II, S. 522; Traktat über die menschliche Natur. Bd. 2, S. 269. 42 D. Hume, A Treatise of Human Nature. Book II, 522 f.; Traktat über die menschliche Natur. Bd. 2, S. 270. 43 Vgl. T. N. Klass, Das Versprechen, München 2002, Kap. 2.2.3., der diesen Standpunkt Humes anficht. 41
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im Prinzip jederzeit wieder revoziert werden kann, wenn man sich an jene Übereinkunft nicht länger gebunden fühlt – etwa deshalb, weil man Grund dazu hat, die gemeinschaftliche Orientierung am allgemeinen Wohl bzw. an der Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen. Diese Orientierung hätte eigentlich den Rahmen der Verbindlichkeit des Versprechens zu garantieren. Alles hängt hier von der Wirklichkeit jenes gemeinschaftlichen Interesses an einem befriedeten, gerechten und am gemeinschaftlichen Wohl orientierten Leben ab. Wird diese Wirklichkeit prekär oder zerfällt sie, so offenbart das Versprechen, an das man sich in Folge dessen nicht mehr gebunden fühlt, die Unverbindlichkeit der Verbindlichkeit, in der es kraft einer bloßen Übereinkunft gestiftet worden ist. Nur das gemeinschaftliche Interesse begründet die Ausrichtung an Gerechtigkeit, als deren Teil Hume wiederum das Versprechen begreift: »Die Einhaltung von Versprechen ist selbst einer der wesentlichsten Teile der Gerechtigkeit, und wir sind sicherlich nicht deshalb verpflichtet, unser Wort zu halten, weil wir unser Wort gegeben haben, es zu halten« (PM, S. 239).
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Zwischen Obrigkeit und Untertanen: Christian Wolff
Was Hume explizit abgestritten hatte, dass nämlich eine gesellschaftliches Zusammenleben begründende Übereinkunft bereits die Form eines Versprechens hat, behauptet C. Wolff in seinen Vernünftigen Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen (1721) 44 ohne Umschweife: »Wenn Menschen mit einander eines werden mit vereinigten Kräften ihr Bestes […] zu befördern; so begeben sie sich mit einander in eine Gesellschaft. Und demnach ist die Gesellschaft nichts anderes als ein Vertrag einiger Personen mit vereinigten Kräften ihr Bestes worinnen zu befördern.« Dieser Vertrag kommt einem gegenseitigen bzw. allseitigen Versprechen gleich. »Ein Versprechen mit einem Gegenversprechen nennen wir einen Vertrag oder Vergleich.« In ihm werden nur »solche Dinge versprochen«, die dem »Gesetz der Natur gemäß« sind. 45 Was diesem widerspricht, entbin-
Zur näheren Erläuterung vgl. E. Pankoke (Hg.), Gesellschaftslehre, Frankfurt am Main 1991, S. 857–866. 45 C. Wolff, Von der Menschen Thun und Lassen, Werke, 1. Abteilung, Bd. 4, Hildesheim, New York 1976, § 1008, S. 700 f. 44
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Zwischen Obrigkeit und Untertanen: Christian Wolff
det unter bestimmten Umständen vom Versprochenen. Niemand ist »gehalten, in einer Gesellschaft zu verbleiben, die unrecht ist«. Doch wird die Gesellschaft primär als vertikales Herrschaftsverhältnis gedacht, in dem sich die Obrigkeit durch ein pactum subjectionis legitimiert sieht. »Die Obrigkeit verspricht, alle ihre Kräfte und ihren Fleiß dahin anzuwenden, daß sie zur Beförderung der gemeinsamen Wohlfahrt und Sicherheit diensame Mittel erdenke, und zu deren Ausführung nötige Anstalten mache: hingegen die Untertanen versprechen dargegen, daß sie willig sein wollen alles dasjenige zu tun, was sie für gut befinden wird.« 46 Die auf diese Weise obrigkeitlicher Glücksverwaltung unterstellten Untertanen gelten aber nicht als Bürger, die ihre Interpretation des Vertrages auch gegen die politische Herrschaft artikulieren könnten. 47 Der Vertrag legitimiert diese Herrschaft nur, limitiert sie aber nicht effektiv. So bleibt offen, was für den Fall folgt, dass die Ausübung der Herrschaft als gebrochenes Versprechen zu deuten ist. Der Gedanke eines gegenseitigen Versprechens dient hier vor allem dazu, bereits bestehende Herrschaft zu rechtfertigen, verstellt aber den Blick auf die originäre Stiftung politisch formierten Zusammenlebens durch verbindliche Zusagen, die gegebenenfalls auch kritisch zu befragen und zu erneuern wären. Stiften solche Zusagen aber erst den Status der Vergesellschaftung, so kann auch das Versprechen nicht wiederum auf ein bereits vergesellschaftetes Leben zurückgeführt werden, in dem man, wenn es nach Hume geht, erst gewissermaßen verabredet, Gesagtes als Zugesagtes gelten zu lassen. Das Ansinnen, sich »in eine Gesellschaft zu begeben« (s. o.), nimmt diese Zumutung, Gesagtes als verbindlich zu betrachten und für die Zukunft darauf zu vertrauen, immer schon in Anspruch. So taucht die radikale Frage auf, »wie es mit Menschen beschaffen sey, die um, neben, zwischen einander leben, ohne in irgend einem Vertrage, geschweige denn im Bürgervertrage zu stehen« (J. G. Fichte) – die aber in der Lage sind, einander ihr Wort zu geben und darauf zu bauen, ohne sich dabei auf eine bereits von Natur aus oder geschichtlich-kontingent vorgegebene Ordnung stützen zu können. 48 C. Wolff, Vernünfftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen [1720/1; 4 1730], Werke 1, Abteilung 5, Bd. 5. Hildesheim, New York 1976. 47 Vgl. dazu W. Kersting, »Vertrag, Gesellschaftsvertrag, Herrschaftsvertrag«, S. 924 ff. 48 J. G. Fichte, »Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französi46
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Unter den Augen der Anderen: Jean-Jacques Rousseau
Sowohl diese Frage als auch der bei C. Wolff angesprochene innere Zusammenhang von Versprechen und Vertrag gerät in der inzwischen uferlosen vertragstheoretisch ansetzenden Sozialphilosophie vielfach wieder in den Hintergrund. Letztere findet denn auch hier nicht eigens Berücksichtigung. Sogar dort, wo der bei Hobbes zunächst als Unterwerfung konzipierte Gesellschaftsvertrag mit Rousseau als eine moralische Selbstverpflichtung gedacht wird, ist kaum je von einem Versprechen die Rede, sich an das zu halten, was man explizit vertraglich oder implizit, in der Weise stillschweigender Zustimmung, zugesagt hat. 49 Rousseau bringt das Versprechen dagegen in seiner pädagogischen Hauptschrift Emile oder Über die Erziehung zur Sprache, wo er nicht wie die Politische Philosophie in gattungsgeschichtlicher, sondern in ontogenetischer Perspektive überlegt, wie überhaupt der »Eintritt« in eine sittliche Welt vorzustellen ist, in der man sein Wort geben kann und sich dazu verpflichtet weiß, es zu halten. Mit diesem Eintritt ist die Möglichkeit des Verstoßes gegen alles, was als Pflicht zu betrachten ist, gleichursprünglich. »Mit den Gebräuchen und Pflichten nehmen Betrug und Lüge ihren Anfang. Sobald man tun kann, was man nicht darf, will man verbergen, was man nicht tun dürfte. Sobald wir uns Vorteile versprechen, wird man um eines größeren Vorteiles willen sein Versprechen brechen. Es kommt nur mehr darauf an, es ungestraft zu brechen. Der Ausweg ist natürlich: man verstellt sich und lügt. Da wir dem Laster nicht vorbeugen können, sind wir gezwungen, es zu bestrafen.« Das aber hat im Prozess der Erziehung so zu geschehen, dass die Strafe dem Kind wie eine »natürliche Folge« der inkriminierten Handlung erscheint, und so, dass die Folgen seines »bösen« Tuns unmittelbar auf es selbst zurückfallen, z. B. dadurch, dass »man ihm nicht mehr glaubt, auch wenn es die Wahrheit sagt: daß man es beschuldigt, auch wenn es nichts getan hat und sich noch so sehr verteidigt«. 50 Die Pflicht, sein Versprechen zu halten, wird im Prozess der Ersche Revolution (1793)«, in: Werke 1794–1796, Akademie-Ausgabe, Bd. I, 1, Stuttgart 1962, S. 276. 49 Vgl. J.-J. Rousseau, Politische Schriften, Bd. 1, Paderborn 1977, S. 72 ff.; I. Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, Frankfurt am Main 3 1981, S. 108 f. 50 J.-J. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Paderborn 6 1983, S. 81. Hervorhebg. B. L.
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ziehung lediglich »eingesehen«. Selbst wenn sie nicht auch als nützlich zu erweisen wäre, »würde das innere Gefühl […] sie […] als Gesetz des Gewissens, als eingeborenen Grundsatz auferlegen, der zu seiner Entwicklung nur die Erkenntnisse abwartet, auf die er sich anwenden läßt«. Als eingesehene Pflicht tritt schließlich nur zu Tage, was »vom Schöpfer aller Gerechtigkeit in unser Herz gegraben« wurde. Streng genommen verpflichtet man sich nicht selbst, sondern ist immer schon verpflichtet. Entweder das trifft zu und das »Gesetz des Vertrages [als eines gegenseitigen Versprechens] und seiner Verbindlichkeit« steht den Menschen überhaupt nicht zur Disposition, oder aber es ist »alles in der menschlichen Gesellschaft illusorisch und eitel. Wer sein Versprechen nur zu seinem Vorteil hält, ist kaum mehr gebunden, als habe er nichts versprochen; er wird es höchstens so machen wie Spieler, die ihre Überlegenheit nur deshalb nicht beweisen, weil sie auf noch größeren Gewinn warten. Dieses Prinzip ist von höchster Wichtigkeit und verdient, untersucht zu werden, denn hier beginnt der Mensch mit sich selbst in Widerspruch zu geraten.« 51 An dieser Stelle bleibt unklar, was genau Gegenstand jenes Gesetzes ist. Wenn es ursprünglich und ohne jede Rücksicht auf Bedingungen vergesellschafteten Lebens verlangt, dass Zugesagtes unbedingt einzulösen ist, so kann es doch nicht erzwingen, dass es auch befolgt wird. Das hat eine mehr oder weniger raffinierte Pädagogik sicherzustellen, die nicht davor zurückschreckt, bereits beim ersten Bruch eines Versprechens ihrerseits mit der Zerstörung jeglicher Glaubwürdigkeit zu drohen. Damit baut sie aber weniger auf Einsicht in die behauptete unbedingte Verbindlichkeit des Versprechens, als vielmehr auf Angst vor ruinösen Konsequenzen in der Perspektive Anderer für den Fall, dass ein gebrochenes Versprechen nicht verheimlicht werden kann. Darin könnte man aber auch eine Herausforderung dazu erkennen, sich nur klüger zu verstellen und besser zu lügen. Der Stimme des Gewissens, die Rousseau dagegen ins Feld führt, scheint er sich selbst nicht sicher zu sein, da er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass die unbedingte Pflicht, sein Versprechen zu halten, aufgehoben wird. Von einer unbedingten, keinem Menschen zur Disposition stehenden Pflicht ist aber schon dann nicht mehr auszugehen, wenn sie – mangels eines ohne weiteres einsichtigen »natürlichen Gesetzes« oder einer angeborenen Stimme des Gewis51
Ebd., Anm. A
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sens – auf einer bloßen Übereinkunft beruhend gedacht wird, wie es Hume vorgeschlagen hatte.
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Unbedingte Aufrichtigkeit: Immanuel Kant
Wie Rousseau widersetzt sich Kant der Humeschen Herausforderung, in dem er von einer unbedingten Pflicht ausgeht, sein Versprechen zu halten, so weit das tatsächlich möglich ist. Aber er nennt es wie gesagt 52 ein »heiliges, unbedingt gebietendes […] Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein«. 53 Wer lügt, zerstört die Basis aller Verträge (als gegenseitiger Versprechen) und muss als zurechenbare Person die volle Verantwortung dafür tragen, dass er durch die unwahrhaftige Rede der »Menschheit« selbst Abbruch tut, indem er »die Rechtsquelle unbrauchbar macht«, die die Rechtlichkeit der gegenseitigen Versprechen garantiert. Das Recht, das die Formen und die Bedingungen der Einhaltung von Verträgen regelt, muss sich ganz und gar auf eine prä-juridische Voraussetzung stützen: auf die Voraussetzung, dass man einander in wahrhaftiger Absicht das Wort gibt. Recht und Vertrag setzen dies voraus, können diese ihre Grundlage aber nicht aus eigener Kraft garantieren. Wäre die Wahrhaftigkeit des gegebenen Wortes nicht unbedingt vorauszusetzen, schreibt Kant, so müssten Aussagen grundsätzlich angezweifelt werden, d. h. sie fänden rein als solche »überhaupt keinen Glauben«. Mithin müssten »auch alle Rechte, die auf Verträgen gegründet werden, wegfallen und ihre Kraft einbüßen; welches ein Unrecht ist, das der Menschheit überhaupt zugefügt wird«. Es würde nichts helfen, fragwürdige Verträge, die an der Wahrhaftigkeit und Verbindlichkeit des gegebenen Wortes zweifeln lassen, durch MetaVerträge absichern zu wollen, denn diese Verträge würden an demselben Mangel leiden. Entweder das gegebene Wort gilt als solches, oder aber kein Vertrag gilt etwas. Selbst bloß vorbehaltliche Wahrhaftigkeit würde die moralische Grundlage von Verträgen und Versprechen zerstören. Wer sich etwa »die Erlaubnis ausbittet, sich erst auf mögliche Ausnahmen [von der Siehe Anm. 75/76 zu Kapitel A – I. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frankfurt am Main 1977, S. 639 (= WA VIII); vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 378.
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Pflicht, wahrhaftig zu sein] zu besinnen, ist schon ein Lügner (in potentia); weil er zeigt, daß er die Wahrhaftigkeit nicht für Pflicht an sich selbst anerkenne, sondern sich Ausnahmen vorbehält von einer Regel, die ihrem Wesen nach keiner Ausnahme fähig ist, weil sie sich in dieser geradezu selbst widerspricht« (WA VIII, S. 642). Von der Wahrhaftigkeit als »Pflicht an sich selbst« wird in gewisser Weise abgesehen, wo es Rechtspflicht ist, sein Versprechen zu halten. Zur Erfüllung einer solchen (»äußeren«) Rechtspflicht kann man ohne Rücksicht auf innere Wahrhaftigkeit gezwungen werden. Wo Versprechen gehalten werden, zu deren Erfüllung man nicht von Rechts wegen gezwungen werden kann, handelt es sich dagegen um tugendhaftes Verhalten aus einer Gesinnung heraus, die kein juridisches, sondern allein ein ethisches oder moralisches Fundament hat. Es ist in diesem Falle keine Rechtspflicht, sondern eine »Tugendpflicht«, Wort zu halten. Die Pflicht an sich soll hier die alleinige und zureichende Triebfeder des Handelns sein. Der Grund der Verbindlichkeit der Pflicht aber ist letztlich der kategorische Imperativ: »Die Frage […]: warum soll ich mein Versprechen halten? […] begreift ein jeder von selbst. Es ist aber schlechterdings unmöglich […], von diesem kategorischen Imperativ noch einen Beweis zu führen; eben so wie es für den Geometer unmöglich ist, durch Vernunftschlüsse zu beweisen, daß ich, um ein Dreieck zu machen, drei Linien nehmen müsse […]« (WA VIII, S. 385, 324 ff.). Die Antwort auf jene Frage hält Kant für so wenig deduzierbar wie den Grund des Faktums der Vernunft selbst. 54 Die Sanktion, mit der auf Unwahrhaftigkeit (inneres oder äußeres Lügen) reagiert wird, Entzug der Achtung nämlich, 55 setzt bereits voraus, dass es dem Betreffenden selber auf Achtung ankommt und dass er nach Maßgabe jenes Faktums affizierbar ist. Im Fall der inneren Unwahrhaftigkeit, des inneren Lügens, ist dem entsprechend der Entzug der Selbstachtung die Sanktion. Dieser Entzug droht auch dann, wenn man Versprechen unter Vorbehalt gibt. Man ist dann, wie gesagt, bereits ein Lügner (in potentia), der mit dem Vorbehalt prinzipielle Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit aufkommen lässt. 56 Auch der innere Vorbehalt, unter dem man sein Wort gibt, um sich I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974, § 7, S. 36 f., 56. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, WA XII, S. 744; Metaphysik der Sitten, WA VIII, S. 562. 56 Vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1994, S. 21, 40, 58. 54 55
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gegebenenfalls nachträglich von ihm zu entbinden, nährt diese Zweifel; Zweifel, in denen nicht weniger als die Selbsterhaltung der Vernunft auf dem Spiel steht. Nicht nur das »Naturwesen«, das wir sind, ist dem »Vernunftwesen«, das wir auch sind, »zur Erhaltung anvertraut«; das »Vernunftwesen« ist auch sich selbst anvertraut als etwas, was sich nur durch sich selbst erhalten kann. Selbsterhaltung wird hier als Erhaltung des vernünftigen Selbst durch das Selbst gedacht. »Erhalte dich deiner vernünftigen Natur gemäß« – diese Forderung sieht Kant im Aufgegebensein der Selbsterhaltung selber begründet, die auf Fremderhaltung sich nicht mehr verlassen kann. Die Selbsterhaltung zielt aber nicht bloß auf Erhaltung dessen ab, was ohnehin ist, 57 sondern auf ein vernunftgemäßes Leben. Leben geschieht freilich nicht an ihm selbst zielindifferent. Vielmehr ist glücklich zu sein »das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens«. Glück ist »ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist«. Insoweit kann man nicht umhin, gut leben zu wollen. Weil der Mensch ein bedürftiges Wesen ist, »hat seine Vernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auftrag von seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interesse derselben zu bekümmern«. 58 Die »Vernunftnatur« definiert aber die innere Bedingung, unter der diese »Teleologie« des bedürftig-begehrenden Lebens des Glückes auch würdig ist; und sie definiert die äußeren Bedingungen, unter denen allein vernünftige Selbsterhaltung auf Dauer möglich ist. Letzteres erfordert eine institutionell gewährleistete Absicherung. »Wer sich selbst erhalten will, muß Bürger werden und sichert, indem er dies wird, die Selbsterhaltung des Staates. Doch dies betrifft nur die personale, nicht die institutionelle Dauer. Mit der Selbstergänzung des ›Personals‹ ist es nicht getan. Vielmehr bedarf es der Etablierung des Rechts als eines ›aus der Vernunft hervorgehenden Systems‹«, durch das die Subjekte »zu einer Gesellschaft vereinigt [werden], welche sich immerwährend erhalten soll«. 59 Aber das Recht kann diese Vergesellschaftung nicht aus eigener Kraft bewirken; es ist vielmehr ganz und gar auf die Wahrhaftigkeit und VerVgl. R. Spaemann, »Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie«, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankfurt am Main 1976, S. 76–96. 58 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, S. 28, 72. 59 Vgl. M. Sommer, Identität im Übergang: Kant, Frankfurt am Main 1988, S. 41. 57
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Unbedingte Aufrichtigkeit: Immanuel Kant
bindlichkeit des gegebenen Wortes angewiesen, die gerade ein Gesellschaft überhaupt erst begründender (sei es fiktiver, sei es realer) Vertrag immer schon voraussetzen muss. In diesem Sinne muss man die Voraussetzung, dass das gegebene Wort »gilt«, als eine prä-juridische, Rechtlichkeit fundierende, aber in keinem Recht aufgehobene auffassen. Abgesehen vom Problem der Konstitution des Rechts kann die Frage, ob ein Versprechen gilt, im Rahmen einer bereits gegebenen rechtlichen Ordnung nur an (»äußeren«) Rechtspflichten gemessen werden, die aber wie gesagt nicht die innere Seite des Versprechens (die Aufrichtigkeit, Wahrhaftigkeit, Ehrlichkeit dessen, der das Wort gibt) erfassen. Kant lässt, was diese Seite betrifft, deutliche Skepsis anklingen. In der alltäglichen Lebenserfahrung wird der Unterschied zwischen Schein und Sein in der Regel weitgehend verwischt. Ein Mensch »von guten Sitten (bene moratus)« gilt als »sittlich guter Mensch (moraliter bonus)«. Ob tatsächliche, innere Übereinstimmung seines Tuns mit dem moralischen Gesetz vorliegt, entzieht sich aber in Wahrheit unserer Kenntnis. »Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit […] an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; […] und es ist auch sehr gut, daß es so in der Welt zugeht. Denn dadurch, daß Menschen diese Rolle spielen, werden zuletzt die Tugenden, deren Schein sie eine geraume Zeit hindurch nur gekünstelt haben, nach und nach wohl wirklich erweckt und gehen in die Gesinnung über« (WA XII, S. 442 f.). Radikale, zynische Skepsis aber, die die moralische Gesinnung selbst verächtlich macht, brandmarkt Kant als äußersten Verrat: »Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemünze; ein Kind ist der, welcher sie für echtes Gold nimmt.« Aber es ist doch besser, gewissermaßen Münzen ohne vollen (Metall-) Wert, die an Falschgeld grenzen, also Scheidemünzen, »als gar kein solches Mittel im Umlauf zu haben […]. Sie für lauter Spielmarken, die gar keinen Wert haben, auszugeben […] ist ein an der Menschheit verübter Hochverrat« (WA XII, S. 444 f.). Das moralische Sein der Person entzieht sich demnach einer Beurteilung von außen. Obgleich Zweifel an der inneren Verbindlichkeit des gegebenen Wortes niemals definitiv ausgeräumt werden können, möchte Kant einer Hypertrophie radikaler Skepsis, die hier aufkeimt, von Anfang an begegnen. Es gibt keine andere Möglichkeit, meint Kant, als auf die absolute Wahrhaftigkeit dessen zu verA
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trauen, was wir sagen. Ein bloß taktisches Verhältnis zur Wahrheit ist indessen niemals ausgeschlossen. Im Einzelfall wird es sich aber stets nur als Enttäuschung dieses vorgängigen, dem »Falschgeld« des sittlichen Verhaltens immer schon zugemuteten Vertrauens verstehen lassen. Im Übrigen setzt Kant ganz auf den »inneren Richter«, der antizipativ vom Jenseits des Todes her ständig beurteilt, ob wir uns am Ende werden für »gerechtfertigt« halten können. Ein taktisches Verhältnis zur Wahrheit, das anderen möglicherweise verborgen bleibt, ist nur unter den Augen dieses inneren Richters, des Gewissens, das niemals schläft, möglich. Auch das Sichbelügen kann nicht umhin, als solches bemerkt zu werden. Insofern gibt es keine Ausflucht aus der Wahrhaftigkeit. Man erfährt sich als jemand, dem die Wahrhaftigkeit der Rede (auch im Selbst-Gespräch) immer schon und unentrinnbar zugemutet ist. Aufrichtig zu sprechen und Versprechen zu halten erscheint Kant als absolut geboten. Doch kommt in der Struktur des kategorischen Imperativs, der mit dem Wort-geben verknüpft ist, der Andere als Anderer nicht vor. 60 Nicht dem Anderen, vielmehr der praktischen Vernunft schulde ich es, mein Wort zu halten. 61 Diese Verpflichtung ist in der Ontologie der Person, die apriori besagt, was wir zu sein haben, fest verankert. 62 Die Person ist ein individuelles Diese These mag zu schroff erscheinen, da Kant doch ausdrücklich der Pluralität anderer (d. h. »eines jeden«) in der Begründung des kategorischen Imperativs Rechnung tragen will. Doch gibt Ricœur zu bedenken, ob die hier zugrundeliegende Idee der Menschheit nicht »jegliche radikale Ander(s)heit« eliminiert. Diese Frage aufzuklären, bleibt freilich ein Desiderat. Vgl. Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 270 ff., 321. 61 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 20. 62 Kant knüpft an die Tradition einer Ontologie der Person im Sinne eines esse morale an und rückt sie in eine juridische Perspektive, indem er die Person von ihrer Zurechenbarkeit her versteht. Im Gegensatz zur Sache, »die keiner Zurechnung fähig ist«, ist die Person als verantwortliches »Subjekt« zu verstehen, mit dem sein Tun abgerechnet werden kann. Demnach kommt die Person einer »moralischen Persönlichkeit« gleich; sie ist »nichts anderes, als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (die psychologische aber bloß das Vermögen, sich seiner selbst in den verschiedenen Zuständen, der Identität seines Daseins bewußt zu werden), woraus dann folgt, daß eine Person keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (…) sich selbst gibt, unterworfen ist«. »Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann Tat (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird.« Von untergeordneter Bedeutung ist, ob die Zurechnung im Einzelfall in lediglich »beurteilender« oder in »rechtskräftiger« Weise erfolgt. Vgl. I. Kant, WA VIII, S. 329 f., 334; T. Kobusch, »Person und Subjektivität«, in: R. L. 60
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Sittlicher Zwang: Georg Wilhelm Friedrich Hegel
Wesen, das seine Moralität aus sich heraus hat; der Ursprung praktischer Vernunft ist als ein irreduzibles Faktum in ihm selbst verwurzelt. Dieser Ursprung erscheint insofern nicht von vornherein auf den Anderen bezogen. Die Verpflichtung, sein Wort zu halten, kommt in einem Monolog der praktischen Vernunft zur Geltung. Ob jemand diese Verpflichtung im einzelnen eingehen möchte, ist grundsätzlich Sache seiner freien Entscheidung. Es gibt lediglich eine Verpflichtung, sein Wort zu halten, nicht aber eine dem Anderen antwortende Verpflichtung, sein Wort zu geben. Zurückhaltung in einer Art reservatio moralis, die zögert, sich auf Verpflichtungen des Versprechens überhaupt einzulassen, steht grundsätzlich jedem frei.
10. Sittlicher Zwang: Georg Wilhelm Friedrich Hegel Kant fundiert die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes in der Moralität der Person, deren Vernunft letztlich auf einem nicht weiter begründbaren »Faktum« beruht. Indem eine Person etwas verspricht, verspricht sie damit nicht auch implizit, sich selbst gleich oder dieselbe zu bleiben in einer Zukunft, der sie nicht nur vorgreift, die sie sogar überhaupt erst eröffnet als ein Feld möglichen Handelns, das sie in gewisser Weise vorweg in ihrer Gegenwart antizipiert? Darauf mag Hegel nicht bauen. »Mein Wort muß gelten, nicht aus moralischen Gründen, daß ich mir innerlich gleich bleiben, meine Gesinnung, Überzeugung und so fort nicht ändern solle, sondern ich kann dies ändern; aber mein Wille ist nur als anerkannter da. Ich widerspreche nicht nur mir, sondern dem, daß mein Wille anerkannt ist. Man kann sich nicht auf mein Wort verlassen, d. h. mein Wille ist bloß mein, bloße Meinung […]. Ich werde gezwungen Person zu sein.« 63 In keiner Weise hängt die Geltung des Versprochenen demnach davon ab, ob jemand sich inzwischen geändert hat oder nicht. Wie auch immer die Gesinnung oder gewisse Überzeugungen, die ihm zugrunde lagen, sich künftig ändern mögen, der sittliche Akt des Fetz, R. Hagenbüchle u. P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, Berlin, New York 1998, S. 743–761. 63 G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, Hamburg 1987, S. 211, 220. A
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Versprechens legt uns unabhängig davon auf das gegebene Wort fest. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts ist dagegen im Unterschied zum Vertrag vom »bloßen Versprechen« die Rede, bei dem das Versprochene »als ein Zukünftiges ausgesprochen ist und noch eine subjektive Bestimmung meines Willens bleibt, die ich hiermit noch ändern kann. Die Stipulation des Vertrages hingegen ist schon selbst das Dasein meines Willensbeschlusses in dem Sinne, daß ich meine Sache hiermit veräußert, sie jetzt aufgehört habe, mein Eigentum zu sein, und daß ich sie bereits als Eigentum eines anderen anerkenne.« 64 Daran, dass irgend jemand erklärt, etwas für die Zukunft zu versprechen, ist in keiner Weise zu erkennen, worauf es für Hegel eigentlich ankommt: dass der Wille dessen, der etwas zusagt, effektiv gebunden und so gewissermaßen mit dem Empfänger des Versprechens »gemeinsamer Wille« wird. Als gebundener ist der eigene Wille mit dem des Anderen »in eins gesetzt«. Diese Einheit hat Realität »a) durch Leistung oder b) durch Stipulation – nach Weise des Willens als eines Geistigen durch Zeichen – Wort, Gebärde, Schrift; Förmlichkeit, Ausführlichkeit, Händedruck«. Dann ist der gemeinsame Wille »da für beide – mein Wille nicht mehr subjektiv für mich. Was da ist, ist die Entäußerung meines Willens und die Verknüpfung desselben mit einem andern; ich habe dieser Entäußerung Dasein gegeben; so daß sie nicht mehr nur eine subjektive ist; – sondern eine Handlung – außer mir gesetzt […]«. Ein wirklich gültiges Versprechen müsste einem Vertrag in dieser Hinsicht entsprechen; d. h. es ist unbedingt zu vermeiden, dass man »nur Worte« macht – »Bewegung der Luft, Wind, der schon verflogen ist, wie ich ihn gemacht«. 65 Bloß subjektives Meinen und Versichern, dass man Versprochenes einlösen werde, kann das so wenig garantieren wie eine ebenfalls nur der einzelnen Person zu verdankende Moralität. Stets kann jemand sich morgen schon zu anderem entschließen. 66 Schon RousG. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7 (Hg. E. Moldenhauer, K. M. Michel), Frankfurt am Main 1986, § 79. 65 Ebd., S. 164. Wie die Sprache als »bloße Form des Äußerlichmachens« überhaupt, schreibt Hegel an anderer Stelle, so »verschwinden« auch Versprechen, »so wie sie erschein[en]«; sie unterliegen der gleichen Flüchtigkeit alles Gesagten; vgl. G. W. F. Hegel, Jenaer Systementwürfe I. Das System der spekulativen Philosophie, Hamburg 1986, S. 218, 226. 66 Daraus wird Schopenhauer die Konsequenz ziehen: »Gesetzt, […] wir wollten etwan wissen, wie Einer […] handeln wird; so dürften wir hierüber nicht auf seine Verspre64
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Sittlicher Zwang: Georg Wilhelm Friedrich Hegel
seau hatte auf die »Unsinnigkeit« aufmerksam gemacht, die darin liegen soll, »daß der Wille sich Ketten anlegt für die Zukunft«. 67 Für Hegel kommt es aber gerade darauf gar nicht an. Entscheidend ist vielmehr, dass das Versprochene gilt, unabhängig von bloßer Selbstbestimmung des Willens. Die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes kann nur ein sittlicher Begriff sein. Sie setzt eine Lebensform 68 voraus, in der die »allgemeine Handlungsweise« des Versprechens »lebendiger und vorhandener Geist« ist und nur dadurch »Substanz« hat. 69 Für Rousseau und Kant stellt sich die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes als etwas Gegebenes dar, das nachträglich nur einsichtig zu machen ist. Rousseau versteht dieses Gegebene als eine göttliche Gabe. Kant sieht es in der menschlichen Vernunftnatur bzw. in der »Menschheit« fundiert, die uns »heilig« sein müsse, obgleich der einzelne Mensch »unheilig genug« sei. 70 »Was ist das Heilige?«, fragt Hegel daraufhin. Für ihn ist es das, »was die Menschen zusamchungen und Betheuerungen bauen. Denn, gesetzt auch, er spräche aufrichtig, so spricht er von einer Sache, die er nicht kennt. Wir müssen also allein aus der Erwägung der Umstände, in die er zu treten hat, und des Konflikts derselben mit seinem Charakter, sein Handeln berechnen.« A. Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart 1980, S. 201. (Hervorhebg. B. L.) 67 J.-J. Rousseau, Du Contrat social, Paris 1964, S. 28; dt. Vom Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1977, S. 190 f.; Hervorhebg. B. L. 68 Vgl. P. Stekeler-Weithofer, Philosophie des Selbstbewußtseins. Hegels System als Formanalyse von Wissen und Autonomie, Frankfurt am Main 2005, S. 28 f., 392, 401 f.; zu einer kritischen Revision des Lebensformbegriffs im Gegensatz zu einer »substanziellen« Sittlichkeit vgl. v. Verf., Zerbrechliche Lebensformen. Widerstreit – Differenz – Gewalt, Berlin 2001. 69 G. W. F. Hegel, Grundlinien, Dritter Teil, S. 292 ff. Wer nun meint, Hegel stelle auf eine soziale Reziprozität ab, in der man einander das Wort gibt, sieht sich mit einer erheblichen Kritik konfrontiert, die bestreitet, dass Hegel überhaupt eine echte Intersubjektivität gedacht habe oder denken könne. Auf diese Diskussion ist hier nur am Rande hinzuweisen; vgl. besonders M. Theunissen, »Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts«, in: D. Henrich, R.-P. Horstmann (Hg.), Hegels Philosophie des Rechts. Die Theorie der Rechtsformen und ihre Logik, Stuttgart 1982, S. 317–381, hier: S. 359. Nicht schon Hegel, vielmehr erst A. Reinach habe den Anderen als Adressaten des Versprechens begriffen, heißt es hier. Ob der Begriff des Anderen und des Selbst als Adressat eines Anspruchs des Anderen nicht eine nachdrückliche Revision der Kategorien Subjekt und Objekt erfordern (die gewiss nicht durch ein »inter« bloß äußerlich zu verknüpfen sind, das als solches gar nicht weiter bedacht wird), ist freilich erst im Dialogismus des 20. Jahrhunderts, vor allem mit Rosenzweig und Buber, später dann mit Levinas u. a. deutlich geworden. 70 I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Hamburg 1974, S. 102, 151. A
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menhält, […] wirklich substanzielles Band«. 71 In allen drei Fällen ist der als göttlich, vernünftig oder sittlich und letztlich als sakral bestimmte Grund der Verbindlichkeit des Versprechens letztlich ein gegebener. Hegel entzieht ihn allerdings energisch der bloßen Subjektivität der Einsicht – und damit auch dem Gewissen, um ihn gerade dadurch nur um so solider zu fundieren; und zwar im »über das subjektive Meinen und Belieben erhabene[n] Bestehen« der Sittlichkeit. 72 Allein ihr sei auch das Vertrauen bzw. Zutrauen zu verdanken, das jedes gegebene Wort (auch der Vertrag) voraussetzt. 73 Auf dieser substanziellen Wirklichkeit allein beruhe letztlich das Vertrauen, das Kant irrtümlich in die Moralität des Einzelnen gesetzt habe.
11. Versprechen in souveräner Freiheit: Friedrich Nietzsche Wenn Nietzsche in der Vorrede zur Morgenröthe 74 erklärt, der Moral das Vertrauen kündigen zu wollen, so verwirft er jede vermeintlich »substanzielle« Einbindung des Einzelnen in Moralität und Sittlichkeit zugleich und rückt nahe an Hume heran. Nicht aber, weil es ihm darum ginge, wie dieser eine »konventionelle« Begründung des Versprechens zu liefern, sondern weil Hume die Verbindlichkeit des Versprechens geradezu als ein soziales Konstrukt begriffen hat. Das bedeutet, dass wir uns nicht »immer schon« an eine bereits gegebene Verbindlichkeit des Versprechens zu halten haben. Wir sind in diesem Sinne nicht unvermeidlich moralische Wesen; allenfalls werden wir dazu. Aber der Weg zur Moral kommt gewissermaßen von woanders her und ist selbst kein moralischer. 75 Nietzsche glaubt, in genealogischer Perspektive nachweisen zu können, dass das, was sich uns als Moral präsentiert, aus ganz anderem entstanden ist und dass es sich um die Geschichte einer Art G. W. F. Hegel, Grundlinien, S. 249. Hervorhebg. B. L. Ebd., § 144. 73 Vgl. ebd. § 137 zum Zutrauen, das hier wiederum gegen die zweifelhafte Verlässlichkeit des subjektiven Gewissens ins Feld geführt wird. 74 F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, Bd. 3, S. 16 (= SW). 75 Vgl. zu diesem Problemkomplex insgesamt M. Brusotti, »Die Selbstverkleinerung des Menschen«, in: Nietzsche-Studien 21 (1992), S. 81–136; B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt am Main 2006. 71 72
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Versprechen in souveräner Freiheit: Friedrich Nietzsche
Dressur handelt, durch die Menschen moralisiert werden, die keineswegs von sich aus und unvermeidlich moralisch sind oder sein müssen. Das zieht den Gedanken nach sich, erst infolge einer radikalen Befreiung von der Moral könnten sie zu sich selbst, d. h. zur Fruchtbarkeit ihrer wahren Freiheit – und nur dadurch auch zu einer Souveränität gelangen, die es letztlich allein rechtfertigen kann, dass man ein Versprechen gibt. Liegt der Ursprung der Moral nicht in einer Vorgeschichte der Grausamkeit der Strafe, des Einschärfens eines schlechten Gewissens, eines erzwungenen Schuldbewusstseins und der Drohungen, die »ein Gedächtnis machen«? Lässt nicht noch heute die als bloße Redensart daherkommende Drohung, jemanden »zur Vernunft bringen« zu wollen, diese tief im kollektiven kulturellen Erbe verankerte Schwarze Pädagogik anklingen (SW 5, S. 297)? War je der Weg zur Vernunft selber vernünftig? (Jedenfalls ist für Nietzsche die Unterwerfung unter die Moral ihrerseits »nichts Moralisches«; SW 3, S. 89.) Wurde man nicht speziell in moralischer Hinsicht seit alters her zu einer Art Bekehrung genötigt, die vom verdrängten Wunsch unterhöhlt wird, sich dieses Zwangs wieder zu entledigen? Eröffnet diese Psychologie des Verdachts Nietzsches genealogischer Kritik der Moral nur einen regressiven Weg? (Diesen Anschein erweckt Nietzsche selber im Kontext seiner Schrift Zur Genealogie der Moral [Nr. 11]; SW 5, S. 274 f.) Oder wird der Moral nicht gerade »aus Moralität« das Vertrauen gekündigt? Soll sie insofern von einer bloßen Moral des Selbstzwangs zu einer anderen, womöglich besseren Moral befreien? 76 In einer als Züchtung aufgefassten Erziehung lernt man, versprechen zu müssen (bestimmte Dinge nicht mehr zu tun); so wird man »berechenbar gemacht« und der Wille bleibt wirklich gebunden. Nietzsche spricht in den nachgelassenen Fragmenten von Selbstaufhebung der Moral, vom Selbstmord der Moral als ihrer eigenen letzten Forderung (SW 9, S. 640; SW, 3, S. 16) und als Produkt ihrer eigenen Kraft (SW 12, S. 168). Die unter dem scheinbar hypermoralischen Titel der Redlichkeit vorgetragene Selbst-Kritik der Moral wird ihrerseits als ein moralisches Phänomen beschrieben. Vgl. SW 11, S. 132; SW 12, S. 167; J.-L. Nancy, »›Unsere Redlichkeit!‹ (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)«, in: W. Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich, Berlin 2003, S. 225–248. Es handelt sich dem gemäß und eine Moralität, die sich gegen ihre bisherigen, dem verinnerlichten Zwang, der bloßen Versagung und der Furcht zu verdankenden Formen wendet (SW 11, S. 134 f.; SW 3, S. 542 f.; SW 6, S. 300, 352, 372; SW 8, S. 434, 358; SW 9, S. 83). Nietzsche kann insoweit so verstanden werden, dass er zu einer anderen Moral befreien möchte. 76
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Strafen als »mnemotechnische« Hilfsmittel der »allerältesten Psychologie«, die dafür sorgte, dass eine schmerzhafte Erfahrung erinnerlich bleibt, wirken bis heute nach in derselben »Schrecklichkeit […], mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist«. Aber darf ein Wesen, das dazu gezwungen werden kann, sein Wort zu geben, überhaupt versprechen? Kann es überhaupt etwas versprechen? Wer ein Versprechen geben will oder soll, muss auch (im doppelten Sinne) »versprechen«, das Versprochene einlösen zu können. Dazu gehört eine gewisse Voraussicht und Macht über die Zukunft. Nur wer sie hat, sagt Nietzsche, darf überhaupt versprechen (SW 5, S. 293, 297). Wer »wie ein Souverain verspricht«, kann aber keiner substanziellen Sittlichkeit oder sonstwie »gegebenen« Verbindlichkeit sich einfügen. Nur souveräne Wesen jenseits von Moralität und Sittlichkeit dürfen eigentlich etwas versprechen. Streng genommen hat aber niemand Macht über die Zukunft, in der es bekanntlich immer anders kommen kann als erwartet. Das definiert sie gewissermaßen. Lediglich im Rahmen gewisser normaler Umstände, die sich nicht auf völlig unvorhersehbare Weise ändern, wird es in unserer Macht stehen, zu tun (oder zu unterlassen), was wir versprochen haben. Ein in gewisser Weise unverantwortlicher, niemals im Vorhinein angemessen zu rechtfertigender Vorgriff auf die Zukunft, auf unsere Macht und auch auf sich selbst ist unumgänglich im Spiel, wenn ein »souveraines Individuum« sein Wort gibt »als Etwas, auf das Verlass ist, weil e[s] sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst ›gegen das Schicksal‹ aufrecht zu halten«. In jedem Fall aber verspricht man etwas, für das man niemals eine Garantie übernehmen kann, weil sich das Versprochene auf die Zukunft bezieht. Zwar versprechen wir dem Anschein nach nicht mit Absicht von vornherein Unmögliches. Wir versprechen genau so wenig etwas, was absehbar nicht in unserer Macht steht, wie etwas, was ohnehin geschehen wird. Indessen ist es streng genommen niemals möglich, im Vorhinein für die Einlösung des Versprochenen wirklich einzustehen. Was kann man überhaupt versprechen? Nietzsche gibt die Antwort: »man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer Jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er 110
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Versprechen in souveräner Freiheit: Friedrich Nietzsche
solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. – Man verspricht also die Andauer des Anscheins der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe gelobt«. 77 Müssen wir nicht zu Verrätern werden, wenn unsere Gefühle sich gewandelt haben oder wenn wir frühere Überzeugungen als Irrtum erkannt haben, der dem gegebenen Wort zugrunde lag (SW 2, S. 355)? Kann und sollte man überhaupt verpflichtet sein, einem Versprechen unter allen Umständen treu zu bleiben, auf die Gefahr hin, dadurch »an unserem höheren Selbst Schaden zu leiden« und womöglich sich selbst zu verraten (SW 8, S. 267)? Für ein souveränes Individuum wäre das nicht hinnehmbar, auch dann nicht, wenn es »Leib und Seele verpfändet« hat, um sich von Anderen daran erinnern zu lassen, was es gegebenenfalls »heilig« bzw. absolut verbindlich versprochen hat. Mitnichten eignet die »Heiligkeit des Versprechens« diesem selbst. Der Genealoge führt sie vielmehr auf jene Mnemotechnik zurück, in der man den Menschen ein moralisches Gedächtnis gemacht hat, das ein souveränes Individuum überwinden muss. Wie ein ganz und gar von einem solchen Gedächtnis entbundenes Leben noch »sozial« zu führen wäre, wird bei Nietzsche allerdings nicht deutlich (vgl. SW 11, S. 559, 590) – wenn man einmal von seinem Liebäugeln mit einem Zwei-Kasten-System absieht, in dem sich die Freien das Vertrauen der Beherrschten erschleichen würden, die sich ihrerseits weiterhin an einer sie als »Heerdenthiere« einhegenden Moral zu orientieren hätten, ohne auch nur zu ahnen, wie Menschliches, Allzumenschliches I; SW 2, S. 76 f. So weit ist es mit der Machtlosigkeit gegenüber Empfindungen bei Nietzsche allerdings nicht her. Schließlich denkt er an eine Umformbarkeit selbst der elementarsten Affekte wie etwa des Ekels als Grundlage der Moral (SW 9, S. 64 f., 368, 461, 574, 602). Schließlich könnte man auch das Gewissen »verlernen«, wie man es »gelernt« habe (ebd., S. 72 f.).
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ein von der Moral befreites Leben zu führen wäre (SW 9, S. 664). Die von allem sozialen und moralischen Zwang emanzipierten Herrschenden würden die Beherrschten in einem solchen System nur um so wirksamer darüber täuschen können, dass sie in der moralischen Orientierung ihres Lebens systematisch düpiert werden. 78 Letztere würden glauben, dass man Versprechen halten muss, weil man dazu verpflichtet (worden) ist und weil einem schmerzhaft ein Gedächtnis für das eingebläut worden ist, was man Anderen schuldet. Die Herrschenden wüssten sich dagegen von jeder Zumutung befreit, ihr Wort zu geben oder es zu halten. Für sie könnte das Versprechen-dürfen allenfalls als eine Auszeichnung ihrer Freiheit gelten, die nur als souveräne auch dazu in der Lage wäre, das gegebene Wort wirklich in der Zukunft zu halten, über die diejenigen keine Macht haben, deren wahre Freiheit einer moralischen Normalisierung zum Opfer gefallen ist. So gesehen würden paradoxerweise gerade diejenigen normalerweise Versprechen geben und geben müssen, die sie gar nicht geben dürften, weil es ihnen an der nötigen Souveränität gebricht, während die Freien weder Versprechen geben noch halten müssten – es sei denn aufgrund eigener souveräner Entscheidung, die von keinerlei Verpflichtung eingeschränkt werden dürfte, Versprechen zu halten. Im ersten Fall erkennt der Genealoge nur eine zwanghafte Sozialmoral, im zweiten Fall löst die Freiheit des Versprechenden die soziale Verbindlichkeit des gegebenen Wortes im Grunde auf, denn nichts kann sie daran hindern, es in der Zukunft zu widerrufen. Das bloß erzwungene Wort kann nicht in Freiheit gegeben werden; das souverän gegebene Wort gibt dem Anderen eigentlich nichts, worauf er sich verlassen könnte. Am Ende ist selbst das Vertrauen, das er dem Versprechenden schenkt, nur einer »Auszeichnung« durch denjenigen zu verdanken, der sein Wort aus freien Stücken gegeben hat. Dass das Zustandekommen eines wirklich dem Anderen gegebenen Versprechens davon abhängen könnte, dass dieser seinerseits Vertrauen gewährt, kommt Nietzsche so wenig in den Sinn wie die Frage, ob das in Freiheit gegebene Wort nicht die Antwort auf eine vorgängige Herausforderung dazu sein könnte, es zu geben. 79 Vgl. B. H. F. Taureck, Nietzsche und der Faschismus, Leipzig 2000, S. 185, 221, 225, 248 ff., 272. 79 Aber dient nicht Nietzsches genealogische Kritik der Moral letztlich dem Ziel, das »Wahre im Anderen« schärfer zu fassen (SW 9, S. 450)? Mit jenen kritischen Einwän78
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Diesseits des Heiligen: Emile Durkheim
12. Diesseits des Heiligen: Emile Durkheim Nietzsche hat die sozialphilosophische Frage danach, was Menschen eigentlich zu sozialen Wesen macht, mit Verachtung quittiert. Die »sociale Frage«, die im 19. Jahrhundert nachträglich dieses schon in den Anfängen der neuzeitlichen Sozialphilosophie virulente Problem verschärft aufwerfen musste, erschien ihm nur als ein Phänomen der Dekadenz (SW 13, S. 265), zu der ein Triumph der Mediokrität geführt habe, in der kein wahrhaft freies Leben mehr möglich sei. Nichts lag ihm ferner, als sogenannter Vereinzelung oder der vielfach beklagten Desintegration moderner Gesellschaften eilfertig philosophisch abgesicherte Verbindlichkeit oder sittliche Substanz entgegen setzen zu wollen. Als Genealoge verpflichtet er sich einer radikalen Ernüchterung, die er in gewisser Weise mit den aufkommenden Sozialwissenschaften teilt, insofern sie nur empirisch-deskriptiv bzw. »positiv« darlegen, wie es um die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes steht. Genau diese Aufgabe hat sich Emile Durkheim in seinen (ab 1896 gehaltenen) Vorlesungen über die Physik der Sitten und des Rechts gestellt. 80 Als Ansatz zu einer Soziologie der Moral stellen diese Vorlesungen zunächst nur dar, woher die Verbindlichkeit jedes gegebenen Wortes rührt 81 : aus der Autorität der Gruppe nämlich, der der Versprechende angehört. Sie repräsentiert »in seinen Augen das Heilige schlechthin«; und »wenn er in gleicher Weise gegenüber den einzelnen Menschen, aus denen die Gruppe besteht, Verpflichtungen anerkennt, so weil sich etwas von der Heiligkeit der Gemeinschaft auch deren Teilen mitteilt« (PSR, S. 246). den ist Nietzsches Philosophie des Versprechens bei weitem nicht erschöpft. Man vergleiche nur seine Ausführungen zum Wie des Versprechens sowie zum Misstrauen (an dem man sich gleichsam berauscht, um nicht wieder vertrauen zu müssen; SW 2, S. 409). Bezeichnenderweise schlägt Nietzsche vor, mehr auf die »Kraft« eines stillschweigenden Versprechens zu vertrauen als auf ein explizit gegebenes Wort. »Wenn ein Versprechen gemacht wird, so ist es nicht das Wort, das verspricht, sondern das Unausgesprochene hinter dem Worte. Ja, die Worte machen ein Versprechen unkräftiger, indem sie eine Kraft entladen und verbrauchen, welche ein Theil jener Kraft ist, die verspricht. Lasst euch also die Hand reichen und legt dabei den Finger auf den Mund, – so macht ihr die sichersten Gelöbnisse« – also wortlos (SW 3, S. 239). 80 E. Durkheim, Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt am Main 1991 (= PSR). 81 Zum Verhältnis von Philosophie und »moralischen Tatsachen«, vgl. E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt am Main 1976, S. 88, 133. A
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Keineswegs könnten solche Verpflichtungen aus einem Vertrag oder gegenseitigen Versprechen entstehen, die sie vielmehr ihrerseits schon voraussetzen. Für sich genommen seien Willensäußerungen, die darauf hinauslaufen, sich zu verpflichten, »nicht in der Lage, bindende Wirkung zu entfalten«. Ursprünglich sei es vielmehr die Blutsverwandtschaft, die Verbindlichkeit erzeuge. Damit ist nicht gemeint, »dass die physische Blutsverwandtschaft aus sich heraus moralische Wirksamkeit entfaltete. Vielmehr ist das Blut Träger eines heiligen Prinzips, mit dem es sich vermischt; vom selben Blut sein heißt dann, an ein und demselben Gott teilzuhaben, dieselbe religiöse Qualität besitzen« (PSR, S. 248). Vor allem durch Anrufung des göttlichen Wesens wird gemeinsam bindende Kraft »ausgetauschter Versprechen« erzeugt. Opfer, magische Rituale und feierliche Formeln bestätigen diese nur. Moralisch verbindliche Worte (Versprechen im Besonderen) sind ursprünglich »religiöse Worte«. Wer ihnen zuwider handelt, beleidigt die angerufene Gottheit. Sobald der Wille eines Versprechenden sich in Worten geäußert hat und diese seinen Mund verlassen haben, »sind sie nicht mehr die seinen, sind sie ihm äußerlich geworden, denn sie haben ihre Natur geändert. Sie sind heilig, und er ist profan« (PSR, S. 256 f.; Hervorhbg. B. L.). Durkheim beschäftigt nun die Frage, was aus dem Vertrag bzw. aus dem (gegenseitigen) Versprechen wird, wenn die Praxis des Wortgebens nicht mehr im Zeichen des Heiligen geschieht und nach und nach jedwede äußerliche Formalität hinter sich lässt, um schließlich flexibel den modernen Lebensformen und raschen Abläufen ökonomischen Handelns angepasst zu werden (PSR, S. 263, 270). Übrig bleibt schließlich nichts als die bloße Willensäußerung, auf die Andere den Versprechenden festlegen können, auch wenn man nicht vorhersehen kann, wie sich sein Wille künftig äußern wird. Durkheim spricht tatsächlich davon, dass unmöglich gemacht wird, »daß [der Wille] seine Äußerung revidiert«. Damit wird dem Empfänger ein Recht auf das Versprochene eingeräumt, mit dem er »im Vertrauen auf das Wort« des Anderen rechnen kann. Man ist demzufolge als Versprechender dann gegenüber Anderen gebunden, da das gegebene Wort »enteignet und exteriorisiert« worden ist, wie Durkheim glaubt. In Folge dessen dürfe der Andere sich des gegebenen Wortes »so endgültig bemächtigen, als wäre es eine Sache« (PSR, S. 265 f.; Hervorhbg. B. L.). Schließlich löst sich der (Konsensual-)Vertrag von seiner feier114
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Diesseits des Heiligen: Emile Durkheim
lichen, magischen und religiösen Vorform völlig ab. 82 Verbindlichkeit kommt dem gegebenen Wort dann aber nicht aufgrund des subjektiven Willens oder als Wort allein zu; »denn da ist nichts in diesem Wort, was den, der es ausspricht, zu binden vermöchte«. Die »bindende Kraft« tritt von außen hinzu: durch das Gesetz und durch die soziale Nützlichkeit (PSR, S. 268). Dabei sind die gegebenen Worte »zu einer echten Sache geworden«. Der Ausdruck »sein Wort geben« sei gerade keine bloße Metapher, betont Durkheim. Wie Dinge gehen sie im Fall des Versprechens in den Besitz Anderer über. Als solche aber haben sie »keine eigenständige Kraft mehr, weil sie jeden religiösen Charakter verloren haben«. »Sie sind nur noch Zeichen, die es zu deuten gilt […].« Aber wenn ihre Bedeutung »von der Art des Willens ab[hängt], dem sie sich verdanken«, und wenn »es nicht die ausgesprochenen Worte« selbst sind, die unabänderlich gelten sollen, sondern »der Entschluß, den sie zum Ausdruck bringen«, hängt dann nicht das Versprechen doch wieder von der Subjektivität des Versprechenden ab? Ist nicht allein ihr dann zu entnehmen, was versprochen wurde und worauf der Entschluss abzielte, sein Wort zu geben? Diesem Zwiespalt ist mit einer äußeren Festlegung des Versprechens nicht zu begegnen, denn »alles, was die Freiheit […] einschränkt, mindert auch die bindende Kraft« des Versprochenen (PSR, S. 280). Die bindende Kraft kann sich um so wirksamer entfalten, wie man nicht versucht, ihrer vorab formell Herr zu werden. Überlässt man sie aber dem Geschehen des Versprechens selbst, so bleibt zwischen demjenigen, der sein Wort gegeben hat, einerseits und dem Empfänger des Versprochenen andererseits sowie zwischen dem Akt des Versprechens und seiner Einlösung doch eine wesentliche Unbestimmtheit, die Durkheim nur schlecht kaschiert. Der geäußerte, unabänderliche Entschluss, etwas zu versprechen, »gibt« dem Anderen lt. Durkheim »meine feste Absicht, in einer bestimmten Weise zu handeln, und folglich muß ich mich an diese Absicht halten« (PSR, S. 279). Aber sowohl die Deutung der gegenwärtigen als auch der zukünftig zu erinnernden Absicht liegt doch primär beim versprechenden Subjekt. Die Bedeutung der Worte, in denen das VerspreViel zwiespältiger erscheint dieser Übergang in der Rekonstruktion von J. Habermas, wo er von einer »Substitution« der Autorität des Heiligen in einer »kommunikativ verflüssigten Moral« spricht; Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt am Main 1981, S. 139 f.
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Kommentierte Brennpunkte
chen zum Ausdruck kommt, hängt ja wie gesagt von dem subjektiven Willen ab, »dem sie sich verdanken«. Dann aber gehen die Worte mitsamt ihrer Bedeutung niemals einfach wie Dinge 83 in den Besitz des Anderen über.
Nicht zu übersehen ist an dieser Stelle der spezielle, oft missverstandene Begriff des »sozialen« Dinges als einer willentlich nicht oder kaum zu beeinflussenden Sache; vgl. R. König, »Einleitung«, in: E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt am Main 1984, S. 21–82, hier: S. 25–27. Gemeint sind eigentlich Formen »konsolidierten sozialen Lebens«, die man als Praktiken einstufen könnte. Bis hin zu P. Bourdieu herrscht allerdings auch in der Analyse von Praktiken ein gewisser Objektivismus vor, der sich mit der eigentümlichen Fragilität des Versprechens, wie sie u. a. in jener zwischenzeitlichen Unbestimmtheit zum Tragen kommt, nur schwer vereinbaren lässt. Vgl. P. Bourdieu, Sozialer Sinn, Frankfurt am Main 2 1997, Kap. 3 und 5, sowie S. 247 ff. zum Verhältnis von »Sozialphysik und Sozialphänomenologie«. 83
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Teil B Das Versprechen in der Philosophie der Gegenwart
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I. Gelebtes Versprechen: Selbst-Bezeugung und Geschichte
Ich ohne Gewähr. Ingeborg Bachmann 1
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Versprechen und Identität
Akte des Versprechens sind in sehr unterschiedlichen Formen Teil unserer Lebenspraxis. Wir kennen relativ formalisierte Akte wie etwa den Eid, in dem man uns vor Gericht das Versprechen abnimmt, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. In diesem Fall steht es beispielsweise einem Zeugen, der unter Eid vernommen wird, kaum noch frei, sein Wort zu geben oder nicht. Überdies sind hier die Adressaten und Formen des Versprechens juridisch klar definiert. Im alltäglichen Leben gilt dagegen das Versprechen als ein freiwilliger Akt ausdrücklicher Selbstverpflichtung auf künftig zu Tuendes (oder zu Unterlassendes), zu dem man uns nicht zwingen kann, selbst wenn uns ein solcher Akt abverlangt wird. 2 Es gibt aber auch Formen indirekten Versprechens, die sich als solche nicht in der Form eines Aktes zu erkennen geben. »Verspricht« man nicht dadurch, dass man eine Rolle wie die der Vaterschaft oder der Mutterschaft übernimmt, dieser auf Dauer gerecht zu werden? Implizieren Vater- und Mutterschaft nicht das Versprechen, unter allen Umständen Sorge zu tragen für das neugeborene, in Pflege genommene oder adoptierte Kind? 3 Liegt in der Trauer um den Anderen nicht das Versprechen, ihn nicht dem Vergessen preiszugeben? 4 I. Bachmann, Frankfurter Vorlesungen, München 1980, S. 61. Vgl. zum beeideten Versprechen als Garantie der »Permanenz« einer Gruppe: J.-P. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, 1. Band, Reinbek 1967, S. 448. 3 Zweifellos ist hier ein schwächerer Sinn von Versprechen mit im Spiel, der besagt, dass jemand »erwarten lässt«, der Rolle, die er übernommen hat, gerecht zu werden. Aber sich auf eine solche Erwartung einzulassen, bedeutet oft schon eine Selbst-Verpflichtung und in diesem Sinne ein implizites Versprechen. 4 Zum Paradigma der Trauer und zum Abschied als einem Versprechen über den Tod 1 2
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Angesichts dieses Spektrums von Versprechen im engeren und weiteren Sinne muss es wundern, dass sie erst in den letzten Jahrzehnten (meist nur mit Blick auf spezifische Sprechakte) eingehendere Beachtung gefunden haben. Das mag daran liegen, dass sich die abendländische Tradition der Politischen und der Praktischen Philosophie ohnehin »immer außerordentlich selektiv verhalten« und eine große Zahl echter Erfahrungen vernachlässigt und »begrifflich ungeklärt gelassen [hat], unter denen sich nicht wenige befinden, die so elementarer Natur sind, daß man den politischen Bereich schwerlich auch nur im Rohen abstecken kann, ohne ihnen Rechnung zu tragen«. 5 Diese Bemerkung Hannah Arendts ist unter anderem auf das Versprechen gemünzt – mit Recht. Gewiss, die zentrale Bedeutung des Versprechens für die Instituierung eines rechtlich befriedeten Raums politischen Lebens ist schon früh erkannt worden, wie die vorangegangenen Teile A – I/II hinreichend gezeigt haben. Beruht der sogenannte Gesellschaftsvertrag nicht auf gegenseitigen Versprechen (statt nur auf einer unverbindlichen Übereinkunft)? Und hat nicht schon das römische Recht den Vertrag als gegenseitiges Versprechen aufgefasst? Eine nachträgliche Spurensuche wird vielerorts fündig. Das ändert aber nichts dahinaus vgl. die Hinweise zu Treue und Totenkult bei G. Marcel, Sein und Haben, [1935], Paderborn 1953, S. 105; Das große Erbe, Münster 1952, S. 25, und V. Jankélévitch, Der Tod, Frankfurt am Main 2005, S. 390. Eine Analyse der diachronen Struktur des Haltens eines solchen Versprechens der Nichtpreisgabe über den Tod hinaus müsste sich sorgfältig mit dem Begriff eines Tuns (Sorge tragen) befassen, das sich schon aufgrund seines Angelegtseins auf Dauer nicht ohne weiteres in segmentierte Handlungen im gewöhnlichen Sinne auflösen lässt. Vgl. P. Ricœur, Du texte à l’action, Paris 1986, S. 238 ff.; ders., Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 187 f. (= SaA). In diesem Fall lässt sich das Tun zudem nicht einfach vom Getanen her verstehen, da das Tun zur diachronen Form des Lebens selbst wird und so im Gelebten aufgeht. Inwieweit kann die Erzählung der Einlösung eines – indirekten – Versprechens Rechnung tragen, die ganz und gar mit der Dauer eines Lebens verschmilzt? Ist es nicht nach Ricœurs Überzeugung die Aufgabe der Erzählung, das Tun zu rekapitulieren? Kann das gelingen, wenn das Tun sich kaum mehr ereignishaft zuspitzt? Muss sich die Erzählung aber nicht ungeachtet dieser Schwierigkeit dem Anspruch stellen, das Gelebte geschichtlich zu artikulieren? Ist sie nicht auch für Ricœur ganz und gar Antwort auf ein »vouloir-dire du vécu«, das im Leben selbst wurzelt? Vgl. P. Ricœur, A l’école de la phénoménologie, Paris 1986, S. 63. – Es bleibt vorläufig ein Desiderat, die Überkreuzung von Selbst-Bezeugung und Narrativität zu denken. Von einer umstandslosen, von Hannah Arendt nahe gelegten Reduzierbarkeit des Selbst auf dessen nachträgliche Sichtbarkeit in einem narrativen Nekrolog sind wir hier jedenfalls weit entfernt. 5 H. Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 4 1985, S. 234 (= VA).
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Versprechen und Identität
ran, dass dem Versprechen als solchem allenfalls marginale Aufmerksamkeit geschenkt worden ist. Tatsächlich hat man sich erst nach A. Reinach dem Versprechen en detail zugewandt. Vor allem J. L. Austin und sodann J. R. Searle haben linguistische Infrastrukturen des Versprechens herausgearbeitet und eine vielfältige sprachphilosophische Detailforschung angeregt. Was aber bis heute aussteht, ist ein genaueres Verständnis dessen, wie und warum überhaupt danach verlangt ist bzw. verlangt wird, sein Wort zu geben, wie man sich an es bindet und was dabei – zumal langfristig – eventuell auf dem Spiel steht, wenn man es im Leben einlöst oder bricht. In der sprachphilosophischen Forschung hat es oft den Anschein, als liege das Versprechen als eine nach gewissen Regeln funktionierende soziale Institution bereits fertig vor und es gehe nur noch darum, letztere adäquat zu rekonstruieren und pragmatisch verständlich zu machen. Von J. Habermas bis zu R. Brandom zeigt man sich zudem überwiegend auf die soziale Geltung des gegebenen Wortes fixiert, wohingegen die Frage meist ganz außer Betracht bleibt, wie und warum es überhaupt dazu kommt, dass man ungeachtet einer widrigen Zukunft 6 , nicht geringer Zweifel an der eigenen Glaubwürdigkeit und angesichts der eigenen Unbeständigkeit sein Wort gibt, um sich an es bzw. mittels des Versprochenen an Andere zu binden und so womöglich seine Freiheit selbst zu beschränken. Genauso unterbelichtet blieb lange Zeit die Frage, welche Folgen sich aus einem Versprechen ergeben, etwa im Hinblick auf die (bereits in der Einleitung kurz angeschnittene) Erinnerung an das gegebene Wort oder ihr Versagen. Sind wir wirklich derart unzuverlässige Wesen, dass niemand je dafür bürgen kann, wer er morgen sein wird, wie Hannah Arendt meint 7 , bleibt es dann letztlich allein Anderen überlassen, uns an die Verpflichtungen zu erinnern, auf die wir uns eingelassen haben, als wir unser Wort gaben? Was aber ist von einem Versprechen zu halten, auf das nicht auch die Erwartung sich gründen dürfte, derjenige, der es gegeben hat, werde sich künftig an es erinnern? Impliziert nicht jedes Versprechen auch das (implizite) Versprechen, das Versprochene nicht zu vergessen? Ist dieses implizite Versprechen gleichsam mit einem Zeitindex versehen oder gilt es stets auf unbestimmte Zeit? 6 7
Vgl. J. L. Austin, Philosophical Papers, Oxford 2 1970, S. 99 ff. Vgl. Kap. II – B, 3. 2 in diesem Band. A
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Gelebtes Versprechen: Selbst-Bezeugung und Geschichte
Zur notorischen Unzuverlässigkeit sozialer Wesen, die allein aus sich heraus nicht sagen können, wer sie in Zukunft sein werden, tritt erschwerend, was Arendt die Unabsehbarkeit der zwischenmenschlichen Verhältnisse nennt. Gegen beides, gegen die Unzuverlässigkeit und gegen diese Unabsehbarkeit, bringt sie das Versprechen in Stellung als eine Art Relais im Spannungsverhältnis von Identität und Sozialität, und zwar so, dass Identität wesentlich vermittels des Wort-gebens im Horizont des Mitseins der Anderen konstituiert und aufrecht erhalten wird (VA, S. 231 ff., 239 ff.). Unter dem Einfluss der ständigen Versuchung, Identität als etwas Substanzielles zu denken, hat man weder der Frage der sozialen Konstitution noch dem Problem der sozialen Aufrechterhaltung von Identität gerecht werden können. Die durch Versprechen mit konstituierte Identität kann aber nicht als etwas Substanzielles gelten. Und als durch gehaltene Versprechen gewissermaßen beglaubigte kann sie sich nur im Verlauf einer Geschichte angesichts Anderer erweisen. 8 Niemand hat zu seiner Identität einen privilegierten Zugang, insofern es sie nur als wesentlich durch Versprechen bezeugte unter den Augen Anderer geben kann. Der soziale Bezug tritt zum Problem der Identität nicht erst sekundär hinzu. 9 Als auf das Wort-geben als Form ihrer Bezeugung angewiesene ist Identität etwas radikal »Soziales«. Das heißt nicht, dass die Beglaubigung und Bezeugung des Selbst in einer narrativen Identität aufgehen könnte. 9 Von entscheidender Bedeutung ist an dieser Stelle die Differenzierung von Selbigkeit und Selbstheit, ohne die diese These nicht zureichend zu verstehen ist. Selbigkeit kommt Dingen (im weitesten Sinne) zu, die einen reidentifizierbaren Bestand aufweisen. Dieser Bestand muss nicht im Ganzen invariabel und konstant sein, aber wenn sich etwas in allen Hinsichten über die Zeit hinweg als variabel und inkonstant erweist, zweifeln wir gewöhnlich an der Identität der betreffenden Sache, am Kern ihrer Selbigkeit, den wir üblicherweise voraussetzen, wenn wir von »demselben« Gegenstand zu sprechen meinen. Mit Recht stellt P. Strawson fest, dass das Gleiche für die Rede von »derselben« Person gelten muss: ohne gewisse Anhaltspunkte der Selbigkeit, durch die wir Andere als dieselben wiedererkennen (reidentifizieren) können, wäre jeder weitere, anspruchsvollere Ausgriff auf ihre – etwa geschichtliche, ethische oder moralische – Identität zum Scheitern verurteilt (Einzelding und logisches Subjekt [Individuals], Stuttgart 1995). Die Identität eines geschichtlich verfassten Selbst wäre ohne eine gewisse Grundlage in der Selbigkeit der Person buchstäblich nicht wiederzuerkennen. Demgegenüber insistiert Ricœur nun aber darauf, dass die Frage nach dem Selbst, die Frage danach, wer jemand ist, nicht auf die Frage nach Selbigkeit reduziert werden darf. V. a. Kierkegaard und Sartre haben gezeigt, dass man zu keinem Zeitpunkt je ein Selbst »ist« im Sinne eines invariant bestehenden Soseins. Selbst-Sein ist nur beschreibbar als ein ständiges lebensgeschichtliches Geschehen des Werdens zu dem, der man gewesen sein wird (vgl. P. Ricœur, Le Volontaire et l’involontaire, Paris 1950, S. 37–81; v. Verf., 8
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Versprechen und Identität
Diesen Begriff der Bezeugung entlehnt Ricœur der in Sein und Zeit entwickelten Ontologie des Selbst-Seins, um den spezifischen Wahrheitsmodus zu bestimmen, in dem sich Identität zeigt. 10 Anders als Heidegger insistiert Ricœur aber im Anschluss an Hannah Arendt auf der Sichtbarkeit dieses Sich-zeigens für Andere und betont zu»Das bezeugte Selbst. Kierkegaard nach Hegel – und danach«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 53 [2006], Nr. 3, S. 681–716). Eine Reduktion des Geschehens des Selbst auf eine starre Zeitlichkeit der Selbigkeit wird aber besonders durch das eminente öffentliche Interesse an der Identifizierbarkeit der Mitglieder eines Gemeinwesens nahegelegt. Zuerst die Geburtsurkunde, dann der Personalausweis, schließlich der Totenschein sowie eine Fülle anderer, in der Zwischenzeit durch Dritte beglaubigter Zeugnisse, die die äußeren Zäsuren und biographischen Meilensteine eines Curriculum vitae markieren, bezeugen dieses Interesse an der Identifizierbarkeit ein und derselben, zurechenbaren Person. Die Geburtsurkunde bezeugt das Zur-Welt-gekommen-sein eines künftig zurechenbaren, verantwortlichen Mitglieds des Gemeinwesens, das nirgends deutlicher als im Fall der Verletzung der öffentlichen Ordnung diesen ihm zugeschriebenen Status zu spüren bekommt: Die in einer polizeilichen Optik identifizierbare Person kann als Täter belangt und dingfest gemacht werden. Dazu bedarf es aber in der Regel einer besonderen Frage nach dem Wer im Sinne der Selbstheit nicht. Und nur dem Anschein nach deckt sich hier die Frage nach der Identität des Verantwortlichen, nach der zurechenbaren Person als der Antwort auf diese Frage mit einer ganz anders gelagerten, anders motivierten und anders zu beantwortenden Identitäts-Frage als der Frage nach dem Wer, die dem Selbst gilt. (Vgl. H. Lübbe, »Die Identitätspräsentationsfunktion der Historie«, Poetik und Hermeneutik VIII, München 1979, S. 277– 292, hier: S. 278. Lübbe bringt die Frage nach dem Selbst in der Frage nach reidentifizierbarer Selbigkeit weitgehend zum Verschwinden.) Im unterschiedslosen Gebrauch des Identitätsbegriffs wird die Kontamination beider Fragen gewissermaßen unmittelbar praktiziert – zum Schaden der Spezifität der Frage nach dem Selbst, die von der Frage nach einer bloß reidentifizierbaren Person nicht deutlich unterschieden wird. Nicht zuletzt ist es zu einer Unterdrückung der Frage nach dem Selbst und nach der Besonderheit seiner geschichtlichen, ethischen und moralischen Struktur auch durch die Vorherrschaft eines ontologischen Erbes gekommen, das als Antwort auf die Frage nach der Person ein esse morale vermuten ließ, ein statisches Sein, das man juridisch fassbar zu machen suchte. Vgl. Th. Kobusch, »Person und Subjektivität«, in: R. L. Fetz, R. Hagenbüchle u. P. Schulz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 2, Berlin, New York 1998, S. 743–761. Von einer Ontologie der Person, der die wesentliche Fragilität eines Selbst gar nicht zu Gesicht kommt, das sich nur angesichts des Anderen auf die Spur kommt, rückt Ricœur entschieden ab. 10 Zwar versteht Ricœur mit Heidegger Identität vom Geschehen des Selbst-Seins her, das als solches gerade kein »Gegenstand« sein kann, doch seine Beschreibung des gegenseitigen Aufeinanderverwiesenseins und der reziproken Irreduzibilität von Selbigkeit und Selbstheit verhindert, dass letztere geradewegs in eine soziale Unsichtbarkeit ausschert. Zum Verhältnis Ricœur:Heidegger sowie zum Begriff eines Wahrheitsmodus, der nicht auf ein Problem der »Verifikation« zurückgeführt werden kann, vgl. v. Verf., »Selbstheit und Bezeugung. Soi-même comme un autre als Antwort auf Sein und Zeit«, in: A. Breitling, S. Orth, B. Schaaff (Hg.), Das herausgeforderte Selbst, Würzburg 1999, A
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Gelebtes Versprechen: Selbst-Bezeugung und Geschichte
gleich die Einbettung des Versprechens in den ethischen und moralischen Kontext des »Mitseins«. 11 Ricœur konfrontiert uns seinerseits mit der Frage, inwiefern diese Einbettung den Sinn von Selbstsein ursprünglich betrifft. Kann dieser Sinn überhaupt neutral-ontologisch beschrieben werden, wenn das Selbst in seinem Sein selbst derart grundsätzlich auf das Versprechen angewiesen ist und wenn es nur dank des Anderen versprechen kann und angesichts des Anderen (etwas) zu versprechen hat? Muss die Beschreibung des Sinns von Selbstsein nicht von Anfang an auf dieses Vom-Anderen-her des Versprechens Rücksicht nehmen? Diese Zuspitzung der Fragestellung ergibt sich aus der Begründung des Zusammenhangs von Identität und Versprechen, die von Arendt bis Ricœur gegen eine bis heute dominierende vertragstheoretisch-juridische Reduktion des Versprechens gerichtet ist. Sie geht über den bloßen Sprechakt entschieden hinaus, da sie es sogar nahe legt, das Selbst angesichts des Anderen als Versprechen zu verstehen. Im Folgenden beziehe ich mich weiterhin stark auf die Philosophie Paul Ricœurs, ohne ein Geheimnis daraus zu machen, dass ich glaube, dass sie wie keine andere der üblichen Beschränkung des Versprechens auf einen nach gewissen Regeln erfolgenden Sprechakt entgegen wirkt. 12 Unbestreitbar verdankt zwar die Philosophie des Versprechens der analytischen Präzisierung der sprachlichen Bedingungen, unter denen ein Akt des Wort-gebens zustande kommt, sehr viel. 13 Jedoch kommt in der analytischen Fixierung auf diese Bedingungen gerade das Selbst zu kurz, das allein sein Wort geben kann. Nur jemand, nach dem wir mit der Wer-Frage fragen können, ist dazu fähig. Wenn wir indessen wissen wollen, was es für ein Selbst S. 157–177, sowie J. Greisch, »›Versprechen dürfen‹ : unterwegs zu einer phänomenologischen Hermeneutik des Versprechens«, in: R. Schenk (Hg.), Kontinuität der Person, Stuttgart 1998, S. 241–270. 11 Vgl. Ricœurs »Préface«, in: H. Arendt, Condition de l’homme moderne, Paris 1983, S. 5–32, hier: S. 22 ff., 31. 12 Insofern die Aufgabe, dies zu zeigen, im Vordergrund steht, wird es nicht darum gehen, das Versprechen in den Gesamtkontext der Ricœurschen Philosophie einzubetten. 13 Nur am Rande sei hier auf die weit zurück reichende Auseinandersetzung zwischen Phänomenologie, Hermeneutik und Sprachanalyse verwiesen, an der sich besonders Ricœur immer wieder beteiligt hat; vgl. P. Ricœur, »Phänomenologie des Wollens und Ordinary Language Approach«, in: H. Kuhn, E. Avé-Lallement, R. Gladiator (Hg.), Die Münchner Phänomenologie, Den Haag 1975, S. 105–124; ders., »Philosophie et langage«, in: Revue Philosophique no. 4 (1978), S. 449–463.
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Das Versprechen als Akt
(und dessen Konstitution) bedeutet, versprechen zu können (oder zu dürfen oder zu müssen etc.), helfen uns Beschreibungen dieser Bedingungen nicht viel weiter. Das Gleiche gilt für die Einbettung des Wortgebens in den Kontext sozialer und politischer Lebensformen und deren ethisch-moralische und kulturelle Dimensionen. Letztere kommen in der üblichen Berufung auf Wittgensteins späte Gebrauchstheorie der Bedeutung von Worten im Kontext von Sprachspielen und Lebensformen nur selten in den Blick. 14 Dagegen bedenkt Ricœur ausführlich diese Dimensionen. Wie sich in der Auseinandersetzung mit seinen späten Schriften zeigt, hat die Einbettung des Versprechens in Kontexte menschlicher Lebensformen allerdings nichts von der moralischen Gemütlichkeit eines kommunitären Ethos, das verbindlichen Sprachgebrauch weitgehend auf einander Zugehörige beschränkt. Wenn dagegen jeder Andere als Anderer uns in gewisser Weise fremd bleibt, werden wir auf die Spur einer außer-ordentlichen Dimension des Versprechens geführt, die sich in keiner mehr oder weniger geschlossenen Ordnung sozialer Bindungen und Verbindlichkeiten aufheben lässt.
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Das Versprechen als Akt
Auch Ricœur, der nach Hannah Arendt wohl am nachdrücklichsten auf der Bedeutung des Versprechens sowohl für die Konstitution eines sozialen Selbst als auch für dessen ethische und moralische Einbettung in politischen Lebensformen insistiert hat, knüpft allerdings zunächst an die inzwischen klassische Sprechakttheorie an. Dabei betont er den Sinn des freiwilligen Engagements, das ihm darin zu liegen scheint, dass man sich zur Einlösung des Versprochenen verpflichtet. Selbst wenn das Versprechen die Antwort darstellt auf das Verlangen eines Anderen, sein Wort zu geben und sich auf das gegebene Wort für die Zukunft zu verpflichten, kann es nach Ricœurs Überzeugung nicht ohne ein solches Engagement zustande kommen. Nur unter dieser Voraussetzung wird es überdies »abgenommen«. N. Garver, »Die Unbestimmtheit der Lebensform«, in: W. Lütterfelds, A. Roser (Hg.), Der Konflikt der Lebensformen in Wittgensteins Philosophie der Sprache, Frankfurt am Main 1999, S. 37–52; v. Verf., »Lebensform/Lebenskunst«, in: P. Kolmer, A. G. Wildfeuer (Hg.), Neues Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 2, Freiburg i. Br., München 2008 (i. V.).
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Gelebtes Versprechen: Selbst-Bezeugung und Geschichte
Hier setzt Ricœur an: »Promettre, c’est se placer soi-même sous l’obligation de faire ce que l’on dit aujourd’hui que l’on fera demain. Or, la relation à autrui est ici évidente, dans la mesure où c’est toujours à autrui que je promets; et c’est autrui qui peut exiger que je tienne ma promesse; plus fondamentalement, c’est lui qui compte sur moi et attend que je sois fidèle à ma promesse.« 15 Ricœur geht allerdings über die sprechakttheoretische Analyse sogenannter konstitutiver Regeln des Versprechens entschieden hinaus. Diese Regeln müssen Searle zufolge eingehalten werden, wenn der Akt des Versprechens gelingen soll. 16 Im Versprechen geht es aber auch darum, welche Voraussetzungen jemand mitbringen muss, um überhaupt versprechen zu können; und es geht um das Sein eines Selbst, das für das Halten des gegebenen Wortes einsteht. Fällt nicht ein gebrochenes – aber auch ein vergessenes und ein leichtfertiges – Versprechen auf dieses Sein zurück? Was steht in diesen Fällen für den, der etwas verspricht, auf dem Spiel? Die persönliche Integrität? Das »Gesicht«, das man verlieren kann? Die Frage, was im Akt des Versprechens und durch ihn geschieht, 17 kann nicht losgelöst werden von der Frage nach den Folgen und Rückwirkungen des gehaltenen 15 P. Ricœur, »Individu et identité personelle«, in: Sur l’individu, Paris 1987, S. 54–72, hier: S. 71. Hervorhebg. B. L. Die Sprechakttheorie beschreibt das Sprechen mit Recht als ein »doing things with words«. Aber gilt nicht oft auch umgekehrt, dass man implizit etwas »sagt«, indem man etwas tut? »Quand faire c’est dire« könnte man die französische Übersetzung des Austinschen Buchtitels How to do things with words (Quand dire c’est faire) variieren. 16 Vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung, Bd. I-III, München 1988–1991, hier: Bd. III, S. 375 f.; J. L. Austin, Philosophical Papers, S. 179; J. R. Searle, Sprechakte, Frankfurt am Main 1979, S. 88 ff. 17 Für Kant handelte es sich vor allem um eine Frage des Willens, der sich selbst das Gesetz gibt. Kann ich aber annehmen, mein Entschluß, ein Versprechen zu geben, werde fortan für mich selbst so verbindlich sein, dass ich das Versprochene nicht etwa vergesse? Ein Versprechen geben, heißt das nicht, zu versichern, dass man das gegebene Wort keinesfalls vergessen wird? Kann ich aber für meine mangelhafte Erinnerung einstehen? Setzt das Versprechen nicht in sehr zweifelhafter Weise ein »enracinement mutuel de la liberté et de la nature« voraus, worauf das Halten des gegebenen Wortes sich muss stützen können? Vgl. P. Ricœur, A l’école de la phénoménologie, S. 74 ff. Kann man je eine entsprechende Verlässlichkeit sicher für sich in Anspruch nehmen? Hannah Arendt bestreitet das. Man könne sich nicht absolut auf sich selbst verlassen. Jedes Versprechen setzt uns also, wenn es sich so verhält, erneut dem Verdacht aus, dem die Bekräftigung des gegebenen Wortes doch gerade begegnen soll. Vgl. auch J. Greisch, »›Versprechen dürfen‹. Fünf phänomenologisch-hermeneutische Variationen«, in: Jahrbuch für Philosophie des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover Bd. 9 (1998), S. 75–96, hier: S. 80 f.
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Das Versprechen als Akt
oder gebrochenen Versprechens auf denjenigen, der sein Wort gab, und auf den Anderen, der sich darauf verlassen hat. 18 Offenbar folgt aus dem Versprechen, dass man sich freiwillig darauf einlässt, in der Schuld des Anderen zu stehen, dem man es gegeben hat; man wird verantwortlich für das gegebene Wort und zurechenbar für den Fall, dass man es bricht oder nicht einlöst. Zwar wird das »Tier, das versprechen darf«, dadurch keineswegs schon berechenbar, wie Nietzsche in der Genealogie der Moral annimmt. Doch fällt nicht das nicht gehaltene Wort unweigerlich auf das Sein des Versprechenden zurück – obgleich man niemals im Vorhinein garantieren kann, dass das Versprechen wird gehalten werden können? Zwar erscheinen auf den ersten Blick nur solche Versprechen als glaubwürdig, deren Einlösung grundsätzlich in unserer Macht liegt. Doch versprechen wir das Versprochene stets trotz einer ungewissen Zukunft, ungeachtet der Widrigkeit und Widersetzlichkeit der Welt, die unsere Absichten nur allzu leicht durchkreuzen und vereiteln kann, und auch unserer eigenen Wankelmütigkeit zum Trotz (SaA, S. 205). Weder die Zukunft, noch die Welt noch auch sich selbst hat man wirklich so »im Griff«, dass man das Versprechen »ich werde x tun …« als eine Vorhersage ausgeben könnte. Was seiner sprachlichen Form nach als eine bloße Prognose erscheinen könnte, ist doch eine Selbstverpflichtung, deren nicht selten der Hand anvertraute Bekräftigung von vornherein dieser dreifachen Ungewissheit entgegengesetzt wird. Gerade deshalb erscheint die Bekräftigung als Versicherung der Kraft des Versprechens – der Ungewissheit der Zukunft, der Welt und unserer selbst zum Trotz – zugleich als glaubwürdig und als zweifelhaft. Denn die Bekräftigung kann als solche nur als dieser dreifachen Ungewissheit, deren wir gerade nicht Herr werden können, entgegengesetzt verstanden werden. Aber könnte unser Versprechen nicht nur dann als zweifelsfrei glaubwürdig gelten, wenn wir dieser dreifachen Ungewissheit Herr zu werden vermöchten? Ist das Versprechen insofern nicht immer ein »übermäßiges«, das den Verdacht einer gewissen Verantwortungslosigkeit wach rufen kann, die unsere Versicherung »ich werde tun …« als Missbrauch der Sprache und des Vertrauens Anderer entlarven würde? Gehört nicht bereits zum Akt des Versprechens, der die Verantwortung für das Versprochene übernimmt, die AntizipatiMit Recht moniert J. Shklar die bisher dominierende Zentrierung auf Subjekte des Versprechens in Über Ungerechtigkeit, Frankfurt am Main 1997, S. 19 f.
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on einer künftigen, retrograden Rechenschaft, die wir Anderen für den Fall schulden, dass wir das gegebene Wort nicht einlösen? Weiß diese Antizipation nicht im Vorhinein um die Fahrlässigkeit eines Versprechens trotz ungewisser Zukunft? Muss sie nicht von Anfang an gewärtigen, dass wir auch für das, was die Einlösung unseres Versprechens ohne unser Zutun durchkreuzt, in gewisser Weise verantwortlich sein werden? Das Ich-Sagen im Akt des Versprechens impliziert auch für Ricœur einen solchen Vorgriff auf eine nachträgliche Rechenschaftsverantwortung (imputation). Ich-Sagen heißt, die Fähigkeit für sich in Anspruch zu nehmen, das Versprochene tun zu können. Nur ein sujet capable kann sujet de l’imputation morale sein. Als solches ist es zugleich unvertretbare Existenz, in der das Tun-können verwurzelt ist, und namentlich identifizierbar im interpersonellen und öffentlichen Raum. Aber beschränkt sich die Verantwortung des Versprechenden darauf, dass er Sorge trägt für die Einlösung des Versprochenen, und auf seine nachträgliche Zurechenbarkeit? Das Versprechen kann nicht gelten, ohne dass es uns »abgenommen« wird. Der Andere muss auf das gegebene Wort bauen können, indem er demjenigen vertraut, der es gibt. Der Akt des Versprechens muss das Vertrauen des Anderen in Anspruch nehmen und riskiert, es zu enttäuschen. Wer etwas verspricht, muss daher zugleich die Verantwortung für diese drohende Enttäuschung auf sich nehmen. Wer zweimal enttäuscht, dem glaubt man womöglich nicht mehr, es sei denn die Glaubwürdigkeit wird durch prekäre Verfahren der Wiedergutmachung, der Nachsicht, des Verzeihens … wiederhergestellt, d. h. auf Wegen, auf deren Eröffnung niemand ein Recht hat. Dieser dritte Aspekt der Verantwortung des Versprechens betrifft direkt den Anderen, dem es gegeben wird. Es kann keine illokutionäre Äußerung vom Typ Versprechen ohne Empfänger geben; keine Illokution also ohne Allokution. Mehr noch: indem ich etwas verspreche, verspreche ich es dir. Die Äußerung des Versprechens ist stets gleichbedeutend mit einer Interlokution (SaA, S. 59). Strittig aber ist, ob die schlichte Äußerung selbst schon die Verpflichtung nach sich zieht, das gegebene Wort einzulösen. Wären Versprechen ohne jegliche den Sprecher an das Gesagte bindende Implikation nicht nichts als leere Worte, bloße »Versprechungen«? 19 Bezeichnenderweise gebrauchen wir den Plural so, als zeigte er wie von selbst die normative Folgenlosigkeit des Gesagten an. Reflektiert sich darin nicht zugleich die
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Kann man aber darauf bauen, dass das gegebene Versprechen im engeren, moralischen Sinne verpflichtet? Offenbar implizieren die konstitutiven Regeln des Versprechens, wie sie Searle analysiert hat, nichts dergleichen. Sie begnügen sich damit, die illokutionäre Kraft des Aktes zu bestimmen, d. h. anzugeben, was überhaupt als Versprechen »zählt«. »Allein diejenige moralische Regel, die man Treueregel nennen kann und derzufolge man seine Versprechen einhalten muß«, meint daher Ricœur, »besitzt einen deontischen Status« (SaA, S. 190). Insofern eignete dem bloßen Sprechakt des Versprechens an sich keine moralische Dimension (wobei Ricœur Ethik als eine Teleologie des Guten im Gegensatz zu einer Deontologie der Verpflichtung auffasst 20 ). Was aber heißt Treue? Geht es lediglich um Treue zu sich selbst im Halten des gegebenen Wortes, worin sich die Selbst-Ständigkeit (maintien de soi) erweist? Diese Treue wird der Zeit entgegengesetzt. Selbst wenn meine Wünsche sich ändern würden, selbst wenn ich selbst mich ändern würde, »ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe«. Aber ich bleibe auch dabei, um dem »Vertrauen, das der Andere in meine Treue setzt, zu entsprechen« (SaA, S. 147, 154). So werde ich durch das Entgegenkommen des Anderen verpflichtet, nicht bloß dadurch, dass ich angesichts eines in mir verwurzelten Faktums der Vernunft eine effektive Verpflichtung auf das Versprochene schuldig bin. Mehr noch: ich schulde auch den anderen Anderen, dass ich mein Versprechen halte. Das Versprechen ist nämlich nicht bloß ein Phänomen der Interlokution, wie es den Anschein hat, sondern besitzt auch eine weniger offensichtliche »trianguläre« Struktur, auf die Ricœur mit Recht hinweist. Das Versprechen ist integraler Bestandteil einer kollektiven Lebensform, deren Kohäsion nicht allein durch das Recht, sondern (wenn überhaupt) nur durch eine vorgängige Sozialität garantiert werden kann – das wussten insgeheim bereits die Zweifelhaftigkeit und Kostbarkeit des gegebenen Wortes? Man muss sich hüten, zuviel zu versprechen. Denn mit der Verbindlichkeit des gegebenen Wortes steht der überaus zerbrechliche Zusammenhang von Vertrauen und Sprache selbst auf dem Spiel. Angesichts der prinzipiell prekären Einlösbarkeit von Versprochenem aber muss das dem Anschein nach von vornherein »zuviel« Versprochene ebenso wie eine Pluralität von Versprechen als verdächtig gelten. Zum fraglichen intrinsisch-normativen Charakter des Versprechens äußert sich Ricœur zwiespältig. Vgl. SaA, S. 103, sowie ebd., S. 322, wo Ricœur bloße Erfolgsbedingungen (im Sinne der konstitutiven Regeln) des Versprechens von Erfüllungsbedingungen unterscheidet und die moralische Verpflichtung ganz auf letztere bezieht. 20 Ich komme auf diese Unterscheidung weiter unten zurück. A
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politischen Vertragstheoretiker der frühen Neuzeit. 21 Kein Vertrag kann wie gesagt ohne Rückgriff auf diese prä-juridische Sozialität geschlossen werden, die den Zusammenhang von Sprache und Vertrauen allererst stiftet, wie er im Versprechen zur Geltung kommt. Bevor das Halten des Versprechens Rechtspflicht werden konnte, musste das Wortgeben diesen Zusammenhang im Blick auf das gewährte Vertrauen des bzw. der Anderen, das es immer schon in Anspruch nimmt, erst gestiftet haben. Darin liegt das Versprechen des Versprechens: eine tragfähige Grundlage zu schaffen, auf der überhaupt nur eine juridische Pazifizierung des Naturzustandes möglich wird. Insofern geschieht Versprechen im Interesse eines befriedeten Zusammenlebens; und zwar auch dann, wenn dieses bereits hat eingerichtet werden können. Dann nämlich bedarf das soziale Leben einer ständigen Re-Instituierung. Auch die rechtlichen Institutionen tragen nicht sich selbst. Aus eigener Kraft können sie ihren Zweck nicht auf Dauer erfüllen. Dazu bedürfen sie einer ständigen Erneuerung ihrer Stiftung durch die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes, wie sie sich par excellence im Versprechen manifestiert. Im Horizont des sozialen Zusammenlebens nicht nur mit dem Anderen, dem man das Wort gibt, sondern auch mit anderen Anderen, mit anonymen Dritten, erinnert das Versprechen an das gemeinsame Interesse an einer Lebensform, deren Verlässlichkeit auf dem ursprünglich nicht einklagbaren, sondern geschenkten Vertrauen in das gegebene Wort aufruht. Im Horizont des sozialen Zusammenlebens bezeugt das Versprechen insofern auch die Treue zur gemeinsamen Vision einer verlässlichen Lebensform, deren Verlässlichkeit letztlich nicht juridisch abgesichert werden kann. Dem entsprechend paraphrasiert Ricœur die trianguläre Struktur des Versprechens mit folgenden Worten: »›je dois tenir ma promesse‹ ; ›tu peux exiger de moi‹ ; ›il faut tenir ses promesses pour augmenter la confiance de tous dans le schéma de coopération de sa communauté‹«. 22 Sein Versprechen nicht zu halten, bedeutet also Untreue in dreierlei Hinsicht: es bedeutet, sich selbst untreu zu werden, die Erwartungen des Anderen zu enttäuschen und insofern ihm untreu zu werden, »und die Insti-
Ricœur spricht an anderer Stelle (SaA, S. 322) auch von einem »allen Versprechen vorgängigen Vertrauen«, wobei die Quelle des Misstrauens aber im Vertrauen selbst verwurzelt zu denken ist. 22 P. Ricœur, »Individu et identité personelle«, S. 72. 21
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tution zu verraten, die das gegenseitige Vertrauen der sprechenden Subjekte vermittelt« (SaA, S. 325; Hervorhbg. B. L.).
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Wie angedeutet möchte Ricœur jede normative Moral in einem vorgängigen ethischen Verhältnis zum Anderen fundieren, das wegführt von der üblichen Fixierung auf die Frage, ob man sein Wort halten muss, und die Aufmerksamkeit statt dessen auf das Verhältnis zum Anderen selbst lenkt, dem man sein Wort gibt. Vom Anderen her kommt eine Zumutung in den Blick, sein Wort zu geben, auf die das Versprechen-geben seinerseits die Antwort ist. Ricœur legt dies in seinem Aufsatz Entre éthique et ontologie: la disponibilité (1989) selbst nahe. 23 In diesem Aufsatz ist im Anschluss an Gabriel Marcel von einer Verfügbarkeit (disponibilité) des Subjekts die Rede, deren es nicht Herr sein könne: 24 Es stehe ursprünglich und auf nicht hintergehbare Weise dem Anderen als ansprechbares »zur Verfügung«. Hier kommt Ricœur dem Begriff der Verantwortung bei Levinas nahe. Der – keineswegs als bloß »visuelle« Erfahrung zu beschreibende – Blick des Anderen »gibt« mir die Verantwortung; er lässt mich ein leibhaftiges Versprechen sein. Als derjenige, dem die Verantwortung gegeben ist, »verspreche ich«, ihr gerecht zu werden; so aber, dass von einer bloßen »auto-exposition« oder »Selbstbereitung zur Bereitschaft, sich affizieren zu lassen« (Hans Jonas) nicht mehr
P. Ricœur, »Entre éthique et ontologie: la disponibilité«, in: M. Sacquin (Hg.), Gabriel Marcel, Paris 1989, S. 157–165; 193–200. Ich komme speziell auf diese Problematik in Kapitel II – B, 2 zurück. 24 Keineswegs muss man die Verfügbarkeit notwendig »instrumentell« beschreiben. Der Begriff deckt aber ein weites, klärungsbedürftiges Feld ab. Präzisiert werden muss, als was oder wer jemand zur Verfügung steht – wenn nicht als bloßes Mittel. Und muß die Verfügbarkeit nicht einem Sich-zur-Verfügung-halten entsprechen, das seine Grenzen hat? Gibt es nicht eine Nicht-Verfügbarkeit in der Verfügbarkeit, insoweit man sich selbst nicht zu Gebote steht? – Für Marcel und Ricœur ist das Dem-Anderen-verfügbarsein nichts, worüber man noch selbst »verfügen« könnte. Angesichts des Anderen ist die Verfügbarkeit für ihn gerade nicht subjektiv »verfügbar«. Von einer prinzipiellen Verfügbarkeit als ontologischem Moment menschlicher Faktizität zu sprechen, bedeutet im Übrigen nicht, dass einer dem anderen jederzeit und für alles konkret »zur Verfügung steht«. Den ontologischen Begriff derart mit faktischem Verhalten kurzzuschließen hieße, ihn ad absurdum zu führen. 23
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die Rede sein kann. 25 Die Freiheit eines solchen Sich-bereit-machens kommt in Levinas’ Sicht immer schon zu spät; sie kann nicht umhin, auf eine ihr gegenüber vorgängige Zumutung des Zu-Antwortenhabens (in der Weise der übernommenen Verantwortung, der Fürsorge) Antwort zu geben. Sie kann nicht nicht Antwort geben. So gesehen bezeugt jede Antwort die vorgängige Zumutung des ZuAntworten-habens – auch die ausbleibende Antwort, deren Ausbleiben in einem weiteren Sinne noch immer Antwortcharakter hat. 26 Ricœur spricht von einer »réponse a un don qui me précède«. Wenn das Versprechen aber selbst als Antwort zu verstehen ist, kann es nicht allein darum gehen, sich zu engagieren, sich – aus freien Stücken – zu verpflichten (s. o.). Im Versprechen-geben (nicht erst im Halten des gegebenen Wortes) geht es vielmehr auch darum, wie dieses responsive Verhältnis zu dem, was allererst zum Versprechen herausfordert und es uns abverlangt, bezeugt wird. Der Begriff der Verfügbarkeit bezeichnet genau dieses Verhältnis, d. h. die Nachträglichkeit des Selbst gegenüber einer Zumutung des Zu-Antwortenhabens, der es niemals Herr zu werden vermag. 27 Diese Nachträglichkeit betrifft nicht erst das Versprechen als ausdrücklich Gesagtes, d. h. als einen Sprechakt, für den gewisse konventionelle Regeln gelten mögen, oder auch als Getanes, sondern bereits eine vorgängige Vgl. H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt am Main 3 1982, S. 234 ff.; v. Verf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, S. 369 f. 26 In dieser »Unspezifität« liegt also ein nicht zu übersehendes, ungelöstes Problem, das auch die schiere Unvermeidlichkeit des Antwortens betrifft. Bietet eine solche Unvermeidlichkeit überhaupt den geringsten Ansatzpunkt für eine ethische Begründung des Zu-Antworten-habens? Vgl. Kap. B – II, 4. 4. Dass Levinas diese Fragestellung gelegentlich ohne Umschweife religiös zuspitzt (bzw. verengt), sei nicht verschwiegen; vgl. Schwierige Freiheit, Frankfurt am Main 1992, S. 126. 27 So gesehen hätte die »Verfügbarkeit« nicht eindeutig als ontologischer Begriff zu gelten. Zwingt sie nicht dazu, das Sein dessen, der zu antworten hat, von Anfang an vom Anderen her als »ethisch begabtes« zu verstehen, statt es nur als ein Flackern im Stromkreis des Seins gelten zu lassen? Vgl. dagegen die Zuordnung der Begriffe disponibilité und fidélité zu Ethik und Ontologie bei Marcel und Ricœur in folg. Texten: »Entre éthique et ontologie: la disponibilité«, in: M. Sacquin (ed.), Gabriel Marcel, S. 160, sowie in: »Gabriel Marcel et la phénoménologie«, in: Entretiens autour de Gabriel Marcel [Cérisy-La-Salle], Neuchâtel 1976, S. 53–94, hier: S. 66; »Gabriel Marcel et Jean Wahl«, in: J. Hersch (éd.), Jean Wahl et Gabriel Marcel, Paris 1976, S. 57–87. Zum Begriff der Ontologie vgl. P. Ricœur, »Ontologie«, in: Encyclopédia Universalis XII, Paris 1972, S. 94–102 – und im Blick auf die ursprüngliche Sozialität eines coesse »La pensée de Gabriel Marcel«, Bulletin de la Société française de Philosophie, t. LXXVIII (1984), S. 1–16, hier: S. 10 ff. 25
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Ansprechbarkeit des Selbst. In diese Richtung scheinen Ricœurs Gedanken im abschließenden Teil von Das Selbst als ein Anderer zu gehen, wo das Aufgefordertsein bedacht wird, von dem her das Selbst als Antwort gebendes aufzufassen ist. Dieses Motiv, das Selbst-Sein als Antwort zu verstehen, taucht en passant auch schon in den ersten Kapiteln und im Vorwort auf, wo Ricœur das Widerfahrnis der Infragestellung durch den »Anruf« des Anderen beschreibt: »wo bist du«, dass du mir gerecht werden kannst (SaA, S. 36 f.)? Bevor das Selbst Antwort gibt angesichts des Anderen, ist es als im Sinne dieses Anrufs antwortendes, das dank des Anderen (im doppelten Sinne) zu antworten hat, »da«. In den Schlusspassagen von Das Selbst als ein Anderer beschreibt Ricœur demgegenüber eine Unterwanderung der Selbstheit durch eine sie von innen her heimsuchende Andersheit, die eigentlich nie »erscheint«. In diesem Sinne ist vom Aufgefordertsein als einer Struktur der Selbstheit die Rede. Ricœur zeigt sich aber von der »tiefe[n] Einheit von Selbstbezeugung und Aufforderung vom Anderen« überzeugt. 28 SelbstSein, heißt das, geschieht in der Weise des Antwortgebens auf den Anderen. Das Antworten stützt sich auf eine vorgängige Ansprechbarkeit, die das Selbst in so radikaler Weise ausmacht, dass »man selbst« (soi-même) wie ein Anderer ist. Es geht um eine dem Selbst innewohnende Ander(s)heit, die nicht von außen kommt, die das Selbst aber in sich nach außen öffnet und den Anderen im Selbst zur Geltung kommen lässt. Aber diese Ander(s)heit macht ein antwortendes Selbst-Sein gerade nicht obsolet, sondern muss an ein Antworten-können appellieren, durch das das Aufgefordertsein nachträglich bezeugt wird. Die Aufforderung bezieht sich nicht erst darauf, sein Wort zu halten (woran das Gewissen als innerer Vertreter des Anderen erinnern mag), sondern kann verlangen, dass man sein Wort gibt. Dank des Anderen habe ich zu versprechen. Gäbe es den Anderen nicht, gäbe es nichts zu versprechen. Dank des Anderen ist es aber auch nötig zu versprechen. Denn nichts ist bereits versprochen. Deshalb bedürfen wir des Versprechens. Die ausdrückliche Aufforderung »versprich mir …«, »gib mir dein Wort …« artikuliert nur dieses SaA, S. 404 f., 425 f. Weiß man je, ob die im Aufgefordertsein erfahrene Andersheit die Spur des Anderen ist? Hier kommt eine irreduzible Äquivozität der Rede vom »Anderen« zum Tragen (s. u. Anm. 42).
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Bedürfen, dieses Verlangen; aber es ist tiefer verwurzelt: im Angewiesensein auf denjenigen, der sein Wort – aber auch sein praktisches Tun und insofern sogar sein Leben – geben kann und auf den man »zählen« muss. Vom Anderen her, der nach dem Versprechen verlangt und es uns insofern zumutet, von dieser Asymmetrie her ist also das Versprechen als das Geben des Wortes und d. h. als eine Antwort zu verstehen. Der Verantwortung für das Halten des gegebenen Wortes (auf der das reziproke Versprechen in Form des Vertrages aufruht) geht die Verantwortung für das Geben des Wortes angesichts des Anderen voraus, der darauf angewiesen ist und uns als diejenigen in Anspruch nehmen kann, die versprechen können, die also ein Versprechen des Versprechens sind. 29 So zeichnet sich eine regressive Gedankenbewegung ab, die zunächst beim Paradigma des Vertrages, des gegenseitigen Versprechens, einsetzt, sodann nach den prä-juridischen Voraussetzungen des Vertrages in der Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit des gegebenen Wortes zurückfragt, um schließlich vom gegebenen Wort weiter zu der Frage vorzustoßen, von woher eigentlich das Geben des Wortes selbst zu verstehen ist. 30 Diese Frage berührt nicht mehr nur die konstitutiven Regeln, die im Spiel sind, wenn jemand sein Wort gibt, die deontischen Implikationen der Verpflichtung des Selbst auf das Versprochene im Sinne des Wort-haltens oder die Folgen des Versprechens im Sinne der Zurechenbarkeit (Imputation), sondern wirft das Problem auf, um was für ein Selbst-Sein es sich eigentlich han-
Die lediglich im Vorübergehen angedeutete Parallele zwischen dem Geben des Wortes und einem nicht-verbalen praktischen Antwortgeben, das gleichfalls im Sinne eines antwortenden Versprechens zu verstehen wäre, kann an dieser Stelle nicht ausführlich entwickelt werden. Vgl. Kapitel B – II, 2. 4. 30 Als Antwort auf das Angewiesensein des Anderen, das in dessen Verletzlichkeit, Verwundbarkeit und Sterblichkeit kulminiert, ist das Geben des Wortes zugleich Antwort auf die »Gabe der Verantwortung«, die mir der Andere gibt und der ich in der Weise der Fürsorge gerecht zu werden versuchen kann. Weder diese Gabe noch das Versprechen sind aber »austauschbar« oder können zirkulieren im Rahmen einer gegenseitigen Ökonomie. Hier würde ich Derridas Ansatz widersprechen wollen, den Begriff der Ökonomie so weit zu fassen, dass er überall dort (selbst in der Erinnerung, im Narzissmus eines Sich-belohnens für »selbstlos« Gegebenes etc.) Anwendung findet, wo Gegebenes in irgendeiner Weise zur gebenden Instanz zurückkehrt. Im Rahmen eines solchen Ansatzes verschwimmen alle Unterschiede zwischen Formen reziproken Gebens (auf die es Marcel Mauss, von dem sich Derrida vor allem absetzt, wesentlich ankam) ebenso wie die Unterscheidungen zwischen symmetrischen und nicht-symmetrischen Formen des Gebens. 29
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delt, dem wir die Fähigkeit des Versprechens zuschreiben und das im Fall des gebrochenen Wortes selbst in Frage gestellt wird. Der Mensch ist ein Seiendes, das – dank des Anderen – (etwas) zu versprechen hat. Der Andere gibt uns die Möglichkeit, zu versprechen, und er mutet uns das Versprechen zu. Das Sein des Selbst, das nach Ricœurs Überzeugung wesentlich durch das Versprechen bezeugt wird, ist insofern vom Anderen her zu denken. Es kann wie gesagt angesichts des Anderen als ein Versprechen des Versprechens verstanden werden. Unversehens sind wir hier nun aber mit einem engen und mit einem weiteren Begriff des Versprechens konfrontiert. Ein Selbst, das ein Versprechen geben kann, ist ein Versprechen nur insofern, als es »erwarten lässt«, dass ihm ein Versprechen als Antwort auf den Anderen zugemutet und angesonnen werden kann. Das Selbst ist ein Versprechen angesichts des Anderen, der des Versprechens bedarf und der darauf bauen muss, dass ich nicht nur mein Wort halte, sondern dass ich es gebe. Kann aber ein ontologischer Begriff des Versprechens, der der Affizierbarkeit des Selbst angesichts des Anderen Rechnung tragen müsste, gerechtfertigt werden? 31 Oder muss das Sein des Selbst nicht in einer Weise vom Anderen her gedacht werden, die die übliche Trennung zwischen Ethik und Ontologie als künstlich und der Sache unangemessen erscheinen lässt? Ricœur ist Fragen nach einer Ontologie des Selbst-Seins nicht ausgewichen. Er begreift das Selbst als ein »être agissant« und fragt nach einem angemessenen Begriff des »Seins«, auf das sich letztlich die Frage nach dem Wer als die Frage nach dem Selbst bezieht. Diese Frage stellt sich in vier Hinsichten: 32 als Frage nach dem Subjekt des Vgl. das Kapitel II – B, 3. 4 in diesem Band. Vgl. vor allem Ricœurs Aufsätze »De la métaphysique à la morale«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, no. 4 (1993), S. 455–477, sowie »L’attestation: entre phénoménologie et ontologie«, in: J. Greisch, R. Kearney (Hg.), Paul Ricœur. Les métamorphoses de la raison herméneutique, Paris 1991, S. 381–403. Wie schon Hannah Arendt und Charles Taylor versteht Paul Ricœur das Selbst als Antwort auf die Frage Wer? Im Unterschied zu Was-Fragen zielen Wer-Fragen unmittelbar auf die Existenz eines Selbst ab, das sich aus sich heraus zu sich, zu Anderen und zur Welt verhält. Es ist allerdings ein verbreiteter Irrtum, vom Rückbezug (»sich«) ohne weiteres auf Identität zu schließen und das »aus sich heraus« als Ausdruck eines reinen Selbstbezugs zu nehmen. Bei Levinas, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, wird das »sich« gerade im Verhältnis zum Anderen als ein Fremdbezug gedeutet, der sich niemals in einem reinen Selbstbezug aufheben lässt. Für Levinas stellt auch nicht primär das Selbst sich die Frage, wer es ist. Im Gegenteil erfährt es sich vom Anderen her als »jemand« in
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Sprechens, des Tuns, des Erzählens und der Verantwortung. Das Sprechen, Erzählen, Tun bzw. Handeln und Verantwortung-tragen oder -übernehmen können aber als vier Modalitäten eines »agir fondamental« verstanden werden, wie Ricœur vorschlägt. In diesem Sinne erweist sich die Sorge als ontologischer Kern eines eminent praktischen Selbst. Das Selbst existiert praktisch in der Weise der Sorge; als solches bezeugt es sich. 33 Die Bezeugung des Selbst (attestation du soi) soll es als handelndes zur Geltung bringen – aber auch als einen Lebensvollzug, der dem Aufgefordertsein vom Anderen Rechnung trägt. In dieser zweifachen Hinsicht bezeugt das Versprechen als Selbst-Bezeugung par excellence nicht bloß die »certitude d’exister sur le mode du soi«, sondern mehr noch das Antworten des Selbst auf den Anderen. Im Versprechen, das ich nur einem Anderen geben kann, beweise ich, indem ich es halte, meine Selbst-Ständigkeit, bezeuge also das Sein des Selbst. Aber ich bezeuge auch das Vom-Anderen-her des Versprechens und damit eine Ausrichtung des Selbst-Seins, die ihm Frage gestellt. Eine endgültige und umfassende Antwort auf diese Frage werden wir allerdings niemals geben können. Die Wer-Frage, die auf die Existenz eines Selbst abzielt, erklärt Ricœur, bleibe im Gegensatz zu Fragen nach Selbigem, das reidentifizierbar ist, gerade aufgrund des ständigen Ausstands definitiver Antworten virulent. Vgl. SaA, S. 34. 33 Nur am Rande kann hier die Frage aufgeworfen werden, ob uns dieser Vorschlag ohne Wenn und Aber zu Heidegger und, wenn das Tun oder Handeln des Selbst als praxis beschrieben wird, zu Aristoteles bzw. zu einer klassischen Ethik der Selbst-Sorge zurück führt, in der, wenn wir Foucault folgen, das eigene Selbst deren vorrangiger »Gegenstand« wäre. Vgl. F. Volpi et al., Heidegger et l’idée de la phénoménologie, Dordrecht, Boston, London, 1988; v. Verf., »Das menschliche Selbst in Geschichte und Gegenwart. Eine Bilanz der ›Hermeneutik‹ Michel Foucaults«, in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2, Nr. 1 (2008), S. 271–292. Geht es Ricœur nur darum, insofern über Aristoteles und Heidegger hinauszugehen, als der Unmöglichkeit eines direkten Zugangs zum Selbst und der Notwendigkeit einer indirekten Bezeugung des Selbst-Seins im Lichte des Handelns Rechnung getragen werden muss, weil sich das Sein des Selbst als nicht »verifizierbar« erweist? Führt nicht der Ansatz, das Selbst als Antwort zu verstehen, auf andere Spuren? Betrifft dieser Ansatz nicht den Sinn von Selbst-Sein, also das, worum es im Sein des Selbst geht, im Kern? Genügt an dieser Stelle noch ein Begriff der Jemeinigkeit, der durch ein »Mitsein« ergänzt gedacht wird, um einer ursprünglichen Konstitution des Selbst-Seins im Zeichen des Anderen gerecht zu werden, wie sie Ricœur im Schlusskapitel von Das Selbst als ein Anderer skizziert? Und zwingt diese Frage nicht dazu, die üblichen Grenzziehungen zwischen Ethik und Ontologie in Zweifel zu ziehen? Wenn das Vom-Anderen-her den Sinn von Selbst-Sein ursprünglich – wenn auch an-archisch – bestimmt, wie lassen sich diese Grenzziehungen dann noch ohne weiteres aufrechterhalten?
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In ethischen und moralischen Kontexten
nicht erst vom ethischen oder moralischen Zukunfts-Horizont des Handelns her zuwächst, sondern gewissermaßen a tergo bereits den Sinn von Selbst-Sein bestimmt. 34 Die Frage, mit der uns Ricœur konfrontiert, lautet, wie dieser Sinn von Selbst-Sein ursprünglich vom Anderen her verstanden werden muss und inwieweit diese Fragestellung dazu zwingt, die bislang vorherrschende Ontologie der bloß »jemeinigen« Selbst-Sorge zu revidieren. Ricœur provoziert freilich nicht nur Rückfragen nach der Bedeutung des Versprechens für die Konstitution des Selbst, sondern wie gesagt auch eine Erweiterung des Frage-Horizonts über Sprechakte hinaus, um einer Sozialität des Wort-gebens Rechnung zu tragen, die die Institution Sprache selbst im Kern betrifft. Es geht im Phänomen des Versprechens keineswegs nur darum, sich selbst treu zu bleiben und für die uns verpflichtenden Folgen der Akte, die wir Versprechen nennen, einzustehen, 35 sondern ebenso sehr darum, die Institution Sprache als solche zu bewahren (SaA, S. 154). Beziehungen, die durch Versprechen (oder durch Verträge als gegenseitige Versprechen) geregelt werden sollen, müssen die Institution Sprache immer schon in Anspruch nehmen. Doch diese Institution kann nicht aus eigener Kraft auf Dauer Bestand haben; sie bedarf einer ständigen Re-Instituierung durch das Sprechen, das in gewisser Weise selbst als ein Versprechen geschieht, und durch Akte, in denen man einander Vertrauen in das gegebene Wort zumutet. So gesehen ist das Versprechen im weiteren Sinne wie auch im engeren Sinne des Sprechaktes in einem prä-ethischen und prä-moralischen Geflecht der Sprachlichkeit verwurzelt, auf dem auch die ethische und die moralische Rede aufruht. Ausgehend von dieser Voraussetzung legt Ricœur der siebten und achten Abhandlung in seinem Buch Das Selbst als ein Anderer eine schematische Zuordnung von Ethik und Moral zugrunde, die die Frage aufwirft, welche Rolle speziell das Versprechen in der ethischteleologischen und in der normativ-deontologischen Einbettung des Selbst in Kontexte sozialer und politischer Lebensformen spielt. Für Insofern kann hier von einer Bezeugung des Affiziertseins gesprochen werden, das sich nicht bloß in einem von Ricœur eher beiläufig als Gegenbegriff zum Handeln bzw. Tunkönnen behandelten Leiden (subir, patir) als einer bloßen »diminuation du pouvoir d’agir« sich erschöpft. 35 Vgl. H.-J. Görtz, »La narration comme acte fondamental et l’idée d’identité narrative«, in: J. Greisch (ed.), Paul Ricœur. L’Herméneutique à l’école de la phénoménologie, Paris 1994, S. 103–137, hier: S. 115. 34
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Ricœur gibt es offenbar kein Selbst im Sinne eines feststehenden esse morale, wie es in der bis hin zu Kant maßgeblichen Überlieferung des Begriffs der Person gedacht worden war. Ein Selbst kann nach Ricœurs Überzeugung vielmehr nur bezeugt werden. Die Selbst-Bezeugung par excellence ist für ihn aber gerade das Versprechen. Von daher wäre zu erwarten, dass dem Versprechen auch in der Beschreibung der ethischen bzw. moralischen Orientierung des Selbst im Kontext sozialer und politischer Lebensformen ein zentraler Platz eingeräumt wird. Auf den ersten Blick ist dies jedoch nicht der Fall. 36 Ricœur beschreibt die Ausrichtung des Selbst im Interesse guten Lebens mit und für Andere in gerechten Institutionen. Der Begriff des Ethischen wird hier auf den Spuren von Aristoteles für eine teleologische Ausrichtung (visée) auf ein gutes Leben reserviert, während der Begriff der Moral mit Blick auf Kant für eine Artikulierung dieser Orientierung gemäß universaler Normen vorbehalten bleibt, die für jedermann verpflichtend sind (SaA, S. 208). Demzufolge soll die Ethik gegenüber der Moral Vorrang genießen, so wie die Selbstschätzung, die der Ausrichtung auf ein gutes Leben entspricht, Vorrang vor einer Selbstachtung haben soll, die sich als die Form verstehen ließe, die die Selbstschätzung unter der Herrschaft der moralischen Norm sekundär annimmt. 37 Die aristotelisch-teleologische Perspektive wird so dem deontologisch-moralischen Ansatz Kants insoweit vorgeordnet, als anzunehmen ist, dass das Interesse am guten oder glücklichen Leben das Selbst in »fundamentalerer« Weise ausmacht als das Herausgefordertsein durch eine universale Moral. Es gibt demnach eine fundamentale Teleologie des Selbst, dem es in seinem Sein um das gute Leben geht. Durch nichts so sehr angetrieben wie »durch das Begehren nach seiner eigenen Existenz«, geschieht Selbstsein in der Weise des Suchens nach dem guten Leben als seinem eigentlichen Ziel. 38 Was hier mehr interessiert als das Medium (praxis), in dem die Suche nach dem guten Leben sich vollzieht, oder die Mittel (phronesis, prudentia), derer es sich dabei bedient, ist, ob und wie diese ethische Ausrichtung den Anderen ins Spiel bringt. Das Versprechen wird in diesem Zusammenhang nur im Vorübergehen erwähnt: SaA, S. 26. 37 SaA, S. 261. Ganz ähnlich argumentieren in dieser Hinsicht E. Tugendhat, Probleme der Ethik, Stuttgart, 1984, und U. Wolf, Das Problem des moralischen Sollens, Berlin, New York 1984. 38 Ricœur bezieht sich wiederholt auf Spinoza; vgl. SaA, S. 228, 380 f. 36
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Vom »Leben« ist hier erklärtermaßen in seiner Jemeinigkeit die Rede. Aber »worauf […] beruht dieses ›Je‹, wenn nicht auf dem unausgesprochenen Bezug zum Anderen?« (Vgl. SaA, S. 220, 249.) Muss man sich den Anderen als ursprünglich in der ethischen Ausrichtung des jemeinigen Lebens einbezogen denken? Geht Ricœur davon aus, wenn er en passant von der Fürsorge als der Entfaltung einer »dialogischen Dimension« des Selbst spricht (SaA, S. 374)? Wie ursprünglich der Andere das im Modus der Fürsorge für ihn aufgeschlossene Selbst aus Ricœurs Sicht affiziert, geht daraus hervor, dass er die Fürsorge vom Anderen her denkt, der ihrer derart bedarf, dass er auf einen »Zustand bloßen Empfangens reduziert« erscheint (SaA, S. 232). Nur dank der »Schwachheit« des Anderen in seiner Sterblichkeit kann sein Gegenüber sich demnach in der Weise der Fürsorge »ethisch« verhalten. Der Andere instituiert so den, der ihm beistehen kann, als denjenigen, dem die Verantwortung der Fürsorge gegeben ist. 39 Diese Verantwortung, diese Gabe, kann nicht zurückgegeben werden; sie kann nicht in Austauschprozessen zirkulieren, sie bestimmt vielmehr das, was einer, im nicht-reziproken Verhältnis zum Anderen, gegenüber dem Anderen überhaupt ist – verantwortlich nämlich. 40 Nur dank des auf die Fürsorge angewieseDeutet man den Grund der Fürsorge nicht so, im Blick auf die Verantwortung für den Anderen, die latent immer die Sterblichkeit des Anderen mit ins Spiel kommen lässt, so verbaut man sich auch den Weg, den Ricœur einschlagen möchte, indem er Levinas’ Ethik des Gesichtes mit der Fürsorge in Verbindung bringt (s. o.). Wird das Ethische wie angedeutet begründet, so ist es in der Tat nur dank des Anderen möglich. Indessen schuldet ein im aristotelischen Sinne am guten Leben ausgerichtetes ethisches Streben dem Anderen scheinbar nichts. Zum Verhältnis Ricœurs zu Levinas nur soviel: von der Schwachheit des Anderen spricht Ricœur im Blick auf den Freund. Schon das zeigt (ebenso wie seine Zuordnung von Gegenseitigkeit und Fürsorge als »wohlwollender Spontaneität«), dass im Feld des »Ethischen« (à la Ricœur) ein radikal von der Anderheit des Anderen (und nicht etwa von uns besonders »Nahestehenden«) her begründeter Begriff der (asymmetrischen) Verantwortung so recht keinen Platz zu haben scheint. Ethik bedeutet für Levinas Achtung vor der Singularität und Alterität des Anderen, nicht Ausrichtung am »Guten«; und zwar Achtung im Zeichen der Gleichursprünglichkeit von Verantwortung und Gerechtigkeit angesichts des Anderen und der Anderen. Bei Levinas spielt die Orientierung am »guten Leben« wiederum nur eine sehr untergeordnete Rolle. Levinas spricht meist im Blick auf die »Dritten« von Gerechtigkeit, in Totalität und Unendlichkeit aber auch von der Gerechtigkeit angesichts der Anderheit des Anderen. 40 Dem Selbst wird angesichts des Anderen die Verantwortung der Fürsorge aufgegeben. Es verdankt dem Anderen die Gabe der Verantwortung. Insofern kann »ein an die Verletzlichkeit seiner Sterblichkeit erinnertes Selbst […] von der Schwachheit des Freundes mehr empfangen, als es ihm gibt […]«. Mit Recht betont Ricœur gegen Levi39
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nen, sterblichen Anderen kann ich verantwortlich sein, d. h. die Gabe der Verantwortung empfangen. 41 Die Verantwortung bestimmt sich auf der ethischen Ebene aber nicht von irgendeinem Dritten her, sondern angesichts der radikalen Anderheit des Anderen. Diese Anderheit widerfährt dem Selbst. Gleichwohl hat sie einen Anknüpfungspunkt in einer inneren Andersheit 42 des Selbst, die, wie Ricœur betont, nicht von Außen zur Selbstheit hinzukommt – so als ob es darum ginge, »deren solipsistische Verirrung zu verhindern«. Vielmehr gehört sie »zum Sinngehalt und zur ontologischen Konstitution der Selbstheit« selber (SaA, S. 382). Das Selbst kann demnach nicht als ein in sich selbst abgeschlossenes sein eigener Grund sein. Es ist vielmehr vom Widerfahrnis der Ander(s)heit her zu verstehen, wie es sich etwa in der Erfahrung der Passivität geltend macht. Nun kommt aber in Ricœurs Auflistung der paradigmatischen Gestalten der Passivität (des Eigenleibes, der Fremdheit sowie des Gewissens) das Widerfahrnis eines Bestimmtwerdens zur Fürsorge oder Verantwortung für den Anderen nicht vor. 43 Dabei gilt in diesem Zusammenhang die Passivitätserfahrung
nas, dass die dem Anderen antwortende Verantwortung nicht heteronom erzwungen sein darf. »Wäre […] diese Antwort nicht in gewisser Weise spontan, würde sich dann die Fürsorge nicht auf eine stumpfe Pflicht reduzieren?« (SaA, S. 233 ff.) Das Für-denAnderen der Verantwortung läßt sich darüber hinaus nicht auf eine Verantwortung vor dem Anderen reduzieren, der das Selbst zur Rechenschaft ziehen könnte (SaA, S. 203). Für Ricœur erweist sich gerade in Phänomenen wie der Fürsorge und dem Versprechen die Treue des Selbst gegenüber dem Anderen, d. h. sein ethischer Sinn. Die Treue erweist sich in einem Engagement, das Ricœur mit Gabriel Marcel wiederum als Antwort auf eine dem Selbst vom Anderen zugemutete Verfügbarkeit verstehen möchte. Hier »existiert« das Selbst als antwortendes, »bevor« es Antwort gibt in der Weise, Verantwortung zu übernehmen. Man könnte hier von einem apriorischen Perfekt sprechen: »immer schon« existiert das Selbst als eines, das »zu antworten hat«. Mir scheint, dass Ricœur hier einen imperativischen Sinn wie auch den Aspekt einer Gabe des Antwortens im Blick hat, die das Selbst dem Anderen verdankt. Dank des Anderen hat es zu antworten und dank des Anderen kann es sich als ein »responsives« (Waldenfels) und selbst-ständiges erweisen. (S. u.) 41 Hier ist wohlgemerkt zunächst nur von der Verantwortung für den Anderen, nicht vom üblichen Begriff der Rechenschaftsverantwortung (vor Anderen) die Rede. 42 Terminologisch unterscheide ich im Folgenden Anderheit (die für den Anderen reserviert bleibt) und Andersheit, die das Andere betrifft. Dass eine gewisse Äquivozität gleichwohl unvermeidlich ist, zeigt Ricœur mit Recht auf den letzten Seiten von Das Selbst als ein Anderer (SaA, S. 395, 421, 425 f.). Vgl. Anm. 28. 43 Vgl. SaA, S. 384. Nur einmal steift Ricœur diesen Gedanken später mit Blick auf Levinas: SaA, S. 408.
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als die eigentliche Bezeugung der Andersheit. Kraft dieser Erfahrung in ihren verschiedenen Facetten wissen wir demnach um die Andersheit, die sich als für das Selbst konstitutiv erweist und von der bzw. aus der heraus wir gewissermaßen leben (SaA, S. 383). Insofern trägt die Andersheit zur »inneren Sinnkonstitution« des Selbst bei; dies um so mehr, als sich das Selbst nur durch die Erfahrungen hindurch kennt, in denen es sich als vom Anderen »berührt« bzw. affiziert realisiert. 44 Aber ist dies erst auf der Ebene des ausdrücklich an das Selbst gerichteten Wortes der Fall, wo Ricœur seine Überlegungen zur Anderheit des Anderen einsetzen lässt? Gibt es ein passives »Angesprochensein« (SaA, S. 396 ff.) als Dimension eines ursprünglichen Affiziertwerdens nicht bereits dort, wo der bloße – allerdings sprechende, vielsagende – Blick des Anderen uns anspricht und in Anspruch nimmt; und zwar so, dass uns der Andere instituiert als Verantwortliche? 45 Schon hier, behauptet Levinas, bringt der Widerfahrnischarakter dieser Erfahrung das Für-den-Anderen der Verantwortung zur Geltung – vor jedem Engagement, das von der freien Zustimmung dazu abhängen würde, sich als für den Anderen verantwortlich zu begreifen. Doch ist das uns zugemutete Für-den-Anderen der Verantwortung durch und durch auf ein solches Engagement angewiesen, in dem man die Verantwortung übernimmt und effektiv trägt. Zuvor aber wird uns das Versprechen zugemutet, uns zu engagieren. Sind wir nicht ein leibhaftiges Versprechen der Verantwortung? Appelliert nicht daran der Aufruf zur Verantwortung, der vom Anderen Ricœur sieht in diesem Gedanken einen Aufstand gegen jegliches Konstitutionsprojekt. SaA, S. 399. 45 In dieser Sicht wird man vom Anderen nicht, wie Ricœur sagt, nur nachträglich »zur Verantwortung gezogen«. Und Levinas, scheint mir, beschreibt das Vom-Anderen-herSein der Subjektivität nicht auf der Ebene der Moral, die erst »die Widerstände eines abgesonderten Ichs durchbrechen« muß (SaA, S. 231). Für Levinas kann es ein solches »abgesondertes Ich«, das den Anderen als Anderen großzügigerweise (aber aus eigener Machtvollkommenheit) »gelten lassen« würde, ursprünglich gar nicht geben (SaA, S. 405). Handelt es sich bei Levinas nicht um eine Instituierung des Selbst, die die »Beziehung« zum Anderen aus einer einseitigen »Irrelation« heraus überhaupt erst stiftet? Dessen ungeachtet müssen Ricœurs Argumente für gewisse Unterschiede zwischen asymmetrischen (nicht-reziproken) und symmetrisch-gegenseitigen konkreten Beziehungen aber beachtet werden. Insofern würde ich Ricœurs Frage bejahen, ob die an sich asymmetrische »Aufforderung«, die vom Anderen ausgeht, der uns die Verantwortung gibt, »sich nicht, um gehört und angenommen zu werden, auf eine Antwort berufen muß, die die Asymmetrie des Von-Angesicht-zu-Angesicht kompensiert« (SaA, S. 230). 44
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ausgeht? 46 Welchen Sinn hätte dieser Aufruf, versprächen wir nicht, ihm gerecht zu werden? Ricœur ist zuzustimmen, wenn er eine entsprechende Aufnahmefähigkeit oder Ansprechbarkeit zu denken verlangt. Hat das »Hervorrufen einer verantwortlichen Antwort auf den Anruf des Anderen« nicht nur dann einen Sinn, »wenn es eine Fähigkeit der Empfänglichkeit« dessen gibt, der Antwort geben kann (SaA, S. 406 f.)? Auch diese Fähigkeit kann aber, wie das Selbst, nicht bewiesen, sondern nur bezeugt werden. Deshalb muss die Bezeugung als der eigentliche Wahrheitsmodus des Selbst gelten. Mit anderen Worten: Das Selbst zeigt sich in seiner Wahrheit dort, wo es bezeugt, dass es vom Anderen her, als ein ihm Antwort gebendes, geschieht (SaA, S. 409). Als Selbst-Bezeugung par excellence versteht Ricœur in diesem Sinne aber wie gesagt das Versprechen. Erst in historischer Perspektive (die sich nicht auf die Philosophiegeschichte im engeren Sinne beschränkt) wird die Brisanz dieses Ansatzes deutlich. Im Gegensatz zu einer formalisierten Selbst-Bezeugung (wie sie sich in Sein und Zeit beschrieben findet), von der kaum zu sagen ist, wofür sie einstehen soll (abgesehen vom »eigentlichsten Selbstseinkönnen«), legt es Ricœur nahe, diesen Begriff gewissermaßen mit einem ethischen Vorzeichen zu versehen und die Philosophie des im Versprechen bezeugten Selbst als Antwort auf die historische Erfahrung exzessiven Verrats zu verstehen. 47 Nur auf dieser historischen Folie ist auch die Radikalisierung dieser Philosophie verständlich, wie sie sich bei Derrida abzeichnet, wo er schließlich dazu übergeht, gerade das Geflecht europäischer politischer Lebensformen, das vom Verrat nahezu zerrissen worden ist, als Versprechen zu deuten. Ich komme darauf nach einer Konkretisierung des inneren Zusammenhangs von Versprechen, Vertrauen und Verrat zurück.
Nimmt man diesen Begriff des Versprechens ernst, so kann es ersichtlich nicht länger nur darum gehen, ob man dem Anderen durch ein Versprechen einen Anspruch »einräumt«, vielmehr wird das auf der Basis des Versprechens, das wir sind, gegebene Versprechen selber zur Antwort auf den ihm vorgegebenen Anspruch. Genau so ist m. E. der Begriff der disponibilité als einer Auszeichnung des Selbstseins vom Anderen her zu verstehen. 47 Hier lehnt sich Ricœur eher an Gabriel Marcel an. Das daraus resultierende Spannungsverhältnis zu Heideggers Sein und Zeit (wo sich bereits das Existenzial der SelbstBezeugung findet), kann hier nicht i. E. dargelegt werden. 46
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Versprechen und Vertrauen
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Wie Hannah Arendt ist Ricœur überzeugt davon, dass wir streng genommen niemals wissen können, wer wir morgen sein werden. Deshalb setzen beide dieser nicht auszuräumenden Ungewissheit neben der Treue zum gegebenen Wort das Vertrauen als Antwort auf die Frage Anderer entgegen, wer wir sind. Dabei verstehen sie diese Treue und das Vertrauen in das gegebene Wort nicht als eine bloße Kaschierung subjektiver Unbeständigkeit 48 , sondern als eine genuine, eigenständige Manifestation des Selbstseins im Sinne intersubjektiver Verlässlichkeit, die freilich ebenfalls ein Problem der Beständigkeit aufwirft. Verdienen wir Vertrauen in uns bzw. in die Versprechen, die wir geben, angesichts unserer Unbeständigkeit? Rechtfertigen wir es in Zeiten des Verrats auch dann, wenn wir nicht aus eigener Kraft wissen können, wer wir selbst oder Andere sind? Wie müssen wir uns die Beständigkeit denken, die hier in Frage steht, wenn sie nicht von der Art eines objektiven »Bestandes« unseres Selbstseins sein kann, dessen wir uns gewiss sein könnten? Muss man diese Frage nicht vom Anderen her aufrollen, der sich auf das Selbst verlässt? Führt es nicht in die Irre, das Identitäts-Fragen vom Anderen her als Problem der Selbstgewissheit aufzuwerfen, auf die man – im eigenen Interesse – lediglich abzielt, um selbst zu erfahren, wer man eigentlich ist? Die folgenden Überlegungen rücken diese vielfach bloß theoretisch erörterten Fragen in das Licht historischer Erfahrung, die vom Verrat an allem, worauf man vertraut hat, berichtet. Dabei geht es um ein praktisches Selbst, das weder bloß Sache der »Vergangenheit«, von der man erzählen könnte, noch nur Sache eigenen Interesses an narrativer Identität ist, insofern vom Anderen her in Frage steht, ob es in der Zukunft auch nur das geringste Vertrauen verdient. Viele kulturwissenschaftliche Diskussionen um das Selbst beschäftigen sich bis heute vorrangig mit der Frage, wie es möglich ist, eine narrative Identität zu behaupten, die erkennen lässt, wer man im Wie es I. Kertész nahe legt, wenn er schreibt, dass wir ständig zu anderen werden. »Eine gravierende Erkenntnis, die wir mit verschiedenen Formen und Sublimationen von Treue zu kaschieren versuchen, weil die Unbeständigkeit unserer Person sonst schieren Wahnsinn enthüllen würde.« I. Kertész, Ich – ein anderer, Hamburg 1999, S. 56, 61.
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Laufe einer durchlebten Geschichte gewesen ist. Aber suchen wir nach Antworten auf die Wer-Frage wirklich nur nachträglich, auf narrativem Wege, und nicht auch in der Bezeugung dessen, wer wir sind oder als wer wir jetzt und in Zukunft wahrgenommen werden wollen? Die Antwort auf die Frage Wer sind wir? geben wir diesem Vorschlag zufolge vor allem praktisch, z. B. indem wir unser Wort halten oder geben. Wir antworten also auf die Wer-Frage durch unser Tun, d. h. in gewisser Weise durch unser Leben selbst, in dem sich das Selbst als bezeugtes darstellt. Der Bezeugung bedarf es, weil wir unserer Identität gerade nicht aus eigener Kraft gewiss sein können und weil wir insofern nicht im Besitz unseres Selbst sind, wie es der moderne Individualismus von Locke an nahe gelegt hat. Aber die SelbstBezeugung ist nicht bloß ein Umweg zur Selbstgewissheit oder zum Selbstbesitz. Der Bezeugung bedarf das Selbst vielmehr, insofern es unvermeidlich zwischen Vertrauen und Verdacht angesiedelt ist und sich dem Glauben Anderer an es überantwortet erfährt. Der Glaube an jemanden ist die Antwort, welche die unumgänglich an Andere adressierte Selbst-Bezeugung findet oder nicht findet. Wie die Bezeugung, so ist auch dieser Glaube eine Angelegenheit der Dauer sozialer Bezogenheit, die in die Zukunft weist. Diejenigen, an die wir glauben, werden, so hoffen wir, für uns insofern in Zukunft dieselben sein, die jetzt unser Vertrauen rechtfertigen. 49 Diejenigen, die wir für vertrauenswürdig halten, indem wir ihnen ihr gegebenes Wort »abnehmen«, werden dieses Vertrauen rechtfertigen, darauf bauen wir. Wie die Einlösung des Versprochenen und das Vertrauen, das man jemandem in diesem Sinne schenkt, so ist auch das Selbst, dem es gilt, rückhaltlos einem zwischenmenschlichen Prozess der Bezeugung ausgesetzt, in dem man sich auf keinerlei substanzielle Identität mehr berufen kann. Wir sind nicht schon »jemand«, dessen Selbst bloß sekundär anzufechten oder zu bestätigen wäre. Wer wir, als jemand, sind – und damit die Antwort auf die Frage nach dem Selbst – zeigt und bewährt sich allein in diesem Prozess und nirgends sonst. Das aber bedeutet, dass wir uns das Selbst als außerordentlich verHier geht es nicht um eine bloße Vermutung, sondern darum, jemandem zu vertrauen, nicht auf etwas zu bauen oder auf etwas sich zu verlassen. In der gegenwärtigen Diskussion um das Phänomen des Vertrauens wird häufig das Vertrauen in etwas und das Vertrauen verwechselt, das wir in jemanden »setzen«, so dass wir an ihn oder sie glauben.
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wundbar und anfechtbar vorstellen müssen. Es steht im Prozess der Selbst-Bezeugung radikal auf dem Spiel. Aber auch für die Anderen steht dabei etwas auf dem Spiel: das Vertrauen nämlich, das sie in uns setzen. Arendt reflektiert die Bedeutung von Versprechen und Vertrauen vor dem Hintergrund ihrer eigenen historischen Erfahrung der Zerstörung verlässlicher politischer Lebensformen unter totalitärer Herrschaft. Insofern macht ihre, in dieser Hinsicht auch von Ricœur bedachte Philosophie auf eine wichtige Verbindung zwischen historischer (narrativer) Identität und Selbst-Bezeugung aufmerksam, die den engen bio-grafischen Rahmen, in dem man das Problem der personalen Identität nicht selten abhandelt, weit übersteigt. 50 Es sind nicht zuletzt historische Erzählungen, auf deren Folie wir sagen können müssen, wer wir künftig sein wollen. Dabei handelt es sich besonders um Erzählungen, die von verratenem Vertrauen berichten und entsprechend unnachsichtige Zweifel am Sinn der Rede von Identität oder Selbstsein nähren. Wenn solch ein Verrat möglich war (und möglich bleiben wird), wie er in historischer Perspektive vor Augen geführt wird, welchen Sinn hat es dann, auf ein so prekäres und »zwielichtiges Subjekt« zu setzen, das wir »Selbst« nennen? Hat es angesichts dieser Erfahrungen Sinn, einem Selbst Vertrauen entgegen zu bringen? Mit Recht ist festgestellt worden, das Problem des Vertrauens ergebe sich aus der Freiheit des Anderen. 51 Wir vertrauen Anderen angesichts und trotz ihrer Freiheit, die es ihnen jederzeit ermöglicht, Vgl. zum historischen Kontext v. Verf., »Renaissance des Menschen? Die Herausforderung humanwissenschaftlicher Erkenntnis und geschichtlicher Erfahrung«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 49 (2002), Nr. 3, S. 460–484. Die angesprochene Verknüpfung zwischen Geschichte und Selbst-Bezeugung hat die Philosophie noch kaum angemessen zur Sprache gebracht. Eine der besten, auch philosophisch ernst zu nehmenden literarischen Quellen scheint mir Wassili Grossmans Roman Leben und Schicksal zu sein, der in der Philosophie von Emmanuel Levinas deutliche Spuren hinterlassen hat. Dieses Buch kann zugleich als signifikante Warnung von einer bigotten Überschätzung des Versprechens und scheinbar verlässlicher Identität gelesen werden, zeigt es doch en detail auf, wie sie sich in Zeiten des Krieges (Stalingrad, »Unternehmen Barbarossa« 1941 etc.) in korrupte Lebensverhältnisse verstrickt hat und von dieser Verstrickbarkeit grundsätzlich in Frage gestellt wird. Gleichwohl mündet das über 1000-seitige Buch in eine Apologie der Güte, die allerdings kaum zu versprechen ist, schon gar nicht als Charakteristikum einer demokratischen Lebensform, die aus den Schrecken des Krieges und des totalitären Terrors gelernt hätte. Vgl. W. Grossman, Leben und Schicksal, Berlin 2 2007, S. 346 f. 51 N. Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 3 1989, S. 32, 40. 50
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unser Vertrauen zu enttäuschen. Wo eine solche Enttäuschung ausgeschlossen scheint, hat auch das Vertrauen keinen Platz. Nur einem Anderen, der uns ganz und gar zu enttäuschen vermag, um unser Vertrauen bis auf die Knochen zu entblößen, müssen und können wir Vertrauen entgegenbringen oder schenken. Im Rahmen der neuzeitlichen Sozialphilosophie wird die restlose oder äußerste Enttäuschung vom Mindesten her bestimmt, das wir von Anderen erwarten müssen, um überhaupt mit ihnen koexistieren zu können. Wenn wir nicht wenigstens darauf bauen können, dass Andere auf äußerste Gewalt gegen uns verzichten, wie sollen wir dann mit ihnen zusammen oder auch nur neben ihnen leben können? 52 In der Freiheit Anderer liegt es aber gerade, auch die mindeste Erwartung, die wir an sie herantragen müssen, enttäuschen zu können. Und diese Freiheit können sie nicht gleichsam ablegen. Sie ist allen unabänderlich gegeben. Wir sind zur Freiheit verurteilt, die die im Prinzip ständig gegebene Möglichkeit einschließt, dass wir zu äußerster Gewalt greifen können. Vertrauen kann es so gesehen nur im Horizont der radikalen Möglichkeiten dieser Freiheit geben, die, folgen wir den hobbesianischen Prämissen, mit denen die neuzeitliche Sozialphilosophie ansetzt, zu unbeschränktem Misstrauen Anlass geben könnte. Für Hobbes »verbindet« die Menschen ursprünglich nichts. Sie kommen »unverbunden« zur Welt und bleiben im Zeichen des niemals wirklich aufzuhebenden Naturzustandes im Grunde im Verhältnis zueinander isoliert wie Elemente eines Systems, die nur nachträglich in gewisse Beziehungen zueinander getreten sind. Der neuzeitliche Atomismus, dem auch Hobbes anhängt, besagt, dass sich solche Elemente als kompositiv synthetisierbar und als resolutiv wieder zerlegbar erweisen werden. Sowohl die Zusammenfügung der Elemente im Modus irgendeiner Bindung oder Verbindung wie auch deren Auflösung affiziert die Elemente nicht substanziell. 53 Auch hier zeichnet sich ein Desiderat ab. Es ist an der Zeit, das Problem des Vertrauens nicht nur von der Drohung »äußerster« Gewalt her aufzuwerfen (bei der man im Übrigen nicht bloß an die physische, sondern auch an die symbolische Liquidierung – bis hin zum Rufmord – denken sollte). Tatsächlich verlangen ja rechtlich pazifizierte politische Systeme ihren Mitgliedern keineswegs nur den Verzicht auf tödliche Gewalt gegen Andere ab. Insofern hat der Gewalt-Verzicht, wenn er sich als ein Versprechen rekonstruieren lässt, eine wesentlich differenziertere Struktur, als es die folgenden Überlegungen erkennen lassen. Vgl. im Sinne einer ersten Bestandsaufnahme dieser Problematik v. Verf., Subtile Gewalt. Spielräume sprachlicher Verletzbarkeit. Eine Einführung, Weilerswist 2007. 53 Vgl. G. Freudenthal, Atom und Individuum. Zur Genese der mechanistischen Natur52
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»Menschliche Elemente« sind vor allem durch eine Freiheit gekennzeichnet, die es ihnen wie gesagt im Prinzip jederzeit gestattet, zum Äußersten einer tödlichen Gewalt zu greifen. Als »soziale« Elemente wissen sie zugleich aber von der entsprechenden Freiheit jedes Anderen. Ihre Koexistenz lässt sich demnach nur im Zeichen der Angst vor der Freiheit des Anderen denken, die von Anfang an wenn nicht den Krieg im gewöhnlichen Sinne der bewaffneten Auseinandersetzung oder des Bürgerkrieges, so doch im Sinne einer tödlichen Vernichtungsdrohung in die Welt setzt; und zwar allein dadurch, dass freie Subjekte, denen radikale Möglichkeiten offen stehen, nebeneinander existieren. Weil sie zu vernichtender Gewalt greifen können, sind sie darauf angewiesen, im Vertrauen zu koexistieren. Herrschte gegenseitiges Misstrauen angesichts der grenzenlosen Möglichkeiten der Freiheit unbeschränkt, so würde sie das dazu verleiten, zu präventiver Gewalt zu greifen, um den ständig antizipierten schlimmsten Absichten Anderer zuvorzukommen. Freie Wesen können deshalb auf Dauer nur koexistieren, wenn das Misstrauen nicht unumschränkt herrscht. Ein politischer Souverän, wie er im Leviathan vorgesehen ist, könnte solches Misstrauen bestenfalls unterdrücken und äußerlich in Schach halten. Um so erstaunlicher ist das Phänomen des Vertrauens in Andere. Woher rührt aber das Vertrauen, wie ist es möglich? Kann und soll man angesichts einer Freiheit des Anderen, die doch nicht aufhören kann, radikal frei zu sein, auf das Vertrauen bauen? 54 Nie können wir ja wissen, ob Andere, die unter dem Eindruck des Naturzustandes ihr Wort gegeben haben, nicht stets unter dem Vorbehalt handeln werden, sich nur an den Vertrag zu halten, solange er eigenen »vitalen Interessen« nicht widerspricht. Hobbes selber rechtfertigt diesen Vorbehalt unter Hinweis auf das »natürliche Gesetz« der Selbsterhaltung. Zwar zieht Hobbes auch ein »zweifelloses« Vertrauen in Erwägung. Aber er rechtfertigt von seinem Begriff des Naturzustandes her unbeschränktes Misstrauen in Andere als potenzielle Mörder. Wo bestimmte Formen der Gewalt »ausbrechen«, wird noch heute häufig gefragt: schimmert da nicht der alte Hobbesianische Naturzustand wieder durch? Gibt insofern die geschichtliche Erfahrung nicht immer wieder jenem Misstrauen Recht, das und Sozialphilosophie, Frankfurt am Main 1982. Siehe den Abschnitt zu Hobbes in Teil A – I. 54 Zur Radikalität der Freiheit vgl. das Kapitel III in: Gastlichkeit und Freiheit. A
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von der Brüchigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse ohnehin ständig, wenngleich nicht unbedingt akut genährt wird? 55 So wird das begrenzte, relative Vertrauen, das in politischen Ordnungen nicht möglich ist, ohne gelegentlich seine Zweifelhaftigkeit zu offenbaren, immer wieder auf jenes ontologische Misstrauen vor und angesichts jeder möglichen Ordnung zurückbezogen, dem Hobbes zu theoretischem Ausdruck verholfen hat. Es ist nicht zuletzt dieser Rückbezug – und nicht nur eine relative Enttäuschung vorgängigen Vertrauens in einer bestimmten politischen Ordnung –, was berechnendes, taktisches Verhalten gegenüber Anderen als doppelt geboten erscheinen lassen kann. Jenes ontologische Misstrauen besagt: da wir wissen, dass die Anderen frei sind und unter allen Umständen frei bleiben, ist ihnen letztlich nicht zu trauen. Klug beraten scheint nur derjenige zu sein, der Anderen niemals ganz, vorbehaltlos oder unbedingt (»blind«) vertraut. Vertrauen sollte man dem gemäß nur dann, wenn man keine andere Wahl hat. Vertrauen wäre so gesehen nur ein unzulängliches Surrogat für Wissen. 56 Vertrauen wir nicht nur dort, wo Kontrolle nicht möglich ist? Allzu großes Vertrauen ist unklug, Kontrolle allemal besser, lautet eine penetrante Redensart. Eine angesichts jenes ontologischen Befundes noch angemessenere Devise würde lauten: vertraue niemandem (auch dir selbst nicht, selbst eigenen Kindern nicht, die, wie Hobbes lehrt, bereits als künftige Feinde in Betracht kommen 57 ). Nicht einmal auf eigene Berechnung, die sich auf Wissen stützt, könnte man sich demnach wirklich verlassen. Auf diese Weise wird Vertrauen unter der Hand zu einem epistemischen Problem. 58 Vertrauen wie auch Misstrauen wären demnach Ausdruck eines mehr oder weniger zureichenden oder mangelhaften Wissens darüber, wie die Dinge oder Andere sich in Zukunft verhalten werden. Ähnlich wie gesichertes Wissen, allerdings mit einem geringeren Grad der Sicherheit, ließe Vertrauen etwas erwarten, gestattete, mit etwas zu rechnen, zu bauen auf etwas, sich auf etwas oder jemanden zu verlassen, usw. Unter dem Aspekt des ungesicherten Wissens wird die Unterscheidung eines Vertrauens, das Vgl. T. Todorov, Angesichts des Äußersten, München 1993. Vgl. den entsprechenden Ansatz von G. Simmel in seiner Soziologie (Gesamtausgabe Bd. 11), Frankfurt am Main 1992, S. 393 f. 57 T. Hobbes, Vom Menschen. Vom Bürger, Hamburg 1959, S. 166. 58 Das zeigt sich deutlich bei J. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge, London 1984; siehe dazu die Einleitung in diesem Band. 55 56
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man in jemanden setzt, von einem Vertrauen in etwas nahezu gleichgültig. Dass man jemanden für vertrauenswürdig halten und zu einem oder einer Anderen eine vertrauensvolle Beziehung haben kann, so dass man mit ihm/ihr »im Vertrauen« leben und arbeiten kann, müsste sich in dieser Perspektive ohne Verlust in Formulierungen über wissensgestützte Erwartungen übersetzen lassen, die es gestatten, sich unter Bedingungen relativer Ungewissheit mehr oder weniger auf etwas zu verlassen. Vertrauen würde man demnach, weil und insofern es nicht möglich ist, etwas oder jemanden zu »berechnen« – was, jener Redensart zufolge, allemal besser, d. h. verlässlicher wäre. Wird man dem Vertrauen auf diese Weise gerecht? Oder wird es als ein mangelhafter Ersatz für Wissen über etwas an einem falschen Maßstab gemessen? Zweifellos ist Vertrauen vielfach nicht durch Wissen zu ersetzen und auf diese Weise »zu erübrigen«. 59 Aber muss man nur darum auf ein gewisses Vertrauen setzen – oder wird sein genuiner Sinn in einer solchen Sichtweise verkannt? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil Vertrauen nur in Ausnahmefällen auf einen Akt zurückgeht (in dem man sein Vertrauen in etwas oder in jemanden »setzt«), dessen Gegenstand (oder noematischer Gehalt) bewusst ist. Der Begriff steht eher für einen Modus unseres Lebens im Vertrauen, das im Spiel ist, ohne dass ohne weiteres anzugeben wäre, woher es rührt, welchen Erfahrungen es zu verdanken ist und worin genau das liegt, worauf wir vertrauen. Vielfach offenbart erst eine Krise des Vertrauens nachträglich das Worauf als den Gegenstand des Vertrauens. Von der Krise des Vertrauens her ist aber ein kardinaler Unterschied zwischen dem Vertrauen in etwas einerseits und dem Vertrauen in jemanden andererseits zur Geltung zu bringen. Wurde Vertrauen in etwas enttäuscht, so mögen wir uns geirrt haben. Vorschnell oder fahrlässig scheinen wir uns auf etwas verlassen zu haben, wo Sicherheit tatsächlich – wie wir im Nachhinein einsehen – nicht zu erwarten war. Die Krise des Vertrauens in etwas schlägt in der Regel auf uns selbst zurück. 60 Hingegen tangiert eine Vgl. N. Luhmann, Vertrauen, S. 73. Wir mögen dann sagen, wir seien leichtfertig, leichtgläubig gewesen. Negative Überraschungen (Enttäuschungen) wenden wir aber nicht selten auch dann gegen uns selbst, wenn tatsächlich nichts uns vor ihnen hätte bewahren können, wenn also nicht fahrlässig »blindes« Vertrauen im Spiel war.
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Krise des Vertrauens in jemanden ihn selbst, sein Selbst, das also, wer er für uns ist (oder wer wir für Andere sind). Auch in diesem Falle mögen unsererseits falsche Erwartungen mit im Spiel sein. Und eine eindeutige Grenze zwischen dem Vertrauen in etwas und dem Vertrauen in jemanden lässt sich nicht von vornherein ziehen. Am Beispiel der Wahrhaftigkeit ließe sich leicht zeigen, wie das eine in das andere übergeht: Ich vertraue darauf, dass (mir) jemand (stets) »reinen Wein einschenken« wird; aber ich vertraue auch auf die Wahrhaftigkeit, die ihn/sie selbst auszeichnet. Das Vertrauen in jemanden manifestiert sich in diesem Falle im Vertrauen auf etwas. Dennoch zeigt sich, wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird, ein Überschuss des Vertrauens in jemanden, in sein Selbst, der sich nicht auf das enttäuschte Vertrauen in das wahrhaftige Verhalten reduzieren lässt, wenn man zu dem Schluss kommt: er/sie selbst ist nicht vertrauenswürdig und verdient kein Vertrauen. Diese Enttäuschung, in die die Krise des Vertrauens münden kann, ist nicht Sache des Wissens, obgleich sie die Frage der Wahrheit tangiert. Wahr oder wahrhaftig ist der Andere. Das ist nur zu bezeugen, nicht zu beweisen. Wer zweifelt und nach Beweisen sucht, verurteilt sich selbst zu einem nicht enden wollenden Misstrauen, weil er nach definitivem Wissen sucht, wo keines zu finden ist. Die Wahrhaftigkeit eines Selbst kann nicht gewusst werden (vgl. SaA, S. 92 f.). Vertrauen in Andere ist weder primär ein epistemisches Problem noch auch eine bloß affektive Gegebenheit. Zwischen Vertrauen und Misstrauen sind Abstufungen denkbar. Man erwirbt sich zunehmend Vertrauen oder verliert es. Es lassen sich vertrauensbildende Maßnahmen denken etc. Vertrauen ist Bestandteil taktischen und strategischen Verhaltens, möglicherweise auch dann, wenn es angeblich geschenkt wird. Andererseits kann es weder gekauft noch befohlen, weder gelernt noch gelehrt werden. Es hat einen völlig ungeklärten temporalen Aspekt. Es braucht Zeit, wächst, gedeiht oder verkümmert und ist schneller zerstört als wieder hergestellt. Vielfach genügt einmalige Enttäuschung. Wenn wir uns im Anderen selbst getäuscht haben, ist der Schaden womöglich irreparabel. Vertrauen charakterisiert die Dia-Chronie von Beziehungen, in denen man sich – zumindest »bis auf weiteres«, »unter normalen Umständen«, nicht notwendig »unbedingt« – aufeinander verlassen kann. Doch eine Krise des Vertrauens kann für die Vertrauenswürdigkeit des Anderen das endgültige Ende bedeuten, von dem er sich in unseren Augen niemals mehr erholen wird. Von den Reaktionen auf Vertrauenskri150
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sen her ist der Unterschied zwischen (empirisch wie auch immer vermischtem) Vertrauen in etwas und Vertrauen in jemanden deutlich zu machen. Wem nicht mehr zu vertrauen ist, wer also fortan als ein »zwielichtiges Subjekt« erscheinen wird, dessen Selbst gerinnt gleichsam in der Selbigkeit eines zumindest zweifelhaften oder definitiv unwahrhaftigen Charakters61, der moralisch nicht mehr zu rehabilitieren sein wird. Ihm steht die Zukunft insofern nicht mehr offen – es sei denn durch das Verzeihen eines Anderen, auf das aber niemand Anspruch hat, der seine Wahrhaftigkeit durch eigene Schuld verwirkt hat. Beziehen wir nun diese kursorischen Überlegungen auf Hobbes’ Problem der Stiftung einer sozialen oder politischen Ordnung zurück, durch die das Vertrauen zu einem erstrangigen Thema der Sozialphilosophie hat werden können, so drängt sich die Frage auf, inwieweit das Vertrauen dem Sinn nach überhaupt als Vertrauen in Andere selbst zu verstehen ist. 62 Tangiert die Existenz und Fortdauer mehr oder weniger brüchiger Ordnungen, auf deren Verlässlichkeit wir bauen, überhaupt die Frage, wer sie trägt? Genügt nicht ein sogenanntes Systemvertrauen in ihr einigermaßen verlässliches Funktionieren? Oder sieht sich dieses Vertrauen gerade dann, wenn das normale Funktionieren sozialer und politischer Systeme nicht mehr ungestört abläuft, auf personales Vertrauen, d. h. auf Vertrauen in Andere selbst verwiesen? Bemüht man sich um personales Vertrauen als angebliche Ressource sozialer Integration nur, um gewaltsame Systembrüche zu kompensieren, deren tiefere Gründe man nicht analysiert? 63 Oder fordern diese Brüche gerade dort, wo sie Gewalt Hier wäre Gelegenheit, an Ricœurs Analysen der Überkreuzung von Selbstheit (ipséité) und Selbigkeit (mêmeté) anzuknüpfen; s. o. Anm. 33. 62 Ich lasse hier die nicht weniger wichtige Frage beiseite, ob in einer hobbesianischen Perspektive nicht das Vertrauen in äußerlich-rechtlich pazifizierten Ordnungen unterschätzt wird. Eine solche Ordnung wird nicht nur durch den »Griff zur Gewalt« und durch den Vertrauensbruch, den dieser bedeutet, radikal in Frage gestellt. An ein glaubwürdiges Selbst, mit dem vertrauensvoll zu leben ist, müssen höhere Ansprüche gestellt werden. Bereits eine Spur taktischen, allzu klugen Verhaltens kann das beste Verhältnis in Frage stellen. 63 Seit einigen Jahren ist speziell das Vertrauen Gegenstand der Frage, worauf der Zusammenhalt hochgradig durch Anonymität geprägter und konfliktträchtiger Gesellschaften eigentlich beruht. Man sucht nach »Ressourcen« sozialer Integration, die man zweckdienlich mobilisieren und ausbeuten möchte wie Rohstoffe. Die alarmierte Rede von einem angeblich allgemeinen politischen Vertrauensverlust reflektiert zu wenig diese Funktionalisierungsperspektive, der sie sich allzu willig einfügt. Vgl. zur neueren 61
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provozieren, selber die Frage heraus, ob wir nur in das mehr oder weniger ungestörte Funktionieren sozialer und politischer Systeme oder notwendigerweise auch in Andere selbst vertrauen müssen? Systemvertrauen, so wie Luhmann es beschreibt, kommt überall dort ins Spiel, wo man in sozialen Horizonten anonymer Verhältnisse lebt und handelt. Das Vertrauen in die Gewährleistung institutionell geregelter Abläufe, die die Dauerhaftigkeit des sozialen Lebens garantieren, kann nicht davon abhängen, dass wir etwas darüber wissen, wer im Einzelfall für diese Abläufe sorgt. In diesem Sinne spielt die Identität Einzelner überall dort, wo wir auf das Funktionieren institutioneller Abläufe bauen, keine Rolle – obgleich zu erwarten ist, dass die Frage, wie jemand, der in sie eingebunden ist, seine jeweilige Rolle wahrnimmt, zentral mit seinem Selbstverständnis zusammenhängen wird. Das Systemvertrauen bezieht sich auf das Funktionieren institutioneller Zusammenhänge, insoweit diese sich gleichgültig zu der Frage verhalten, wer ihr Funktionieren jeweils gewährleistet, solange die Funktion dieser Zusammenhänge keine gravierende Störung erkennen lässt. Systemvertrauen stiftet Erwartbarkeiten und Anschlussmöglichkeiten des Verhaltens unabhängig davon, mit wem man im Einzelfall zu tun haben wird. Dabei kommt es auf Identität nicht an, wenn es allein darum geht, ob sich unsere Erwartungen im Horizont anonymer sozialer Verhältnisse im Großen und Ganzen als zutreffend und realistisch erweisen, um entsprechend sinnvoll abgestimmtes »Anschlusshandeln« zu ermöglichen. 64 Auf diese Weise blendet das Systemvertrauen die Frage danach ab, ob es überhaupt von jemandem gestützt wird und wer es gegebenenfalls rechtfertigt. Doch kann diese Frage jederzeit virulent werden. 65 Diskussion M. Hartmann, C. Offe (Hg.), Vertrauen. Die Grundlage sozialen Zusammenlebens, Frankfurt am Main 2001. 64 In dieser Hinsicht ist Luhmann Recht zu geben, wenn er Vertrauen und Misstrauen für »funktional äquivalent« hält. (Insofern könnte man auch von »Systemmisstrauen« sprechen.) Dennoch, meine ich, muss man sich zum Vertrauen durchringen. Auf eine entsprechende »Nötigung« der Freiheit wird im Folgenden einzugehen sein. 65 Eine Ausländerbehörde mag formal ungestört funktionieren, ganz unabhängig davon, wer in ihr welche Rolle spielt und wie der bzw. die Betreffende sie ausfüllt. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich vielfach, dass die Anwendung der einschlägigen Gesetze, deren praktische Umsetzung niemals rein gesetzlich zu regeln ist, mit der Identität der Verwaltungskräfte engstens verflochten ist. Allzu oft bestätigt sich der Verdacht, dass eine im Verhältnis zu »Ausländern« generell ressentimentgeladene Identität den Sinn des Grundrechts auf Asyl geradezu pervertiert: Die Inanspruchnahme des Grund-
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Überall dort, wo wir uns nicht mit einer bloßen Außenperspektive auf das weitgehend ungestörte Funktionieren sozialer Systeme begnügen können, kann jederzeit die Frage auftauchen, wer handelt? Das gilt erst recht, wenn wir uns mit Phänomenen gewaltsamer Zerstörung dieses Vertrauens auseinander zu setzen haben. Zerbricht die Verlässlichkeit institutioneller Ordnungen, so sehen wir uns vielfach mit Gruppen oder Einzelnen konfrontiert, die sich über jede Verbindlichkeit eines Gewalt-Verzichts hinwegsetzen. Bloßes Systemvertrauen, das nur auf das möglichst reibungslose Funktionieren institutioneller Zusammenhänge baut, kann einen solchen Verzicht niemals garantieren. Zerbricht es gewaltbedingt, so tritt die Urfrage sozialer Koexistenz wieder auf den Plan, wer wir in unserer Freiheit, die zu jeder Form der Gewalt greifen kann, sind oder sein wollen. 66 Die Gewalt zerstört nicht nur eingespieltes Systemvertrauen, sondern auch das Vertrauen in den Gewalt-Verzicht als Selbstbeschränkung unserer Freiheit, die sich nur so als vertrauenswürdige erweisen kann. Nur angesichts der unwiderruflich den Anderen gegebenen Freiheit ist ihnen zu vertrauen und darauf zu bauen, dass sie nicht zur Gewalt greifen werden. Im Vertrauen darauf vertrauen wir uns dem sozialen und politischen Leben an, ohne jedes Mal zu fragen, wer dieses Vertrauen rechtfertigt. Wir »vergessen« die Vertrauensfrage, die doch der Stiftung einer relativ befriedeten Ordnung des Zusammenlebens zugrunde liegt, wie ex post dann deutlich wird, wenn sie zerbricht. 67 Der Griff zur Gewalt ist dann aber nicht etwa nur als Enttäurechts wird als ungerechtfertigte Anmaßung konnotiert, die mit einer rigiden, nicht selten gegen selbst elementare humanitäre Gesichtspunkte verstoßenden institutionellen Abwehr beantwortet wird, die sich als formale Verfahrenskorrektheit maskiert. Was als formal nur der Legalität gehorchende institutionelle Praxis erscheint, kann in Wahrheit vielfach nur angemessen verstanden werden, wenn man fragt, wer es ist, der ihren eigentlichen Sinn ins Gegenteil verkehrt. 66 Die radikale Revision dieser Fragen, wie sie besonders bei Levinas anzutreffen ist, durchkreuzt jede rein äußerliche Vorstellung einer menschlichen Ko-Existenz in einem indifferenten Nebeneinander. Von Ko-Existenz-Philosophen spricht Levinas gelegentlich in Anführungszeichen (Außer sich, München, Wien 1991, S. 14–19). 67 Man könnte phänomenologisch von einer fungierenden Vertrauensfrage sprechen, die offensichtlich nicht in dem Problem aufgeht, ob etwa ein (fiktives) ursprüngliches Versprechen des Gewalt-Verzichts zur Stiftung jeder halbwegs befriedeten politischen Ordnung gehört. Es ist eine offene Frage, ob man die Theorie des Gesellschaftsvertrages von der Idee eines gegenseitigen Gewalt-Verzichts und vom gegenseitigen Vertrauen in das gegebene Wort her, als das sich der Verzicht rekonstruieren ließe, wieder beleben könnte. Lässt sich nicht jede politische Ordnung, in der Freiheiten koexistieren, die zu A
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schung einer Illusion oder einer gerechtfertigten Erwartung, sondern als Verrat zu werten. Wer selbstherrlich von seiner Freiheit Gebrauch macht, verrät die Grundlagen des Zusammenlebens und macht es am Ende unmöglich. Der Verrat ist aber eine Katastrophe der Vertrauenswürdigkeit, die nur Wesen widerfahren kann, die in der Weise eines Selbst existieren, bei denen man also immer fragen kann, wer sie sind. Vertrauenswürdigkeit kommt einem nur in den Augen Anderer zu, die sie zu- oder auch absprechen können. Auf die Vertrauenswürdigkeit Anderer sind wir angewiesen, denn im unbeschränkten Misstrauen gegen den Gebrauch der Freiheit Anderer lässt sich überhaupt nicht zusammenleben. Es scheint, als ob jede halbwegs befriedete Lebensform ein Versprechen oder das Vertrauen darauf voraussetzte, dass man von der eigenen Freiheit nicht rücksichtslos Gebrauch macht. Wer nach Maßgabe eines solchen, fungierenden Versprechens und Vertrauens mit Anderen zusammen lebt, liefert sich unumgänglich dem möglichen Verrat als einer moralischen Verletzung aus, die das Zusammenleben irreversibel zu beschädigen droht. Nur im Wissen um diese Verletzbarkeit ist Anderen zu vertrauen. Auf ihren Registern spielt eine Gewalt, die den Gewalt-Verzicht widerruft und das Vertrauen zerstört. Während es der Zerstörung des Vertrauens durch den Griff zur Gewalt nur selten an Evidenz mangelt (sofern es sich nicht um besonders subtile Formen der Gewalt handelt), erweist sich die Rechtfertigung des Vertrauens als mit allen Problemen der Selbst-Bezeugung behaftet, die sich auf keinerlei Evidenz oder Beweis stützen kann. Niemand, der bis jetzt nicht zur Gewalt gegriffen hat, kann beweisen, dass er es auch in Zukunft nicht tun wird. Für das der Zukunft zugewandte Vertrauen in den fortgesetzten Gewalt-Verzicht Anderer kann es streng genommen niemals zureichende Gründe geben. So gesehen kann Vertrauen tatsächlich nur geschenkt werden. Es gewährt unvermeidlich mehr, als sich aus der Vergangenheit ableiten lässt. Es stiftet eine Vertrauenswürdigkeit des Anderen, dem es obliegen wird, diesen »Vorschuss« zu rechtfertigen. Aber keine Rechtfertigung wird zureichend beweisen können, worauf das Vertrauen setzt; schon deshalb nicht, weil das Vertrauen in fortgesetzten Gewalt-Verzicht stets auf eine noch ausstehende Zukunft verweist, vernichtender Gewalt greifen können, nur unter der Voraussetzung eines Gewalt-Verzichts denken, der gegenseitiges Vertrauen erfordert, um wirksam zu sein?
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in der man es doch verraten könnte. 68 Nur unter dem doppelten Vorbehalt dieses untilgbaren Ausstands und der Nichtbeweisbarkeit unserer Vertrauenswürdigkeit ist zu bezeugen, dass das in uns gesetzte Vertrauen gerechtfertigt ist. Das Bezeugte ist hier aber gerade der Gewalt-Verzicht als Ausdruck einer Freiheit, die sich selbst beschränkt, um nicht ein absolutes, mit gutem Zusammenleben unverträgliches Misstrauen zu entfesseln. Nur Wesen, die in der Weise der Selbstheit existieren, können in diesem Sinne auf Gewalt zu verzichten versprechen.
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Im Zeichen des Verrats
Nun ist aber in der Geschichte an allem Verrat geübt worden, wie zuletzt das 20. Jahrhundert gezeigt hat, das Margret Boveri geradezu das »Jahrhundert des Verrats« genannt hat. 69 Wenn es Lehren daraus Wie gesagt kann das Vertrauen in ein anderes Selbst, das der Gewalt absagt, nicht an einem höheren Grad der Sicherheit eines Wissens gemessen werden; und es bezieht sich nicht auf etwas, sondern auf jemanden; und zwar ungeteilt. Wem nur zuzutrauen ist, unter bestimmten Bedingungen oder in bestimmten Kontexten auf Gewalt zu verzichten, der verdient ebenso wie einer, der nur unter Vorbehalt versicherte, die Wahrheit sagen zu wollen, unser Misstrauen. 69 M. Boveri, Der Verrat im XX. Jahrhundert, Hamburg 1956. In diesem Buch geht es um eine neuartige Form des Verrats, um den Verrat an der Nation oder an einer ideologischen »Sache«, in dessen Windschatten sich allerdings alle Schattierungen des Phänomens feststellen lassen. Für Boveri gehört der Verdacht zur »politischen Pathologie«. Die Autorin hat den exzessiven Verrat vor Augen, der zur Grundlage politischer Systeme geworden ist. Ihr geht es nicht um persönlichen Verrat an einem Anderen oder an einer Gruppe, sondern um Verrat am Volk, an der Nation und an einer Idee. Verrat an einer kosmopolitischen Idee der Brüderlichkeit konnte als Verschwörung gegen die Menschheit mit Terror beantwortet werden. Politische Träumer des Absoluten stellen schließlich jeden unter moralischen Verdacht, wenn die wahre Gesinnung in Frage steht. Als Verdachtsmoment bedarf es dann keiner Tat mehr, nur noch des Verdächtigseins aufgrund irgendwelcher »begründeter Zweifel«, die die Verdächtiger hegen. Wachen diese über die Reinheit der Idee, so müssen sie schließlich alles und jeden verdächtigen und beschwören die Selbstzerstörung des politischen Systems herauf, in dem sie agieren. Am Ende einer Eskalation des Verdachts, der nicht mehr nur bestimmte Verdächtige erfasst, sondern sog. »Kontaktpersonen«, Denunzierte und alle, deren Unverdächtigkeit im Verdacht steht, bloße Tarnung zu sein, steht stets, dass niemand mehr unverdächtig sein kann, mit der Folge präventiver, vielfach tödlicher Gewalt, die effektivem Verrat zuvorkommen soll. Erfahrungsgemäß hilft Verdächtigen in einer solchen Lage kein Zeugnis und keine Selbstbezeugung mehr, mit der sie oder ein Anderer für sie glaubwürdig dem Verdacht begegnen könnten. (Instruktiv dazu nach wie vor: H. M. Enzensberger, »Zur Theorie des Verrats« [1964], in: Politik und Verbrechen, Frankfurt 68
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zu ziehen gilt, dann scheinbar die, dass alles, was verraten werden kann, auch verraten wird, und dass jeder Verrat, der möglich war, auch weiterhin möglich bleiben wird. Da wir Nachgeborenen keinen Grund haben, uns für schlechterdings besser oder über den Verrat erhaben zu dünken, da wir, wie von Primo Levi über Hannah Arendt bis hin zu Tzvetan Todorov und Imre Kertész gezeigt worden ist, grundsätzlich »vom gleichen Schlag« sind wie diejenigen, die ihn verübt haben, betreffen die Erzählungen vom vielfachen Verrat unmittelbar unser Selbst, d. h. die Frage, als wer wir uns im Lichte der geschichtlichen Erfahrung zu verstehen haben. Gewiss: die Geschichte ist nicht erst seit Machiavelli vom Verrat durchsetzt. Doch ist in dem Jahrhundert, das ihm zu voller Blüte verholfen hat, von der Freiheit in einer unerhörten und beispiellosen Weise Gebrauch gemacht worden. Und dieser Missbrauch bedeutet eine kaum überwundene, und vielleicht niemals zu überwindende traumatische Enttäuschung durch den Verrat an allem, was Menschen heilig war – die viel berufene »Stimme des Gewissens« eingeschlossen. Wo »Endlösungen« projektiert wurden, die nicht weniger als eine radikale Befreiung vom Anderen und seine vorgängige Neutralisierung zu einem ethisch indifferenten Etwas versprachen, hatte auch diese Stimme angesichts der Opfer endgültig zum Schweigen gebracht werden sollen. Weit entfernt, sich irgend einem GewaltVerzicht zu verpflichten, hat sich menschliche Freiheit erst so zu einer radikalen Befreiung ermächtigt, die nur um den Preis einer Zerstörung des Vertrauens zu erreichen war, das man zuvor, im Zeichen der Moderne, gerade auf den Menschen als den eigentlichen Träger einer »menschlichen« Zukunft glaubte setzen zu können. Jene Endlösungen aber kannten die Menschheit als alle Menschen einschließenden Begriff nicht mehr, richteten sie sich doch gegen dehumanisierte Objekte, denen man in keiner Weise verpflichtet zu sein glaubte; schon gar nicht durch ein implizites oder explizites Versprechen des Gewalt-Verzichts. Auf diese Objekte projizierte eine paranoide Phantasie alle denkbaren Vernichtungsdrohungen, gegen die nur »rücksichtsloseste« Gewalt angezeigt schien. Diese Gewalt kennt am Main 1978, S. 361–384.) Ein politisches System, das sich nicht auf diesen Abweg begeben will, ist unumgänglich zum Vertrauen verurteilt. Und da das sog. Systemvertrauen sich nicht selbst genügt, werden wir von der Erfahrung extremer politischer Pathologie her wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückverwiesen: auf das »persönliche« Vertrauen, das nur einem anderen Selbst gelten kann.
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scheinbar keine Grenze der Freiheit und keine Selbstbeschränkung, sondern proklamiert, dass es in Wahrheit nichts gibt, was sich ihr zu widersetzen vermag – erst recht kein moralisches Gebot oder eine Stimme des Gewissens, die es untersagen würde, dem Anderen das Äußerste anzutun. Diese entfesselte Freiheit wird fortan als historische Möglichkeit und negatives Faszinosum in der Welt bleiben – um ein nie versiegendes Misstrauen gegen uns selbst hervorzurufen. Wenn diese Freiheit auch unsere Freiheit ist, wie soll man dann sich selbst vertrauen? Wer bin ich denn, dass Andere es wagen können, mir ungeachtet dieser Freiheit zu vertrauen? Es ist nicht allein, wie Ricœur meint, unsere »Wankelmütigkeit«, das »Schwanken« unserer Vorsätze oder die Brüchigkeit gewisser Maximen, was uns »unberechenbar« macht und das Vertrauen in den Gebrauch unserer Freiheit unterminiert. Es ist, radikaler noch, die historische, narrativ vergegenwärtigte Erfahrung, die die Möglichkeiten menschlicher Freiheit im grellen Licht von Verbrechen vor Augen führt, die jegliches Vertrauen ein für alle Mal versehrt zu haben scheinen. 70 Wie soll im Lichte dieser Erfahrungen – die allen, die fragen, wer wir sind, gleichsam einen historischen Spiegel vorhalten – Vertrauen in künftiges Selbstsein möglich sein? Wie die Antwort auf die Frage danach, was der Sinn dessen ist, in der Weise eines Selbst zu existieren, steht auch in diesem Fall die Antwort aus. Die historische Erfahrung fordert aber die bestimmte Negation heraus: Wenn dieser Verrat möglich war, so müssen wir versprechen, ihn nicht zu begehen, wenn nicht das Vertrauen der Geschichte zum Opfer fallen soll. Durch ein solches Versprechen wird stets aufs neue Anderen Vertrauen zugemutet – auf das Risiko ihrer radikalen, erneuten Enttäuschung hin. Nur wo diese Enttäuschbarkeit und die radikale Verletzbarkeit, die in ihr liegt, realisiert wird, kann das Vertrauen sich neu bilden und verkümmert nicht im Licht Dazu ist auch das Welt-Vertrauen als eine Fundierung unserer Erfahrung im Leben des Anderen zu zählen. Nicht nur psychologische Argumente sprechen dafür, dass das Welt-Vertrauen sich nicht auf eine sedimentierte Erwartung der Konstanz der dinglichen Welt reduziert. Womöglich gibt es ein solches Vertrauen in die dingliche Welt nur, weil das Vertrauen im Anderen fundiert ist. Wenn Psychologen wie E. H. Erikson dieses Vertrauen als Ur-Vertrauen bezeichnen, so heisst das nicht, das es nicht zerstörbar wäre – sei es durch eigene Erfahrung, sei es vermittels einer indirekt traumatisierenden Erzählung, die die historische Zerstörung des Vertrauens mit der vermeintlich weniger gefährdeten Gegenwart kurzschließt.
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einer unnachsichtigen Aufklärung des Verrats, der an allem verübt worden ist. Auch im Horizont der Geschichte gilt, was Luhmann für persönliches Vertrauen generell feststellt: »Für den Vertrauenden ist seine Verwundbarkeit das Instrument, mit dem er eine Vertrauensbeziehung [wieder] in Gang bringt. Erst aus seinem eigenen Vertrauen ergibt sich für ihn die Möglichkeit, als eine Norm zu formulieren, dass sein Vertrauen nicht enttäuscht werde, und den anderen dadurch in seinen Bann zu ziehen.« 71 Demjenigen, der Anderen Vertrauen entgegenbringt, aber auch demjenigen, dem Vertrauen – umsonst – angesonnen wird, wird also unumgänglich auch die Bejahung der eigenen Verwundbarkeit durch den Verrat zugemutet. Diese Bejahung ist die Kehrseite eines »Vertrauensbeweises«, der um so weniger blind zu sein braucht, wie er, historisch belehrt, um die Möglichkeit einer radikalen Enttäuschung weiß. Während man keine Zumutung wie diese, die man sich vom Anderen her zuzieht, wählen kann, ist es Sache unserer Freiheit, Vertrauen zu schenken – der Unvorhersehbarkeit des Zukünftigen zum Trotz, die es niemals gestattet, sich auf zureichende Gründe zu stützen. In Freiheit haben wir die Wahl, Vertrauen nicht zu gewähren; doch verurteilt sich derjenige, der über den Abgrund des Vertrauens nicht gehen will, zu einem nicht enden wollenden Misstrauen, das Beweise sucht, wo es nichts zu wissen gibt. Insofern muss man vertrauen. Wir erfahren uns in unserer Freiheit als dazu genötigt, Vertrauen zu schenken. Andere schenken uns – im doppelten Sinne umsonst – Vertrauen, das wir uns infolge dessen ohne eigenes Zutun ebenso zuziehen wie den Verdacht, wir könnten das in uns gesetzte Vertrauen enttäuschen und damit den Anderen verraten. Damit stellt sich vom Anderen her die Frage, wer wir, als das in uns gesetzte Vertrauen Rechtfertigende oder Enttäuschende, in Wahrheit sind. Das aber ist kein epistemisches Problem, sondern nur im Wahrheitsmodus der Bezeugung zu erweisen. Offensichtlich ist Vertrauen, in dem sich bewahrheiten kann, wer wir angesichts Anderer sind, die es uns schenken, kein monologisches Problem der Identität, die sich in einer reinen Selbst-Erzählung bestätigt finden könnte. Vertrauen ist wie gesagt nur im Wahrheitsmodus der Bezeugung angesichts Anderer zu realisieren und »braucht Zeit«. Auch ein sogenannter Vertrauensbeweis, der in 71
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einem Akt zu vollziehen ist, kann sich nur im Verlauf der Zeit als Zeichen des Vertrauens bewahrheiten, das sich immer auf jemanden bezieht. Die Zeit der Bewahrheitung muss aber nicht erzählbar sein. Und die Erzählung kann einer noch ausstehenden Bewahrheitung ohnehin nicht vorgreifen. Insofern stoßen wir hier wieder auf das oben bereits gestreifte Missverhältnis zwischen narrativer Identität und praktischer Selbstbezeugung. Es liegt einerseits auf der Hand, dass erzählte Identität von einer Geschichte der Selbstbezeugung handeln kann, wenn diese sich entlang gewisser Ereignisse als narrativ sagbar erweist. Insofern kann die Erzählung zugleich nicht nur eigenem Interesse an Identität Rechnung tragen, sondern zum Vorschein bringen, wie die Frage danach, wer wir sind, vom Anderen her virulent wird. Dabei bleibt die Erzählung (und mit ihr die narrative Identität) aber auf gewesenes Selbstsein beschränkt, mit dessen Bezeugung sie sich nachträglich verschränkt. Diese hier nur angedeutete Verschränkung von narrativer Identität und praktischer Selbstbezeugung hebt deren relativen Gegensatz selbst dann nicht völlig auf, wenn letztere im Verlauf einer pränarrativen Geschichte in statu nascendi Gestalt annimmt. Denn die narrative Identität, die erzählt werden kann, ist zur Nachträglichkeit verurteilt – im Gegensatz zur Dynamik der Selbstbezeugung, die auf die Zukunft vorausweist, in der man sich auf ein bezeugtes Selbst soll verlassen können. Die Geschichte dieser Dynamik – die Schicksale des (getrübten) Vertrauens, des Verrats (oder der Treue), der (gescheiterten) Selbstbezeugung, die im »Glauben« Anderer (nicht) die erhoffte Antwort findet, usw. – mag man künftig erzählen können, wobei man sich zu diesem Zweck Bedingungen des narrativ Sagbaren anpassen muss, das massiven Zwängen unterworfen ist. 72 Das narrativ Gesagte (und die Wahrheit, die man ihm zuschreiben kann) wird aber unter keinen Umständen den spezifischen Wahrheitsmodus der praktischen Selbstbezeugung ersetzen oder auch nur eine Art Äquivalent darstellen können. Auf die praktische, uns vom Anderen her zugemutete Frage, ob wir das in uns gesetzte Vertrauen rechtfertigen werden, können wir nicht narrativ Antwort geben, sondern eben nur So hangelt sich die Erzählung von Ereignis zu Ereignis, um linearisierte konsekutive Zusammenhänge herzustellen, die retrograd – gemäß einer sublunaren Logik des Wahrscheinlichen, wie man sie bereits in der Aristotelischen Poetik beschrieben findet – vom Ende her plausibel nachzuvollziehen sein sollen. Kritik an diesen Zwängen ist – von Robert Musil bis hin zu Roland Barthes und vielen anderen – vielfach geübt worden.
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so, dass wir dieses Vertrauen effektiv zu rechtfertigen suchen. Vom Gelingen oder Scheitern dieser Bemühung lässt sich freilich später so erzählen, dass die Narration ihrerseits als eine Weise der Selbstbezeugung im Gesagten gelten kann. Mittels des Erzählten erzählen wir nicht nur etwas (»Geschichten«), sondern bezeugen, auf mehr oder weniger glaubwürdige, wahrhaftige, narrativ triftige und wahrheitsgemäße Art und Weise, wer wir sind oder zu sein glauben. Selbstbezeugung und Narrativität überkreuzen sich also und sind nicht etwa auf gelebtes Leben einerseits und erzählte Geschichte andererseits einfach aufzuteilen. So wenig ersteres ohne (prä-) narrative Strukturen auskommt, so wenig kann letztere der Bezeugung des Selbst einfach enthoben sein. Das müssen auch die Überlebenden wissen, denen die erzählten Selbst-Geschichten in die Hände fallen. Sie können sich nicht einfach als Richter über die Wahrheit hinterlassener Nekrologe aufspielen, wenn sie nur realisieren, dass das narrativ Gesagte stets nur Spuren eines Selbst in sich bergen wird, das sich zuvor leibhaftig vollzog. Die Bezeugung als Wahrheitsmodus der Existenz eines leibhaftigen und lebendigen Selbst erlöscht mit dem Tode und hinterlässt nichts als Spuren – sei es im Erzählten, sei es im Leben Anderer. Im Leben aber ist sie durch nichts zu ersetzen, schon gar nicht durch eine narrative Identität, in der wir, folgt man der Hermeneutik der Narrativität, allemal nur als Gewesene vorkommen. Der nachfolgende Kommentarteil durchläuft nun den vorgezeichneten Weg von der vorwiegend analytischen Reflexion des Versprechens als Akt und Institution über die angedeutete Platzierung des gegebenen Wortes im Kontext menschlicher Lebensformen bis hin zur Ontologie des Selbst, die schließlich ihrerseits vor dem skizzierten historischen Hintergrund situiert wird. Den Abschluss bildet eine kritische Bewertung des Versprechens im Horizont einer Kultur des gelebten Versprechens, auf die wir in praktischer Perspektive bauen müssen – trotz der zweifelhaften Vertauenswürdigkeit eines prekären Selbstseins, das allen Grund hat, rhetorisch Zurückhaltung zu üben, wenn es darum geht, ob es im Geringsten als verlässlich gelten darf.
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II. Kommentierte Brennpunkte
Ein Grieche hat mal behauptet: Alles fließt, aber wir behaupten: Alles denunziert. Wassili Grossman 1
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Das Versprechen als Akt und Institution
1.1 Erzeugung von Verbindlichkeit: Adolf Reinach Es geht Reinach darum, zu zeigen, wie »das Versprechen als solches Anspruch und Verbindlichkeit erzeugt«. Das soll besagen, dass Anspruch und Verbindlichkeit »im Wesen des Versprechens«, also in der Praxis verbindlichen Zusagens und im Zugesagten selbst gründen und gerade nicht in den Subjekten, die etwas versprechen. Es kommt insofern nicht auf die Menschen, sondern allein auf den »sozialen Akt« 2 des Versprechens selbst an. »In welchem Subjekte auch immer ein Versprechen sich realisieren mag, ob es Engel, Teufel oder Götter sind, welche einander versprechen, es werden – wenn sie nur wirklich versprechen und Versprechungen vernehmen können – den Engeln, Teufeln und Göttern Ansprüche und Verbindlichkeiten erwachsen. Denn im Versprechen gründet unser Zusammenhang; nicht darin, daß es von Subjekten vollzogen wird, welche auf zwei Beinen aufrecht gehen und Menschen genannt werden.« 3 Abgesehen davon, wer sein Wort gibt, und abgesehen davon, was dabei versprochen wird, begründet der Akt des Versprechens ein Gebundensein des Versprechenden an das Gesagte und zugleich eine Bindung durch das Gesagte als Bindung an den Anderen, der in W. Grossman, Leben und Schicksal, Berlin 2 2007, S. 934. Zu diesem Begriff vgl. K. Mulligan (Hg.), Speech Akt and Sachverhalt. Reinach and the Foundations of Realist Phenomenology, Dordrecht, Boston, Lancaster 1987. 3 A. Reinach, »Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts«, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1989, S. 168 f.; vgl. M. Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, Berlin 2 1977, S. 379 ff., 401. 1 2
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Folge dessen einen Anspruch auf Einlösung des Versprochenen hat. Nur dieser Anspruch wird durch den Akt »erzeugt«. Reinach fragt nicht, ob der Versprechende zuvor bereits durch Andere angesprochen und in Anspruch genommen worden ist. Ihn beschäftigt nicht die Frage, ob ein vorgängiger Anspruch an den Versprechenden vorliegt oder ob ein Anspruch auf sein Versprechen besteht. Er spricht nur davon, dass dem Versprechenden »aus seinem Versprechen eine Verbindlichkeit desselben Inhalts erwächst«. Dabei bleibt zunächst offen, ob diese Verbindlichkeit von demjenigen, der sein Wort gibt, einseitig eingeräumt wird, oder ob sie als berechtigter Anspruch (oder als Anrecht) auf Einlösung des Versprochenen vom Anderen her ins Spiel kommt. Für die erste Deutung spricht, dass Reinach glaubt, dass Subjekte »durch ihr Versprechen sich verbindlich machen«. Sie stellen demnach durch das Versprechen Verbindlichkeit her und erweisen sich als verbindlich. Die durch das Versprechen begründete Verbindlichkeit stiftet einen »Zusammenhang«, der offenbar sonst nicht bestehen würde. »Im Versprechen als Versprechen gründet unser Zusammenhang« (s. o.). Das Versprechen-können führt Reinach auf ein personales Vermögen zurück, das »den letzten Untergrund [bildet], welcher die Konstitution rechtlich-sozialer Beziehungen überhaupt erst möglich macht«. 4 Das Sein der Person als eines Selbst wird nicht seinerseits durch diese Sozialität konstituiert. Dass Menschen sprechen können, reicht zur Konstitution solcher Beziehungen so wenig aus wie die bloße Fähigkeit, sein Wort zu geben. Nur durch wirklich gegebene Versprechen kommt ein verbindlicher Zusammenhang der Menschen zustande. Nur so entstehen »verbindliche« Lebensformen (die dann auch politisch Gestalt annehmen können). Gewiss bedingen Lebensformen auch auf andere Weise Bindungen, Verbindungen und Verbindlichkeiten. 5 Doch im Versprechen bindet man sich ausdrücklich, um Verbindlichkeit zu stiften, um Ansprüche zur Geltung zu bringen etc. Als sozialer Akt setzt das Versprechen immer schon die Ansprechbarkeit des Anderen voraus; zugleich erweist es sich als »verA. Reinach, »Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts«, S. 221. Vgl. ausführlich dazu in historischer Perspektive: K. M. Baker, »Aufklärung und die Erfindung der Gesellschaft«, in: W. Klein, W. Naumann-Beyer (Hg.), Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften, Berlin 1995, S. 109–124, hier: S. 110 ff. Hier wird die »Gesellschaft als Vertrag« einer traditionellen Bestimmung von »Gesellschaft als Bindung« gegenübergestellt.
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nehmungsbedürftig«. Im Gegensatz zu »internen« Akten, die »rein innerlich verlaufen«, bedarf das Versprechen der Verlautbarung. Die Verlautbarung kann lt. Reinach nicht als bloß zufälliger bzw. nachträglicher Ausdruck verstanden werden. Während man einen Willensentschluss fassen kann, ohne ihn zum Ausdruck zu bringen, ist der soziale Akt des Versprechens »weder eine bloß äußerliche Handlung, noch ist er ein rein innerliches Erlebnis, noch ist er die kundgebende Äußerung eines solchen Erlebnisses«. Erlebnis und Ausdruck fallen vielmehr zusammen. Theunissen spricht von der Identität von Aktgeschehen und Aktoffenbarung. 6 Sie erst erlaube es, »das Versprechen von den Fesseln seiner traditionellen Deutung [zu befreien], wonach es die ›schlichte Kundgabe eines Willensentschlusses‹ darstellt«, der stets revidierbar bleibe und in Wahrheit keinerlei Verbindlichkeit stifte. Das Versprechen ist demnach keine bloße Äußerung eines zuvor erfolgten inneren Aktes, sondern es vollzieht sich wesentlich in der Rede und als Sprechen, das dem Anderen etwas zusagt. Es nimmt dabei den Anderen als Ansprechbaren in Anspruch und der Versprechende gibt dadurch, dass er sein Wort gibt, zu erkennen, dass er sich nachträglich unter Berufung auf das Zugesagte in Anspruch nehmen lassen wird. Bedarf das Versprechen in diesem Sinne aber der »Annahme« durch den Anderen? Die Annahme braucht nicht explizit erklärt zu werden. Aber das Zugesagte muss wirklich ein dem Anderen Zugesagtes sein, um als Versprechen gelten zu können. 7 Erweist sich damit das Geben des Versprechens als ein dia-logisches, zwischen-menschliches Geschehen, an dessen Zustandekommen und Gelingen der Geber und der Empfänger des gegebenen Wortes beteiligt sind? Abgesehen von der Zeit des Versprechens (als der Zeit, in der sich das Wortgeben vollzieht), scheint Reinach dies zuzugestehen im Hinblick auf die Zeit, die das Versprechen und seine Einlösung überbrückt. Diese Zeit kann sich nahezu beliebig lange hinziehen – so dass trotz eines unbefristeten Ausstehens des Versprochenen das Zugesagte doch beständig gültig bleibt. Aber die Reinach verdächtigt dagegen jeden Rekurs auf Erlebnisse eines Psychologismus, der der apriorischen, im Akt des Versprechens selbst liegenden Verbindlichkeit nicht gerecht werde. 7 Reinach ist in dieser Frage zwiespältig. Im erwähnten Text über das Versprechen weist er zunächst die Abhängigkeit der Verbindlichkeit des Versprechens von der Annahme seitens des Anderen zurück. In seinen Überlegungen über »Nichtsoziale und soziale Akte« (Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 355 ff.) steht aber genau das Gegenteil. 6
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Dauer dieser Zeit, in der Anspruch und Verbindlichkeit nicht zuletzt durch eine Widerrufsmöglichkeit in einer spannungsreichen Beziehung stehen, scheint Reinach letztlich doch nur als Länge der Zeit zu verstehen, die »von meinem Versprechensakt bis zu meiner Realisierung des Versprechensinhalts verstreicht«, wendet Theunissen kritisch ein. So gesehen betrifft die Zeit des Versprechens lediglich die intentionale Zeit des Wortgebens und die Zeit der Geltung des Versprochenen. In Reinachs Sicht untersteht auch die endlos aufgeschobene Einlösung des Versprochenen »meiner Subjektivität, die sich damit als Herr über das ›Zwischen‹ erweist«. 8 Widerstreitet dem die vermutete Abhängigkeit des Versprechens von seiner Annahme durch den Anderen? Hängt nicht auch die Frage, ob ein Versprechen im Lichte seiner eventuell lange ausstehenden Einlösung noch gilt oder ob es bereits als gebrochenes oder widerrufenes einzustufen ist, wesentlich vom Anderen ab? Wer sein Wort gibt, ist darauf angewiesen, dass der Andere es »annimmt«. Aber auch wer sein Wort halten will, ist darauf angewiesen, dass der Andere den andauernden Ausstand der Einlösung des Versprochenen nicht als Bruch oder Verrat des gegebenen Wortes deutet. Es fragt sich, ob das Geben und das Halten des gegebenen Wortes überhaupt einseitig vom Subjekt des Versprechens oder vom Anderen abhängen kann. Hier geraten wir in ein Zwielicht von Aktivität und Passivität, Intentionalität und Dialogizität einer Zwischenzeitlichkeit des Wortgebens und –haltens, die die radikale Frage auf den Plan ruft, wie das Zwischen als solches zu denken wäre und inwieweit es das Subjekt und den Anderen in seinen Bann zieht. 9 1.2 Versprechen als Tun: John L. Austin Wie für Reinach, so gehört auch für Austin der Empfänger des gegebenen Wortes wesentlich zum Geschehen und Gelingen des Versprechens hinzu. Austin spricht von einem »securing of uptake«, das gewährleistet sein müsse, wenn vom Vorliegen eines Versprechens die M. Theunissen, Der Andere, S. 383 f. Hier setzt Hannah Arendt mit ihrer Idee des »Erscheinungsraums« an, »der dadurch entsteht, daß Menschen voreinander erscheinen, und in dem sie nicht nur vorhanden sind wie andere belebte oder leblose Dinge, sondern ausdrücklich in Erscheinung treten«, u. a. dadurch, dass sie einander ihr Wort geben und sich auf dessen Einlösung verlassen; Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 4 1985, S. 192 (= VA). 8 9
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Rede ist. Zwischen dem Empfangen und der Annahme eines Versprechens sind allerdings Abstufungen denkbar. Zwar können wir normalerweise nicht umhin, das Versprechen zu hören, wenn es uns gegeben wird (und wir sind in diesem Sinne auch widerwillig Empfänger), aber wir können es überhören, ignorieren, uns weigern, uns ein Versprechen geben zu lassen – u. a. deshalb, weil wir Zweifel daran hegen, dass es uns wirklich zugute kommen wird; usw. Eine solche Weigerung weist aber ein gegebenes Versprechen zurück, das sie als solches im gleichen Zug bestätigt, in dem sie die Annahme verweigert. In diesem Fall bleibt das, was zwischen zweien wirklich passiert, wenn einer dem Anderen sein Wort gibt, gewissermaßen in der Schwebe oder gibt gar zu einer polemischen Auseinandersetzung Anlass. Austin beschäftigen aber solche »interaktionsgeschichtlichen« Fragen und ihre Implikationen für den Sinn des Versprechens selbst bestenfalls am Rande. Mit Wittgenstein besinnt er sich zunächst einmal auf das Sprachspiel des Versprechens und fragt, woran überhaupt ein Versprechen als solches zu erkennen ist. 10 Weniger die vermeintliche (Neu-) Entdeckung der Einsicht, dass man mit Worten handeln kann, oder die Aufdeckung einer performativ-propositionalen Doppelstruktur menschlicher Rede ist das eigentlich Neue an seinem Ansatz, sondern der differenzierte Aufweis dessen, wie wenig sich häufig Gemeintes, Gesagtes und Getanes »decken«. Was wir sagen, ist oft etwas anderes, mehr oder weniger als das, was wir mit den verwendeten Worten effektiv tun. Nicht selten ist gar kein deutlicher bzw. sprachlich eindeutiger Zusammenhang erkennbar. In der scheinbar schlichten Ankündigung »ich komme morgen« kann ein Versprechen, eine Warnung oder eine Drohung liegen. Häufig ist der Zusammenhang nur deshalb klar, weil im Kontext einer bestimmten Lebensform Gesagtes als etwas Bestimmtes gilt. In diesem Falle ist von einer »konventionalen Handlung« die Rede, »die als eine getan wird, die unter diese Konvention fällt«. Es gibt indessen keine eindeutige Grenze zwischen konventionalen und nicht-konventionalen Handlungen (TS, S. 122, 136 f.). Illokutionäre Akte (mit denen wir etwas tun, indem wir etwas sagen) sind für Austin im allgemeinen konventional; aber perlokutionäre Akte (mit denen wir mittels des Gesagten bestimmte Wirkungen erzielen) sind es nicht. J. L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with words), Stuttgart 2002 (= TS).
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Wer explizit sagt, dass er etwas verspricht, beschreibt 11 nichts, sondern kommentiert gewissermaßen das, was er sagt, indem er nämlich ausdrücklich angibt, dass das Gesagte als ein gegebenes Wort aufzufassen ist, »und zwar eindeutig«, schreibt Austin (TS, S. 91). Häufig handelt es sich aber auch um ein Versprechen, wenn keine solche explizit performative Äußerung 12 vorliegt, wenn der Versprechende also nicht ausdrücklich sagt, dass er etwas verspricht oder dass das Gesagte als Versprechen aufzufassen ist. Vielfach steht es Anderen dann frei, das Gesagte als Versprechen aufzufassen oder nicht (TS, S. 53). Abgesehen von »Fehlgeburten« (Handlungen, die als Versprechen gemeint sind, aber verunglückt zum Ausdruck kommen, so dass unklar ist, ob überhaupt ein Versprechen vorliegt) gibt es selbst im Fall deutlich erkennbarer Versprechen erhebliche Deutungsspielräume, u. a. deshalb, weil sie manches nur vorauszusetzen scheinen, was nicht explizit mitgesagt werden kann; z. B. dass der Versprechende tatsächlich etwas vorhat und dass er es für möglich hält, entsprechend zu handeln; zudem muss er meinen, dass das Versprochene dem Empfänger des gegebenen Wortes zugute käme (TS, S. 60); und zwar innerhalb einer mehr oder weniger absehbaren oder ungewissen Zeit. Ob und wie das Versprechen von den später eintretenden Handlungen tangiert wird, die als Einlösung des gegebenen Wortes zu verstehen sind, diskutiert Austin nur am Rande. Zu perlokutionären Akten gehören immer Wirkungen und oft auch Nachwirkungen von Wirkungen, die es in ihrer Verkettung schwer, wenn nicht unmöglich machen, deutliche Grenzen zwischen Handlungen und Folgen zu ziehen. Letztere können das Versprechen nachträglich in ein »schiefes Licht« geraten lassen, auch wenn der illokutionäre Akt zunächst gelungen ist und ehrlich gemeint war (TS, S. 14). M. a. W.: selbst wenn deutlich ist, was als Versprechen zählt und dass eines
Zur zentralen Differenz zwischen kognitiven bzw. deskriptiven und performativen Äußerungen, die Austin schließlich »fast zusammenbrechen« sieht; vgl. TS, S. 15, 73 ff. 12 Am Ende wird der entsprechende Begriff der explizit performativen Verben aufgegeben und in eine Theorie lokutionärer, illokutionärer und perlokutionärer Funktionen transformiert, die jeden Sprachgebrauch kennzeichnen (TS, S. 109, 167). Ein grammatikalisches Kriterium zur Abgrenzung performativer von nicht-performativen Äußerungen ließ sich nicht finden. Zur Theorieentwicklung vgl. S. Krämer, Sprache, Sprechakt, Kommunikation, Frankfurt am Main 2001, Kap. 8. 11
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konkret vorliegt, kann doch unklar bleiben, was als Halten des gegebenen Wortes gelten darf und was nicht. Etwas versprechen bedeutet nicht nur, etwas mit Worten tun, nämlich sich auf Handlungen festzulegen 13 ; es bedeutet auch, sich auf Folgen einzulassen, die retrograd auf das Zugesagte und auf denjenigen, der es versprochen hat, zurückschlagen können (TS, S. 31). Wer etwas zugesagt hat, steht in dem, was er versprochen hat, mit auf dem Spiel. Das betrifft die Frage, ob man dem Versprechenden die Einlösung des gegebenen Wortes zutraut, d. h. ob sich jemand als vertrauenswürdig erweisen wird. Für Austin ist aber »sich als etwas erweisen […] nichts, was man ›tut‹«. Er hält das für einen »sehr unklaren Gedanken«: »Wir können hier nichts weiter tun, als diese Fälle außer Acht lassen« (TS, S. 141). Zudem misstraut Austin erhabener moralischer Sprache mit ihrem »Übermaß an Tiefe« und wagt sich nur bis zu der Frage der Ehrlichkeit der Absicht des Versprechenden vor. Hinsichtlich des Gelingens eines Versprechens hält er die Ehrlichkeit allerdings für unmaßgeblich. Denn auch wer mit unehrlichen Absichten etwas verspricht, gibt sein Wort. Und für dessen Empfänger »zählt« zunächst nur dies und nichts anderes (TS, S. 32 f.). So gesehen hat das Sprachspiel des Versprechens Vorrang vor den Intentionen dessen, der sich äußert. Was immer er »wirklich« zu tun beabsichtigte – sobald er sich explizit performativ geäußert hat und das Gesagte nach konventionalen Regeln unzweifelhaft als ein Zusagen zu verstehen ist, »gilt« es als Versprechen. Aber das Versprechen wird in vielen Fällen gerade nicht in explizit performativer Form vollzogen. Wie viele andere Sprechakte auch kann es sogar durch außersprachliche Mittel substituiert werden – oder diese Mittel lassen sich wenigstens im Nachhinein so deuten, als habe es sich um ein Versprechen gehandelt. Austin glaubt aber an die Möglichkeit, performative Akte explizit zu machen, um auf diese Weise klären zu können, wie man auch stumm, mit Gesten und Blicken, etwas tun und bewirken kann. Allerdings ist zweifelhaft, ob das Explizitmachen nur den schlichten Sinn eines Ans-Licht-bringens von Bedeutungen hat, die normalerweise gewissermaßen fungierend in die Performanz der »Dinge« eingelassen sind, die wir mit Worten oder stillschweigend tun. Wenn es sich tatsächlich so verhält, dass das kläSo definiert Austin alle »kommissiven Äußerungen«, zu denen er vorrangig das Versprechen zählt (TS, S. 169); Philosophical Papers, Oxford 2 1970, S. 99 ff.
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rende Explizit-machen »ebensosehr etwas schafft wie entdeckt oder beschreibt«, wie Austin selbst anmerkt (TS, S. 92), dann schwankt die ganze Philosophie der Sprechakte, die einst versprochen hatte, möglichst eindeutig zu klären, was wir mit Worten tun, zwischen Finden und Erfinden. Bei dieser Philosophie handelt es sich ohnehin nicht um eine Theorie, die nach bewährtem Muster zeigen würde, wie »kompetente Sprecher« ihre Fähigkeit beweisen, Sprechakte in mehr oder weniger geregelter Form unter dafür geeigneten und normalen Umständen im Modus sog. Performanz hervorzubringen. Zwar war Austin einer »sehr allgemeinen Theorie« nicht völlig abgeneigt, der zu entnehmen wäre, wie man sich bspw. mittels bestimmter Sprechakte auf künftige Handlungen verpflichtet (und wie das jeder Empfänger eines gegebenen Wortes verstehen kann), doch warnt er vor jeglicher allzu vereinfachten Formel für eine komplexe Situation, »die in kein gängiges Schema passt« (TS, S. 43, 57). Bis heute ist umstritten, ob Austin überhaupt eine »Theorie der Sprechakte« liefern wollte, ob dieser, vor allem von Searle eingeschlagene Weg nicht vielmehr vom Wesentlichen wegführt: vom Verdacht nämlich, dass sich gerade am Versprechen eine nicht normalisierbare Ereignishaftigkeit des Wortgebens zeigt, das sich nicht darin erschöpft, etwas Mögliches nach gewissen Regeln, aufgrund subjektiver Intentionen und institutionell abgestützt zuzusagen. 14 Die von Austin herausgestellte Inkongruenz von Gemeintem, Gesagtem und Getanem ist beileibe keine kontingente Misslichkeit, die zum Ärger kompetenter Sprecher die nahtlose Umsetzung ihrer klaren Absichten in eine transparente Performanz verhindert. In der Performativität des Versprechens zeigt sich vielmehr eine prinzipiell nicht subjektiv kontrollierbare Ereignishaftigkeit, die zur Folge hat, dass man stets damit rechnen muss, mehr (oder weniger), aber nicht genau das zu tun, was man meint oder sagt – und zwar in dem Maße, wie sich das Geben des Wortes zwischen zweien oder mehreren ereignet.
Zur neueren Diskussion um diese Fragen vgl. A. Hetzel, »Das Rätsel des Performativen«, in: Philosophische Rundschau 51, Heft 2 (2004), S. 132–159.
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1.3 Normalisiertes Versprechen als Konvention: John R. Searle Die von Austin provozierte Öffnung dieser Fragen wird in der eigentlichen Sprechakttheorie, die vor allem mit dem Namen Searles verbunden ist, gleich mehrfach wieder zurück genommen. Ausdrücklich beschränkt sich Searle auf Versprechen unter »normalen« Umständen. Der Begriff des Performativen spielt in seiner Theorie keine besondere Rolle mehr. 15 Jedes Tun mit Worten versteht er als sekundäre Realisierung einer bereits gegebenen Kompetenz, Sätze unter entsprechenden Bedingungen angemessen zu äußern. Die normalen Umstände und Formen des Versprechens, auf die es Searle abgesehen hat, führen ihn schließlich auf die Spur einer normativen Theorie, die besagt, wie man sein Wort zu geben hat, wenn man will, dass das Versprechen tatsächlich gelingt. Alle anderen Formen von Versprechen geraten auf diese Weise ins Abseits der Defizienz oder der Abnormität. Aus diesem normativen Ansatz geht hervor, was als echtes Versprechen zählt bzw. zählen sollte. Searle geht erklärtermaßen nur von einem paradigmatischen Fall aus, nämlich vom expliziten, kategorischen und nicht-hypothetischen Versprechen als einer Äußerung kommissiven Typs. 16 U. a. die folgenden Prämissen und Regeln sollen in diesem Fall gelten: Man kann 1. davon ausgehen, dass normale Bedingungen des Sprechens und des Verstehens gegeben sind, die eine »ernsthafte und aufrichtige« Kommunikation ermöglichen; es liegt in Form eines Satzes (T) 2. eine Proposition des Sprechers (S) vor, dass p; 3. indem S p ausdrückt, sagt S einen Akt A von S aus, der notwendig in der Zukunft liegt. 17 4. Der Adressat H (Hörer) wünscht die Ausführung von A. (Racheversprechen sind demnach ebenso wenig echte Versprechen wie Drohungen, die in der Form von Versprechen ausgesprochen werden können) 5. Bei normalem Verlauf des zu Bzw. wird dieser Begriff auf den Gebrauch explizit performativer Ausdrücke beschränkt; vgl. J. R. Searle, Consciousness and Language, Cambridge 2002, S. 156 ff. 16 J. R. Searle, Sprechakte, Frankfurt am Main 1979, S. 86, 88 ff. (= S); vgl. P. Ricœur, Zeit und Erzählung III, München 1991, S. 375 f., der daran anknüpft, wobei er aber den Aspekt der Initiative stark betont, die wiederum mit einem praktischen Können kurzgeschlossen wird, an dem Zweifel angebracht sind (s. u. Teil 4. 4). 17 Hier fließt offenbar ein eng gefasster Aktbegriff ein; nicht vorgesehen ist etwa ein Fall wie der, dass jemand am Totenbett verspricht, Sorge für die Hinterbliebenen zu tragen, so dass das ganze folgende Leben zur Erfüllung des Versprechens bzw. zur Einlösung des gegebenen Wortes wird. 15
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Erwartenden wird A nicht ohnehin stattfinden. 6. S beabsichtigt A zu tun (allerdings nur bei aufrichtigen Versprechen). 18 7. Es liegt in der Absicht von S, sich mit dem Versprechen zur Ausführung von A zu verpflichten. 8. Es liegt in der Absicht von A, dass H erkennt, dass S aufgrund der skizzierten Voraussetzungen ein Versprechen abgeben will (einschließlich dessen, dass die Äußerung des Versprechens die Übernahme einer Verpflichtung beinhaltet). Diese (u. a. 19 ) Punkte sollen klären, »was es heißt, daß ein Sprecher eine Äußerung als Versprechen meint«. D. h. »es ist die Absicht des Sprechers, einen bestimmten illokutionären Effekt dadurch zu erzeugen, daß er den Zuhörer dazu bringt zu erkennen, daß er jenen Effekt hervorzurufen beabsichtigt, und es liegt ebenfalls in seiner Absicht, daß dieses Erkennen dank der Tatsache geschieht, daß die Bedeutung es von ihm Geäußerten dieses auf Grund von Konventionen mit der Erzeugung jenes Effektes verknüpft. In diesem Fall nimmt der Sprecher an, daß die für die geäußerten Ausdrücke geltenden semantischen (die Bedeutung bestimmenden) Regeln von solcher Beschaffenheit sind, daß durch sie die Äußerung als die Übernahme einer Verpflichtung gilt« (S, S. 94). 20 Realisierungen von Regeln, nach denen sich das Sprechen allgemein richtet, so dass es regelgeleitet erfolgt und nicht bloß regelmäßig stattfindet, nennt Searle Konventionen, durch die etwas Gesagtes ausgezeichnet wird als ein Sprechen dieser oder jener Art. Eine Sprache sprechen ist demzufolge allgemein ein weitgehend regelgeleitetes Geschehen. Besonders gilt das aber für Sprechakte, die ohne derartige Konventionen als solche gar nicht identifizierbar wären. Nur einer Konvention ist lt. Searle zu entnehmen, inwieweit etwa das Versprechen als ein verbindliches Sichfestlegen auf künftige Handlungen (oder Unterlassungen) gilt. Entscheidend ist, was als dergleichen »zählt«. Und das bestimmt sich nach Regeln, die wir im Versprechen immer schon befolgen, auch wenn wir nicht notwendig Vgl. B. Williams, Probleme des Selbst, Stuttgart 1978, S. 343 ff. Es geht hier nur darum, den Kern des ganzen Ansatzes hervorzuheben, nicht um beliebig verfeinerbare Details. 20 B. Gert bestreitet, dass der Gebrauch von Versprechen in jedem Falle auf »ausführlichen« Konventionen beruht (Die moralischen Regeln, Frankfurt am Main 1983, S. 150 ff.). Hier schließt sich das viel diskutierte Problem an, ob Regeln, die solche Konventionen beinhalten, tatsächlich im sprachlichen Verhalten befolgt werden oder ob es sich lediglich um beobachtbare Regelmäßigkeiten handelt. Zum Konventionsbegriff vgl. G. Harman, Das Wesen der Moral, Frankfurt am Main 1981, S. 120–133. 18 19
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wissen müssen, dass wir das tun (S, S. 65–67). Das Wissen, was als Versprechen zählt, beruht auf einem Wissen, wie man sein Wort so gibt, dass man damit eine Verbindlichkeit eingeht und nicht bloß unverbindliche Worte äußert. Wann immer jemand sein Wort gibt, ist das aus einer Beobachterperspektive deskriptiv festzustellen. Aber die Feststellung, ob ein Versprechen darüber hinaus im Sinne eines verbindlich gegebenen Wortes wirklich erfolgt, setzt eine Wertung des Gesagten voraus (S, S. 286 f.) – und zwar in der Regel durch den Adressaten des Versprechens. Die Frage ist nun, ob es überhaupt eine aufrichtige Äußerung von Versprechen geben kann, die sich in einem deskriptiven Befund erschöpfen würde. In diesem Falle würde man zwar etwas sagen, was semantisch einem Versprechen gleich kommt, aber die Übernahme einer Verpflichtung würde daraus in keiner Weise folgen. Der Adressat müsste also immer nachfragen: ob der Andere, der ihm scheinbar ein Versprechen gegeben hat, ihm wirklich sein Wort gegeben hat. Diese Nachfrage wird überflüssig in dem Moment, wo die »Institution des Versprechens« anerkannt wird. Von einer Institution ist hier als einem »System konstitutiver Regeln« die Rede, d. h. solcher Regeln, die nicht nur eine »bereits existierende [von den Regeln logisch unabhängige] Tätigkeit« regulieren, sondern geradezu die Tätigkeit ausmachen und erzeugen (S, S. 54 f.). Eine solche Institution anzuerkennen, ist allerdings doppeldeutig. Es kann einmal heißen, zu wissen, wie sie funktioniert und sich danach richten. Aber eine Anerkennung dieser Art, die es einem ermöglicht, das Sprachspiel des Versprechens mitzuspielen, bedeutet nicht notwendig auch ein »Gutheißen der Institution als einer guten oder akzeptablen Institution« (S, S. 290). 21 Man muss verstehen, wie dieses Sprachspiel funktioniert, um sein Wort geben (oder ein gegebenes Wort annehmen) zu Einen viel engeren Institutionenbegriff hat S. Cavell im Sinn: Cities of words, Cambridge, London 1994, S. 88 f., wenn er feststellt: »Ordinary promises, everyday ways of clarifying what others can count on, require no special institutional standing«. Abgesehen davon kann Searle mit einer Beschränkung auf bereits normalisierte Versprechen außer-ordentlichen Versprechen nicht Rechnung tragen, die nicht immer schon durch bereits geltende Konventionen gestützt sind. Hier stoßen wir wieder auf das Humesche Problem, ob eine bloße (an sich nicht verbindliche) Übereinkunft genügt, um Verbindlichkeit zu stiften. Vgl. B. Lahno, »Treue als künstliche Tugend«, in: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München 2005, S. 201–218, hier: S. 211. Das ist nicht allein eine Frage der Gründung von Institutionen, wenn diese allein durch eine fortwährende Re-Instituierung Bestand haben können, der sie nicht allein mit eigenen Mitteln Herr werden.
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können. Aber man muss so wenig Versprechen geben wie Schach spielen. Im Übrigen braucht man die Institution des Versprechens in keiner Weise gut zu heißen, wenn man weiß, wie sie funktioniert. Aus Searles Analyse geht nicht hervor, ob man sich überhaupt mittels Versprechen auf Verpflichtungen einlassen muss. Und sie sagt nichts zu der Frage, ob und inwieweit verpflichtende Versprechen im Kontext sozialen und politischen Lebens eine »verbindliche« Rolle spielen oder spielen sollten. 1.4 Das Versprechen im Vorschein idealer Verständigung: Jürgen Habermas Dagegen ist Habermas an einer sozialphilosophischen Interpretation des Versprechens im Kontext menschlicher Lebensformen und an ihrer Bedeutung für deren Integration interessiert. Dabei knüpft er an den spreachakttheoretischen Gedanken an, dass mittels der illokutionären Kraft von Äußerungen soziale Beziehungen »hergestellt« werden; 22 und zwar vermittels rationaler Einwirkung auf Andere, die den Verwendungssinn einer Äußerung verstehen und akzeptieren (VE, S. 201, 433). »In letzter Instanz kann der Sprecher illokutiv auf den Hörer und dieser wiederum illokutiv auf den Sprecher einwirken, weil die sprechhandlungstypischen Verpflichtungen mit kognitiv nachprüfbaren Geltungsansprüchen verknüpft sind, d. h. weil die reziproken Bindungen eine rationale Grundlage haben« (VE, S. 433). So zeigt sich Habermas ganz und gar auf die Frage der Geltung des in Sprechakten jeder Art Gesagten fixiert. Entsprechend soll sich die Vernunft, die in die »Reproduktion einer sprechenden Tierart« (Mensch) eingebaut scheint, allein in der Intersubjektivität von Geltungsansprüchen offenbaren (VE, S. 105). Die Rede von einem Anspruch besagt, dass jeder Sprecher, indem er etwas sagt, Geltung des Gesagten in viererlei Hinsicht (für sich) »beansprucht«: »Beansprucht wird die Verständlichkeit der Äußerung, die Wahrheit ihres propositionalen Bestandteils, die Richtigkeit ihres performativen Bestandteils und die Wahrhaftigkeit der geäußerten Intention des Sprechers« (VE, S. 138). Alle diese Ansprüche müssen grundsätzlich einJ. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt am Main 1984, S. 415, 428 (= VE).
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gelöst werden können. Im Fall der Wahrhaftigkeit, die für das Versprechen eine besondere Rolle spielt, kann das aber nicht auf diskursivem Wege geschehen. Ob jemand in wahrhaftiger Weise sein Wort gibt, kann nicht schlicht als wahr oder falsch behauptet werden. Wer sein Wort gibt, mutet Anderen zu, ihm zu glauben. Die Antwort, nach der das gegebene Wort in der Weise der Zumutung verlangt, ist ein Glauben an die Wahrhaftigkeit einer Person, d. h. dass man vertrauensvoll ausschließt, »daß sie nicht meinen könnte, was sie sagt«. Habermas nennt das eine Glaubensgewissheit, die einen Glauben an jemanden darstelle. Dieser verdanke sich »den Interaktionen, in denen ich die Wahrhaftigkeit des Betreffenden erfahren habe«. Die fragliche Gewissheit ist also von »kommunikativen Erfahrungen abhängig; deshalb lassen sich Wahrhaftigkeitsansprüche auch nur in Interaktionen einlösen oder ›bezeugen‹. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Verdacht auf Täuschung oder Selbsttäuschung besteht« (VE, S. 142). Das Versprechen fungiert in diesem Ansatz zunächst nur als ein Beispiel für ein »universalpragmatisches« System von Ansprüchen, die scheinbar jeder Sprecher für sich reklamiert und erhebt, wenn er sich mit Worten an Andere wendet. In der allgemeinen (unvermeidlichen) Inanspruchnahme dieses Systems soll sich im Modus des Vorscheins zeigen, wie das Miteinanderreden idealerweise geschähe, wenn es nicht an kontingenten Einschränkungen und Pathologien litte (wie es faktisch vielfach der Fall ist). Habermas spricht vom Vorschein einer idealen Sprechsituation, die als gleichsam antizipierte auch schon in nicht-idealer Kommunikation eigentümlich gegenwärtig sein soll. Diese »Vorwegnahme des idealisierten Gesprächs (als einer in Zukunft zu realisierenden Lebensform?) garantiert das ›letzte‹ tragende und keineswegs erst herzustellende kontrafaktische Einverständnis, das die potenziellen Sprecher/Hörer vorgängig verbinden muß und über das eine Verständigung nicht mehr erforderlich sein darf, wenn anders Argumenten überhaupt konsenserzielende Kraft soll zukommen können. Insofern ist der Begriff der idealen Sprechsituation nicht bloß ein regulatives Prinzip im Sinne Kants; denn wir müssen mit dem ersten Akt sprachlicher Verständigung diese Unterstellung faktisch immer schon vornehmen. Andererseits ist der Begriff der idealen Sprechsituation auch nicht existierender Begriff im Sinne Hegels; denn keine historische Gemeinschaft deckt sich mit der Lebensform, die wir mit Bezugnahme auf die ideale Sprechsituation grundsätzlich charakterisieren können« (VE, S. 181. Hervorhebg. B. L.). A
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So wird verständlich, wie Habermas das tatsächliche Funktionieren der Sprache im Sprechen wiederum als ein »Versprechen« deuten kann. Im Modus des Vorscheins eines idealen Gesprächs, das unter keinerlei inneren und äußeren Beschränkungen und Pathologien mehr zu leiden hätte, wird die Utopie einer wirklichen Lebensform antizipiert, an die immerhin eine Annäherung denkbar erscheint, wenn man nur Ernst nimmt, wie der eigentliche Sinn menschlicher Kommunikation im tatsächlichen Sprachgebrauch gleichsam vorweggenommen wird. Im Anschluss an Horkheimer ist tatsächlich von einem »in der Sprache selbst angelegten Versprechen« die Rede. Während aber Horkheimer die Sprache nur mit dem Anspruch »wahr zu sein« verbindet, erinnert Habermas an jene vier Geltungsdimensionen, die in einer wirklichen Lebensform tatsächlich (und nicht nur dem Anspruch nach) eingelöst zu denken wären. Während Horkheimer resigniert erklärt, »das Sprechen« sei ebenso überholt wie »das Tun, soweit es auf das Sprechen einmal bezogen war«, will Habermas den Anspruch auf wirkliche Einlösung jener vier Ansprüche nicht aufgeben. 23 In der Hoffnung auf effektive Einlösbarkeit liegt für ihn das in der Sprache angelegte Versprechen – ein Versprechen, das nie jemand gegeben hat und niemals jemand wird geben können. Wer verspräche, es einzulösen, verspräche Unmögliches, das ihm gar nicht zu Gebote steht. Gleichwohl stellt sich das Halten von Versprechen ebenso wie die bezeugte Glaubwürdigkeit im Modus des Vorscheins einer idealisierten Lebensform, die konkret zu realisieren wäre, als Beitrag zur Einlösung des Versprechens der Sprache dar. Hat es aber Sinn zu sagen, die Sprache verspreche etwas – nämlich ihren eigenen idealen Gebrauch in Form von Äußerungen, die die beanspruchten Ansprüche tatsächlich einlösen würden – angefangen bei der Wahrhaftigkeit derer, die sie tätigen? Selbst wenn sich diese Redeweise rechtfertigen ließe: würde die Sprache dann nicht zuviel versprechen, d. h. etwas, was sie niemals idealiter einlösen kann, solange sie konkret »funktioniert« – was nur solange geschehen kann, wie ihr nicht die irdische Bodenhaftung nicht-idealer Bedingungen entzogen wird? 24 Müsste das Versprechen der Sprache so Vgl. J. Habermas, Texte und Kontexte, Frankfurt am Main 2 1992, S. 122 f. Die antizipierte ideale Lebensform kann als realisierte nicht einmal gedacht werden. Wollte man sie nämlich »als realisiert denken, so würde [sie] die Negation aller endlichen Bedingungen der menschlichen Kommunikation bedeuten«, ohne die es letztere
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gesehen nicht an seinem eigenen Übermaß zugrunde gehen und jeglicher Glaubwürdigkeit entbehren? Die gleiche Frage stellt sich, wenn man die Rede von einem in der Sprache »angelegten« Versprechen als Abkürzung für die im Miteinanderreden zu erkennende Herausforderung nimmt, Andere nicht (mit Worten) zu verletzen. 25 Was Habermas als systematisch verzerrte oder pathologische Kommunikation beschreibt, lässt sich als sprachliche Gewalt deuten, die in einem idealen Sprachgebrauch restlos zu eliminieren wäre. Kann sich dieser Sprachgebrauch wirklich über die Gewalt hinwegzusetzen versprechen? Hier geht es nicht allein um Gewalt, die Anderen in und mit Worten widerfährt, sondern auch um Gewalt, die das Zustandekommen, das Ausbleiben oder die Verhinderung eines Gesprächs oder Diskurses selbst betrifft. In diesem Zusammenhang spricht Habermas ebenfalls von einem Versprechen, das tiefer noch greift als jene Ansprüche und normativen Erwartungen ihrer Einlösbarkeit. Es handelt sich um das Versprechen, Andere überhaupt zu Wort kommen zu lassen. Ohne ein wie unzulänglich und partiell auch immer eingelöstes »Versprechen der Inklusion« hat die auf bereits Artikuliertes sich richtende normative Erwartung der Einlösbarkeit erhobener Geltungsansprüche keinen Ansatzpunkt. Erst einmal muss jemand zur Sprache kommen und Gehör finden können. Dann erst sind diskursiv artikulierte Ansprüche geltungskritisch zu befragen. Wer sie unterdrückt oder verzerrt, macht sich für Habermas »diskursiver Gewalt« schuldig, die eventuell auch »im Modus einer verdeckten, weil impliziten Verletzung des Versprechens der Inklusion ausgeübt wird«. Zuvor aber ereignet sich prä-diskursive Gewalt, wenn bereits die Artikulationsmöglichkeiten Anderer unterbunden werden. Auch darin würde Habermas allerdings keinen Grund sehen wollen, das mit vernünftiger Rede »verknüpfte Versprechen selbst zu revozieren – und zwar um so weniger, als diese Praxis gleichzeitig die Maßstäbe und die Mittel liefert, um die ernsthafte Einlösung des Versprechens zu kontrollieren«. 26 überhaupt nicht geben kann. Vgl. A. Wellmer, Sprachphilosophie, Frankfurt am Main 2004, S. 233. 25 Das falsche oder unaufrichtige Versprechen nimmt eine Glaubwürdigkeit in Anspruch, die in Wahrheit, wenn die Absichten des Versprechenden ans Licht kämen, gar nicht durch jene Glaubensgewissheit gedeckt wäre. In diesem Fall widerfährt dem, der dennoch an den Versprechenden glaubt, Gewalt (auch ohne sein Wissen). 26 J. Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt am Main 1998, S. 220 f. A
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2.
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2.1 Fairness als Maßgabe des Versprechens: John Rawls Bei Habermas lässt sich wie gezeigt ein bedenkenswerter Übergang vom Versprechen als Akt und Institution (bzw., in Wittgensteinscher Terminologie, als Sprachspiel) im Kontext menschlicher Lebensformen zur Deutung dieser Lebensformen selbst als Versprechen feststellen. Diese Deutung rückt nun in den Vordergrund; und zwar ausgehend von Rawls’ einflussreicher Theorie der Gerechtigkeit (1971), in der manche nicht weniger als eine Neubegründung der Praktischen Philosophie gesehen haben. Zunächst knüpft auch Rawls an die Sprechakttheorie an, fragt dann aber weiter nach dem politischen Kontext, in dem man sein Wort gibt und hält oder bricht. Im Anschluss daran kommt das Leben in diesem Kontext wiederum seinerseits als Versprechen zum Vorschein (2. 2). Rawls ist überzeugt davon, dass jeder Mensch einen Sinn für Gerechtigkeit und Anspruch auf Gerechtigkeit hat, dem politisch organisiertes Zusammenleben in einer Gesellschaft Rechnung tragen muss. Um zu begründen, wie dies geschehen kann, reaktiviert Rawls die Philosophie des Gesellschaftsvertrages im Sinne eines fiktiven Legitimitätstests, dem das gesellschaftliche Leben nachträglich zu unterwerfen ist. In einem solchen Test versetzt man sich in die fiktive Lage von Menschen, die über eine faire Verteilung von Gütern unter der Bedingung entscheiden sollen, dass sie zuvor nicht wissen, in welcher Art und Weise sie von der zu fällenden Entscheidung betroffen wären. Ich betrachte hier nur den Fall, dass man nach einem solchen Test zu dem Urteil gelangt, dass die gesellschaftlichen Institutionen, die die Gerechtigkeit garantieren sollen, tatsächlich gerecht sind. In diesem Fall entstehen den Einzelnen Verpflichtungen, besonders die, sich gemäß den Regeln dieser Institutionen zu verhalten. Auf solche Verpflichtungen lässt man sich nach Rawls’ Vorstellung allerdings in »freiwilligen Akten« ein, sei es in der Form ausdrücklicher oder stillschweigender Versprechen, sei es in der Form von Übereinkünften, sei es durch »bloßes Mitmachen«. Verpflichtungen entstehen nicht einfach aufgrund des Vorhandenseins von Institutionen, sondern nur dann, wenn diese als fair gelten können. »Selbst die Regel des Versprechens schafft, für sich genommen, keine moralische Ver176
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pflichtung. Zur Begründung von Treue-Verpflichtungen ist der Fairneßgrundsatz notwendig« (TG, S. 133 f., 384). Zu wissen, wie man nach bestimmten Regeln ein Versprechen gibt, ist nicht dasselbe wie die Verpflichtung, das Zugesagte auch wirklich einzulösen und ihm (bzw. sich) in diesem Sinne »treu« zu bleiben. Für eine Theorie der Treueverpflichtungen genügen nach Rawls’ Ansicht »das Bestehen eines gerechten Brauchs des Versprechens als System öffentlicher konstitutiver Regeln und dazu der Fairneßgrundsatz«. Man brauche keineswegs auf eine wirkliche Vereinbarung zu rekurrieren, Vereinbarungen auch einzuhalten. Der Fairnessgrundsatz, dem zufolge Zugesagtes nicht nur konventionellen Regeln des Versprechens entspricht, sondern auch einzuhalten ist, »ist rein hypothetisch«. Er beinhaltet nur, »daß dieser Grundsatz anerkannt werden würde. Wenn man dann annimmt, es gebe einen bestimmten Brauch des Versprechens – wie auch immer er zustande gekommen sein mag –, so genügt der Fairneßgrundsatz zur Bindung derer, die sich seiner bedienen« (TG, S. 385 f.). So ergibt sich der Treuegrundsatz einfach aus einer Anwendung des Fairnessgrundsatzes auf die soziale Handlung des Versprechens. »Die Begründung dafür geht von der Feststellung aus, daß Versprechen von einem öffentlichen Regelsystem bestimmt sind. Diese Regeln sind wie bei allen Institutionen ein System konstitutiver Vereinbarungen. Ganz wie Spielregeln definieren sie bestimmte Handlungen.« Rawls schließt sich in diesem Punkt Searle an. Verspricht jemand etwas, so verpflichtet er sich, das Zugesagte zu tun, wenn die entsprechenden Umstände eintreten. Diese »Regel des Versprechens« ist keine moralische, sondern eine »konstitutive Vereinbarung«. Sie existiert bzw. ist in Kraft, wenn »mehr oder weniger regelmäßig« tatsächlich nach ihr gehandelt wird. Typischerweise, so Rawls, dienen Versprechen als »Mittel zur Schaffung und Stabilisierung gegenseitiger nützlicher Vereinbarungen über eine Zusammenarbeit«. 27 Ob sie jemanden verpflichten, ergibt sich wie gesagt nicht aus der Regel des Versprechens, sondern daraus, ob sie als fair zu beurteilen sind.
Rawls geht so weit, solche Vereinbarungen als funktional äquivalent mit der Rolle des Herrschers bei Hobbes zu verstehen. »Ganz wie dieser das System der gesellschaftlichen Zusammenarbeit aufrechterhält und stabilisiert, indem er ein wirksames System von Strafen öffentlich einsetzt, so schaffen und stabilisieren die Menschen bei Abwesenheit von Zwangsregelungen ihre privaten Unternehmungen, indem sie einander ihr Wort geben« (TG, S. 382).
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Gerechtigkeitsgrundsätze sind also auf Versprechen »in der gleichen Weise anzuwenden wie auf andere Institutionen« (TG, S. 380 f.). Zunächst gibt es keine Verpflichtung, überhaupt ein Versprechen zu leisten. Existiert aber ein gerechter Brauch, so »tritt der Fairneßgrundsatz in Kraft, und man muß tun, was die Regel verlangt«. »Die Verpflichtung, sein Versprechen zu halten, folgt aus dem Fairneßgrundsatz.« Letztlich erlegt man sie sich selbst auf, nämlich im Interesse an den Vorteilen gesellschaftlicher Zusammenarbeit (TG, S. 382). Versprechen sind so gesehen Handlungen, die »mit der öffentlichen Absicht« ausgeführt werden, »willentlich eine Verpflichtung auf sich zu nehmen, deren Bestehen unter den gegebenen Umständen dienlich ist. Wir möchten diese Verpflichtung haben, sie soll bekannt sein, und andere sollen wissen, daß wir diese Bindung anerkennen und uns an sie halten werden.« Die Verpflichtung dazu entspringt der Einsicht in die Nützlichkeit gesellschaftlichen Zusammenlebens zu gegenseitigem Vorteil, das freilich dem Anspruch der Fairness genügen muss. Denn jeder hat einen Sinn für (Un-) Gerechtigkeit und glaubt mit guten Gründen, dass auch Andere über einen solchen Sinn verfügen. Daraus soll der »normalerweise wirksame Wunsch« resultieren, »sich an seine bona fide eingegangenen Verpflichtungen zu halten«. »Ohne dieses gegenseitige Vertrauen kommt durch die Äußerung von Worten nichts zustande« (TG, S. 383). Rawls ist nicht an einer aufsteigenden Analyse interessiert, die zeigen würde, wie man über bloßes, »unverbindliches« Sprechen hinausgehend mittels Humescher oder Searlescher Konventionen dahin gelangt, gewisse Worte als Versprechen gelten zu lassen, die dann unter bestimmten Bedingungen auch verpflichtend sein können. Vielmehr rekonstruiert er, unter welchen (impliziten) Voraussetzungen gesellschaftliches Leben stattfindet: nämlich unter der Voraussetzung, dass die Erwartung besteht, es solle gerecht sein. Diese Erwartung wird auf einen Gerechtigkeitssinn zurückgeführt, den die Philosophie als Fairnessgrundsatz reformuliert und zur normativen Grundlage gesellschaftlichen Lebens macht, das, wenn es als legitim erscheinen können soll, wenigstens nachträglich so muss verstanden werden können, als sei es einer ursprünglichen, fairen Vereinbarung zu verdanken. In all dem vorausgesetzt ist das Interesse an einem befriedigenden oder nützlichen bzw. gewinnbringenden gesellschaftlichen Zusammenleben. Nur wenn und insoweit dieses Interesse besteht, kann offenbar 178
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davon die Rede sein, dass man auch Verpflichtungen auf sich nimmt. Immerhin hält Rawls es für so stark, dass es auch mit der Hinnahme von vielfach ungerechten Lebensverhältnissen vereinbar sein soll. Dass es überhaupt (mehr oder weniger gerecht) geregelte Lebensverhältnisse gibt, die man immerhin verbessern könnte, scheint ihm allemal besser als deren Zusammenbruch. Fehler gesellschaftlicher Regelungen sollen deshalb »nicht leichtfertig zur Entschuldigung von Ungehorsam« dienen; und »unvermeidliche Lücken in den Regeln« solle man nicht für eigene Interessen ausschlachten. Ohne eine gewisse Anerkennung der Pflicht, eine vielfach mangelhaft etablierte Gerechtigkeit hinzunehmen, »muß das gegenseitige Vertrauen zusammenbrechen« (TG, S. 392). Rawls scheint also davon auszugehen, dass tatsächlich oft genug ein hinreichender Anlass dazu gegeben sein könnte, jenes Interesse preiszugeben. Mindestens unter einigermaßen gerechten Bedingungen bestehe gleichwohl aber die Pflicht, auch ungerechten Gesetzen zu gehorchen. 28 Wird indessen ein gewisses Maß an Ungerechtigkeit überschritten und zerbricht das allgemeine Interesse an einem gerechten Zusammenleben, dann droht eine anarchische Gewalt, gegen die Worte allein nichts mehr ausrichten. 2.2 Gerechtigkeit als Versprechen demokratischer Lebensformen: Judith Shklar Als Antwort auf die in den letzten Jahren wieder viel bedachte Frage, was politische Lebensformen eigentlich zusammenhält, nimmt die Gerechtigkeit nicht zuletzt dank der Theorie von Rawls einen herausragenden Platz ein. Manche sind sogar zu dem Schluss gekommen, allein wirkliche Gerechtigkeit könne Lebensformen – sei es in der Form einer Gemeinschaft, sei es in der Form einer staatlich organisierten Gesellschaft – auf Dauer zusammenhalten – »während die Ungerechtigkeit sie auseinanderreißt«. 29 Dasselbe soll für die VerVgl. die Überlegungen Rawls’ zur Verpflichtung auf Gerechtigkeit, die er von einem bloßen Nutzenkalkül abzugrenzen versucht (TG, S. 371 f.). 29 J. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Frankfurt am Main 1997, S. 130 (= ÜU). Vor einer Überbewertung der Gerechtigkeitsfrage warnt dagegen A. Margalit in seinem Buch Politik der Würde, Berlin 1997, unter Hinweis auf Erfahrungen der Demütigung, die auch in weitgehend gerecht organisierten Lebensformen weit verbreitet sein können. Offen bleibt, ob sich diese Erfahrungen als Phänomene der Ungerechtigkeit deuten lassen bzw. 28
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hältnisse zwischen Staaten gelten. Deshalb wird mit Nachdruck nach der Möglichkeit weltweiter Gerechtigkeit gefragt. Aber keimt nicht aus erlittener Ungerechtigkeit vielfach eine politische Empörung, die gerade im Streit, den sie vom Zaun bricht, die Gegner verbindet? Erweist sich so gesehen nicht gerade die umstrittene und in sich strittige Gerechtigkeit oft als Motor einer konfliktträchtigen politischen Integration? Eklatante Ungerechtigkeit bedroht, wenn sie anhält, früher oder später den Bestand jedes politischen Gemeinwesens. Aber auch latente, anhaltende Ungerechtigkeit verschärft sich, wenn sie nicht als solche zur Sprache und zur Geltung kommt und wenn bereits im Ansatz jede Möglichkeit der Auseinandersetzung mit verantwortlichen Adressaten von Forderungen nach Gerechtigkeit verbaut ist. So gesehen erscheint weniger erlittene Ungerechtigkeit als vielmehr die unterbleibende Auseinandersetzung mit ihr als potenzielle Bedrohung. Selbst andauernde Ungerechtigkeit kann zusammenhalten – solange sie als politisches Problem umstritten ist und nicht jeden Streit um gerechte Ansprüche als aussichtslos erscheinen lässt. Dass Menschen erlittene Ungerechtigkeit vielfach nicht zur Sprache bringen (können), weil sie weder Unterstützung noch den geringsten Erfolg erwarten, und dass man in Wahrheit allgegenwärtige Ungerechtigkeit zu erkennen sich weigere, ist für Shklar der »Grund dafür, warum wir das wirkliche Ausmaß der Ungerechtigkeit wie des Sinnes für Ungerechtigkeit, das unter uns verbreitet ist, nicht kennen« (ÜU, S. 138). Ausführlich macht die Autorin deshalb auf indirekte, passive und strukturelle Formen der Ungerechtigkeit aufmerksam, an denen man nicht selten teilhat, ohne es zu wollen. So versucht sie, die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit als Ungerechtigkeit zu mobilisieren, ohne indessen die utopische Hoffnung zu nähren, es lasse sich eine umfassende Gerechtigkeit erreichen. »Kein Gerechtigkeitssystem, sei es noch so fair, darf jemals erwarten«, die Ungerechtigkeit gänzlich zu beseitigen. »Zu meinen, demokratische Einstellungen und Institutionen würden eine angemessene Antwort auf den Sinn für Ungerechtigkeit geben, wäre kindisch, ja nicht einmal einleuchtend. Mag sein, dass wir über die bestmöglichen Verfahren der Kon-
ob Ungerechtigkeit als demütigend gilt. Aus Margalits Sicht wäre das demokratischen Lebensformen gleichsam innewohnende Versprechen durch das Versprechen zu ergänzen, die demütigende Behandlung Anderer nicht zuzulassen.
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sensbildung verfügen, das Reich der Ungerechtigkeit werden wir so nicht erobern« (ÜU, S. 109 f., 114). Mit Recht warnt Shklar vor einer Gleichsetzung von Recht und Gerechtigkeit. Vielfach werde Ungerechtigkeit gerade durch ein gleich machendes Recht heraufbeschworen. Und es erfordere »zivile Tugend« bzw. ein »demokratisches Ethos«, das sich niemals im geltenden Recht erschöpfen könne, um in nicht-gleichgültiger Weise mit der ungeachtet des Rechts oder gerade durch das Recht andauernden Ungerechtigkeit so umzugehen, dass sie nicht zum Sprengsatz für die jeweilige politische Lebensform werde. Auf ein solches Ethos gründet Shklar das »Versprechen demokratischer Politik«, der Ungerechtigkeit so weit wie möglich entgegenzuwirken. Hier geht es nicht wie bei Rawls darum, das Versprechen unter Fairnessaspekten zu beurteilen, sondern darum, die Gerechtigkeit selbst als Versprechen zu begreifen. 30 Das soll in dem Maße möglich sein, wie sich diejenigen, die in politischen Lebensformen zusammenleben, den Anspruch der Gerechtigkeit zu eigen machen, um sich auf deren Verwirklichung zu verpflichten. 31 Dieses Versprechen kann aber nur als glaubwürdig erscheinen, wenn es gerade nicht die rechtlich abgesicherte Abschaffung der Ungerechtigkeit in Aussicht stellt. Formen des Umgangs mit fortbestehender Ungerechtigkeit, die man weder gleichgültig affirmieren noch abschaffen kann, gilt daher Shklars besonderes Augenmerk. Dem politisch sensibilisierten Sinn für Ungerechtigkeit 32 traut sie zu, die Suche nach neuen, besseren Institutionen zu inspirieren; doch werden diese niemals in idealer Weise dem Anspruch Genüge tun, die Ungerechtigkeit aufzuheben. Stets wird von neuem Streit darum In J. Shklars Buch Ordinary Vices, Cambridge, London 1984, ist eher nebenbei ebenfalls von einem »moralischen Versprechen« demokratischen Lebens die Rede (S. 70). Im Vordergrund steht hier aber die missbräuchliche Überbeanspruchung von Versprechen, beeideten Zusagen und Vertrauen im politischen Leben, das genau die Verbindlichkeit fortwährend unterminiert, die rhetorisch beschworen wird (S. 183 ff.). Auf den Aspekt des regelmäßig missbrauchten Vertrauens infolge »gewohnheitsmäßig« gebrochener, öffentlicher Versprechen konzentriert sich die Autorin auch in ihrem Buch Über Ungerechtigkeit (S. 20). 31 Das Ansinnen, sich die Gerechtigkeit »zu eigen« zu machen, wäre allerdings kritisch zu bedenken, wenn sie als »des anderen Gut« (allotrion agathon, wie es in der Nikomachischen Ethik heißt: Buch V, 1129 b ff.) in Wahrheit von ihm her verlangt ist und ihm nicht etwa großzügigerweise nur gewährt wird. 32 Vgl. ausführlich dazu v. Verf., Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung, Weilerswist 2008, Teil A. 30
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entbrennen können, inwiefern sich überhaupt Fragen der Gerechtigkeit stellen und wo sie wahrzunehmen sind. »Nach Aristoteles heizt wahrgenommene Ungerechtigkeit den Kampf zwischen Arm und Reich an, aber eben deshalb, weil beide Parteien in einem ideologischen Streit über primäre Gerechtigkeit befangen sind« (ÜU, S. 107). In der Gegenwart geht es indessen nicht mehr allein um eine von vornherein bestimmte (korrektive oder distributive) Form der Gerechtigkeit in einer Lebensform im Streit zwischen nur zwei Parteien, die Aristoteles als gerade durch die strittige Gerechtigkeit immer schon miteinander verstrickt beschreibt. Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit macht an den Grenzen politischer Lebensformen längst nicht mehr halt. Sie bringt im globalen Horizont heterogene Ansprüche Fremder zur Geltung, die als Subjekte gerechter Ansprüche zu zählen begehren, ohne dass wir ohne weiteres anzugeben vermöchten, wo und wie diesen Ansprüchen Rechnung zu tragen wäre und an welcher Idee der Gerechtigkeit wir uns dabei orientieren sollten. Die täglich hunderttausendfache Agonie Hungernder fordert unseren Sinn für Ungerechtigkeit heraus; aber wir sind oft nicht in der Lage, konkret anzugeben, wo und wie gerechtere Verhältnisse einzurichten wären, die versprechen würden, der ultimativen Forderung nachzukommen, den durch nichts zu rechtfertigenden Tod der Leidenden oder auch nur das Andauern ihres Leidens nicht länger »in Kauf zu nehmen« – und sei es auch nur einen einzigen Tag. Die Dringlichkeit dieser Forderung, mit der uns der Sinn für Ungerechtigkeit konfrontiert, können wir nicht ohne weiteres mit einem glaubwürdigen Versprechen beantworten, ihr sofort und wirksam nachzukommen. So überfordernd ultimative Gerechtigkeitsforderungen erscheinen, so fragwürdig ist die defensive Berufung auf die Zeit, die es zweifellos erfordert, an sich unaufschiebbarem Verlangen nach Gerechtigkeit in institutionell stabilisierter Form Rechnung zu tragen. All zu leicht wird der Aufschub der Gerechtigkeit zum bloßen Alibi, das uns durch fortdauernde Ungerechtigkeit kompromittiert. Nicht auszuschließen ist zwar, dass unsere Zeit eine neuartige Gerechtigkeit hervorbringen wird, die die Grenzen bestehender Lebensformen überschreitet. Doch gerade diese Aussicht ruft das Bedenken hervor, ob sich so nicht eine Überforderung der Gerechtigkeit abzeichnet, der wir zumal mit den Mitteln unseres bisher auf den Horizont begrenzter politischer Lebensformen beschränkten Gerechtigkeitsdenkens womöglich niemals gerecht werden können. Nähme 182
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man etwa die Forderung »seitdem wir ›gleich‹ geschaffen worden sind, sollten alle unsere Ansprüche zählen […]« (ÜU, S. 108), im Horizont weltweit wahrzunehmender Ungerechtigkeit wörtlich, so müsste sich daraus eine hoffnungslose Überforderung jeder Gerechtigkeit ergeben. Zwischen derart maß-loser Überforderung und notorisch beschränkter Gerechtigkeit wäre die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit zu situieren, um zu erkunden, wie sie als Sinn für Ungerechtigkeit den Sinn von Gerechtigkeit mit Leben erfüllt, der doch niemals versprechen kann, jede Ungerechtigkeit aufzuheben. Muss der Sinn für Ungerechtigkeit nicht rückhaltlos auch gegen die Gerechtigkeit sich wenden, wenn diese die Liquidierung der Ungerechtigkeit in Aussicht stellt? Wie weit wir davon in Wahrheit entfernt sind, zeigt zugleich, wie sehr die Gerechtigkeit unvermeidlich strittig bleiben wird. Vorläufig ist überhaupt keine politische Lebensform vorzustellen, die jeder aus dem Sinn für Ungerechtigkeit keimenden Forderung gerecht zu werden verspräche. Anstatt auf eine utopische, am Ende selbst-gerechte Gerechtigkeit hinzuarbeiten, sollte man in Betracht ziehen, ob es nicht gerade dieses unaufhebbare Missverhältnis von Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit auf allen angedeuteten Ebenen ist, wodurch das Verlangen nach Gerechtigkeit am Leben bleibt. Lebt nicht die Gerechtigkeit gerade von einer Destabilisierung, die aus der Überforderung eines sich von eingespielten Lebensformen lösenden, außer-ordentlichen Sinns für Ungerechtigkeit resultiert? Aber paralysiert ein derartiger Sinn für Ungerechtigkeit andererseits nicht das Verlangen nach anderen, besseren (weniger ungerechten) Lebensformen, wenn diese niemals versprechen können, ganz und gar der umstrittenen und in sich strittigen Gerechtigkeit zur Wirklichkeit zu verhelfen? 2.3 Zu Wort kommen und Gehör finden: Jacques Rancière Wie gezeigt, begreift Judith Shklar die Gerechtigkeit, auf die sie wie Rawls demokratische Lebensformen verpflichtet sieht, ihrerseits als ein Versprechen. Zugleich entzieht sie aber jeglicher Naivität den Boden, die zu der Annahme verführt, in näherer oder ferner Zukunft lasse sich die Gerechtigkeit befriedigend verwirklichen. Vielmehr nähren ihre Überlegungen den Verdacht, Ungerechtigkeit wohne der Gerechtigkeit in unaufhebbarer Art und Weise inne. Allemal A
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setzt jede Auseinandersetzung um wie mangelhaft auch immer realisierte Gerechtigkeit nun aber voraus, dass man sich in Worten aneinander wenden kann. Ob und wie ein Verlangen nach Gerechtigkeit überhaupt zur Sprache kommen und wie es artikuliert werden kann, ist eine Frage, die so lange unterbelichtet bleiben muss, wie man mit Rawls annimmt, bereits formulierte und berechtigte Ansprüche müssten zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden. Kann Ungerechtigkeit aber nicht schon darin liegen, dass Ansprüche überhaupt nicht zu Wort kommen und Gehör finden? Wäre jenes Versprechen der Gerechtigkeit so gesehen nicht durch ein vorgängiges Versprechen der Wahrnehmung Anderer mit deren Verlangen nach Gerechtigkeit und durch eine Sorge für dessen Artikulationsmöglichkeit zu ergänzen? Um diese Sorge dreht sich die Politische Philosophie Rancières, wo sie untersucht, wie es überhaupt dazu kommt, dass jemand politisch »zählt« bzw. gerechterweise »zählen« soll. Diese Frage macht Rancière paradigmatisch an der Auseinandersetzung zwischen römischen Plebejern und Patriziern deutlich. 33 Die römischen Patrizier glaubten, es gebe keinen Grund, mit den Plebejern zu sprechen, »aus dem einfachen Grund, weil diese nicht sprechen. Und sie sprechen nicht, weil sie Wesen ohne Namen sind, ohne Logos, das heißt ohne symbolische Einschreibung im Gemeinwesen. Sie leben ein rein individuelles Leben« (DU, S. 35). Dennoch beanspruchen sie einen legitimen Platz unter den Wesen, die etwas zu sagen haben und denen man Gehör schenken muss. Und siehe da, es gibt »atypische Patrizier«, die sich von diesem Anspruch verwirren lassen. Als Menschen, die etwas zu sagen haben, begehrten die Plebejer erst einmal wahrgenommen zu werden, bevor strittig werden konnte, was sie zu sagen hatten und was sie im Einzelnen für sich in Anspruch nahmen. Wer andere zur Auseinandersetzung mit einem Anspruch herausfordern will, muss überhaupt erst einmal als Subjekt der Inanspruchnahme wahrzunehmen sein. Und genau das versuchen die Plebejer zu erzwingen – was ihnen freilich nur vermittels jener »atypischen Patri-
Ich beziehe mich v. a. auf J. Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie. Frankfurt am Main 2002 (= DU); ausführlich dazu v. Verf., »Widerstreit und Dissens. Kritische Überlegungen zum polemos bei Jacques Rancière«, in: H. Vetter, M. Flatscher (Hg.), Hermeneutische Phänomenologie – phänomenologische Hermeneutik, Frankfurt am Main 2005, S. 135–155. 33
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zier« gelingt, die ihre eigene politische Ordnung verraten, indem sie Anderen zuhören, die von Rechts wegen gar nichts zu sagen haben. Durch den Riss, der sich infolge eines von Rechts wegen nicht vorgesehenen Hörens auf Andere in der etablierten Welt der Patrizier auftut, zeichnet sich in dem Maße eine neue Welt ab, wie sich das Zuhören auf eine irreguläre Rede hin öffnet, die keinerlei etablierten Anspruch für sich in Anspruch nehmen kann, überhaupt als Rede zu gelten. Wer ein Namenloser ist, ein Niemand, hat nichts zu sagen und spricht streng genommen nicht, wovon man sich in Anspruch nehmen lassen müsste. Wenn die Plebejer sich aber als Subjekte wirklicher Rede konstituieren und Gehör finden, ist das Wichtigste bereits geschehen, was jeder politische Streit im engeren Sinne der Auseinandersetzung um konfligierende Ansprüche bereits voraussetzt: dass Parteien im Spiel sind, die überhaupt Ansprüche erheben, geltend machen und verfechten können. Deshalb kann Rancière mit Recht sagen: »Vor allem Abmessen der Interessen und der Ansprüche an diesen oder jenen Anteil betrifft der Streit das Dasein der Teile als Teile, das Dasein eines Verhältnisses, das sie als solche konstituiert. Und der doppelte Sinn von Logos, als Sprache und als Zählung, ist der Ort, an dem sich der Konflikt abspielt« (DU, S. 37). Der grundlegende Konflikt oder Streit ist wie gesagt nicht bloß ein Streit um etwas, um einen Gegenstand, einen reklamierten Anspruch, sondern ein Kampf darum, überhaupt als Subjekt von Ansprüchen in Betracht zu kommen und in diesem Sinne zu zählen. Dem reklamierten Geltungsanspruch aber muss der an die Wahrnehmung Anderer adressierte Anspruch, als Subjekt der Rede da zu sein und »gesehen« zu werden, vorausliegen. In diesem Sinne fundiert der Erfahrungsanspruch den Geltungsanspruch; 34 und der politische Streit um etwas setzt stets das zuvor strittige – wesentlich asymmetrische – Verhältnis derer voraus, die miteinander streiten können. Radikal strittig an einem solchen Verhältnis ist aber, wer überhaupt als eine Person in Betracht kommt, die in es eintreten und in Was keinesfalls bedeutet, dass der auf einen Erfahrungsanspruch sich stützende Geltungsanspruch auf ersteren zu reduzieren ist oder dass sich eine kritische Prüfung der Geltung erübrigen würde. Auch ein noch so berechtigtes, ultimatives Gerechtigkeitsverlangen, das auf evidente und krasse Ungerechtigkeit aufmerksam macht, kann, wenn es unvermittelt umgesetzt werden soll, in ebenso krasse, neue Ungerechtigkeit umschlagen. Auch Rancières Apologie des Dissenses ist nicht so zu verstehen, als würde sie keine Legitimationsprobleme auf der Ebene der Geltung mehr aufwerfen (vgl. DU, S. 11).
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Folge dessen in anerkannter Weise »fähig ist, Versprechen zu geben und Verträge zu schließen« (DU, S. 36). Darum ist mit Worten allein nicht zu streiten. Denn wer ihnen zuhört, hat sich in das Bestehen eines Verhältnisses zum Anderen bereits gefügt. Wer sich (wie ein Patrizier) weigert, überhaupt Adressat von Ansprüchen zu sein, d. h. wer in Abrede stellt, verleugnet oder ignoriert, überhaupt angesprochen oder ansprechbar zu sein, weigert sich in gewisser Weise, mit dem Anderen überhaupt eine gemeinsame politische Welt zu teilen. Und wem die Möglichkeit entzogen ist, Andere anzusprechen, mag noch einigen Lärm machen, ist aber politisch bereits tot oder hat politisch nie gelebt. Nicht nur jeglicher Gehalt eines Anspruchs, auch das Leben dessen, der ihn zur Sprache bringen will, steht damit auf dem Spiel. Mitnichten sind die Spielregeln dieses Spiels in dem Moment ein für allemal unanfechtbar geklärt, wo die Bedingungen legitimer Mitgliedschaft und/oder Zugehörigkeit definiert worden sind. Gewiss legt zwar eine demokratische Rechtsordnung unverlierbare Rechte fest, die ihren Mitgliedern als Menschen und Bürgern zukommen sollen. Doch kann man zweifellos diese Rechte genießen und zugleich, als Anderer, der in seiner Mitgliedschaft und Zugehörigkeit nicht aufgeht, wie tot sein, insofern man sich in seiner moralischen, sozialen oder auch individuellen Existenz gar nicht mehr wahrgenommen glaubt. Wer formell dazugehört und dennoch erfahren muss, als Subjekt eigener Ansprüche nicht einmal wahrgenommen zu werden, sieht sich mit einem radikalen Dissens konfrontiert, der zunächst nicht die Form eines mit Argumenten auszutragenden Streits annimmt. Wer daran zweifeln muss, ob er für Andere überhaupt (noch) existiert, kann auf den Sinn eines Streits um die Geltung von Ansprüchen solange keinen Gedanken verschwenden, wie nicht einmal die Möglichkeit besteht, andere anzusprechen oder angesprochen zu werden. Insofern die Frage des »Zählens« als jemand, der dazugehört und Anspruch darauf hat, Gehör zu finden, niemals endgültig gelöst ist und demokratische Lebensformen gerade dessen sich bewusst bleiben, findet Demokratie in der Tat dort statt, wo die etablierte Gemeinschaft durcheinander gebracht wird, weil man Anderen Gehör schenkt. 35 Wenn demokratische Lebensformen ihr VerVgl. J. Rancière, »Die Gemeinschaft der Gleichen«, in: J. Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 101–132, hier: S. 105.
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sprechen der Wahrnehmung Anderer nicht einlösen, deren Stimme in Folge dessen unartikuliert bleibt, entbehrt das Versprechen der Gerechtigkeit jeder Glaubwürdigkeit. 36 2.4 Versprechen der Sprache, des Gesprächs oder der Gemeinschaft: Jean-François Lyotard Für Rancière ist klar, dass Menschen nicht schon deshalb »soziale« Wesen sind, weil sie sprechen oder einander etwas zusagen können. Sie müssen sich auch dazu bereit finden, einander Gehör zu schenken und aufeinander zu hören, so dass das Vernommene auch »zählt« als Gesagtes bzw. Versprochenes. Lyotard geht so weit, der Sprache das Versprechen einer Gemeinschaft zuzusprechen, und rückt damit noch weiter vom üblichen Sinn dieses Begriffs ab, der zunächst entweder einen Sprechakt (oder ein Sprachspiel 37 ) bzw. ein einzelnes Versprechen oder aber die Praxisform des Versprechens als solche bezeichnet. Mit Shklar u. a. wird denkbar, dass man auch umgekehrt Lebensformen als Versprechen begreifen könnte. Das tut auch J. Habermas, wenn er demokratische Lebensformen (und sogar die Moderne insgesamt, die sie möglich gemacht hat 38 ) als »Versprechen der Einbeziehung« des Anderen auffasst. Gewiss handelt es sich hier nicht um einen Akt, in dem sich jemand oder eine Menge von Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt auf die Einlösung eines demokratischen Versprechens verpflichtet hätte. Es geht eher um eine (ethische) Inspiration, die sich im konkreten Sorgetragen für die (politische) Einbeziehung Anderer manifestiert. Aktiv einbeziehen kann man aber nur, was man wahrgenommen hat oder wenigstens wahrzunehmen bereit ist. Das ist Rancières Ansatzpunkt. Für Lyotard kann es freilich nicht allein darum gehen, Andere überhaupt (und irgendwie) einzubeziehen. Vielmehr soll sich jene Gemeinschaft als Versprechen des Gesprächs zeigen, das wirklich eingelöst wird. Der Andere selbst sei es, von dem ein Anspruch darauf ausgeht. Was oder wer, fragt Lyotard, ist dieser Vgl. auch J. Rancière, »Gibt es eine politische Philosophie?«, in: A. v. Badiou, J. Rancière, R. Riha, J. Sunic, Politik der Wahrheit, Wien 1997, S. 68. 37 Lyotard würde an dieser Stelle von einer Diskursart sprechen. 38 Vgl. J. Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 204; v. Verf., Gastlichkeit und Freiheit. Polemische Konturen europäischer Kultur, Weilerswist 2005, S. 342 f. 36
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Andere? »Nichts als ein Mensch«, wie Hannah Arendt meint? Nein, antwortet Lyotard, der Andere ist jemand, der als du angesprochen wird und als solcher spricht, ohne je in der Rede über ihn aufzugehen. Das Politische ist für ihn die (unbedingte) Öffnung zum Anderen hin als einem, der jede begrenzte Gemeinschaft oder Gesellschaft von außen in Anspruch nehmen kann. Politik im weitesten Sinne findet für Lyotard dort statt, wo diese Öffnung auch bejaht wird, so dass die Stadt oder der Staat »den Anderen hereinholt« – obwohl der Andere letztlich fremd bleibt, so dass hier von einer einfachen Integration nicht die Rede sein kann. 39 Jeder kann Gesprächspartner Anderer sein, also muss er dies auch werden dürfen. Gerade das ist keine politische Selbstverständlichkeit. Ein Recht zu reden bzw. Gehör zu finden, wird stets eingeräumt. Kein Dialog realisiert sich von selbst. »Der Mensch als solcher ist nichts anders als ein Mitglied der Spezies Homo sapiens: ein Tier, das sprechen kann. Gewiß ist seine Sprache so beschaffen, daß sie tatsächlich das Versprechen eines Gesprächs enthält. Doch wenn er die Gestalt des Anderen, die dieses Versprechen in sich birgt, hervorbringen und respektieren soll, muß er sich von dem frei machen, was in ihm die Anerkennung dieser Gestalt des Anderen verhindert, das heißt, er muß sich von seiner Tiernatur lösen. Kinder treten nicht spontan in den Dialog ein.« 40 Sprechen findet nicht schon dort statt, wo gewisse biologische, dafür vorgesehene Organe betätigt werden, sondern erst, wenn man sich an den Anderen als Anderen wendet und für ihn öffnet. Der Andere als Anderer aber bleibt letztlich fremd – was ein gewisses Zwielicht auf jede menschliche Kommunikation wirft, in der man miteinander gesprochen und einander verstanden zu haben glaubt. Gelingt Kommunikation nicht nur dort, wo die Fremdheit unaufhebbar bestehen bleibt, statt sich im Mitgeteilten aufzulösen? Lassen sich dann aber noch Gelingen und Scheitern voneinander unterscheiden? Unterdrückt der »heitere Glaube an den Dialog« nicht gerade diese Fremdheit? Wie könnte letzterer andererseits versprechen, den Anderen als Fremden einzubeziehen? Lässt sich eine entsprechende Berechtigung denken, und sogar ein positives Recht? Oder ist die Erwartung abwegig, auf einer normativen Ebene, die das SprechenJ.-F. Lyotard, »Die Rechte des Anderen«, in: S. Shute, S. Hurley (Hg.), Die Idee der Menschenrechte, Frankfurt am Main 1996, S. 171–182, hier: S. 172. 40 Ebd., S. 176. 39
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dürfen zu regeln hätte, könnte man der Einbeziehung des Anderen als des Fremden »Rechnung tragen«? Handelt es sich hierbei um eine bloße Redensart, die die Un-Möglichkeit kaschiert, dem fremd bleibenden und insofern unberechenbaren Anderen gerecht zu werden? 41 Entbehrt das Versprechen, den Anderen (gleich welchen Anderen) zur Sprache kommen zu lassen, so gesehen nicht sogar jeglicher Glaubwürdigkeit? Die Erfüllung des Versprechens müsste sich (wenn überhaupt) überall dort zeigen, wo aus der Sprache zunächst Ausgeschlossene Gehör finden als Subjekte der Rede (nicht bloß als Gegenstände des Redens über sie). Diesen Subjekten schreibt Lyotard die Bitte zu: »befreit mich aus meiner Verlassenheit, erlaubt mir, zu euch zu gehören. Diese Bitte kann viele Formen annehmen: Freundschaft, Haß, Liebe und sogar Gleichgültigkeit. Doch birgt sie die Grundlage des Rechts zu sprechen in sich. Denn dieses Recht garantiert mir, daß meine Bitte erhört wird und daß man mich nicht zurückstößt in die Erniedrigung der infantia.« 42 So gesehen trägt das Recht (wie unvollkommen auch immer) einem vorgängigen, nicht-juridischen Anspruch »Rechnung« oder versucht, ihm gerecht zu werden, so als ob es eine Gerechtigkeit vor dem Recht gäbe, dem es gerecht zu werden »verspricht«. Niemand habe diesen Anspruch besser beschrieben als Levinas, schreibt Lyotard, der bereits in seinem Buch Der Widerstreit (1983) die Idee eines (gastlichen) »Empfangs des Fremden« ausführlich kommentiert und gegen eine dialogistische Verharmlosung zum symmetrischen Gespräch zwischen zwei Gleichen in Schutz genommen hatte. 43 Zeigt sich nicht im Aufgeschlossensein für den Anspruch des Anderen das »Wesen des Sozialen«, das jeder Vertrag, jedes gegenseitige Versprechen bereits voraussetzt? Oder zeigt es sich erst im Austausch von Äußerungen, wie Lyotard an anderer Stelle selbst nahelegt? 44 Bleibt es demgegenüber nicht einer radikalen Strittigkeit überantwortet, wenn in politischer Auseinandersetzung »stets zu entscheiden« bleibt, was oder wer »wir sein wollen«? 45 Vgl. J. Derrida, »Die ›Welt‹ der künftigen Aufklärung. Ausnahme, Berechnung und Souveränität«, Internationales Jahrbuch für Hermeneutik Bd. 2 (2003), S. 1–46. 42 J.-F. Lyotard, »Die Rechte des Anderen«, S. 182. 43 J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 2 1989, S. 188. 44 Ebd., S. 231. Hier ist nicht einmal von Äußerungen, sondern lediglich von Sätzen die Rede. 45 Ebd., S. 233, 293. 41
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Weder auf Versprechen, die wir geben, noch auf ein Versprechen, das die Sprache oder die Gestalt des Anderen »in sich birgt«, ließe sich eine zureichende Antwort gründen. Die Sprache lässt allzu viele Redeweisen zu, von denen scheinbar keine bevorrechtigt sein kann. Sie widerstreiten einander und ergeben kein kohärentes Bild dessen, wozu sie in Anrede und Erwiderung zu gebrauchen sind. Und angesichts jener radikalen Strittigkeit scheint es ganz aussichtslos, dass uns eine Ontologie die Antwort abnehmen könnte. Genau dieser Eindruck wird aber erweckt in einer ganz anderen, im Folgenden zur Sprache kommenden Inspirationsquelle der Philosophie des Versprechens, die bislang weder im Denken des gegebenen Wortes als Akt und Institution noch in seiner Platzierung im Kontext menschlicher Lebensformen Berücksichtigung gefunden hat. Sie führt schließlich zu dem Gedanken, dass wir ein Versprechen sind.
3.
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3.1 Zwischen Treue und Verrat: Gabriel Marcel Die Philosophie des gegebenen Wortes schöpft noch aus ganz anderen Quellen als denen, die in der noch recht jungen, J. Trabant zufolge eigentlich erst sei Cassirer und Wittgenstein eigenständigen Sprachphilosophie immer wieder genannt werden. Nicht selten entsteht dabei der Eindruck, als könne das Versprechen nur in einer analytischen Rekonstruktion normalen Sprachgebrauchs angemessen begriffen werden. Besonders in der Sprechakttheorie zeigt sich eine weitgehende Vernachlässigung der Frage danach, wer ein Versprechen gibt. Die traditionell vorrangig aufgeworfene Frage, ob gegebenen Versprechen Verbindlichkeit zukommt, mündet bereits bei Reinach in eine Vergleichgültigung der Frage nach dem Wer, also gerade dessen, der sein Wort gibt. Selbst Engel und Teufel, wenn sie nur etwas versprechen, müssten allein kraft des Gesagten Verbindlichkeit »erzeugen«, schreibt wie gesagt Reinach, der aber zugesteht, nur jemand könne etwas versprechen. Jemand aber ist ein Selbst, nach dem wir mit der Frage Wer? fragen. In diesem Sinne kommt auch das Selbst (als Antwort auf diese Frage) erst spät zur Sprache – vor allem bei Kierkegaard 46 , dann, angeregt von ihm, bei Heidegger, der in sei46
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Im Hinblick auf das Versprechen wäre wiederum auch Nietzsche zu nennen, der
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ner Rezension von Karl Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen im Jahre 1919 schreibt, in der Philosophie handle es sich vorrangig um die Frage nach dem Selbst, das in Sein und Zeit dann als Wer des Daseins bestimmt wird. Hier findet sich auch der folgenreiche, besonders von Ricœur wieder aufgegriffene Gedanke der Selbst-Bezeugung. Wer jemand ist, ist keine Angelegenheit des Aussagens und Feststellens, sondern des Sichzeigens im praktischen Modus des Bezeugens. Die Spur dieses Gedankens führt zweifellos zu Kierkegaard zurück. Kierkegaard ging es um die Begründung einer religiösen, weltfremden Lebensform des Selbst, das allein Gott zum Zeugen habe, niemals »die Welt« bzw. ein »unmenschlich gewordenes« Publikum, das nichts als »Meinungen« ohne Wahrheit hat. Doch so sehr er zunächst bestritten hatte, dass die Anderen in der ihn umgebenden Welt als Zeugen seines Selbstseins in Betracht kommen könnten, so sehr zeigte er sich doch erpicht darauf, ständig an seiner Verschiedenheit von dieser Welt kenntlich zu sein. So schroff Kierkegaards Kritik der Äußerlichkeit sozialen Lebens auch ausfällt, so sehr bewegten ihn doch Zweifel, ob nicht auch die Bezeugung der Wahrheit des Selbst die Grenzen der sog. Innerlichkeit zu überschreiten hat. Braucht man »die Welt als Zeugen« der Selbst-Bezeugung nicht? Während Heidegger den von Kierkegaard zuvor gebahnten Weg zu einer Philosophie des Selbst kaum erkennen lässt, bleibt die Spur Kierkegaards in Frankreich deutlich zu erkennen, nicht zuletzt dank der Forschungen von Jean Wahl. Die Rezeption Kierkegaards jenseits des Rheins, besonders durch Sartre, ist aber vom Verzicht auf einen »absoluten Zeugen« gekennzeichnet. 47 Um so wichtiger musste die Frage werden, wie sich das Selbst als bezeugtes zeigt und wie die Selbstbezeugung auf Andere angewiesen ist. Als Antwort auf diese Frage kommt bei Gabriel Marcel das Versprechen zur Sprache. Kann bekannte, das Wesentlichste sei ihm die Frage Wer bin ich? (SW 11, S. 175). Auf der Suche nach Antworten zerrinnt dann jeder Anschein eines festen Charakters (SW 9, S. 56, 544) in der Polyphonie eines »höheren Selbst« (SW 8, S. 267; SW 10, S. 165), das kaum noch für sich bürgen kann. 47 Vgl. zum gesamten Kontext v. Verf., »Descartes, Merleau-Ponty und das Selbst. Überlegungen zur Nachträglichkeit neuzeitlicher Philosophie«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie (2006), Nr. 1, S. 109–122; »Das bezeugte Selbst. Kierkegaard nach Hegel – und danach«, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 53 (2006), Nr. 3, S. 681–716; »Das Selbst mangels eines absoluten Zeugen«, in: U. Bardt (Hg.), Philosophie der Freiheit. Jean-Paul Sartre 1905–2005, Darmstadt 2008 (i. V.); J. Derrida, G. Vattimo, Die Religion, Frankfurt am Main 2001, S. 47 (= DR). A
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sich, so wäre mit Marcel zu fragen, vermittels des gegebenen und des gehaltenen (oder auch gebrochenen) Wortes zeigen, wer man ist? Marcels Philosophie 48 gravitiert gleichsam um die ontologische Vermutung, das Wesen des Menschen könne darin liegen, »ein Lebewesen zu sein, das bezeugen kann«. Er kann etwas (einen Sachverhalt) bezeugen, aber auch sich selbst im Sinne der Treue zu sich, die durch jederzeit möglichen Verrat herausgefordert wird – »Verrat aller durch alle und jedes einzelnen durch sich selbst«. »Das Wesen unserer Welt ist vielleicht Verrat. Machen wir uns aber andererseits nicht zum Komplizen dieses Verrats, wenn wir ihn proklamieren?« »Es ist vielleicht mein Wesen, das nicht sein zu können, was ich bin; oder einfacher: mich verraten zu können« (SH, S. 104, 115). Es geht hier nicht darum, irgend etwas unfreiwillig von sich preiszugeben oder einer idealen Vorstellung von sich zuwider zu handeln, sondern um die Herausforderung, sich als ein Wesen nicht zu verraten, das zur Treue angesichts eines ihm nicht »verfügbaren«, geschenkten Lebens aufgefordert ist (SH, S. 209 ff.). 49 In Wahrheit sei Treue niemals bloß Treue zu sich, sondern »ergriffen« und inspiriert von dieser Aufforderung; und zwar auch dann, wenn sie wie beim Versprechen scheinbar bloß einem freien Engagement entspringe. »Wie kann ich versprechen, wie kann ich meine Zukunft engagieren?« Wie ist das möglich, wenn ich »morgen schon von einer Zerstreuung angezogen werde, an die ich noch gar nicht dachte, als ich mein Engagement einging«? Wie kann man angesichts einer unverfügbaren, unvorhersehbaren Zukunft, die auch den eigenen Willen affiziert, für sich bürgen? »Dieses Problem des Engagements geht logisch dem der Treue voraus; ich kann ja nur meinem eigenen Engagement treu bleiben, d. h. also scheinbar nur mir selbst.« Tatsächlich aber ist »jedes Engagement eine Antwort«. Man bürgt für sich im Lichte dessen, was dazu herausfordert, sich an ein verbindlich gegebenes Wort gebunden zu fühlen. So gesehen läge wiederum die Herausforderung zur Treue dem Engagement voraus. Aber kann diese Treue (zum gegebenen Wort) ohne weiteres mit jener Treue (einer bestimmten, christlichen Philosophie des Lebens) kurzgeschlossen werden? »Ich habe nicht das Recht, ein Engagement abzuschließen, das Im Folgenden beziehe ich mich primär auf G. Marcel, Sein und Haben [1935], Paderborn 1953. 49 Diese These kann hier nicht diskutiert werden (SH, S. 209 ff.). 48
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ich in materieller Hinsicht nicht halten kann (oder genauer, von dem ich wissen müßte, wenn ich völlig ehrlich wäre, daß ich es nicht halten kann). Leichtsinn. Aber gibt es wohl ein einziges Engagement, das nicht auf leichtsinnige Weise eingegangen wurde?« Kann es andererseits überhaupt ein Engagement geben, das seinen Namen verdient und das doch »völlig unverbindlich« und nicht »ergriffen« wäre? (SH, S. 48.) Auf diese, in Form eines metaphysischen Tagebuchs aufgeworfenen Fragen gibt Marcel keine kohärente Antwort. Ihr Gewinn liegt denn auch vor allem darin, den Horizont der Philosophie des gegebenen Wortes mit Nachdruck zu erweitern über das als Versprechen Gesagte hinaus, um in Richtung auf das Selbst vorzudringen, das sein Wort gibt. Schließlich ist es jemand (nach dessen Selbst wir mit der Frage Wer? fragen), der es wagt, ja »sich die Ermächtigung erteilt, sich zu binden«, der »unbegrenzten Welt der Ursachen und Wirkungen, die sich der Beurteilungen […] und jeder rationalen Voraussage entzieht«, und den eigenen launischen Wünschen und Erwartungen zum Trotz. »Dennoch spreche ich mir das Recht und die Fähigkeit zu, davon in meinen Akten zu abstrahieren. Diese Abstraktionsfähigkeit ist für mein Versprechen wesentlich. Gerade sie gibt ihm seine eigene Dichte und seinen Wert« (SH, S. 52). Kann man diese Fähigkeit als »souverän« begreifen, wie es Marcel zunächst vorzuschlagen scheint? Handelt es sich um eine Souveränität, die die Augen verschließt vor einer unabsehbaren Zukunft? Ist sie zum Verrat an sich selbst und am Selbst prädestiniert? »Kann es ein Engagement ohne Verrat geben?« (SH, S. 55.) Wenn nicht, so hieße das, dass derjenige, der sein Wort gegeben hat, rückhaltlos selbst der Zukunft überantwortet wäre, die ihn zwingen kann, sich oder das gegebene Wort zu verraten. Empfiehlt sich dagegen die »überzeitliche Identität des Subjekts, welches das Engagement eingeht und ausführt«? Wenn es darum geht, diese Identität unter allen Umständen zu erhalten und dem drohenden Verrat zu entziehen, muss man dann nicht in der Tat so weit gehen, sie von allen Folgen des gegebenen (und vielleicht verratenen) Wortes entbunden zu denken? Zieht man nun aber diese Konsequenz, bleibt dann nicht das »besondere Objekt, an das die Treue den bindet, der sich ihr unterwirft, und sei es selbst Gott, bloßer Zufall; eine Art Vorwand für den Willen, um in einem Zirkel mit sich selbst seine besondere Fähigkeit zu demonstrieren« (SH, S. 57)? Im ersten Fall müsste man das – stets und unvermeidlich leichtfertig – versprechende Selbst einem endlos drohenden Verrat überantwortet begreifen, A
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angesichts dessen es kaum noch Vertrauen verdienen und nicht für sich bürgen dürfte. Im zweiten Fall würde sich ein von allen Verwickelungen des gegebenen Wortes losgelöstes Subjekt unbefleckt im Hintergrund halten – aber um den Preis, dass es allenfalls noch halsstarrig sich selbst treu bleiben könnte. 50 3.2 Versprechen, Identität und Ordnung: Hannah Arendt Weitgehend unbeeindruckt von fast allen Strömungen, die man mit dem Etikett des (französischen) Existenzialismus 51 in Verbindung gebracht hat, knüpft Hannah Arendt sachlich genau hier an, wo sie die Frage nach der Identität der Versprechenden aufwirft. Wird sich derjenige, der mir heute sein Wort gibt, morgen noch daran erinnern? Wird er morgen noch »derselbe« sein, der mir am Tag zuvor sein Wort gab? Hannah Arendt betont, man habe allen Grund, sich diese Fragen sinngemäß selbst zu stellen – angesichts einer offenkundigen »Unzuverlässigkeit des menschlichen Wesens, das niemals dafür einstehen kann, wer es morgen sein wird«. 52 Niemand verfügt über privilegierte Antworten auf die Frage, wer er ist, so dass sich Andere oder der Betreffende selbst darauf künftig verlassen könnten. Niemand kann sich diese Antwort ohne weiteres selbst geben – auch nicht im Modus der Erzählung des eigenen Lebenszusammenhangs, der allemal nur nachträglich zu rekapitulieren ist. Wer also wissen will, wer er ist (oder sein wird), muss sich an wesentlich durch gegebene Worte gestiftete und aufrecht erhaltene soziale BeSo skizziert Marcel schlechte Alternativen, denen er einen dritten Denkweg entgegensetzt. Auf die besagte Aporie hat im Übrigen Vladimir Jankélévitch deutlich hingewiesen, wo er einerseits vom »Dilemma einer zeitlosen Treue« spricht, »die, in dem sie mehr und mehr von unserer inneren Wahrheit abweicht, lügenhafter als die Heuchelei wird«, und andererseits das Dilemma einer Aufrichtigkeit beschreibt, »die ihrer Gegenwart immer zeitgenössisch ist, deren Preis jedoch die Verleugnung ist, der Meineid und die fortwährende Apostasie; so bietet sich uns in jeder Minute die Möglichkeit der ›wahrheitsgetreuen Lüge‹, welche die Botschaft eines Augenblicks als ein ewiges Gefühl, als eine Wahrheit an sich ausgibt«. Das Verzeihen, Frankfurt am Main 2004, S. 79. 51 Für Marcel, der oft als Hauptvertreter einer christlichen Variante eingestuft wird, war dieses Etikett nur »in einer gewissen Presse« zuhause. Zur historischen Situierung Marcels in diesem Kontext vgl. P. Ricœur, »Que signifie ›Humanisme‹ ?«, in: Comprendre. Revue de politique de la culture, no. 15 (1956), S. 84–92. 52 Vgl. dazu die Einleitung im Kontext der Anm. 17, sowie Kap. B – I, 1., Anm. 9. 50
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ziehungen halten und gewissermaßen die Probe aufs gegebene Wort machen. »Daß Menschen nicht fähig sind, sich auf sich selbst zu verlassen oder, was auf dasselbe herauskommt, sich selbst vollkommen zu vertrauen, ist der Preis, den sie dafür bezahlen, daß sie frei sind […]« (VA, S. 239). Zum Teil ist diese Unzuverlässigkeit und Unabsehbarkeit »dem Medium der Pluralität geschuldet, in dem das Handeln sich bewegt, insofern ja die Folgen einer Tat sich nicht aus der Tat selbst ergeben, sondern aus dem Bezugsgewebe, in welches sie fällt«. Insofern ist es mit der »Berechenbarkeit« der Menschen nicht weit her. Teil jenes Gewebes sind wir je selbst – mehr oder weniger »hilflos der Dunkelheit des Herzens, seinen Zweideutigkeiten und Widersprüchen ausgeliefert, verirrt in einem Labyrinth einsamer Stimmungen, aus dem wir nur erlöst werden können durch den Ruf der Mitwelt, die [uns] dadurch, daß sie uns auf die Versprechen festlegt, die wir gegeben haben und nun halten sollen, in unserer Identität bestätigt, bzw. diese Identität überhaupt erst konstituiert« (VA, S. 232). Im Gegensatz zu Marcel akzentuiert Arendt nicht die aporetischen Probleme, die sich für das Selbst daraus ergeben, für sich selbst bürgen zu sollen, sondern betont das Festgelegtwerden auf eine bestimmte Identität durch Andere, die sich weniger um die Wankelmütigkeit des Selbst, um die unberechenbare Veränderlichkeit des Willens und drohenden Selbst-Verrat scheren als vielmehr darum besorgt sind, wie in der nicht geleugneten »Unzuverlässigkeit der Menschen […] abgegrenzte Inseln des Voraussehbaren« möglich sind. Tatsächlich verspricht sich Arendt vom Versprechen, dass die Menschen »für sich selbst ›berechenbar‹« werden, so dass auch die Zukunft »verfügbar« wird. Sie geht sogar so weit, sich dies von nichts anderem zu versprechen als von der Fähigkeit, sein Wort zu geben und es zu halten, die allerdings flankiert sein müsse von der Bereitschaft (den Bruch des gegebenen Wortes) zu verzeihen bzw. zu vergeben (VA, S. 241). Ohne diese Bereitschaft würde womöglich die wiederholte Erfahrung, dass die Zukunft unverfügbar bleibt und dass Andere nicht schon deshalb berechenbar werden, weil sie ihr Wort gegeben haben, die bei Arendt allein auf Versprechen und Verzeihen bezogenen moralischen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens rasch ruinieren. Was Arendt als »Heilmittel gegen die Unabsehbarkeit« einstuft, ist kein Allheilmittel und könnte auch wie ein pharmakon infolge A
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einer Überdosierung ganz andere Effekte zeitigen als die erwünschten, nämlich soziale und politische Desintegration aufgrund einer übermäßigen Inanspruchnahme des Versprechens als Mittel, durch das uns Andere festlegen (oder im Fall des Verzeihens vom gebrochenen Wort entlasten) dürfen. Eine solche Festlegung deutet Arendt nur als Befreiung von einer ihr offenbar als unerträglich erscheinenden Nicht-Festgelegtheit der Zukunft und des Selbst, das morgen schon ein (ganz?) anderes bzw. ein Anderer sein könnte, wie von Montaigne über Nietzsche bis hin zu Foucault gelehrt wurde. Während letzterem aber eben diese Aussicht eine unverzichtbare Freiheit bedeutete, verspricht sich Arendt allein vom Festgelegtwerden auf Zugesagtes eine »in das Chaos der Menschenwelt« zu tragende Ordnung (VA, S. 239), die allerdings nicht ein für allemal zu instituieren und auf Dauer zu verbürgen sei. So muss das In-Ordnung-bringen ständig erneuert werden, wie es nach Arendts Überzeugung tatsächlich überall dort geschieht, wo eine Gemeinschaft gebildet oder ein Bündnis formiert wird, das »Macht aus dem Versprechen entspring[en]« lässt, ohne einen der Beteiligten sozialer oder politischer Herrschaft zu unterwerfen. 53 Weder vernünftiges Sprechenkönnen, zu dem Menschen als politische Lebewesen befähigt sind, noch Macht und Herrschaft garantieren, worauf es für das menschliche Zusammenleben eigentlich ankommt: eine verlässliche und dauerhafte Welt hervorzubringen, die man trotz aller Differenzen gemeinsam bewohnen kann. 54 In ihrem Revolutionsbuch hat Arendt diese geradezu »weltbildende« Kompetenz derer, die in der Lage sind, Versprechen zu geben, zu halten und im Fall gebrochener Versprechen Nachsicht walten zu lassen, deutlich hervorgehoben: »So wie jedes Versprechen und jede Vereinbarung auf die Zukunft zielt, die unabsehbar und unvoraussagbar alles verschlingen würde, wenn der Mensch in sie nicht Absehbares und Voraussagbares werfen könnte, so betrifft ja auch das Gründen und Stiften wie alle anderen weltbildenden Fähigkeiten des Menschen niemals so sehr ihn selbst und seine Gegenwart als seine ›Nachfolger‹ und ›Nachkommen‹. Und so wie es zur Grammatik des Handelns gehört, daß sie die einzige Fähigkeit ist, die menschliche Pluralität voraussetzt, so gehört es zur Syntax der Macht, daß sie H. Arendt, Über die Revolution, München, Zürich 4 1994, S. 220 f. Zu diesem Begriff einer bewohnbaren Welt vgl. v. Verf., Gastlichkeit und Freiheit, Teil C.
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das einzige menschliche Attribut ist, das nicht dem Menschen selbst anhaftet, sondern dem weltlichen Zwischenraum eignet, durch den Menschen miteinander verbunden sind und den sie ausdrücklich im Gründungsakt stiften, indem sie von ihrer Versprechenskapazität Gebrauch machen, die im politischen Bereich vielleicht die höchste und bedeutendste aller menschlichen Fähigkeiten ist.« 55 3.3 Das Versprechen als Modus der Selbst-Bezeugung: Paul Ricœur Im Werk Paul Ricœurs trifft die maßgeblich von Gabriel Marcel angeregte existenzielle Besinnung auf Strukturen der Selbst-Bezeugung, in denen sich zeigen soll, wer wir sind, mit einer Platzierung der Wer-Frage in Kontexten menschlicher Lebensformen zusammen, die besonders Hannah Arendt betont hat. 56 Dabei gehen die der sprachanalytischen Philosophie zu verdankenden Präzisierungen des Versprechens als Akt und Institution freilich nicht verloren 57 , so dass wir im Falle Ricœurs mit einer triadischen Problematik konfrontiert sind: Gefragt wird danach, wer (etwas) verspricht im Kontext des Lebens mit und unter Anderen, d. h. nach dem Selbst, das sich im Versprechen bezeugt und dabei rückhaltlos Anderen zuwendet und aussetzt. Genauer: es setzt nicht aus freien Stücken sich aus, um sich ihnen »verfügbar« zu machen (um Marcels Begriff, den Levinas energisch radikalisiert hat, noch einmal aufzugreifen) und sich ihnen aus einem vorgängigen Abgewandtsein heraus zuzuwenden, sondern realisiert sich als in unverfügbarer Art und Weise bereits aufgeschlossen für den Anspruch des Anderen, der das Selbst in Anspruch nehmen kann. Das Versprechen ist die Antwort, die bezeugt, hier bin ich – und zwar da für dich als jemand, der dir etwas (oder sogar sich selbst) zusagen kann. Das Verlangen, das sich in der Aufforderung bekundet, »gib mir dein Wort«, »versprich mir« …, baut darauf, dass der H. Arendt, Über die Revolution, S. 227. Wie jene existenzielle Besinnung mit Ricœurs Rezeption einer Ontologie zusammen geht, die wie im Falle Heideggers den Anspruch erhebt, Kategorien bzw. Existenzialien der Selbstbezeugung herauszuarbeiten, kann hier nicht en detail gezeigt werden. Vgl. besonders die Entretiens von Ricœur und Marcel, Paris 1968, S. 21 ff., 73 ff., 88 ff., P. Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, S. 324 (=SaA). Zu H. Arendt vgl. das Vorwort Ricœurs in H. Arendt, Condition de l’homme moderne, Paris 1983, S. 5–31. 57 Vgl. die Hinweise in Kapitel B – I, sowie SaA, S. 57 ff., 103 ff. 55 56
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Andere das Verlangte zusagen wird. Das Verlangen würde sich aber gar nicht erst an den Anderen richten, wenn er nicht »verspräche«, tatsächlich sein Wort zu geben (und zu halten). Hier kommt ein weiter Sinn des Versprechens ins Spiel, der in der Formulierung zum Ausdruck kommt, dass man sich vom Anderen etwas verspricht. Das hat nicht bloß den Sinn, dass der Andere etwas »in Aussicht stellt« und eine günstige Gelegenheit offeriert, sondern kommt einem Glauben an den Anderen nahe. Man bräuchte ihn erst gar nicht anzusprechen und man könnte auf die Erwiderung eines gegebenen Wortes nicht einmal im Geringsten hoffen, wenn man nicht daran glauben könnte, dass das Verlangen nach einer Antwort wirklich Gehör findet und entsprechend beantwortet wird. Diese »Zumutung« eines Glaubens an ihn zieht sich der Andere unfreiwillig immer schon zu, wenn er sich mit dem Verlangen konfrontiert sieht, sein Wort zu geben. Zwar kann dieses Verlangen zurückgewiesen werden, aber nur um den Preis gleichzeitiger Bestätigung dessen, dass man sich von ihm bereits in Anspruch genommen weiß. Sowohl der Glaube an den Anderen als einen, der sein Wort geben wird, als auch die Glaubwürdigkeit dessen, der tatsächlich sein Wort gibt, entziehen sich dem Wissen und der Möglichkeit einer Verifikation. Das Selbst, das im Modus des Versprechens sich bezeugt 58 , ist kein erkennbarer Gegenstand. Dennoch entbehrt es nicht jeden Wahrheitsbezugs oder -anspruchs. Der allein in Frage kommende Wahrheitsmodus ist hier aber die Bezeugung, die niemals im strengen Sinne beweisen kann, wer der Andere ist oder nicht ist. Es handelt sich um eine Art und Weise des praktischen Sichzeigens als derjenige, der man ist. Dieses Sichzeigen stellt nicht einfach erkennbares Sosein fest; es ist vielmehr an den Anderen adressiert und rückhaltlos auf ihn angewiesen. Insofern ist der Begriff der Selbst-Bezeugung irreführend. Er bedeutet nicht, dass es in der souveränen Macht des Selbst stünde, sich selbst seine Glaubwürdigkeit oder Wahrhaftigkeit etwa zu bezeugen. Die fragliche Bezeugung geschieht durch das Selbst und gilt ihm selbst als dem zu Bezeugenden. Gleichwohl muss sie den »Umweg« über den Anderen nehmen, was eine gefährliche Abhängigkeit
Die Idee der Selbst-Bezeugung bezieht sich hier sowohl auf die Ansprechbarkeit (gemäß dem Verlangen des Anderen) als auch auf die Wahrhaftigkeit, mit der man sein Wort gibt, als auch auf die Glaubwürdigkeit seiner Einlösung.
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heraufbeschwört: Wie wäre es vorzustellen, dass die Selbst-Bezeugung misslingt oder scheitert, insofern sich Glaubwürdigkeit und Wahrhaftigkeit unter den Augen des und der Anderen nicht bewähren oder nicht »abgenommen« werden? Muss man das Selbst, das sich im Wahrheitsmodus der Bezeugung radikal auf Andere angewiesen erfährt, letztlich schutzlos seinem möglichen Scheitern ausgeliefert denken, wenn Andere sich von der Selbst-Bezeugung nicht überzeugen lassen? Auf jeden Fall hat die Überzeugung, zu der Andere gelangen, nicht den Status eines Wissens über das Selbst, sondern den eines Glaubens an jemanden (SaA, S. 33). Der »Gegenstand« dieses Glaubens ist nichts, was sich in der Weise der Aussage oder auch der Erzählung feststellen ließe. 59 Gerade der Erzählung glaubte man zwar zutrauen zu können, das Selbst im Sinne narrativer Identität zur Sprache zu bringen, doch hat die Arbeit der literarischen Fiktion bzw. der narrativen Einbildungskraft die vielfältige Darstellbarkeit und einen irreduziblen Polymorphismus des Selbst deutlich gemacht, so dass sich die Frage stellt, wie sich »auf der ethischen Ebene ein Selbst aufrechterhalten [lässt], das sich auf der narrativen Ebene aufzulösen droht«. Zwischen der narrativ ausgemalten Vielzahl von Lebensmöglichkeiten (und ihren nachträglichen Darstellungen im Modus der Erzählung) einerseits und der »Fähigkeit, eine feste Bindung einzugehen«, andererseits zeichnet sich eine »tiefe Diskordanz« ab (SaA, S. 205). Genau an dieser Stelle kommt wieder das Versprechen ins Spiel. Bekennt nicht derjenige, der einem Anderen sein Wort gibt, auf verlässliche und verbindliche Weise, in Zukunft eben der zu sein und zu bleiben, der in der Gegenwart sein Versprechen abgibt? Aber wie kann ein solches Bekenntnis Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen, wenn das Selbst in keiner Weise ausschließen kann, in Zukunft ein anderes bzw. ein Anderer zu werden? Ist es nicht sogar in seinem gegenwärtigen Sosein zutiefst von einer unaufhebbaren Alterität affiziert, die es geradezu als Vermessenheit erscheinen lässt, für ein verlässliches Selbstsein einstehen zu wollen, das sich jederzeit auch fremd bleibt, so dass es niemals in einem erschöpfenden Sinne wird sagen können, wer es ist? Zeigt sich hier nicht ein »Riß im Zentrum
Zu Grenzen der Aussagbarkeit im Hinblick auf das zu bezeugende Selbst vgl. SaA, S. 364.
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des Engagements selbst«, auf das sich ein Selbst einlässt, das verlässlich sein Wort zu geben beansprucht? 60 Allemal handelt es sich um ein in sich gebrochenes und polymorphes Selbst, das etwas verspricht und dabei zugleich verspricht, sich als glaubwürdig zu erweisen. Nur unter dieser hochambivalenten Voraussetzung platziert Ricœur denn auch den Akt des Versprechens im Kontext menschlicher Lebensformen, in denen es darum gehen soll, einer ethischen Ausrichtung auf ein gutes Leben mit dem Anderen und für ihn in gerechten Institutionen zu gewährleisten. Die erwiesene Glaubwürdigkeit bezeugt die Selbst-Ständigkeit dessen, der sein Wort gibt und hält. Sie ist ihrerseits aber keine Form der Autarkie, sondern eine Antwort auf die entsprechende Erwartung des Anderen (SaA, S. 324). »In erster Linie weil ich diese Erwartung nicht enttäuschen und nicht verraten möchte, mache ich die Aufrechterhaltung meiner ursprünglichen Absicht zum Thema einer verdoppelten Absicht: die Absicht, die Absicht nicht zu ändern. In den rechtlich sanktionierten Formen des Versprechens – Schwur, Vertrag usw. – wird die Erwartung eines Anderen, der auf mich zählt, von ihm aus gesehen zu einem einklagbaren Recht. Hier haben wir das Feld der Rechtsnormen betreten, wo die Herkunft der Norm aus der Fürsorge gleichsam verwischt oder gelöscht ist. Von diesen durch die Tribunale sanktionierten Versprechensformen gilt es auf jene zurückzugehen, bei denen die Verbindung zwischen normativem Moment und ethischer Ausrichtung noch sichtbar ist: ›Von dir‹, sagt mir der Andere, ›erwarte ich, daß du dein Wort hälst‹ ; und dir antworte ich: ›Du kannst auf mich zählen‹. Dieses Zählen-auf verbindet den moralischen Gehalt der Selbst-Ständigkeit mit dem in der Fürsorge gründenden Prinzip der Gegenseitigkeit. Das Treueprinzip gegenüber dem gegebenen Wort wendet so lediglich die Regel der Gegenseitigkeit auf die Klasse von Handlungen an, in denen die Sprache selbst als eine sämtliche Gemeinschaftsformen regelnde Institution im Spiel ist.« 61 Vgl. ebd., S. 205. So wenig wie jenen Riss wird man den Verdacht gegen das Selbst je ganz los (SaA, S. 365). Wir streifen hier im Übrigen nur Fragen der Alterität des eigenen Leibes (corps propre), des Unbewussten und der Ontologie eines subjektiven Könnens bzw. Handlungsvermögens (SaA, S. 137), das nicht unerheblich von dem von Ricœur beanspruchten Nachweis in Frage gestellt wird, dass man sich selbst wie ein Anderer, ja sogar als Fremder erfährt (soi-même comme un autre). 61 SaA, S. 325, 93; P. Ricœur, Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, Frankfurt am Main 2006, S. 136, 213 ff., 319. Der Autor geht hier also 60
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Hier ist deutlich die schrittweise angereicherte hermeneutische Topographie zu erkennen, in der Ricœur das Versprechen situiert: im Rückgang vom Versprechen als Akt und Institution auf das Selbst, das er als Ursprung des gegebenen Wortes einstuft, über den Anderen, dem es im Modus der Zusage Antwort gibt und dem gegenüber es sich als glaubwürdiges Selbst bezeugt, bis hin zu den ethisch und moralisch ausgerichteten Lebensformen, die uns schließlich mit der Frage konfrontieren, wie sie sich zur Sprache selbst verhalten, ohne deren wahrhaftigen Gebrauch überhaupt keine Zusage möglich wäre. Ricœur geht nicht so weit wie Arendt, die annahm, nur auf Versprechen ruhe die Verbindlichkeit solcher Lebensformen. Aber auch er erkennt die zentrale Rolle, die dem gegebenen und gehaltenen Wort im Hinblick auf die Frage zukommt, als wer wir uns und Andere im Kontext menschlicher Lebensformen verstehen. Offen bleibt, ob das Selbst als Antwort auf diese Frage seinerseits »nach dem Modell des Versprechens« zu begreifen ist. 62 3.4 Eine Ontologie des Versprechens: Robert Spaemann Dem Anschein nach hat sich Spaemann genau auf diese Frage eine gültige Antwort zugetraut. In seinem Buch Personen. Über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹ (1996) ist nämlich von einem »ontologischen Versprechen« die Rede, das letztlich den Grund dafür abgebe, »sich auf die Versprechen, die wir geben, zu verlassen«. 63 Als endliche und natürliche Wesen müssen wir lt. Spaemann »prinzipiell hinter dem Versprechen, das wir als Personen sind, von einer zunächst asymmetrischen Situation aus, in der der Andere mir das Halten des gegebenen Wortes zumutet. Gemäß einer »Ökonomie der Gabe« nimmt diese Zumutung sodann reziproke Formen an, die vorläufig seminormativen Charakter haben und erst zuletzt deontisch artikuliert werden, wenn man gegenseitig von einander moralische Verlässlichkeit bzw. das Aufeinander-zählen-können verlangt. Zur Ökonomie der Gabe als Ursprung der Verpflichtung vgl. P. Ricœur, Amour et justice. Liebe und Gerechtigkeit, Tübingen 1990, S. 18, 48 f. 62 J. Habermas bestreitet das – allerdings unter der Voraussetzung, dass im gegebenen Wort »ein autonomer Sprecher seinen Willen bindet«. Auf diese Weise aber könne »sich niemand verpflichten, mit sich identisch zu bleiben oder er selbst zu sein«. Vielmehr bilde sich das Selbst »als Antwort auf die Zumutungen eines Gegenübers allererst heraus«; Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt am Main 2 1988, S. 209. 63 Vgl. R. Spaemann, Personen. Über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹, Stuttgart 1996, S. 251. A
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zurückbleiben. Das heißt, wir können nicht jedem in gleicher Weise ›gerecht‹ werden«. So gesehen wären Personen in ihrer bloßen Existenz schon ein leibhaftiges Versprechen der Gerechtigkeit. Aber das bedeutet in keiner Weise, dass sie tatsächlich dem in ihrer Existenz liegenden Aufgefordertsein zur Gerechtigkeit ohne weiteres gerecht werden. Dennoch sollen sie dies versuchen, ohne zu verzweifeln infolge ihrer absoluten Überforderung durch eine idealiter jedem gleichermaßen gerecht werdende, un-mögliche Gerechtigkeit. Die zitierte Stelle bleibt zweifellos dunkel. Gewiss soll sie nicht nur besagen, dass der Philosoph sich von Personen die Einlösung eines im menschlichen Leben verwurzelten und nicht zu tilgenden Anspruchs auf Gerechtigkeit verspricht. Vielmehr spricht sie dafür, menschliche, personale Existenz so zu verstehen, dass sie von sich aus unvermeidlich mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit konfrontiert ist, dem sie gerecht zu werden versprechen muss. Abgesehen von der Frage, wie sich diese »ontologische« Deutung des Versprechens rechtfertigen ließe: müsste ein solches Versprechen nicht von vornherein als unglaubwürdig gelten, insofern es geradezu Unmögliches zuzusagen scheint? Sowohl die Möglichkeit, tatsächlich einem Anderen, als auch (und erst recht) die Möglichkeit, vielen oder allen Anderen gerecht zu werden, kann mit Fug und Recht bestritten werden. 64 Womöglich ist nur die Aussicht auf eine un-mögliche Gerechtigkeit plausibel zu machen. 65 Aber genau diesen Gedanken weist Spaemann zurück, wenn er sagt, kaum werde jemand »auf Erfüllung eines Versprechens rechnen, in dem erfahrungsgemäß Unmögliches versprochen werde. Und wir werden uns nicht auf jemanden verlassen, der erfahrungsgemäß seine Versprechen nicht zu halten pflegt.« Aber das ändere nichts daran, »daß der eigentliche Grund der Erwartung aufgrund eines Versprechens eben das Versprechen selbst« sei. »Versprechen begründen und rechtfertigen prima facie eine Erwartung, weil sie Was nicht bedeutet, das Verlangen nach Gerechtigkeit selbst einfach preiszugeben. Es stellt sich aber die Frage, wie aus dem Ansinnen, Gerechtigkeit zu üben, jede SelbstGerechtigkeit, die sie glaubt tatsächlich verwirklichen zu können, verbannt werden kann; vgl. I. Kaplow, C. Lienkamp (Hg.), Sinn für Ungerechtigkeit. Ethische Argumentationen im globalen Kontext, Baden-Baden 2005; v. Verf., »Sensibilität, Fremdheit und pädagogische Gerechtigkeit. Mit Blick auf Goldschmidt, Rousseau und Merleau-Ponty«, Kap. VI, in: Menschliche Sensibilität. Inspiration und Überforderung. 65 Vgl. ebd., Kap. V (»Leidenschaft des Un-Möglichen? Anti-politische Bemerkungen mit Blick auf Kierkegaard und Derrida«). 64
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einen Anspruch begründen.« D. h. man könne ohne weiteres auch einem Fremden ein Versprechen abnehmen, ohne irgend einen zusätzlichen Grund (etwa seiner Vertrauenswürdigkeit) dafür zu benötigen (P, S. 235). Ist hier aber nicht lediglich von Versprechen die Rede, die wir ebenso geben wie verweigern können, und gerade nicht von einem Versprechen, das wir scheinbar unvermeidlich schon sind, wie es die Rede von einem »ontologischen« Begriff zunächst besagte? Auf den ersten Blick zweifellos. Es geht hier um den »Anspruch, den jede Person gegen jede andere Person hat, weil er konstitutiv für das Verhältnis von Personen zueinander ist«, insofern sie »a priori in einer Beziehung der Gemeinschaft« stehen. »Diese Gemeinschaft ist unter anderem dadurch charakterisiert, daß jede Person jeder anderen etwas versprechen kann, ohne daß sich dabei das Problem einer unendlichen Iteration der Art stellt: ›Ich verspreche, das Versprechen zu halten, daß ich mein Versprechen halte …‹ Diese Folge von ›Metaversprechen‹ kann nicht ins Unendliche fortgesetzt werden. Am Ende steht immer ein Versprechen, das zu halten der Versprechende nicht noch einmal versprochen hat […]« (P, S. 236). »Warum bindet ein Versprechen, ohne daß es weiterer Versprechen, das Versprechen zu halten, bedürfte? Und wieso ist es andererseits trotzdem möglich, eine solche unendliche Iteration zu fordern, und, weil sie unmöglich ist, jedes Versprechen für unverbindlich zu erklären?« Die Antwort glaubt Spaemann in der sittlichen Verpflichtung zu finden, die auf die Ausflucht in eine solche Reflexion verzichtet. Das scheint ihm »der eigentliche sittliche Akt zu sein«. »In diesem Verzicht nämlich realisiert der Mensch sich als Person, das heißt als unhintergehbare Bedingung der Reflexion selbst. Er übernimmt das Versprechen, das er als Person schon ist. Indem er spricht und beansprucht, verstanden zu werden, hat er sich schon in die personale Beziehung gestellt, die in allen bestimmten Versprechen vorausgesetzt ist. Die Frage einer ›Letztbegründung‹ stellt sich nicht mehr. Der Verzicht auf diese Frage ist die Letztbegründung und dieser Verzicht ist immer schon geleistet, wenn Menschen einander als Personen anerkennen oder diese Anerkennung in Anspruch nehmen. Die Person ist ein Versprechen« – und zwar als Teil einer immer schon bestehenden Gemeinschaft von Personen, die nicht originär gestiftet wird, in die man vielmehr mit der Geburt (wenn nicht mit der Empfängnis) bloß eintritt, wie Spaemann meint. So gesehen können Personen gar nicht umhin, zu versprechen, A
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im Fall des Angesprochenwerdens tatsächlich auch ein Versprechen zu geben und im gleichen Zug einen Anspruch des Anderen zu begründen, indem sie »der Zeit vorgreifen« und eine spätere Revision ihrer Entscheidung »moralisch unmöglich machen« (P, S. 238 f.). Im Sicheinlassen auf eine derartige Verbindlichkeit wird jene Gemeinschaft tatsächlich realisiert, die zuvor nur der Möglichkeit nach bestand. Wenn eine solche Revision unmöglich ist (nicht faktisch, aber ihrem moralischen Sinn nach) und wenn wir das tatsächlich gegebene Versprechen »unmittelbar mit jenem Versprechen verknüpfen, das wir als Person sind«, so folgt, dass im Fall des gebrochenen Wortes das Person-Sein selbst in Gefahr gerät. »Um jenes Versprechen zu brechen, muß ich dieses brechen. Ich bringe mich als Person zum Verschwinden. Das Sprichwort ›Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht‹, drückt diese Wahrheit sozusagen ›idealtypisch‹ aus, wenn es auch der Möglichkeit von Reue und Umkehr nicht Rechnung trägt« (P, S. 241). Will man eine solche veritable ontologische Katastrophe vermeiden, so darf man unter allen Umständen nicht »eines anderen Sinnes« werden. Dies auszuschließen und dem Anderen genau das zuzusagen, scheint der Sinn des Versprechens zu sein. Kann indessen der »Glaube an das gegebene Wort und an die freie Selbstbindung dessen, der es gegeben hat«, wirklich darauf bauen bzw. vertrauen? Wird nicht in diesem Falle etwas zugesagt, was überhaupt nicht in der Macht des Versprechenden steht? Riskiert der Versprechende dann nicht seine personale Existenz? Wäre es dann nicht besser, nichts zu versprechen? So gesehen würde das Versprechen, das wir sind, um so besser gehalten, je zurückhaltender man dabei wäre, überhaupt sein Wort zu geben. Andernfalls droht im Fall des gebrochenen Wortes womöglich die Exkommunikation aus der Gemeinschaft der Personen, wovor nur die gnädige Verzeihung Anderer bewahren könnte. Keineswegs hätte dann aber die menschliche Gemeinschaft die Solidität eines unverbrüchlichen sozialen Bandes. Zwar glaubt Spaemann, dass niemand, »durch welches Verhalten auch immer, sich, solange er lebt, als Person gänzlich und definitiv zum Verschwinden bringen, zur ›Unperson‹ werden« kann. »Darum bleibt er, solange er lebt, jemand, dem zu verzeihen möglich ist« (P, S. 251). Das aber bedeutet in letzter Konsequenz, dass der ontologische Status der Person, die ein Versprechen war, aber ev. Unverzeihliches sich hat zu Schulden kommen lassen, restlos von der Gnade 204
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Anderer abhängig wird, die ihr Rehabilitation gewähren oder versagen.
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4.1 Befremdetes Versprechen: Maurice Blanchot Für Spaemann steht fest, dass man nichts Unmögliches versprechen kann. Wer sich anmaßt, offenkundig Unmögliches zu versprechen, ruiniert der nicht wirklich im gleichen Augenblick seine Glaubwürdigkeit? Hier kommt es auf den Begriff des Möglichen bzw. des Unmöglichen entscheidend an. Abgesehen von ontologisch zu unterscheidenden Weisen des Seins 66 schöpft das Wirkliche das Mögliche praktisch nicht aus, so wie nicht alles Mögliche auch wirklich wird. Wer nicht wie ein Megariker Möglichkeit und Wirklichkeit einfach identifizieren will, muss mit einer unaufhebbaren Inkongruenz von Möglichkeit und Wirklichkeit rechnen. In praktischer Hinsicht interessiert zunächst v. a. das, was in absehbarer Zeit als mögliche Wirklichkeit in Betracht kommt, darüber hinaus aber auch ein unbestimmter Horizont künftiger praktischer Möglichkeiten jenseits des in der Gegenwart bereits Möglichen. Gegebenenfalls verspricht das jetzt noch nicht Mögliche später ermöglicht zu werden. Praktisch könnten dem zufolge Möglichkeiten originär gezeitigt werden, die sich gegenwärtig als unmöglich darstellen. So gesehen erscheint es nicht als abwegig, dass ein gegebenes Wort vorläufig Unmögliches einzulösen verspricht. In praktischer Hinsicht verlaufen keine eindeutigen oder ein für allemal gezogenen Grenzen zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Abgesehen davon ist auch von einer Un-Möglichkeit die Rede, die nicht als Privation des Möglichen oder als bloßes Hindernis menschlichen Handelns, sondern als positiv Unmögliches im Sinne praktischer Herausforderungen verstanden werden soll, die sich zuAls Modalbegriffe bezeichnen Wirklichkeit und Möglichkeit nach traditioneller ontologischer Lesart bei Aristoteles Weisen des Seins – so wie auch Notwendigkeit und Nicht-Notwendigkeit bzw. Kontingenz. Demnach ist etwas möglich, wenn es erstens auch nicht sein kann und wenn es zweitens anders sein kann, als es ist. Das Wirkliche ist immer möglich (nicht aber umgekehrt das Mögliche immer wirklich); was unmöglich ist, kann nicht wirklich sein. Das Mögliche ist hingegen nicht notwendig und nicht unmöglich. Usw.
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gleich als unvermeidlich und als unerfüllbar erweisen. 67 In diesem Falle taucht das Un-Mögliche nicht erst zukünftig, jenseits des gegenwärtig Möglichen auf, sondern in der Gegenwart, die sich zur Antwort auf es herausgefordert sieht. Blanchot entwickelt diesen Gedanken ausgehend von der in jeder bisherigen sprechakttheoretischen Explikation des Versprechens bislang weitgehend unbedachten Frage, was es eigentlich heißt, zu oder mit jemandem zu sprechen (was man in der Regel doch tut, wenn man sein Wort gibt). 68 Diese Frage taucht im Kontext der Politischen Philosophie erst dort auf, wo demokratische Lebensformen ihrerseits als ein Versprechen – etwa der Einbeziehung Anderer – begriffen werden. Wenn Einbeziehung bedeuten soll, den Anderen als solchen überhaupt erst zu Wort kommen zu lassen und ihm Gehör zu schenken, muss man sich dann nicht von der Anderheit des Anderen Rechenschaft ablegen? Radikale Anderheit begegnet bereits im Nächsten: »Der Nächste, das ist der ganz Andere; der Andere, das ist das, was absolut über mich hinausgeht; die Beziehung zum Anderen, das der Nächste ist, ist eine transzendierende Beziehung, was besagen soll, daß es eine unendliche und in gewissem Sinne unüberwindbare Distanz zwischen mir und dem Anderen gibt, der […] mit mir kein gemeinsames Vaterland hat und in keiner Weise mit dem Individuum, das ich bin, in den gleichen Begriff, die gleiche Menge eingehen, ein Ganzes bilden oder zusammengezählt werden kann.« 69 Insofern tritt der Andere hier als Fremder auf, der jede Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft unterläuft, die man zwischen Wesen normalerweise voraussetzt, die miteinander wenigstens sprechen können. Zum Anderen sprechen oder ihm etwas zusagen, heißt demnach, sich im Zeichen einer unaufhebbaren Fremdheit an ihn wenden und sich von ihm als Fremdem in Anspruch nehmen lassen. Selbst das Begehren nach dem Anderen hebt diese Fremdheit nicht auf; im Gegenteil: es vertieft sie noch, wie Levinas zu zeigen versucht hat, dem Blanchot hier sehr nahe kommt (U, S. 101). 70 Das Begehren ist geradezu eine Unmöglichkeit im und als Verhältnis zum Anderen, Vgl. B. Waldenfels, Antwortregister, Frankfurt am Main 1994, S. 627 ff., sowie J. Derrida, »Non pas l’utopie, l’im-possible«, in: Papier machine, Paris 2001, S. 349–366. 68 Vgl. aber F. Jacques, Über den Dialog. Eine logische Untersuchung, Berlin, New York 1986, S. 1–64, bes. S. 32 ff. 69 M. Blanchot, Das Unzerstörbare, München, Wien 1991, S. 99 f. (= U). 70 Zu entscheidenden Differenzen vgl. aber S. Critchley, »Verantwortung als Responsivität: Die Hand von Levinas im Feuer von Blanchot«, in: M. Fischer, H.-D. Gondek, 67
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der als fremder geachtet und gerade nicht auf Kosten seiner Fremdheit angeeignet werden soll, wie es die Begierde versuchen würde. Als derart Fremder soll der Andere der Macht jedes anderen Anderen entzogen sein. So verkehrt er scheinbar die Macht in schiere Unmöglichkeit, Macht auszuüben. Auch die rhetorische Macht der Sprache soll hier auf eine unüberwindliche Grenze stoßen: sprechen kann man in Wahrheit zum Anderen nur als einem jedem physischen und verbalen Zugriff entzogen Bleibenden. Unvermeidlich, meint Blanchot wie Levinas, ist diese Unerreichbarkeit des Anderen im Spiel. Sprechen und dem Anderen etwas zusagen ist nur möglich im Zeichen der Un-Möglichkeit, ihn dadurch als Objekt eines Tuns mit Worten zu erreichen. 71 So wird die Anderheit des Anderen auf fragwürdige Art und Weise auch jedem gewaltsamen Zugriff sich widersetzend gedacht. Jeder Zugriff soll zu spät kommen angesichts einer »immer schon« uns entzogenen radikalen Anderheit, der man sich nur nachträglich, im Zuge einer Art religio, zuwenden kann. Die Zuwendung, sei es auch in der Form eines Versprechens, kann aber nichts daran ändern, dass der Andere, der angesprochen und dem etwas zugesagt wird, »außer Reichweite« bleibt. Der Andere ist »jedem Besitz fremd«, »ohne Bleibe« (demeure) in dieser Welt (U, S. 106). 72 Aber seine Anderheit wahrt er nur über sein leibhaftiges Leben hinaus, nicht einfach unabhängig von diesem. Als hungriges, durstiges, eines gesicherten Aufenthalts bedürftiges Wesen ist jeder Andere auf Verantwortung für ihn und auf Gerechtigkeit angewiesen. Zwar vereitelt die Anderheit des Anderen jede einfache Symmetrie sogenannter Kommunikation, aber ihre »Transzendenz« garantiert dem Anderen auch keine Autarkie. So bleiben das Sprechen wie auch das Versprechen, in dem man dem Anderen etwa die Übernahme von Verantwortung oder konkretes Sorgetragen für Gerechtigkeit zusagt, unverzichtbare Modi einer »sozialen« Beziehung, die angesichts der Anderheit des Anderen allerdings vor einer un-möglich einzulösenB. Liebsch (Hg.), Vernunft im Zeichen des Fremden. Zur Philosophie von Bernhard Waldenfels, Frankfurt am Main 2001, S. 46–63. 71 Dass die Un-Möglichkeit nach dem Gesagten keineswegs auf ein pures Scheitern der Kommunikation hinausläuft, sollte deutlich geworden sein. Vgl. dazu ausführlich auch A. Gelhard, Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005. 72 Vgl. J. Derrida, Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S. 147–151, 158. A
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den Herausforderung steht: dem Anderen in seiner unaufhebbaren Fremdheit gerecht zu werden. Entweder man spricht so, im Zeichen geachteter Fremdheit miteinander, oder man gerät unvermeidlich ins abschüssige Gelände letztlich tödlicher Gewalt – das ist die dramatische Alternative, vor die uns Blanchot stellt (U, S. 112, 115). Diese Gewalt beginnt bereits dort, wo man sich nicht mehr eingedenk der Fremdheit des Anderen an ihn wendet (also u. U. selbst im wohlmeinendsten Dialog). Andererseits beschwört gerade die Fremdheit des Anderen diese Gewalt herauf. Deutlicher noch als Levinas hat Blanchot darauf bestanden, dass die Fremdheit nur radikal gedacht wird, wenn sie nicht zu einer »guten«, ohne weiteres zu tolerierenden Verschiedenheit verharmlost wird, wie es meist im Rahmen einer »Politik der Differenz« geschieht. Miteinander sprechen bedeutet, »Eingang des Menschen in seine Fremdheit durch das Sprechen« (U, S. 115). Alles Sprechen, das seinen Namen verdient, muss sich an diese Trennung erinnern, »durch welche es spricht«. Mein Verhältnis zum Anderen »ist ein Verhältnis der Unmöglichkeit, das der Macht entgeht. Und das Sprechen ist jene Beziehung, worin derjenige, den ich nicht erreichen kann, in seiner unzugänglichen und fremden Wahrheit präsent wird« (U, S. 116). Das kann nur geschehen, wenn auf jegliche Identifikation des Anderen verzichtet wird. »Dies wäre demnach meine Aufgabe: jenem Sprechen zu antworten, das mein Verständnis übersteigt« (weil ich es mit einem Fremden zu tun habe), »ihm zu antworten, ohne es wahrhaft verstanden zu haben, und ihm zu antworten, indem ich es wiederhole, indem ich es sprechen mache. – Das Mögliche nennen, dem Unmöglichen antworten […]. Diese Antwort, dieses Sprechen, das beginnt, indem es antwortet, und das in diesem Beginn die Frage wiederholt, die ihm von dem Unbekannten und dem Fremden gestellt wird, eben das liegt jener Verantwortlichkeit zugrunde, die sich in der Folge in der harten Sprache der Forderung ausdrückt: man muß sprechen. – Sprechen ohne Macht. – Das Versprechen halten« (U, S. 119 f.). Demnach läge im »wahren« Sprechen bereits das Versprechen, sich dem Anderen angesichts seiner nicht geleugneten, sondern geachteten Fremdheit zuzuwenden und sich so auch von ihm in Anspruch nehmen zu lassen. Dieses, von niemandem je gegebene (und als Sprechakt schwerlich vorstellbare) Versprechen 73 einzulösen, wä73
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Zu einem solchen Versprechen, das niemand je gegeben hat oder je geben wird, vgl.
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re geradezu der Sinn des Sprechens – und zwar jederzeit, nicht erst in einer mehr oder weniger fernen Zukunft. Das un-mögliche Moment dieser Herausforderung wird von Blanchot u. a. nicht etwa betont, um ihre Einlösung einer u-topischen Ferne zu überantworten, sondern, im Gegenteil, um die Dringlichkeit einer möglichst jetzt und sofort gewaltlosen Sprache deutlich zu machen. Die Herausforderung duldet keinen Aufschub; gerade deshalb lässt sie sich auch nur als Über-Forderung denken, die buchstäblich zuviel des Guten verlangt. Aber das heißt nicht, dass sie in einem trivialen Sinne »unmöglich« einzulösen und deshalb sinnlos wäre. Allerdings fragt man sich nach der Lektüre der Blanchotschen Zeilen, ob und wie es möglich sein soll, die »angesichts des Anderen« dargelegte Ethik des Sprechens, die in jener Aufforderung anklingt, das Versprechen zu halten, zu einer konkreten, womöglich auch verpflichtenden Aufgabe menschlicher Lebensformen zu machen, die dafür Sorge zu tragen hätten, dass Andere tatsächlich zu Wort kommen und Gehör finden. Kann diese, von J. Shklar, J. Rancière und J.-F. Lyotard in unterschiedlicher Art und Weise thematisierte Aufgabe überhaupt politisch artikuliert werden? Ließe sich ein entsprechend ethisch sensibilisiertes politisches Handeln denken? Oder verspricht definitiv zuviel, wer das glauben macht? Eine abschließende Antwort auf diese Frage steht dahin, nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Revision der Begriffe Ethik und Politik selbst erfordert. 4.2 Geschichte als Versprechen – Vom Andern her: Jacques Derrida Zweifellos stehen Blanchot und Derrida einander hinsichtlich des Un-Möglichen als Herausforderung zu einer radikalen Revision des Ethischen und des Politischen besonders nahe. Aber Derrida dringt weit über das Versprechen der Sprache (bzw. über die Sprache als Versprechen 74 ) hinaus in Bereiche der Rede vor, in denen es gilt, konkret zu handeln, vor allem zugunsten der Gerechtigkeit, auf die jeder M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 29, 31. Blanchot verknüpft es mit Levinas’ Begriff einer dem Anderen sich geradezu substituierenden Verantwortung. 74 In dem Aufsatz »Die Einsprachigkeit des Anderen« (in: A. Haverkamp [Hg.], Die Sprache der Anderen, Frankfurt am Main 1997, S. 15–42) wird deutlich, dass es sich für Derrida niemals einfach um eine Sprache handeln kann, über die man im sog. Sprachgebrauch verfügt. Das zeigt sich an der engen Verwandtschaft mit dem Thema der Gastlichkeit bei Derrida (S. 35), worauf hier nur im Vorübergehen zu verweisen ist. A
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Andere einen unbedingten, jeglicher menschlichen Verfügung entzogenen Anspruch geltend macht – nicht etwa als fertig artikulierten Geltungsanspruch, sondern als Zumutung, die jede Rede unterläuft, weil dieser Anspruch ihr zuvorkommt. 75 Hier berühren sich Derridas späte politisch-philosophische Schriften engstens mit der radikalen Ethik von Levinas, die genau dies verteidigt: in Beziehung zum Anderen stehen heißt, sich von ihm her ein unbedingtes Verlangen nach Gerechtigkeit zuzuziehen. Es ereignet sich in außer-ordentlicher, unberechenbarer Art und Weise, die sich in keiner nachträglichen Bezugnahme auf den Anderen »aufheben« lässt. Von einem Exzess ist die Rede, der die Zeit, in der sich der Bezug zum Anderen ereignet, gleichsam aus den Fugen springen lässt. 76 Ohne eine aus den Fugen geratene Zeit würde es »weder Ereignis noch Geschichte, noch das Versprechen der Gerechtigkeit geben« (MG, S. 268). Dass es jenen Anspruch des Anderen »gibt«, lässt sich allerdings nicht beweisen. Er ist nur zu bezeugen durch eine Philosophie, die sich auf seiner Spur bewegt und dabei ihrerseits in eine riskante Instabilität gerät. Wie, mit welchen sprachlichen Mitteln, soll der Anspruch des Anderen zu bezeugen sein? Einem starren philosophischen Lehrgebäude, das anstelle des Zeugnisses für den Anderen nur aussagbare Wahrheiten und triftige Gründe anerkennen würde, wäre nichts dergleichen zu entnehmen. Wie kann die Philosophie aber einen Anspruch des Anderen bezeugen, der sich im Gesagten nicht aufheben lässt? Und wie lässt sich ein Eintreten für die vom Anderen her verlangte außer-ordentliche Gerechtigkeit denken, wenn dieses Eintreten auf einen ihm immer schon zuvorgekommenen Anspruch antwortet – d. h. Bezug nimmt auf eine Herausforderung zur Gerechtigkeit, die sich ihm als vorgängiges Ereignis entzieht, so dass die Gegenwart derjenigen, die Gerechtigkeit praktizieren wollen, »aus der Gleichzeitigkeit mit sich selbst herausgerückt« wird? (MG, S. 122.) Lässt sich das Ansinnen, eine solche, außer-ordentliche Gerechtigkeit wirklich leben zu wollen, als ein Versprechen verstehen? In seinem Marx-Buch deutet Derrida eine mögliche Antwort 75 Nur en passant ist hier auch auf die wichtige Entgegensetzung von Unbedingtheit und Souveränität hinzuweisen, der es erlaubt sein könnte, selbstherrlich jedes Versprechen zu brechen (vgl. S. Weber, »Im Namen des Gesetzes«, in: A. Haverkamp [Hg.], Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt am Main 1994, S. 97–128, hier: S. 116 ff.). 76 J. Derrida, Marx’ Gespenster, Frankfurt am Main 1995, S. 45–50 (= MG).
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auf diese Frage nur an. Hier geht es ihm darum, das Marxsche Erbe als ein Versprechen der Gerechtigkeit zu reinterpretieren; aber im Sinne einer Gerechtigkeit, die angesichts jedes singulären Anderen unbedingt und unverfügbar verlangt ist, ohne jemals ganz und gar einlösbar zu werden. So zieht das Verlangen nach Gerechtigkeit einen ständigen Ausstand der Gerechtigkeit nach sich: man praktiziert und lebt sie nie genug. Eben darin aber liegt die ständige, niemals versiegende Zu-Kunft der Gerechtigkeit. Sie hat die temporale Struktur eines »messianischen« Versprechens (MG, S. 122), das gerade nicht auf eine spätere, nur (ggfs. bis ans Ende der Zeiten) aufgeschobene Gerechtigkeit Bezug nimmt, die eines Tages restlos verwirklicht zu werden verspricht. Diesen, hier implizit einfließenden Geschichtsbegriff will Derrida verabschieden, um eine vom Anspruch des Anderen her inspirierte »Historizität als Zu-Kunft« zu denken, die nicht etwa erst irgendwann später eintritt, sondern jede Gegenwart dazu herausfordert, Gerechtigkeit zu leben. Genau hier soll »die Geschichtlichkeit der Geschichte« beginnen, »sich zu versprechen« (MG, S. 123); und zwar als »Menschlichkeit des Menschen«. Es geht darum, »eine andere Geschichtlichkeit zu denken – nicht eine neue Geschichte und noch weniger einen ›new historicism‹, sondern eine andere Eröffnung der Ereignishaftigkeit als Geschichtlichkeit, die es erlaubte, […] den Zugang zu einem affirmativen Denken des messianischen Versprechens zu eröffnen« (MG, S. 124). 77 Dieses Versprechen einer stets nur ankommenden, stets im Advent sich befindenden, nie definitiv einzulösenden Gerechtigkeit fällt so gesehen mit einer Menschlichkeit zusammen, die wie ein Versprechen im Ereignis der Herausforderung zur Gerechtigkeit angelegt ist. Aber wie kann man die Vorstellung einer solchen, menschlichen Geschichtlichkeit verteidigen, ohne anzugeben, wie geschichtlich Handelnde für die verlangte Gerechtigkeit aktiv Sorge tragen – nicht um sie sich »zu eigen« zu machen, sondern um die Gerechtigkeit, die jedem Anderen zusteht, nicht zu einer hehren, maßlosen und niemals mit konkretem Inhalt zu füllenden Worthülse verkommen zu lassen? Begreift Derrida die »menschliche« Geschichtlichkeit wie angedeutet als Versprechen, das wir uns vom Anderen her auch gegen unseren Willen zuziehen, so insistiert er doch zugleich darauf, dass es Ausdrücklich sei auf die vertiefte Diskussion um das messianische Versprechen verwiesen, die sich findet in: J. Derrida, G. Vattimo, DR, bes. S. 77.
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qua Versprechen »versprechen muß, daß es gehalten wird, das heißt, es muß versprechen, nicht ›spirituell‹ oder ›abstrakt‹ zu bleiben, sondern Ereignisse zu zeitigen, neue Formen des Handelns, der Praxis, der Organisation usw.« (MG, S. 145). Statt nur einer radikalen Ethik des Versprechens einer Gerechtigkeit das Wort zu reden, die wir jedem Anderen als Anderem schulden, wie Levinas meint, besteht Derrida auf dem politischen Sinn dieser Herausforderung. 78 Schließlich ist der Andere stets nur einer unter anderen Anderen, Dritten und anonymen Zeitgenossen, deren unterschiedliche Lebenslagen die Frage aufwerfen, was für wen zuerst und vordringlich (oder nachrangig) zu tun ist. Diese im engeren Sinne politischen Fragen der Gerechtigkeit sind von jener Ethik nicht völlig losgelöst zu denken. Im Gegenteil geht es Derrida darum, jene radikale Ethik, die dem unverfügbaren und unbedingten Anspruch des Anderen verpflichtet ist, mitten im Politischen zu platzieren und umgekehrt das Politische vor einer fatalen Reduktion auf Probleme der Instituierung und Regelung einer rechtlichen Ordnung zu bewahren. Das kann seiner Überzeugung nach nur geschehen, wenn Recht und Gerechtigkeit nicht zusammenfallen und wenn das Recht auf eine unbedingte Gerechtigkeit verpflichtet bleibt. 79 Eben dies ruft Derrida als spezifisch europäisches Erbe in Erinnerung. Wir sind, heißt es in Marx’ Gespenster, Erben dieser Gerechtigkeit – »das soll nicht sagen […], daß irgendeine Erbschaft uns eines Tages um dies oder jenes bereichern wird, sondern daß das Sein dessen, was wir sind, in erster Linie Erbschaft ist, ob wir es wollen und wissen oder nicht. Und daß wir nur […] davon zeugen können. Zeugen, das hieße, von dem zeugen, was wir sind […]« (MG, S. 93). So lässt sich das Versprechen der Gerechtigkeit nur aufgrund einer Ontologie der Bezeugung denken. Wir sind »Erben« einer Geschichte, die zu einem Versprechen herausfordert und insofern als Anspruch zur Geltung kommt (MG, S. 94). Aber gilt das für jede »Vergangenheit« gleichermaßen? Entleert man das Versprechen nicht jeglichen konkreten Inhalts, wenn man menschliche Geschichtlichkeit im allgemeinen als Frage eines beZum Verhältnis zwischen Ethik und Politik mit Blick auf Derrida und Levinas vgl. die Beiträge in: P. Delhom, A. Hirsch (Hg.), Im Angesicht der Anderen. Emmanuel Levinas’ Philosophie des Politischen, Berlin, Zürich 2005. 79 Vgl. MG, S. 11, 146, sowie J. Derrida, Schurken, Frankfurt am Main 2003, S. 202 f.; ders., Gesetzeskraft, Frankfurt am Main 1991, bes. S. 83. Hier wird die »Gründung« des Rechts als eine Form des Versprechens rekonstruiert. 78
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zeugten Erbes auffasst, das doch so oder so »angetreten« werden kann und in polemischen Streit darüber verstrickt, was es uns bedeuten muss? Und wer ist »wir«? Gewiss geht es Derrida nicht um eine allgemeine Geschichtstheorie; vielmehr philosophiert er über menschliche Geschichtlichkeit als Versprechen ausgehend von einer maßlosen Trauer über exzessive Verbrechen gegen die Gerechtigkeit, die wir jedem Anderen schulden. Ohne dieses, seiner Philosophie des Versprechens vorausliegende Affiziertsein ist nicht verständlich, warum das Erbe-sein ganz spezifisch, nämlich als Herausforderung zu einer unbedingten Gerechtigkeit gedeutet wird, der wir, traumatischer geschichtlicher Erfahrung zum Trotz, künftig gerecht zu werden versprechen sollen. Derrida macht sich keine Illusionen über die Einlösbarkeit dieses Versprechens: es geht ja um ein »unendliches« Versprechen, »das niemals gehalten werden kann, zumindest weil es unendlichen Respekt vor der Singularität und vor der unendlichen Alterität des anderen ebenso verlangt wie vor der zählbaren, kalkulierbaren und subjektalen Gleichheit der anonymen Singularitäten«; und es geht zugleich um die unvermeidlich inadäquaten »Formen dessen, was sich an diesem Versprechen messen lassen muß« (MG, S. 109 f.). Ein Leben gemäß solcher Formen in der »Wirklichkeit des demokratischen Versprechens«, für die unbedingte Gerechtigkeit Sorge zu tragen, wird wie eine »Verheißung« die »unbestimmte messianische Erwartung« einer stets nur »kommenden« Gerechtigkeit in sich tragen. Unbedingt für diese Gerechtigkeit aufgeschlossene Lebensformen rechtfertigen diese Erwartung aber nur durch eine ebenso unbedingte, vorbehaltlose Gastlichkeit, die sich rückhaltlos dem öffnet, was nach Gerechtigkeit verlangt – sei es auch kraft eines unvorhersehbaren Ereignisses. 80 Ist aber eine solche Gastlichkeit nicht »das Unmögliche selbst […] und dennoch Bedingung des Ereignisses und also der Geschichte«? Ist also die Bedingung der Möglichkeit des Ereignisses auch seine Bedingung der Unmöglichkeit? (MG, S. 110.) Jedem unbedingt gerecht zu werden, das kann man unmöglich (glaubwürdig) versprechen. Aber können wir überhaupt darüber souverän entscheiden, was wir versprechen wollen oder zu versprechen haben? Noch für Rancière ist die Demokratie als politische Lebensform nicht das Versprechen, jedermann (etwa im Namen der MenZu diesem befremdlichen Gedanken der Gastlichkeit vgl. v. Verf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br., München 2008.
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schenrechte) gerecht zu werden. Sie bleibt vielmehr ein nationales und innerstaatliches politisches Organisationsmodell. Die Geschichte des demokratischen Denkens lässt sich aber auch im Lichte des Versprechens lesen, nicht nur Gleichen (Brüdern, Mitgliedern usw.), sondern auch den Ausgeschlossenen gerecht zu werden. Als Ausgeschlossene kommen nicht nur die »eigenen« Zeitgenossen, sondern auch Fremde und Feinde in Betracht. 81 Als Versprechen der Einbeziehung ist die Demokratie so gesehen von vornherein de-limitiert, ohne je versprechen zu dürfen, alle einbeziehen zu können und sich in diesem Sinne als unbeschränkt gastlich zu erweisen. Selbst die gerechteste Demokratie wird ungerecht bleiben im Verhältnis zu jenen, die sie nicht einbeziehen kann und die ihren Dissens letztlich nur gewaltsam artikulieren können. Liegt nicht im Versprechen demokratischer Lebensformen selbst eine maßlose Überforderung und Bedrohung? Darauf macht Derrida selbst aufmerksam; gleichwohl hält er aber daran fest, dass sich eine Demokratie, die ihren Namen verdient, »durch die Struktur des Versprechens ausweisen muß«. 82 Weit entfernt von der üblichen Reduktion des Versprechens auf einen bloßen Sprechakt, mittels dessen man »Verbindlichkeit erzeugt« (A. Reinach) gemäß gewisser konventionaler Regeln (Searle), die im Grunde zu nichts verpflichten, ist hier von demokratischen Lebensformen als Versprechen die Rede, die sich mit der unbedingten Herausforderung konfrontiert sehen, Gerechtigkeit zu versprechen. Das aber wirft die Frage auf, ob eben diese Herausforderung nicht jede Aussicht auf Einlösung des Versprochenen vereitelt. Was genau wäre überhaupt als das Versprochene zu begreifen? Und lässt sich mit Derrida noch irgend eine Verbindung zu Akten des Versprechens denken, in denen die Herausforderung zu unbedingter Gerechtigkeit verbindlich bekräftigt würde? Diese Frage lässt sich kaum von der Hand weisen, wenn man wie Derrida auf »neue Formen des Handelns« hofft und sich nicht damit begnügen will, eine Hyperbolik der Gerechtigkeit zu beschwören, die nur auf die Feststellung eines unendlichen Versagens politischer Lebensformen hinausliefe. Damit kann und darf man sich nicht zufrieden geben, wenn es stimmt, dass sich »unter dem Namen Europa als Versprechen ankündigte«, den Fremden aufzunehmen, nicht nur um ihn einzugliedern, »sondern
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J. Derrida, Schurken, S. 32, 80, 123 f. Ebd., S. 119–122; J. Derrida, Das andere Kap, Frankfurt am Main 1992, S. 57.
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auch, ihn aufzunehmen, um seine Andersheit zu erkennen und anzunehmen«. 83 Sollte man nicht versuchen, anzugeben, wie das in Zukunft besser möglich wäre? Dieses demokratische Versprechen einer Aufnahme des Anderen, die ihm selbst als radikal Fremdem noch Gerechtigkeit widerfahren lassen soll, lässt sich als die historische Antwort auf ein (nazistisches) »anderes Europa« begreifen, das für den wohl radikalsten Angriff auf die unbedingte Gerechtigkeit steht, der sich denken lässt. Von diesem zweifellos kontingenten Ausgangspunkt her erschließt sich am besten, wie Derrida zu denken versucht, dass wir als geschichtliche »Erben« dieser Erfahrung zur Selbst-Bezeugung herausgefordert sind, aber nicht im Sinne bruchloser »Identität«, sondern im Sinne eines Versprechens der Gerechtigkeit, das die Zeit der Erfahrung des Herausgefordertseins und die Zeit ihrer geradezu unmöglichen Einlösung aus den Fugen gehen lässt. In einer prekären Zwischenzeit stellt sich nach wie vor die Frage, wer 84 wir sind oder sein wollen als geschichtlich Existierende, die sich situieren zwischen einem traumatischen historischen Erbe einerseits und einer zu versprechenden Zukunft andererseits, die nicht einfach in weiter, u-topischer Ferne liegen, sondern die Gegenwart inspirieren soll. Die Herausforderung zur Gerechtigkeit, die Derrida wie Levinas bezeugt, um das Erbe einer Geschichtlichkeit herauszuarbeiten, die die Form eines Versprechens haben soll, erübrigt in keiner Weise deren Übernahme in Akten, die bekunden: »ich will« bzw. »wir wollen« dieses Versprechen als verbindlich betrachten; »ich kann« bzw. »wir können« Gerechtigkeit üben; und »ich verspreche« bzw. »wir versprechen«, sie einzulösen. 85 So kommt man schließlich wieder
Ebd., S. 56. Vgl. die Auseinandersetzung Derridas mit J. Patocˇka in: »Den Tod geben«, in: A. Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit, S. 331–445, hier: S. 358. Dieser Frage bin ich im Anschluss an Derrida ausführlich nachgegangen in Gastlichkeit und Freiheit, Kap. IV, 6, S. 197 ff. 84 Vgl. in »Den Tod geben« zum Selbst S. 373; zur europäischen Dimension dieser Frage bei Derrida und anderen: Gastlichkeit und Freiheit, Teil B. 85 Bedeutet das aber nicht zugleich, dass sich wenigstens die schlimmsten Ungerechtigkeiten nicht wiederholen sollten? Wie kann man mehr Gerechtigkeit versprechen, ohne wenigstens dies zu versprechen? Vgl. dazu die äußerst kritische Einschätzung des auf Auschwitz, aber auch auf Ruanda gemünzten Versprechens, »niemals mehr« werde man das Schlimmste zulassen, bei P. Farmer, »Never Again? Reflections on Human Values and Human Rights«, in: The Tanner Lectures on Human Values (2005), S. 137–188, hier: S. 158, 163, 187. 83
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auf Akte des Wortgebens und -haltens zurück, die ohne Freiheit und Selbstheit nicht denkbar sind. 86 So selbstverständlich es scheint, dass stets nur jemand (etwas) versprechen kann, so dass man immer auf die Spur des Selbst geführt wird, das sein Wort gegeben hat, so wenig lässt sich der Begriff des Versprechens allerdings auf entsprechende Akte beschränken und auf diese Weise kompromisslos einer freien Selbstheit unterstellen. Denn es könnte sich tatsächlich so verhalten, dass man immer, wenn man sich äußert, auf unkontrollierbare Art und Weise verspricht: »Jedesmal, wenn ich den Mund öffne, wenn ich spreche oder schreibe, verspreche ich. Ob ich will oder nicht: hier muß man zwischen dem Versprechen und dem Werden es Willens, der Absicht oder dem Sagen-Wollen unterscheiden, die ihm in fataler Überstürzung immer so vernünftig assoziiert werden. Das Performativ dieses Versprechens ist kein speech-act unter anderen. Es ist allen anderen Performativen implizit, und dieses Versprechen kündigt die Einzigartigkeit der kommenden Sprache an.« 87 Der Preis für eine derartige Ausweitung der Rede von Versprechen ist hoch: wenn ein Versprechen immer und unvermeidlich vorWie Derrida selbst zugibt; Schurken, S. 42. Da es mir hier darum geht, die Ausweitung des Versprechens auf den (nur angedeuteten) historischen Kontext deutlich zu machen, sehe ich von Derridas Kritik der sprechakttheoretischen Diskussion um das Versprechen ab. Nur soviel: In Derridas Sicht ist dem Versprechen, wenn es sich als ein Akt zeigt, eine »ursprüngliche Performativität« eigen, »die sich keiner zuvor schon existierenden Konvention beugt – wie es alle Performative tun, die von den Sprechakttheoretikern analysiert worden sind –, deren Durchbruchskraft vielmehr die Institution oder die Konstitution erst produziert, das Gesetz selbst, und das heißt auch den Sinn, der den Appell seinerseits zu garantieren scheint« (MG, S. 58; vgl. M. Frank, »Die Entropie der Sprache. Überlegungen zur Debatte Searle-Derrida«, in: Das Sagbare und das Unsagbare, Frankfurt am Main 1980, S. 141–210; U. Dreisholtkamp, »Die Gabe der Gabe und das Versprechen«, in: H.-D. Gondek, B. Waldenfels [Hg.], Einsätze des Denkens, Frankfurt am Main 1997, S. 287–307, hier: S. 292 ff.) Hier wird das angeblich stets irreguläre oder nicht zu regelnde Geben des Versprechens allzu schnell als eine Gabe deutet, die, wenn man sie mit Derrida radikal denkt, nicht einmal dem Geber als solche erkennbar werden dürfte (J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 22 ff., 36 f.). Aber es ist keineswegs sicher, dass das Geben eines gegebenen Wortes als Gabe zu verstehen ist (die wiederum dem Anderen, als dessen Gabe, zu verdanken wäre). Allerdings trifft es zu, dass wir nur dank des Anderen, dem wir unser Wort geben können, überhaupt etwas zu versprechen haben (s. die Kap. A – I, 4 sowie B – I, 1). Aber wenn das Versprechen mit Derrida als »reine« Gabe gedacht wird, kann es paradoxerweise ein gegebenes Wort nur dann geben, wenn es vom Gebenden als solches nicht zu intendieren ist. 87 J. Derrida, »Die Einsprachigkeit des Anderen«, S. 39. 86
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liegt, sobald man sich äußert, entbehrt es dann nicht jeglichen Inhalts? 88 Wenn diese Auflösung des Versprechens in Äußerungen aller Art zu vermeiden ist und wenn es sich noch als gegebenes Wort denken lassen soll, muss man sich dann nicht doch wieder auf das Versprechen als ein Tun mit Worten zurückbesinnen? Bewegt sich andererseits nicht jedes Versprechen auf der Spur des Versprechens, wirklich zum Anderen zu sprechen? 89 Liegt nicht in diesem, jedem Sprechakt vorausliegenden Versprechen der Sinn der Sprache selbst? 90 Übernimmt nicht jedes Sprechen die Verantwortung für dieses Versprechen? 91 4.3 Zuviel versprochen: Emmanuel Levinas Nichts liegt Levinas ferner, als einer zukünftig »kommenden Sprache« das Wort zu reden oder neue historische Aussichten auf eine Zukunft zu eröffnen, von der man sich die Erfüllung gewisser Versprechen versprechen könnte. Als Jude mag er sich in ein radikales Zukunftsdenken einschreiben, das, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt, »für ein Versprechen und nicht mehr nur für die Wiederholung von längst Bekanntem« stand. 92 Doch misstraut er zutiefst prophetischem und messianischem Überschwang, der die irdische Lebenszeit der Menschen überspringt, um ein transzendentes Heil zu versprechen, ebenso wie allen sog. Säkularisierungen eines Heilsgeschehens zur Weltgeschichte, als deren eigenmächtige VollEbd., S. 40. So harmlos, wie es zunächst scheinen mag, ist das nicht, wenn jeder Andere »ganz anders« ist und wenn demzufolge eine Sprache, die den Anderen hyperbolisch soll erreichen können, über sich hinaus getrieben wird – bis hin zu einer »desertification of language«, die um jeden Preis, auch unter Verzicht auf jegliche Prädikation, Negative Theologie und selbst auf den Namen des Anderen dieses Ziel zu erreichen versucht; vgl. J. Derrida, »Post-Scriptum: Aporias, Ways and Voices«, in: H. Coward, T. Foshay (eds.), Derrida and Negative Theology, New York 1992, S. 283–323, hier: S. 294–300, 309 f. 90 Vgl. in diesem Sinne J. Derrida, Wie nicht sprechen: Verneinungen, Wien 1989, S. 28 f., wo auch die in jedem Versprechen gegebene Zusage, selbst (aus eigener Kraft, wenn nicht gar autonom und auf jeden Fall im eigenen Namen) zu sprechen, in Frage gestellt wird. Zur Frage, ob man überhaupt (glaubwürdig) derart etwas versprechen und auf diese Weise sich als Subjekt des Zugesagten ins Spiel bringen kann und darf, vgl. die dekonstruktionistischen Überlegungen im Anschluss Nietzsche bei W. Hamacher, Entferntes Verstehen, Frankfurt am Main 1998, bes. S. 80 ff., 97 ff., 111. 91 J. Derrida, Wie nicht sprechen, S. 31. 92 Vgl. T. Cahill, Abrahams Welt, Berlin 2002, S. 122. 88 89
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strecker sich Verbrecher verschiedenster Couleur aufgeworfen haben, um maßloseste Versprechen einer Zukunft in Aussicht zu stellen, über die sie doch jenseits ihrer beschränkten Lebenszeit nicht verfügen konnten. 93 Unnachsichtig brandmarkt Levinas in herben Worten die Verantwortungslosigkeit eines an dieser Entwicklung nicht unschuldigen Geschichtsdenkens, das im Zeichen des Fortschritts der Gattung eine bessere Zukunft verspricht, und insistiert auf der unerlässlichen Verantwortung für den nächsten, erstbesten, aber auch fernsten Anderen und auf der Dringlichkeit eines »Friedens jetzt«. Gegen sich selbst gewendet, fragt er allerdings, ob man sich nun gerade von der radikalen Anderheit des Anderen »Heil versprechen« solle. 94 Die Antwort fällt schroff aus: Angesichts dieser Anderheit erreicht uns der Befehl, Verantwortung für sie zu tragen. Aber sie »bringt kein Versprechen mit sich, keine Hilfe, sondern das Absolute einer Forderung«. 95 Es geht Levinas nicht darum, ein Begehren nach dem Unendlichen zu nähren, Eschatologie zu betreiben und Heilsversprechen für Menschen glaubhaft erscheinen zu lassen, die sich womöglich nur um sich selbst sorgen und jenseits ihres Endes unbedingt überleben wollen. Vielmehr schärft Levinas unermüdlich den ethischen Sinn einer Verpflichtung ein, die auf jegliche vorgängige An93 E. Levinas, Schwierige Freiheit, Frankfurt am Main 1992, S. 102, 151, 166, 184. Durch eine solche Maßlosigkeit des Versprechens sieht Blumenberg auch die Philosophie, insbesondere philosophisches Geschichtsdenken kompromittiert: »Die Philosophie kann Versprechungen machen, die sie nicht heute oder morgen, die sie niemals zu halten braucht, und die allein das süße Gift der Hoffnung nährt […]. Sie verspricht Unsterblichkeiten, irdische Paradiese, einen ehernen Fortgang der Geschichte, als dessen Betreiber und Günstling immer der sich fühlen darf, der angesprochen wird. […] Von dieser Art sind Philosopheme über die Geschichte.« Unvermeidlich? – möchte man fragen. Das scheint mir nicht ausgemacht. Vgl. H. Blumenberg, Die Verführbarkeit des Philosophen, Frankfurt am Main 2000, S. 22 f. 94 E. Levinas, Zwischen uns, München, Wien 1995, S. 120. 95 Ebd., S. 213; Schwierige Freiheit, S. 166 zu Vorbehalten gegen messianische Versprechen jeglicher Couleur. Es geht hier ersichtlich darum, ob sich derjenige, der die Verantwortung trägt, davon etwas versprechen kann. Levinas’ Position schließt jedoch keineswegs aus, das Tragen der Verantwortung selbst (angesichts des Anderen) als ein Versprechen zu deuten. In S. Mosès’ Worten: so wie Abraham sich für seinen Sohn verantwortet, sagt er implizit: »Ich verspreche dir, dass dir nichts geschehen wird, denn ich bin für dich verantwortlich.« Eros und Gesetz, München 2004, S. 54. Aber die Verantwortung selbst scheint Levinas nicht aus einem vorgängigen Versprechen ableiten zu wollen; vgl. F. Rötzer (Hg.), Französische Philosophen im Gespräch, München 2 1987, S. 95.
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lehnung an »Religion« ebenso verzichtet wie auf eschatologischen und messianischen Überschwang.96 Für Levinas hat die Ethik, um die es ihm geht, auf Prophetie zu verzichten; und sie »beginnt nicht mit Versprechen«. Sie nährt sich vielmehr »ganz aus Unsicherheit und persönlichem Risiko« im Zeichen des zwanzigsten Jahrhunderts, besonders im Lichte »seiner Schrecken und Greuel und Völkermorde«. Gewiss kann man sich fragen, ob »die Zeit der Versprechungen« der Anfang einer solchen Ethik sein kann bzw. ob »der Dienst ohne Versprechen nicht der einzige ist, der die Versprechungen verdienen – und sogar erfüllen – kann«. Levinas zögert, auch nur einen Schritt weiter zu gehen als bis zu dieser Frage, die für ihn bereits unter dem Verdacht steht, unerträgliche »Predigt zu sein«. 97 Wie kaum eine andere Ethik 98 steht die Philosophie Levinas’ dem Versprechen als einem Akt freier Selbstverpflichtung, als der es bislang überwiegend begriffen worden ist, ebenso skeptisch gegenüber wie der Auffassung, »authentische« Zukunft werde durch das aus freien Stücken gegebene Wort gezeitigt. 99 Stehen wir in historischer Perspektive nicht vor einem »Friedhof nicht gehaltener Versprechen«, wie Ricœur schreibt? 100 Ist es an der Zeit, gewisse VerIn seinen politischen Schriften geht Levinas so weit, nur eine »moralische Menschheit« voraussetzen zu wollen, die – »vor aller Offenbarung« – nicht als »Religion« im konventionellen Sinne des Wortes begegnet. Diese »bedingungslose Ethik« wird erklärtermaßen »nicht außerhalb der Menschen« gesucht und geht »nicht von einem unbekannten Gott« aus; E. Levinas, Verletzlichkeit und Frieden. Schriften über die Politik und das Politische, Berlin 2007, S. 86, 113, 182–190 (= VF). Zudem setze sie nicht auf ein eschatologisches Versprechen (ebd., S. 75). 97 E. Levinas, Zwischen uns, S. 217. An anderer Stelle hat sich Levinas sogar zu einem Denken »unabhängig von jeglicher Religion« bekannt – zumindest insofern Religion immerfort mit dem »Versprechen« eines happy end beginnt; vgl. R. J. Bernstein, »Evil and the temptation of theodicee«, in: S. Critchley, R. Bernasconi (eds.), The Cambridge Companion to Levinas, Cambridge 2002, S. 252–267, hier: S. 254, 256 f. 98 Besser müsste man sagen: Ethik der Ethik, denn Levinas geht es nicht um eine Teleologie des Guten oder um Deontologie etwa, sondern darum, wie es überhaupt zu einer unhintergehbaren ethischen Herausforderung an die Adresse moralischer Subjekte kommt, deren Autonomie er bestreitet. 99 Zu diesem Begriff der Zukunft vgl. E. Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1984, S. 51 ff. 100 P. Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 67, 128; ders., Zeit und Erzählung III, S. 386 f.; vgl. v. Verf., Revisionen der Trauer, Weilerswist 2006, Kap. IV. So scheint für die Geschichte das Gleiche zu gelten wie für die individuelle Lebenszeit: sie ist »ein nie gehaltenes Versprechen«. »Nur der Tod hält stets sein Versprechen«, meint V. Jankélévitch, Der Tod, Frankfurt am Main 2005, S. 237, 524. 96
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sprechen wie das des Fortschritts, der Emanzipation der Gattung oder der Verwirklichung idealer Verständigungsverhältnisse zu erneuern, oder ist die Zeit der historischen Versprechen endgültig vorbei und »Geschichte«? Stand und steht Europa bis heute nicht auch für die »Geschichte eines Friedens, einer Freiheit und eines Wohlbefindens, die versprochen wurden, als würden sie von einem Licht ausgehen, das ein universales Wissen auf die Welt und auf die menschliche Gesellschaft – und sogar auf die religiösen Botschaften, die für sich eine Rechtfertigung in den Wahrheiten des Wissens suchten – projizierte«? Andererseits: die Europäer erkennen sich nicht wieder in ihrer äußerst gewaltsamen Geschichte – »in ihren Jahrtausenden politischer und blutiger Bruderkämpfe, in ihren Jahrtausenden des Imperialismus, der Menschenverachtung, der Genozide, des Holocausts und des Terrorismus; der Arbeitslosigkeit und des fortdauernden Elends der Dritten Welt; der erbarmungslosen Doktrinen und Grausamkeiten des Faschismus und des Nationalsozialismus und bis hin zum höchsten Paradox, in dem sich die Verteidigung des Menschen und seiner Rechte in Stalinismus umkehrt« (VF, S. 138 f.). Ist also das Beste an Europa, dass es wenigstens sich selbst radikal kritisiert und sich nicht mehr als geschichtsvergessenes und insofern unverschämtes Vorbild einer anderswo nachzuholenden »Europäisierung fremder Menschheiten« (Husserl) präsentiert? Legt es eben dadurch Zeugnis davon ab, »nicht nur hellenisch« inspiriert zu sein? Besteht, wenn die Europäer sich nur daran erinnern, trotz allem die Hoffnung, dass Europa künftig »all seinen Versprechungen treu« sein wird (VF, S. 139)? Erinnert insofern gerade die das Versprechen so überaus skeptisch einschätzende radikale Ethik von Levinas an eine schwache, nahezu unkenntlich gewordene Verbindung zum geschichtsphilosophischen Horizont von Versprechen bzw. Versprechungen, von denen Europa sich nicht dispensieren darf, will es nicht sich selbst aufgeben? 101 101 Nur en passant sei daran erinnert, dass zu diesem Horizont explizit auch das »Versprechen der Menschlichkeit« zählte, das aber von einer geradezu schicksalhaften Überantwortung an unvermeidliche Gewalt konterkariert wird, wenn Merleau-Ponty Recht zu geben ist; vgl. Humanismus und Terror, Bd. 2, Frankfurt am Main 1966, S. 15 f. Diese 1947 unter dem Eindruck des Stalinismus veröffentlichte Schrift benennt rigoros Probleme der Verstrickung einer Moral »guten Willens« (Kant) in die Gewalt, zu der wir nach der Überzeugung Merleau-Pontys verurteilt sind. Es ist ein Desiderat, diese, u. a. in Folge der seit längerem vorherrschenden Geringschätzung einer geschichtsphiloso-
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Während Derrida in seinen letzten Schriften mehrfach versucht, den Begriff des Versprechens in historischer Perspektive wieder an Kants Konzept einer zukunftsweisenden regulativen Idee heranzurücken 102 , misstraut Levinas einem solchen Vorgehen. Viel mehr liebäugelt er (mehrfach mit Verweis auf das Werk Wassili Grossmans) mit einer »Güte ohne Versprechen«, die von keiner Überlebenshoffnung genährt wird und nicht auf eine Belohnung nach dem Tod setzt. Dass die Geschichte dieser Güte gerecht werden könnte, bezweifelt Levinas entschieden. 103 Und auf die Hoffnung, dass die Geschichte in diesem Sinne sogar fortschreiten könnte in die richtige Richtung, mag er nicht setzen. 104 Vielmehr weigert er sich, das Gesagte oder Getane, das »in die Geschichte eingehen« könnte, zum Maßstab dessen zu machen, was angesichts des Anderen und der Dritten zu tun ist, die nach Verantwortung und Gerechtigkeit jetzt verlangen. 105 So ist seine ganze Ethik eine Philosophie im Ereignis angesichts Anderer übernommener Verantwortung, ohne dass sie aber einen Beweis für deren aus der befremdlichen Ferne des Anderen herrührende ethische Inspiration zu erbringen vermöchte. Aber bezeugt diese Verantwortung nicht ein Versprechen, ihr gerecht zu werden? Ist in die Antwort auf die Herausforderung des Anderen zur Übernahme der Verantwortung und zur Gerechtigkeit nicht ein Versprechen »eingezeichnet«? 106 Ist in diesem Sinne nicht die Religion – oder religio –, die Levinas meint, zugleich Antwort und Versprechen (DR, S. 46 f.)? Genau das legt Derrida in seiner Schrift Glaube und Wissen nahe: Besagt religio nicht den Einsatz eines »Versprechens, der im Ursprung einer jeden Anrede schon enthalten ist, der im Augenblick der Anrede vom anderen kommt und der ein Kommen des anderen ist, das die Anrede auslöst«? 107 phischen Rechtfertigung von Gewalt liegen gelassenen Fragen im Lichte einer radikalen ethischen Kritik der Gewalt, wie wir sie bei Levinas finden, wieder aufzunehmen. 102 Vgl. v. Verf., »Kritische Kulturphilosophie als restaurierte Geschichtsphilosophie? Anmerkungen zur aktuellen kultur- und geschichtsphilosophischen Diskussion mit Blick auf Kant und Derrida«, in: Kantstudien 98, Heft 2 (2007), S. 183–217. 103 E. Levinas, VF, zu Wassili Grossman S. 154, zur Unsterblichkeit S. 171. 104 Gleichwohl kritisiert Levinas eine »endlose Vertagung« des »Versprechens einer abschließenden Rückkehr zu den Menschenrechten«; VF, S. 105. Muss eine solche Kritik nicht doch auf eine regulative Idee sich stützen? 105 Vgl. v. Verf., »Geschichte und Überleben angesichts des Anderen. Levinas’ Kritik der Geschichte«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1995/6), Nr. 3, S. 389–406. 106 In dieser Richtung hat Derrida weiter nachgedacht in: DR, S. 33. 107 J. Derrida, »Glaube und Wissen«, in: DR, S. 47. Es sollte an dieser Stelle nicht überA
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Kann man so tatsächlich der (verantwortlichen) Antwort auf den Anspruch des Anderen die Struktur eines Versprechens zuschreiben? Wenn ja, wird in diesem Versprechen bereits etwas Bestimmtes versprochen – zum Beispiel Zeugnis abzulegen von diesem Anspruch –, so dass sich in der Tat »keine religio ohne […] das Versprechen« denken ließe? Fallen auf diese Weise die dem Anderen gegebene Antwort (responsio) einerseits und das gegebene Wort andererseits einfach zusammen (DR, S. 52, 54)? Verspricht man sich nicht entschieden zuviel vom Versprechen, wenn man es als Bezeugung von Verantwortung und Gerechtigkeit, die vom Anderen her verlangt ist, jeder Antwort beilegt, die man ihm gibt? Genau an der Nahtstelle, die diese Frage markiert, setzt die Phänomenologie von Waldenfels mit ihrem prima facie entgegengesetzten Vorschlag ein, das Versprechen als Antwort zu begreifen, um ihm einen minimalen responsiven Sinn abzugewinnen, der ihm auf jeden Fall zukommen muss, auch wenn sich die immer wieder geltend gemachten Verdachtsmomente gegen die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit gegebener Worte und gelebter Versprechen nicht ausräumen lassen. 4.4 Versprechen als responsives Geschehen: Bernhard Waldenfels Auch diese Phänomenologie kennt einen weiten Begriff des Versprechens, wie er bei Derrida anzutreffen ist. Verspricht man wie gesagt nicht in gewisser Weise, sobald man spricht? Sprache geschieht, als Rede, als Sprechen, wenn das stimmt, ständig als Versprechen, indem dem Anderen das Wort gegeben und ihm die Möglichkeit eröffnet wird, es wiederum an oder gegen jemanden zu richten: »Jedes Antworten besagt, daß man das Wort gibt, und dies in einem mehrfachen Sinn. Man gibt sein Wort; man gibt dem Anderen das Wort; man gibt das Wort aus dem Mund, aus der Hand. Wie schon das lateinische Wort re-sponsio andeutet (…), handelt es sich um ein Versprechen in einem weiten Sinne, der das Sprechen über seine eigenen Voraussetzungen hinausführt. Ich gebe dem Anderen mein Wort, ich verspresehen werden, dass der Autor hier Fragen an die Adresse eines römischen bzw. lateinischen Denkens aufwirft und keineswegs ohne Umschweife seine eigene Position zu erkennen gibt (die hier auch nicht entwickelt werden kann). Vgl. zu diesem Kontext H. de Vries, Philosophy and the Turn to Religion, Baltimore, London 1999, der den Aspekt einer Per(ver)formativität des Versprechens herausarbeitet.
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Versprechen zwischen Un-Möglichkeit und Übermaß
che, da das Antworten sich niemals in einem positiven Resultat niederschlägt, das sich weiter- und wiedergeben ließe; das Antworten selbst bedarf eines wiederholten Wiedersagens und Widerrufs (…). Dies zeigt sich auch in Beteuerungsformeln wie ›wirklich‹, ›gewiß‹, ›im Ernst‹, die den alltäglichen Wortwechsel skandieren. Allen Beteuerungen zum Trotz steht immer noch etwas aus. – Man gibt dem Anderen sein Wort, indem man es ihm überläßt. Das heißt, man liefert das Wort dem Anderen aus, man bindet es an eine zweite Zukunft, die nicht mehr die des Antwortenden ist und die immer schon gewesen sein wird (…). Es gibt keinen festen Ort, an dem das Wort ankommt. – Daraus folgt, daß das Wort vorgegeben wird. Jedes Wort ist gewissermaßen in den Wind gesprochen oder in das Wasser geschrieben. Dies bedeutet nicht, daß der Andere besonderes Mißtrauen verdient, daß er unberechenbar wäre; es bedeutet zunächst nur, daß er sich der Berechnung und Vergewisserung entzieht. Nur das Wort, mit dem ich nicht beim Anderen ankomme wie an einem festen Ziel, bleibt vielversprechend, mehrversprechend und ›geht schwanger mit Möglichkeiten‹, die – right or wrong – nicht meine eigenen sind.« 108 In einem weiten Sinne führt demnach jedes Antworten und Sprechen ein Moment des Versprechens mit sich. Umgekehrt aber gibt auch das Versprechen Antwort und kann daher niemals das »erste Wort« haben. Insofern jede Rede Bezug nimmt auf Andere, antwortet sie auch – freilich vielfach indirekt. Ich spreche »vom Anderen her […], bevor ich über ihn und über uns spreche«. 109 Erst recht gilt das aber, wenn ein Versprechen explizit Bezug nimmt auf ein Verlangen, sein Wort zu geben. Darin findet ein Bezugnehmen auf den Anderen statt, das sich gewissermaßen selbst nicht im Griff hat, wenn ein fremder Anspruch ins Spiel kommt, der mir mehr zu antworten aufgibt, als die Antwort realisieren kann. Umgekehrt geht die Antwort über das hinaus, was nach ihr verlangt. Die Herausforderung zur Antwort und die (in Form des Versprechens) schließlich gegebene Antwort »decken« sich nicht. 110 Überdies spaltet sich die Antwort auf in ein Geschehen des AntB. Waldenfels, Antwortregister, S. 623; vgl. zu Worten als Versprechen J.-P. Sartre, Situations I, Paris 1947, S. 206 ff. 109 B. Waldenfels, Die Vielstimmigkeit der Rede, Frankfurt am Main 1999, S. 13 (= VR). 110 Zu den eigens bedenkenswerten Folgen gehört, dass die »antwortende Rede« der Verantwortung für die Rede vorausgeht, was aber nicht bedeutet, letztere gering zu schätzen. Vgl. VR, S. 50, 53, 150 zur Fremdheit dessen, worauf man antwortet. 108
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wortens, d. h. in diesem Fall: in das Geben des Versprechens und das Geantwortete (das gegebene Wort). Waldenfels spricht von einem Auseinandertreten von Sprechereignis und Sprachgehalt, von Sagen und Gesagtem (VR, S. 31), das sich nur zeigt und nicht wiederum im Gesagten (Versprochenen) aufzuheben ist. Das Geben des Wortes und das gegebene Wort ereignen sich nicht einfach nacheinander. »Als performatives Geschehen tritt das Versprechen keineswegs früher auf als das Versprochene, natürlich auch nicht später, es kommt überhaupt nicht in der Zeit vor, etwa im Bereich des Zukünftigen oder Vergangenen, da es dazu beiträgt, allererst ein Zeitfeld zu eröffnen bzw. andere Zeitfelder zu verschließen. An Heideggers Ausdrucksweise anschließend können wir feststellen: das Redeereignis zeitigt etwas, indem es sich zeitigt. Das Versprechen verbindet sich durchaus mit dem Versprochenen, aber in Form eines Überschusses des Sagens über das Gesagte hinaus. Das Versprechen ist nicht Teil des Versprochenen, so wie das Eingehen und Einhalten des Vertrages nicht zur Vertragsmaterie zählt. Der Ausdruck ›hiermit verspreche ich‹ verweist auf das Ereignis oder den Akt des Versprechens, das sich, aristotelisch gesprochen, ›mit anzeigt‹« (VR, S. 59). Der Akt des Versprechens ist also nicht Teil des Versprochenen. Das Geben des Wortes ist ungleichzeitig mit sich selbst und phasenverschoben gegenüber der Herausforderung zum Versprechen sowie im Verhältnis zur Entgegennahme des gegebenen Wortes (VR, S. 66). Letztere trägt gewissermaßen nach, was das Geben des Wortes wie einen Vorschuss gewährt hat. Diese mehrfache innere Ungleichzeitigkeit im Versprechen ist nun nach Waldenfels’ Überzeugung durch keine vorausgesetzte Gemeinsamkeit, durch keine Regel oder Konvention zu bändigen. Das gilt vor allem für das Geschehen des Versprechens bzw. die originäre Zeitigung des gegebenen Wortes durch das Geben des Versprechens selbst. Immerzu müsse deshalb der Versuch scheitern, die Zeit der Rede, die das schließlich gegebene Wort originär zeitigt, wiederum in einer bereits vorausgesetzten Verbindlichkeit, Vereinbarung, Konvention oder vertragsmäßigen Ordnung aufzuheben. »Nietzsches Fragen nach der Beschaffenheit eines Wesen, das versprechen kann, schließt die weitere Frage ein: Wie muß eine Rede beschaffen sein, in der man Versprechen abgeben und entgegennehmen kann, ohne sich auf bereits vorhandene Absprachen und Übereinkünfte zu stützen?« (VR, S. 66.) Wenn die Zeit des Wortgebens jede Ordnung sprengt, insofern 224
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Versprechen zwischen Un-Möglichkeit und Übermaß
sie auf einen fremden Anspruch Bezug nimmt, hat jedes Versprechen einen außer-ordentlichen Charakter. Das bedeutet nicht, dass das gegebene Wort selbst nicht Teil einer sozialen oder politischen Ordnung sein kann. Wem im Rahmen pädagogischer Institutionen etwa abverlangt wird, bestimmte Dinge nicht wieder zu tun, wird damit an eine Ordnung erinnert, die er zuvor verletzt hat. Das gegebene Wort hat dann insofern nichts Überraschendes. Anders verhält es sich aber wiederum mit dem Geben des Wortes selbst, insofern es aus einer relativen oder radikalen Fremdheit des Anderen herrührt. Letztere bedeutet als Außer-Ordentliches ein Mehr, ein »Hyper«, einen Überschuss »nicht an eigenen Möglichkeiten, sondern an fremden Ansprüchen, der sich in Irritationen und Störungen bestehender Ordnungen kundtut«. Das Antworten auf solche Ansprüche beginnt mit ihrer Beachtung, die sie aber wiederum nicht im Beachteten aufzuheben vermag. Deshalb stehen wir hier vor dem »Phänomen« einer »Zugänglichkeit des Unzugänglichen« (E. Husserl), die das AußerOrdentliche in der Ordnung eigentümlich gegenwärtig sein lässt (VR, S. 115 f.). Das Gleiche gilt für die soziale oder politische Zugehörigkeit und Unzugehörigkeit derer, die ihr Wort geben oder ein Versprechen annehmen können. »Die paradoxen Figuren einer Zugänglichkeit des original Unzugänglichen und einer Zugehörigkeit des original Nichtzugehörigen« verweisen auf ein »Ineinander von An- und Abwesenheit, von Nähe und Ferne«. Was durch die Fremderfahrung ausgeschlossen wird, als die sich auch das Wortgeben darstellt, das auf einen fremden Anspruch Antwort gibt, »sind keine Wirklichkeiten, als wäre Fremdes Abwesendes von nebenan, das zugänglich würde, sobald sich die Tür öffnet. Fremdes erfahre ich hier und jetzt und nicht etwa, indem ich mich anderswohin begebe. Fremdes ist nicht anderswo, auch nicht anderswann, es bildet selbst eine originäre Form des Anderswo. Was auf diese Weise ausgeschlossen wird, sind auch keine bloßen Möglichkeiten, die – wie vermittelt auch immer – stets auf eigene Möglichkeiten hinauslaufen, auf etwas, das ich noch nicht, nicht mehr oder unter faktischen Umständen nicht kann.« Fremderfahrung übersteigt vielmehr das Können radikal; sie besagt nämlich »eine Erfahrung der Unmöglichkeit eigener Möglichkeiten, eines originären ›Ich kann nicht‹ ; in diesem Sinne wird mir die Unzugänglichkeit als solche zugänglich, als erfahrene Unmöglichkeit, als Unmöglichkeit für mich« (VR, S. 110 f.). Dieses Motiv einer unausweichlichen Unmöglichkeit in den A
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praktischen Möglichkeiten der Rede, des antwortenden Bezugnehmens auf den Anderen sowie des Versprechens im engeren Sinn taucht in dem Buch über die Schattenrisse der Moral (2006) wieder auf. 111 Sofern jemandem ein Versprechen abverlangt wird, kann er nicht umhin, so oder so auf dieses Verlangen Antwort zu geben. Er muss antworten im Sinne des Nichtanderskönnens oder des Nichtumhinkönnens. Zugleich konfrontiert uns Fremdes, worauf wir zu antworten haben, ob wir wollen oder nicht, »mit einer gelebten Unmöglichkeit, da solch fremde Ansprüche […] den Rahmen vorgegebener Möglichkeiten sprengen«. Was uns widerfährt als Fremdes, »kommt der Frage nach seiner Möglichkeit zuvor« (SM, S. 111). Es handelt sich um eine »fremde Sinnvorgabe, die eine beliebige Fortsetzung nicht zuläßt« (SM, S. 55). Jede Möglichkeit, die eine Antwort im Modus des Wortgebens ergreift, wird nur eine unter mehreren sein können. Weder kann aber die Antwort eindeutig vorgezeichnet sein (denn in diesem Falle hätte sie nichts mehr von einem Antwortgeben, sondern würde nur noch ausführen, was bereits vorgegeben ist), noch kann der Spielraum des Antwortens gänzlich offen sein. In diesem Falle hätte das Antworten »nichts mehr von einem Antwortgeben, da eine Äußerung so gut wäre wie die andere« (SM, S. 56). Jede Möglichkeit, die im Antwortgeben realisiert wird, wirft den Schatten anderer Möglichkeiten, die außer Acht gelassen oder versäumt werden (müssen). Alles kommt hier aber darauf an, ob im gegebenen, ev. auch zu erweiternden Feld des Möglichen das Wortgeben eine Antwort im engeren Sinne des nicht-beliebigen Bezugnehmens darstellt oder ob es nur irgendeine Antwort (im weiteren Sinne) gibt, von der genau das nicht zu sagen ist. Da man sich in der philosophischen Tradition weitgehend auf das gegebene Wort und dessen Verbindlichkeit bzw. auf das Halten des gegebenen Wortes konzentriert hat, ist das Geben eines Versprechens selbst vernachlässigt worden. Die Phänomenologie des als Antwort gegebenen Wortes zeigt nun, wie zerbrechlich die Verbindlichkeit beschaffen ist, die es stiftet. Es beruht nicht auf einer »immer schon« vorauszusetzenden, verbindlichen Ordnung. Als indexikalisches, in der Gegenwart originär ein Wort gebendes Geschehen erschöpft es sich nicht in der Befolgung konventionaler Regeln, die in keiner Weise zu ihrer Einhaltung verpflichten würden (SM, S. 58 ff.). 111 B. Waldenfels, Schattenrisse der Moral, Frankfurt am Main 2006 (= SM); vgl. darüber hinaus bereits im Antwortregister S. 626 ff.
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Versprechen zwischen Un-Möglichkeit und Übermaß
Es wendet auch kein Gesetz und keine nicht in Zweifel zu ziehende Vorschrift (wie das Verbot der Lüge) an. Als Ereignis verbindlicher Zusage, die einem Anderen das Wort gibt, ist es auf überhaupt keine vorgegebene Ordnung reduzierbar. Wäre es so, dann würde im Versprechen überhaupt kein Geben des Wortes und insofern auch keine Zusage, sondern nur eine Art Reproduktion dessen stattfinden, was gemäß dieser Ordnung zuzusagen ist. So sehr man die Verbindlichkeit betonen mag, die durch ein gegebenes Wort zustande kommt, so wenig darf man übersehen, dass sie als originär im Ereignis gezeitigte gerade nicht auf einer vorgängigen moralischen Verbundenheit aufruht. Die Frage, die sich hier aufdrängt, lautet, ob die übliche Alternative zwischen »immer schon« bestehender Verbundenheit (sei es im Sinne der Zugehörigkeit, der Mitgliedschaft oder der Orientierung am Guten und Gerechten) einerseits und quasi atomisierter Unverbundenheit oder Bindungslosigkeit überzeugt und angemessen ist. Kraft des gegebenen Wortes Verbindlichkeit stiften vermögen nur Wesen, die einander wenigstens auf Erwiderung hin ansprechen und ihr Wort geben können. Dem pflichtet auch Derrida bei, wenn er von einem »Glauben jenes performativen Aktes« spricht, »den man im Versprechen ausmachen kann« und ohne den es unmöglich wäre, sich an den Anderen zu richten. »Ohne die performative Erfahrung dieser elementaren Glaubensbezeugung gäbe es kein ›gesellschaftliches Band‹, keine Anrede, die sich an den anderen richtet.« 112 Indem man sich an den Anderen wendet, sei es, um ihm ein Versprechen abzuverlangen, sei es, um ihm eines zu geben, bezeugt man diesen Glauben an ihn als jemanden, der so oder so antworten wird – ohne aber im Geringsten über die Gewissheit zu verfügen, dass es so sein wird und wie der Andere antworten wird. Diese Ungewissheit setzt sich im Vertrauen auf die gegebene Antwort fort, das stets prekär bleibt und durch keinen Beweis der Glaubwürdigkeit des Anderen zu fundieren ist. So bleibt die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes stets von einer originären Nicht-Verbindlichkeit überschattet, die das gegebene Wort nie ganz zugunsten einer unanfechtbaren Verbundenheit überwindet. Gelänge das, so wäre dies ohnehin ein zweifelhafter Erfolg: eine unverbrüchliche Verbundenheit würde schließlich jedes Versprechen gegenstandslos machen.
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Das gegebene Wort als Zumutung Im Horizont einer Kultur des gelebten Versprechens
Bürge eines Versprechens […], das er nicht gegeben hat, der unersetzliche Stellvertreter. Maurice Blanchot 1
Ungeachtet gegenteiliger Behauptungen Heideggers spricht die Sprache nicht. Sie hat nichts zu sagen und kann von sich aus nichts sagen. 2 Als virtuelles System des Sagbaren (langue) bleibt sie stumm. Sie spricht nicht und verspricht nichts. Wenn Derrida die Sprache in performativer Hinsicht geradezu als Versprechen begreift, so muss er doch zugeben, dass ein solches Versprechen nichts Konkretes verspricht, worauf man sich verlassen könnte. Soll Sagbares tatsächlich »zur Sprache kommen« und Gehör finden, bleibt es allemal auf das Geschehen des Redens (parole) angewiesen, in dem mehr oder weniger Bestimmtes durch Wesen zur Sprache erst kommt, die sich als Urheber ihrer Rede präsentieren. Zwar gehört ihnen streng genommen kein einziges Wort, das sie äußern und aus der Hand geben, als exklusiver Besitz. Wer auf einen privatsprachlichen Besitz abzielte, würde das Versprechen unmöglich machen, denn das rein privat Gesagte wäre von keinem Anderen mehr zu verstehen. Dennoch, obwohl uns kein Wort gehört, hat es einen guten Sinn, wenn davon die Rede ist, dass man sein Wort gibt und damit etwas verspricht – was die Sprache von sich aus nicht vermag. 3 Auch Heidegger muss zugeben, dass sich allein der Mensch als »ein Versprechen der Sprache« realisieren kann. 4 Wenn man sich von ihr (oder von ihrem Gebrauch) etwas – sogar das »Kommen des Anderen« 5 – verspricht, so bleibt auch das allemal sprechenden Subjekten aufgegeben M. Blanchot, Die Schrift des Desasters, München 2005, S. 29. Vgl. M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 6 1979, S. 12. 3 Vgl. W. Hamacher, »Afformativ, Streik«, in: C. Hart Nibbrig (Hg.), Was heißt darstellen?, Frankfurt am Main 1994, S. 340–371, hier: S. 363. 4 M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, S. 14. 5 J. Derrida, »Die Einsprachigkeit des Anderen«, in: A. Haverkamp (Hg.), Die Sprache der Anderen, Frankfurt am Main 1997, S. 15–42, hier: S. 39 f. 1 2
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als Einzulösendes (wobei freilich Begriffe wie Subjektivität und Urheberschaft zur Revision anstehen). Daran vermag keine analoge oder metaphorische Rede von Versprechen etwas zu ändern, die man auf die Sprache, auf die Verständigung, auf symbolisch strukturierte Lebensformen, auf demokratische Formen des Zusammenlebens und am Ende auf die Geschichte projiziert hat, die noch immer die Versuchung weckt, sie als Versprechen zu deuten, sei es als zukünftig wirklich einzulösendes, sei es als performativ in der geschichtlichen Gegenwart geschehendes. In jedem Fall bleibt das Versprechen angewiesen auf diejenigen, die sich Zugesagtem verpflichtet fühlen. Versprechen heißt nicht nur, etwas sagen, sondern sein Wort geben oder etwas zusagen und dies als verbindlich zu betrachten. Das Zugesagte gilt Anderen, die sich auf das Gesagte bzw. auf das, was ihnen zugesagt wurde, sollen verlassen können. Wer etwas verspricht, nimmt in diesem Sinne Glaubwürdigkeit für sich in Anspruch – wie einen Kredit auf Kosten des Anderen, dem ungefragt das Vertrauen darauf zugemutet wird, das ihm Zugesagte werde eingelöst und in diesem Sinne verdiene derjenige, der sein Wort gibt, dass man ihm glaubt. Es ist also nicht übertrieben, das als Versprechen gegebene Wort als eine Zumutung zu verstehen. Das Versprechen stiftet als gegebenes oder gelebtes Wort originär soziale Verbindlichkeit nur durch in Anspruch genommene Glaubwürdigkeit und zugemutetes Vertrauen – und das im Horizont einer Zukunft, über die streng genommen niemand verfügen kann. Auch deshalb liegt es nahe, jedes Versprechen als eine Zumutung einzustufen. Es nimmt zunächst viel mehr, als es gibt. Als Wort-Geben nimmt es Andere in Anspruch, bevor es Zugesagtes einlöst. Der Versprechende maßt sich an, etwas versprechen zu dürfen (weil er Vertrauen verdient) und etwas versprechen zu können (weil er für die Einlösung des Versprochenen selbst einsteht). Im Modus des Wissens lässt sich im Vorhinein weder das eine noch das andere adäquat abschätzen. Das Versprechen kann dennoch und im Wissen darum gelingen – aber nur dann, wenn man demjenigen, der sein Wort gibt, glaubt, wenn man ihm zubilligt, etwas versprechen zu dürfen, und wenn man ihm auch zutraut, das gegebene Wort einlösen zu können. Warum sollte man sich aber auf eine solche Zumutung einlassen, wenn niemals Wissen darüber vorliegen kann, ob sie begründet ist, und wenn die Zukunft jederzeit das Gegenteil erweisen kann? Nichts steht so sehr im Verdacht, nur hohle Worte hervorzubringen, wie gerade das Versprechen, das auf den ersten Blick im 232
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Das gegebene Wort als Zumutung
Gegensatz zu all dem, was nur gesagt wird, eine verlässliche und verbindliche Zusage darzustellen scheint. Demnach ist auf alles, was nur gesagt wird, kein Verlass, wohingegen das Versprechen mehr zu sein beansprucht als nur unverbindliche Rede oder Gerede. Auch das (explizite) Versprechen aber gibt wiederum nur Worte aus dem Mund und aus der Hand, so aber, als ziele es mittels der Sprache auf eine Verbindlichkeit ab, die der normale Sprachgebrauch, in dem ausdrücklich nichts zugesagt wird, gerade nicht herstellen kann. So liegt im Versprechen eine eigentümliche Insistenz, mittels der Sprache mehr zu tun, als was man normalerweise mit Worten tun kann. Nachdem das Wort gegeben wurde, soll es nicht verlöschen wie der Akt des Wortgebens selber; es soll gewissermaßen beim Anderen verbleiben wie ein Unterpfand, ein Depositum, das ihn dazu berechtigt, den Geber des Wortes an das Gesagte zu erinnern und ihn infolge dessen nötigenfalls dazu zu bewegen, das gegebene Wort einzulösen. Nicht nur nimmt der Versprechende das Vertrauen des Anderen in Anspruch; er mutet ihm in gewisser Weise auch die Annahme des gegebenen Wortes zu. Zwar kann sie verweigert werden; aber die Weigerung, sich ein Versprechen geben und sich dazu geradezu nötigen zu lassen, auf den Anderen zu vertrauen, ihm zu glauben und auf das Versprechen-dürfen und –können zu setzen, ist immer schon eine nachträgliche Zurückweisung der vorgängigen Zumutung, das gegebene Wort anzunehmen. Wenn man nicht nur bedenkt, wer sein Wort gibt, sondern was versprochen wird, tritt der Aspekt der Zumutung im gegebenen Wort noch deutlicher hervor. Man denke nur an Versprechen der Rettung und des Heils in einer Hyperbolik der Verheißung, die sich in der Zeit überhaupt nicht einlösen lässt, da sie die Erfüllung der Zeit durch ihre Aufhebung im Anderen der Zeit verspricht. 6 Paradoxerweise widerstehen solche, geradezu maß-losen Versprechen viel eher der Anfechtung als jedes mit Bedacht gegebene Wort, das nicht zuviel zu versprechen verspricht. Selbst das bescheidenste Versprechen verspricht nicht nur etwas, sondern bedeutet demjenigen, der es annimmt, auch, dass die Einlösung des Versprochenen demjenigen, der sein Wort gegeben hat, zu Gebote steht, d. h. dass nicht zuviel versprochen wird. Ob das wirklich der Fall ist, kann sich freilich allemal erst nachträglich zeigen. Genau genommen setzt sich jedes VerspreVgl. M. Schneider, »Dem Versprechen ent-sprechen. Kontraktuelle Sprachmanöver«, in: ders. (Hg.), Die Ordnung des Versprechens, München 2005, S. 395–420, hier: S. 406.
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chen dem Verdacht aus, zuviel zu versprechen. Und jeder, der sein Wort gibt, muss damit rechnen, dass die Zumutung, ihm zu glauben, auf ihn selbst zurückschlägt. »Auf ihn selbst« heißt: auf sein Selbst, das wir als Antwort auf die Frage verstehen können, wer er ist. Der Andere selbst, der sein Wort nicht gehalten hat, riskiert seine Glaubwürdigkeit und damit das Vertrauen Anderer, das er im Wiederholungsfall nicht mehr in Anspruch nehmen kann. So gesehen führt die Deutung des Versprechens als eines gegebenen Wortes womöglich in die Irre. Sein Wort zu geben hat mitnichten von sich aus den Charakter einer selbstlosen Gabe. Zwar kann das gegebene Wort als Gabe gegeben werden, die radikal darauf verzichtet, sich für den Versprechenden zu amortisieren, und nur dem Anderen zugute kommen soll. 7 Aber jeder Versuch, diesen Gedanken zu rechtfertigen, muss sich mit der prima facie ihm widersprechenden Einsicht auseinandersetzen, dass sich das Versprechen zunächst mehr als ein Nehmen denn als ein Geben darstellt. Das mag erklären, warum man zumal auf politische Versprechen, die notorisch dessen verdächtig sind, nichts als »leere Versprechungen« darzustellen, vielfach gar nichts geben mag. So ungebrochen attraktiv das Versprechen als eine rhetorische Technik in den Augen der Politiker bei opportunen Gelegenheiten (vor Wahlen) auch sein mag, so sehr konterkariert seine fortgesetzte Inanspruchnahme den Kredit, den sie ungefragt sich selbst einräumen, indem sie ihr Wort geben. Wer nach ungezählten leeren Versprechungen, die die Wege politischen Handelns wie Trümmer säumen, nicht einmal fragt, ob er überhaupt noch etwas versprechen darf oder kann, ist am Ende überhaupt keines Kredits mehr würdig. Selbst in dem Anschein nach verbindlichster Rede erkennt man dann nur noch leere Worte, eine Art politischen Lärm. Damit läuft gerade die Rhetorik des Versprechens Gefahr, die wesentliche Differenz zwischen unpolitischen Lebewesen einerseits und menschlich-politisch miteinander Lebenden und Handelnden andererseits einzuebnen. Die von alarmierten Politikern und Soziologen vielfach ventilierte Frage, was in einer solchen Lage, wo man Anderen beinahe Allerdings muss jeder, der diesen Standpunkt für vertretbar hält, die von Derrida präzisierten Aporien einer »reinen Gabe« berücksichtigen, die in keiner Weise (auch nicht im selbstgerechten Wissen, etwas »Gutes« zu tun) zum Geber zurückkehren dürfte. Ob es wirklich ein Versprechen als Gabe in diesem Sinne geben kann, steht dahin. Vgl. J. Derrida, Zeit geben I, München 1994, sowie die Rezension d. Verf., in: Philosophisches Jahrbuch 103/1 (1996), S. 417–419. 7
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nichts mehr zusagen kann, die Gesellschaft überhaupt noch zusammen hält, hat abgesehen von sog. Ligaturen, schierem Auf-Andereangewiesen-sein und dem Mangel an Alternativen usw. verstärkt auch wieder auf die Sprache als neben funktionaler Systemintegration unverzichtbares Medium der Bindung der Menschen aneinander aufmerksam gemacht. 8 Keine primäre oder sekundäre Sittlichkeit, kein Ethos demokratischer Lebensformen, keine kollektive Solidarität und keine gemeinsame Orientierung am Guten oder am Gerechten hält auf Dauer dem fortgesetzten Missbrauch einer moralischen Sprache der Verbindlichkeit stand, die sich immer wieder des Versprechens bedient und dadurch eine generalisierte Misanthropie und moralistische Sprachverachtung provoziert. Letztere verwirft am Ende ihrerseits gewaltsam die Sprache, deren Missbrauch sie moniert. Für den radikalen Sprachverächter erübrigt sich dann die Unterscheidung zwischen verbalem Geräusch, Gesagtem und Zugesagtem. Ihn erreicht schließlich keine Zumutung eines Versprechens mehr, die, letztlich grundlos, danach verlangt, einem Anderen künftig zu glauben. So treffen sich die Gewalt des rhetorischen Missbrauchs des gegebenen Wortes und die verächtliche Gegen-Gewalt, die sich von keiner »verbindlichen« Sprache mehr vereinnahmen lassen will, in der gleichen Konsequenz: in der Zerstörung des gegebenen Wortes, das glaubwürdig jemandem abzunehmen wäre. Am Ende kann dann niemand mehr etwas sagen, worauf Verlass wäre. Man würde niemandem mehr glauben. Wem man nicht mehr glaubt, kann sagen, was er will, es »zählt« nicht mehr und wird gleichsam auf eine Art Lärm reduziert. Die Grenze zwischen leisem oder lautem Geräusch und Sprache verläuft nicht einfach zwischen Tieren und Menschen, vielmehr wird sie variabel auch zwischen Menschen gezogen. 9 Sie ist keineswegs von Natur aus vorgesehen. Politische Zoologen, die den Menschen ohne Bedenken als eine »sprechende Tierart« (oder auch als versprechende Unterart) einstufen, finden hier reichlich Ansatzpunkte. Am Sprachgebrauch selbst ist in keiner Weise empirisch festzustellen, ob etwa ein illokutionärer Akt, der dem Anschein nach alle T. Meyer, Die Transformation des Politischen, Frankfurt am Main 1994, S. 68; T. Rentsch, Die Konstitution der Moralität, Frankfurt am Main 1999, S. XVI, 187, 320 f. 9 Vgl. J. Rancière, Das Unvernehmen, Frankfurt am Main 2002, S. 36; G. Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt am Main 2002, S. 17 f. zur aristotelischen Differenz von Stimme und Sprache. 8
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Kriterien eines normalen Versprechens erfüllt, wirklich den intendierten Zweck erreichen kann, etwas zuzusagen. Denn ob das gelingt, hängt von einer Kultur des Vertrauens in den Gebrauch der Sprache ab. Und der »Zustand« einer solchen Kultur ist aus dem regulären grammatischen Funktionieren von Sprechakten oder gewisser rhetorischer Techniken, die sich auf den ersten Blick als Versprechen darstellen, überhaupt nicht zu erkennen. 10 Sie kann ohne weiteres Bankrott gehen, wenn niemand mehr anderen ein gegebenes Wort abnimmt, obwohl die Grammatik und Pragmatik des Versprechens als Akt und Institution im Rahmen einer demokratischen Lebensform noch intakt zu sein scheinen. In diesem Falle würden Machiavelli und Hobbes Recht behalten mit ihrem Verdacht, Versprechen seien nichts als leere Worte, nur Einfältige würden sich an sie halten, die nicht begriffen haben, wie die Sprache der Macht Anderer unterworfen ist, die sich jederzeit jeder Verbindlichkeit und Zusage entziehen können, wenn es ihnen opportun erscheint. Gegen diesen Verdacht hilft es nicht, eine sittliche Verbindlichkeit des Zugesagten einfach herbeireden wollen, wenn radikale Vorbehalte jedes gegebene Wort auf bloße Absichtserklärungen reduzieren, auf die man nichts geben kann. 11 Diese Vorbehalte betreffen schließlich das Ansehen, das die Sprache in einer Kultur genießt. Und dieses Ansehen ist nicht allein auf eine strikte Pflicht zur Wahrhaftigkeit zu gründen, denn es hat mit dem wirklichen Gebrauch der Sprache zu tun und kann mit letzterem zugleich ruiniert werden. Dem steht freilich die Forschung entgegen, die zeigt, was im Versprechen geschieht – angefangen bei der Anrede, die explizit als Verlangen zum Ausdruck kommen kann, dass der Andere nicht nur zuhören möge, sondern auch dem Versprechenden glauben soll. Ohne diese Zumutung könnte man sich nicht einmal aneinander wenden. Der Angesprochene verspricht darüber hinaus, auf Erwiderung hin ansprechbar zu sein; er kann nicht nur sprechen und dabei Laute von sich geben, sondern antworten und ist insofern das »Versprechen eines Gesprächs« (Lyotard). 12 Sowohl das Versprechen im Demgegenüber wird gelegentlich das Versprechen der Rhetorik als einer Technik unterworfen, die den sozialen Raum soll gestalten können; vgl. T. Klass, Das Versprechen. Grundzüge einer Rhetorik des Sozialen nach Searle, Hume und Nietzsche, München 2002, S. 20 ff. Dabei gehe es um den Sieg im Kampf, der das Soziale je schon ist, liest man hier. 11 Vgl. R. Wiehl, Subjektivität und System, Frankfurt am Main 2000, S. 43 f. 12 Siehe Kapitel B – II, 2. 4. 10
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engeren Sinne des gegebenen Wortes als auch dessen Annahme vollzieht sich mehr oder weniger als Erfüllung dieses Versprechens. So kann man sagen, dass diejenigen, die ein Versprechen verbindet, ein Versprechen übernehmen, das sie als soziale Wesen je schon sind, die einander ansprechen und in Anspruch nehmen können. Unvermeidlich, so scheint es, bewegen wir uns hier wiederum in einer Zweideutigkeit eines Versprechens im weiteren Sinne, das wir sind, und eines Versprechens im engeren Sinne, das nur jemand geben kann. Die Frage, ob dies überhaupt geschieht und wie – missbräuchlich oder übermäßig – führt uns erneut zurück in das weite Feld einer Kultur, die zwischen misanthropischer Sprachverachtung und maßlosen, in der Zeit niemals einzulösenden Versprechen notorisch schwankt, ohne dass sich klare Grenzen dessen ausmachen ließen, was man versprechen darf oder zusagen kann. Bislang wissen wir nicht einmal genau, was überhaupt zu versprechen ist. Gewiss: messianische Erlösungsversprechen lassen sich in der Zeit nicht einlösen – und Versprechen, die unmöglich Einzulösendes zusagen, sollte niemand geben. 13 Aber sind wir darum schon die Überforderung durch Unmögliches los, das uns dazu herausfordert, unser Wort zu geben über jedes Maß hinaus? Keineswegs 14 : ohne weiteres lassen sich Beispiele dafür angeben, dass man scheinbar Unmögliches verspricht, angefangen bei der unbedingten Aufnahme von Nachkommen, für die man Sorge zu tragen verspricht (ob explizit oder implizit, bleibe dahingestellt); und zwar nicht »vorläufig«, d. h. befristet, sondern auf unbestimmte Zeit, vielleicht sogar über den Tod hinaus. Warum nur verspricht man so Zerbrechliches wie die Liebe – allen Widrigkeiten und sogar dem Tod zum Trotz, mit dem die Trauer sich nicht abfindet? Bislang sind solche Fragen noch kaum in den Horizont der verschiedenen klassischen Ansätze zu einer Philosophie des Versprechens gerückt. Vermutlich deshalb, weil sie als hyperbolische und außer-ordentliche womöglich die Zeit selbst 15 , gewiss aber jeden »normalen« Rahmen Vgl. H. Blumenberg, Höhlenausgänge, Frankfurt am Main 1996, S. 345. Siehe auch Kap. B – II, 3. 4 in diesem Band. Nicht zu übersehen ist die Unterscheidung einer inneren Unmöglichkeit im Versprechen, wie sie in Kapitel II – B, 4 zur Sprache gekommen ist, von einer faktischen Unmöglichkeit der Einlösung des Versprochenen. 15 Nur am Rande kann ich hier auf die entsprechenden Überlegungen J.-L. Marions zu einer Hyperbolik der Liebe verweisen, die, insofern sie nicht zeitlich befristet geschieht, auf eine nicht mehr innerzeitige, auch die Zukunft der ihrerseits sterblichen Nachkom13 14
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sprengen, auf den sich etwa ein Analytiker wie Searle dezidiert beschränkt. Für den Anfang mag das genügen; doch sollte sich keine Philosophie, welcher Provenienz auch immer, einer Bevormundung der Erfahrung schuldig machen; zumal dann nicht, wenn sie nicht begreift, was es mit ihr auf sich hat. Immerhin besteht der Verdacht, dass der explizit performative und nach feststehenden Konventionen sich richtende Gebrauch von Versprechen nur die eingeschränktesten (und vielfach relativ triviale) Beispiele betrifft. Die analytische Präzision, mit der man ihnen zu Leibe rückt, droht durch eine weitgehende, oft nicht einmal als solche erkannte Vernachlässigung ihrer Lebensbedeutsamkeit erkauft zu werden. Durch nichts erscheint es gerechtfertigt, das explizite Wortgeben als den wichtigsten Fall des Versprechens zu betrachten. Es könnte sich gerade umgekehrt verhalten: so nämlich, dass implizit gegebene und in Folge dessen gelebte Versprechen (wie das Versprechen der Fürsorge, die man quasi zusagt, indem man jemanden gastlich bei sich aufnimmt, sei es ein Neugeborenes oder ein fremder »Nächster«) von ungleich größerer Bedeutung und Dauerhaftigkeit sind als Versprechen, die sich auf ausdrückliche Akte reduzieren, in denen man stets vermeidet, zuviel zuzusagen. Während man in solchen Fällen gleichsam mit beschränkter Haftung nur genau insoweit sein Wort geben will, wie man es in absehbarer Weise glaubt halten zu können, kann die Fürsorge als gelebtes Versprechen das ganze, unabsehbare Leben zu seiner Einlösung erfordern, so als ob man rückhaltlos sich selbst versprochen hätte. Langfristig tragfähige Versprechen, die als solche allenfalls ansatzweise ins Blickfeld philosophischer Aufmerksamkeit gerückt sind, können gar nicht umhin, sich auf ein Übermaß einzulassen, das kaum zu bändigen ist – es sei denn um den Preis einer Unverbindlichkeit, die sich weigert, überhaupt irgend etwas zuzusagen. Dennoch könnte es sein, dass gerade solche – implizite und gelebte – Versprechen das tragen, was eine »Kultur des gelebten Versprechens« genannt zu werden verdient, die sich ihrerseits als ein Versprechen effektiver Einlösung praktischer Ansprü-
men überschreitende Dauer abzielt, wie er meint; vgl. J.-L. Marion, Le phénomène érotique, Paris 2003, S. 302 f., 321 f.; sowie S. Van den Bossche, »From the Other’s Point of View«, in: L. Boeve, Y. De Maeseneer, S. Van den Bossche (eds.), Religious Experience and Contemporary Theological Epistemology, Leuven 2005, S. 61–82, hier: S. 76 ff. Die Hyperbolik einer nicht auf Angehörige beschränkten Nächsten- und Feindesliebe kommt hier freilich nicht in den Blick.
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che begreifen lässt – darunter der elementare Anspruch auf Gerechtigkeit. Dem Gedanken, dass wir uns Versprechen im Übermaß in gewisser Weise »zuziehen« als Antwort auf ein Verlangen Anderer, das vielleicht nur ihrer Hilflosigkeit oder ihrem Blick zu entnehmen ist, steht allerdings die Weigerung gegenüber, sich von Anderen in irgend einer Weise in Anspruch nehmen zu lassen. So besteht Nietzsche darauf, nur aus souveräner Freiheit, die sich jederzeit vom Versprochenen entpflichten könnte, dürfe man Anderen etwas zusagen. Am konsequentesten vollzieht seine Philosophie die Aufkündigung einer umfassenden, kosmischen, religiösen oder sittlichen Ordnung, in der man die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes jeder subjektiven Willkür zu entziehen versuchte (Hegel, Durkheim). Aber so verwirft Nietzsche auch ein Minimum menschlicher Sozialität, das man gerade in der nicht zu hintergehenden Ansprechbarkeit durch den Anderen entdeckt hat. Für Derrida wie für Levinas und Waldenfels ist die menschliche Ansprechbarkeit eigentlich unverfügbar, nicht zu vereinnahmen, auch nicht durch eine politische oder pädagogische Technik – die u. a. mit dem Entzug von Glaubwürdigkeit drohte (Hume, Rousseau), um die Verbindlichkeit des gegebenen Wortes einzuschärfen. Aber was kann man sich von dieser Ansprechbarkeit versprechen? Wenn man auf sie als religio, als Rückbindung an den Anderen selbst als Fremden rekurriert 16 und sich sogar eine gewisse geschichtliche Inspiration von ihr verspricht, ist kaum zu leugnen, dass wir es hier mit »Versprechen« zu tun haben, die niemand je gegeben hat noch je jemand geben wird. Gewiss kann man sich keine Produktion oder »Erzeugung« (Reinach) von Verbindlichkeit von ihnen versprechen. Und wohl auch nicht ohne weiteres Berechenbarkeit, Verfügbarkeit, soziale Ordnung (H. Arendt), die jedem Anderen in seiner Fremdheit gerecht werden soll (wie es bei Derrida, Levinas und Waldenfels kryptonormativ gefordert scheint). 17 Vgl. v. Verf., »The human person: vulnerability and responsiveness. Reflections on human dignity, religio and the other’s voice«, in: C. Bremmers (ed.), Studies in Phenomenology, Leiden, Boston (i. E.). 17 Zu warnen ist allerdings vor dem verbreiteten Missverständnis, in dieser Perspektive erfahre das Versprechen vom Anspruch des Anderen her eine durchgreifende Ethisierung. Für Derrida und Waldenfels trifft das gewiss nicht zu. Auch Ricœur hat sich dagegen gewandt, den Anspruch des Anderen (und das »Hören« auf ihn) von vornherein ethisch zu fassen (und damit zu verengen). Vgl. P. Ricœur, »Religion, Atheism, 16
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Was Habermas »Einbeziehung des Anderen« nennt und gleichsam als Versprechen demokratischer Lebensformen deutet, führt genau genommen auf die Spur einer außer-ordentlichen Gastlichkeit, die Un-Mögliches heraufbeschwört und wiederum Zweifel an vermeintlichen Selbstverständlichkeiten wie der weckt, allemal dürfe man nicht zuviel versprechen, bzw. nur das, was man wirklich versprechen kann. 18 In unserem »Können« selbst wurzelt das Un-Mögliche, nicht erst in einem fahrlässig heraufbeschworenen Scheitern infolge ohnehin unglaubwürdiger und absehbar nicht haltbarer Versprechen. Wer dem Un-Möglichen im Versprechen von vornherein einen Riegel vorschieben möchte, ohne den Sinn und die potenzielle Fruchtbarkeit einer derart überforderten zwischen-menschlichen Verbindlichkeit auch nur ausloten zu wollen, sei an Nietzsches Diktum erinnert, es gebe »nichts Unerträglicheres als solche Grenzwächter, die nie was anderes wissen als ›hier nicht weiter‹ ›dort darf man nicht hingehen‹ ›jener hat sich verlaufen‹ ›wir wissen gar nichts mit absoluter Zuverlässigkeit‹ usw.« Tatsächlich ist eine derart mit Warnungen abgesteckte Topografie des Denkens ein »ganz und gar unfruchtbarer Boden«. 19 So verständlich es auf den ersten Blick erscheinen mag, sich angesichts des so überaus fragwürdigen, vielfältigen und prekären Phänomens, das wir Versprechen nennen, auf einen Rahmen bereits feststehender oder verabredeter Verbindlichkeit zurückziehen zu wollen, so sehr würde gerade diese Strategie am Ende eine Zeit des Gebens unmöglich machen, in der Verbindlichkeit originär nur – und gerade deshalb – gestiftet werden kann, weil wir uns nicht »immer schon«, sei es als Gottes Geschöpfe, sei es als Angehörige einer »sprechenden Tierart«, als im Voraus miteinander übereinstimmende oder verständigte Mitglieder einer politischen Lebensform verstehen können.
and Faith«, in: A. MacIntyre, P. Ricœur, The Religious Significance of Atheism. Bampton Lectures in America, Nr. 18, New York, London 1969, S. 57–98. 18 Vgl. v. Verf., Für eine Kultur der Gastlichkeit, Freiburg i. Br., München 2008. 19 F. Nietzsche, »Nachgelassene Fragmente 1869–1874«, in: Sämtliche Werke, Bd. 7, (Hg. G. Colli, M. Montinari), München 1980, Nr. 31 [6], S. 750.
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A
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Siglen
DR DU E L MB MG PSR S SaA SM SW TS U ÜR ÜU VA VE VF VR WA
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Namenregister
Abraham 218 Agamben, G. 46, 235 Aichinger, I. 75 Ambrosius 80 Angehrn, E. 39 Annen, M. 57 Apel, K.-O. 57, 93 Arendt, H. 18, 21, 29, 43, 64 ff., 71, 120–126, 135, 143, 145, 156, 164, 188, 194 ff., 201, 239 Aristoteles 15 ff., 20, 23, 45, 53, 57, 79, 82, 136, 138, 182, 205 Augustinus 80 Austin, J. L. 26 ff., 44, 121, 126, 164–169 Baader, F. v. 47 Bachmann, I. 119 Bacon, F. 43 Baker, K. M. 162 Barth, P. 49 Barthes, R. 159 Batscha, Z. 53, 56 Bauman, Z. 9 Berlin, I. 76 ff. Berman, M. 9 Bernstein, R. J. 219 Blanchot, M. 205–209, 231 Blumenberg, H. 218, 237 Bourdieu, P. 116 Boveri, M. 155 Brandom, R. 28, 58, 121 Brocker, M. 91 Bruch, R. v. 47 Brusotti, M. 63, 108 Buber, M. 18, 32, 107 Bubner, R. 62 Buck, G. 42 Burkhardt, A. 58 Butler, J. 25
Cahill, T. 217 Campe, R. 44 Cassirer, E. 27, 43, 55, 83, 190 Cavell, S. 93, 171 Cicero 17, 44 Cohn, J. 51 Critchley, S. 206 Cumberland, R. 57 Dahlmann, F. C. 50 Delhom, P. 212 Derrida, J. 16, 19, 29, 70, 134, 142, 189, 191, 207, 209–217, 221 f., 227, 231, 234, 239 Descartes, R. 41, 74, 92 Diesselhorst, M. 17, 24 Diner, D. 12 Dreisholtkamp, U. 216 Durkheim, E. 63, 113–116, 239 Eisler, R. 46, 48 Ellscheid, G. 71 Enzensberger, H. M. 155 Epikur 88 Erikson, E. H. 157 Farmer, P. 215 Ferguson, A. 56, 79 Fetscher, I. 57, 60, 62, 84, 98 Feuerbach, L. 18 Fichte, J. G. 97 Foucault, M. 20, 40, 58, 68, 136, 196 Frank, M. 216 Freudenthal, G. 146 Fries, J. F. 61 Galilei, G. 83 Garver, N. 125 Gelhard, A. 207 Gerlach, O. 48 f. A
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Namenregister Gert, B. 170 Ginters, R. 17 Görtz, H.-J. 137 Greenblatt, S. 56 Greisch, J. 124, 126 Grosse Kracht, H.-J. 64 Grossman, W. 145, 161, 221 Grotius, H. 16, 24, 51, 57, 61, 63, 79–82
Kertész, I. 143, 156 Kierkegaard, S. 122, 190 f. Klass, T. N. 60, 95, 236 Knöbl, W. 58 Kobusch, T. 104, 123 Kolesch, D. 19 König, R. 116 Krämer, S. 19, 28, 166 Krüger, F. 48
Habermas, J. 46, 63, 115, 121, 172–176, 187, 201, 240 Hamacher, W. 45, 217, 231 Harman, G. 170 Hartmann, M. 152 Hartung, G. 26, 44, 63 Hegel, G. W. F. 10 f., 34, 46, 49, 62, 105 ff., 173, 239 Heidegger, M. 123, 136, 142, 190 f., 197, 224, 231 Herder, J. G. 18, 27 Hetzel, A. 168 Hirsch, A. 212 Hobbes, T. 23, 41 f., 45 f., 53–59, 63, 66 f., 70, 82–86, 91, 98, 147 ff., 151, 177, 236 Hoffmann-Loerzer, G. 81 Holzhey, H. 50 Honneth, A. 46 Höpfner, J. F. 45 Horkheimer, M. 50, 174 Humboldt, W. v. 18, 27 Hume, D. 26, 59 ff., 66, 92–97, 100, 108, 171, 178, 239 Husserl, E. 220, 225
Lacoue-Labarthe, P. 56 Lahno, B. 171 Lenz, S. 31 Lepenies, W. 56 Lessius 24, 44 Levi, P. 156 Levinas, E. 15, 18 f., 30, 32–35, 54, 74, 107, 131 f., 135, 139 ff., 145, 153, 189, 197, 206–210, 212, 215, 217, 221, 239 Lienkamp, C. 202 Locke, J. 56 ff., 66, 91 ff., 144 Loraux, N. 28 Löwith, K. 16, 18 Lovink, G. 11 Lübbe, H. 123 Luhmann, N. 31, 50, 58, 145, 149, 152, 158 Lyotard, J.-F. 187 ff., 209, 236
Jacques, F. 206 Jankélévitch, V. 39, 120, 194, 219 Jaspers, K. 191 Jonas, H. 131 f. Kant, I. 21, 26, 39 f., 48 f., 54, 63 f., 66 f., 74, 100–105, 107 f., 126, 138, 173, 220 f. Kaplow, I. 202 Kaufmann, F.-X. 47, 51 Kaufmann, M. 66 Kersting, W. 89, 97
256
Machiavelli, N. 20, 66, 75 ff., 82, 156, 236 Mackie, J. L. 94 MacPherson, C. B. 83 Malthus, T. R. 47 Man, P. de 42 Marcel, G. 120, 131 f., 134, 140, 142, 190 ff., 195, 197 Margalit, A. 179 f. Marion, J.-L. 237 f. Marx, K. 9 Mauss, M. 134 Mayer-Moreau, K. 49 Medick, H. 53, 56 Merleau-Ponty, M. 220 Meyer, T. 235 Michaelis, J. D. 57
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Burkhard Liebsch https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
Namenregister Montaigne, M. de 15, 19 f., 26 f., 66, 196 Montesquieu 20 Mosès, S. 218 Mulligan, K. 161 Münkler, H. 78 Musil, R. 159 Nancy, J.-L. 56, 109 Natorp, P. 48 f., 55 Niehaus, M. 61 Nietzsche, F. 29, 47, 49, 52, 63, 67, 70, 73, 108–113, 127, 190, 196, 217, 224, 239 f. Offe, C. 152 Pankoke, E. 96 Patocˇka, J. 215 Platon 23, 45, 55, 92 Plinius 26 Popper, K. 53 Prichard, H. A. 22 Pufendorf, S. v. 24, 51, 56 f., 87 ff. Quintilian 80 Rancière, J. 53 f., 183–187, 209, 213, 235 Raphael, L. 47 Rawls, J. 176–181, 183 f. Reemtsma, J. P. 43 Reichel, H. 49 Reinach, A. 26, 58 f., 80, 107, 121, 161 ff., 190, 214, 239 Rentsch, T. 235 Ricœur, P. 19, 27 ff., 40, 64, 74, 100, 104, 120, 122–126, 129–133, 135–143, 145, 151, 157, 169, 191, 194, 197, 200 f., 219, 239 f. Riedel, M. 40 Röttgers, K. 46 ff. Rötzer, F. 218 Rorty, R. 20 Rosenzweig, F. 32, 107 Rousseau, J.-J. 49, 55, 60 ff., 98 ff., 106 f., 239
Sandkaulen, B. 74 Sartre, J.-P. 119, 122, 191, 223 Savigny, F. K. v. 62 Schapp, W. 59 Scheler, M. 62 Schleiermacher, F. 55 Schnädelbach, H. 46 Schneider, M. 22, 31, 233 Schopenhauer, A. 106 Searle, J. R. 28, 121, 126, 129, 168–172, 177 f., 214, 238 Seneca 79 Shklar, J. 20 f., 61, 127, 148, 179 ff., 183, 187, 209 Silius Italicus 79 Simmel, G. 47, 51 f., 55, 148 Sokrates 89, 92 Sommer, M. 102 Spaemann, R. 67, 102, 201–205 Spann, O. 49 f. Specht, R. 41, 93 Spinoza, B. de 84 f., 138 Stammler, R. 47 ff. Starobinski, J. 56 Stein, L. 47, 50, 53, 55 Stekeler-Weithofer, P. 107 Sternberger, D. 76 Stolleis, M. 87 Strauss, L. 83 Strawson, P. 122 Taureck, B. H. F. 112 Taylor, C. 74, 135 Theunissen, M. 54, 59, 107, 161, 163 f. Thomas v. Aquin 17, 63 Thomasius, C. 82 Todorov, T. 148, 156 Trabant, J. 27 f., 190 Tugendhat, E. 138 Van den Bossche, S. 238 Van der Walt, S. 90 Vattel, E. de 80 Vattimo, G. 191, 211, 227 Vollhardt, F. 44 Volpi, F. 136 Vorländer, K. 48 Vries, H. de 222
A
Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
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Namenregister Wahl, J. 191 Waldenfels, B. 18 f., 28, 30, 108, 140, 206, 222 ff., 226, 239 Weber, S. 210 Wellmer, A. 175 Wiehl, R. 40, 236 Williams, B. 170 Willoweit, D. 16 f.
258
Willoweit, H. 16 f. Windelband, W. 55 Wittgenstein, L. 26 f., 125, 165, 176, 190 Wolf, U. 138 Wolff, C. 62, 96 ff. Wundt, W. 48, 50
ALBER PHILOSOPHIE
Burkhard Liebsch https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
Sachregister
Anruf des Anderen 32, 133, 142 Anarchie / an-archisch 18, 43, 46, 70, 136 Annahme 87, 89, 163 ff., 233, 237 Anrede 16, 18, 32, 70, 190, 221, 227, 236 Ansprechbarkeit 16, 18, 34, 46, 59, 67, 72 f., 133, 142, 162, 198, 239 Aufgefordertsein 133, 136, 202 Beglaubigung 122 Beständigkeit 143 Bewahrheitung 34, 158 f. Bezeugen / Bezeugung 16, 23, 34, 40, 70, 73 f., 120, 122 f., 130, 136, 138, 141 f., 144 f., 150, 155, 158 ff., 173, 191 f., 197 ff., 210, 212, 215, 227 Cogito 40, 74 Contractus 23, 44, 64 Demokratische Lebensform 13, 20 f., 145, 179 ff., 183, 186, 206, 214 f., 232 f., 235 f., 240 Deontologie / deontisch 21, 71, 129, 134, 137 f., 219 Diachronie / diachron 24, 29, 32, 120, 150 Dialog 12, 18 f., 32, 54, 139, 164, 188, 208 Dialogismus / dialogistisch 32, 54, 107, 189 Dissens 93, 185 f., 214
Erfolgs- und Erfüllungsbedingungen 129 Erinnerung 29, 31, 56, 92, 121, 126, 134 Erste Philosophie 17, 54 Erwartungen 31, 68, 130, 149 ff., 175, 193 Erziehung 68 f., 98, 109 Esse morale 104, 123, 138 Ethik 33, 35, 49 ff., 77 f., 129, 132, 135–139, 209 f., 212, 219 f., 221 Ethos 125, 181, 235 Europa 142, 212, 214 f., 220 Explizit 13, 16, 23 ff., 28–32, 57, 81, 92, 156, 166 ff., 223, 233, 237 f. Fairnessgrundsatz 177 f. Feind 49, 79 ff., 84, 90, 148, 214 Fiktion 62, 73, 94 Frieden / befriedet 42, 45, 48 f., 84 f., 91, 93 ff., 120, 153 f., 178, 183, 220 Funktionale Surrogate 26, 31, 151 Funktionale Systemintegration 30, 58, 235 Furcht 42 f., 70, 83–86 Fürsorge 24, 29, 134, 139 f., 200, 238
Engagement 125, 140 f., 192 f., 200 Enttäuschung 58, 104, 128, 146, 148 ff., 157 f. Epistemisch 148, 150, 158 Ereignis / -haftigkeit 18, 120, 159, 168, 210 f.
Gabe 107, 134, 139 f., 154, 201, 216, 234 Gastlichkeit / gastlich 19, 189, 209, 213 f. Gedächtnis 67, 109, 111 f. Geltungsansprüche 57, 172, 175, 185, 210 Gemeinschaft 9, 16, 49, 59, 65, 79, 81 f., 87 f., 92 f., 113, 173, 179, 186 ff., 196, 200, 203, 206 Gerechtigkeit 17, 75, 89, 94, 96, 139, 176–185, 187, 189, 202, 207, 209 f., 215, 221 f.
Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen
A
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Sachregister Geschichte 35, 45, 55 ff., 122, 144 f., 155, 157 f., 159 f. – als Versprechen 210 f., 213, 217 f., 220 ff., 232 – europäische 13 Gesellschaft 9 ff., 25, 50, 53, 62, 64 f., 89, 91 ff., 96 ff., 102, 113, 162, 176, 178 f., 188, 220, 235 – -svertrag 59, 62 f., 65, 67, 98, 153, 176 Gewalt 11 f., 27, 33, 40, 42 f., 66, 80–85, 90–95, 146 f., 151, 153–157, 175, 208, 220 f., 235 – -Verzicht 25, 42, 65 f., 89, 146, 153–156 Gewissen 61, 99, 108 f., 133, 140, 156 f. Glauben an Andere 15 ff., 21 f., 31, 61, 70, 94, 100, 112, 144, 159, 173, 175, 198 f., 227, 233 f. Glaubwürdigkeit / glaubwürdig 20 ff., 29, 60, 99, 121, 128, 134, 174 f., 187, 189, 198 ff., 222, 227, 232, 234, 239 Gott 16 f., 22, 33, 81, 86–89, 93, 114, 191, 193, 219, 240 Güte 145, 221 Heilige, das 33, 63, 107, 113 ff. Herrschaft 41, 43, 64 f., 69, 76 ff., 85, 97, 145, 196 Historische Erfahrung 32, 34, 142 f., 145, 147, 155, 157, 215 Hören, Zuhören 19, 165, 185, 187, 236, 239 Hyperbolik / hyperbolisch 22, 214, 217, 233, 237 f. Identität 10, 40, 42, 46, 65, 67, 104, 122 f., 135, 143 ff., 152, 158 ff., 193–199, 215 Illokution / illokutionär 29, 44, 128 f., 165 f., 170, 172, 235 Institution 24 f., 45, 59, 83, 102, 121, 138, 152 f., 171 f., 176 ff., 180 ff., 200 f., 236 – Sprache 131, 137 Interlokution 28 f., 128 f.
260
Ko-Existenz 41, 45 f., 54 f., 75, 83, 147, 153 Kommissive Äußerungen 167, 169 Konstitutive Regeln 126, 129, 134, 171, 177 Konvention / konventionell 10, 24, 28, 36, 59 f., 108, 132, 165, 167, 169 ff., 178, 216, 224, 238 Konventionale Handlung / Regel 165, 167, 214, 216 Krieg / kriegerisch 41, 49, 53, 79–81, 83 f., 90 ff., 145, 147 Kultur 20, 31, 34, f., 160, 236 f. Lebewesen, sprechende 11, 15 ff., 27, 60, 82 f., 85, 88, 196, 234 Lüge 26, 57, 98 ff., 101, 104, 194, 227 Macht 21, 25, 43, 64, 78, 83 ff., 110 Mensch / menschlich 21, 26, 29, 39, 68, 80, 82 f., 88, 90, 99, 102 f., 135, 172, 176, 188, 196, 203, 219, 231 Metaphysik / metaphysisch 39 f., 42, 47, 55, 71 Missbrauch 20, 31, 60, 127, 156, 181, 235 Misstrauen 21 f., 31, 42, 62, 70, 83, 85, 113, 130, 146 ff., 150, 152, 154 f., 157 f. Nachsicht 29 f., 128, 196 Nachträglichkeit / nachträglich 12, 21, 25, 29, 40, 57, 64, 72, 107, 128, 133, 144, 149, 159, 163, 166, 176, 178, 194, 207, 210, 233 Natürliche Verpflichtung 44, 81 Naturrecht / naturrechtlich 24, 61, 81 f., 88 Naturzustand 27, 41, 66, 84, 88 f., 91–95, 130, 146 f. Neukantianismus 47 ff. Neuzeit / neuzeitlich 16 f., 23 f., 44, 46, 51, 56, 66, 74, 130 Nexus 24, 44 Ontologie 74, 104, 123, 132, 135 ff., 160, 190, 197, 200, 212 Originär 16, 45, 47, 57, 97, 224 f.
ALBER PHILOSOPHIE
Burkhard Liebsch https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
Sachregister Pactum 23, 43, 62, 64, 97 Pädagogik / pädagogisch 68, 99, 109, 225, 239 Performativ 24, 167, 216, 227, 232 Perlokution / perlokutionär 28 f., 165 f. Person 17, 59, 62, 100, 103–106, 122 ff., 162, 173, 185, 203 f. Phänomenologie 33, 124, 222, 226 Quasi-Versprechen 24 Rhetorik 13, 31, 35 f., 234, 236 Rechtspflicht 101, 103, 130 Religio 18, 207, 221 f., 230 Religion 88, 219, 221 Reservatio moralis 68, 105 Sagen 16, 24, 27, 165, 224 Selbst – -achtung 101, 138 – -Bezeugung (attestation du soi) 74, 120, 136, 142, 144 f., 191, 198 f., 215 – -bindung 17, 25, 58, 204 – -erhaltung 42, 46, 52, 83, 88, 102, 147 – -Ständigkeit (maintien de soi) 129, 136, 200 – und Selbigkeit 67, 122 f., 151 Sicherheit 21, 41, 60, 91, 97, 148 f., 155, 219 Sittlichkeit 88, 107, 110, 235 Souveränität 23, 41, 43, 65, 69, 112, 193, 210 Soziabilität 50 Soziale, das 12, 53, 130, 189, 236 Sozialphilosophie 11, 17, 34, 41, 46–55, 70 f., 98, 113, 146 Sprachspiel(e) 27, 165, 167, 171, 176, 187 Sprachverachtung 30, 235, 237 Sprechakttheorie 26 f., 29, 60, 80, 125 f., 169, 176, 190 Staat 10, 25, 49 f., 57, 62, 64 f., 77 f., 88 f., 92, 102, 188 Stillschweigende(r) Vertrag, Zustimmung 57, 92 f., 98 Stimme 19, 99, 156 f., 187, 235 Stipulatio(n) 23 f., 43, 106
Teleologie / teleologisch 42, 45, 75 f., 102, 129, 137 f. Tod 19, 83, 88, 104, 119 f., 160, 182, 221, 237 Trauer 119, 213, 237 Treue 67, 79–82, 85, 89, 93, 111, 120, 129, 140, 143, 177, 192 ff., 200 Übermäßigkeit / übermäßig 30 f., 67, 127, 196, 237 Unabsehbarkeit 21, 122, 195 Ungerechtigkeit 179–183, 185 Un-Mögliches / Un-Möglichkeit 30, 70, 110, 189, 202, 205 ff., 209, 213, 225 f., 240 Unterwerfung 62, 64, 98, 109 Unzuverlässigkeit 21, 122, 194 f. Verabredung 23, 27, 95 Verachtung 20, 35, 113, 220 Verantwortung 33, 35, 100, 127 f., 131 ff., 136, 139 ff., 207, 209, 217 f., 221 ff. Verfügbarkeit (disponibilité) 131 f., 140 Verheißung(en) 17, 213, 233 Verlangen 32, 67, 85, 102, 125, 134, 182 ff., 197 f., 202, 210 f. Verletzlichkeit 27, 134, 139 Verrat 30, 103, 111, 131, 142 f., 145, 154–159, 164, 192 f., 195 Verrechtlichung 31, 71 Versprechen – demokratischer Politik 181 – der Einbeziehung/Inklusion 175, 187, 214, 240 – der Gerechtigkeit 181, 187, 202, 210 ff. – der Sprache 174, 209, 231 – der Wahrnehmung 184 – des Versprechens 130, 134 f. – des Gesprächs 187, 236 – -dürfen 110, 112, 125, 188, 214, 232 f. – gelebtes 13, 32, 35, 238 – Geschichte als V. 209, 211, 213, 232 – implizite 23, 30, 32, 66, 89, 98, 105, 119, 121, 156, 216, 218, 237 f.
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Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
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Sachregister – indirekte 119 f., 223 – Lebensform als V. 142, 176, 187, 214 – menschlicher Verhältnisse 20 f. – messianisches 211, 218, 237 – ontologisches 32, 135, 201 ff. – Subjekt, Selbst als V. 32 f., 124 – Zukunfts-V. 31 Versprechung(en) 13, 22, 85, 94, 128, 161, 218 ff., 234 Verträge 12, 30, 44, 63, 84 f., 89, 100, 137, 186 Vertrauen 15 f., 21, 24 ff., 29, 45 f., 58 ff., 63, 68 ff., 74, 79, 85 ff., 93 f., 108, 112 f., 128 f., 135, 143–159, 178 f., 181, 194 f., 203 f., 227, 232 ff. Verzeihen 29, 128, 151, 195 f., 204 Vorbehalt 22, 26, 42, 61 f., 87, 101, 147 f., 155, 236 Wahrhaftigkeit 17, 26, 57, 63, 100–104, 134, 150 f., 172 f., 198 f., 236 Wahrheitsmodus 123, 142, 158 ff., 198 f.
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Welt 27, 157, 185 f., 191 f., 195 f. Wer-Frage 40 f., 52, 74, 123 f., 135 f., 144, 190 f., 197 Wille 21, 49, 62, 64 f., 70, 85, 95, 105 ff., 109, 114 f., 126, 163, 193, 201, 211, 216 Zeit 20, 29, 121 ff., 159, 163 f., 210, 215, 219, 224, 233, 237 Zeuge 22, 33, 86 f., 119, 191, 212 Zukunft 13, 20 ff., 35 f., 40, 68, 73, 97, 105 ff., 110, 112, 121 f., 125, 127 f., 137, 143, 148, 151, 154, 156, 159, 169, 173, 183, 192 f., 195 f., 199, 209, 215, 217 ff., 232 Zusagen 11, 17, 22 f., 84, 89 f., 91, 97, 161, 167 f., 181, 187, 197 f., 202, 204, 206 f., 227, 232, 235 f. Zuverlässigkeit / Unzuverlässigkeit 21, 122, 194 f. Zwischenmenschlichkeit / zwischenmenschlich 12, 18, 20, 23, 41, 144 Zwischenzeitlichkeit 19, 116, 123, 164, 215
ALBER PHILOSOPHIE
Burkhard Liebsch https://doi.org/10.5771/9783495997215 .
Nachweise
Einleitung. Stützt sich teilweise auf meine Rezension von: M. Schneider (Hg.), Die Ordnung des Versprechens. Naturrecht – Institution – Sprechakt, München 2005, in: Philosophischer Literaturanzeiger 59, Heft 2 (2006), S. 111–116. Erstveröffentlichung in der vorliegenden, stark erweiterten Form. Teil A – I. Geht zurück auf Vorträge zum Thema »Versprechen und Vertrag in der neuzeitlichen Sozialphilosophie« an der Fachhochschule Münster und am Philosophischen Institut der Universität Würzburg in den Jahren 2002 und 2003. Eine frühere, hier stark überarbeitet vorliegende Fassung wurde veröffentlicht unter dem Titel »Das Versprechen im Horizont der neuzeitlichen Sozialphilosophie. Zwischen Hobbes und Nietzsche« im Philosophischen Jahrbuch 113/I (2006), S. 143–166. Teil A – II. Erstveröffentlichung. Teil B – I. Das Kapitel stützt sich auf Vorüberlegungen zum Versprechen im Rahmen der in Zusammenarbeit mit J. Rüsen und J.-M. Tétaz veranstalteten Tagung Selbst – Andersheit – Geschichte. Narrative Sinnbildung und Identität im Ausgang von Paul Ricœur am 27. 3. 1998 im Kulturwissenschaftlichen Institut des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen, sowie auf einen Vortrag zum Thema »Erzählung und Selbst-Bezeugung. Dimensionen praktischer und narrativer Identität«, im Rahmen der Akademie-Tagung Was ist der Mensch? Die facettenreiche Anthropologie Paul Ricœurs am Erbacher Hof. Akademie des Bistums Mainz, 23.–24. 5. 2003. Folg. Vorstudien wurden veröffentlicht: »Versprechen, ethische und moralische Ausrichtung des Selbst«, in: B. Liebsch (Hg.), Hermeneutik des Selbst – Im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs, Freiburg i. Br., München 1999, S. 224–259; »Identitäts-Fragen in Zeiten des Verrats. Zum Missverhältnis von erzähltem und praktischem Selbst«, in: J. Straub, J. Renn (Hg.), Transitorische Identität. Der ProA
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Nachweise
zesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt am Main 2002, S. 132– 158; »Das Selbst im Missverhältnis zwischen Erzählung und Bezeugung. Versprechen – Vertrauen – Verrat«, in: S. Orth, P. Reifenberg (Hg.), Facettenreiche Anthropologie. Ricœurs Reflexionen auf den Menschen, Freiburg i. Br., München 2004, S. 49–78. Teil B – II. Erstveröffentlichung. Epilog. Erstveröffentlichung.
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Burkhard Liebsch https://doi.org/10.5771/9783495997215 .